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Springer-Lehrbuch

Der langsam, aber sicher wachsenden Familie,


meinen Töchtern Nicola und Stefanie,
den Schwiegersöhnen Karsten und York,
den Enkeln Cornelius und Mats,
und besonders meiner Frau Monika gewidmet
Werner Hacke

Neurologie
Begründet von Klaus Poeck (†)

13. vollständig überarbeitete Auflage

Mit 521, zum Teil farbigen Abbildungen und 83 Tabellen

Mit Beratung und Unterstützung aus den Nachbardisziplinen durch


Martin Bendszus, Klaus Sartor, Stefan Hähnel und Marius Hartmann (Neuro-
radiologie), Andreas Unterberg und Karl Kiening (Neurochirurgie)

sowie mit tatkräftiger Hilfe aus den Spezialgebieten der Neurologie von
Caspar Grond-Ginsbach (Neurogenetik)
Uta Meyding-Lamadé (Neuroinfektiologie)
Hans-Michael Meinck (Klinische Neurophysiologie)
Peter Ringleb, Roland Veltkamp, Christoph Lichy und Peter Schellinger (vas-
kuläre Neurologie)
Markus Schwaninger (Neuro-Pharmakologie)
Stefan Schwab und Thorsten Steiner (Intensivmedizin)
Hendrik Wilms (Bewegungsstörungen)
Brigitte Wildemann und Brigitte Storch-Hagenlocher
(Neuroimmunologie) sowie
Wolfgang Wick und Michael Platten (Neuroonkologie)

123
Professor Dr. med. Dr. h.c. Dipl.-Psych. Werner Hacke, FAHA, FESO
Direktor der Neurologischen Klinik, Universität Heidelberg
Im Neuenheimer Feld 400
69120 Heidelberg

ISBN 978-3-642-12381-8 Springer Medizin Verlag Heidelberg

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2001, 2006, 2010

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gebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen.

Planung: Renate Scheddin, Heidelberg


Projektmanagement: Axel Treiber, Heidelberg
Lektorat: Kathrin Nühse, Mannheim
Layout und Umschlaggestaltung: deblik Berlin
Satz, Reproduktion und digitale Bildbearbeitung: Fotosatz-Service Köhler GmbH – Reinhold Schöberl, Würzburg

SPIN 12442492

Gedruckt auf säurefreiem Papier 15/2117 – 5 4 3 2 1 0


V

Vorwort zur 13. Auflage

Vier Jahre nach der 12. Auflage des Neurologie Lehrbuchs Poeck-Hacke erscheint nun die 13. Auflage.
Vieles hat sich in der Zwischenzeit geändert. Traurig ist, dass Professor Klaus Poeck nicht mehr an diesem
Buch mitarbeiten konnte. Eine langwierige Erkrankung hatte schon seine Beteiligung an der 12. Auflage,
sehr zu seinem Bedauern, weitgehend verhindert, und er ist 2006, einen Tag nachdem die 12. Auflage in
den Buchhandel gekommen ist, leider verstorben.
Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich dieses Standardwerk als jetzt alleiniger Autor überhaupt
weiterführen kann und sollte. Nach Beratung mit meinen Mitarbeitern und mit vielen Freunden in der
Neurologie habe ich mich doch dazu entschlossen, nicht zuletzt, weil ich darauf zählen konnte, viel
Unterstützung zu erhalten. Ehrlicherweise sollte man zugeben, dass niemand mehr das komplette Gebiet
der Neurologie so beherrschen kann, dass er zu allen Einzelheiten kompetent ein Lehrbuchkapitel ver-
fassen könnte. Im Gegenteil, unser Fach ist so komplex geworden, dass das Nebeneinander von Spezia-
listen für die verschiedenen Segmente der Neurologie entscheidend dafür ist, dass Kliniken gute Kliniken
werden und dass die klinische Forschung exzellent wird.
Andererseits habe ich es schon als Student und junger Assistent sehr genossen, mit dem »Poeck« ein
Buch vor mir zu haben, das stilistisch aus einer Feder stammt. Man muss sich nicht mit jedem Kapitel
auf die spezielle »Schreibe« des oder der Autoren neu einstellen, ein durchgängiges didaktisches Konzept
kann so viel besser beibehalten werden, und auch Wiederholungen, Redundanzen, gar Widersprüche
können viel leichter verhindert werden, als es dem Herausgeber eines Vielautorenbuchs möglich wäre.
Die Unterstützung durch viele aktuelle und frühere Mitarbeiter der Neurologischen Klinik Heidel-
berg, aber auch aus den Nachbardisziplinen in unserem Neurozentrum findet schon auf den ersten
Buchseiten ihren Ausdruck. Die Beratung durch Andreas Unterberg (Neurochirurgie), Wolfgang Wick
und Michael Platten (Neuroonkologie), Markus Schwaninger (Pharmakologie) und den aktuellen und
früheren neurologischen Oberärzten Brigitte Wildemann, Uta Meyding-Lamade (jetzt Frankfurt), Peter
Ringleb, Roland Veltkamp, Stefan Schwab, und Peter Schellinger (beide jetzt Erlangen), Brigitte Storch-
Hagenlocher, Thorsten Steiner, Hendrik Wilms, Christoph Lichy und Hans-Michael Meinck war essen-
tiell für die Qualität der jeweiligen Abschnitte und Kapitel.
Die Beiträge von Martin Bendszus, Marius Hartmann und Stefan Hähnel aus der Neuroradiologie
Heidelberg, die sich in der Fülle neuer, moderner Abbildungen, aber auch in der Beschreibung der neu-
en neuroradiologischen Methoden wiederfinden, waren entscheidend und machen einen wesentlichen
Teil des Wertes des Buches aus.
Viele Oberärzte, erfahrene Assistenten und frühere Mitarbeiter haben zu einzelnen Kapiteln Anmer-
kungen, Anregungen und Verbesserungsvorschläge eingebracht: Dies wird im Anhang A2 detailliert
gewürdigt. Die Beiträge meiner emeritierten Kollegen Stefan Kunze (Neurochirurgie), Klaus Sartor und
Hermann Zeumer( Neuroradiologie) zu den früheren Ausgaben sind immer noch in Teilen des Textes
und der Abbildungen zu finden.
Auch im Aufbau der Kapitel des Buches haben sich einige Neuerungen ergeben. Die Störungen des
Bewusstseins und Neuropsychologische Symptome wurden in Kapitel 2 zusammengeführt. Die appa-
rative und laborchemische Diagnostik ist ausführlicher geworden und in den Querschnittskapiteln ist
ein neues Kapitel »Genetische und molekulare Grundlagen der Entstehung neurologischer Krankheiten«
hinzugefügt worden.
Ansonsten finden sich die wesentlichen Änderungen innerhalb der einzelnen Kapitel, die zum Teil
eine neue Binnengliederung erfahren haben. Das beim letzten Mal neu eingeführte Layout wurde bei-
behalten. Die Beiträge werden mit Facharztwissen erweitert, durch Exkurse erläutert; Leitlinien wurden
konsequent eingefügt.
Ich habe weiterhin versucht, den Anspruch des Buches, nicht nur für Studenten, sondern auch für
Assistenten und Fachärzte ein kompetenter Begleiter zu sein, zu verwirklichen. Ich hoffe, dass es gelun-
gen ist, den Text gut lesbar zu machen, obwohl das Gebiet so komplex geworden ist. Mein Ziel war, den
Text ohne Exkurse und Facharztwissen verständlich und informativ zu schreiben und die genannten
Ergänzungen zur Vertiefung anzubieten. Die Fallbeschreibungen, die von den Lesern sehr positiv ange-
nommen werden, sind beibehalten und ergänzt worden.
Mein Dank gilt den Mitarbeitern des Springer-Verlags, namentlich Frau Jahnke, Frau Scheddin und
Herrn Treiber, die es akzeptiert habe, dass aus einer als »aktualisierten« Auflage geplanten Fassung eine
grundlegende Überarbeitung wurde, die nicht im gleichen Seitenumfang realisiert werden konnte. Mein
VI Vorwort zur 13. Auflage

Dank auch der Fotosatz-Service Köhler GmbH, Würzburg, dort namentlich Frau Baumann, die eine
ganze Reihe von Abbildungen aktualisiert und stilistisch einheitlich gestaltet haben. Frau Kathrin Nüh-
se hat es als Lektorin hervorragend geschafft, die vielen Aktualisierungen, Einschübe und Verände-
rungen in einen neuen Guss zu bringen.
Da liegt sie also vor Ihnen, die 13. Auflage des Neurologielehrbuchs, das von Klaus Poeck begründet
wurde. Es ist in seinem Geiste geschrieben und vertritt weiterhin die Aachener (und jetzt auch Heidel-
berger) Schule einer modernen, interdisziplinär angelegten, therapeutisch aktiven und der klinischen
Forschung zugewandten neurologischen Medizin.
Die Grenzen der Fächer fallen. Im Heidelberger Neurozentrum arbeiten Neurochirurgen, Neuro-
radiologen, Neuroonkologen und Neurologen eng und freundschaftlich zusammen. So werden die
Neurofächer ihre Bedeutung erhalten und ausweiten - und auch hierbei soll das Buch helfen.

Heidelberg im Sommer 2010 Werner Hacke


VII

Vorwort zur 12. Auflage

Vor Ihnen liegt die 12. Auflage des Neurologie-Lehrbuchs Poeck/Hacke. Es wurde in den letzten zwei
Jahren gründlich überarbeitet und in großen Bereichen neu konzipiert. Noch deutlicher ist der Anspruch
des Buches geworden, nicht nur für Studenten, sondern auch für Assistenten und Fachärzte ein kompe-
tenter Begleiter zu sein. Neue didaktische Inhalte, die beispielsweise Facharztwissen besonders heraus-
heben, sollen diesem Anspruch gerecht werden.
Von Seiten des Verlags ist ein neues Layout gewählt worden, das dem didaktischen Ziel gut ent-
spricht. Die Zahl der Abbildungen und Tabellen hat erneut zugenommen, und auch der Umfang des
Buches ist, wie der Umfang des Wissens in der Neurologie, gewachsen.
Neurologie ist heute so komplex, dass es nahezu unmöglich scheint, dass das ganze Gebiet von zwei
Personen komplett und kompetent abgehandelt werden kann. Folgerichtig haben wir die Hilfe und
Unterstützung vieler aktueller und früherer Mitarbeiter der Heidelberger Neurologischen Universitäts-
klinik gerne in Anspruch genommen. Jedes Kapitel ist von einem oder mehrerer unserer Mitarbeiter
gegengelesen worden. Vorschläge, Ergänzungen, Korrekturen und neue Abbildungen sind so einge-
flossen.
Die Mitarbeiter werden mit den Kapiteln, die sie bearbeitet haben, in der Danksagung namentlich
erwähnt. Besonders herausstellen möchte ich die Kooperation mit unseren Kollegen aus der Abteilung
Neuroradiologie der Neurologischen Klinik Heidelberg, geleitet von Herrn Professor Dr. Sartor. Die
Herren Hähnel, Hartmann und Kress haben einen Großteil der neuen neuroradiologischen Abbildungen
zur Verfügung gestellt. Auch mit der Neurochirurgischen Klinik Heidelberg, speziell den Professoren
Kunze und Unterberg sowie ihren Mitarbeitern, verbindet uns eine enge, immer konstruktive Koopera-
tion, die sich wie ein roter Faden durch viele Kapitel zieht. Der kontinuierliche Dialog zwischen den
klinischen Neurofächern hat die Neurologie zu dem diagnostisch und therapeutisch aktiven Fach ge-
macht, das es heute ist. Die »Aachener Schule«, die diese Kooperation lebt, versuchen wir in Heidelberg
weiter zu entwickeln.
Frau Martina Siedler vom Springer Verlag hat uns zu jeder Zeit nachdrücklich unterstützt. Erst in
der Endphase der Korrektur dieses Buches hat sie ein neues Tätigkeitsfeld im Verlag angetreten, dennoch
findet man in diesem Buch auch ihre Handschrift. Die Zusammenarbeit mit ihr und den anderen Mit-
arbeitern des Springer Verlags, namentlich Frau Renate Scheddin, Frau Sigrid Janke und Frau Meike
Seeker war sehr angenehm.
Viele Leser haben uns in den letzten Jahren auf Rechtschreibfehler, inhaltliche Inkorrektheiten oder
schwer verständliche Abschnitte hingewiesen, und wir haben versucht, diese Anregungen aufzunehmen.
Wir danken allen für diese konstruktive Kritik.

Aachen und Heidelberg, im April 2006


Klaus Poeck
Werner Hacke
Über 520 Abbildungen:
veranschaulichen komplizierte
Neurologie: Das Layout und komplexe Sachverhalte

Einleitung:
thematischer Einstieg
ins Kapitel

Leitsystem: schnelle
Orientierung über
36 Kapitel und den
Anhang

Inhaltliche Struktur:
klare Gliederung
durch alle Kapitel

Verweis auf Abbil-


dungen und Tabellen:
deutlich herausgestellt
und leicht zu finden

Leitlinien oder Empfehlungen:


verbindliche Information nach den
Leitlinien der DGN
Exkurs: interessantes Facharzt-Box: vertieftes Navigation: Seitenzahl
Hintergrundwissen zum Spezialwissen für und Kapitelnummer für
besseren Verständnis (angehende) Fachärzte die schnelle Orientierung

Tabelle: klare Übersicht


der wichtigsten Fakten

Merke: das Wichtigste


auf den Punkt gebracht
– zum Repetieren

Der Fall: der »Aeskulap-


stab« schärft den Blick
für die Klinik

In Kürze: die Quintessenz


eines jeden Kapitels
in Lernübersichten
XI

Der Autor

Werner Hacke
geboren 1948 in Duisburg. Studium der Psychologie und Medizin an der RWTH Aachen. Diplompsy-
chologe 1972, Facharztausbildung in Neurologie an der Universitätsklinik Aachen und Bern, in Psychi-
atrie am Psychiatrischen Krankenhaus Gangelt. Habilitation 1983, 1986-1987 Forschungsaufenthalt in
San Diego, USA. Schwerpunkte im Bereich Schlaganfalldiagnostik und -therapie und neurologischer
Intensivmedizin. Seit 1987 Ordinarius für Neurologie und Direktor der Neurologischen Universitäts-
klinik Heidelberg. Autor mehrerer Bücher zum Thema Schlaganfall und neurologische Intensivmedizin.
Leiter zahlreicher internationaler Studien zu Schlaganfallprävention und -therapie. Gründungspräsident
der European Stroke Organisation. Past-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN),
der Deutschen Schlaganfallgesellschaft (DSG) und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für
Intensivmedizin (DIVI). Vizepräsident der World Federaton of Neurology. Mitglied der Heidelberger
Akademie der Wissenschaften. Ehrendoktorat der Medizinischen Hochschule Tiflis, Georgien. Ehren-
mitglied der russischen, amerikanischen (ANA) und französischen Neurologischen Gesellschaft.
Klassifikation der Evidenzklassen
und Empfehlungsstärken
Empfehlungsstärken
A Hohe Empfehlungsstärken aufgrund starker Evidenz oder bei schwächerer Evidenz aufgrund beson-
ders hoher Versorgungsrelevanz
B Mittlere Empfehlungsstärke aufgrund mittlerer Evidenz oder bei schwacher Evidenz mit hoher
Versorgungsrelevanz oder bei starker Evidenz und Einschränkungen der Versorgungsrelevanz
C Niedrige Empfehlungsstärke aufgrund schwächerer Evidenz oder bei höherer Evidenz mit Ein-
schränkungen der Versorgungsrelevanz

Die Einstufungen der Empfehlungsstärke kann neben der Evidenzstärke die Größe des Effekts, die Ab-
wägung von bekannten und möglichen Risiken, Aufwand, Verhältnismäßigkeit, Wirtschaftlichkeit oder
ethische Gesichtspunkte berücksichtigen.

Leitlinien der DGN 2009*


*Aus Diener H.C. (Hrsg) Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie
3. Aufl. 2008, Thieme

Siehe auch unter


www.dgn.org/leitlinien.html
XIII

Inhaltsverzeichnis
1.10.1 Syndrome mit Koordinationsstörungen
I Neurologische Untersuchung (Zerebelläre Syndrome) . . . . . . . . . . . . . . . 51
1.11 Sensibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
und Diagnostik 1.11.1 Anatomische und psychophysiologische
Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
1.11.2 Anamnese und Untersuchung . . . . . . . . . . . 54
1 Die neurologische Untersuchung 1.11.3 Sensible Reizsymptome . . . . . . . . . . . . . . . 58
und die wichtigsten Syndrome . . . . . . . . . 3 1.11.4 Sensible Ausfallsymptome . . . . . . . . . . . . . 59
1.1 Anamnese und allgemeine Untersuchung . . . 5 1.12 Vegetative Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . 61
1.1.1 Symptome und Syndrome . . . . . . . . . . . . . 6 1.12.1 Aufbau des vegetativen Nervensystems . . . . . 61
1.1.2 Neurologische Untersuchung . . . . . . . . . . . 6 1.12.2 Vegetative Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . 61
1.1.3 Inspektion und Untersuchung des Kopfes . . . . 6 1.12.3 Blasenfunktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . 63
1.2 Hirnnerven I: N. olfactorius, N. opticus und 1.12.4 Sexualfunktionsstörungen . . . . . . . . . . . . . 65
okulomotorische Hirnnerven . . . . . . . . . . . . 7 1.12.5 Störungen der Schweißsekretion und
1.2.1 Nervus olfactorius (N. I) . . . . . . . . . . . . . . . 7 Piloarrektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
1.2.2 Nervus opticus (N. II) und visuelles System . . . 8 1.12.6 Störungen der Herzkreislaufregulation
1.2.3 Die Augenmuskelnerven: N. oculomotorius (N. III), und der Atmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
N. trochlearis (N. IV), N. abducens (N. VI) . . . . . 10 1.12.7 Störungen der Pupillomotorik . . . . . . . . . . . 68
1.3 Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion 13 1.13 Rückenmarkssyndrome . . . . . . . . . . . . . . . 68
1.3.1 Blickmotorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.13.1 Querschnittslähmung . . . . . . . . . . . . . . . . 68
1.3.2 Syndrome gestörter Blickmotorik . . . . . . . . . 15 1.13.2 Brown-Séquard-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . 69
1.3.3 Nystagmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.13.3 Zentrale Rückenmarksschädigung . . . . . . . . 69
1.3.4 Physiologische Nystagmusformen . . . . . . . . 19 1.13.4 Hinterstrangläsion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
1.3.5 Pathologischer Nystagmus . . . . . . . . . . . . . 19 1.13.5 Höhenlokalisation der Rückenmarks-
1.3.6 Pupillomotorik und Akkommodation . . . . . . 20 schädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
1.4 Hirnnerven II: Nervus trigeminus und die 1.14 Untersuchung des bewusstlosen Patienten . . . 72
kaudalen Hirnnerven . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1.14.1 Neurologische Notfalluntersuchung . . . . . . . 72
1.4.1 Nervus trigeminus (N. V) . . . . . . . . . . . . . . . 25 1.14.2 Anamnese und Inspektion . . . . . . . . . . . . . 72
1.4.2 Nervus facialis (N. VII) . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.14.3 Praktischer Ablauf der Untersuchung
1.4.3 Nervus statoacusticus eines Bewusstlosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
(N. VIII; N. vestibulocochlearis) . . . . . . . . . . . 28 1.14.4 Notfallbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
1.4.4 Nervus glossopharyngeus (N. IX) . . . . . . . . . 28 1.14.5 Weiterführende Diagnostik . . . . . . . . . . . . . 74
1.4.5 Nervus vagus (N. X) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
1.4.6 Nervus accessorius (N. XI) . . . . . . . . . . . . . . 28 2 Neuropsychologische Syndrome
1.4.7 Nervus hypoglossus (N. XII) . . . . . . . . . . . . . 29 und Störungen des Bewusstseins . . . . . . . 79
1.4.8 Schädelbasissyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.1 Psychischer Befund . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
1.5 Reflexe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.2 Neuropsychologischer Befund . . . . . . . . . . . 82
1.5.1 Reflexuntersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.2.1 Neuropsychologische Leistungen . . . . . . . . . 82
1.5.2 Untersuchung der Eigenreflexe . . . . . . . . . . 33 2.2.2 Neuropsychologische Untersuchung . . . . . . . 82
1.5.3 Untersuchung von Fremdreflexen . . . . . . . . . 35 2.3 Aphasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
1.5.4 Instinktbewegungen und reflektorisch 2.3.1 Broca-Aphasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
motorische Schablonen . . . . . . . . . . . . . . . 36 2.3.2 Wernicke-Aphasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
1.6 Motorik und Lähmungen . . . . . . . . . . . . . . 38 2.3.3 Globale Aphasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
1.6.1 Periphere Lähmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 2.3.4 Amnestische Aphasie . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
1.6.2 Zentrale Lähmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.3.5 Differenzierung der vier Aphasietypen . . . . . . 86
1.7 Basalgangliensyndrome . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.3.6 Lokalisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
1.7.1 Parkinson-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.3.7 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
1.7.2 Choreatisches Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.4 Apraxien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
1.7.3 Ballismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.4.1 Ideomotorische Apraxie . . . . . . . . . . . . . . . 89
1.7.4 Dystonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.4.2 Ideatorische Apraxie . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
1.7.5 Athetose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2.5 Räumliche Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . 91
1.8 Tremor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.5.1 Räumlich-konstruktive Störung . . . . . . . . . . 92
1.9 Myoklonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2.5.2 Räumlich-perzeptive Störung (Räumliche
1.10 Kleinhirnfunktion und Bewegungskoordination 49 Orientierungsstörung) . . . . . . . . . . . . . . . . 92
XIV Inhaltsverzeichnis

2.6 Halbseitige Vernachlässigung (Neglect) . . . . 93 3.5 Biopsien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144


2.7 Anosognosie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 3.5.1 Muskelbiopsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
2.8 Agnosie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3.5.2 Nervenbiopsie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
2.9 Gedächtnisstörungen und Syndrome 3.5.3 Hirnbiopsie und Biopsie der Meningen . . . . . 145
von Amnesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3.5.4 Andere Biopsien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
2.9.1 Einteilung der Gedächtnisfunktionen . . . . . . 95 3.6 Spezielle Laboruntersuchungen . . . . . . . . . . 145
2.9.2 Amnesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 3.6.1 Muskelbelastungstests . . . . . . . . . . . . . . . . 145
2.10 Störungen der Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . 96 3.6.2 Hypothalamisch-hypophysäre Hormon-
2.11 Störungen der Planung und Kontrolle diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
von Handlungen und Verhalten . . . . . . . . . . 97 3.6.3 Neuronale Marker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
2.12 Demenzsyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 3.7 Molekulargenetische Methoden . . . . . . . . . . 146
2.13 Störungen von Affekt und Antrieb . . . . . . . . 97
2.13.1 Antriebsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4 Genetische und molekulare Grundlagen der
2.13.2 Pathologisches Lachen und Weinen . . . . . . . 98 Entstehung neurologischer Krankheiten . . 151
2.13.3 Enthemmung des sexuellen und aggressiven 4.1 Genetik neurologischer Krankheiten . . . . . . . 152
Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.1.1 Monogenetische Störungen . . . . . . . . . . . . 153
2.14 Einteilung der Bewusstseinsstörungen . . . . . . 98 4.1.2 Dysfunktionelle Proteine und Kanäle . . . . . . . 153
2.14.1 Quantitative Bewusstseinsstörung . . . . . . . . 98 4.1.3 Ionenkanäle und Kanalkrankheiten . . . . . . . . 155
2.14.2 Störungen der Bewusstheit . . . . . . . . . . . . . 99 4.1.4 Störungen der Atmungskette und
2.15 Ursachen der akuten Bewusstlosigkeit . . . . . . 101 des Zellmetabolismus . . . . . . . . . . . . . . . . 155
2.15.1 Primäre und sekundäre Bewusstlosigkeit . . . . 101 4.1.5 Myelin und Störungen der Myelinisierung . . . 156
2.16 Dezerebrationssyndrome . . . . . . . . . . . . . . 103 4.2 Signalwege und ihre Störungen . . . . . . . . . . 157
2.16.1 Apallisches Syndrom (persistierender 4.2.1 Transmitter und Synapsen . . . . . . . . . . . . . . 158
vegetativer Zustand) . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 4.2.2 Rezeptoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
2.16.2 Andere schwere Hirnstammsyndrome 4.2.3 Neurotrophe Faktoren und andere Signalwege 159
ohne Verlust der Wachheit . . . . . . . . . . . . . 104 4.3 Bluthirnschranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
2.17 Dissoziierter Hirntod . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.3.1 Die neurovaskuläre Einheit . . . . . . . . . . . . . 159
4.4 Stammzellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
3 Apparative und laborchemische Diagnostik 109 4.5 Zelltod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
3.1 Liquordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.5.1 Zellnekrose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
3.1.1 Liquorpunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.5.2 Apoptose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
3.1.2 Untersuchung des Liquors . . . . . . . . . . . . . 111 4.6 Immunologische Störungen . . . . . . . . . . . . 163
3.2 Neurophysiologische Methoden . . . . . . . . . . 113
3.2.1 Elektromyographie (EMG) . . . . . . . . . . . . . . 113
3.2.2 Elektroneurographie (ENG) . . . . . . . . . . . . . 117
3.2.3 Reflexuntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . 118 II Vaskuläre Krankheiten des
3.2.4 Transkranielle Magnetstimulation (TKMS) . . . . 120
3.2.5 Evozierte Potentiale (EP) . . . . . . . . . . . . . . . 121
zentralen Nervensystems
3.2.6 Elektroenzephalographie (EEG) . . . . . . . . . . 123
3.2.7 Magnetenzephalogramm (MEG) . . . . . . . . . . 127 5 Zerebrale Durchblutungsstörungen:
3.2.8 Elektrookulographie (EOG) . . . . . . . . . . . . . 128 Ischämische Infarkte . . . . . . . . . . . . . . . . 167
3.3 Neuroradiologische Untersuchungen . . . . . . 129 5.1 Anatomie und Pathophysiologie der Gefäß-
3.3.1 Konventionelle Röntgenaufnahmen . . . . . . . 129 versorgung des Gehirns . . . . . . . . . . . . . . . 170
3.3.2 Computertomographie (CT) . . . . . . . . . . . . 129 5.1.1 Anatomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
3.3.3 Magnetresonanztomographie (MRT) . . . . . . . 131 5.1.2 Pathophysiologie der Ischämie: Energie-
3.3.4 Nuklearmedizinische Untersuchungen . . . . . 136 gewinnung und Durchblutung . . . . . . . . . . 170
3.3.5 Digitale Substraktionsangiographie (DSA) . . . 137 5.2 Epidemiologie und Risikofaktoren . . . . . . . . 175
3.3.6 Myelographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5.2.1 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
3.3.7 Ventrikulographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 5.2.2 Risikofaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
3.4 Ultraschalluntersuchungen . . . . . . . . . . . . . 140 5.3 Ätiologie und Pathogenese ischämischer
3.4.1 Extrakranielle Dopplersonographie (ECD) . . . . 140 Infarkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
3.4.2 Transkranielle Dopplersonographie (TCD) . . . . 142 5.3.1 Arteriosklerose und Stenosen der hirn-
3.4.3 Extrakranielle Duplexsonographie . . . . . . . . 142 versorgenden Arterien . . . . . . . . . . . . . . . . 179
3.4.4 Intrakranielle Duplexsonographie . . . . . . . . . 143 5.3.2 Lokale arterielle Thrombosen . . . . . . . . . . . . 181
3.4.5 Ultraschallkontrastmittel . . . . . . . . . . . . . . 144 5.3.3 Embolien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
3.4.6 Funktionelle Untersuchungen . . . . . . . . . . . 144 5.3.4 Intrazerebrale Arteriolosklerose (Mikro-
3.4.7 Untersuchung des peripheren Nervensystems angiopathie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
und der Muskulatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 5.3.5 Dissektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
XV
Inhaltsverzeichnis

5.4 Einteilung der zerebralen Ischämien . . . . . . . 182 6.3.3 Digitale Subtraktionsangiographie . . . . . . . . 233
5.4.1 Einteilung nach Schweregrad und zeitlichem 6.3.4 Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Verlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 6.4 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
5.4.2 Einteilung nach der Infarktmorphologie . . . . . 183 6.4.1 Konservative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . 234
5.5 Klinik und Gefäßsyndrome . . . . . . . . . . . . . 185 6.4.2 Chirurgische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . 235
5.5.1 Zerebrale Ischämien in der vorderen 6.4.3 Rehabilitative Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . 237
Zirkulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 6.4.4 Prognose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
5.5.2 Ischämien in der hinteren Zirkulation . . . . . . 188
5.5.3 Klinische Besonderheiten bei Dissektionen . . . 190 7 Hirnvenen- und -sinusthrombosen . . . . . . 239
5.5.4 Lakunäre Infarkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 7.1 Epidemiologie und Prognose . . . . . . . . . . . . 240
5.5.5 Multiinfarktsyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . 191 7.2 Anatomie und Pathophysiologie . . . . . . . . . 241
5.5.6 Vaskulitische Infarkte . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 7.3 Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
5.6 Apparative Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . 191 7.3.1 Aseptische Sinusthrombosen . . . . . . . . . . . . 241
5.6.1 Computertomographie (CT) . . . . . . . . . . . . 192 7.3.2 Septische Sinusthrombosen . . . . . . . . . . . . 242
5.6.2 Magnetresonanztomographie (MRT) . . . . . . . 194 7.4 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
5.6.3 Ultraschall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 7.4.1 CT-Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
5.6.4 Angiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 7.4.2 MRT-Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
5.6.5 Kardiologische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . 201 7.4.3 Digitale Subtraktionsangiographie . . . . . . . . 244
5.6.6 Labordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 7.4.4 Andere diagnostische Maßnahmen . . . . . . . . 244
5.6.7 Biopsien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 7.5 Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
5.7 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 7.5.1 Sinus-sagittalis-superior-Thrombose . . . . . . . 244
5.7.1 Schlaganfall als Notfall . . . . . . . . . . . . . . . . 204 7.5.2 Sinus-transversus-Thrombose . . . . . . . . . . . 245
5.7.2 Allgemeine Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 7.5.3 Sinus-cavernosus-Thrombose . . . . . . . . . . . 245
5.7.3 Perfusionsverbessernde Therapie 7.5.4 Thrombose der inneren Hirnvenen . . . . . . . . 245
(Thrombolyse) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 7.5.5 Thrombose einzelner Brückenvenen . . . . . . . 245
5.7.4 Spezielle intensivmedizinische Maßnahmen . . 208 7.6 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
5.7.5 Logopädie, Krankengymnastik und 7.6.1 Konservative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Rehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 7.6.2 Operative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
5.8 Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 7.7 Pseudotumor cerebri (unspezifische
5.8.1 Primärprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 intrazerebrale Druckerhöhung) . . . . . . . . . . 246
5.8.2 Sekundärprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
5.9 Seltene Schlaganfallursachen und ihre 8 Gefäßfehlbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 8.1 Arteriovenöse Fehlbildungen . . . . . . . . . . . 250
5.9.1 Vaskulitische Infarkte . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 8.2 Kavernome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
5.9.2 Fettembolie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 8.3 Arteriovenöse Fisteln . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
5.9.3 Luftembolie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 8.3.1 Durale, arteriovenöse Fisteln . . . . . . . . . . . . 255
5.9.4 Septisch-embolische Herdenzephalitis . . . . . 222 8.3.2 Karotis-Sinus-cavernosus-Fistel . . . . . . . . . . 256
5.9.5 Moya-Moya-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . 223
5.9.6 CADASIL (zerebrale autosomal dominante 9 Intrakranielle arterielle Aneurysmen
Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten und Subarachnoidalblutungen . . . . . . . . 261
und Leukenzephalopathie) . . . . . . . . . . . . . 223 9.1 Vorbemerkungen und Definitionen . . . . . . . . 262
5.9.7 Migräne-assozierter Schlaganfall . . . . . . . . . 223 9.2 Warnblutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
5.9.8 Hypertensive Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 9.3 Akute Subarachnoidalblutung (SAB) . . . . . . . 264
9.3.1 Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
6 Spontane intrazerebrale Blutungen . . . . . 227 9.3.2 Verlauf und Komplikationen . . . . . . . . . . . . 265
6.1 Ätiologie, Pathogenese und Pathophysiologie 228 9.3.3 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
6.2 Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 9.3.4 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
6.2.1 Lobärblutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 9.4 Perimesenzephale und präpontine SAB . . . . . 273
6.2.2 Basalganglienblutung . . . . . . . . . . . . . . . . 231 9.5 Subarachnoidalblutung ohne Aneurysma-
6.2.3 Thalamusblutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 nachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
6.2.4 Kleinhirnblutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 9.6 Arterielle Aneurysmen ohne Subarachnoidal-
6.2.5 Hirnstammblutung (Brücken- und Mittelhirn- blutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274
blutung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 9.6.1 Raumfordernde, symptomatische Aneurysmen 274
6.2.6 Intraventrikuläre Blutung . . . . . . . . . . . . . . 232 9.6.2 Asymptomatische arterielle Aneurysmen . . . . 275
6.2.7 Multilokuläre Blutungen . . . . . . . . . . . . . . . 232
6.3 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 10 Spinale vaskuläre Syndrome . . . . . . . . . . 279
6.3.1 Computertomographie . . . . . . . . . . . . . . . 232 10.1 Klinik der spinalen Gefäßsyndrome . . . . . . . . 280
6.3.2 Magnetresonanztomographie . . . . . . . . . . . 233 10.1.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
XVI Inhaltsverzeichnis

10.1.2 Spinalis-anterior-Syndrom . . . . . . . . . . . . . 280 11.11.1 Hormonproduzierende Tumoren . . . . . . . . . 325


10.1.3 Sulkokommissuralsyndrom . . . . . . . . . . . . . 283 11.11.2 Hormoninaktive Tumoren . . . . . . . . . . . . . . 328
10.1.4 Radicularis-magna-Syndrom . . . . . . . . . . . . 283 11.12 Kraniopharyngeome . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
10.1.5 Claudicatio spinalis (Syndrom des engen 11.13 Metastasen und Meningeosen . . . . . . . . . . . 329
Spinalkanals) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 11.13.1 Solide Metastasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
10.1.6 Progressive, vaskuläre Myelopathie . . . . . . . . 284 11.13.2 Meningeosis blastomatosa . . . . . . . . . . . . . 331
10.2 Spinale Blutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 11.13.3 Meningeosis neoplastica (carcinomatosa) . . . . 334
10.2.1 Hämatomyelie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 11.14 Primäre ZNS-Lymphome . . . . . . . . . . . . . . . 335
10.2.2 Andere spinale Blutungen . . . . . . . . . . . . . . 285
10.3 Spinale Gefäßfehlbildungen . . . . . . . . . . . . 285 12 Spinale Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343
10.3.1 Einteilung der Pathophysiologie . . . . . . . . . . 285 12.1 Epidemiologie, Ätiologie und klinische
10.3.2 Spinale AVMs und Durafisteln . . . . . . . . . . . 285 Leitsymptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
12.1.1 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344
12.1.2 Ätiologische Einteilung . . . . . . . . . . . . . . . 344
12.1.3 Lokalisation und klinische Symptome . . . . . . 344
III Tumorkrankheiten des 12.1.4 Querschnittssyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . 344
12.2 Diagnostik spinaler Tumoren . . . . . . . . . . . . 344
Nervensystems 12.2.1 Neuroradiologische Diagnostik . . . . . . . . . . 345
12.2.2 Liquordiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
11 Hirntumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 12.2.3 Elektrophysiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
11.1 Klinik der Hirntumoren . . . . . . . . . . . . . . . . 295 12.3 Therapieprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
11.1.1 Allgemeinsymptome . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 12.3.1 Chirurgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
11.1.2 Fokale Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 12.3.2 Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
11.2 Hirnödem und intrakranielle Drucksteigerung 297 12.3.3 Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
11.2.1 Zeitlicher Ablauf von Hirnödem und 12.3.4 Schmerztherapie und Palliativmedizin . . . . . . 347
Druckanstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 12.4 Spezielle Aspekte einzelner spinaler
11.2.2 Symptome erhöhten Hirndrucks . . . . . . . . . . 298 Tumorformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
11.2.3 Einklemmung (Herniation) . . . . . . . . . . . . . 299 12.4.1 Extradurale Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 347
11.3 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 12.4.2 Extramedulläre, intradurale Tumoren . . . . . . . 348
11.3.1 Neuroradiologische Diagnostik . . . . . . . . . . 300 12.4.3 Intramedulläre Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . 349
11.3.2 Hirnbiopsie und Histologie . . . . . . . . . . . . . 301
11.3.3 Laboruntersuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . 302 13 Paraneoplastische Syndrome . . . . . . . . . . 353
11.4 Therapieprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 13.1 Paraneoplastische zerebelläre Degeneration
11.4.1 Operative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 (PCD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355
11.4.2 Strahlentherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 13.2 Lambert-Eaton-myasthenes-Syndrom (LEMS) . 355
11.4.3 Chemotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 13.3 Paraneoplastische Enzephalomyelitiden . . . . 357
11.4.4 Hirndrucktherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 13.3.1 Limbische Enzephalitis (LE) . . . . . . . . . . . . . 357
11.5 Astrozytäre Tumoren (Gliome) . . . . . . . . . . . 310 13.3.2 NMDA-Rezeptor-antikörperpositive
11.5.1 Pilozytische Astrozytome (WHO-Grad I) . . . . . 310 Enzephalitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357
11.5.2 Astrozytom (WHO-Grad II) . . . . . . . . . . . . . 310 13.3.3 Bulbäre Enzephalitis (Opsoklonus-Myoklonus-
11.5.3 Ponsgliome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Syndrom, POM) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
11.5.4 Anaplastisches Astrozytom (WHO-Grad III) . . . 312 13.3.4 Paraneoplastische Myelitis . . . . . . . . . . . . . 358
11.5.5 Glioblastom (WHO-Grad IV) . . . . . . . . . . . . . 313 13.3.5 Paraneoplastische, amyotrophische
11.6 Oligodendrogliale Tumoren . . . . . . . . . . . . . 315 Lateralsklerose (ALS) . . . . . . . . . . . . . . . . . 358
11.6.1 Oligodendrogliome (WHO-Grad II) und Misch- 13.3.6 Paraneoplastisches Stiff-person-Syndrom . . . . 358
gliome (Oligoastrozytome, WHO-Grad II-III) . . . 315 13.4 Subakute, sensorische Neuropathie (SSN) . . . . 359
11.6.2 Anaplastische Oligodendrogliome 13.5 Myopathie, Polymyositis und Dermatomyositis 359
(WHO Grad III) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
11.7 Ependymale Tumoren: Ependymome
(WHO-Grad II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
11.8 Primitiv neuroektodermale Tumoren . . . . . . . 319 IV Krankheiten mit anfalls-
11.9 Mesenchymale Tumoren . . . . . . . . . . . . . . . 320
11.9.1 Meningeome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
artigen Symptomen
11.9.2 Anaplastische Meningeome . . . . . . . . . . . . 323
11.10 Nervenscheidentumoren . . . . . . . . . . . . . . 323 14 Epilepsien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
11.10.1 Akustikusneurinom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 14.1 Definition, Epidemiologie und Pathogenese . . 364
11.10.2 Andere Neurinome . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 14.1.1 Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
11.11 Hypophysentumoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 14.1.2 Ätiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364
XVII
Inhaltsverzeichnis

14.1.3 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 16 Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien . . 405


14.1.4 Pathophysiolgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 16.1 Migräne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
14.2 Klassifikation der Epilepsien . . . . . . . . . . . . 366 16.1.1 Migräne ohne Aura . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406
14.3 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 16.1.2 Migräne mit Aura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408
14.3.1 Elektroenzephalographie . . . . . . . . . . . . . . 366 16.1.3 Amnestische Episoden . . . . . . . . . . . . . . . . 412
14.3.2 Computertomographie und Magnet-resonanz- 16.2 Trigeminoautonome Kopfschmerzen . . . . . . 412
tomographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 16.2.1 Episodischer und chronischer Cluster-
14.3.3 Prächirurgische Epilepsiediagnostik . . . . . . . 368 Kopfschmerz (Bing-Horton-Kopfschmerz) . . . . 412
14.4 Charakteristika einzelner Epilepsieformen 16.2.2 Episodische und chronische paroxysmale
(Anfallssemiologie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Hemikranie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
14.4.1 Partielle (fokale) Anfälle . . . . . . . . . . . . . . . 368 16.2.3 SUNCT-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414
14.4.2 Generalisierte Anfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 16.3 Episodischer Spannungskopfschmerz . . . . . . 414
14.4.3 Tonisch-klonischer Grand-mal-Anfall . . . . . . . 373 16.4 Chronischer Spannungskopfschmerz
14.4.4 Status epilepticus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 und chronisch tägliche Kopfschmerzen . . . . . 414
14.5 Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 16.4.1 Chronische Migräne . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
14.5.1 Notfalltherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 16.4.2 Chronischer Kopfschmerz vom Spannungstyp 415
14.5.2 Allgemeine Lebensführung . . . . . . . . . . . . . 378 16.4.3 Hemicrania continua . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
14.5.3 Antiepileptische Medikamente . . . . . . . . . . 378 16.4.4 Neu aufgetretener Dauerkopfschmerz . . . . . . 415
14.5.4 Antiepileptische Dauerbehandlung . . . . . . . 380 16.5 Andere Kopfschmerzformen . . . . . . . . . . . . 415
14.5.5 Therapieresistenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 16.5.1 Glaukomanfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
14.5.6 Therapie des Status epilepticus . . . . . . . . . . 385 16.5.2 Zervikogener Kopfschmerz . . . . . . . . . . . . . 416
14.6 Aspekte der antiepileptischen Therapie in 16.5.3 Chronischer, medikamenteninduzierter
der Schwangerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Dauerkopfschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 416
14.6.1 Anfallshäufigkeit in der Schwangerschaft . . . . 386 16.5.4 Posttraumatischer Kopfschmerz . . . . . . . . . . 416
14.6.2 Dosisreduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 16.6 Trigeminusneuralgie und andere Gesichts-
14.6.3 Missbildungsrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 neuralgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417
14.6.4 Verlauf der Schwangerschaft und Geburt . . . . 387 16.6.1 Klassische Trigeminusneuralgie . . . . . . . . . . 417
14.6.5 Post partum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 16.6.2 Symptomatische Trigeminusneuralgie . . . . . . 420
14.6.6 Antiepileptika und orale Verhütungsmittel . . . 387 16.6.3 Glossopharyngeusneuralgie . . . . . . . . . . . . 420
14.6.7 Chirurgische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . 388 16.7 Andere Gesichtsschmerzen . . . . . . . . . . . . . 421
14.7 Psychiatrische und neuropsychologische 16.7.1 Atypischer Gesichtsschmerz . . . . . . . . . . . . 421
Aspekte der Epilepsien . . . . . . . . . . . . . . . . 389 16.7.2 Zoster ophthalmicus . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
14.7.1 »Epileptische Wesensänderung« und Demenz 389 16.7.3 Glossodynie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
14.7.2 Verstimmungszustände . . . . . . . . . . . . . . . 389 16.7.4 Läsion des Nervus lingualis . . . . . . . . . . . . . 421
14.7.3 Postparoxysmaler Dämmerzustand . . . . . . . . 390 16.8 Arteriitis cranialis (Arteriitis temporalis) . . . . . 421
14.7.4 Epileptische Psychose . . . . . . . . . . . . . . . . 390 16.9 Karotidodynie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422
14.7.5 Psychogene Anfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
14.7.6 Therapie der psychischen Störungen . . . . . . . 390 17 Schwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
14.8 Sozialmedizinische Aspekte . . . . . . . . . . . . . 390 17.1 Benigner, paroxysmaler (peripherer) Lagerungs-
14.8.1 Berufseignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 schwindel (BPPV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426
14.8.2 Fahrtauglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 17.2 Neuritis vestibularis (akuter Labyrinthausfall) . 429
17.3 Phobischer Attackenschwankschwindel . . . . . 430
15 Synkopale Anfälle und andere anfalls- 17.4 Menière-Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430
artige Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 17.5 Vestibularisparoxysmie . . . . . . . . . . . . . . . . 432
15.1 Synkopen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394 17.6 Migräne mit vestibulärer Aura . . . . . . . . . . . 432
15.1.1 Vegetative und kardiale Synkopen . . . . . . . . 394 17.7 Schwindel bei zentralen Läsionen . . . . . . . . 432
15.1.2 Reflexsynkopen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 17.8 Schwindelformen mit gesteigerter
15.1.3 Synkopen bei neurologischen Krankheiten . . . 396 Empfindlichkeit gegenüber physiologischen
15.1.4 Andere Ursachen von Synkopen . . . . . . . . . . 396 Wahrnehmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
15.2 Schlafstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 17.8.1 Kinetose (Bewegungskrankheit) . . . . . . . . . . 433
15.2.1 Narkolepsie und affektiver Tonusverlust . . . . . 397 17.8.2 Höhenschwindel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433
15.2.2 Schlafapnoesyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
15.3 Amnestische Episoden (»transient global
amnesia«, TGA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401
15.4 Tetanie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402
XVIII Inhaltsverzeichnis

20 Entzündungen durch Protozoen,


V Entzündungen Würmer und Pilze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489
20.1 Protozoenerkrankungen . . . . . . . . . . . . . . . 490
des Nervensystems 20.1.1 Toxoplasmose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
20.1.2 Amöbiasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491
18 Bakterielle Entzündungen des Gehirns 20.1.3 Malaria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491
und seiner Häute . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437 20.2 Wurminfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492
18.1 Akute, eitrige Meningitis . . . . . . . . . . . . . . . 438 20.2.1 Zystizerkose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492
18.2 Tuberkulöse Meningitis . . . . . . . . . . . . . . . 445 20.2.2 Trichinose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492
18.2.1 Andere Infektionen mit Mykobakterien . . . . . 446 20.2.3 Echinokokkose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492
18.3 Andere bakterielle Meningitisformen . . . . . . 447 20.2.4 Hundespulwurm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492
18.3.1 Traumatische Meningitis . . . . . . . . . . . . . . . 447 20.3 Pilzinfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493
18.3.2 Listerienmeningitis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 20.3.1 Spezielle Aspekte einzelner Pilzerkrankungen . 494
18.4 Hirnabszesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447
18.5 Embolisch-metastatische Herdenzephalitis . . . 450 21 Spinale Entzündungen . . . . . . . . . . . . . . 497
18.6 Treponemeninfektionen: Lues und Borreliose . 450 21.1 Spinale Abszesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 498
18.6.1 Lues . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 21.2 Andere, spinale Infektionen . . . . . . . . . . . . . 500
18.6.2 Neuroborreliose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
18.7 Clostridieninfektionen . . . . . . . . . . . . . . . . 455 22 Multiple Sklerose und andere immun-
18.7.1 Tetanus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 vermittelte Enzephalopathien . . . . . . . . . 501
18.7.2 Botulismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 22.1 Multiple Sklerose (MS) . . . . . . . . . . . . . . . . 502
18.8 Andere bakterielle Infektionen . . . . . . . . . . . 458 22.1.1 Epidemiologie, Ätiologie und Pathogenese . . . 502
18.8.1 Rickettsiosen: Fleckfieber-Enzephalitis . . . . . . 458 22.1.2 Symptome und Verlaufsformen . . . . . . . . . . 504
18.8.2 Leptospirose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 22.1.3 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508
18.8.3 Neurobruzellose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 22.1.4 Therapie und Prophylaxe . . . . . . . . . . . . . . 510
18.8.4 Aktinomykose und Nokardiose . . . . . . . . . . 458 22.1.5 Encephalitis pontis et cerebelli . . . . . . . . . . . 516
18.8.5 Legionellose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 22.2 Akute immunvermittelte Enzephaitiden . . . . . . 517
18.8.6 Zerebraler M. Whipple . . . . . . . . . . . . . . . . 459 22.2.1 Akut demyelinisierende Enzephalomyelitis
(ADEM) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517
19 Virale Entzündungen und 22.2.2 Akutes Posteriores (reversibles) Leukenzephalo-
Prionkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 pathie-Syndrom (PRES) . . . . . . . . . . . . . . . . 518
19.1 Virale Meningitis (akute, lymphozytäre 22.2.3 Parainfektiöse Enzephalomyelitis und impf-
Meningitis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 assoziierte Enzephalitiden . . . . . . . . . . . . . . 520
19.2 Chronische, lymphozytäre Meningitis . . . . . . 466 22.3 Chronische immunvermittelte Enzephalitiden 522
19.2.1 Morbus Boeck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 22.3.1 Nicht-paraneoplastische limbische Enzephalitis
19.3 Akute Virusenzephalitis . . . . . . . . . . . . . . . 467 (LE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522
19.3.1 Herpes-simplex-Enzephalitis (HsE) . . . . . . . . 468 22.3.2 Neuromyelitis optica (NMO) . . . . . . . . . . . . 522
19.3.2 Zosterinfektionen (Varizella-Zoster-Virus, VZV) 471 22.3.3 Hashimoto-Enzephalitis (steroidresponsive
19.3.3 Epstein-Barr-Virus-Infektion (EBV) . . . . . . . . . 473 Enzephalopathie mit Autoimmunthyreoiditis
19.3.4 Zytomegalie-Virus-Infektion (CMV) . . . . . . . . 473 (SREAT)) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 522
19.3.5 Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) . . . 473 22.4 Neurosarkoidose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523
19.3.6 Coxsackie- und Echovirus-Meningitis . . . . . . . 473 22.5 Stiff-person-Syndrom (SPS) . . . . . . . . . . . . . 524
19.3.7 Poliomyelitis acuta anterior (Polio) . . . . . . . . 474
19.3.8 Myxoviren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475
19.3.9 Rabies (Lyssa, Tollwut) . . . . . . . . . . . . . . . . 475
19.3.10 Weitere akute Virusmeningoenzephalitiden . . 476 VI Bewegungsstörungen und
19.4 HIV-Infektion (Neuro-AIDS) . . . . . . . . . . . . . 477
19.4.1 Neurologische Beteiligung bei HIV-Infektion . . 478 degenerative Krankheiten
19.4.2 Opportunistische Infektionen bei HIV . . . . . . 479 des Zentralnervensystems
19.4.3 HIV-assoziiertes ZNS-Lymphome . . . . . . . . . 481
19.4.4 Die HIV-assoziierte Demenz . . . . . . . . . . . . . 482
19.5 Prionkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 23 Krankheiten der Basalganglien . . . . . . . . 529
19.5.1 Creutzfeldt-Jacob-Krankheit (CJK) . . . . . . . . . 482 23.1 Parkinson-Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . 530
19.5.2 Neue Variante der CJK . . . . . . . . . . . . . . . . 485 23.1.1 Idiopathische Parkinson-Krankheit . . . . . . . . 530
23.1.2 Multisystematrophien (MSA) mit Parkinson-
Symptomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540
23.1.3 Parkinsonsyndrome bei anderen neuro-
degenerativen Erkrankungen . . . . . . . . . . . 542
XIX
Inhaltsverzeichnis

23.2 Choreatische Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . 544 26.1.2 Schädelfraktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589


23.2.1 Chorea Huntington . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 26.2 Hirntraumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 590
23.2.2 Chorea minor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 26.2.1 Leichtes Schädel-Hirn-Trauma (SHT) . . . . . . . 590
23.2.3 Schwangerschaftschorea . . . . . . . . . . . . . . 546 26.2.2 Mittelschweres und schweres SHT . . . . . . . . . 592
23.3 Ballismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546 26.2.3 Offene Hirnverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . 599
23.4 Dystonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 26.3 Traumatische intrakranielle Hämatome . . . . . 600
23.4.1 Fokale und segmentale Dystonien . . . . . . . . 547 26.3.1 Epidurales Hämatom . . . . . . . . . . . . . . . . . 600
23.4.2 Generalisierte Dystonien . . . . . . . . . . . . . . 551 26.3.2 Akutes Subduralhämatom (SDH) . . . . . . . . . 600
23.5 Tremor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553 26.3.4 Traumatische Subarachnoidalblutung . . . . . . 601
23.5.1 (Verstärkter) physiologischer Tremor . . . . . . . 555 26.3.5 Intrazerebrales Hämatom . . . . . . . . . . . . . . 601
23.5.2 Essentieller Tremor . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555 26.3.6 Traumatische Raumforderungen im Bereich
26.5.3 Psychogener Tremor . . . . . . . . . . . . . . . . . 557 der hinteren Schädelgrube . . . . . . . . . . . . . 601
23.5.4 Alkoholbedingte Tremorformen . . . . . . . . . . 557 26.4 Spätkomplikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . 601
23.6 Myoklonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 558 26.4.1 Chronisches posttraumatisches Syndrom . . . . 601
23.7 Restless-legs-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . 559 26.4.2 Chronisches, subdurales Hämatom . . . . . . . . 602
23.8 Tics . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560 26.4.3 Spätabszess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602
23.8.1 Tourette-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 560 26.4.4 Traumatische Epilepsie . . . . . . . . . . . . . . . . 602
26.4.5 Traumatische Sinus-cavernosus-Fistel . . . . . . 603
24 Ataxien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 26.4.6 Traumatische arterielle Dissektionen . . . . . . . 603
24.1 Erbliche, degenerative Ataxien . . . . . . . . . . . 564
24.1.1 Friedreich-Ataxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 27 Wirbelsäulen- und Rückenmarktraumen . . 605
24.1.2 Andere, autosomal-rezessive Krankheiten 27.1 Funktionelle, traumatische Rückenmark-
mit Ataxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 566 schädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606
24.1.3 Autosomal-dominant erbliche zerebelläre 27.2 Traumatische Substanzschädigung
Ataxien (spinozerebelläre Ataxien, SCA) . . . . . 566 des Rückenmarks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 606
24.1.4 Episodische Ataxien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 27.3 HWS-Distorsion (Beschleunigungstrauma,
24.2 Nichterbliche, degenerative Ataxien . . . . . . . 567 sog. Schleudertrauma) . . . . . . . . . . . . . . . . 608
24.3 Erworbene Ataxien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 27.4 Elektrotrauma und Strahlenschäden
24.3.1 Alkoholische Kleinhirndegeneration . . . . . . . 567 des Rückenmarks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611
24.3.2 Andere erworbene Kleinhirndegenerationen . 567 27.4.1 Elektrotrauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 611
27.4.2 Spätschäden des zentralen und peripheren
25 Demenzkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . 569 Nervensystems durch ionisierende Strahlen . . 611
25.1 Alzheimer-Krankheit (Demenz vom
Alzheimertyp, DAT) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572
25.2 Vaskuläre Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 576
25.3 Frontotemporale Demenzen (Pick-Komplex) . . 579 VIII Metabolische und
25.3.1 Fronto-temporale Demenz vom Verhaltenstyp
(FTD; Pick-Syndrom) . . . . . . . . . . . . . . . . . 579 toxische Schädigungen
25.3.2 Primär progressive Aphasie . . . . . . . . . . . . . 580 des Nervensystems
25.4 Andere Formen degenerativer Demenz-
krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 580
25.4.1 Demenz mit Lewy-Körpern (DLK) . . . . . . . . . 580 28 Stoffwechselbedingte (dystrophische)
25.5 Normaldruckhydrocephalus (Hydrocephalus Prozesse des Nervensystems . . . . . . . . . . 615
communicans, normal pressure hydrocephalus, 28.1 Funikuläre Spinalerkrankung . . . . . . . . . . . . 616
NPH) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581 28.2 Hepatolentikuläre Degeneration
(M. Wilson) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617
28.3 Hepatische Enzephalopathie (HE) . . . . . . . . . 619
28.4 Neurologische Symptome bei akuter und
VII Traumatische chronischer Niereninsuffizienz . . . . . . . . . . . 620
28.4.1 Urämische Enzephalopathien . . . . . . . . . . . 620
Schädigungen des 28.5 Akute, intermittierende Porphyrie . . . . . . . . . 621
Zentralnervensystems 28.6 Leukodystrophien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 622
28.6.1 Metachromatische Leukodystrophie . . . . . . . 622
und seiner Hüllen 28.6.2 Andere Leukodystrophien . . . . . . . . . . . . . . 623
28.7 Mitochondriale Krankheiten . . . . . . . . . . . . 623
26 Schädel- und Hirntraumen . . . . . . . . . . . . 587 28.7.1 Chronisch progressive externe
26.1 Schädeltraumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588 Ophthalmoplegie (CPEO) . . . . . . . . . . . . . . 625
26.1.1 Schädelprellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588 28.7.2 MELAS-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625
XX Inhaltsverzeichnis

28.7.3 MERRF-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 625


28.8 Morbus Fabry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 626 IX Krankheiten des peripheren
29 Alkoholassoziierte Psychosen und Alkohol- Nervensystems
schäden des Nervensystems . . . . . . . . . . 629 und der Muskulatur
29.1 Alkoholassoziierte Psychosen . . . . . . . . . . . 630
29.1.1 Akute Alkoholintoxikation (Rausch) . . . . . . . . 630
29.1.2 Pathologischer Rausch . . . . . . . . . . . . . . . . 630 31 Schädigungen der peripheren Nerven . . . 653
29.1.3 Alkoholdelir (Entzugsdelir, Delirium tremens) . 630 31.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 655
29.1.4 Alkoholhalluzinose . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633 31.1.1 Schädigungsmechanismen peripherer Nerven 655
29.2 Alkoholschäden des Nervensystems . . . . . . . 634 31.1.2 Diagnostik der peripheren Nervenläsionen . . . 655
29.2.1 Alkoholbedingte Polyneuropathie . . . . . . . . 634 31.2 Hirnnervenläsionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656
29.2.2 Wernicke-Korsakow-Syndrom . . . . . . . . . . . 635 31.2.1 N. oculomotorius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 656
29.2.3 Zentrale, pontine Myelinolyse (CPM) . . . . . . . 637 31.2.2 N. trochlearis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657
29.2.4 Lokalisierte, sporadische Spätatrophie 31.2.3 N. abducens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 657
der Kleinhirnrinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 31.2.4 N. trigeminus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658
29.2.5 Hirnrindenatrophie und Alkoholdemenz . . . . 638 31.2.5 N. facialis (Hirnnerv VII): Periphere Fazialis-
29.2.6 Andere alkoholassoziierte Krankheiten lähmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658
und Syndrome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 31.2.6 N. statoacusticus (Hirnnerv VIII) . . . . . . . . . . 661
31.2.7 N. glossopharyngeus und N. vagus . . . . . . . . 661
30 Neurologische Störungen 31.2.8 N. accessorius (Hirnnerv XI): Akzessorius-
als Medikamentennebenwirkungen lähmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 661
und bei chronischen Intoxikationen . . . . . 641 31.2.9 N. hypoglossus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 662
30.1 Kopfschmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642 31.3 Läsionen des Plexus cervicobrachialis . . . . . . 662
30.2 Störungen von Antrieb, Gedächtnis 31.3.1 Traumatische Plexusläsionen . . . . . . . . . . . . 663
und Stimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642 31.3.2 Neuralgische Schulteramyotrophie . . . . . . . . 663
30.2.1 Medikamenteneinnahme in therapeutischer 31.3.3 Skalenussyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 663
Dosierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 642 31.4 Läsionen einzelner Nerven des Plexus cervico-
30.2.2 Chronischer Medikamentenabusus . . . . . . . . 643 brachialis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 664
30.3 Bewusstseinsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . 643 31.4.1 N. suprascapularis (C4–C6) . . . . . . . . . . . . . 664
30.4 Entzugssymptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 31.4.2 N. thoracicus longus (C5–C7) . . . . . . . . . . . . 664
30.4.1 Delir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 31.4.3 N. thoracodorsalis (C6–C8) . . . . . . . . . . . . . 664
30.4.2 Somnolenz und narkoleptische Anfälle . . . . . 644 31.4.4 Nn. thoracici anteriores (C5–Th1) . . . . . . . . . 665
30.5 Psychotische Episoden und Halluzinationen . . 644 31.4.5 N. axillaris (C5–C7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668
30.6 Epileptische Anfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 31.4.6 N. musculocutaneus (C6–C7) . . . . . . . . . . . . 668
30.6.1 Medikamente mit krampfschwellensenkender 31.4.7 N. radialis (C5–Th1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668
Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 31.4.8 N. medianus (C6–Th1, vorwiegend C6–C8) . . . 669
30.6.2 Entzugskrämpfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 31.4.9 N. ulnaris (C8–Th1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671
30.7 Extrapyramidale Syndrome . . . . . . . . . . . . . 645 31.5 Läsionen des Plexus lumbosacralis . . . . . . . . 673
30.7.1 Medikamentös ausgelöstes Parkinson-Syndrom 645 31.6 Läsionen einzelner Nerven des Plexus lumbo-
30.7.2 Hyperkinesen und Dystonien . . . . . . . . . . . . 645 sacralis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674
30.7.3 Spätdyskinesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 31.6.1 N. cutaneus femoris lateralis (L2 und L3) . . . . . 674
30.7.4 Tremor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 645 31.6.2 N. femoralis (L2–L4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 674
30.8 Hirnstamm- und zerebelläre Symptome . . . . . 645 31.6.3 N. glutaeus superior (L4–S1) . . . . . . . . . . . . 675
30.8.1 Hirnstammsymptome . . . . . . . . . . . . . . . . 645 31.6.4 N. glutaeus inferior (L5–S2) . . . . . . . . . . . . . 675
30.8.2 Zerebelläre Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . 646 31.6.5 N. obturatorius (L2–L4) . . . . . . . . . . . . . . . . 675
30.9 Hirnnervensymptome . . . . . . . . . . . . . . . . 646 31.6.6 N. ischiadicus (L4–S3) . . . . . . . . . . . . . . . . . 675
30.9.1 Riechstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 31.6.7 N. peronaeus (L4–S2) . . . . . . . . . . . . . . . . . 676
30.9.2 Sehstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 31.6.8 N. tibialis (L4–S3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 676
30.9.3 Pupillenstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 646 31.7 Akuttherapie der peripheren Nerven-
30.9.4 Schädigung des N. stato-acusticus . . . . . . . . 647 schädigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 677
30.9.5 Geschmacksstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . 647 31.7.1 Konservative Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . 677
30.9.6 Andere Hirnnerven . . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 31.7.2 Operative Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . 678
30.10 Neuromuskuläre Störungen . . . . . . . . . . . . 647 31.8 Erkrankungen der Bandscheiben . . . . . . . . . 678
30.10.1 Medikamentös ausgelöste Polyneuropathie . . 647 31.8.1 Zervikaler oder thorakaler, medialer
30.10.2 Läsionen einzelner peripherer Nerven . . . . . . 647 Bandscheibenvorfall . . . . . . . . . . . . . . . . . 679
30.10.3 Störung der neuromuskulären Überleitung . . . 647 31.8.2 Zervikaler, lateraler Bandscheibenvorfall . . . . 679
30.10.4 Muskuläre Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 647 31.8.3 Zervikale Myelopathie . . . . . . . . . . . . . . . . 680
XXI
Inhaltsverzeichnis

31.8.4 Lumbosakraler, medialer Bandscheibenvorfall 680 33 Motoneuronale Krankheiten . . . . . . . . . . 717


31.8.5 Lumbaler, lateraler Bandscheibenvorfall . . . . . 682 33.1 Degeneration des 1. Motoneurons . . . . . . . . 718
31.8.6 Arachnopathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 685 33.1.1 (Hereditäre) spastische Spinalparalyse (HSP) . . 718
31.8.7 Claudicatio des thorakalen Rückenmarks . . . . 685 33.1.2 Primäre Lateralsklerose . . . . . . . . . . . . . . . 719
31.8.8 Claudicatio der Cauda equina . . . . . . . . . . . 685 33.2 Krankheiten mit Degeneration des 2. Moto-
neurons: Spinale Muskelatrophien (SMA) . . . . 719
32 Polyneuropathien, Immunneuropathien 33.2.1 Infantile spinale Muskelatrophie (Typ I,
und hereditäre Neuropathien . . . . . . . . . 689 Werdnig-Hoffmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . 721
32.1 Allgemeine Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . 690 33.2.2 Hereditäre, proximale, neurogene Amyotrophie
32.1.1 Definition und Einteilung . . . . . . . . . . . . . . 690 (Typ III, Kugelberg-Welander) . . . . . . . . . . . . 721
31.1.2 Leitsymptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 691 33.2.3 Progressive spinale Muskelatrophie (Typ
32.1.3 Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 693 Duchenne-Aran) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 721
32.1.4 Allgemeine Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . 695 33.2.4 Postpoliosyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 722
32.2 Metabolische Polyneuropathien . . . . . . . . . . 695 33.3 Progressive Bulbärparalyse . . . . . . . . . . . . . 723
32.2.1 Diabetische Polyneuropathie . . . . . . . . . . . . 695 33.4 Amyotrophische Lateralsklerose (ALS) . . . . . . 724
32.2.2 Andere, metabolische Polyneuropathien . . . . 697
32.2.3 Polyneuropathie bei Vitaminmangel 34 Muskelkrankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . 731
und Malresorption . . . . . . . . . . . . . . . . . . 697 34.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 732
32.3 Toxisch ausgelöste Polyneuropathien . . . . . . 698 34.1.1 Leitsymptome bei Muskelkrankheiten . . . . . . 732
32.3.1 Medikamenteninduzierte Polyneuropathien . . 698 34.1.2 Allgemeine Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . 732
32.3.2 Polyneuropathien bei Lösungsmittel- 34.1.3 Allgemeine Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . 733
exposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 698 34.2 Progressive Muskeldystrophien . . . . . . . . . . 733
32.4 Polyneuropathie bei Vaskulitiden 34.2.1 Aufsteigende, bösartige Beckengürtelform
und bei Kollagenosen . . . . . . . . . . . . . . . . 700 (Duchenne) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735
32.4.1 Panarteriitis nodosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700 34.2.2 Aufsteigende, gutartige Beckengürtelform
32.4.2 Polyneuropathie bei rheumatoider Arthritis . . 701 (Becker-Kiener) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 735
32.5 Hereditäre, motorische und sensible 34.2.3 Gliedergürteldystrophie . . . . . . . . . . . . . . . 735
Neuropathien (HMSN) (auch: CMT (Charcot- 34.2.4 Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie . . . . 736
Marie-Tooth(-Gruppe))) . . . . . . . . . . . . . . . 701 34.3 Myotonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 737
32.5.1 CMT Typ 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 702 34.3.1 Myotonia congenita . . . . . . . . . . . . . . . . . 738
32.5.2 Andere hereditäre sensomotorische Neuro- 34.3.2 Dystrophische Myotonie Typ 1
pathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704 (DM 1, Curschmann-Steinert-Krankheit) . . . . . 738
32.6 Immunneuropathien (Guillain-Barré-Syndrom 34.4 Periodische (dyskaliämische) Lähmungen . . . . 741
und Varianten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705 34.4.1 Hypokaliämische Lähmung . . . . . . . . . . . . . 741
32.6.1 Akut inflammatorische demyelinisierende 34.4.2 Normokaliämische, periodische Lähmung . . . 742
Polyneuropathie (AIDP, Guillain-Barré- 34.4.3 Hyperkaliämische, periodische Lähmung
Syndrom (GBS)) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 705 (Gamstorp) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 742
32.6.2 Chronische Immunneuropathien (chronisch 34.5 Metabolische Myopathien . . . . . . . . . . . . . . 743
inflammatorische demyelinisierende Poly- 34.5.1 Störungen des Glykogenhaushaltes . . . . . . . 743
neuropathie (CIDP) und Varianten . . . . . . . . . 708 34.5.2 Metabolische Myopathien mit Fettstoffwechsel-
32.6.3 Miller-Fisher-Syndrom (MFS) . . . . . . . . . . . . 709 störung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744
32.6.4 Multifokale, motorische Neuropathie (MMN) . . 709 34.6 Endokrine Myopathien . . . . . . . . . . . . . . . . 745
32.7 Entzündliche Polyneuropathien bei direktem 34.7 Toxische Myopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . 745
Erregerbefall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 34.7.1 Steroidmyopathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746
32.7.1 Lepra-Neuropathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 710 34.7.2 Statin-Myopathie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 746
32.7.2 HIV-assoziierte Neuropathien . . . . . . . . . . . 711 34.7.3 Alkoholinduzierte Myopathie . . . . . . . . . . . 746
32.8 Botulismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 711 34.7.4 Maligne Hyperthermie . . . . . . . . . . . . . . . . 746
32.9 Dysproteinämische und paraneoplastische 34.7.5 Malignes Neuroleptikasyndrom . . . . . . . . . . 746
Polyneuropathien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 712 34.8 Myasthenia gravis pseudoparalytica . . . . . . . 746
32.10 Erkrankungen des vegetativen Nervensystems 713 34.8.1 Okuläre Myasthenie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 747
32.10.1 Komplexes regionales Schmerzsyndrom 34.8.2 Generalisierte Myasthenie . . . . . . . . . . . . . . 748
(CRPS, Sudeck-Syndrom) . . . . . . . . . . . . . . . 713 34.8.3 Myasthene und cholinerge Krise . . . . . . . . . . 751
32.10.2 Akute Pandysautonomie und verwandte Krank- 34.8.4 Andere myasthene Syndrome . . . . . . . . . . . 752
heiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 34.9 Entzündliche Muskelkrankheiten (Myositiden) 754
32.10.3 Familiäre Dysautonomie . . . . . . . . . . . . . . . 713 34.9.1 Polymyositis und Dermatomyositis . . . . . . . . 754
32.10.4 Kongenitale sensorische Neuropathie 34.9.2 Polymyalgia rheumatica . . . . . . . . . . . . . . . 756
mit Anhidrose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 713 34.9.3 Erregerbedingte Muskelentzündungen . . . . . 757
34.10 Okuläre Myopathien . . . . . . . . . . . . . . . . . 757
XXII Inhaltsverzeichnis

34.10.1 Okuläre und okulopharyngeale Muskel-


dystrophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 757 Anhang
34.10.2 Okuläre Myositis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 757
34.11 Mechanische Störungen der Muskulatur . . . . 758
34.11.1 Kompartmentsyndrom . . . . . . . . . . . . . . . . 758 A1 Skalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 799
A1.1 Schlaganfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 800
A1.2 Multiple Sklerose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 804
A1.3 Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 806
X Andere neurologische A1.4 Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807
A1.5 Myasthenia gravis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 809
Störungen A1.6 Parkinson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 810
A1.7 ECOG-Leistungsstatus und Karnofsky-Index . . 811
35 Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen
des Nervensystems . . . . . . . . . . . . . . . . . 763 A2 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 813
35.1 Geistige Behinderung und zerebrale
Bewegungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764 A3 Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . 817
35.1.1 Zentrale Bewegungsstörungen nach früh-
kindlicher Hirnschädigung (infantile Zerebral- A4 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 819
paresen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766
35.1.2 Minimale frühkindliche Hirnschädigung . . . . . 767
35.2 Hydrozephalus und Arachnoidalzysten . . . . . 767
35.2.1 Hydrozephalus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 767
35.2.2 Arachnoidalzysten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 770
35.3 Syringomyelie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 771
35.4 Phakomatosen (neurokutane Fehlbildungen) . 772
35.4.1 Neurofibromatose (NF) . . . . . . . . . . . . . . . . 775
35.5 Fehlbildungen des kraniozervikalen Übergangs
und der hinteren Schädelgrube . . . . . . . . . . 776
35.5.1 Basiläre Impression oder Invagination . . . . . . 776
35.5.2 Atlasassimilation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 777
35.5.3 Klippel-Feil-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . 779
35.5.4 Chiari-Fehlbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 779
35.5.5 Dandy-Walker-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . 779
35.6 Fehlbildungen der Wirbelsäule . . . . . . . . . . . 781
35.6.1 Spina bifida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781
35.6.2 Spondylolisthesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 781
35.6.3 Lumbalisation und Sakralisation . . . . . . . . . . 782

36 Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen


von unklarem Krankheitswert . . . . . . . . . 785
36.1 Sick-building-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . 786
36.2 Idiopathische, umweltbezogene
Unverträglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 787
36.3 Fibromyalgie-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . 788
36.4 Chronisches Erschöpfungssyndrom (chronic
fatigue syndrome, CFS) . . . . . . . . . . . . . . . . 790
36.5 Chronischer, täglicher Kopfschmerz . . . . . . . 791
36.6 Spätfolgen nach Halswirbelsäulendistorsion . . 791
36.7 Simulationssyndrome . . . . . . . . . . . . . . . . 793
36.7.1 Münchhausen-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . 794
36.7.2 Koryphäenkiller-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . 795
XXIII

Abkürzungen
A. Arteria BSV Bandscheibenvorfall
AAT Achener Aphasie Test BWS Brustwirbelsäule
ACA Arteria cerebri anterior
ACC Angiotension-Converting-Enzym CA cancer antigen
ACh Acetylcholin CAA A. carotis communis
ACTH adrenokortikotropes Hormon CADASIL cerebral autosomal dominant arteriopathy
ADC apparent diffusion coefficient CBD kortikobasale Degeneration
ADEM akute disseminierte Enzephalomyelitis CBF cerebral blood flow, zerebraler Blutfluss
ADHS Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts- CBG kortikobasale Degeneration
syndrom CBZ Carbamazepin
ADL activities of daily living CDC Center for Disease Control and
AEP akustische Reize Prevention
AFP alpha-Fetoprotein CEA karzinoembryonales Antigen
AICA A. cerebelli inferior anterior CFS chronic fatigue syndrome, chronisches
AIDS acquired immune deficiency syndrome Erschöpfungssyndrom
AK Antikörper CGRP calcitonin-gene-related peptide
ALS amyotrophische Lateralsklerose CIDP chronisch inflammatorische demyelinisie-
AMAN akute motorische axonale Neuropathie rende Polyneuropathie
AMPA alpha-amino-3-hydroxy-5-methyl-1,4- CIP Critical-illness-Polyneuropathie
isoxazole-proprionic acid CJK Creutzfeldt-Jacob-Krankheit
AMSAN akute motorische und sensorische axonale CK Kreatinkinase
Neuropathie CMT Charcot-Marie-Tooth-Krankheit
ANA antinukleäre Antikörper CMV Zytomegalie-Virus
ANCA antineutrophile zytoplasmatische CO Kohlenmonoxid
Antikörper COMT Catechol-o-Mythyltransferase
ANCE asymptomatische, HIV-assoziierte, CPM zentrale, pontine Myelinolyse
neurokognitive Einschränkung cPP zelluläres Prionprotein
ANNA antineuronale nukleäre Antikörper CPP zerebraler Perfusionsdruck
APC aktiviertes Protein C CRP C-reaktives Protein
APP Amyloid-Präkursorprotein CT Computertomographie
ARC AIDS-related complex CTA CT-Angiographie
ARDS adult respiratory distress syndrome
ASA Vorhofseptumaneurysma DA Dopaminagonist
ASL aterial spin labeling DAT Demenz vom Alzheimertyp
ASR Achillessehnenreflex DDCI Dopa-Decarboxylase-Inhibitor
ASS Acetylsalicylsäure DGN Deutsche Gesellschaft für Neurologie
AV Allgemeinveränderungen DIC disseminierte intravasale Gerinnung
AVM arteriovenöse Missbildung DLK Demenz mit Lewy-Körpern
DM dystrophische Monotonie
BA A. basilaris DNA Desoxyribonukleinsäure
BAEP brainstem acustic evoked potential DPA D-Penicillamin
BB Blutbild DPH Diphenylhydantoin
BCM breast cancer mucin DRG Diagnosis Related Groups (Fallpauschalen)
BERA brainstem-evoked response audiometry DS Duplexsonografie
BHR Bauchhautreflex DSA digitale Subtraktionsangiographie
BHS Bluthirnschranke DWI diffusionsgewichtetes Imaging
BIT Behavioral Inattention Test DWMR diffusionsgewichtetes MR (s.a. DWI)
BNS-Krampf Blitz-Nick-Salaam-Krampf
BOLD blood oxygenation level dependent EAE autoimmune Enzephalomyelitiden
BPPV benigner, paroxysmaler (peripherer) EBV Epstein-Barr-Virus
Lagerungsschwindel ECA Aa. Carotis externa
BRN Blickrichtungsnystagmus ECD extrakranielle Dopplersonographie
BSG Blutkörperchen-Senkungs-Geschwindigkeit ECT Emissions-Computertomographie
BSR Bizepssehnenreflex ED Enzephalomyelitis disseminata
XXIV Abkürzungen

EDSS Encephalomyelitis-disseminata-Symptom- HSAN hereditäre sensorische autonome


Skala Neuropathie
EEG Elektroenzephalogramm HsE Herpes-simplex-Enzephalitis
EKG Elektrokardiogramm HSP (hereditäre) spastische Spinalparalyse
ELISA enzyme-linked immunadsorbent assay HSV Herpes simplex-Virus
EMG Elektromyographie HWS Halswirbelsäule
ENG Elektroneurographie Hz Hertz
EOG Elektrookulographie
EOMG early onset myasthenia gravis ICA Arteria carotis interna
EP evozierte Potentiale ICB intrazerebrale Blutung
ETX Ethosuximid ICP intrazerebraler Druck
IFN Interferon
FAHP frühe akustische Hirnstammpotentiale Ig Immunglobuline
FBM Felbamat IHS Internationalen Kopfschmerzgesellschaft
FDG Fluor-Desoxy-Glukose IKBKAP inhibitor of kappa light polypeptide gene
FISH Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung enhancer in B cells, kinase complexassociated
FLAIR fluid attenuated inversion recovery protein
fMRT funktionelle MRT INO internukleäre Ophthalmoplegie
FNV Finger-Nase-Versuch iNPH idiopathischer Normaldruckhydrocephalus
FPI Freiburger Persönlichkeitsinventar INR International Normalized Ratio
FS Funktionssystem IPM Impulsiv-Petit-mal
FSH follikelstimulierendes Hormon IPS idiopathisches Parkinson-Syndrom
FSME Frühsommer-Meningoenzephalomyelitis IQ Intelligenzquotient
FTA-Abs fluorescent treponemal antibody absorption ISAT International Subarachnoid Aneurysm Trial
FTD frontotemporale Demenz IST Intelligenzstrukturtest
FTD-MND Motor Neuron Disease Dementia IVIG intravenöse Immunglobuline
FXTAS Fragiles-X-assoziierte-Tremor-Ataxie-
Syndrom KG Körpergewicht
KHV Knie-Hacken-Versuch
GABA Gammaaminobuttersäure KKS Koryphäenkiller-Syndrom
GAD Glutamat-Decarboxylase KM Kontrastmittel
GBP Gabapentin KO Körperoberfläche
GBS Guillain-Barré-Syndrom KTS Karpaltunnelsyndrom
GCS Glasgow-Koma-Skala
GF growth factor LAS Lymphadenopathiesyndrom
GFAP gliales fibrilläres azidisches Protein LCMV Lymphocytic choriomeningitis-Virus
Ggl. Ganglion LDH Laktatdehydrogenase
GH Wachstumshormon LDL Low-density-Lipoproteinen
GICA gastrointestinal cancer antigen LE Limbische Enzephalitis
GLAT Glutaminsäure, Lysin, Alanin und Tyrosin LE limbische Enzephalitis
GM Grand-mal LEMS Lambert-Eaton myasthenes Syndrom
GPi Globus pallidus internus LEV Levetiracetam
GRE Gradientenecho LGMD limb girdle muscular dystrophy
Gy Gray LGS Lennox-Gastaut-Syndrom
LH lutenisierendes Hormon
HAD HIV-assoziierte Demenz LLR Long-loop-Reflex
HAWIE Hamburg-Wechsler-Intelligenztest LP Lumbalpunktion
hCG humanes Choriongonadotropin LPS Leistungsprüfsystem
hCT humanes Calcitonin LTG Lamotrigin
HDL High-density-Lipoprotein LVT Levetiracetam
HHH hypertensiv-hypervolämische Hämodilution LWS Lendenwirbelsäule
HI hämorrhagische Infarzierung
HIV human immunodeficiency virus M. Morbus, Musculus
HMPAO Hexamethylpropylenaminoxid MAG Myelin-assoziiertes Glykoprotein
HMSN hereditäre, motorische und sensible MAO Monoaminooxidase
Neuropathien maP mittlerer arterieller Druck
HOPS hirnorganisches Psychosyndrom MBP basisches Myelinprotein
H-Reflex Hoffmann-Reflex MCA Arteria cerebri media
XXV
Abkürzungen

MCA mucin-like cancer associated antigen PCA Arteria cerebri posterior


MCD minimale zerebrale Dysfunktion PCC Prothrombib-Komplex-Konzentrat
MCS multiple chemical sensitivities PCD paraneoplastische zerebelläre Degeneration
mE motorische Einheit Pcom Arteria communicans posterior
MEG Magnetenzephalogramm PCR polymerase chain reaction, Polymerase-
MELAS mitochondrial myopathy, encephalopathy, kettenreaktion
lactic acidosis and stroke-like episodes PCT Perfusions-CT
MEP motorisch evoziertes Potential PET Positronen-Emissions-Tomographie
MERRF myoclonus epilepsy with ragged red fibers PGA Pregabalin
MFS Miller-Fisher-Syndrom PGB Pregabatin
MG Myasthenia gravis PH parenchymatöse Hämorrhagie
MG Myasthenia gravis PHB Phenobarbital
MIP Maximum-Intensity-Projektion PICA Arteria cerebelli inferior posterior
MLF medialer longitudinaler Faszikulus PK Positivkontrolle
MMN multifokale motorische Neuropathie PKU Phenylketonurie
MMPI Minnesota Multiphase Personality Inventory PLMS periodic leg movements in sleep
MMT Mini-Mental-Test PLP Proteolipoprotein
MND moto-neuron disease PMD proximale myotone Dystonie
MOG Myelin-Oligoendrozyten-Glykoprotein PmE Potential einer motorischen Einheit
MRA Magnetresonanz-Angiographie PML progressive multifokale Leukenzephalo-
MRF mesenzephale retikuläre Formation pathie
mRS modifizierte Rankin-Skala PMR Perfusions-Magnetresonanz
MRT Magnetresonanztomographie PMR Polymyalgia rheumatica
ms Millisekunden PNP Polyneuropathie
MS multiple Sklerose PNS peripheres Nervensystem
MSA Multisystematrophien POM Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom
MTT Mean transit time PP pankreatisches Polypeptid
MTX Methotrexat PPA primär progrediente Aphasie
MuSK muskelspezifische Rezeptor-Thyrosinkinase PPRF parapontine retikuläre Formation
PPSB Prothrombinkomplexkonzentrat
N. Nervus PRES akutes posteriores (reversibles)
NAB neutralisierende Antikörper Leukenzephalopathie-Syndrom
NAIP-Gen neuronal-apoptotic-inhibitory-protein gene PRL Prolaktin
NAP Nervenaustrittspunkt PRL Prolaktin
NET Neglect-Test PROMM proximale myotone Myotonie
NF Neurofibromatose PrPc Prionprotein, physiologische Form
NIH-SS National Institute of Health Stroke Scale PRPsc Prionprotein, pathologische Form
NK Negativkontrolle PrR Pronatorreflex
NLG Nervenleitgeschwindigkeit PS Parkinson-Syndrom
NMO Neuromyelitis optica PSA Prostata-spezifisches Antigen
NPH normal pressure hydrocephalus PSG Polysomnographie
NSAID nichtsteroidale antiinflamatorische PsP progressive supranukleäre Lähmung
Arzneimittel PSR Patellarsehnenreflex
NSAR nichtsteroidale Antirheumatika PSW positiv scharfe Wellen
NSE neuronenspezifische Enolase PTA perkutane, transluminale Angioplastie
Nucl. Nucleus PTT partielle Thromoplastinzeit
nvCJK neue Variante der Creutzfeld-Jakob- PVL periventrikuläre Leukomalazie
Krankheit PVS permanenter vegetativer Zustand
QS Querschnittsyndrom
OCB Oxarbazeptin QST Quantitative sensorische Testung
OCZ Oxcarbazepin
OFO Offenes Foramen ovale R. Ramus
OKB oligoklonale Banden REM rapid-eye movements
ON Neuritis nervi optici rFVIIa rekombinantem Faktor VII
RIND reversibles ischämisches neurologisches
P.P. progressive Paralyse Defizit
PAN Panarteriitis nodosa RLE reversible Leukenzephalopathie
PAP Prostata-spezifische saure Phosphatase RLS Restless-legs-Syndrom
XXVI Abkürzungen

RPR Radiusperiostreflex TOF Time-of-flight-Angiographie


Rr. Rami TOP Topiramat
TPA tissue polypeptide antigen
S Segment TPHA Treponemen-Hämagglutinationstest
SAB Subarachnoidalblutung TPM Topiramat
SAE subkortikale arteriosklerotische Tr. Tractus
Enzephalopathie TSR Trizepssehnenreflex
SCA Arteriae cerebellares superiores TTE transthorakales Echokardiogramm
SCA spinozerebelläre Ataxien TTP thrombozytopenische Purpura
SCC squamous cell carcinoma antigen
SCLC small cell lung cancer (kleinzelliges UBO unidentified bright objects
Lungenkarzinom) UPDRS Unified Parkinson’s Disease Rating Scale
sCRP sensitives C-reaktives Protein VA Arteria vertebralis
SD semantische Demenz VDRL Venereal Disease Research Laboratory
SD spreading depression VEGF Vascular Endothelial Growth Factor
SDAT senile Demenz vom Alzheimer-Typ VEP visuell evozierte Potentiale
SDH Subduralhämatom VGB Vigabatin
SEP somatosensibel evozierte Potentiale VGCC voltage-gated calcium channel
SEP somatosensible Reize VIM ventraler intermediärer Thalamuskern
SGTKA generalisierte tonisch-klonische Krämpfe VOR vestibulookulärer Reflex
SHT Schädel-Hirn-Trauma VPA Valproinsäure
SIAGH Syndrom der inadäquaten ADH-Sekretion VZV Varizella Zoster-Virus
SLE systemischer Lupus erythematodes Z.n. Zustand nach
SMA spinale Muskelatrophie ZNS zentrales Nervensystem
SNAP sensibles Nervenantwortpotential
sNPH sekundärer Normaldruckhydrocephalus
SOD Superoxid-Dismutase
SPECT Single-Photon-Emissions-Computer-
tomographie
SPG Spastin-Gene
SPS Stiff-person-Syndrom
SPTLC1 serine palmytoyltransferase long-chain 1
SQUID supraconducting quantum inference device
SREAT Steroid-responsive Enzephalopathie mit
Autoimmunthyreoiditis
SSN subakute, sensorische Neuropathie
SSPE subakut-sklerosierende Panenzephalitis
SSR sympathische Hautantwort
SSRI selektiver Serotonin-Re-uptake-Inhibitor
SSW Schwangerschaftswoche
STN Nucleus subthalamicus
SVS Single Voxel Spectroscopy
SVT Sinus- und Hirnvenenthrombose

T.d. Tabes dorsalis


Tbl. Tablette
TCCD transkranieller Farbduplex
TCD transkranielle Dopplersonographie
TEA (Karotis-)Thrombendarteriektomie
TEE transösophagealen Echokardiographie
TENS transkutane elektrische Nervenstimulation
TG Thyreoglobulin
TGA transient global amnesia
TGB Tiagabin
THAM Tris-Hydroxy-Methyl-Aminomethan
TIA transitorisch-ischämische Attacke
TKMS transkranielle Magnetstimulation
TNF Tumornekrosefaktor
I Neurologische
Untersuchung
und Diagnostik
1 Die neurologische Untersuchung und
die wichtigsten Syndrome – 3

2 Neuropsychologische Syndrome und


Störungen des Bewusstseins – 79

3 Apparative und laborchemische


Diagnostik – 109

4 Genetische und molekulare Grundlagen der


Entstehung neurologischer Krankheiten – 151
1

1 Die neurologische Untersuchung


und die wichtigsten Syndrome
1.1 Anamnese und allgemeine Untersuchung – 5
1.1.1 Symptome und Syndrome – 6
1.1.2 Neurologische Untersuchung – 6
1.1.3 Inspektion und Untersuchung des Kopfes – 6

1.2 Hirnnerven I: N. olfactorius, N. opticus und okulomotorische Hirnnerven –7


1.2.1 Nervus olfactorius (N. I) – 7
1.2.2 Nervus opticus (N. II) und visuelles System – 8
1.2.3 Die Augenmuskelnerven: N. oculomotorius (N. III), N. trochlearis (N. IV),
N. abducens (N. VI) – 10

1.3 Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion – 13


1.3.1 Blickmotorik – 13
1.3.2 Syndrome gestörter Blickmotorik – 15
1.3.3 Nystagmus – 18
1.3.4 Physiologische Nystagmusformen – 19
1.3.5 Pathologischer Nystagmus – 19
1.3.6 Pupillomotorik und Akkommodation – 20

1.4 Hirnnerven II: Nervus trigeminus und die kaudalen Hirnnerven – 25


1.4.1 Nervus trigeminus (N. V) – 25
1.4.2 Nervus facialis (N. VII) – 27
1.4.3 Nervus statoacusticus (N. VIII; N. vestibulocochlearis) – 28
1.4.4 Nervus glossopharyngeus (N. IX) – 28
1.4.5 Nervus vagus (N. X) – 28
1.4.6 Nervus accessorius (N. XI) – 28
1.4.7 Nervus hypoglossus (N. XII) – 29
1.4.8 Schädelbasissyndrome – 29

1.5 Reflexe – 29
1.5.1 Reflexuntersuchung – 31
1.5.2 Untersuchung der Eigenreflexe – 33
1.5.3 Untersuchung von Fremdreflexen – 35
1.5.4 Instinktbewegungen und reflektorisch motorische Schablonen – 36

1.6 Motorik und Lähmungen – 38


1.6.1 Periphere Lähmung – 38
1.6.2 Zentrale Lähmung – 40

1.7 Basalgangliensyndrome – 44
1.7.1 Parkinson-Syndrom – 45
1.7.2 Choreatisches Syndrom – 45
1.7.3 Ballismus – 46
1.7.4 Dystonien – 46
1.7.5 Athetose – 46
1.8 Tremor – 47

1.9 Myoklonien – 48

1.10 Kleinhirnfunktion und Bewegungskoordination – 49


1.10.1 Syndrome mit Koordinationsstörungen (Zerebelläre Syndrome) – 51

1.11 Sensibilität – 52
1.11.1 Anatomische und psychophysiologische Grundlagen – 53
1.11.2 Anamnese und Untersuchung – 54
1.11.3 Sensible Reizsymptome – 58
1.11.4 Sensible Ausfallsymptome – 59

1.12 Vegetative Funktionen – 61


1.12.1 Aufbau des vegetativen Nervensystems – 61
1.12.2 Vegetative Diagnostik – 61
1.12.3 Blasenfunktionsstörungen – 63
1.12.4 Sexualfunktionsstörungen – 65
1.12.5 Störungen der Schweißsekretion und Piloarrektion – 67
1.12.6 Störungen der Herzkreislaufregulation und der Atmung – 67
1.12.7 Störungen der Pupillomotorik – 68

1.13 Rückenmarkssyndrome – 68
1.13.1 Querschnittslähmung – 68
1.13.2 Brown-Séquard-Syndrom – 69
1.13.3 Zentrale Rückenmarksschädigung – 69
1.13.4 Hinterstrangläsion – 70
1.13.5 Höhenlokalisation der Rückenmarksschädigung – 70

1.14 Untersuchung des bewusstlosen Patienten – 72


1.14.1 Neurologische Notfalluntersuchung – 72
1.14.2 Anamnese und Inspektion – 72
1.14.3 Praktischer Ablauf der Untersuchung eines Bewusstlosen – 73
1.14.4 Notfallbehandlung – 74
1.14.5 Weiterführende Diagnostik – 74
1.1 · Anamnese und allgemeine Untersuchung
5 1
> > Einleitung

Die Neurologie befasst sich mit den organischen Krankheiten des


Gehirns, des Rückenmarks, der peripheren Nerven und der Mus-
kulatur. Sie hat sich in den angelsächsischen Ländern aus der
Inneren Medizin, in Mitteleuropa überwiegend aus der Psychia-
trie entwickelt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn
des 20. Jahrhunderts wurde der Grundstein zum Verständnis der
funktionellen und topographischen Gliederung des Nerven-
systems gelegt. Die Entwicklung der Symptome, die Verlaufs-
beobachtung der Krankheiten und schließlich das Ergebnis der
Obduktion führten zur Verknüpfung von neurologischen Symp-
tomen und Syndromen mit Läsionen in Gehirn, Rückenmark,
Nerv oder Muskel. Bedeutende Neuropsychiater dieser Zeit
waren gleichzeitig Pathologen, z.B. Alzheimer und Binswanger. . Abb. 1.1. Positiver Babinski-Reflex mit dorsaler Extension der
Viele Zeichen und Befunde, aber auch viele damals beschriebene linken Großzehe und Flexion und Spreizung der übrigen Zehen
Krankheiten sind mit den Eigennamen der Erstbeschreiber ver-
knüpft. Eines der bekanntesten Zeichen ist der Babinski-Reflex
(auch Babinski-Phänomen oder -Zeichen genannt, . Abb. 1.1). Er ralen Medulla oblongata liegen in enger Nachbarschaft der
wurde im Jahre 1896 von dem französischen Neurologen Joseph untere Kleinhirnstiel (→ Hemiataxie), die zentrale Sympathikus-
Babinski beschrieben. Dieser hatte – übrigens nicht als Erster – bahn (→ Miose und Ptose), der Vaguskern (→ Heiserkeit und
entdeckt, dass bei Patienten mit einer zentralen Lähmung einer hängendes Gaumensegel) und die spinothalamische Bahn von
Körperhälfte beim Bestreichen der ipsilateralen Fußsohle die der Gegenseite (→ dissoziierte Empfindungsstörung).
große Zehe reflektorisch dorsal extendiert wurde, während sich Später fand man heraus, dass dieses Syndrom gar nicht so
die übrigen Zehen leicht spreizten. Auf der gesunden Körper- selten war und dass es neben dem klassischen Syndrom auch
hälfte bewegen sich dagegen alle Zehen plantarwärts. Später noch Varianten gibt, in denen die Kerngebiete des Nn. hypoglos-
beschrieb eine Reihe anderer Neurologen die gleiche Bewe- sus, facialis oder der Trigeminus eingeschlossen sind. Wenn
gungssynergie bei unterschiedlichen Reizen: der englische Arzt jedoch eine Halbseitenlähmung (der Gegenseite, da die Pyrami-
Gordon bei kräftigem Kneten der Wadenmuskulatur oder der denbahn an dieser Stelle noch nicht gekreuzt hat) vorliegt, dann
deutsche Neurologe Oppenheim bei festem Bestreichen der kann das Syndrom nicht allein von der dorsolateralen Medulla
Tibiakante. oblongata stammen, sondern muss auch weiter ventral gelegene
Die exakte neurologische Untersuchung birgt den Schlüssel Anteile des verlängerten Marks erfassen.
für den vermuteten Ort der Läsion(en): Auf keinem anderen
Gebiet der Medizin kommt es so sehr darauf an, dass der Unter-
sucher die topographische Anatomie und die Neurophysiologie 1.1 Anamnese und allgemeine
beherrscht, um dann aus der Zusammenschau einzelner Symp- Untersuchung
tome und Befunde auf den Ort der Läsion zu schließen.
Im Jahre 1893 beschrieb der deutsche Neurologe Wallenberg Es mag abgedroschen klingen, aber es stimmt wirklich: Die
bei einem Patienten eine sehr auffällige Symptomatik: Nach Anamnese ist immer noch der wichtigste Teil der Untersu-
einem heftigen Schwindelanfall war der Patient plötzlich heiser chung eines Patienten, auch in der Neurologie. Sie erlaubt die
geworden, sprach undeutlich, hatte eine Fallneigung zur linken Formulierung von Arbeitshypothesen, die danach mit der kör-
Seite, einen spontanen Nystagmus nach links, und die linke perlichen Untersuchung überprüft und ggf. modifiziert wer-
Lidspalte sowie die linke Pupille waren verengt. Bei der Inspek- den. Die entgültige diagnostische Bestätigung und artdiagnos-
tion des Rachens hing das Gaumensegel auf der linken Seite tische Einordnung erfolgt schließlich durch technische Zusatz-
nach unten. Der Patient hatte keine Lähmung, aber eine Ataxie untersuchungen oder Laborbefunde. Die bildgebende und
des linken Armes mit Dysmetrie und Zieltremor; seine Berüh- sonstige apparative Diagnostik bringt in seltenen Fällen völlig
rungssensibilität war intakt, und auch die Reflexe waren seiten- unerwartete Befunde, die ein komplettes Umdenken begrün-
gleich. Auf der rechten Körperhälfte, unter Aussparung des den. Schließlich bleiben immer zwischen 5 und 10% der Fälle
Gesichts, hatte er für Temperatur und Schmerz keine Empfindung übrig, bei denen auch mit dem kompletten Einsatz von Anam-
mehr. nese, Untersuchung sowie apparativer und laborchemischer
Wallenberg schloss aus dieser Kombination auf eine kleine Zusatzdiagnostik die Diagnose (zunächst) im Unklaren bleibt.
Läsion in der linken dorsolateralen Medulla oblongata. Er veröf- Die Anamnese beruht auf der Schilderung des Erlebens
fentlichte den Fallbericht und postulierte eine Thrombose der des Patienten und ist damit immer subjektiv. Subjektiv sind
linken A. cerebelli inferior posterior. Der Patient verstarb 5 Jahre auch die Einschätzungen des Schweregrads der Beschwerden
später an einem zweiten Schlaganfall, und in der Autopsie konn- und in vielen Fällen auch die persönlichen Ideen zur Kausali-
te Wallenberg nachweisen, dass seine topographische Diagnose tät. Diese subjektive Schilderung ist durchaus wichtig. Nach-
korrekt war. In dem betroffenen kleinen Areal in der dorsolate- fragen des Untersuchers dienen dazu, objektive Aspekte in die
6 Schilderung zu bringen.
6 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Es lohnt sich, die Anamnese mit einer offenen Fragestel- nervöse Strukturen sind zu Funktionssystemen zusammenge-
1 lung zu beginnen: schlossen, von denen viele nach dem Prinzip des Regelkreises
4 »Was kann ich für Sie tun?«, arbeiten. Störungen eines solchen Funktionskreises an ver-
4 »Wie kann ich Ihnen helfen?« oder schiedenen Stellen führen zu ähnlichen Symptomen. Anderer-
4 »Was führt Sie zu mir?«. seits führen viele Krankheitsprozesse zur Läsion mehrerer
Systeme. Die Lokaldiagnose muss aus der Kombination von
Danach soll der Patient frei berichten, manchmal unterbro- Symptomen und ihrer topographischen Verteilung erschlossen
chen von gezielten Fragen oder auch von der hin und wieder werden.
notwendigen »Abkürzung« sehr ausführlicher Schilderungen
aus der weit zurückliegenden persönlichen Vergangenheit.
Nach einer Weile wird es notwendig, einengende Fragen zu 1.1.2 Neurologische Untersuchung
stellen, um Präzisierungen zu bitten, Zeiträume genauer be-
schreiben zu lassen und auch zu fragen, wann und bei wem Die neurologische Untersuchung außerhalb einer Notfallsitua-
man mit diesen Symptomen schon gewesen ist. Es ist über- tion (Kap. 2) muss immer vollständig sein. Es ist sehr zu emp-
raschend, wie viele Patienten nicht daran denken, darauf hin- fehlen, sich hierbei an eine bestimmte Reihenfolge zu halten,
zuweisen, dass sie wegen der gleichen Beschwerden schon um keinen Untersuchungsschritt zu übergehen. Die folgende
mehrere Male ambulant oder gar stationär abgeklärt worden Sequenz hat sich bewährt:
sind. Andere Patienten tun dies ganz bewusst, weil sie sich da- 4 Inspektion des Körpers,
durch erhoffen, dass der neue Untersucher nicht durch frühere 4 Untersuchung des Kopfes,
Daten voreingenommen ist. Hieraus kann man dann meist 4 Hirnnerven,
schließen, dass sie mit der vorherigen Interpretation nicht be- 4 Kraftentfaltung,
sonders zufrieden gewesen sind. 4 Reflexe,
Kerndaten aus der Anamnese sind: 4 Bewegungskoordination,
4 Beginn der Symptome, 4 Sensibilität,
4 Dauer der Symptome, 4 vegetative Funktionen,
4 Schweregrad der Symptome, 4 psychischer Befund,
4 tageszeitliche Bindung, 4 orientierende internistische Untersuchung,
4 auslösende Faktoren. 4 fakultativ: neuropsychologische Untersuchung.

Gerade bei Schmerzen sind Beginn, Frequenz, Intensität und Allerdings ist es manchmal sinnvoll, zunächst die Untersu-
Schmerzcharakteristik (7 Kap. 16) besonders wichtig. Das Auf- chung auf den Bereich zu zentrieren, in dem die Beschwerden
treten ähnlicher Symptome in der Familie, Risikofaktoren in angegeben werden. Manchem Patienten ist es schwer zu ver-
der Familie, Todesursachen oder Erkrankungen von Eltern mitteln, warum der Neurologe mit dem Augenhintergrund
und Geschwistern, eigene aktuell oder früher genommene Me- beginnt, wenn das Problem in das Bein ausstrahlende Rücken-
dikamente, Risikofaktoren und Risikoverhalten müssen erfragt schmerzen sind. Anschließend gehört aber in jedem Fall die
werden. Immer sollte man auch nach dem äußeren Lebens- vollständige neurologische Untersuchung dazu. Man kann
gang, der persönlichen und beruflichen Situation und der Le- nicht einzelne Untersuchungsschritte als weniger wichtig ab-
bensweise des Kranken fragen. tun oder vielleicht überspringen. Oft sind es die nicht geprüf-
Es gibt ganze Lehrbücher, die sich mit der Kunst der Anam- ten Funktionen, die zu richtungsweisenden Untersuchungen
nese befassen. Die Anamnese ist auch nicht etwas, was einzigar- oder sogar zur richtigen Diagnose geführt hätten.
tig für die Neurologie wäre. Allerdings, wie oben ausgeführt,
kann sie von besonderer Bedeutung sein, da häufig schon die
Richtung des weiteren Prozederes von der Anamnese entschei- 1.1.3 Inspektion und Untersuchung
dend geprägt wird. des Kopfes

Inspektion
1.1.1 Symptome und Syndrome Bei der Inspektion des bis auf die Unterwäsche entkleideten
Patienten achtet man vor allem auf die Körperhaltung, die oft
Die körperliche Untersuchung wird einzelne Symptome zeigen, schon eine Lähmung verrät. Man achtet auf Hyperkinesen,
die man im Befund dokumentiert. Regelhafte Kombinationen aber auch auf Asymmetrien im Körperbau und in der Körper-
von einzelnen Symptomen nennen wir Syndrome. Ihre Kennt- haltung, auf Muskelatrophien und offensichtliche Fehl-
nis ermöglicht eine Hypothese über die Lokalisation von Krank- bildungen, d.h. Abweichungen vom normalen Bild des Kör-
heitsherden im peripheren und zentralen Nervensystem. Nur in perbaus. Schließlich gehört, auch wenn dies heute oft als
manchen Fällen lässt sich aus einem Syndrom eine Krankheits- nicht »politisch korrekt« eingeschätzt wird, der Eindruck vom
diagnose ableiten. Schließlich geben die Syndrome einen Ein- hygienischen Zustand, vom Zustand der Kleidung, von be-
blick in die funktionelle Organisation des Nervensystems. stimmten Auffälligkeiten wie Narben, Amputationen, Tattoos
Kerngebiete und Faserverbindungen des ZNS, periphere oder Piercings zur Beschreibung des initialen Bildes, das natür-
motorische Endigungen oder sensible Rezeptoren und zentral- lich auch fehlleiten kann.
1.2 · Hirnnerven I: N. olfactorius, N. opticus und okulomotorische Hirnnerven
7 1
Untersuchung des Kopfes
Die aktive und passive Beweglichkeit des Kopfes wird durch
Neigung nach vorn und rückwärts sowie durch Drehung nach
beiden Seiten geprüft. Eine Einschränkung der Beweglich-
keit kann viele Ursachen haben:
4 Parese der Hals- und Nackenmuskeln,
4 Rigor der Nackenmuskulatur, z. B. beim Parkinson-Syn-
drom,
4 Arthrose der HWS (Schmerzen und reflektorische Mus-
kelverspannungen).

Die vermeintliche Einschränkung der Beweglichkeit ist auch


ein häufiges psychogenes Symptom. In diesem Fall führt der
Patient die aktiven Bewegungen unvollständig oder gar nicht
aus und setzt passiven Bewegungen aktiven muskulären Wi-
derstand entgegen. Beim Ent- und Bekleiden sowie im Ge-
spräch oder bei Ablenkungsmanövern wird dann der Kopf
normal bewegt. Diese Einschränkung der Halsbeweglichkeit
darf nicht mit Nackensteife verwechselt werden, bei der es sich
um eine schmerzreflektorische Muskelanspannung bei Rei-
zung der Meningen oder Tumoren der hinteren Schädelgrube
handelt.
Schmerzhaftigkeit der Nervenaustrittspunkte (NAP) des
Trigeminus und der Okzipitalnerven (einzeln prüfen!) liegt
nur vor, wenn die Nervenaustrittspunkte isoliert empfindlich
sind und nicht auch ihre weitere Umgebung. Druckschmerz
der NAP findet man bei z. B. intrakranieller Drucksteigerung
und Meningitis – in beiden Fällen durch Reizung der vom Tri- . Abb. 1.2. Mediale Hirnbasis mit Hirnnerven und wichtigsten
geminus versorgten Meningen – bei Trigeminusneuralgie und Hirnnervensyndromen. 1 Tractus olfactorius; 2 N. opticus; 3 Chiasma
Nebenhöhlen- bzw. Kieferaffektionen. opticum; 4 N. oculomotorius; 5 N. ophthalmicus; 6 N. maxillaris;
Bei Verdacht auf eine Karotis-Kavernosus-Fistel, bei der 7 N. trochlearis; 8 N. mandibularis; 9 Ganglion trigeminale (Gasseri);
der Patient selbst über ein pulssynchrones Geräusch »hinter 10 N. abducens; 11 N. facialis; 12 N. intermedius; 13 N. vestibulococh-
learis; 14 N. glossopharyngeus ; 15 N. vagus; 16 N. hypoglossus;
dem Auge« klagt, werden Auge und Temporalregion mit dem
17 N. accessorius; A Kleinhirn-Brückenwinkel-Syndrom; B Syndrom
Stethoskop auf ein Gefäßgeräusch auskultiert. der hinteren Hirnnervengruppe (Garcin)

1.2 Hirnnerven I: N. olfactorius, N. opticus die Geruchsprobe identifizieren. Zur Erleichterung kann man
und okulomotorische Hirnnerven ihm eine Auswahl möglichst unterschiedlicher Stoffe nennen,
(. Abb. 1.2) unter denen sich die geprüfte Substanz befindet. Aromatische
Stoffe reizen nur den Olfaktorius. Wenn er eine Geruchswahr-
1.2.1 Nervus olfactorius (N. I) nehmung verneint, wiederholt man die Prüfung mit einem
Stoff, der eine Geschmackskomponente wie z. B. Chloroform
Untersuchung (süßlicher Geschmack) hat oder der auch die sensiblen Rezep-
Man hält ein Fläschchen mit einem aromatischen Geruchsstoff toren des N. trigeminus in der Nasenschleimhaut reizt, z.B.
dicht unter eine Nasenöffnung, während man die andere Na- Ammoniak, Eisessig, was der Patient aber als Geruch wahr-
senöffnung leicht zudrückt. Die Untersuchung erfolgt bei ge- nimmt. Gibt der Patient unter Tränen an nichts zu riechen, darf
schlossenen Augen auf jeder Seite gesondert. Der Patient soll die Zuverlässigkeit seiner Angabe bezweifelt werden.

Exkurs
Geruchswahrnehmung und Trigeminusreizstoffe toren können nur die vier Grundqualitäten sauer, bitter, salzig,
Ausbleiben der Reaktion auch auf trigeminusreizende süß vermitteln. Nach doppelseitigem Ausfall der Geruchswahr-
Stoffe. Dies ist eine häufig beobachtete psychogene Verhal- nehmung ist eine differenzierte Geschmackswahrnehmung
tensweise. In diesen Fällen fragt man den Patienten, ob er den nicht mehr möglich, und die Patienten geben an, dass alle Spei-
Geschmack von Speisen oder Getränken wahrnehmen und sen gleich indifferent, »pappig« schmeckten. Ist der synästhe-
unterscheiden könne. Diese synästhetische Leistung ist an tische Geschmack erhalten, kann das Geruchsvermögen nicht
einen intakten Geruchssinn gebunden. Die Geschmacksrezep- völlig ausgefallen sein.
8 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Anosmie eingebaut werden. Diese Reflexe können bei kortikaler Blind-


1 Einseitige Anosmie beruht meist auf Krankheiten oder ab- heit (s.u.) erhalten bleiben. Über das Corpus geniculatum late-
normen Verhältnissen in der oberen Nasenmuschel. Auch bei rale verläuft die Sehstrahlung (Radiatio optica) zur Sehrinde,
doppelseitiger Anosmie muss zunächst eine rhinologische Ur- der Area striata des Okzipitallappens. Die Anfangsstrecke der
sache ausgeschlossen werden. Neurologisch entsteht die Anos- Sehstrahlung zieht unmittelbar hinter dem rückwärtigen Ab-
mie durch Schädigung der Fila olfactoria, des Bulbus oder schnitt der inneren Kapsel mit den thalamokortikalen und
Tractus olfactorius am Boden der vorderen Schädelgrube, die kortikospinalen Bahnen vorbei, wo diese Strukturen gemein-
traumatisch, durch Medikamente oder durch Virusinfekte ent- sam lädiert werden können.
stehen (sog. Grippeanosmie) kann. Anosmie kann erstes oder
einziges Symptom eines frontobasalen Hirntumors sein. Auch Sehrinde. Die Sehrinde liegt vorwiegend an der Innenfläche
beim M. Parkinson gilt eine Einschränkung der Geruchswahr- des Okzipitalpols, oberhalb und unterhalb der quer verlau-
nehmung als Frühsymptom. fenden Fissura calcarina. Sie dehnt sich beiderseits auch gering
zur Konvexität aus. Innerhalb der Sehrinde ist die Makula am
Okzipitalpol repräsentiert. Der Teil oberhalb der Kalkarina re-
1.2.2 Nervus opticus (N. II) und visuelles System präsentiert den gegenseitigen unteren Gesichtsfeldquadranten,
der Teil unterhalb den oberen. Diese Verteilung kommt durch
Anatomische Grundlagen eine Rotation der Sehstrahlung zustande. Benachbarte Retina-
Sehbahn (. Abb. 1.3). Die dritten Neurone der Retina schlie- orte werden auch im Corpus geniculatum laterale und im Kor-
ßen sich zum N. opticus zusammen. Im Chiasma opticum fin- tex benachbart abgebildet. Aufgrund der hohen Rezeptoren-
det eine teilweise Kreuzung der Fasern statt, in der jeweils die dichte ist die Makula, der Ort des schärfsten Sehens, kortikal
Fasern aus den nasalen Retinahälften zur Gegenseite geleitet vergrößert, die Netzhautperipherie dagegen verkleinert reprä-
werden, die der temporalen Retinahälften aber auf der ur- sentiert. Um die Area striata liegen optische Assoziationsfelder
sprünglichen Seite verbleiben. Hierdurch werden die Fasern, und das optomotorische Feld, das die Folgebewegungen der
die Signale aus beiden linken oder beiden rechten Gesichts- Bulbi steuert.
feldern leiten, retrochiasmal zusammengefasst. Die Fasern der Die Blutversorgung der Sehbahn erfolgt durch Äste
korrespondierenden Netzhauthälften verlaufen dann im Trac- der A. ophthalmica (Retina und Sehnerv), im proximalen
tus opticus zum Corpus geniculatum laterale. Abschnitt des Tr. opticus durch die A. chorioidea anterior aus
Auf diesem Wege zweigen pupillomotorische Fasern zur der A. carotis interna, im mittleren Teil des Traktus durch
Prätektalregion (Mittelhirnhaube) und andere Fasern zur obe- Äste der A. cerebri media, danach durch Äste aus der proxi-
ren Vierhügelregion ab. Die Bahnen, die vor dem Corpus geni- malen A. cerebri posterior (zum Corpus geniculatum laterale)
culatum laterale zu der Vierhügelregion abzweigen, vermitteln und durch die A. cerebri posterior (Sehrinde und Assozia-
optische Bewegungsreize, die dort in visuomotorische Reflexe tionsrinde).

. Abb. 1.3. a Schema der Sehbahn im Gehirn


des Menschen. CGL Corpus geniculatum late-
rale; H Hypothalamus; PT Prätektum. b Gesichts-
felddefekte bei verschieden lokalisierten Läsio-
nen. 1 Amaurose links; 2 bitemporale Hemian-
opsie; 3 homonyme Hemianopsie nach rechts;
4 obere homonyme Quadrantenanopsie nach
rechts; 5 homonyme Hemianopsie nach rechts;
6 zentrale homonyme Hemianopsie nach links.
(Nach Schmidt u. Thews 1995)

a b
1.2 · Hirnnerven I: N. olfactorius, N. opticus und okulomotorische Hirnnerven
9 1
Untersuchung tigsten Ursachen für Stauungspapille, Optikusneuritis und
Sehkraft. Kursorische Prüfung durch Lesen feiner Druckschrift, Optikusatrophie sind in . Tabelle 1.1 zusammengestellt.
bei Bedarf mit Lesebrille. Bei schwerem Visusverfall stellt man
fest, ob Fingerzählen noch möglich ist, Lichtschein wahrgenom- Symptome
men wird und dessen Richtung angegeben werden kann (Pro- Hemianopsie und Quadrantenanopsie. Die klinische Diffe-
jektion). Semiobjektive Prüfung der Sehkraft ist möglich durch renzierung zwischen Schädigungen des Tr. opticus, der Seh-
die ggf. monokuläre Prüfung des optokinetischen Nystagmus strahlung oder der Sehrinde kann sich auf folgende Überle-
oder die Fixationssuppression des vestibulookulären Reflexes gungen stützen: Im Traktus, im Corpus geniculatum laterale
(7 S. 13). und im Anfangsteil der Sehstrahlung verlaufen die Fasern
dicht gebündelt. Schon eine recht umschriebene Läsion führt
Gesichtsfeldprüfung. Gröbere Gesichtsfelddefekte lassen sich daher leicht zur kompletten Hemianopsie. Der rindennahe
auch ohne apparative Perimetrie feststellen. Bereits Anamnese Anteil der Sehstrahlung und die Repräsentation in der Sehrin-
und Verhalten geben wichtige Hinweise. Der Ausfall eines Ge- de sind dagegen weit aufgefächert. Deshalb führen Läsionen in
sichtsfelds wird als Hemianopsie, der eines Quadranten des diesen Gebieten häufiger zu umschriebenen Gesichtsfeldde-
Gesichtsfelds als Quadrantenanopsie bezeichnet. Hemian- fekten: zu Quadrantenanopsien oder, wenn nur der Okzipital-
opische Patienten berichten oft, dass sie in der letzten Zeit häu- pol betroffen ist, zu homonymen hemianopischen Skotomen.
figer gegen einen Türpfosten liefen oder mit der einen Seite des Homonym bedeutet in diesem Zusammenhang, dass gleichna-
Wagens Hindernisse streiften, die sie nicht bemerkt hatten. Bei mige Gesichtsfelder (nach links, nach rechts) betroffen sind.
der Visite sehen sie nicht, wenn man von der Seite des Ge- Dies bedeutet andererseits, dass bei einer Hemianopsie nach
sichtsfeldausfalls an ihr Bett tritt und ihnen die Hand reicht. links das temporale Gesichtsfeld des linken Auges und das na-
sale Gesichtsfeld des rechten Auges betroffen sind.
Fingerperimetrie. Der Patient fixiert den vor ihm stehenden Ein neurophysiologisch interessantes Phänomen sind Hal-
Arzt, der beide Hände seitlich so ausgestreckt hält, dass sie sich luzinationen im hemianopischen Gesichtsfeld. Sie sind kom-
in einer Ebene zwischen ihm und dem Kranken befinden. Die- plexer als einfache Blitze oder Zickzacklinien und treten als
ser soll angeben, auf welcher Seite sich die Finger des Untersu- Objekte, menschen- oder tierähnliche Figuren auf. Sie werden
chers bewegen. Der Bewegungsreiz wird abwechselnd rechts, den Phänomenen zugezählt, die man auf Eigentätigkeit von Sin-
links und simultan, bei Bedarf auch getrennt in den oberen und
unteren Quadranten gegeben. Feinere Gesichtsfeldstörungen
zeigen sich oft erst bei beidseitig-simultaner Stimulation. Das . Tabelle 1.1. Ursachen von Stauungspapille, Optikusneuritis
und Optikusatrophie
eigene Gesichtsfeld dient dem Arzt zur Kontrolle (. Abb. 1.4).
Beim Schreiben benutzen hemianopische Kranke häufig Erkrankung Ursachen
nur eine Hälfte des Bogens, und beim Lesen beachten sie nur Stauungs- Intrakranielle Tumoren
die Spalten im gesunden Gesichtsfeld. In schweren Fällen füh- papille Andere raumfordernde intrazerebrale
ren sie von einer Zeichnung nur die Hälfte aus, die dem gesun- Prozesse, z.B. Hämatome
den Gesichtsfeld entspricht. Bei bewusstseinsgetrübten Patien- Sinusthrombose
ten lösen Drohgebärden im hemianopischen Gesichtsfeld Pseudotumor cerebri
keine Abwehrreaktion aus. Hydrozephalus
Renaler Hochdruck
Polyzythämie
Spiegelung des Augenhintergrunds. Man achtet v.a. auf den
Urämie
Zustand der Optikuspapille (Stauungspapille, Optikusatro- Eklampsie
phie, temporale Abblassung u.Ä.) und der Gefäße. Die wich- Selten: Polyneuritis, Rückenmarkstumor
Einseitig: orbitale Krankheitsprozesse
Optikus- meist Multiple Sklerose
neuritis
Optikus- lokaler Druck (Tumor, Aneurysma)
atrophie Zustand nach Optikusneuritis
Glaukom
Schädelbasisbruch
Diabetes
Hereditäre Ataxien
Leukodystrophie (meist Kinder)
Lebersche juvenile Optikusatrophie (hereditär,
männliches Geschlecht)
Intoxikation (Methylalkohol, Blei, CO, Chinin)
B12-Resorptionsstörung (früher irrtümlich:
Tabak-Alkohol-Amblyopie)
Exzessive Myopie
Basale Arachnopathie
. Abb. 1.4. Fingerperimetrie. Einzelheiten 7 Text
10 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

nesfeldern bei Ausfall von Afferenzen zurückführt. Man nimmt


1 an, dass die Zellen des visuellen Assoziationskortex spontan ent-
laden, nachdem sie von dem normalerweise vorhandenen affe-
renten Zufluss aus der primären Sehrinde abgetrennt sind.
Schädigungen der Sehleitung haben Visus- oder Gesichts-
feldausfälle zur Folge, deren Typ lokaldiagnostische Bedeu-
tung hat (. Abb. 1.3b):
4 Sehstörungen, die nur ein Auge betreffen und nicht auf eine
Augenkrankheit zurückzuführen sind, zeigen eine prächiasma-
tische Läsion im gleichseitigen N. opticus an (. Abb. 1.3b, 1).
4 Bitemporale (= heteronyme) Gesichtsfeldausfälle beru-
hen auf der Schädigung der zentralen Anteile des Chiasmas,
wie sie z.B. durch einen Hypophysentumor, aber auch durch
gerichteten Hirndruck am Boden des 3. Ventrikels zustande
kommt (. Abb. 1.3b, 2).
4 Die binasale Hemianopsie, die eine doppelseitige Schä-
digung der lateralen Anteile des Chiasmas anzeigt, kommt
extrem selten vor: bei suprasellären Tumoren, die beiderseits
den N. opticus gegen die Karotiden drängen, bei arteriosklero-
tischer Elongation beider Karotiden und bei der Arachnopa-
thia opticochiasmatica.
4 Homonyme Gesichtsfeldausfälle sind für Läsionen hinter
dem Chiasma charakteristisch. Sie können sektorenförmig, als
Quadrantenanopsie oder als Hemianopsie auftreten
(. Abb. 1.3b, 3–6). Die häufigsten Ursachen sind Gefäßinsulte,
Blutungen oder Hirntumoren.

1.2.3 Die Augenmuskelnerven: N. oculomotorius


(N. III), N. trochlearis (N. IV), N. abducens
(N. VI)
. Abb. 1.5. Kernkomplex des N. oculomotorius. Der gemeinsame
Anatomische Grundlagen Ursprungskern für beide Mm. levator palpebrae sup. liegt am dorso-
Der N. oculomotorius (III) versorgt mit somatischen Fasern kaudalen Ende dieses Kernkomplexes. Die Kerngebiete für alle ande-
ren extraokulären Muskeln erstrecken sich von rostral nach kaudal
die Mm. levator palpebrae superiores, rectus superior, rectus
über den größeren Teil der Länge des Kernkomplexes. Eine umschrie-
inferior, rectus medialis und obliquus inferior. Mit parasympa-
bene Läsion auf dem Niveau des Schnittes A kann zu einer isolierten
thischen Fasern innerviert er den M. ciliaris, dessen Kontrak- doppelseitigen Ptose führen. (Nach Meyenberg 1970)
tion bei Akkomodation die Linse erschlaffen lässt, und den
M. sphincter pupillae. Diese Nervenfasern entstammen einem
Kerngebiet, das in der Mittelhirnhaube in Höhe der vorderen der Wand des Sinus cavernosus zur Fissura orbitalis superior
Vierhügel, ventral vom Aquädukt gelegen ist. . Abbildung 1.5 läuft. Er versorgt den M. obliquus superior. Wegen der Kreu-
zeigt die topographische Gliederung des Kerngebiets für den zung des Nervenverlaufs gibt es zwei Läsionstypen: bei proxi-
N. oculomotorius. Die beiden Mm. levator palpebrae superiores maler Läsion eine kontralaterale Trochlearislähmung, bei Lä-
werden aus einer unpaaren Zellgruppe innerviert. Eine Läsion sion nach der Kreuzung oder im peripheren Verlauf eine ipsi-
dieses Subnukleus führt also zur bilateralen somatomotorischen laterale Lähmung.
Ptose. Die anderen Subnuklei sind paarig angelegt, ihre Läsion Der Kern des N. abducens (VI) liegt in der Brücke, dicht
führt zu gleichseitigen N. III-Störungen. Die parasympathischen unter dem Boden des IV. Ventrikels. Der N. abducens inner-
Westphal-Edinger-Kerne sind rostral gelegen. Von hier ziehen viert den M. rectus lateralis.
autonome Fasern zum M. sphincter pupillae und zum M. cilia- An den Augen setzen jeweils sechs äußere Augenmuskeln
ris. Die mit der Akkommodation fest verknüpften Konvergenz- an, die zu drei Antagonistenpaaren zusammengefasst sind: zwei
bewegungen werden durch bilaterale Innervation der Subnuklei Seitwärtswender (Mm. rectus medialis und lateralis), zwei He-
für den M. rectus medialis in Gang gesetzt. ber (Mm. rectus superior und obliquus inferior) und zwei Sen-
Der Kern des N. trochlearis (IV) liegt in der Mittelhirn- ker (Mm. rectus inferior und obliquus superior) (. Abb. 1.6).
haube, etwas kaudal vom Okulomotoriuskern, unter den hin- Rectus superior und inferior haben gleichzeitig eine
teren Vierhügeln. Er verlässt den Hirnstamm dorsal und kreuzt leicht adduzierende, d.h. einwärtswendende Wirkung, die
als einziger Hirnnerv dorsal des Adquädukts auf die Gegensei- sich aus dem Winkel zwischen den Achsen der Orbita und
te. Dann zieht er um den Hirnschenkel nach ventral zur Schä- des Bulbus erklärt. In Adduktionsstellung sind sie reine Heber
delbasis, wo er, wie die Nn. oculomotorius und abducens, in und Senker.
1.2 · Hirnnerven I: N. olfactorius, N. opticus und okulomotorische Hirnnerven
11 1

. Abb. 1.6. Schematische Darstellung der äußeren Augenmus-


keln. (Nach Rucker 1963)

Die Wirkung der Obliqui wird dadurch verständlich, dass . Abb. 1.7. Schematische Darstellung der Hauptwirk(kenn)-
beide Muskeln ihren funktionellen oder anatomischen Ur- richtungen der einzelnen Augenmuskeln des rechten Auges.
sprung am vorderen Rande der Orbita haben und an der hin- (Nach Brandt u. Büchele 1983)
teren Fläche der Bulbi ansetzen. Anders als die Rektusmuskeln
treten sie von vorn an die Hinterfläche des Bulbus heran. Der
Obliquus superior hebt also in Adduktion den hinteren Sektor vergleicht. Eine Verengung der Lidspalte kommt durch Kon-
des Bulbus und senkt dadurch den vorderen um eine transver- traktur des M. orbicularis oculi nach peripherer Fazialisparese
sale Achse, während der Obliquus inferior von der Unterflä- oder durch Ptose des Oberlids zustande.
che des Bulbus in analoger Weise das Auge hebt. Da beide
Muskeln außerdem, von innen kommend, auf der äußeren Ptose. Sie beruht entweder auf Lähmung des willkürlichen
Hälfte des Bulbus ansetzen, müssen sie in Abduktion bei Kon- Lidhebers, des M. levator palpebrae superioris (N. oculomoto-
traktion den hinteren Pol des Auges nach innen ziehen, also rius) oder des sympathisch innervierten M. tarsalis (beim Hor-
die Kornea abduzieren. In Adduktionsstellung sind beide rei- ner-Syndrom; 7 Kap. 1.3.6). Die isolierte Ptose beim Horner-
ne Heber und Senker. Schließlich rollen die Obliqui durch Syndrom bildet sich nach lokaler Gabe von Phenylephrin-
ihren schrägen Verlauf den Bulbus um eine sagittale Achse Tropfen zurück.
nach nasal (M. obliquus superior) bzw. temporal (M. obliquus
inferior). Die Wirkung der Augenmuskeln wird durch das Bulbusstellung. Die Bulbi stehen physiologischerweise parallel
Schema in . Abbildung 1.7 deutlich. Die äußeren Augenmus- und in der Ruhe geradeaus gerichtet. Sind sie aus dieser nor-
keln werden vom III., IV. und VI. Hirnnerven innerviert. malen Ruhelage konjugiert, d.h. parallel stehend abgewichen,
ohne dass der Patient die abnorme Stellung korrigieren kann,
Untersuchung liegt eine konjugierte Blickwendung (déviation conjuguée)
Die Nerven für die äußeren und inneren Augenmuskeln wer- vor (7 Kap. 1.3.2). Die Bulbi können in beide horizontale, in
den gemeinsam geprüft. beide vertikale Blickrichtungen und auch schräg gewendet
sein. Meist wird die Deviation vom Patienten nicht bemerkt.
Lidspalten. Die Lidspalten sind normalerweise seitengleich Abweichungen aus der Parallelstellung kommen als Strabis-
und mittelweit. Die Erweiterung einer Lidspalte findet sich mus divergens oder convergens vor.
beim Exophthalmus und bei Parese des M. orbicularis oculi
(N. facialis). Der einseitige Exophthalmus lässt sich gut erken- Bulbusbewegungen. Patienten mit frischer Augenmuskelläh-
nen, wenn man beiderseits einen Holzspatel bei geschlossenen mung kneifen oft ein Auge zu, um die Doppelbilder zu vermei-
Augen auf den Bulbus legt und die Position der beiden Spatel den. Auch die kompensatorische Schiefhaltung des Kopfes gibt

Exkurs
Strabismus Muskels stärker auseinander rücken. Gleichzeitig nimmt der
Strabismus concomitans (angeborenes Begleitschielen). Schielwinkel zu. Voraussetzung ist, dass der Patient mit dem
Das binokuläre Sehen ist gestört. Oft besteht eine sekun- gesunden Auge fixiert und dass die Lähmung noch nicht so
däre Amblyopie auf dem schielenden Auge. Doppelbilder lange besteht, dass das Doppelbild unterdrückt wird. Beim
werden unterdrückt. Der Schielwinkel bleibt bei allen Augen- Abdecken verschwindet immer das äußere Doppelbild.
bewegungen gleich.
Latentes Schielen (Heterophorie). Eso- oder Exophorie lie-
Strabismus paralyticus (erworbenes Lähmungsschielen). Es gen dann vor, wenn eines der beiden Augen, nachdem man es
besteht keine Amblyopie, deshalb sieht der Patient Doppel- abgedeckt hat, eine Einstellbewegung macht, sobald es freige-
bilder, die beim Blick in die Aktionsrichtung des gelähmten geben wird.
12 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

. Abb. 1.9. Kompensatorische Kopfhaltung mit Drehung und


Neigung nach links bei einer Trochlearisparese rechts. Diese Kopf-
haltung (B, unten) verhindert die Doppelbilder, während bei normaler
aufrechter Kopfhaltung (A) sowie bei Kopfneigung in Richtung des be-
troffenen Auges (C, Bielschowski-Test) die vertikale Divergenzstellung
durch Schwäche des M. obliquus superior zu unangenehmen vertika-
. Abb. 1.8. Subtotale äußere Okulomotoriusparese rechts bei
len Doppelbildern führt. (Nach Brandt u. Büchele 1983)
einem 63-jährigen Mann mit retroorbitaler granulomatöser Ent-
zündung (Tolosa-Hunt-Syndrom). Man erkennt die Ptose und das
Abweichen des Bulbus nach außen bei isokoren Pupillen

wichtige Aufschlüsse. Man untersucht bei gerade gehaltenem Die Lähmung des Abduzens ist leicht zu erkennen. Das
Kopf Folgebewegungen und Blickeinstellbewegungen (sakka- Auge ist nach innen abgewichen (. Abb. 1.10). Der Patient
dische Bewegungen) beider Augen. Folgebewegungen werden klagt über horizontal nebeneinander stehende, gerade Doppel-
dadurch ausgelöst, dass man den gestreckten Finger oder eine bilder. Um diese auszuschalten, dreht er den Kopf in Richtung
Taschenlampe in den Hauptblickrichtungen (nach oben und des gelähmten Muskels und wendet den Blick in die Gegen-
unten, rechts und links sowie in die beiden schrägen Rich- richtung. Beim Versuch, zur gelähmten Seite zu blicken, bleibt
tungen) gleichmäßig langsam hin und her bewegt. Blickein- der betroffene Bulbus deutlich erkennbar zurück. In schweren
stellbewegungen werden geprüft, indem der Patient bei unbe- Fällen kann er nicht einmal zur Mittellinie geführt werden.
wegtem Kopf die beiden rechts und links seitlich gehaltenen Dabei rücken die Doppelbilder auseinander.
Zeigefinger des Untersuchers abwechselnd fixieren soll. Man . Tabelle 1.2 gibt eine Übersicht über eine Reihe charakte-
prüft die Blicksprünge mit kleinem und großem Fingerab- ristischer Syndrome, die durch die Beteiligung okulomoto-
stand. rischer Nerven gekennzeichnet sind.

Symptome bei Lähmungen der okulomotorischen


Hirnnerven
Die Okulomotoriuslähmung, die Trochlearislähmung und die
Abduzensparese sind in Kap. 31 im Detail besprochen.
Bei der kompletten (äußeren und inneren) Okulomotori-
uslähmung hängt das Augenlid, der Bulbus ist nach außen und
etwas nach unten abgewichen, da nur noch die Funktionen des
N. abducens (Abduktion) und des N. trochlearis (Senkung a
und Abduktion) erhalten sind. Die Pupille ist mydriatisch
und lichtstarr, die Akkomodation der Linse ist aufgehoben
(. Abb. 1.8).
Bei Lähmung des N. trochlearis kommt es nur zu einer
geringen Fehlstellung. Durch Fortfall der Senkerfunktion des
Muskels steht der betroffene Bulbus in Primärposition eine
b
Spur höher als der gesunde. Auffällig ist, dass der Patient den
Kopf zur gesunden Seite neigt und dreht, um die ausgefallene . Abb. 1.10a,b. Rechtsseitige Abduzensparese. a Blickbewegung
einwärtsrollende Funktion des Muskels auszugleichen. Es be- nach links mit konjugierter Stellung der Bulbi, b Beim Blick nach rechts
stehen schräg stehende Doppelbilder, die beim Blick nach unten kann das rechte Auge nicht abduzieren und bleibt nahezu in Mittel-
zunehmen (z.B. beim Hinabgehen einer Treppe; . Abb. 1.9). stellung
1.3 · Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion
13 1

. Tabelle 1.2. Syndrome mit Beteiligung okulomotorischer Hirnnerven*


Syndromname Symptome Ätiologie
Syndrom der Orbitaspitze Paresen Nn. III, IV, VI, Sensibilitätsstörung V1, Orbitaspitzentumoren, selten Infektionen
Pupillenstörung, Schmerzen, Optikusatrophie
Fissura-orbitalis-superior-Syndrom Paresen Nn. III, IV, VI, Sensibilitätsstörung V1, Meningeome, Orbitatumoren
(Keilbeinflügelsyndrom) Schmerzen, Exophthalmus
Sinus-cavernosus-Syndrom Paresen Nn. III, IV, VI, Sensibilitätsstörung V1, Thrombose (septisch, aseptisch) (7 Kap. 7)
injizierte Konjunktiven, Exophthalmus Sinus-cavernosus-Fistel (7 Kap. 7)
Tolosa-Hunt-Syndrom Schmerzhafte Paresen aller Augenmuskeln Granulomatöse Entzündung des Sinus
plus V1 cavernosus
Wernicke-Enzephalopathie Wechselnd ausgeprägte supranukleäre Okulo- Vitamin-B1-Mangel
(7 Kap. 29) motorikstörung, psychische Auffälligkeiten,
Ataxie
Fisher-Syndrom Nystagmus, unterschiedlich ausgeprägte Pare- Variante des immunologisch bedingten
sen der Nn. II, IV und VI, Ataxie, Arreflexie Guillain-Barr’-Syndroms (7 Kap. 32)
Gradenigo-Syndrom Abduzens- und Fazialisparese, Sensibilitäts- Mastoid- oder Felsenbeinerkrankung
störung V1
Moebius-Syndrom Doppelseitige Abduzens- und Fazialisparese, Anlagestörung von Fazialis- und Abduzens-
Zungenatrophie kernen, seltener Hypoglossuskern

* Schlaganfallsyndrome mit Beteiligung von okulomotorischen Nerven sind in Kap 5, Tab. 5.5 aufgeführt).

1.3 Blickmotorik, Nystagmus der für die Pupillomotorik relevanten vegetativen Informa-
und Pupillenfunktion tionen über den parasympathischen Anteil des Okulomotorius
geleitet.
Wir unterbrechen hier die Besprechung der Hirnnerven, um
die Blickmotorik, den Nystagmus und die Pupillomotorik de-
tailliert zu behandeln. Es bietet sich an, dies im Anschluss an 1.3.1 Blickmotorik
die okulomotorischen Hirnnerven zu tun, da diese mit allen
drei Funktionsbereichen eng verbunden sind. Den Störungen Einteilung der Augenbewegungen
der Okulomotorik können verschiedene Lähmungstypen zu Augenbewegungen werden eingeteilt in:
Grunde liegen, die das komplexe Bild der Schädigungstypen 4 Folgebewegungen: konjugierte, langsame Augenbewe-
erklären. gungen, die einem bewegten Objekt folgen und die Fixation
Die Lähmungen können des Objekts sichern.
4 muskulär, d.h. durch Schädigung eines oder mehrerer Au- 4 Sakkaden: Dies sind schnelle, konjugierte Augenbe-
genmuskeln (z.B. Myasthenie oder endokrine Ophthalmopa- wegungen (Blicksprünge), die automatisch ablaufen, wenn
thie), ein neues Objekt fixiert werden soll. Im Gegensatz zur Blick-
4 nukleär oder infranukleär durch Läsion eines okulomoto- folgebewegung kann die Sakkade nicht unterbrochen wer-
rischen Nerven, den.
4 internukleär durch Läsion der Synchronisation zwischen 4 Konvergenzbewegungen: Hierbei bewegen sich beide
Augenmuskelnervenkernen (internukleare Blicklähmung) Bulbi langsam aufeinander zu, um die Fixation eines nahelie-
und schließlich genden Objektes zu ermöglichen.
4 supranukleär durch Wegfall der übergeordneten Steuer- 4 Drehbewegungen der Bulbi sind physiologisch zwar mög-
mechanismen der Augenmotorik (z.B. supranukleäre Blickpa- lich, willkürlich aber von den meisten Menschen aktiv nicht
rese) bedingt sein. durchführbar.
> Optisch ausgelöste Blickfolgebewegungen werden
Während Augenmuskellähmungen auf Funktionsstörungen
von Sakkaden (Blicksprüngen) unterschieden.
der Augenmuskeln, der entsprechenden peripheren Nerven
oder ihrer Kerne im Hirnstamm beruhen, sind Blickparesen
und die internukleäre Ophthalmoplegie supranukleäre Be- Optokinetische Reflexe
wegungsstörungen der Bulbi. Für Nystagmen sind die oku- Optokinetische Reflexe sind langsame Augenfolgebewegungen
lomotorischen Hirnnerven die Effektoren, und auch die zent- und Rückstellsakkaden zur Stabilisierung der visuellen Infor-
rale Verschaltung für den Nystagmus hat Gemeinsamkeiten mation bei sich bewegenden Objekten. Sie werden durch op-
mit der Blickmotorik. Schließlich werden wesentliche Teile tische und vestibuläre Reize ausgelöst.
14 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Exkurs
1 Verschaltung der Blickmotorik: Anatomische und Die okulomotorischen Kerne beider Seiten sind durch das
funktionelle Grundlagen mittlere Längsbündel (medial longitudinal fascicle, MLF) mitei-
Koordinierte Bewegungen beider Augen in den drei nander verbunden und zu einer funktionellen Einheit zusammen-
Hauptrichtungen (horizontal, vertikal, rotatorisch) werden in geschlossen, die nach Blickrichtungen organisiert ist. Wenn die
der mesenzephalen (MRF, vertikale und torsionale Blicksteu- Augen auf ein Objekt fixiert sind, bewegen sie sich kaum. Dies
erung) und der präpontinen retikulären Formation (PPRF, garantiert eine einwandfreie, scharfe Aufnahme der visuellen
horizontale Blicksteuerung) des Hirnstamms gesteuert. Diese Information über den Retinaanteil mit der höchsten Rezeptor-
sind untereinander und mit den Augenmuskelkernen ver- dichte, die Makula. Bei Fixationswechsel kommt es zu kurzen,
bunden. Die Blickzentren werden willkürlich (Areae 8, 19), schnellen und konjugierten Augenrucken (Sakkaden), durch
reflektorisch und auch durch vestibuläre, auditive, somato- die die Augen auf das neue Objekt eingestellt werden. Ein sich
sensible und zerebelläre Afferenzen aktiviert (. Abb. 1.11). langsam bewegendes Objekt wird dagegen durch gleitende
So wird z. B. die Blickstabilisierung bei Fixation und gleichzei- Augenbewegungen, die vom okzipitalen Augenfeld (Area 19)
tiger Eigenbewegung des Kopfes durch reflektorische Au- reflektorisch gesteuert werden, verfolgt. Dadurch wird das
genbewegungen (vestibulookulärer Reflex, s.u.) gewährleis- Zentrum des Objekts im fovealen Blickfeld, also im Bereich des
tet. Die Organisation der Generierung von schnellen Augen- schärfsten Sehens gehalten wird. Wird die Bewegung des Fixa-
bewegungen in der horizontalen und vertikalen Ebene ist in tionsobjekts schneller, werden Korrektursakkaden (und Kopfbe-
. Abbildung 1.12 schematisch dargestellt. wegungen) eingesetzt, um das Objekt verfolgen zu können.

. Abb. 1.11. Schema der blickmotorischen Zentren des Blicksteuerung) verbunden. Die Neurone der Blickzentren koordinie-
Hirnstamms und der Augenmuskelkerne nebst ihren wichtigsten ren für die verschiedenen Blickprogramme die Aktivität der Motoneu-
neuronalen Verbindungen. Bewegungsspezifische Ganglienzellen rone in den Augenmuskelkernen. Die Blickzentren erhalten retinale
der Retina senden Axone zum Kern des optischen Trakts (NOT), dessen Signale über das Prätektum (PT, Steuerung von Vergenzbewegungen)
Zellen einerseits Axone zur unteren Olive (IO, von dort Kletterfasern und die Colliculi superiores (vertikale und horizontale Sakkadensteue-
ins Kleinhirn), andererseits zum N. praepositus hypoglossi (PPH) und rung). MRF und PRF integrieren (über nicht eingezeichnete Verbin-
den Vestibulariskernen (N. V) schicken. Letztere sind überwiegend dungen) Signale aus den kortikalen visuellen Regionen und dem fron-
durch Axone im Fasciculus longitudinalis medialis (MLF) direkt mit talen Augenfeld sowie aus den Kleinhirnkernen (z.B. N. F., Ncl. fastigii).
den Augenmuskelkernen (N III, N IV, N VI) und mit den Blickzentren der Der rostrale interstitielle Kern (ri) der MRF kontrolliert torsionale Blick-
mesenzephalen (MRF, vertikale und torsionale Blicksteuerung) und bewegungen. (Nach Schmidt u. Thews 1995)
der paramedianen pontinen retikulären Formation (PPRF, horizontale

Optokinetischer Nystagmus. Der optokinetische Nystagmus schwindigkeit der Bewegung des Objekts kann der optokine-
ist durch eine rhythmische Abfolge von gleitenden Augenfol- tische Nystagmus willkürlich unterdrückt werden.
gebewegungen und Rückstellsakkaden gekennzeichnet. Er ist
horizontal und vertikal auslösbar. Die Augenfolgebewegungen Vestibulookulärer Reflex (VOR). Der VOR verknüpft Affe-
werden durch die sich bewegenden Sehobjekte ausgelöst. Die renzen aus dem Vestibularorgan über die Stellung und die
Rückstellsakkade erfolgt, wenn das Sehobjekt droht, das Ge- Bewegungen des Kopfes im Raum mit dem okulomotorischen
sichtsfeld zu verlassen. Je nach Größe und Bewegungsge- System im Hirnstamm. Der VOR ermöglicht die kompensa-
1.3 · Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion
15 1
des VIII. Hirnnerven gestört. Einzelne Medikamente (Tran-
quilizer, Antiepileptika) und toxische Substanzen unterdrü-
cken den VOR.

1.3.2 Syndrome gestörter Blickmotorik

Internukleäre Ophthalmoplegie (INO)


3Ursachen und Symptome. Die INO kommt durch ein-
oder doppelseitige Läsion des medialen Längsbündels (medi-
aler longitudinaler Faszikulus, MLF) zustande. Bei der INO
kann das Auge auf der Seite der Läsion beim Seitwärtsblick
nicht adduziert werden, so dass es zu Doppelbildern kommt. Bei
der rechten INO bleibt also das rechte Auge beim Blick nach
links zurück und umgekehrt. Gleichzeitig tritt für die Dauer
der Seitwärtsbewegung ein dissoziierter Nystagmus auf, der oft
nur auf dem abduzierten Auge zu beobachten ist.
Die Konvergenzbewegung beider Bulbi ist dagegen erhal-
ten. Daraus und aus dem Fehlen einer Divergenzstellung beim
Geradeausblick folgt, dass der periphere Nerv zum M. rectus
medialis intakt ist, also keine partielle Okulomotoriuslähmung
vorliegt (. Abb. 1.13).

3Untersuchung. Bei einer INO bewegen sich die Bulbi


beim Seitwärtsblick nicht konjugiert.
Die INO ist nicht selten. Sie kommt wegen der paramedi-
anen Lage der MLF häufig doppelseitig vor und kann auch von
Störungen der vertikalen Augenmotorik und anderen komple-
. Abb. 1.12. Schematische Darstellung der wichtigsten supranuk-
leären und nukleären Strukturen für die Steuerung willkürlicher
xen okulomotorischen Störungen begleitet sein, die eine Schä-
Blickbewegungen über die paramediane pontine Formatio reticu- digung der umgebenden paramedianen pontinen Formatio
laris (PPRF). Der kortikale Willkürimpuls gelangt nach Kreuzung im reticularis (PPRF) anzeigen.
Mittelhirn zur PPRF, von wo die Weiterleitung über den Abduzenskern
einerseits zum ipsilateralen M. rectus lateralis, andererseits nach Kreu-
zung über den Fasciculus longitudinalis medialis und den kontralate-
ralen N. oculomotorius zum M. rectus medialis erfolgt. Eine Läsion der
PPRF oder des Abduzenskerns führt deshalb zu einer ipsiversiven
Blickparese (1). Die internukleäre Ophthalmoplegie wird durch eine
Läsion des Fasciculus longitudinalis medialis (MLF, 2) ausgelöst, wobei a
die klinisch feststellbare Adduktionshemmung der Seite der Läsion
entspricht. (Nach Brandt u. Büchele 1983)

torische Augenbewegung in Gegenrichtung einer Kopfbewe-


b
gung, um das Fixationsobjekt halten zu können.
Störungen des VOR behindern die Abstimmung von
Augen- mit Kopfbewegungen. Dann kann es bei schnellen
Kopfbewegungen zu Schwindel, Doppelbildern, Unscharf-
sehen und Unsicherheit beim Stehen kommen. Geprüft wird
die Intaktheit des VOR durch schnelle passive Kopfdrehungen, c
bei denen auf der Seite des gestörten VOR mehrere Einstell-
sakkaden benötigt werden, um die Fixation wieder zu ermög-
lichen. Der Reflex kann dadurch unterdrückt werden, dass
bei passiver oder aktiver Kopfbewegung ein mitbewegter Punkt
fixiert wird (Fixationssuppression des vestibulo-okulären Re- d
flexes). Eine Störung der Fixationssuppression macht sich . Abb. 1.13a–d. Doppelseitige internukleäre Ophthalmoplegie.
dann durch mehrere Korrekturrucke bemerkbar, wenn der a Beim Geradeausblick achsgerechte Stellung beider Augen, b Beim
VOR trotz Fixation zu einer kurzen Auslenkung der Bulbi Blick nach rechts fehlende Adduktion des linken Auges, c Beim Blick
geführt hat. Der VOR wird durch Läsionen im Kleinhirn oder nach links fehlende Adduktion des rechten Auges, d Erhaltene Kon-
im Vestibularapparat bzw. im Verlauf des Vestibularisanteils vergenzreaktion. (Nach Kaufmann 1988)
16 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Facharzt
1 Organisation der Augenbewegungen
Die Sakkaden stellen die Fovea willkürlich auf die Sehob- Horizontale Blickbewegungen, die beim Menschen die
jekte ein. Sie erfolgen diskontinuierlich, mit einer Latenz von größte funktionelle Bedeutung haben, werden von der PPRF in
200 ms und als ballistischer Vorgang mit einer so hohen der Brückenhaube generiert. Die PPRF liegt ventral vom Abdu-
Winkelgeschwindigkeit, dass sie nicht fortlaufend geregelt zenskern sowie ventral und lateral vom MLF in der Brücken-
und nicht unterbrochen oder korrigiert werden können. haube. Von der PPRF werden Impulse für horizontale Blickbe-
Verfehlt die Sakkade das Ziel, wird die Bulbusstellung mit wegungen zu Interneuronen und Motoneuronen im Gebiet
einer Latenz von 80–250 ms durch kurze Korrektursakkaden des Abduzenskerns auf der gleichen Seite vermittelt. Die
nachjustiert. Für diese präzisen Bewegungen sind sehr kleine Interneurone innerhalb des Abduzenskerns projizieren zu dem
motorische Einheiten mit hoher Entladungsfrequenz not- Teil des Okulomotoriuskerns, der für den kontralateralen
wendig. Die Amplitude der Sakkaden wird, nach dem M. rectus medialis zuständig ist, und zwar über den MLF. Ein
Ausmaß der Verlagerung des Bildes auf der Retina, als Feed- Kommando für schnelle, seitliche Augenbewegungen führt
forward-Effekt in einem Regelkreis zwischen Retina, Augen- also zu einer horizontalen Sakkade mit Aktivierung eines
muskelrezeptoren, Kleinhirnrinde und zerebellofugalen M. rectus lateralis und eines M. rectus medialis.
Projektionen zu den Augenmuskelkernen vorausberechnet.
Die Präzision dieser Regelung zeigt sich darin, dass die Au- Vertikale Blickbewegungen werden vom oralen (mesenze-
genmuskelkerne die einzigen motorischen Kerne sind, die phalen) Anteil der paramedianen pontinen retikulären Forma-
direkte zerebellofugale Projektionen empfangen. Grobe tion (PPRF) und von Kernen der Mittelhirnhaube generiert
Störungen in diesem Regelkreis kommen bei zerebellären (MRF, mesenzephale retikuläre Formation). Die Impulse für
Läsionen als Blickdysmetrie vor, die der zerebellären Dys- Rotationsbewegungen der Bulbi, die meist reflektorisch
metrie der Extremitäten entspricht. Die raschen Augen- entstehen, stammen aus der PPRF des Rautenhirns.
bewegungen werden von den frontalen Augenfeldern, Dieses subkortikale Koordinationssystem erhält Impulse
initiiert und in einem neuronalen Apparat im Hirnstamm aus vier Einzugsbereichen. Quantitativ am wichtigsten sind die
generiert, der in der paramedianen Formatio reticularis Projektionen vom Vestibulariskerngebiet. Sie enden in der
(PPRF, parapontine retikuläre Formation) und in bestimmten kontralateralen PPRF. Vestibuläre Gegendrehungen der Augen
Kernen der Mittelhirnhaube, in der Nähe der hinteren Kom- dienen der Blickstabilisierung bei Bewegungen des Kopfes, so
missur lokalisiert ist (. Abb. 1.12). dass die Wahrnehmung der Außenwelt und die subjektiven
Raumkoordinaten stabil bleiben. Der adäquate Reiz sind Kopf-
Folgebewegungen werden durch bewegte Sehobjekte bewegungen. Die vestibulären Gegendrehungen erfolgen
ausgelöst. Sie laufen kontinuierlich ab, durch optokinetische kontinuierlich, sie haben eine geringe Latenz und geringe
Reflexe geregelt mit einer Latenz von 125 ms, aber mit sehr Winkelgeschwindigkeit. Daneben üben Halsafferenzen eine
viel geringerer Winkelgeschwindigkeit als die Sakkaden. blickstabilisierende Funktion aus. Diese Afferenzen verlaufen
Der Begriff sakkadierte Folgebewegungen bezeichnet ebenfalls über die Vestibulariskerne und die Formatio reticula-
eine Störung der langsamen Folgebewegungen, die durch ris bzw. das mediale Längsbündel zu den Augenmuskelkernen.
kurze interponierte Aufholsakkaden, manchmal auf den Aus den paravisuellen Feldern des Okzipitallappens
beiden Augen asynchron, ausgeglichen wird. Die Störung verlaufen optomotorische Bahnen in der Sehstrahlung korti-
liegt also in den zu langsamen Folgebewegungen und nicht kofugal, d.h. entgegengerichtet zum Verlauf der visuellen
in den Blicksakkaden. Eine Sakkadenstörung liegt dagegen Afferenzen, teils durch das Pulvinar thalami zur Prätektalregi-
vor, wenn die automatisierten schnellen Zielbewegungen on, teils durch den hinteren Schenkel der inneren Kapsel zum
nicht mehr durchgeführt werden können und stattdessen Hirnstamm. Eine Läsion dieser Bahnen führt zum Ausfall der
die Einstellung der Augen auf ein neues Sehobjekt durch visuellen Folgebewegungen zur Gegenseite und damit auch
langsame Folgebewegung und Kopfbewegung geregelt wird des optokinetischen Nystagmus (s.u.).
(z.B. bei der progressiven supranukleären Lähmung, Der größere Anteil aller kortikoretikulären optomoto-
7 Kap. 23). Drehende Bewegungen finden wir bei verschie- rischen Bahnen kreuzt auf dem Niveau der Hirnnervenkerne.
denen pathologischen Konstellationen, wie z.B. der skew Daneben gibt es aber auch ungekreuzte Faserzüge. Auf der
deviation (Teil der ocular tilt reaction, s.u.), beim Nystagmus Aktivität dieser ipsilateralen Projektionen beruht die gute
retractorius und auch bei der Ausgleichbewegung der Obli- Rückbildung von Blickparesen nach kortikalen und subkortika-
quus-superior-Parese (Trochlearislähmung), dem Bielschows- len Läsionen, im Gegensatz zur pontinen Blicklähmung.
ky-Zeichen. . Tabelle 1.3 stellt einige Syndrome zusammen,
bei denen eine Zyklorotation eines Bulbus oder beider Bulbi
vorkommt.
1.3 · Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion
17 1
sion unterscheiden sich von der pontinen in ihrer Sympto-
matik.

Kortikale und subkortikale Läsion. Hier kommt es nicht nur


zur Lähmung der Blickbewegung, sondern das intakte kontra-
laterale Augenfeld gewinnt in der tonischen Halteinnervation
der Bulbi das Übergewicht. Der Patient hat deshalb nicht nur
eine Blicklähmung zur Gegenseite, sondern die Bulbi und
meist auch der Kopf sind zur Seite des Herdes »hinübergezo-
gen« (Déviation conjuguée): »Der Kranke blickt seinen Herd
an«. Durch vestibuläre Reize, z.B. Kaltspülung auf der betrof-
fenen Seite, lassen sich die Bulbi übrigens in Richtung der
Blicklähmung »hinüberziehen«, da die PPRF intakt ist. Die
kortikale oder subkortikale Blickparese und -deviation ist
meist von Halbseitensymptomen, besonders Hemianopie und
halbseitiger Vernachlässigung (Neglect, 7 Kap. 2.6) begleitet,
die die Lokaldiagnose erleichtern, während Augenmuskelläh-
mungen und Pupillenstörungen in der Regel nicht bestehen.
Sie bildet sich meist innerhalb weniger Tage zurück.
Führt eine Läsion im frontalen Augenfeld zu Reizsymp-
tomen anstatt zu Ausfallserscheinungen, z.B. bei epileptischen
Adversivanfällen (7 Kap. 14), so werden Bulbi (und Kopf) zur
. Abb. 1.14. Blickparese und Déviation conjugée. Dargestellt sind Gegenseite gezogen (»Der Kranke schaut vom Herd weg«).
zwei Läsionen, eine subkortikale und eine pontine, die eine Blick-
parese nach links und konjugierte Abweichung der Bulbi nach rechts
Pontine Läsion. Die pontinen Zentren der PPRF wenden die
hervorrufen. (Nach Bing 1953)
Augen physiologischerweise zur gleichen Seite. Bei pontiner
Läsion besteht also eine Blicklähmung zur Seite des Herdes.
Wenn überhaupt eine Déviation conjuguée vorliegt, ist sie vom
Die INO tritt am häufigsten bei multipler Sklerose Herd weggerichtet. Weitere Charakteristika der pontinen
(7 Kap. 22), bei Hirnstamminfarkten (7 Kap. 5) und bei Werni- Blickparese sind:
cke-Enzephalopathie (7 Kap. 29) auf. 4 die geringere Tendenz zur Rückbildung, weil der Generator
für die seitlichen Blickbewegungen gestört oder zerstört ist;
Horizontale Blickparesen 4 häufig begleitende nukleare Augenbewegungs- und Pupil-
Diese sind auf eine Störung im System der willkürlichen und lenstörungen, da die Kerngebiete bei den engen anatomischen
visuell-reflektorischen horizontalen gerichteten Blickbe- Verhältnissen oft mitgeschädigt werden, sowie
wegungen (. Abb. 1.14). Die Schädigung kann die Stirn- 4 pyramidale und zerebelläre Symptome bei Läsion im Brü-
hirnkonvexität, die frontopontine Bahn – meist in der inne- ckenfuß. Eine Lähmung der horizontalen Blickbewegungen
ren Kapsel –, die optomotorische Bahn aus dem Okzipital- nach beiden Richtungen beruht immer auf einem Brücken-
lappen oder aber die blickregulierenden Strukturen in der herd. Über ocular bobbing, das die horizontale Blickparese be-
PPRF selbst betreffen. Die kortikale und die subkortikale Lä- gleiten kann, 7 Kap. 1.3.5.

. Tabelle 1.3. Okulomotorische Syndrome mit Achsabweichung und Zyklorotation


Bezeichnung Läsionsort Symptome
Skew Deviation Peripher (Otolithen, N. VIII) Kontralaterales Auge oberhalb, ipsilaterales Auge
Zentral (kaudaler Hirnstamm) unterhalb der Horizontale, ipsilaterales Auge ggf.
lateral rotiert
Zentral (mes-, dienzephal) Ipsilaterales Auge oberhalb, kontralateral unter-
halb der Horizontale
Ocular-tilt-Reaktion Kaudaler Hirnstamm Wie Skew, dazu Neigung des Kopfes zur Herdseite
Schaukelnystagmus Dienzephal-mesenzephal (Zona incerta) Innenrotation bei Aufwärts-, Außenrotation bei
Abwärtsbewegung
Nystagmus retractorius Dienzephal-mesenzephal Innenrotation beider Augen bei Konvergenz und
Retraktion
Obliquus-superior-Myokymien Kerngebiet und proximaler Teil des N. trochlearis Unilaterale Salven von Innenrotationen
Vestibulärer Nystagmus Labyrinth, Vestibulariskern Inkonstant rotatorische Komponente
18 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Facharzt
1 Besondere okulomotorische Syndrome mit lokalisatorischer Bedeutung
Prätektalsyndrom wir vom Parinaud-Syndrom. Wegen der Nähe des Okulomoto-
Symptome: riuskerngebiets findet man dabei oft auch eine einseitige Myd-
4 klonische Konvergenzspasmen riasis, eine abgeschwächte oder aufgehobene Lichtreaktion
4 Nystagmus retractorius der Pupille und einen Nystagmus.
4 vertikale Blickparese mit Aufhebung des vertikalen
optikinetischen Nystagmus nach oben Ocular-tilt-Syndrom
4 weite, oft anisokore, schlecht auf Licht reagierende Dies ist eine Trias aus gleichseitiger Neigung des Kopfes, kon-
Pupillen jugierter Wendung der Augen und einer Einwärtsrotation des
4 Lidretraktion und Lidzittern ipsilateralen Auges und Abweichung des kontralateralen
Auges nach oben. Das Syndrom zeigt eine ipsilateral zum
Die praktische Bedeutung des Syndroms liegt in seiner Orts- abweichenden Auge gelegene Hirnstammläsion auf dem
spezifität. Ätiologisch haben die Patienten oft einen Mittel- Niveau der Mittelhirnhaube an. In seltenen Fällen wird diese
hirntumor, einen Hydrozephalus oder einen Hirnstamminfarkt. Abweichung auch nach einer Läsion im ipsilateralen Vestibu-
larorgan (Labyrinth), das in der Regulierung der Körperhaltung
Eineinhalb-Syndrom eine führende Rolle spielt, gefunden.
Das »Eineinhalb-Syndrom« besteht aus einer konjugierten
horizontalen Blickparese in einer Richtung infolge Läsion der (Progressive) supranukleäre Blicklähmung (PSP)
PPRF und einer Lähmung der Adduktion eines Auges beim Die supranukleäre Blicklähmung ist ein Leitsymptom des in
Blick in die andere horizontale Richtung infolge einer zusätz- Kap. 23 besprochenen Steele-Richardson-Olszewski-Syndroms,
lichen INO (Läsion der MLF). Ein Auge kann also weder zur einer Multisystematrophie. Die supranukleäre Blicklähmung
einen noch zur anderen Seite aus der Mittellinie geführt beginnt mit einer Verlangsamung, später dem Verlust der Blick-
werden, das andere kann nur abduziert werden. Wie bei der sakkaden. Dann tritt auch eine Verzögerung der Folgebewe-
reinen INO treten während dieser Abduktionsbewegung gungen, zunächst nach vertikal, später auch horizontal hinzu.
nystaktische Zuckungen auf. Das Syndrom beruht auf einer Die vestibulo-okulären Reflexe bleiben erhalten. Insgesamt
einseitigen Läsion in der dorsalen unteren Brückenhaube. wirken die Augenbewegungen sehr langsam und verzögert, in
Spätstadien sind die Bulbi unbeweglich und folgen passiv der
Parinaud-Syndrom Bewegung des Kopfes. Neben den Veränderungen der Blick-
Die vertikale Blickparese nach oben ist nicht selten mit einer motorik treten Rigor der Muskulatur, Dysarthrie, unsicherer,
Konvergenzlähmung (s.u.) kombiniert. Nur dann sprechen kleinschrittiger Gang und Fallneigung nach hinten hinzu.

Vertikale Blickparese Annäherung eines Objekts weicht das nichtdominante Auge


Die vertikale Blickparese betrifft hauptsächlich die Hebung, nach kurzem Konvergenzimpuls ab und fixiert nicht mehr. Da-
seltener allein (Steele-Richardson-Olszewski-Syndrom) oder bei tritt eine Verengung beider Pupillen ein.
zusätzlich die Senkung der Bulbi. Das Syndrom zeigt eine Der Konvergenzspasmus tritt willkürlich beim Konvergie-
bilaterale Läsion in der Mittelhirnhaube an. Hier gibt es für ren oder als Mitbewegung bei vertikaler Blickparese auf, wenn
beide vertikalen Blickrichtungen zwei getrennte Regulations- die Patienten versuchen, nach oben zu schauen.
zentren, von denen das für die Aufwärtsbewegung weiter
kaudal liegt. Die Parese betrifft in der Regel die spontanen und
die Führungsbewegungen. Oft ist initial die reflektorisch von 1.3.3 Nystagmus
den Bogengängen ausgelöste Hebung der Bulbi erhalten, wenn
der Patient ein feststehendes Objekt fixiert und der Unter- Als Nystagmus bezeichnet man unwillkürliche, rhythmische
sucher dabei seinen Kopf passiv nach vorn geneigt wird. Hin- und Herbewegungen der Bulbi. Der Nystagmus wird
Dies wird als Puppenkopfphänomen bezeichnet. Auch die durch drei Kriterien charakterisiert:
Hebung der Bulbi bei Augenschluss ist nicht paretisch. Leich- 4 die langsame und die rasche Phase,
tere Grade von Blickparese stellt man oft erst dann fest, wenn 4 die horizontale, vertikale oder rotierende Schlagrichtung,
man den Patienten etwa 1 min in die geforderte Richtung die nach der raschen Phase bezeichnet wird, und die
blicken lässt. Die Bulbi weichen dann langsam in die Mittel- 4 Schlagrichtung (rechts, links, oben, unten, schräg) in Be-
stellung zurück. zug auf die Primärposition des Auges.

Konvergenzparese Dass man die Richtung des Nystagmus nach der raschen Phase
Wenn eine Mittelhirnläsion den unpaaren Medialkern des bezeichnet, ist paradox, weil eigentlich die langsame Phase
Okulomotorius schädigt, tritt eine Konvergenzparese auf. Die- die erzwungene Auslenkung aus der Normallage darstellt, die
se ist ein geläufiges Frühsymptom beim Parkinson-Syndrom. rasche Phase dagegen die (sakkadische) Rückkehr in die Aus-
Im Frühstadium zeigt sie sich als Konvergenzschwäche. Bei gangsstellung.
1.3 · Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion
19 1
Untersuchung Optokinetischer Nystagmus
Die Untersuchung auf pathologischen Nystagmus wird, auch Beim optokinetischen Nystagmus handelt es sich um einen
unter der Frenzel-Brille, im abgedunkelten Zimmer vorge- optischen Orientierungsvorgang. Er ermöglicht das Fixieren
nommen. Man berücksichtigt die Stärke der Ausschläge, die als von bewegten Objekten, z.B. beim Blick aus einem fahrenden
fein-, mittel- oder grobschlägig bezeichnet wird, und be- Zug. Pathologisch ist seine Abschwächung oder sein Fehlen.
schreibt, ob die Bewegungen auf beiden Augen konjugiert, d.h. Bei einer Schädigung der optomotorischen Fasern, die vom
synchron und in gleichem Ausmaß, oder dissoziiert, d.h. un- Okzipitallappens zum Hirnstamm zieht, ist sowohl die reflek-
terschiedlich in Amplitude und Geschwindigkeit, sind. Die torische (kontraversive) Folgebewegung der Bulbi als auch die
Untersuchungsschritte sind: rasche (ipsiversive) Rückstellsakkade abgeschwächt.
4 Beobachtung desSpontannystagmus bei Blick in die Ferne
und Fixation in der Nähe.
4 Beobachtung und leichte Palpation der Bulbi mit den Fin- 1.3.5 Pathologischer Nystagmus
gerspitzen bei geschlossenen Augen. Dabei ist die Fixation
ausgeschaltet, was den erworbenen Nystagmus verstärkt. Man unterscheidet den angeborenen und den erworbenen
4 Beobachtung auf Blickrichtungsnystagmus während spon- Nystagmus. Die Unterscheidung hat praktische Bedeutung,
taner Blickbewegungen oder Folgebewegungen in die weil der angeborene Nystagmus zwar nicht normal ist, aber
Hauptrichtungen. nicht unbedingt auf einem Krankheitsprozess beruht, den man
4 Beobachtung auf Lagerungsnystagmus nach raschem Hin- mit diagnostischen Hilfsmethoden aufklären muss, wie z.B.
legen oder Aufrichten, in gerader sowie in Rechts- und Links- Bergarbeiternystagmus und angeborener Fixationsnystagmus.
seitenlage, in Kopfhängelage sowie Provokation des Nystag- Pathologischer Nystagmus ist oft, wenn auch nicht immer,
mus durch Kopfschütteln. von Schwindel begleitet. Die Schädigungen sind entweder im
4 Auch beim Augenspiegeln achtet man auf Nystagmus, der vestibulären Anteil (Labyrinth, N. vestibularis, Kerngebiet) oder
am Fundus durch ruckweise Bewegungen des eingestellten in den zentralen blickregulierenden Strukturen (Pons, Formatio
Fundus besonders leicht zu erkennen ist. reticularis, Mittelhirnkerne) lokalisiert. Schwindel entsteht
dann, wenn eine Diskordanz (mismatch) zwischen vestibulären,
Provokationsverfahren visuellen und somatosensiblen Informationen, evtl. auch affe-
Zur Nystagmusprüfung durch den HNO-Arzt gehören renten Signalen, vorliegt (7 Kap. 17). Für die Lokalisation der
Provokationsverfahren, von denen die kalorische (Warm- Schädigung muss das Verhältnis von Schwindel und Nystagmus
und Kaltluft) wichtiger ist als die Drehstuhluntersuchung, berücksichtigt werden. Starker Schwindel spricht für eine peri-
weil nur die kalorische Prüfung die Labyrinthe seitengetrennt phere Funktionsstörung, besonders wenn er als gerichteter, sys-
testet. tematischer Schwindel auftritt. Ungerichteter, diffuser Schwin-
Bei den meisten erworbenen Nystagmusformen kommt es del entspricht einer Funktionsstörung im zentralen vestibulären
zur Oszillopsie, das ist die unscharfe Wahrnehmung von sich Apparat, in dem die Meldungen aus den Richtungsrezeptoren
scheinbar oszillierend bewegenden Objekten. Die Oszillopsie bereits verschaltet sind. Intensiver Nystagmus ohne Schwindel
kann zwei Ursachen haben: Durch die nystagmischen Augen- ist charakteristisch für zentrale Läsionen.
bewegungen wird die Fovea immer wieder vom Fixierpunkt
fortbewegt, so dass der Eindruck des verschwommenen Sehens Angeborener (kongenitaler) Fixationsnystagmus
entsteht. Bei sehr grobem Nystagmus werden manchmal sogar Dies ist eine familiär, ohne einheitlichen Vererbungsmodus
Doppelbilder in bestimmten Blickrichtungen gesehen. Außer- auftretende kontinuierliche Bewegungsunruhe der Augen, die
dem kommen Sehstörungen über einen Verlust der stabili- blickrichtungsabhängig an Ausmaß zunehmen kann. Er ist auf
sierenden Funktion zustande, die das Labyrinth normalerwei- beiden Augen synchron nachweisbar und führt nicht zu Oszil-
se auf den physiologischen Nystagmus während der optischen lopsien. Der angeborene Fixationsnystagmus wird auf eine
Fixation hat. Deshalb klagen die Patienten über Doppelbilder Störung des Fixationsmechanismus zurückgeführt. Er kann
bei Kopfbewegungen. die verschiedensten Schlagformen und -richtungen haben. Die
Bei manchen angeborenen Nystagmusformen haben die Augenbewegungen erfüllen oft nicht die Kriterien eines Nys-
Patienten keine Oszillopsien, selbst wenn die Augenbewe- tagmus mit langsamer und schneller Komponente, beide Be-
gungen sehr ausgeprägt sind. wegungsteile sind etwa gleich schnell. Sein wichtigstes Kriteri-
Man berücksichtigt die Stärke der Ausschläge, die als fein- um ist, dass er sich bei Fixation verstärkt oder dabei erst mani-
, mittel- oder grobschlägig bezeichnet wird, und beschreibt, ob fest wird, während alle anderen Nystagmen durch Fixation
die Bewegungen auf beiden Augen konjugiert, d.h. synchron gehemmt werden. Nicht selten hat er den Charakter des la-
und in gleichem Ausmaß, oder dissoziiert, das heisst unter- tenten Fixationsnystagmus. Dieser tritt nur beim einäugigem
schiedlich in Amplitude und Geschwindigkeit, sind. Sehen auf und schlägt jeweils zur Seite des fixierenden Auges:
Beim Abdecken des linken Auges und Fixieren mit dem rech-
ten schlägt er nach rechts und umgekehrt.
1.3.4 Physiologische Nystagmusformen
Vestibulärer, richtungsbestimmter Nystagmus
Auch der physiologische Nystagmus kann manchmal zu Er schlägt konstant nach einer Seite, unabhängig von der Blick-
Schwindel, Oszillopsien (s.o.) und Übelkeit führen. richtung. Die Schlagrichtung ist vorwiegend horizontal, mit
20 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

rotierender oder vertikaler Komponente. Man unterscheidet


1 drei Schweregrade:
1. Nystagmus nur beim Blick in Richtung der raschen Phase,
2. Nystagmus auch beim Blick geradeaus,
3. gerichteter Nystagmus auch beim Blick in Richtung der
langsamen Phase.

Dieser Nystagmus ist meist mit Schwindel und Übelkeit, bei


gleichzeitiger kochleärer Funktionsstörung auch mit Ohren-
sausen oder Hörminderung verbunden. Ätiologisch beruht
dieser Nystagmus auf einer akuten, einseitigen Funktionsstö-
rung im Labyrinth, im N. oder Nucl. vestibularis. Er findet sich
z.B. bei der Neuronitis vestibularis und beim benignen paro-
xysmalen Lagerungsschwindel (7 Kap. 17). Durch zentrale . Abb. 1.15. Direkter Pupillenreflex bei Beleuchtung des linken
Kompensationsvorgänge wird er meist innerhalb einiger Wo- Auges. Die konsensuelle Antwort der rechten Pupille kann durch die
chen ausgeglichen. Belichtungsverhältnisse nicht erkannt werden

Blickrichtungsnystagmus
Der Blickrichtungsnystagmus (BRN) tritt erst bei Abweichung Untersuchung. Die Pupillen sollen sich auf einseitigen
der Augen von der Mittellinie auf. Seine rasche Phase schlägt Lichteinfall und während einer Konvergenzbewegung mit
stets in die jeweilige Blickrichtung. Er ist, wenn überhaupt, nur Naheinstellung (Synergie zwischen den beiden parasym-
von leichtem, unsystematischem Schwindel begleitet. pathisch innervierten Muskeln M. sphincter pupillae und
Der BRN ist nicht in jedem Falle pathologisch. Bei etwa M. ciliaris) prompt, ausgiebig und beidseitig verengen. Man
60% aller Menschen tritt er als seitengleicher, erschöpflicher prüft
Endstellnystagmus auf, wenn die Bulbi länger als 30 s in extre- 4 die direkte Lichtreaktion jeder Pupille durch plötzliche
mer Seitwärtsstellung gehalten werden. Ist er unerschöpflich, Belichtung mit einer von seitwärts angenäherten Taschenlam-
seitendifferent oder schlägt er bereits im Beginn der Blickbe- pe (. Abb. 1.15),
wegung, zeigt er eine läsionelle oder toxische Funktionsstörung 4 die konsensuelle Lichtreaktion bei Belichtung der gegen-
in der Formatio reticularis des Hirnstamms an. Die häufigsten seitigen Pupille,
Ursachen sind multiple Sklerose, Medikamentenintoxikationen 4 die Verengung beider Pupillen bei Konvergenzbewegung:
und ein Tumor in der hinteren Schädelgrube. Der Patient soll den Zeigefinger des Untersuchers fixieren, der
sich in der Mittellinie des Kopfes aus etwa 1 m Abstand rasch
Dissoziierter Nystagmus auf etwa 10 cm nähert. Dabei muss es auch zur Naheinstellung
Dieser schlägt beim Blick zur Seite jeweils auf dem abduzier- der Linse (Akkommodation) kommen.
ten Auge stärker als auf dem adduzierten und beruht auf einer
Funktionsstörung im hinteren Längsbündel des Hirnstamms. Einseitige Erweiterung (Mydriasis) kann folgende Ursachen
haben:
Blickparetischer Nystagmus 4 Lähmung der parasympathischen Innervation des
Wenn bei einer inkompletten Blickparese oder einer parti- M. sphincter pupillae (N. oculomotorius), dabei ist die Pupille
ellen Augenmuskellähmung der Patient die Bulbi in Richtung nicht maximal erweitert;
der Lähmung zu führen sucht, weichen sie immer wieder 4 Reizung der sympathischen Fasern für den M. dilatator
langsam zur Mittellinie zurück und werden durch den Bewe- pupillae, hierbei maximale Erweiterung, auch Lichtstarre (Ur-
gungsimpuls in raschen Phasen erneut von der Mittellinie sache: einseitige Anwendung von Mydriatika);
weggeführt. Dieser Nystagmus ist meist grobschlägig und 4 Einklemmung bei hemisphärischer Raumforderung (7
langsam. Kap. 2, S. 100);
4 krankhafte Veränderung im Ganglion ciliare, z.B. bei Pu-
pillotonie.
1.3.6 Pupillomotorik und Akkommodation
Verengung der Pupille (Miosis) findet sich ein- oder doppel-
Pupillenweite und -reaktion seitig bei:
Die Pupillen sind normalerweise bei mittlerer Beleuchtung 4 Sympathikuslähmung (Horner-Syndrom),
etwa seitengleich, mittelweit und rund. Eine doppelseitige 4 Pilocarpin-Therapie des Glaukoms,
leichte Erweiterung wird bei allen Formen des gesteigerten 4 Drogen (Opiate, Heroin) und Einwirkung anderer Medi-
Sympathikotonus beobachtet. Im Alter sind die Pupillen kamente (7 Kap. 30),
durch Rigidität der Iris enger. Seitendifferenzen im Durch- 4 Iritis,
messer der Pupillen werden als Anisokorie bezeichnet. Sie 4 Robertson-Phänomen bei Lues des Nervensystems
ist nicht immer pathologisch, sondern kommt auch bei Ge- (7 Kap. 18),
sunden vor. 4 Adie-Syndrom (7 Kap. 18).
1.3 · Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion
21 1
Exkurs
Weitere pathologische Nystagmusformen und okuläre Hyerkinesen
Rotierender Spontannystagmus. Die Drehrichtung wird Blickdysmetrie. Bei Blicksprüngen (Sakkaden) werden die
am oberen Meridian des Auges in der raschen Nystag- Augen nicht glatt und zielsicher auf das Sehziel geführt, son-
musphase beurteilt. Dieser Spontannystagmus ist charak- dern überschießend (hypermetrisch) daran vorbei, so dass
teristisch für Läsion der Medulla oblongata, z.B. bei Syringo- eine Korrektur durch einige rasche Hin- und Herbewegungen
bulbie oder beim Wallenberg-Syndrom. notwendig ist, bevor die korrekte Fixation erreicht wird. Die
Dysmetrie kommt auch als Hypometrie vor und erfordert dann
Fixationspendelnystagmus. Dies ist ein sehr unregelmäßi- Korrekturrucke in der ursprünglichen Sakkadenrichtung.
ger, in alle Richtungen schlagender, oft dissoziierter, hochfre-
quenter Nystagmus. Er kommt bei multipler Sklerose, selten Blickmyoklonien. Für dieses Symptom hat sich der Name
bei Hirnstammtumoren und Durchblutungsstörungen des Opsoklonus eingebürgert, obwohl okulärer Myoklonus des-
Hirnstamms vor. Die Patienten klagen über unscharfe Oszil- kriptiv sicher besser ist. Die Blickmyoklonien sind spontane,
lopsien. Begleitsymptome sind meist durch die Grundkrank- meist in Salven auftretende, unregelmäßige, schnelle (etwa
heit bedingt und umfassen Ataxie, Dysmetrie und supra- 3–13/s) konjugierte Hin- und Herbewegungen der Bulbi in alle
nukleäre, okulomotorische Störungen. Die zugrunde liegende Blickrichtungen. Pathophysiologisch scheint eine Enthemmung
Läsion wird in der Prätektalregion des Mittelhirns vermutet. von Sakkadenbewegungen zugrunde zu liegen.
Eng verwandt hiermit ist der okulopalatine Myoklonus,
Nystagmus retractorius. Sehr selten ist der Nystagmus bei dem neben einem (meist vertikalen) Nystagmus synchrone,
retractorius: ruckartige Rückwärtsbewegungen beider Bulbi schnelle Myoklonien des weichen Gaumens auftreten, die den
in der Orbita. Er zeigt eine Mittelhirnschädigung an (7 a. Patienten durch unangenehme, knackende Geräusche stören.
Kap. 1.3.2, Parinaud-Syndrom). Auch der M. stapedius soll in manchen Fällen mitbeteiligt sein.
Der Down-beat-Nystagmus schlägt mit der schnellen
Komponente nach unten. Er wird durch Fixation nicht be- Adversivanfälle (7 Kap. 14), die nur auf die Augen beschränkt
einflusst und hat eine starke lokalisatorische Bedeutung: sind, sind kein Nystagmus im engeren Sinne. Sie können
Die meisten Kranken haben eine Läsion in der Nähe des aber phänomenologisch verwechselt werden (»epileptischer
Übergangs der Medulla oblongata zum Halsmark oder im Nystagmus«). Sie sind nach der Klassifikation der Epilepsien
Unterwurm des Kleinhirns. Ein Drittel der Patienten hat (7 Kap. 14) fokale epileptische Anfälle mit okulomotorischer
eine Arnold-Chiari-Missbildung (s. Kap. 35). Der Down-beat- Symptomatik, ausgelöst im frontalen Augenfeld, viel seltener
Nystagmus führt, wie jeder andere erworbene, grobe okzipital. Der pathologische Teil der Bewegung ist die paroxys-
Nystagmus, zur Oszillopsie. male, manchmal schnelle und ruckartige, konjugierte Bewe-
Der Up-beat-Nystagmus schlägt mit der schnellen gung beider Bulbi aus der Primärposition. Diese wird danach
Komponente nach oben. Er ist meist durch Läsionen der durch eine langsame Rückbewegung ausgeglichen, bis die
Brückenhaube am pontomesenzephalen Übergang bedingt. nächste epileptische Auslenkung erfolgt. Die Frequenz ist
Bei Down-beat- und Up-beat-Nystagmus ist ein Therapie- meist deutlich langsamer als beim vestibulären, richtungsbe-
versuch mit Rivotril® oder Lioresal® angezeigt. stimmten Nystagmus.
Beim Schaukelnystagmus schlägt gleichzeitig das eine
Auge aufwärts, das andere abwärts. Dabei tritt auch eine Ocular Bobbing. Beim ocular bobbing bewegen sich die
rotierende Bulbusbewegung auf: im Uhrzeigersinn beim Augen rasch und ruckartig abwärts (to bob, auf- und abbewe-
Heben des rechten und gegen den Uhrzeigersinn beim gen), bleiben in dieser exzentrischen Position bis zu 10 s und
Heben des linken Auges. Oszillopsien sind relativ selten. gleiten danach langsam zur Mittelstellung zurück. Es tritt oft
Meist liegt keine Blickparese vor. Kalorisch, bei der Dreh- zusammen mit horizontaler Blickparese auf. Man findet es bei
prüfung und optokinetisch ist der Befund normal. Ursache schweren Schädigungen der Brücke und des pontomedullären
ist eine Läsion im Mesenzephalon oder im Dienzephalon. Übergangs, meist bei Ponsblutungen, Tumoren, ausgedehnten
Vom Nystagmus können okuläre Hyperkinesen abge- Infarkten (Basilaristhrombose), bei Kompression der Brücke
grenzt werden, von denen wir hier die Blickdysmetrie, durch raumfordernde Prozesse, besonders Kleinhirnblutungen,
Blickmyoklonien (Opsoklonus), die epileptischen okulären und auch bei der zentralen pontinen Myelinolyse (7 Kap. 28).
Adversivanfälle, die M.-obliquus-sup.-Myoklonien und das Entsprechend zeigt es eine sehr schlechte Prognose an.
ocular bobbing besprechen.
22 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Entrundung der Pupillen zeigt eine krankhafte Veränderung


1 an der Iris oder eine rostrale Mittelhirnläsion an. Sie beruht
dann auf einer unterschiedlichen Innervation der einzelnen
Sektoren des M. sphincter pupillae durch die autonomen Fa-
sern des III. Hirnnerven.

Syndrome mit Störung des Pupillenreflexes


Amaurotische Pupillenstarre. Die pupillosensorischen Fasern
in den Sehnerven sind unterbrochen: Belichtung des blinden
(amaurotischen) Auges (griech. amaurein, verdunkeln) löst
weder die direkte (gleichseitige) noch die konsensuelle (gegen-
seitige) Lichtreaktion aus. Dagegen ist die durch Belichtung des
gesunden Auges konsensuelle Verengung der Pupille auf dem
amaurotischen Auge auslösbar, da der zentrale Anteil, die Fa-
serkreuzung und der efferente Schenkel des Reflexbogens in-
takt sind. Auch die Konvergenzreaktion bleibt erhalten. Die
amaurotische Pupille ist bei gleichmäßiger Beleuchtung nicht
weiter als die gesunde, weil die konsensuelle Lichtreaktion eine
Mittelstellung der Pupille herbeiführt. Bei bilateralen Läsionen
ist der Patient blind, und die direkten und konsensuellen Pu-
pillenreflexe sind erloschen.

Absolute Pupillenstarre. Die parasympathische Efferenz zu


einem Auge ist gestört. Die ipsilaterale Pupille reagiert weder . Abb. 1.16. Bahnen für Pupillenreaktionen und Akkommoda-
direkt noch indirekt auf Lichteinfall oder bei Konvergenz. Da- tion. Die sympathische Pupilleninnervation und die Bahnen, auf denen
gegen ist der konsensuelle Reflex auf dem anderen Auge erhal- der kleinzellige Medialkern III Impulse vom Frontalhirn und Okzipitalhirn
ten. Mögliche Ursachen: traumatische Schädigung des Auges, erhält, sind nicht dargestellt. Die somatotopische Gliederung im groß-
innere oder gemischte Okulomotoriuslähmung oder eine Mit- zelligen Lateralkern III ist nur angedeutet. Läsion in 1 amaurotische Pupil-
lenstarre; Läsion in 2 absolute Pupillenstarre; Läsion in 3 reflektorische
telhirnläsion, die den efferenten Schenkel des Reflexbogens
Pupillenstarre
unterbricht. Eine beidseitige absolute Starre der weiten Pupil-
len kommt auch toxisch zustande, durch Parasympathikusläh-
mung (Belladonna-Alkaloide, 7 Kap. 30, Botulismus, 7 Kap. 32) unterschiedlich schwere Störung in der Innervation der einzel-
oder Sympathikusreizung (Kokain und Weckamine). nen Segmente des M. sphincter pupillae zurückgeführt.

Reflektorische Pupillenstarre. Direkte und konsensuelle Licht- Robertson-Pupille. Sie ist charakterisiert durch reflektorische
reaktion sind, meist auf beiden Augen, erloschen. Im frühen Pupillenstarre mit Miosis bei erhaltener Konvergenzreaktion.
Stadium sind sie zunächst unergiebig und träge. Die Konver- Sie ist für die Neurolues pathognomonisch. Die Ursache der
genzreaktion ist dagegen intakt, oft sogar besonders ausgiebig. Miosis ist nicht bekannt. Manche Autoren führen sie auf eine
Häufig sind die Pupillen anisokor und entrundet. Die Ursache präganglionäre Läsion sympathischer Fasern zurück. Die Ro-
ist eine Unterbrechung des pupillomotorischen Reflexbogens bertson-Pupille erweitert sich nur unvollständig und verzögert
zwischen der prätektalen Region und dem Westphal-Edinger- auf Mydriatika und verengt sich auch auf Miotika nur langsam.
Kern, vergleichbar der Unterbrechung des Muskeleigenreflexes Sie reagiert nicht auf 0,5%ige Carbachol-Lösung, da – im Ge-
bei der Tabes dorsalis. Da die Konvergenzreaktion auf anderen gensatz zur Pupillotonie (s.u.) – keine Denervierungsüber-
Bahnen verläuft, ist sie nicht gestört. Die Entrundung der Pu- empfindlichkeit des M. sphincter pupillae vorliegt (. Tabel-
pillen, die oft mit Atrophie der Iris verbunden ist, wird auf eine le 1.4).

. Tabelle 1.4. Differenzierung der drei wichtigsten Pupillenstörungen


Robertson-Pupille Tonische Pupille Paralytische Pupille (HN III)
Miotisch, gewöhnlich doppelseitig Gewöhnlich mäßige Mydriasis, zunächst einseitig Mydriatisch, oft einseitig
Keine direkte oder konsensuelle Reak- Sehr verzögerte Reaktion auf Licht, die auch fehlen Keine Reaktion auf Lichteinfall oder
tion auf Lichteinfall, prompte Verengung kann, verzögerte Reaktion bei Konvergenz Konvergenz
bei Konvergenz
Keine Erweiterung im Dunkeln Verzögerte Erweiterung im Dunkeln Keine Erweiterung im Dunkeln
Unvollständige Erweiterung auf Atropin, Prompte Erweiterung auf Mydriatika, prompte Veren- Prompte Verengung auf Miotika,
Kokain und Adrenalin, Carbachol 0,5% gerung auf Miotika. Verengung schon auf 0,5% Car- Reaktion auf Carbachol variabel
ohne Wirkung bachol infolge Denervierungsüberempfindlichkeit
1.3 · Blickmotorik, Nystagmus und Pupillenfunktion
23 1
Exkurs
Anatomie der Pupilleninnervation (. Abb. 1.16) Mittelhirns ab. Nach synaptischer Umschaltung ziehen sie zu
Die Pupille wird vom vegetativen Nervensystem innerviert. beiden parasympathischen Westphal-Edinger-Kernen des
Die parasympathische Innervation erfolgt über den Okulomotorius. Über die nicht-gekreuzten Fasern kommt der
N. oculomotorius, dessen präganglionäre vegetative Fasern direkte Reflex der belichteten, über die gekreuzten Anteile
im Ggl. ciliare auf die postganglionären umschalten. Diese der konsensuelle Reflex der nicht-belichteten Pupille zustan-
innervieren den M. sphincter pupillae und den M. ciliaris. de. Vom Westphal-Edinger-Kern verläuft ein weiteres Neuron
Überwiegen des Parasympathikotonus führt zur Pupillenver- beiderseits zum parasympathischen Ganglion ciliare, das
engung (Miosis). Die sympathische Innervation ist kompli- hinter dem Augapfel zwischen M. rectus lateralis und Sehnerv
zierter: Der Sympathikus innerviert den M. dilatator pupillae. im Fettgewebe der Orbita liegt. Die postganglionären Fasern
Überwiegen des Sympathikotonus dilatiert die Pupille (Myd- innervieren als kurze Ziliarnerven den M. sphincter pupillae
riasis), sein Ausfall führt zur Miosis. Die zentrale Sympathi- der Iris, der aus 70–80 Segmenten besteht, die einzeln durch
kusbahn verläuft ipsilateral vom Hypothalamus über den Endaufzweigungen des Nerven versorgt werden.
Hirnstamm bis zum sympathischen Centrum ciliospinale
(Segmente C8–Th2) im Rückenmark. Dort wird auf die prä- Konvergenzreaktion der Pupillen. Diese kommt nicht reflek-
ganglionären cholinergen Fasern des R. communicans albus torisch zustande, sondern ist Teil einer Synergie, die den op-
umgeschaltet, der bis zum Grenzstrang reicht. Im Grenz- tischen Apparat auf scharfes Nahsehen einstellt. Die Verengung
strang erfolgt die Umschaltung auf die postganglionären der Pupille wird unter physiologischen Verhältnissen durch den
adrenergen Fasern, die mit der A. carotis interna nach intra- Impuls zur Konvergenz ausgelöst. Dieser Impuls aktiviert ein
kraniell laufen, durch das Ggl. ciliare ziehen, ohne dort umzu- »Konvergenzzentrum« im Mittelhirn, zu dem der kleinzellige
schalten, und schließlich ihre Zielmuskeln, den M. dilatator Medialkern (Perlia) des Okulomotorius gehört. Von diesem aus
pupillae und den M. tarsalis, einen vegetativ innervierten wird folgende Synergie gesteuert: Innervation der beiden
Lidheber (Lähmung führt zur Ptose), innervieren. Mm. rectus medialis konvergiert die Bulbi, Innervation beider
Mm. sphincter pupillae verkleinert die Blende des optischen
Pupillenreflex. Der Reflexbogen für den Lichtreflex der Apparats, wodurch das Bild schärfer wird; Innervation der
Pupillen nimmt folgenden Verlauf: Nach Beleuchten eines Mm. ciliares lässt die Linsen erschlaffen, was ihre optische
Auges werden die Impulse von der Retina auf den N. opticus Brechkraft erhöht. Die Fasern für die parasympathische Inner-
geleitet. Dort verlaufen außer den Fasern, die visuelle Infor- vation der Mm. ciliares entstammen vermutlich ebenfalls dem
mationen vermitteln, spezielle pupillosensorische Fasern, Westphal-Edinger-Kern und schalten, wie die pupillomoto-
die im Chiasma zur Hälfte auf die andere Seite kreuzen. Sie rischen Fasern, im Ganglion ciliare synaptisch um. Auf der
ziehen dann mit beiden Tr. optici weiter, zweigen aber vor Grundlage dieser Modellvorstellung lassen sich die wichtigsten
dem Corpus geniculatum laterale zur prätektalen Region des Störungen der Pupillenreaktionen leicht verstehen.

Pupillenstörung bei erhöhtem Hirndruck. Pupillenstörungen terung der kontralateralen Pupille durch direkte Kompression
sind frühe Zeichen einer drohenden Einklemmung (7 Kap. 2, des kontralateralen peripheren N. oculomotorius, später auch
Kap. 11 und . Tabelle 1.5) bei raumfordernden hemisphäri- durch Druckschädigung der okulomotorischen Kerngebiete.
schen Läsionen. Wenn die raumfordernde Läsion in einer
Hemisphäre liegt, kommt es zunächst neben der progressiven Pupillotonie. Die Klinik der Pupillotonie und des Adie-
Bewusstseinstrübung zur Verzögerung und Verlangsamung, Syndroms sind in Kap. 18 besprochen. Die Pupillotonie
später zum Verlust des Lichtreflexes und zur Erweiterung der (7 a. Tab. 1.4) beginnt fast immer einseitig, später wird auch
ipsilateralen Pupille (. Abb. 1.17), bedingt durch Zug und das zweite Auge ergriffen. Die befallene Pupille ist etwas wei-
Dehnung des N. oculomotorius über den Klivus. Die Dehnung ter als normal, aber nicht stark mydriatisch. Sie reagiert so
entsteht dadurch, dass der Hirnstamm horizontal zur Gegen- träge, »tonisch«, dass man erst nach längerem Aufenthalt in
seite verschoben wird. Erst danach kommt es auch zur Erwei- der Dunkelkammer eine Erweiterung und nach langer Dauer-

. Tabelle 1.5. Pupillenstörungen bei Bewusstseinstrübung


Ort der Läsion Art der Pupillenstörung Ursache
Bilaterale dienzephale Läsion Meist enge Pupillen mit erhaltener Lichtreaktion Relative Minderung des Sympathikotonus
Einklemmung bei globalem Hirnödem Bilateral weite, areaktive Pupil!len Bilaterale N.-III-Läsion
Einklemmung bei unilateraler raumfor- Zuerst Mydriasis ipsilateral, später auch kontra- Ipsilaterale N.-III-Dehnung, später kontra-
dernder hemisphärischer Läsion lateral lateraler Druck
Primäre mesenzephale Läsion Bilateral weite areaktive Pupillen Bilaterale N.-III-Kern-Läsion
Primäre pontine Schädigung Bilateral enge, reaktive Pupillen Läsion zentrale Sympathikusbahn
Hirntod Mittelweite, areaktive Pupillen
24 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

. Abb. 1.19. Horner-Syndrom rechts. Verengung der rechten Pupil-


le und Ptose. Ursache: Karotisdissektion rechts
. Abb. 1.17. Maximal weite, nicht auf Licht reagierende linke
Pupille bei mittelweiter, noch auf Licht reagierender rechter Pu-
pille. Ursache: große, intrazerebrale raumfordernde Massenblutung muskels (M. tarsalis superior und inferior, . Abb. 1.19). Je nach
in der linken Hemisphäre Lokalisation der ursächlichen Läsion kann eine Schweißstö-
rung hinzutreten.
Man unterscheidet ein zentrales, ein präganglionäres und
belichtung eine Verengung feststellen kann. Die Naheinstel- ein postganglionäres Horner-Syndrom:
lungsreaktion ist ebenfalls tonisch verzögert, aber dann aus- 4 Das zentrale Horner-Syndrom kommt durch Schädigung
giebig. Allerdings ist die Untersuchung unangenehm, da der ungekreuzt verlaufenden zentralen sympathischen Bahnen
schon das Beibehalten der Konvergenz über mehrere Sekun- auf ihrem Verlauf vom Hypothalamus durch Mittelhirn, For-
den Kopfschmerzen auslöst. Auch die Akkommodation ist oft matio reticularis pontis und Medulla oblongata bis zum Cent-
erschwert und verzögert (Akkomodotonie). rum ciliospinale im Seitenhorn des Rückenmarks auf der Höhe
Die Unterscheidung von der absoluten Pupillenstarre ist C8 bis Th2 zustande. Ein zentrales Horner-Syndrom ist immer
durch eine pharmakologische Prüfung leicht möglich: Bei Pu- von gleichseitiger Schweißstörung an Kopf, Hals und oberem
pillotonie führt Einträufeln der cholinergischen Substanz Car- Rumpf begleitet.
bachol (0,5%) in den Bindehautsack zur maximalen Veren- 4 Das präganglionäre Horner-Syndrom entsteht bei Läsion
gung, Atropin zur Erweiterung der Pupille. Beim Gesunden der Fasern zwischen Centrum ciliospinale des Rückenmarks
bleibt Carbachol in dieser Konzentration ohne Wirkung (. und Ggl. cervicale superius des Grenzstrangs. Wurzelläsionen
Abb. 1.18). Mydriatika, wie Kokainhydrochlorid (2–4%), Atro- C8 bis Th2 proximal vom Ggl. stellatum des Grenzstrangs füh-
pin (1–3%) und Adrenalin (1:1000) dilatieren die Pupille ren zum Horner-Syndrom ohne Anhidrose, weil die sudorise-
prompt. Zur raschen Orientierung ist das Verhalten der Ro- kretorischen Fasern das Rückenmark erst ab Th3 verlassen.
bertson-Pupille, der tonischen und der paralytischen Pupille in 4 Das postganglionäre Horner-Syndrom beruht auf einer
. Tabelle 1.4 zusammengestellt. Läsion des Ggl. cervicale superius oder der postganglionären
sympathischen Fasern. Dabei besteht ebenfalls eine ipsilaterale
Horner-Syndrom Schweißstörung im Gesicht und am Hals.
3Symptomatik. Das Horner-Syndrom ist durch Verengung
der Pupille (Miosis) und Verengung der Lidspalte (Ptosis) ge- 3Diagnostik. Pharmakologische Tests (. Tabelle 1.6) kön-
kennzeichnet. Die Pupillenreaktionen sind erhalten, die nen eine aufwendige Diagnostik mit bildgebenden und
Dunkelerweiterung auf der betroffenen Seite jedoch verzögert. elektrophysiologischen Verfahren ersparen. Die Differenzie-
Entgegen der ursprünglichen Definition gehört der Enoph- rung zwischen physiologischer Anisokorie und Horner-Syn-
thalmus nicht zum Horner-Syndrom. Das Horner-Syndrom drom erfolgt im Kokain-Test: Die physiologische Anisokorie
beruht auf einer Funktionsstörung in der sympathischen In- hat keine Lidzeichen (s.o.) und bleibt nach Kokain unverän-
nervation der Pupille und des sympathisch innervierten Lid- dert. Eine Zuordnung des Lokalisationsortes bei Horner-Syn-

. Abb. 1.18a,b. Pupillotonie. a Mittel-


gradige Erweiterung der rechten Pupille,
b Eine Stunde nach Applikation von Carba-
chol deutliche Miosis. (A. Ferbert, Kassel)

a b
1.4 · Hirnnerven II: Nervus trigeminus und die kaudalen Hirnnerven
25 1

. Tabelle 1.6. Pharmakologische Prüfung bei Horner-Syndrom (nach Alexandridis, Heidelberg)


Normal Horner, zentral oder präganglionär Horner postganglionär
Kokain Mydriasis (ca. 2 mm) Keine Mydriasis (<0,5 mm) Keine Mydriasis (<0,5 mm)
Hydroxyamphetamin 1% Mydriasis (ca. 2 mm) Mydriasis (ca. 2 mm) Keine Mydriasis (<0,5 mm)
Tyramin 2%
Pholedrin 5%

drom ist allerdings mit Kokain nicht möglich. Die Differenzie- 4 Berührungsreize werden vorwiegend im Nucl. sensorius
rung zwischen dem zentralen oder präganglionären und dem principalis in der Brücke, Schmerz- und Temperaturreize da-
postganglionären Horner-Syndrom kann mit Tyramin- oder gegen vorwiegend im Nucl. tractus spinalis Nn. trigemini
Hydroxyamphetamin-Augentropfen getroffen werden. Bei (Substantia gelatinosa Rolandi) in der Brücke, der Medulla ob-
postganglionärer Läsion wird kein Noradrenalin freigesetzt. longata und den oberen Zervikalsegmenten synaptisch umge-
Daher bleibt die Mydriasis nach Einträufeln indirekter Sympa- schaltet.
thomimetika in den Bindehautsack aus. 4 Gefühlsstörungen, die auf Läsion der peripheren
Trigeminusäste oder des Ggl. Gasseri beruhen, sind anders be-
grenzt als solche nach Läsion des spinalen Trigeminuskerns.
1.4 Hirnnerven II: Nervus trigeminus Die Anordnung der peripheren und zentralen Innervation des
und die kaudalen Hirnnerven Gesichts zeigt . Abb. 1.20. Die klassische »zwiebelschalenför-
mige« Anordnung einer zentralen Gefühlsstörung findet man
1.4.1 Nervus trigeminus (N. V) jedoch nur selten. Häufig vermutet man zu Unrecht eine
Hirnstammläsion, während tatsächlich eine kortikale oder
Anatomie subkortikale Läsion die Gefühlsstörung im Gesicht hervor-
Sensibel versorgt der Trigeminus die Haut des Gesichts, die ruft.
Augen und die Schleimhaut von Nase, Mund, Gaumen und 4 Tierexperimentelle und humanpathologische Daten zei-
Nebenhöhlen, die Zähne und supratentoriell die Dura mater gen, dass rostrale Läsionen in der absteigenden Kernsäule iso-
des Gehirns. Für die topographische Organisation sind einige liert die intra- und periorale Gefühlswahrnehmung beein-
Besonderheiten zu berücksichtigen: trächtigen, während die Sensibilität des Gesichtes erhalten

a b

. Abb. 1.20. a Die periphere sensible Versorgung des Kopfes. ciliaris (nach Walton 1977), b Die zentrale sensible Versorgung des
Die blaue Linie (durchgezogen und auf dem Scheitel unterbrochen) Kopfes. Zwiebelschalenförmige Anordnung der Innervationsbezirke:
markiert die Grenze zwischen dem Versorgungsgebiet des N. trigemi- Segmentareal a entspricht dem oberen, b dem mittleren, c dem un-
nus und dem der benachbarten Hautnerven. 1, 2 und 3 zeigen das Ge- teren Teil des Nucleus tractus spinalis V in Medulla oblongata und
biet der drei Trigeminusäste an, deren einzelne Verzweigungen be- oberem Spinalmark. Merkhilfe: oral (Mundregion) oral/oben (auf die
zeichnet sind. ST N. supratrochlearis; IT N. infratrochlearis; NC N. naso- Kernsäule des Trigeminus bezogen)
26 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

bleibt. Der Ort der Läsion lässt sich deshalb auch nach der
1 Qualität der Gefühlsstörung bestimmen. Bei Herden in der
bulbären Kernsäule des Trigeminus haben manche Kranke
spontan oder nach taktiler Reizung Kälteparaesthesien.

Mit motorischen Fasern, die im 3. Ast verlaufen, innerviert


der Trigeminus vor allem die Kaumuskeln: M. masseter und
M. temporalis für den Kieferschluss, Mm. pterygoideus latera-
lis et medialis für die Öffnung der Kiefer. Bei Atrophie des
Temporalis und des Masseter sind die Schläfengrube und die
Region über dem aufsteigenden Ast der Mandibula eingesun-
ken. Die Vertiefung der Schläfengrube bei alten Menschen
beruht auf Inaktivitätsatrophie des M. temporalis nach Verlust
der Zähne.
. Abb. 1.21. Masseterreflex. Einzelheiten 7 Text
Untersuchung
Motorische Innervation durch den N. trigeminus. Während
der Patient kräftig die Zähne aufeinander beißt, palpiert man von der Brücke ins Mittelhirn.Während der Patient die Mas-
die Anspannung der Masseteren und der Temporalmuskeln. seteren leicht erschlaffen lässt, legt man den Zeigefinger quer
Eine höhergradige einseitige Lähmung ist dabei deutlich zu über die Protuberantia mentalis des Unterkiefers und führt
fühlen. Der Kieferschluss wird erst bei doppelseitiger Parese einen federnden Schlag mit dem Reflexhammer auf den Fin-
überwindbar. Bei völliger Lähmung der Kaumuskulatur ist der ger aus. Der Reizerfolg besteht in einem kurzen Anheben des
Unterkiefer so weit abgesunken, dass der Mund offen steht. Unterkiefers. Die Untersuchung verlangt eine gewisse Übung
Eine einseitige Parese der Mm. pterygoidei zeigt sich darin, (. Abb. 1.21). Seine pathologische Steigerung, die bis zum
dass der Unterkiefer beim Öffnen des Mundes gegen Wider- Masseterklonus gehen kann, zeigt eine doppelseitige supra-
stand zur gelähmten Seite abweicht. Manchmal sieht man die nukleäre Läsion der kortikopontinen Fasern zum motorischen
Bewegung deutlicher, mit der er beim Mundschluss von lateral Trigeminuskern an. Sie kommt beim Status lacunaris des
wieder zur Mittelstellung zurückkehrt. Diese Abweichung er- Hirnstamms (7 Kap. 5.5.5) und bei bulbärer amyotrophischer
klärt sich daraus, dass der M. pterygoideus lateralis nicht nur Lateralsklerose vor. Bei doppelseitiger peripherer motorischer
ein Senker, sondern auch ein Adduktor des Unterkiefers ist. Trigeminuslähmung ist der Reflex erloschen.
Die Adduktionswirkung beider Muskeln hebt sich normaler-
weise bei der Öffnungsbewegung auf, so dass der Unterkiefer Sensible Innervation durch den N. trigeminus. Die Sensibilität
vertikal gesenkt wird. Fällt aber der nach innen gerichtete Ge- des Gesichts wird im Seitenvergleich geprüft. Wenn sich dabei
genzug auf einer Seite fort, zieht der kontralaterale M. pterygo- eine Gefühlsstörung findet, untersucht man auch die Sensibi-
ideus lateralis den Unterkiefer beim Öffnen zur gelähmten lität der Nasen- und Mundschleimhaut.
Seite hinüber.
Kornealreflex. Durch Berührung der Kornea mit einem
Masseterreflex. Der Masseterreflex ist der einzige kraniale feinen Wattetupfer löst man den Kornealreflex aus, eine
monosynaptische Reflex. Sein Reflexzentrum erstreckt sich reflektorische Kontraktion des M. orbicularis oculi (N. VII;

Exkurs
Geschmacksempfindung
Die Geschmackswahrnehmung ist eine gemeinsame Leis- Untersuchung. Man tupft Lösungen, die den fünf Geschmacks-
tung von N. trigeminus, N. facialis und N. glossopharyngeus. grundqualitäten (sauer, salzig, bitter, süß, cremig-fettig) ent-
sprechen, auf den vorderen und hinteren Abschnitt jeder
Anatomie. Die Leitung der Geschmacksempfindung nimmt Zungenhälfte. Für die jüngst entdeckte fünfte Qualität, chre-
einen recht komplizierten Weg: Reize auf den vorderen zwei mig-fettig, gibt es keine einfache Lösung. Sie ist auch nicht auf
Dritteln der Zunge werden zunächst mit dem N. lingualis bestimmte Zungenabschnitte lokalisiert, sonder ubiqitär auf
(N. V3) zentripetal geleitet, laufen dann über die Chorda der Zunge und auch im Rachen und Gaumen repräsentiert.
tympani zum N. facialis, mit diesem bis zum Ganglion geniculi Die Zunge muss bei der Geschmacksprüfung dabei herausge-
im Felsenbein, von hier über den N. intermedius zur Brücke streckt bleiben, damit die Proben nicht mit den Rezeptoren
und werden von dort zum Nucl. solitarius in der Medulla auf der anderen Seite oder im Rachen in Berührung kommen.
oblongata geleitet. Das 2. sensorische Neuron steigt zum Deshalb darf der Patient auch nicht sprachlich antworten,
ventromedialen Kernkomplex des Thalamus auf, das 3. Neu- sondern zeigt auf ein Blatt Papier, auf dem die vier Ge-
ron projiziert zur Inselrinde. Die afferente Leitung von Ge- schmacksqualitäten vermerkt sind. Zwischen zwei Proben
schmacksreizen auf dem hinteren Drittel der Zunge wird vom muss der Untersuchte sich jeweils kräftig den Mund spülen,
N. glossopharyngeus (N. IX) zum Nucl. solitarius vermittelt. um die Reste des Geschmacksstoffs zu entfernen.
1.4 · Hirnnerven II: Nervus trigeminus und die kaudalen Hirnnerven
27 1
liegt. Diese sensiblen Fasern versorgen ein variables Hautareal
medial und lateral an der Ohrmuschel, manchmal auch dahin-
ter, sowie einen Streifen in der Länge des Meatus acusticus in-
ternus und einen Teil der Fossa tympani. Die sensiblen Inter-
mediusfasern leiten hauptsächlich Schmerzreize. Sie enden
wahrscheinlich im Trigeminuskern. Weiter gehören zum
N. intermedius sensorische Fasern für die Geschmackswahr-
nehmung auf den vorderen zwei Dritteln der Zunge.
Präganglionäre viszerale Fasern mit sekretorischer Funk-
tion verlaufen efferent im N. intermedius zur Gl. submandibu-
laris und sublingualis (über das Ggl. submandibulare) und zur
Gl. lacrimalis (über das Ggl. sphenopalatinum). Die neurolo-
gisch interessierenden Abschnitte dieser Nervenanteile sind in
. Abb. 31.2 dargestellt.
. Abb. 1.22. Auslösung des Kornealreflexes. Einzelheiten 7 Text
Untersuchung
Einer unmittelbaren Prüfung sind nur die Gesichtsmuskeln
. Abb. 1.22). Der Nadelkopf ist für die Untersuchung des zugänglich. Bei der Inspektion achtet man auf Unterschiede in
Reflexes nicht geeignet, da er die Kornea verletzen kann. Der der Weite der Lidspalten, auf Asymmetrien in der Furchung
oligosynaptische Reflexbogen wird im Hirnstamm geschlos- der Stirn, Asymmetrie der Nasolabialfalten, Schiefstehen des
sen. Abschwächung oder Ausfall des Reflexes beruht entwe- Mundes und einseitige Einziehung des Lippenrots, die eine
der auf einer Unterbrechung im afferenten Schenkel (Läsion Platysmaschwäche anzeigt. Der Zungengrund steht auf der
im 1. Trigeminusast oder im spinalen Trigeminuskern) oder Seite der Fazialisparese etwas tiefer.
im efferenten Schenkel des Reflexbogens (Läsion des N. fa- Man lässt den Patienten folgende Bewegungen ausführen:
cialis, Lähmung des M. orbicularis oculi). Die Unterschei- Stirnrunzeln, Augen fest schließen, auch gegen Widerstand
dung ist leicht zu treffen, wenn man den Patienten nach der durch zwei Finger, Naserümpfen, Mund breitziehen, spitzen,
Stärke der sensiblen Empfindung auf der Kornea fragt und/ vorstülpen und fest schließen, Backen, auch einzeln abwech-
oder die Kraft des Lidschlusses prüft. Der Kornealreflex selnd, aufblasen und pfeifen (. Abb. 1.23). Beim Herausstre-
kann allerdings auch bei hemisphärischen Läsionen in der cken der Zunge vergleicht man die Weite der Lippenkulisse auf
Frühphase kontralateral abgeschwächt, aber nicht ausgefal- beiden Seiten. Wenn der M. orbicularis oculi gelähmt ist, kann
len sein. Im tiefen Koma ist der Kornealreflex doppelseitig das Auge nicht geschlossen werden. Dies bezeichnet man als
erloschen (7 Kap. 2.14). Lagophthalmus (Lagos = Hase). Infolge des Lagophthalmus
wird bei Aufforderung zum Augenschluss die konjugierte He-
bung des Bulbus sichtbar, die dabei als physiologische Mitbe-
1.4.2 Nervus facialis (N. VII) wegung auftritt. Pupille und Iris werden durch die Wendung
nach oben hinter dem paretischen Oberlid verborgen, es bleibt
Der Nerv versorgt alle mimischen Muskeln und das Platysma, nur noch das »Weiße« des Auges auf der gelähmten Seite sicht-
in der Paukenhöhle den M. stapedius und, von den oberen bar (Bell-Phänomen). . Abbildung 31.1 zeigt im Vergleich eine
Zungenbeinmuskeln, den M. stylohyoideus und den hinteren periphere Fazialislähmung und eine zentrale faziale Parese.
Bauch des M. digastricus. Klinik der Fazialisparesen 7 Kap. 31.
Die Funktion des M. stapedius, der das ovale Fenster der
Anatomie Paukenhöhle durch die Steigbügelplatte verschließt, lässt sich
Der periphere Verlauf ist in Kap. 30 beschrieben. Zum N. faci- anamnestisch und während der Untersuchung einfach über-
alis gehört auch ein sensibler Anteil, der im N. intermedius prüfen: Bei Stapediusparese besteht abnorme Empfindlichkeit
verläuft und dessen Ggl. geniculi im Knie des Canalis Falloppii des Gehörs, besonders für tiefe Töne (Hyperakusis).

. Abb. 1.23. Fazialisprüfung.


Einzelheiten 7 Text
28 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

1.4.3 Nervus statoacusticus (N. VIII; rische Hebung des Gaumensegels und den Würgreflex aus.
1 N. vestibulocochlearis) Beidseitige Hypästhesie oder Anästhesie und Fehlen dieser
Fremdreflexe müssen mit Vorsicht verwertet werden, da sie
Die beiden Anteile des Nerven leiten die sensorischen Impulse auch auf psychogener Hemmung beruhen können. Der Gau-
aus dem Corti-Organ der Schnecke (N. cochlearis) und die mensegelreflex fehlt einseitig bei der Läsion des N. IX und/
Afferenzen aus den Sinneszellen der Bogengänge, des Utricu- oder X. Die Geschmacksprüfung für das hintere Drittel der
lus und Sacculus (N. vestibularis). Zunge wurde bereits besprochen.

Untersuchung
Anamnestisch fragt man den Patienten nach Hörminderung, 1.4.5 Nervus vagus (N. X)
Ohrgeräuschen und systematischem Schwindel mit Übelkeit.
Die klinische Untersuchung des Hörvermögens beschränkt Er versorgt motorisch das Gaumensegel, die Kehlkopfmuskeln
sich meist auf die binaurale und monaurale Prüfung des Hör- sowie die Atem- und die oberen Speisewege, sensibel den äu-
vermögens für Umgangs- und Flüstersprache aus wechselnder ßeren Gehörgang, Larynx, Trachea, den unteren Schlund,
Entfernung. Mit der üblichen Untersuchung, ob der Patient Speiseröhre und Magen sowie autonom das Herz und be-
feines Uhrenticken wahrnimmt, stellt man nur das Hörvermö- stimmte Gefäße.
gen für höhere Frequenzen fest, das bei Schallempfindungs-
schwerhörigkeit (Innenohrschwerhörigkeit) herabgesetzt ist. Untersuchung
Auch zwei einfache Versuche mit der Stimmgabel helfen Das Gaumensegel hängt bei Läsion des N. vagus einseitig oder
bei der Zuordung einer Hörstörung doppelseitig und hebt sich bei Phonation oder Auslösung des
4 Rinne-Versuch: Vergleich der Knochenleitung (Stimm- Würgreflex nicht oder nur mangelhaft. Dabei wird das Zäpf-
gabel auf dem Warzenfortsatz) mit der Luftleitung (Stimm- chen zur gesunden Seite hinübergezogen. Auch die hintere
gabel vor dem äußeren Ohr). Normalerweise wird die Luft- Rachenwand wird bei spontaner und reflektorischer Innerva-
leitung etwa 30 s länger gehört als die Knochenleitung (Rinne tion zur gesunden Seite verzogen, was man am besten an der
»positiv«). Der »negative Rinne«, d.h. Verkürzung der Luft- Raphe sieht (signe de rideau; Kulissenphänomen). Bei Gau-
leitung, zeigt eine Schallleitungs-, d.h. Mittelohrschwerhörig- mensegellähmung berichtet der Patient über Regurgitation
keit an. von Flüssigkeiten aus der Nase, seine Stimme ist nasal und das
4 Im Weber-Versuch wird die auf den Scheitel gesetzte Husten erschwert.
Stimmgabel vom Gesunden auf beiden Ohren gleich gut ge- Die Epiglottisparese führt zum »Verschlucken in die
hört. Wenn ein Patient Hörminderung auf einem Ohr angibt, falsche Kehle«, die Glottisparese zur Heiserkeit oder Dyspnoe.
kann der Weber »lateralisiert« sein. Lateralisierung zur schlech- Die nähere Untersuchung muss der HNO-Arzt endoskopisch
ter hörenden Seite bedeutet Schallleitungsschwerhörigkeit, zur vornehmen. Eine partielle Schlucklähmung stellt man am bes-
gesunden Seite Schallempfindungsschwerhörigkeit. ten bei der Röntgendurchleuchtung mit Breischluck fest. Die
distale, einseitige Lähmung des N. recurrens, eines Endastes
Durch die Spiegeluntersuchung stellt man für die neurolo- des N. vagus, führt zur einseitigen Stimmbandlähmung mit
gische Diagnostik vor allem Trommelfelldefekte, Otitis media, Heiserkeit.
die Bläschen des Zoster oticus oder nach Schädeltraumen mit
Felsenbeinfraktur gelegentlich Blut und/oder Liquor im äuße-
ren Gehörgang fest. Weitere Untersuchungen gehören in das 1.4.6 Nervus accessorius (N. XI)
Gebiet des Ohrenarztes, wenn auch der Neurologe mit den
Prinzipien und den wichtigsten Befunden der Audiometrie Er innerviert die Mm. sternocleidomastoideus und trapezius.
vertraut sein sollte. Dasselbe gilt für die Untersuchung des ves- Anteile des Trapezius werden auch aus den Zervikalsegmenten
tibulären Systems. Neurologisch wichtige Angaben finden sich C3–C4 mitversorgt (7 auch Kap. 31).
im 7 Kap. 1.3.3, Nystagmus, und im 7 Kap. 17, Schwindel.
Untersuchung
Man untersucht die Funktion der beiden Mm. sternocleido-
1.4.4 Nervus glossopharyngeus (N. IX) mastoidei isoliert und simultan. Der Patient wird zunächst
aufgefordert, den Kopf gegen Widerstand zur Seite zu wen-
Der IX. Hirnnerv ist vor allem ein sensibel-sensorischer Nerv. den. Man beobachtet und palpiert dabei das Hervortreten
Sensibel versorgt er den obersten Teil des Pharynx und das des angespannten M. sternocleidomastoideus auf der Gegen-
Mittelohr, sensorisch leitet er die Geschmacksempfindungen seite der Bewegungsrichtung. Die Kraft beider Sternokleido-
vom hinteren Zungendrittel und vom Gaumen. Die moto- muskeln gemeinsam prüft man durch Senken des Kopfes
rische Innervation für den M. stylopharyngeus kann klinisch gegen Widerstand am Kinn. Danach palpiert man den
vernachlässigt werden. oberen Trapeziusrand und fordert den Patienten auf, die
Schulter gegen Widerstand emporzuziehen. Klinik der Ak-
Untersuchung zessoriusparese 7 Kap. 31.2.8. Bei mageren Personen ist eine
Mit einem Tupfer prüft man die Berührungsempfindung an Atrophie des M. sternocleidomastoideus gut zu erkennen,
Gaumen und Rachen, mit dem Spatel löst man die reflekto- eine Trapeziuslähmung zeigt sich durch tiefere Ausbuch-
1.5 · Reflexe
29 1
tung der Hals-Nacken-Linie und Absinken der Schulter nach Das isolierte Abweichen der Zunge ohne Atrophie darf nur
vorn. Der gleichseitige Arm erscheint dadurch länger. Die mit Zurückhaltung als pathologisches Symptom verwertet
Skapula steht schräg, mit dem Angulus lateralis seitlich und werden, da Asymmetrien hier, wie auch bei der Innervation
tiefer. der mimischen Muskulatur, als physiologische Varianten häu-
fig sind. Eine meist vorübergehende, ipsilaterale Hypoglossus-
lähmung wird manchmal als Folge einer Druck- oder Zugläsi-
1.4.7 Nervus hypoglossus (N. XII) on nach Thrombendarteriektomie der A. carotis interna beob-
achtet. Doppelseitige zentrale Zungenlähmungen kommen
Dieser Nerv innerviert die Zungenmuskeln. meist gemeinsam mit einer supranukleären Parese der übrigen
kaudalen motorischen Hirnnerven vor.
Anatomie
Die von den kaudalen Hirnnerven (X, XI, XII) versorgten Mus-
keln haben eine bilaterale kortikale Innervation, so können zen- 1.4.8 Schädelbasissyndrome
trale Lähmungen bis zu einem gewissen Grade kompensiert
werden. Diese Symptomkombinationen haben keinen physiologischen,
sondern nur einen lokalisatorischen Zusammenhang. Sie zei-
Untersuchung gen also nicht die Läsion eines Funktionssystems, sondern,
Der Patient soll die Zunge gerade herausstrecken und dann und zwar mit großer Zuverlässigkeit, den Ort einer Schädi-
rasch hin- und herbewegen. Er soll Ober- und Unterlippe ein- gung (Entzündung, primärer oder metastatischer Tumor) an
zeln belecken und mit der Zunge schnalzende Bewegungen der Basis des Schädels oder des Gehirns an. Zur Illustration
ausführen. wird auf . Abb. 1.2 und . Abb. 1.25 verwiesen. Die Infobox ist
Die Hypoglossuslähmung führt, einseitig oder doppelsei- weniger zum Lernen als zum Nachschlagen gedacht.
tig, zur Atrophie der Zunge, die dann dünner, schlaff und wal-
nussschalenartig gerunzelt ist (. Abb. 1.24). Bei chronischer,
peripherer Lähmung und auch bei Schädigung des Hypoglos- 1.5 Reflexe
suskerns zeigt sie faszikuläre Zuckungen (sie sieht aus »wie ein
Sack mit Regenwürmern«). Die doppelseitig gelähmte Zunge Eigenreflexe
kann nicht mehr bewegt werden. Der auslösende Reiz für einen Eigenreflex ist eine brüske Deh-
Bei einseitiger Lähmung liegt sie zur gesunden Seite verla- nung des Muskels mit Aktivierung der Muskelspindeln, Reiz-
gert im Mund und weicht beim Herausstrecken im Bogen zur erfolg ist eine Kontraktion desselben Muskels. Reizort und
kranken Seite ab. Dies beruht darauf, dass der Zungenstrecker Erfolgsorgan sind also gleich. Dieser Reflexbogen ist monosy-
(M. genioglossus) der gesunden Seite die Zunge zur kranken naptisch. Klinische Bezeichnungen wie Radiusperiostreflex
Seite hinüberschiebt. Das Sprechen ist mühsam, besonders für oder Achillessehnenreflex sind physiologisch unkorrekt, sie
Linguale (l, r) und Dentale (d, t, n, s). Die Patienten beißen sich sind aber fest eingeführt und haben den Vorzug kurzer For-
auf die Zunge. Sie verlieren Speichel aus dem Mund. Beim Lie- meln (z.B. RPR, ASR).
gen auf dem Rücken sammelt sich der Speichel im vorderen Eigenreflexe ermüden bei wiederholter Prüfung nicht.
Teil des Mundes und läuft beim Bücken heraus. Speisen gera- Die Lebhaftigkeit der sichtbaren Reflexzuckung lässt sich
ten unter die Zunge und müssen mit dem Finger herausgeholt durch Mitinnervation des untersuchten Muskels oder durch
werden. das Jendrassik-Manöver verstärken oder erst auslösen. Dabei

a b c

. Abb. 1.24. Hypoglossusparese. a atrophe linke Zungenhälfte. b Zungenatrophie im MRT. c Hypoglossusneurinom im MRT (Pfeil)
30 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

. Abb. 1.25. Schädelbasis mit Hirnnerven

Infobox
Schädelbasissyndrome
Syndrom der Olfaktoriusrinne. Neurologisch: erst einsei- nerven (Nn. oculomotorius, trochlearis und abducens) sowie
tige, dann doppelseitige Anosmie. Gefühlsstörung im 1. Trigeminusast. Der 2. Trigeminusast
Psychopathologisch: Stirnhirnsyndrom, das manchmal verlässt die Schädelbasis durch das Foramen rotundum zur
durch euphorische Verstimmung und Enthemmung des Fossa pterygopalatina, der 3. Ast tritt durch das Foramen
Antriebs, bei den meisten Patienten durch Mangel an psy- ovale zur Fossa infratemporalis aus. Sie bleiben deshalb bei
chomotorischer Initiative und emotionalem Ausdruck ge- Prozessen der Orbitaspitze frei.
kennzeichnet ist. Ursachen: Entzündungen und Tumoren, die die Fissura
Ursache: Meist frontobasales Meningeom der Olfaktori- orbitalis superior und das Foramen opticum ergreifen.
usrinne (7 Kap. 11).
Syndrom des Sinus cavernosus. Alle drei Augenbewe-
Keilbeinflügelsyndrom. Halbseitiger Kopfschmerz temporal gungsnerven (III, IV, VI) und der N. supraorbitalis (Trige-
oder in der Augenhöhle. Nichtpulsierender Exophthalmus. minus 1) laufen durch die Wand des Sinus cavernosus. Sind
Lähmung der Hirnnerven, die durch die Fissura orbitalis mehrere dieser Nerven lädiert, ohne dass der N. opticus be-
superior ziehen [Nn. oculomotorius (III), trochlearis (IV), troffen ist, muss der Prozess parasellär im Sinus cavernosus
abducens (VI), Trigeminus 1]. liegen.
Ursachen: laterale oder mediale Keilbeinflügelmenin- Ursachen: Meningeome und infraklinoidale Aneurysmen
geome. Einzelheiten und Pathogenese 7 Kap. 11. (7 Kap. 9). Die Sinus-cavernosus-Fistel ist in Kap. 26.4 be-
schrieben.
Kennedy-Syndrom. Ipsilaterale Optikusatrophie, kontralate-
rale Stauungspapille. Syndrom der Felsenbeinspitze (Gradenigo-Syndrom).
Ursache: oft mediales Keilbeinmeningeom. Einseitige Lähmung von N. trigeminus (V), abducens (VI) und
facialis (VII).
Syndrom der Orbitaspitze. Primäre Optikusatrophie, kom- Ursachen: fast immer eine vom Innenohr durchge-
plette oder partielle Lähmung aller drei Augenbewegungs- brochene oder fortgeleitete Eiterung, seltener Metastase.
6
1.5 · Reflexe
31 1

Kleinhirnbrückenwinkelsyndrom. Reizsymptome, später Syndrom der Kondylen und des zervikookzipitalen Über-
Ausfälle der Nn. acusticus und vestibularis (VIII), Reizsymp- gangs. Ausfälle der Nn. glossopharyngeus (IX), vagus (X),
tome (Dauerschmerzen), später Ausfall im Gebiet des N. tri- accessorius (XI) und hypoglossus (XII), oft bilateral, in Kom-
geminus (alle drei Äste). Meist gleichseitige periphere Fazia- bination mit Strangsymptomen des Rückenmarks: zentrale
lislähmung, selten allein oder dabei Spasmus facialis, Läh- Parese und Missempfindungen in den Armen und Händen.
mung des N. abducens (VI). Vestibulärer, später Blickrich- Ursachen: Metastasen und Fehlbildungen des okzipitozer-
tungsnystagmus. Ipsilaterale Kleinhirnataxie. vikalen Übergangs (7 Kap. 35).
Ursachen: fast immer Neurinome des N. vestibularis
(7 Kap. 11), selten Meningeome oder Granulome. Halbbasissyndrom (Garcin-Syndrom). Einseitige Lähmung
des motorischen und sensiblen N. trigeminus (V), der Nn. faci-
Syndrom des Foramen jugulare. Schmerzen und Gefühls- alis (VII), statoacusticus (VIII), glossopharyngeus (IX), vagus (X),
störung im Versorgungsbereich des N. glossopharyngeus (IX), accessorius (XI) und hypoglossus (XII).
besonders vom Typ der Glossopharyngeusneuralgie Ursachen: destruierende Knochenprozesse der Schädel-
(7 Kap. 16). Lähmungen des gesamten motorischen N. vagus basis, z.B. Epipharynxtumoren.
(X), also auch des Gaumensegels und der Schlundmuskulatur,
nicht nur Rekurrensparese. Lähmung des N. accessorius (XI).
Ursachen: Glomustumoren und Schädelbasismetastasen.

soll der Patient auf Aufforderung die Zähne aufeinander bei- des Vorderhorns laufen zentrifugale Impulse über die rasch
ßen (für die Prüfung der Eigenreflexe an den Armen), die leitenden α-Fasern des peripheren Nerven zur motorischen
verschränkten Hände auseinanderziehen (bei Reflexprüfung Endplatte und lösen dort eine Muskelkontraktion aus. Im
der Beine) oder – einfacher – einer dritten Person die Hand Muskel und am Sehnenansatz finden sich zwei Arten von Re-
drücken. Ohne dass man diese Bahnungsversuche unternom- zeptoren, deren Afferenzen die phasische und tonische Akti-
men hat, darf man einen Reflex nicht für erloschen erklären. vität der Vorderhornzellen beeinflussen: die Muskelspindeln
Andererseits kann eine bewusste oder unbewusste Verspan- und die Golgi-Sehnenorgane.
nung der Muskulatur Reflexdifferenzen vortäuschen. Eigen-
reflexe müssen also wiederholt im Seitenvergleich und in Fremdreflexe
größtmöglicher Entspannung untersucht werden. Der auslösende Reiz für einen Fremdreflex ist meist die Stimula-
Der Reflexbogen für den Eigenreflex ist ein Regelkreis, der tion taktiler Rezeptoren in der Haut, Erfolgsorgan ist die darun-
in . Abb. 1.26 schematisch dargestellt ist. Von den α-Zellen ter liegende oder benachbarte Muskulatur. Der Reflexbogen ist
polysynaptisch, er bezieht im Rückenmark mehrere Segmente
ein. Die Lebhaftigkeit der Fremdreflexe steht in Beziehung zur
Stärke des Reizes. Bei wiederholter Auslösung ermüden sie
durch Habituation.
Die Fremdreflexe stehen unter dem fördernden Einfluss
der deszendierenden motorischen Bahnen. Ihre einseitige Ab-
schwächung, raschere Ermüdbarkeit oder ihr Ausfall ist ein
sehr feiner Indikator für eine Funktionsstörung der moto-
rischen Bahnen, kann aber auch durch die periphere Unterbre-
chung des Reflexbogens verursacht sein. Die Segmenthöhe der
besprochenen Eigen- und Fremdreflexe ergibt sich aus . Tabel-
le 1.7 .

1.5.1 Reflexuntersuchung

Voraussetzung für eine korrekte Untersuchung der Eigenre-


flexe ist, dass der Arm oder das Bein in eine Mittelstellung
gebracht wird, die dem Muskel eine reflektorische Verkürzung
gestattet: Der Trizepssehnenreflex kann z.B. nicht am gestreck-
ten, der Bizepssehnenreflex nicht am maximal gebeugten, aber
auch nicht am völlig gestreckten Arm ausgelöst werden. Der
Patient muss entspannen. Ängstliche Anspannung der Musku-
latur verhindert die Reflexzuckung und täuscht Areflexie vor.
Der Reflexhammer soll nicht krampfhaft gehalten, gleichsam
. Abb. 1.26. Spinaler Regelkreis der Motorik als Verlängerung des Arms, auf die Sehne oder den Knochen
32 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

. Tabelle 1.7. Segmenthöhe der wichtigsten Eigen- und Fremdreflexe


1
Reflex Lokalisation Reflex Lokalisation
Bizeps- C5–C6 Unterer BHR Th11–Th12
sehnenreflex
Radiusperiostreflex C5–C6 Cremasterreflex L1–L2
Trizepssehnenreflex C6–C7 Patellarsehnenreflex L2–L4
Pronatorreflex C6–C7 Achillessehnenreflex L5–S2
Oberer BHR Th8–Th9 Fußsohlenreflex S1–S2

Exkurs
Der Eigenreflexbogen im Detail verhindern eine übermäßig starke Kontraktion, die zu einer
Muskelspindeln. Die Muskelspindeln enthalten ringspiralige Verletzung des Muskels führen könnte. Entsprechend dieser
Rezeptoren, die bei Dehnung des Muskels aktiviert werden. Notfallfunktion haben sie eine hohe Erregungsschwelle.
Ihre Afferenzen erreichen über Iα-Fasern im monosynap-
tischen Reflexbogen die agonistische Vorderhornzelle, die γ-Efferenz. Die Empfindlichkeit der Muskelspindeln auf Deh-
daraufhin Impulse zu diesem Muskel sendet. Die Muskel- nung und damit die von ihnen ausgehenden afferenten Im-
kontraktion wirkt der Dehnung entgegen, die die Spindeln pulse werden durch ein efferentes System gesteuert. Außer
aktiviert hatte. Umgekehrt entlastet eine starke Kontraktion den α-Zellen gibt es im Vorderhorn auch kleinere, sog. γ-
des Muskels die Muskelspindeln, was ihre Afferenzen zum Zellen. Von diesen ziehen dünne γ-Fasern mit den peripheren
agonistischen Muskel vermindert, der daraufhin erschlafft. Nerven zum Muskel und innervieren die intrafusalen Fasern
Spindeln stellen also Fühler für Längenänderung dar. Sie der Muskelspindeln. Je nach Aktivität der γ-Zellen werden die
bahnen motorische Impulse, durch die die Länge des Spindeln durch vermehrte oder verminderte Innervation der
Muskels auf einen bestimmten Wert eingestellt wird. Diese intrafusalen Fasern auf stärkere oder geringere Dehnungs-
Funktion hat große Bedeutung für den Haltetonus in der empfindlichkeit eingestellt. Die Muskelspindeln können also
Stützmotorik. Hier soll erwähnt werden, dass die Iα-Fasern durch Dehnung des Muskels und durch intrafusale Kontraktion
auch synaptisch hemmende Verbindungen zu den anta- aktiviert werden. Die Tätigkeit der γ-Zellen wird fördernd und
gonistischen Motoneuronen haben (reziproke Hemmung). hemmend über retikulospinale Bahnen beeinflusst. Fehlende
Dadurch wird die Kontraktion der agonistischen Muskeln γ-Impulse setzen das Eigenreflexniveau stark herab. Durch
unterstützt. vermehrte γ-Efferenz kann ein niedriges Reflexniveau angeho-
ben werden.
Golgi-Sehnenapparat. Die Golgi-Sehnenorgane sind Span-
nungsfühler. Bei Kontraktion des Muskels wird das Sehnen- Kontrolle des Eigenreflexes. Physiologisch stehen die Eigen-
organ gedehnt. Seine Iβ-Afferenzen wirken über Interneu- reflexe unter dem Einfluss hemmender Bahnen, die aus der
rone nach Art einer negativen Rückkoppelung hemmend Formatio reticularis mit den Pyramidenbahnen zum Vorder-
und damit erregungsbegrenzend auf die Vorderhornzellen horn laufen. Eine Funktionsstörung in diesen absteigenden
des gleichen Muskels und seiner Synergisten. Sie wirken Bahnen führt klinisch zur Steigerung der Eigenreflexe. Eine
außerdem aktivierend auf antagonistische Motoneurone. periphere oder segmentale Läsion führt dagegen zum Ausfall
Iβ-Afferenzen wirken ferner auch auf Motoneurone, deren oder zur Abschwächung eines korrespondierenden Eigenre-
Muskeln an anderen Gelenken angreifen. Die Sehnenorgane flexes.

geführt oder gar gedrückt werden, sondern aus lockerem spinalen Eigenreflexe mit dem Masseterreflex. Eine Funktions-
Handgelenk mit seiner eigenen Schwere auf den Reizort fallen. störung absteigender motorischer Bahnen zeigen nur solche
Der Schlag darf nicht auf den Muskel selbst treffen. Dort löst Reflexe an, die im Vergleich zu anderen, schwächer auslös-
man keinen Reflex aus, sondern nur eine mechanisch bedingte baren Reflexen gesteigert sind.
Muskelkontraktion.
Klonus
Reflexsteigerung Ein Klonus ist eine Folge von Eigenreflexen, die durch an-
Die Eigenreflexe sind individuell unterschiedlich stark auslös- haltende Dehnung des betreffenden Muskels unterhalten
bar. Die absolute Lebhaftigkeit der Reflexe und selbst eine sym- wird. Wir unterscheiden den erschöpflichen und den uner-
metrische Verbreiterung der »reflexogenen Zone« lässt keinen schöpflichen Klonus. Bei fortbestehendem Stimulus sistiert
diagnostischen Schluss zu. Um eine Reflexsteigerung zu beur- der erschöpfliche Klonus nach wenigen, in der Amplitude ge-
teilen, vergleicht man die Reflexe der beiden Körperseiten mit- ringer werdenden Schlägen, während der unerschöpfliche
einander, die Reflexe der Beine mit denen der Arme und alle Klonus über längere Zeit bestehen bleibt. Ein erschöpflicher
1.5 · Reflexe
33 1
Klonus ist nur pathologisch verwertbar, wenn er seitendiffe-
rent ist.

1.5.2 Untersuchung der Eigenreflexe

Armeigenreflexe
4 Bizepssehnenreflex (BSR): Der Untersucher schlägt nicht
direkt auf die Bizepssehne, sondern auf seinen darauf liegen-
den Zeigefinger. Dies begünstigt die Auslösbarkeit des Reflexes
und gestattet, den Reizerfolg auch zu tasten. Der Reflexbogen
verläuft afferent und efferent über den N. musculocutaneus
und wird im Wesentlichen auf Höhe des Segments C6 (C5)
verschaltet (. Abb. 1.27).
4 Radiusperiostreflex (RPR; Brachioradialisreflex): Der
Schlag wird auf das distale Drittel des Radius gegeben. Wenn
Unterarm und Hand sich in einer Mittelstellung zwischen Pro-
und Supination befinden, kann man die Kontraktion des
M. biceps verhindern und nur die Antwort im M. brachioradi-
alis beobachten. Dies ist u.a. für die Lokaldiagnose bei Radia-
lislähmung nützlich. Der Reflex wird über den N. radialis
vermittelt und im Wesentlichen im Segment C6 verschaltet
(. Abb. 1.28a).
4 Trizepssehnenreflex (TSR): Der Schlag soll dicht über dem
Olekranon auf die Sehne, nicht höher auf den Muskelbauch,
. Abb. 1.27. Auslösung des BSR. Einzelheiten 7 Text treffen. Einige vorausgehende passive Beuge- und Streckbewe-
gungen lockern den Muskel. Afferenz und Efferenz liegen im
Radialis, verschaltet wird der TSR überwiegend im Segment C7
(. Abb. 1.29).
4 Pronatorreflex (PrR): Bei gebeugtem Ellenbogen hält der
Patient den Unterarm locker in Mittelstellung zwischen Pro-

a b
. Abb. 1.28. a Auslösung des Radiusperiostreflexes (Brachioradialisreflexes) und b Auslösung des Pronatorreflexes. Einzelheiten 7 Text
34 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

. Abb. 1.29. Auslösung des Trizepssehnenreflexes. Einzelheiten . Abb. 1.30. Auslösung des Patellarsehnenreflexes. Einzelheiten
7 Text 7 Text

und Supination. Der Hammer führt waagerecht von innen chers, der den Ansatz des M. rectus abdominis unter dem Rip-
nach außen einen leichten Schlag gegen den Processus stylo- penbogen vorspannt, ausgelöst.
ideus radii. Die Reflexantwort ist eine kurze Pronationsbewe-
gung (. Abb. 1.28b). Der Reflex läuft über den N. medianus Beineigenreflexe
und ist bei proximaler Schädigung des Nerven oder der Wur- 4 Patellarsehnenreflex (PSR): Der Reflex wird im Liegen bei
zeln C6 oder C7 erloschen. Verschaltet wird der Reflex über- leicht gebeugtem Knie oder im Sitzen bei frei hängendem Un-
wiegend im Segment C7. Da der Patient in der beschriebenen terschenkel durch einen Schlag auf die Patellarsehne ausgelöst
Mittelstellung kaum verspannen kann, eignet sich der PrR be- (. Abb. 1.30). Bei lebhaften Reflexen kann man den Schlag auch
sonders gut zum Seitenvergleich der Reflexstärke. Bei sehr auf den Zeigefinger geben, den man auf den oberen Patellarand
lebhafter Reflextätigkeit tritt nach Auslösung des RPR und des legt. Der Reizerfolg ist eine Kontraktion des M. quadriceps femo-
PrR eine kurze Beugebewegung der Finger (Fingerbeugere- ris mit oder ohne Bewegungseffekt. Beim liegenden Patienten ist
flex) und manchmal auch der Hand ein. Dies ist nur bei ein- es zweckmäßig, das Bein in der Kniekehle durch den freien Arm
deutiger Asymmetrie pathologisch. des Untersuchers leicht anzuheben. Ist der Reflex sehr schwach
4 Fingerflexorenreflex: Der Untersucher führt mit seinen oder scheint er zu fehlen, wiederholt man die Prüfung bei Mitin-
Fingern 2–5 von volar eine rasche, schnellende Bewegung ge- nervation durch das Jendrassik-Manöver. Der PSR wird über den
gen die Kuppen der leicht gebeugten Finger 2–5 des Patienten N. femoralis vermittelt und im Wesentlichen im Segment L4 ver-
aus, die sich daraufhin reflektorisch wieder beugen. Hierbei schaltet. Der Patellarklonus wird ausgelöst, indem die Patella
wird gelegentlich das Trömmer-Zeichen ausgelöst. Dabei brei- von oben mit den ersten beiden Fingern gefasst und brüsk nach
tet sich der Reflex in die Daumenbeuger aus. Auch dies ist nur distal geschoben wird. Solange der Klonus andauert, übt man
bei ausgeprägter Asymmetrie pathologisch. den Druck weiter aus.
4 Knipsreflex: Bei gleicher Handstellung des Patienten legt 4 Bei leicht gebeugtem Knie lässt sich oft durch Schlag
der Untersucher seine Fingerkuppen 2 und 3 von volar gegen auf die Sehne des M. biceps femoris am lateralen Knie
die Fingerkuppen 3 und 4 des Patienten und gleitet in einer ein Beugereflex im Kniegelenk auslösen. Der Reflex wird
kurzen, schnellenden Bewegung mit der Daumenkuppe von über den N. ischiadicus vermittelt und im Segment L5 ver-
proximal nach distal über einen der beiden Fingernägel. Der schaltet.
Reizerfolg ist in beiden Fällen eine kurze Beugebewegung aller 4 Adduktorenreflex: Er wird durch seitlichen Schlag knapp
Finger einschließlich des Daumens. oberhalb der Innenseite des Kniegelenks auf die Sehnen der
Adduktorengruppe ausgelöst. Die wichtige gekreuzte Re-
Entgegen einer weit verbreiteten Meinung sind Knipsreflex flexantwort (beidseitige Anspannung des Adduktoren nach
und Trömmer-Zeichen keine pathologischen Reflexe. Sie sind einseitiger Reflexauslösung) zeigt eine »Pyramidenbahnschä-
Eigenreflexe der Fingerbeuger und zeigen nicht mehr an als digung« an. Der Reflex läuft über den N. obturatorius und wird
eine lebhafte Reflexerregbarkeit, die durchaus normal sein überwiegend in L4/L5 verschaltet.
kann. Pathologisch verwertbar sind sie, wie alle Eigenreflexe, 4 Der Achillessehnenreflex (ASR) wird am liegenden Pa-
nur bei eindeutigen Seitendifferenzen. tienten geprüft. Man sollte dabei nicht das gestreckte Bein am
Fuß in die Höhe heben, weil man sonst leicht den Fuß festhält
Untersuchung der Rumpfreflexe und die Reflexzuckung unterbindet. Besser legt man das zu
Die meisten Reflexe, die am Rumpf ausgelöst werden können, untersuchende Bein schräg über den anderen Unterschenkel
sind Fremdreflexe. Lediglich der Bauchdeckenreflex hat als des Patienten (. Abb. 1.31). Man kann den Reflex auch beim
Eigenreflex eine gewisse klinische Bedeutung. Er wird durch entspannt knienden Patienten auslösen, dann darf der Fuß
Schlag des Reflexhammers auf den Zeigefinger des Untersu- aber nicht aufliegen. Fehlt der ASR, ist oft die Achillessehne
1.5 · Reflexe
35 1

. Abb. 1.31. Auslösung des Achillessehnenreflexes. Einzelheiten . Abb. 1.32. Auslösung des Bauchhautreflexes mit einem Watte-
7 Text stäbchen. Der Reflex kann von lateral oder von der Mitte ausgelöst
werden. Er wird stets in drei Etagen ausgelöst

weicher, da sie geringer vorgespannt ist. Der Reflex läuft über 4 Das Wartenberg-Zeichen ist kein Reflex, sondern eine
den N. tibialis und das Segment S1 (Gedächtnishilfe: Achil- pathologische Mitbewegung: Wenn man mit den Fingern 2–5
leS1). Der Fußklonus wird ausgelöst, indem der Fuß, am bes- an den gleichnamigen Fingern des Patienten ein leichtes »Fin-
ten bei leicht gebeugtem Knie, von plantar her ruckartig in gerhakeln« ausführt, beugt und adduziert sich bei Läsion der
analoger Weise nach dorsal bewegt wird. Ein unerschöpflicher zentralen absteigenden motorischen Bahnen auch der Dau-
Klonus ist in aller Regel pathologisch. men. Das Zeichen ist inkonstant und nicht zuverlässig. Es ist
4 Tibialis-posterior-Reflex: Dieser Reflex ist nicht bei allen oft auch beim Gesunden doppelseitig positiv.
Menschen auslösbar. Wenn er ausgelöst werden kann, gibt er
eine gute Information über die Funktion des N. peroneus pro- Rumpf und Becken
fundus und des Segments L5. Er wird durch einen Schlag auf 4 Am Rumpf prüfen wir die Bauchhautreflexe (BHR) auf
die Sehne des Tibialis posterior hinter dem Malleolus medialis beiden Seiten in drei Etagen, die etwa den Segmenten Th9,
bei leicht proniertem und außenrotiertem Fußgelenk ausge- Th10 und Th11 entsprechen. Sie werden ausgelöst, indem man
löst. mit einem Holzstäbchen rasch und energisch von der lateralen
Bauchwand bis zur Mittellinie fährt. Der Reizerfolg ist eine
Kontraktion der Bauchmuskeln, die in dem betreffenden Seg-
1.5.3 Untersuchung von Fremdreflexen ment am stärksten ist, oft aber die ganze Bauchwand ergreift
und den Nabel zur Seite zieht (. Abb. 1.32). Bei schlaffen oder
Obere Extremität fettreichen Bauchdecken und in der Nähe großer Bauchnarben
Diagnostisch zuverlässige Fremdreflexe an der oberen Extre- sind die BHR nur schwach oder gar nicht auszulösen, ohne
mität existieren nicht. dass dies pathologische Bedeutung haben muss.
4 Mayer-Grundgelenkreflex: Druck auf die Grundphalanx 4 Fehlen der BHR bei straffen Bauchdecken zeigt meist eine
des 5. und 4. Fingers bis zur maximalen Beugung löst eine to- Funktionsstörung der absteigenden motorischen Bahnen an.
nische Adduktion des Daumens aus. Der Reflex ist inkonstant, Asymmetrische Erschöpfbarkeit der BHR bei rasch wieder-
deshalb darf nur ein einseitiges Fehlen als Zeichen einer Pyra- holter Auslösung ist auf eine solche Funktionsstörung ver-
midenbahnschädigung verwertet werden. dächtig, beweist sie aber nur dann, wenn sie sich einseitig

Facharzt
Varianten des Babinskireflexes
Es gibt eine Reihe von Varianten in der Auslösung der toni- Den Oppenheim-Reflex löst man durch festes Streichen über
schen Dorsalbewegung der ersten Zehe. Man muss sie ken- die Tibiakante von proximal nach distal aus.
nen und routinemäßig anwenden, da es viele Fälle gibt, bei Der Gordon-Reflex wird durch festes Kneten der Waden-
denen die pathologische Hyperextension der Großzehe nicht muskulatur ausgelöst.
auf die klassische Weise nach Babinski, sondern nur durch Das Strümpell-Zeichen ist kein Reflex, sondern eine
eine dieser Varianten zu erhalten ist. Der Grund dafür ist pathologische Mitbewegung. Der Untersucher übt einen
noch unbekannt. kräftigen Druck auf das Knie aus, während der Patient ver-
Nützlich bei empfindlichen Patienten ist die Auslösung sucht, das Bein im Knie zu beugen. Dabei kommt statt der
des Reflexes nach Chaddock durch Bestreichen des äußeren physiologischen Flexion zur Dorsalbewegung der Großzehe
Fußrückens. wie bei den Reflexen der Babinski-Gruppe.
36 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

findet und gleichseitig die Eigenreflexe im Vergleich zur Ge- rischen Ausstattung. Sie lassen sich beim Neugeborenen und
1 genseite gesteigert sind. Fehlende oder sehr rasch erschöpf- Säugling regelmäßig in reiner Form nachweisen. Mit der Rei-
liche BHR sind ein häufiges Symptom bei multipler Sklerose, fung des Zentralnervensystems werden sie in komplexere re-
jedoch darf man die Diagnose nicht allein auf diese Befunde flektorische und Willkürbewegungen eingegliedert. Beim Ab-
gründen. Die Bauchhautreflexe haben auch Bedeutung für die bau der Leistungen des Gehirns durch Krankheitsprozesse der
Höhendiagnose von Rückenmarksläsionen. verschiedensten Art können diese Bewegungen oder Radikale
4 Cremasterreflex: Die Prüfung der Cremasterreflexe beim davon als motorische Schablonen wieder freigesetzt werden. Je
Mann erfolgt durch Bestreichen der Haut proximal an der In- nach dem Schweregrad des Abbaus, d.h. nach der Senkung des
nenseite des Oberschenkels und führt zur Kontraktion des zerebralen Organisationsniveaus, treten sie reflektorisch oder
M. cremaster, der aus dem M. transversus abdominis abge- automatisch auf.
zweigt ist. Segmental verläuft der Reflex über L1–L2, die Effe- Die reflektorischen Formen sind unspezifisch auslösbar,
renz geht über den N. genitalis aus dem N. genitofemoralis, der laufen formstarr in stets gleicher Weise ab und sind nicht er-
mit dem Samenstrang durch den Leistenkanal zieht. müdbar. In schweren Fällen kann der Kranke sie willentlich
4 Der Analreflex (Segment S3–S5) wird am seitwärts liegen- nicht unterdrücken.
den Patienten untersucht, der die Beine in Hüfte und Knie ge- Die automatischen Formen bedürfen prinzipiell keiner
beugt hat. Man bestreicht rechts und links die perianale Region afferenten Anregung, wenn ihre Abläufe auch zusätzlich durch
mit dem Holzstiel eines Wattetupfers. Der Reflexerfolg ist eine verschiedenartige Stimuli in Gang gesetzt werden können.
Kontraktion des Schließmuskels. Nur einseitiges Fehlen des
Reflexes ist verwertbar, da er inkonstant ist. Handgreifen
Hand- und Fußgreifreflexe der verschiedensten Art sind beim
Untere Extremität Neugeborenen und Säugling regelmäßig nachzuweisen. Zu-
Pathologische Reflexe als sicheres Zeichen für eine Funkti- sammen mit den Mundgreifreflexen dienen sie der Nahrungs-
onsstörung in zentralen absteigenden motorischen Bahnen aufnahme und dem Festhalten an der Mutter. Sie sind unspe-
sind vor allem die Reflexe der Babinski-Gruppe. zifisch auslösbar.
Babinski-Reflex: Beim Gesunden löst das Bestreichen des
äußeren Randes der Fußsohle eine tonische Plantarbewegung 3Symptome. Streckt man die gebeugten Finger des Pati-
der Zehen aus. Bei Funktionsstörung der absteigenden moto- enten ruckartig mit den Fingerspitzen der eigenen Hand, mög-
rischen Bahnen führt derselbe Reiz zu einer tonischen Dorsal- lichst unter gleichzeitiger Ablenkung im Gespräch, kommt es
bewegung der großen Zehe (positiver Babinski). Diese ist oft zu einer reflektorischen Beugebewegung nach Art des Hakelns.
von einer spreizenden Plantarbewegung der übrigen Zehen In analoger Weise kann die ruckartige passive Streckung des
begleitet (»Fächerphänomen«), die aber isoliert keine patholo- gebeugten Arms ein Gegenhalten oder sogar aktive Beugung
gische Bedeutung hat: Entscheidend ist die Dorsalbewegung im Ellenbogen auslösen.
(Hyperextension) der ersten Zehe (. Abb. 1.1). In schweren Fällen ziehen sich die Kranken durch eine
Bei leichter, zentraler motorischer Funktionsstörung fin- kombinierte Bewegung von Hakeln und Beugung des Arms an
det man, gleichsam als Übergang zwischen dem normalen Fuß- der festgehaltenen Hand des Untersuchers aus dem Liegen
sohlenreflex und dem Babinski, eine »stumme Sohle«: Bestrei- zum Sitzen empor. Dies geschieht reflektorisch und nicht als
chen des äußeren Fußrandes bleibt ohne jegliche Reizantwort. intendierte Handlung. Berührungsreize der Handfläche kön-
Die stumme Sohle ist nur dann pathologisch verwertbar, wenn nen eine Schließbewegung der Hand auslösen. Diese ist oft von
auf der Gegenseite ein physiologischer Fußsohlenreflex auslös- einem propriozeptiven Festhalten gefolgt, das dem Bulldog-
bar ist. Reflex (s.u.) analog ist und häufig ebenfalls solche Stärke hat,
Bei der Auslösung dieser pathologischen Reflexe muss dass man den Kranken mit dem Reizobjekt aus seiner Stellung
die Reizung u.U. mehrmals wiederholt (»summiert«) werden. ziehen kann.
Wenn man nur einmal flüchtig über die Fußsohle gestrichen
hat, kann man nicht behaupten, der Babinski sei negativ. Die 3Ursachen. Diese Handgreifreflexe sind ein Zeichen allge-
Reaktion der großen Zehe muss tonisch sein und so lange meiner Hirnschädigung (Hirndruck oder ausgedehnter Ab-
andauern, wie der Reiz ausgeübt wird. Ein flüchtiges Auf bauprozess). Im Gegensatz zu experimentellen Befunden an
und Ab der Zehen bei empfindlichen Patienten ist nicht ver- Primaten findet sich beim Menschen keine positive Korrelati-
wertbar. on speziell zwischen Frontalhirnprozessen und Auslösbarkeit
dieser Reflexe. Sie sind vielmehr bei beliebig lokalisierter Hirn-
schädigung auszulösen, sofern diese einen bestimmten
1.5.4 Instinktbewegungen und reflektorisch Schweregrad erreicht hat. Nach spastischer Hemiplegie erlischt
motorische Schablonen die optisch und taktil auslösbare Greifreaktion, die propriozep-
tive bleibt erhalten.
3Definition. Instinktbewegungen sind angeborene Verhal-
tensweisen, die im Tierreich für Arten, Gattungen oder höhere Orales Greifen (Bewegungen der Nahrungsaufnahme)
systematische Einheiten genauso charakteristisch sind wie Automatische Bewegungen
morphologische Merkmale. Auch beim Menschen gehört eine Bei schlafenden Säuglingen kann man eine automatische Saug-
große Zahl von Instinktbewegungen zur angeborenen moto- bewegung mit Öffnung und Schließung des Mundes beobach-
1.5 · Reflexe
37 1
ten. Ähnliche Automatismen mit einer Frequenz von 2–3/s tre-
ten in Serien, spontan und reflektorisch im Zustand der Dezere-
bration auf. Der stärkste auslösende Reiz ist, je nach dem Typ der
Dezerebrationshaltung, die Streckung der gebeugten oder die
Beugung der gestreckten Arme. Die Serien lassen sich auch
durch sensible Stimuli an der perioralen Hautpartie und auf dem
Thorax auslösen.
Oft kann man am Einsetzen dieser Automatismen die
beginnende Dezerebration erkennen, bevor noch die Extre-
mitäten die typische Haltung (7 Kap. 2) zeigen und sich die
Bewusstseinslage nennenswert verändert. Dies ist ein wich-
tiges Symptom zur Frühdiagnose einer drohenden Ein-
klemmung des Hirnstamms bei raumfordernden Prozessen
aller Art.

Reflektorisches orales Greifen


Bei Neugeborenen und Säuglingen löst die Berührung der
Mundgegend einen oralen Greifreflex aus. Etwa im 4. Monat
tritt auf Bewegung der Lippen eine Art Beißbewegung auf, die
sich beim Herausziehen des Objekts verstärkt. Erst mit der Rei-
fung des zusammenhängenden Sehens erfolgt das Mundgrei-
fen auch auf optische Reize.
. Abb. 1.33. Taktil ausgelöster oraler Greifreflex bei einer 51-jäh-
rigen Patientin mit bilateraler Basalganglienblutung
3Symptomatik. In gleicher Weise lassen sich Mundgreifre-
flexe bei Patienten mit zerebralen Krankheitsprozessen auslö-
sen.
4 Optisch: Annäherung oder Entfernung eines beliebigen 4 Propriozeptiv: Der mit dem Mund erfasste Gegenstand
Gegenstands im Blickfeld des Kranken wird mit einem Öffnen wird beißend zwischen Ober- und Unterkiefer festgehalten. In
des Mundes, bei schweren Krankheitsfällen mit einer schnap- dem Maße, in dem der Untersucher einen Druck auf den Un-
penden Greifbewegung des Mundes beantwortet. terkiefer ausübt oder versucht, das Objekt aus dem Munde
4 Taktil: Berührung der Lippen, der perioralen Region, aber herauszuziehen, verstärkt sich der Kieferschluss (Bulldog-Re-
auch der seitlichen Gesichtshaut löst, je nach der Schwere der flex; . Abb. 1.33). In schweren Fällen kann man den Kranken an
Läsion, ein leichtes Öffnen des Mundes, orales Greifen oder gar dem Reizgegenstand, auf dem er sich festgebissen hat, von der
Ansaugen des Gegenstands aus. Unterlage emporziehen.

Exkurs
Klüver-Bucy-Syndrom Symptome beim Menschen. Eine ähnliche Symptomkombi-
Definition. Primatenjunge und menschliche Säuglinge nation wird auch beim Menschen nach doppelseitiger Zerstö-
durchlaufen ein Entwicklungsstadium, in dem sie beliebige rung medialer Temporallappengebiete beobachtet: Diese kann
Gegenstände in ihrem Blickfeld ergreifen und in den Mund durch ischämische Insulte, hirnatrophische Prozesse (z.B. Pick-
stecken. Klüver und Bucy haben gezeigt, dass bei Makaken Krankheit) und nach überstandener Herpes-simplex-Enzepha-
doppelseitige Abtragung des medialen Temporallappens zu litis eintreten.
einem Syndrom führt, das durch folgende Symptome ge- Das führende Symptom ist eine exzessive orale Tendenz,
kennzeichnet ist: die sich darin äußert, dass die Kranken wahllos beliebige, auch
4 Unfähigkeit, die Bedeutung von belebten und unbe- unessbare oder gefährliche Gegenstände mit der Hand ergrei-
lebten Objekten aufgrund optischer Kriterien zu erkennen; fen und in den Mund stecken. Diese Bewegungsfolgen können
4 die Tiere stecken alle möglichen Gegenstände, die ihnen unermüdbar und so dranghaft ablaufen, dass die Kranken
erreichbar sind, in den Mund. Unmittelbar nach der Operati- fixiert werden müssen.
on fressen die Affen, die natürlicherweise Pflanzenfresser Neben diesen reflektorischen Essbewegungen bestehen
sind, alle Arten von Fleisch und Fisch; eine erhebliche affektive Indifferenz und eine Antriebsminde-
4 starke Ablenkbarkeit durch jeden neuen optischen Reiz; rung. Manche Patienten sind in ihrem sexuellen Verhalten stark
4 Verminderung der affektiven Reaktionen, so dass sich enthemmt (wahllose Partnersuche, öffentliche Masturbation).
die sonst sehr schwierigen Tiere völlig zahm verhalten; Ein sehr wichtiges Symptom ist die Unfähigkeit, neue
4 einige Wochen nach dem Eingriff kommt es zu einer Gedächtnisinhalte so aufzunehmen und zu verarbeiten (Über-
deutlichen Steigerung der sexuellen Aktivität. führung vom Arbeits- ins Langzeitgedächtnis), dass sie bei
Bedarf abgerufen werden können. Sie ist mit rascher Ablenk-
barkeit durch jeden neuen Außenreiz kombiniert.
38 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Diese Reaktionen sind prinzipiell vom Aufforderungscharak-


. Tabelle 1.8. Kraftgrade
1 ter des Objekts unabhängig. Sie erfolgen mit der Zwangsläufig-
keit eines Reflexes auch dann, wenn das Reizobjekt ein gefähr- Grad Kraft
licher Gegenstand ist, etwa eine Messerklinge. Dies gilt auch 0 Keinerlei Muskelaktivität
für die oben besprochenen Handgreifreflexe. 1 Sichtbare Muskelkontraktion ohne Bewegungseffekt
2 Bewegungseffekt unter Ausschaltung der Schwerkraft
3Ursachen. Das orale Greifen ist fast immer dann auslös- 3 Bewegungen auch gegen die Schwerkraft möglich
bar, wenn auch Handgreifreflexe zu erhalten sind. Es zeigt eine 4 Bewegungen gegen mäßigen Widerstand möglich
5 Normale Muskelkraft
schwere Allgemeinschädigung des Gehirns an.
Der Palmomentalreflex darf nicht mit oralen Greifreflexen
verwechselt werden. Der Stimulus besteht in einem Bestreichen
des Daumenballens von proximal nach distal, am besten mit Halteversuche
einer Nadelspitze. Der Reflexerfolg ist eine Kontraktion des ip- 4 Beim Armhalteversuch hält der Patient bei geschlossenen
silateralen M. depressor angulis oris. Erscheinungsbildlich so- Augen beide Arme gestreckt in Supinationsstellung vor sich
wie ontogenetisch handelt es sich nicht um einen Greifreflex, hin. Bei zentraler Parese wird der betroffene Arm langsam pro-
sondern um einen Teil des generalisierten Beuge- und Schutzre- niert, oft auch gleichzeitig im Ellenbogengelenk gebeugt (»ver-
flexes. Lokalisatorische Bedeutung hat der Palmomentalreflex kürzt«) und sinkt etwas ab.
nicht, er zeigt lediglich eine organische Hirnschädigung von 4 Beim Beinhalteversuch hält der Patient in Rückenlage die
fortgeschrittenem Schweregrad an. im Hüft- und Kniegelenk rechtwinklig gebeugten Beine hoch
(Mingazzini-Stellung). Einfacher ist die Untersuchung in Bauch-
lage. Dabei werden die Unterschenkel durch Beugung im Knie
1.6 Motorik und Lähmungen im stumpfen Winkel, also nicht bis zur Senkrechten emporgeho-
ben (Barré-Stellung). Leichtere Grade einseitiger Lähmung sind
Wir unterscheiden periphere und zentrale Lähmungen. durch Schwanken und vorzeitiges Absinken zu erkennen.

Untersuchung Funktionsprüfung einzelner Kennmuskeln. Bei Verdacht auf


Für die Untersuchung auf das Vorliegen einer peripheren oder periphere Parese werden alle Funktionen der Muskeln, die von
zentralen Lähmung werden nacheinander Trophik, Tonus, Re- dem (oder den) betroffenen Nerven oder der Wurzel versorgt
flexe und Funktion der Extremitätenmuskulatur, die grobe werden, isoliert geprüft.
Kraft und die Feinbeweglichkeit geprüft. Man achtet zunächst
auf Untersuchung rascher Folgebewegungen. Der Patient soll
4 abnorme Haltung und Lage der Gliedmaßen, die Finger beider Hände rasch wie zum Klavierspielen oder
4 Vernachlässigung einer Seite bei willkürlichen, unwillkür- Schreibmaschineschreiben bewegen, einen Finger nach dem
lichen und Ausdrucksbewegungen und anderen auf den Daumen setzen und bei leicht emporgehaltener
4 unwillkürliche Bewegungen (extrapyramidale Hyperkine- Hand alternierende Drehbewegungen ausführen, so als ob er
sen, Bewegungsunruhe der Muskulatur). eine elektrische Birne einschrauben wollte. Sehr nützlich ist auch
die Aufgabe, die vorgehaltenen Hände alternierend und entge-
Bei der Inspektion der Muskeltrophik sind oft schon umschrie- gengesetzt zu pronieren und zu supinieren oder so in die Hände
bene Atrophien sichtbar. In leichter Form kann man sie durch zu klatschen, dass abwechselnd die rechte oder linke Hand die
Palpieren des ruhenden Muskels feststellen. Muskelatrophien obere ist.
sind typisch für periphere Nervenschädigung. Sie kommen Im Sitzen lässt man den Patienten rasch mit beiden Beinen
aber auch bei Muskeldystrophie, Kachexie, Inaktivität und in pendeln und achtet darauf, ob die Bewegungen flüssig und
geringem Ausmaß bei der Erschlaffung des Gewebes im Alter taktmäßig ausgeführt werden. An den Füßen prüft man das
vor. Zur Abgrenzung dienen vor allem das Auftreten von fas- Zehenspiel und lässt, nach Möglichkeit bei frei getragenem
zikulären Zuckungen, der Ausfall der entsprechenen Eigenre- Bein, den Fuß kreiseln. Auch prüft man alternierende Tipp-
flexe und die elektromyographische Untersuchung. Kick-Bewegungen und das »Schreiben« von Zahlen mit den
Der Muskeltonus wird als muskulärer Widerstand gegen Füßen. Die Einschränkung der schnellen Folgebewegungen
passive Beuge- und Streckbewegungen der Extremitäten ge- wird als Dysdiadochokinese bezeichnet. Bei zentraler Parese
prüft. Der Patient muss dabei soweit wie möglich entspannen. treten statt der versuchten differenzierten Bewegungen Massen-
Bei dieser Gelegenheit überzeugt man sich auch von der freien innervationen in weiter proximalen Muskelgruppen oder im
Beweglichkeit der Gelenke und achtet auf artikuläre Bewe- ganzen Arm oder Bein auf.
gungshemmungen und Schmerzäußerungen.
Die grobe Kraft wird systematisch für die wichtigsten Be-
wegungen der Extremitäten (z.B. Heben und Senken, Beugen 1.6.1 Periphere Lähmung
und Strecken, Händedruck, Fingerhakeln) und des Rumpfes
sowie einzelner Muskelgruppen untersucht. Zur Quantifizie- Anatomie und Physiologie
rung dabei gefundener Paresen unterscheidet man verschie- Die periphere oder schlaffe Lähmung beruht auf einer Läsion
dene Kraftgrade (. Tabelle 1.8). im peripheren motorischen Neuron oder im Muskel selbst.
1.6 · Motorik und Lähmungen
39 1
Exkurs
Psychogene Lähmungen
Zentrale oder periphere Lähmungen zeigen sich nicht nur 4 er führt, oft recht demonstrativ, eine Fehlinnervation mit
durch Minderung der groben Kraft, sondern auch durch kräftiger Anspannung anderer Muskelgruppen aus oder
Atrophien, Tonusdifferenzen und Reflexstörungen. 4 er innerviert gleichzeitig Agonisten und Antagonisten,
Bleibt die geforderte Innervation aus, ohne dass sich diese wobei die betroffenen Gelenke funktionell versteifen;
begleitenden Symptome finden, ist die Ursache fast immer 4 er hebt den Arm gegen die Schwerkraft mehrere Zentime-
eine psychogene Minderinnervation. Diese ist an folgen- ter hoch, zeigt dabei mimisch maximale Anstrengung und
den Kriterien zu erkennen: lässt ihn dann auf die Unterlage fallen.
4 Der Patient macht keinen Versuch, die verlangte Bewe- Man muss jedoch berücksichtigen, dass eine leichte orga-
gung auszuführen, oder nische Lähmung psychogen ausgeweitet sein kann.

Exkurs
Motorische Einheit.
Funktionell wird das periphere motorische Neuron mit den (2–10) Muskelfasern, die mit hoher Frequenz (ca. 100/s) ent-
angeschlossenen Muskelfasern als motorische Einheit be- laden, am besonders kräftigen M. gastrocnemius sind es etwa
zeichnet. Die Größe dieser Einheiten variiert erheblich. Präzi- 1800 Fasern mit sehr langsamer (ca. 5–30/s) Entladungsfre-
se Steuerung von Bewegungen wird durch kleine, hochfre- quenz. Kleine, hochfrequent entladende motorische Einheiten
quent feuernde, motorische Einheiten erreicht, Kraft und sind besonders empfindlich gegen Störungen der neuromus-
Ausdauer durch große und langsam entladende. An den kulären Überleitung. Deshalb werden die Augenmuskeln bei
feingesteuerten Augenmuskeln gehören dazu nur wenige der Myasthenie früher als andere Muskeln gelähmt.

Das periphere motorische Neuron hat seine Nervenzelle im fort und die einer Denervierung der Muskulatur etwa nach
Vorderhorn des Rückenmarks (α-Motoneuron). Der Neurit 2 Wochen ein.
verläuft über Vorderwurzel, Spinalnerv, Plexus und peripheren
Nerv zum zugehörigen Muskel, den er über die motorische Lokalisation der peripheren Lähmung
Endplatte innerviert. Aus der Verteilung der Paresen (und dem Nachweis oder dem
Fehlen von begleitenden sensiblen Symptomen) lässt sich die
Symptome der peripheren Lähmung Lokalisation der Läsion im peripheren Nervensystem ableiten.
Unterbrechung des peripheren motorischen Neurons an ir-
gendeiner Stelle zwischen der Vorderhornzelle und den End- Motoneuron. Wenn die Lähmung rein motorisch ist und ihre
aufzweigungen der Neuriten, der neuromuskulären Übertra- Verteilung der segmentalen Innervation der Muskeln entspricht,
gung und der Muskeln führt zur schlaffen Lähmung, die ist eine Schädigung der Vorderhornzellen oder der Vorderwur-
durch folgende Kriterien charakterisiert ist: zeln anzunehmen. Im Vorderhorn findet sich eine somatoto-
4 Die grobe Kraft ist vermindert (Parese) oder aufgehoben pische Gliederung: dorsolateral sind die distalen Muskeln der
(Paralyse). Die Verteilung der Lähmungen entspricht dem Extremitäten, ventromedial die proximalen Muskeln repräsen-
Versorgungsmuster peripherer Nerven bzw. Nervenwurzeln. tiert. Die Nervenfasern zu den Flexoren verlassen den inneren
4 Die Muskelfasern werden rasch atrophisch, weil sie durch Anteil, die Nervenfasern zu den Extensoren den äußeren Anteil
die Unterbrechung der motorischen Fasern nicht mehr stimu- des Vorderhorns.
liert werden.
4 Der Muskeltonus ist herabgesetzt (Hypotonie), weil der Plexusschädigungen. Sie führen zu gemischten, motorisch-
efferente Schenkel des tonusregulierenden Reflexbogens un- sensiblen Lähmungen an einer Extremität. Ihre Verteilung
terbrochen ist. entspricht der Anordnung der Faszikel in den Plexus.
4 Die Eigenreflexe sind abgeschwächt bis erloschen. Die Ar-
reflexie entwickelt sich meist frühzeitig, weil die Reflexe über Peripherer Nerv. Sind die motorischen und sensiblen Ausfälle
dickere, rasch leitende Fasern laufen, die besonders vulnerabel auf das Versorgungsgebiet eines Nerven beschränkt, liegt eine
sind. Gelegentlich bleibt die Arreflexie das einzige Symptom umschriebene periphere Nervenläsion vor. Einzelheiten
einer peripheren Lähmung. 7 Kap. 31.
4 Anders als bei zentralen Lähmungen tritt eine Beeinträch-
tigung der Feinmotorik erst bei hochgradigen (Kraftgrade Kombinierte Lähmungen mehrerer Nerven. Diese kommen in
< 3/5) Paresen auf, die Fingergeläufigkeit bleibt lange erhalten. drei Formen vor:
4 Pathologische Reflexe treten nicht auf. 4 Polyneuropathischer Typ: Paresen und Sensibilitätsstörun-
gen gehen über das Versorgungsgebiet eines einzelnen Nerven
Elektromyographisch und elektroneurographisch stellen sich hinaus. Die Verteilung der Symptome zeigt, dass mehrere, meist
die Zeichen einer Funktionsstörung im peripheren Nerven so- benachbarte Nerven der Extremitäten befallen sind. Die Funk-
40 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Exkurs
1 Entwicklung der Pyramidenbahn und Organisation der zentralen Motorik
Phylogenetisch findet sich eine Pyramidenbahn erst bei Projektionen sind vorwiegend einseitig und gekreuzt orga-
Säugetieren und die Funktionsstörung nach Pyramidenbahn- nisiert, während die prämotorisch-retikulospinale Bahn bi-
läsion ist umso schwerer, je höher das Tier in der entwick- lateral ist.
lungsgeschichtlichen Rangordnung steht. Axiale und in geringerem Maße proximale Muskeln emp-
Ontogenetisch ist die Pyramidenbahn bei der Geburt fangen also steuernde Impulse durch eine direkte kortikospi-
noch nicht reif. Die Reifung ist erst mit dem 2. Lebensjahr nale und eine indirekte prämotorische retikulospinale Bahn.
abgeschlossen. Ein Vergleich der undifferenzierten Massen- Erstere hat eine geringe, Letztere eine große ipsilaterale Kom-
bewegungen des Säuglings mit den Leistungen der Feinmo- ponente. Die axialen und proximalen Muskeln werden also
torik beim gesunden Erwachsenen gibt eine erste Vorstel- von beiden Systemen und von beiden Hirnhälften innerviert.
lung von der Bedeutung des Pyramidenbahnsystems. Dagegen empfangen die distalen Extremitätenmuskeln ihre
Die Organisation der motorischen Efferenzen zum Afferenz nur von den kortikospinalen Projektionen, die im
Hirnstamm und Rückenmark ist in . Abb. 1.34 schematisch primären motorischen Kortex der Gegenseite entspringen.
vereinfacht dargestellt. Die Efferenzen zu den Basalganglien Diese Organisation macht es verständlich, warum sich die
sind weggelassen. axialen und proximalen Muskeln nach Hemisphärenschädi-
Das kortikospinale pyramidale System projiziert bevor- gung leichter erholen, während sie nach Hirnstammschädi-
zugt auf die distale, das prämotorisch-retikulospinale System gung lange paretisch bleiben.
auf axiale und auf proximale Muskeln. Die kortikospinalen

tionsstörungen müssen nicht alle Muskeln oder Hautareale Kerne des Thalamus, den Nucl. ruber, Brückenkerne, die For-
betreffen, die von den erkrankten Nerven versorgt werden. matio reticularis des Hirnstamms, die sensiblen Hinterstrang-
Meist sind die Ausfälle annähernd symmetrisch, distal oder kerne in der Medulla oblongata sowie die Kerne des N. trige-
proximal betont. minus. Die efferenten Projektionen des Motorkortex bestehen
4 Polyneuroradikulitischer Typ: Die periphere Lähmung der also aus Subsystemen, die unterschiedliche Ursprünge und un-
Motorik und Sensibilität ergreift nicht nur die Nerven der Ex- terschiedliche Projektionsziele haben.
tremitäten, sondern auch die Wurzelnerven am Rumpf, so dass Die sog. Pyramidenbahn schließt die Efferenzen vom pri-
die Symptomatik einer Querschnittslähmung ähnlich wird. mären motorischen (Area 4), vom prämotorischen Kortex
Klinik 7 Kap. 32. (Area 6) von der »supplementär motorischen Area« und von
4 Mononeuritis multiplex: Erkrankung mehrerer einzelner verschiedenen sensiblen und Assoziationsarealen ein, die dor-
Nerven, die nicht benachbart sein müssen. sal von der Zentralfurche liegen (. Abb. 1.34).

Funktionelle Organisation der motorischen Rinde


1.6.2 Zentrale Lähmung Die Repräsentation im Motorkortex und speziell im Gyrus prae-
centralis ist nicht nach den absoluten Größenverhältnissen der
Anatomie einzelnen Körperregionen, sondern nach ihrer funktionellen Be-
Unter dem Oberbegriff »Pyramidenbahn« werden in der Neu- deutung angeordnet: Die Felder für die differenzierten Gesichts-
rologie die Projektionsfasern zusammengefasst, die in kranio- und Handbewegungen haben eine weit größere Ausdehnung als
kaudaler Richtung durch die Pyramiden der Medulla oblonga- etwa das Feld für die Fußbewegungen. Der Rumpf ist nur ganz
ta zum Rückenmark verlaufen (Tr. corticospinalis). Zu diesem gering vertreten. Dabei ist das generelle Organisationsprinzip im
System müssen aber auch die kortikopontinen und kortikobul- Kortex, die multiple Repräsentation, auch in der Area 4 nachzu-
bären Bahnen gerechnet werden, die auf die Kerne der moto- weisen: Zwei oder mehr Cluster von Neuronen können auf
rischen Hirnnerven projizieren. Nur 50% der efferenten Neu- denselben Motoneuronpool im Rückenmark projizieren, und di-
rone aus dem Motorkortex enden im Rückenmark. Viele Axo- ese Cluster müssen nicht benachbart liegen. Umgekehrt kann
ne steuern direkt oder durch Kollateralen supraspinale Struk- derselbe Zellcluster in Area 4 auf mehrere Motoneuronen-Grup-
turen an wie das Corpus striatum, sensible und motorische pen projizieren.

Exkurs
Plastizität im Motorkortex
Die Repräsentation der Bewegungen in der motorischen Hand mit der früheren Geschicklichkeit zu gebrauchen, und
Rinde, wie sie schematisch durch . Abbildung 1.34 darge- ein Kontrollversuch zeigt dann, dass jetzt Handbewegungen
stellt wird, ist nicht so starr wie die Zuordnung der Innervati- durch elektrische Reizung in der Nachbarschaft des abgetra-
on im peripheren Nervensystem. Entfernt man bei Makaken genen Handfelds auszulösen sind. Auch beim Menschen kann
das Handfeld, das man durch elektrische Reizung identifiziert wiederholte elektrische Reizung derselben Rindenstelle zu
hatte, kommt es nur für kurze Zeit zu einer Bewegungsstö- verschiedenartigen Bewegungen führen. Der Bewegungser-
rung. Die Tiere sind bald wieder in der Lage, die gelähmte folg ist zudem von der Position der Gliedmaßen abhängig.
1.6 · Motorik und Lähmungen
41 1
. Abb. 1.34. Schematische Darstellung der
wichtigsten motorischen kortikofugalen Pro-
jektionen. Links ist eine prämotorisch-retikulo-
spinale Bahn eingezeichnet, rechts die kortiko-
spinale (pyramidale) Projektion aus der Area 4
und der supplementär motorischen Area.
(Nach Freund 1984)

Exkurs
Supplementmotorischer Kortex und Aktionsbereitschaft der Motorik
Neben dem primär-motorischen Kortex existiert noch in der Potential ein Korrelat willkürlicher Aktionsbereitschaft (»Bereit-
Tiefe der Fissura interhemispherica, etwas rostral vom pri- schaftspotential«), d.h. von zerebralen Prozessen, die einer
mären motorischen Kortex, das supplementmotorische intendierten Bewegung vorangehen. Die meisten Neurone der
Areal. In ihm werden Handlungsentwürfe und Handlungsbe- Pyramidenbahn verändern ihre Entladungsfrequenz schon vor
reitschaft gesteuert. Zusammen mit dem prämotorischen einer Bewegung. Es gibt auch eine Voreinstellung der Muskel-
Kortex wird die Abfolge von komplexen zusammengesetzten spannung, die einer Willkürkontraktion vorangeht, und bei
Bewegungsprogrammen von hier gesteuert. bedingten Reflexen kann man frühzeitige Reaktionen des
Mit elektrophysiologischen Methoden ist es gelungen, γ-Systems auf den bedingenden Reiz nachweisen. Schließlich
vor Einsetzen einer Willkürbewegung ein langsam anstei- findet man im Elektromyogramm in Muskeln, mit denen eine
gendes, oberflächennegatives Hirnpotential abzuleiten. Es bestimmte Bewegung ausgeführt werden soll, bei Ableitung
tritt bilateral auf, ist frontal stärker als okzipital ausgeprägt mit Nadelelektroden eine sog. Voraktivität. Ihr Ausmaß steht
und hat sein Maximum vor einseitigen Bewegungen über unter experimentellen Bedingungen in Beziehung zu der
der kontralateralen Präzentralregion. Man sieht in diesem erwarteten Belastung des Muskels.

Das Organisationsprinzip ist also nicht die Innervation ein- hirn und die Basalganglien, sowie von externen Rückmel-
zelner Muskeln, sondern die Bewegung als Ganzes. Während die dungen über periphere sensible Rezeptoren (closed loop). Py-
kortikospinalen Bahnen auf motorische Vorderhornzellen pro- ramidenbahnneurone können aber auch afferente Impulse auf
jizieren, die die distalen Muskeln der Extremitäten, und hier jeder spinalen oder subkortikalen Relaisstation beeinflussen,
besonders die Beuger, innervieren, projizieren rubro-, vestibulo- wodurch das ZNS möglicherweise die Muster der sensiblen
und retikulospinale Bahnen zu Vorderhornzellen, die für die Rückmeldungen »auswählt«.
Rumpf- und Gürtelmuskeln, also für die proximale Stützmoto-
rik zuständig sind. Nach umschriebenen Läsionen in der moto- Symptome zentraler Lähmungen
rischen Rinde kommt es, anders als nach Schädigungen des pe- Die zentrale Lähmung ist durch folgende Symptome charak-
ripheren motorischen Neurons, nicht zur Lähmung einzelner terisiert und von der peripheren abgegrenzt:
Muskeln, sondern zu einer Beeinträchtigung der Steuerung fei- 4 Ausgeprägte Beeinträchtigung oder Verlust der Feinmoto-
ner Bewegungen. rik und Auftreten von Massenbewegungen bis in proximale
Gliedmaßenabschnitte beim Versuch, differenzierte Bewe-
Steuerung von Bewegungen gungen auszuführen. Diese Bewegungsstörung ist das Kardi-
Die Rolle des motorischen Kortex in der Organisation von Be- nalsymptom der zentralen Lähmung.
wegungen ist in . Abbildung 1.35 zu erkennen. In dieser Dar- 4 Minderung der groben Kraft: Das Verteilungsmuster der
stellung wird die enge Verknüpfung von Sensorik und Motorik Parese ist mindestens regional, maximal halb- bzw. beidseitig.
ebenso deutlich wie der Einfluss des Kleinhirns und der Basal- Bei regional umschriebenen zentralen Paresen sind antagonis-
ganglien, die den Motorkortex über den Thalamus ansteuern. tische Muskelfunktionen annähernd gleichmäßig betroffen.
Die Generierung von willkürlichen Bewegungen erfolgt unter Die Schwäche kann verhältnismäßig gering oder durch Spas-
dem Einfluss von zentral generierten (open loop) Programmen, tik partiell kompensiert sein. Nicht wenige Patienten können
von internen Rückmeldungen, insbesondere über das Klein- auf einem spastisch-gelähmten Bein gehen und mit einem
42 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

. Abb. 1.35. Motorisches System im Überblick. Die wichtigsten schnitte des motorischen Systems, die rechte gibt die Rolle bei der Ini-
Strukturen und ihre Hauptverbindungen sind in der linken Säule an- tiierung und Durchführung einer Bewegung wieder. Auf die parallele
geordnet. Der Einfachheit halber wurden alle sensorischen Zuflüsse Position der Stammganglien und des Kleinhirns und die Einordnung
ganz links zusammengefasst. Die mittlere Säule betont die bei isolier- des Motorkortex am Übergang zwischen Programm und Ausführung
ter Betrachtungsweise herausragenden Leistungen der einzelnen Ab- wird hingewiesen. (Nach Schmidt u. Thews 1980)

spastischen Arm eine schwere Last tragen. Die Tonuserhöhung retikulospinalen Projektionen erklären sich zwei unterschied-
erhält den betroffenen Gliedmaßen ihre Stütz- und Haltefunk- liche Lähmungstypen bei zentraler Parese:
tion. 4 Während Hemisphärenläsionen zu distal betonten Paresen
4 Spastische Tonuserhöhung: Diese betrifft an den Armen mit Beeinträchtigung der Fein- und Zielmotorik führen,
mehr die Beuger, an den Beinen meist die Strecker. Die Tonus- 4 überwiegen bei umschriebenen Hirnstammläsionen Funk-
erhöhung entwickelt sich in den meisten Fällen erst Tage bis tionsstörungen der parapyramidalen Bahnen, die zu proxima-
Wochen nach der Schädigung. len Paresen mit Beeinträchtigung der Haltungsfunktion und
4 Keine neurogene Muskelatrophie, da das periphere Neu- oft nur geringer Störung der distalen Feinmotorik führen.
ron intakt und der axonale Transport muskeltrophischer Subs-
tanzen erhalten bleibt. Der Ort der Läsion im zentralen Nervensystem, die einer zen-
4 Die Eigenreflexe sind, u.U. bis zum Klonus, gesteigert, die tralen Bewegungsstörung zugrunde liegt, ergibt sich aus der
physiologischen Fremdreflexe abgeschwächt, und es sind pa- Verteilung der Lähmungen an den Extremitäten. Zur groben
thologische Fremdreflexe auszulösen. topographischen Orientierung lassen sich verschiedene Läh-
4 Die elektrische Erregbarkeit bleibt qualitativ unverändert, mungstypen unterscheiden, die verschiedenen Ebenen zwi-
da das periphere Neuron intakt ist. schen der Großhirnrinde und dem Rückenmark entsprechen
(. Abb. 1.36).
> Kriterien der zentralen Lähmung: Beeinträchtigung
der Feinmotorik, Massenbewegungen, keine Atro- Kortikale Monoparese. Entsprechend der weit auseinanderge-
phie, spastische Tonuserhöhung, Reflexsteigerung, zogenen Anordnung der somatotopischen Repräsentation im
auch Kloni, pathologische Reflexe. Gyrus praecentralis (. Abb. 1.45a) führen kortikale Läsionen
zu Monoparesen, d.h. zu zentralen Bewegungsstörungen nur
Topographische Lokalisation und Phänomenologie eines Körperglieds oder sogar nur seines distalen Abschnitts.
der zentralen Lähmungen Je nach der Lokalisation des Herds mehr zur Mantelkante oder
Aus den oben beschriebenen anatomischen Unterschieden mehr zum Operculum hin betrifft die Lähmung das Bein, den
zwischen den kortikospinalen und den rubro-, vestibulo- und Arm bzw. die Hand oder die Gesichts- und Sprechmuskulatur.
1.6 · Motorik und Lähmungen
43 1

. Abb. 1.37. Hauptbestandteile der Capsula interna. Absteigende


Fasern im weißen Feld. Aufsteigende Fasern im grauen Feld der Cap-
sula interna.(Nach Williams u. Warwick)

lamus und Nucl. caudatus auf der einen und vom Putamen und
Pallidum auf der anderen Seite begrenzt wird (. Abb. 1.37). An
dieser Stelle können alle Pyramidenfasern einer Körperhälfte
durch einen kleinen Herd geschädigt werden. Die innere Kap-
sel enthält aber nicht nur die Pyramidenbahn, sondern auch
kortikostriäre, kortikothalamische, kortikorubrale, kortikooli-
. Abb. 1.36. Lokalisatorische Bedeutung unterschiedlicher Ty- väre und kortikoretikuläre Bahnen. Vaskuläre Läsionen in der
pen der zentralen Lähmung. 1 kortikale Monoparese; 2 kapsuläre inneren Kapsel sind sehr häufig, da die Aa. lenticulostriatae
Hemiparese; 3 Dezerebration; 4 Hemiparese und gekreuzte Hirnner- (die »Arterien des Schlaganfalls«) fast im rechten Winkel aus
vensyndrome bei Hirnstammläsion (nur Fazialiskern und -nerv einge- dem zuführenden Mediastamm abgehen und daher ein bevor-
zeichnet); 5 Tetraparese bei hoher Halsmarkläsion; 6 Paraparese bei zugter Sitz von atheromatösen Veränderungen oder von em-
Brustmarkläsion bolischen Verschlüssen sind.
Die Läsion der absteigenden motorischen Bahnen in der
inneren Kapsel führt zum Syndrom der spastischen Hemiple-
Ist der Herd nur auf die Area 4 beschränkt, sind die Paresen gie (Halbseitenlähmung). Dabei haben die Gliedmaßen eine
schlaff. Manchmal wirkt die Lähmung wie eine Radialisläh- charakteristische Haltung, die sich aus der Pathophysiologie
mung (zentrale Fallhand). Es sind aber bei gezielter Untersu- der Spastik leicht ableiten lässt. Der Arm ist adduziert und im
chung immer auch Paresen der Daumen- und Fingerbeugung, Ellenbogen gebeugt. Hand und Unterarm sind proniert, die
-abduktion und -adduktion nachweisbar. Sind auch die davor Finger gebeugt und fest eingeschlagen. Im Bein herrscht
liegenden präzentralen Felder betroffen oder erstreckt sich der Streckspastik vor. Durch Erhöhung des Extensorentonus ent-
Herd mehr in die Tiefe, entwickelt sich nach kurzer Zeit eine steht eine Spitzfußstellung, so dass das Bein gleichsam zu lang
Spastizität. Oft ist auch die an entsprechender Stelle im Gyrus wird. Darauf beruht die Gangstörung nach Art der Zirkum-
postcentralis repräsentierte Sensibilität gestört. duktion: Der Kranke kann das »zu lang gewordene« Bein nicht
mehr gerade, sondern nur noch in einem nach auswärts gerich-
Kapsuläre Hemiparese. Auf ihrem Weg zum Rückenmark teten Bogen nach vorn führen. Im Unterschied dazu wird der
bündeln sich die Pyramidenbahnen in der Corona radiata und Spitzfuß bei Peronäuslähmung (7 Kap. 31) durch verstärktes
verlaufen eng benachbart in der inneren Kapsel, die vom Tha- Anheben des Fußes ausgeglichen. In leichteren Fällen sind le-

Exkurs
Organisation der inneren Kapsel
Die Projektionsbahnen in der inneren Kapsel haben noch Thalamus. Den sensiblen Bahnen sind der Anfang der Seh-
eine gewisse somatotopische Anordnung, entsprechend den strahlung und die zentrale Hörbahn unmittelbar benachbart.
Rindengebieten, aus denen sie stammen (. Abb. 1.37). Im Bei ausgedehnten kapsulären Läsionen ist die motorische
hinteren Abschnitt der Kapsel verlaufen die sensiblen Projek- Hemiplegie von halbseitiger Gefühlsstörung (Hemihypästhe-
tionsbahnen aus dem Lemniscus medialis zentripetal zum sie) und Hemianopsie begleitet.
44 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

diglich die Mitbewegungen im paretischen Arm vermindert, treten jeweils auf der Seite des Herdes Hirnnervenausfälle, oft
1 und das Bein wird nachgezogen. auch Hemiataxie, auf der Gegenseite eine zentrale Hemiparese
auf. Häufiger als diese »reinen« Syndrome sind Kombinati-
Tetraparese und gekreuzte Syndrome bei Hirnstammläsi- onen mit Lähmungen anderer Hirnnerven, halbseitigen sen-
onen. In der Pyramidenbahnkreuzung, im Pedunculus cerebri siblen Störungen und Hemiataxie. Das führende Symptom für
und im Brückenfuß, liegen die Pyramidenbahnen aus beiden die Höhendiagnose ist die Hirnnervenlähmung.
Großhirnhemisphären eng benachbart. Hier ist noch eine so-
> Halbseitige Läsionen im Hirnstamm führen zu ipsila-
matotopische Gliederung nachzuweisen. Die kortikospinalen
teralen Hirnnervenausfällen und kontralateraler zen-
Fasern für die unteren Extremitäten liegen in der Brücke lateral
traler Hemiparese – sog. »gekreuzten« Hirnstammsyn-
ventral.
dromen.
Dieser Bezirk ist über die zirkumferenten Brückengefäße
aus der A. basilaris besonders zu bilateralen ischämischen Tetraparese bei hoher Halsmarkläsion. Herde im oberen Hals-
Durchblutungsstörungen disponiert. Dabei kommt es zu einer mark, über dem Segment C5, können ebenfalls zu einer zen-
zentralen Tetraparese, die gewöhnlich in den Beinen stärker als tralen Lähmung aller vier Extremitäten führen. Sie unterschei-
in den Armen ausgeprägt ist. Die engen topographischen Be- det sich von der Tetraparese bei Hirnstammschädigung durch
ziehungen zu anderen Kerngebieten und Bahnen im Hirnstamm die Begleitsymptome: Bei Halsmarkläsionen findet sich in aller
bringen es mit sich, dass diese Lähmungen meist nicht isoliert Regel eine querschnittsförmige Sensibilitätsstörung und eine
auftreten, sondern von Symptomen der Hirnstammhaube Entleerungsstörung von Blase und Mastdarm (s.u.). Hirnner-
begleitet sind (paramediane Hirnstammarterien): venlähmungen liegen nicht vor, auch ist die Bewusstseinslage
4 Pupillenstörungen, des Patienten bei unkomplizierten Fällen nicht verändert.
4 vertikale (Mittelhirn) oder horizontale (Brücke) Blick-
parese, Paraparese bei Brustmarkläsion. Ist das Rückenmark unter-
4 Augenmuskellähmungen, halb der zervikalen Segmente geschädigt, aus denen der Plexus
4 zentraler Nystagmus mit optokinetischer Störung, brachialis entspringt, kommt es zu einer zentralen Paraparese
4 Wachheitsstörung und, bei Läsion der pontozerebellären beider Beine, die meist von einer querschnittsförmigen Sensi-
Bahnen, bilitätsstörung und oft auch von Blasen- und Mastdarmstörun-
4 Ataxie. gen begleitet ist (über Querschnittslähmungen 7 Kap. 1.13.1).

Bei Läsionen des Brückenfußes (unilaterale paramediane


Ponsläsion oder komplette Ponsläsion) kommen aber auch 1.7 Basalgangliensyndrome
rein motorische Hemi- oder Paraparesen vor.
Betrifft die Läsion den Hirnstamm nur halbseitig, kommt Anatomische Grundlagen
es zu gekreuzten Symptomenkomplexen, von denen die kli- Als Basalganglien bezeichnen wir folgende subkortikale Kern-
nisch wichtigen in Tabelle 5.5 zusammengestellt sind. Dabei gebiete:

Exkurs
Übertragung und Bearbeitung von Signalen
Verschaltung der Basalganglien (. Abb. 23.1). Der wich- gung und Bearbeitung von Signalen aus dem Striatum zu den
tigste Eingang in das System der Basalganglien ist das Corpus beiden Ausgangskernen. Der direkte Weg ist GABAerg, wirkt
striatum. Fast alle Informationen entstammen der Hirnrinde, also hemmend auf die Ausgangskerne. Der indirekte Weg
und zwar in erster Linie motorischen, aber auch sensibel/ verläuft über den Globus pallidus, pars externa (GABA) zum
sensorischen, limbischen und Assoziationsfeldern. Sie haben Nucl. subthalamicus (GABA) und von dort aktivierend (Gluta-
aktivierende Funktion. Hier werden nur die motorischen mat) zu den Ausgangskernen. Störungen im funktionellen
Projektionen besprochen. Nichtmotorische Informationen, Gleichgewicht zwischen diesen beiden Wegen führen zur
die z.B. in affektive, motivationale oder kognitive Prozesse Verminderung oder Verstärkung der tonisch-inhibitorischen
eingeschaltet sind, spielen neben den motorischen eine wich- Aktivität der Ausgangskerne. Die Aktivität der beiden Wege
tige Rolle (s.u., Symptomatik des Parkinson-Syndroms), ihre wird in einer internen Schleife kontrolliert, die vom Corpus
Mechanismen sind aber im Einzelnen noch nicht definiert. striatum zur Substantia nigra, pars compacta (GABA) und von
Die Ausgangsprojektionen entstammen dem Globus dort zurück ins Striatum verläuft (Dopamin). Die komplexe
pallidus, pars interna und der Substantia nigra, pars reticula- interne Verschaltung innerhalb des Systems der Basalganglien
ta. Diese Signale haben eine tonisch inhibitorische Aktivi- ermöglicht es, dass die Ausgangskerne des Systems durch
tät auf den ventrolateralen Thalamus. Der Transmitter ist Verstärkung oder Verminderung der tonischen Inhibition der
GABA. Die Thalamuskerne projizieren mit aktivierender Funk- Thalamuskerne die thalamokortikale Aktivität vermindern
tion zur motorischen und präfrontalen Hirnrinde und be- oder (Hemmung der Hemmung) verstärken und damit die
einflussen so deren absteigende Aktivität. Aktivität in den absteigenden motorischen Projektionen der
Innerhalb des Systems der Basalganglien gibt es einen Hirnrinde modulieren.
direkten und einen indirekten Weg für die parallele Übertra-
1.7 · Basalgangliensyndrome
45 1
4 Nucl. caudatus und Putamen, die durch Faserbahnen der hen, Gestik und Mimik (Hypomimie) und kleinschrittiger
Capsula interna getrennt sind, sich aber in Bau und Funktion schlurfender Gang.
ihrer Nervenzellen gleichen und deshalb als Corpus striatum 4 Rigor ist eine Erhöhung des Muskeltonus. Bei der Unter-
zusammengefasst werden, suchung spürt man einen wächsernen Widerstand gegen pas-
4 Globus pallidus, der sich aus einer Pars interna und einer sive Bewegungen zeigt. Die rigorartige Tonuserhörung lässt
Pars externa mit unterschiedlichen Funktionen zusammen- sich auch durch den Pendeltest nachweisen, wenn der betrof-
setzt und der in der Klinik aus topographischen Gründen mit fene Arm beim alternierend passiven Vor- und Rückwärtsbe-
dem benachbarten Putamen als Linsenkern (Nucl. lentifor- wegen der Schultern geringere Exkursionen zeigt.
mis) zusammengefasst wird, obwohl sich beide Kerne phylo- 4 Bei passiven Bewegungen tritt das sog. Zahnradphäno-
genetisch und in ihrer Funktion sehr unterscheiden, men auf. Die Muskelspannung gibt unter einer passiven Bewe-
4 ferner den Nucl. subthalamicus (Corpus Luysii) des Zwi- gung nicht gleichmäßig, sondern in einer Serie von kleinen
schenhirns und Rucken nach, als ob das Gelenk aus einem groben Zahnrad
4 im Mittelhirn die Substantia nigra, in der die Pars com- bestünde.
pacta und die Pars reticulata unterschiedliche Funktionen 4 Der Tremor tritt als Ruhezittern in der Frequenz von
haben. 4–6/s zunächst meist an den Händen, seltener den Füßen
auf.
Die Basalganglien sind als ein System, das vor allem moto- 4 Die Störung haltungsregulierender Reflexe zeigt sich, wenn
rische Informationen aus der Hirnrinde bearbeitet, in eine der Patient im Gehen plötzlich stehen bleiben will oder wenn
kortikothalamokortikale neuronale Schleife eingeschaltet. man ihm von vorne, hinten oder von der Seite einen leichten
Sie beeinflussen parallel die Aktivität frontaler Kortexareale Stoß versetzt (Pro-, Retro- und Lateropulsion).
(. Abb. 23.1).
Die Klinik des Parkinson-Syndroms ist in Kap. 23.1 bespro-
Phänomenologie chen.
Störungen in der Stammganglienfunktion führen einerseits zu
überschießender Motorik (hyperkinetische Bewegungen) und
andererseits zu hypokinetischen motorischen Syndromen. 1.7.2 Choreatisches Syndrom
Hypokinetische Bewegungsstörungen entstehen vor allem
bei Degeneration der dopaminergen Neurone in der Substantia 3Symptome. Hyperkinesen: Die choreatische Bewegungs-
nigra, pars compacta. Als Folge werden aktivierende Projek- störung (griech. choreia, Tanz) besteht in raschen, flüchtigen,
tionen reduziert und primär hemmende Neurone disinhibiert. nicht synergistisch zusammengefassten Kontraktionen einzel-
Dadurch wird die tonisch-inhibitorische Aktivität dieser Kerne ner Muskeln oder Muskelgruppen mit ausgeprägtem
verstärkt. Bradykinese und Akinese werden durch Verstärkung Bewegungseffekt.
hemmender Signale zum motorischen Kortex erklärt. 4 Die Zuckungen laufen bereits in der Ruhe in ständiger
Hyperkinetische Bewegungsstörungen enstehen durch Wiederholung ab. Sie verstärken sich bei intendierten Bewe-
Veränderungen der Signalübertragung vor allem bei Läsionen gungen und bei affektiver Erregung.
im Corpus striatum oder im Nucl. subthalamicus. Hierdurch 4 Zunächst sind distale Gliedabschnitte stärker als proxima-
wird die hemmende Aktivität der Kerne vermindert. le betroffen. Später ist die Bewegungsunruhe regellos verteilt
und wechselt ihre Lokalisation ständig.
4 Auch in den mimischen Muskeln treten grimassierende
1.7.1 Parkinson-Syndrom Zuckungen auf. Der Muskeltonus ist herabgesetzt. Dies be-
günstigt das schleudernde Ausfahren der Hyperkinesen.
3Symptome. Leitsymptome sind:
4 Bradykinese (Hypokinese) mit Verarmung an Spontan- Die Klinik der choreatischen Syndrome ist in 7 Kap. 23.2 be-
und Mitbewegungen, wie Mitschwingen der Arme beim Ge- sprochen.

Exkurs
Die wichtigsten Formen der Bewegungsunruhe Arzt gehen, sind meist Hypochonder, häufig Ärzte oder Me-
Faszikulieren: kurze, phasische, in der Regel gut sichtbare dizinstudenten. Organisch Nervenkranke und vor allem Laien
Kontraktionen in wechselnden Muskelfaserbündeln. Fasziku- nehmen die muskuläre Unruhe gewöhnlich nicht ernst.
lieren kann bei jeder Krankheit auftreten, die zur Degenera-
tion des peripheren motorischen Neurons führt. Das Fasziku- Myokymie (Muskelwogen): kurze, tetanische Kontraktionen
lieren ist aber nur dann pathologisch verwertbar, wenn sich in wechselnden Gruppen von Muskelfasern eines Muskels.
weiteren krankhaften neurologischen Befunde (Atrophie, Myokymien haben in der Regel keine pathologische Be-
Parese, Reflexabschwächung oder Reflexausfall) oder Dener- deutung (Ausnahme: hemifaziale Myokymie, s. Kap. 31.1.6,
vierungszeichen im EMG finden. Es gibt auch ein harmloses Spasmus hemifacialis).
Faszikulieren ohne diese Begleiterscheinungen. Patienten,
die nur wegen einer Bewegungsunruhe der Muskulatur zum Myoklonien sind in Kap. 1.9 besprochen.
46 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

3Untersuchung. Bei der Untersuchung kann man neben 4 Bei der oromandibulären Dystonie kommt es zu to-
1 den beschriebenen Störungen eine Reihe von weiteren moto- nischen Hyperkinesen von Kiefer, Zunge und mimischer Mus-
rischen Symptomen finden: Das Sprechen ist monoton und kulatur der unteren Gesichtshälfte. Sie sind oft mit Blepharo-
schlecht artikuliert, der Gang ist unsicher, mit gesteigerten spasmus, manchmal auch mit spasmodischer Dysphonie kom-
Mitbewegungen und die Ausdrucksbewegungen sind sehr biniert. Diese komplexe Form wird als Meige-Syndrom
lebhaft. Häufig sind die Patienten nicht in der Lage, die Zunge (7 Kap. 23.4.1) bezeichnet.
mehrere Sekunden herausgestreckt zu lassen, weil sie durch
unwillkürliche Impulse immer wieder in den Mund zurück- Segmentale Dystonie
gezogen wird (Zeichen der »Chamäleonzunge«). Löst man Bei der segmentalen zervikalen Dystonie wird der Kopf in
bei diesen Kranken den Patellarsehnenreflex aus, erschlafft unregelmäßiger Folge anfangs nur einige Male am Tag, später
der M. quadriceps nicht sofort nach der Reflexzuckung und häufiger, langsam zu einer Seite gedreht. Gleichzeitig neigt er
der Unterschenkel verharrt einige Sekunden in gestreckter sich, gewöhnlich zur Gegenseite, während sich die gleichseitige
Stellung und sinkt dann erst träge in die Ausgangsstellung Schulter anhebt. Der Kopf verharrt wenige Sekunden in der
zurück (Gordon-Kniephänomen). Seitwärtsendstellung, dann kehrt er langsam in die gerade Ru-
helage zurück, und die Schulter lockert sich wieder. Die zervi-
kale Dystonie kommt, oft in Kombination,
1.7.3 Ballismus 5 als Antecollis mit Nackenbeugung,
5 als Retrocollis mit Nackenstreckung und
Zu den Hyperkinesen wird auch der Ballismus, eine in proxi- 5 als Laterocollis mit Neigung des Kopfes zu einer Schulter
malen Gliedabschnitten lokalisierte Bewegungsstörung ge- vor.
rechnet (griech. ballein, werfen).
Die unwillkürlichen Bewegungen setzen plötzlich ein, Generalisierte Dystonie
laufen rasch, aber nicht so blitzartig ab wie bei der Chorea und Hier sind die Drehbewegungen auf den Rumpf und die Extre-
sind schleudernd, weit ausfahrend. Die Hyperkinesen sind mitäten ausgebreitet. Das Gesicht verzieht sich in langsamen
vorwiegend im Schulter- und Beckengürtel lokalisiert. Durch Kontraktionswellen zu gequält anmutendem Grimassieren. An
das plötzliche Einschießen motorischer Impulse in größere, Händen und Füßen laufen oft athetotische Hyperkinesen
proximale Muskelgruppen werden die Gliedmaßen vom (s. dort) ab. Die einzelnen Abschnitte des Rumpfes können ge-
Rumpf fort, aber auch an den Kopf und Rumpf herangeschleu- gensinnig zueinander gedreht werden.
dert. Die ballistischen Bewegungen laufen im Wachzustand in
ständig wechselnder Form und Lokalisation ununterbrochen Die Wendebewegung ist durch Gegenspannung der anta-
ab. Im Gesicht tritt häufig ein Grimassieren auf, oft auch pa- gonistischen Muskeln kaum unterdrückbar. Auch von einem
thologisches Lachen und Weinen. Die Hyperkinesen werden Außenstehenden kann der Kopf nicht völlig fixiert werden.
durch Aufmerksamkeitszuwendung, seelische Erregung jeder Dagegen gelingt es vielen Patienten, mit bestimmten Hilfs-
Art, plötzliche Sinnesreize und den Versuch zu intendierten griffen, bei denen sie keine besondere Kraft einsetzen müssen,
Bewegungen gebahnt. die dystonische Hyperkinese abzuschwächen oder zu unter-
binden: Sie legen hierzu die Hand oder auch nur die Finger-
spitzen leicht ans Kinn oder in den Nacken (geste antagonis-
1.7.4 Dystonien tique). Sehr bemerkenswert ist, dass dieser Hilfsgriff auch
wirksam wird, wenn die Hand auf der Seite ans Kinn gelegt
Dystonien sind durch langsame, unwillkürliche Bewegungen, wird, von der sich der Kopf fortwendet. Die Drehbewegung
Tonussteigerung sowie abnorme Gliedmaßen-, Kopf- oder lässt meist auch dann nach, wenn die Kranken sich mit
Rumpfhaltung charakterisiert. Ablauf und Lokalisation dieser dem Rücken im Sitzen an eine Stuhllehne oder im Stehen an
Hyperkinesen sind stereotyp. Sie folgen einander aber nicht eine Wand anlehnen. Dagegen pflegt sie sich zu verstärken,
ständig. Durch Zuwendung der Aufmerksamkeit, affektive Er- wenn die Patienten in einem freien Raum gehen oder stehen.
regung, Bewegungsintentionen, aber auch passive Bewegungen, Eine befriedigende Erklärung dieser Phänomene ist noch
werden sie verstärkt. Im Schlaf und in der Narkose lassen sie nicht möglich.
nach. Die Klinik der Dystonien ist in 7 Kap. 23.4 beschrieben. An der Bewegungsstörung sind vor allem der kontralate-
Wir unterscheiden die generalisierte von der fokalen Dystonie. rale M. sternocleidomastoideus und die ipsilateralen Mm.
splenius capitis und trapezius beteiligt. In diesen Muskeln ent-
Fokale Dystonie wickelt sich bald eine deutliche Hypertrophie.
4 Der Blepharospasmus ist eine fokale Dystonie mit inter-
mittierendem oder anhaltendem Schließen beider Augen. Sie
wird häufig als psychogen verkannt. 1.7.5 Athetose
4 Die laryngeale oder spasmodische Dysphonie tritt bei
Innervation zum Sprechen auf. Sie äußert sich als angestreng- Die athetotische Bewegungsstörung (griech. áthetos, ohne fes-
tes, gepresst oder wie erstickt klingendes Sprechen mit Unter- te Stellung) besteht in unwillkürlichen, langsamen, trägen,
brechung in der Stimmführung (spastische Form) oder Versie- »wurmförmigen« Hyperkinesen vor allem in den distalen Ex-
gen der Phonation (flüsternde Form). tremitätenabschnitten:
1.8 · Tremor
47 1
4 Hände und Finger, Füße und Zehen nehmen dabei in un- gung an Amplitude zu? Wie ist die Tremorfrequenz (langsam,
aufhörlichem Ablauf ständig wechselnde, bizarre Stellungen mittelschnell, schnell) und in welchen Körperregionen (Arm,
ein, die willkürlich nicht nachzuahmen sind. Bei näherer Un- Hand, Kopf) tritt der Tremor besonders deutlich auf?
tersuchung sieht man, dass Agonisten und Antagonisten
gleichzeitig angespannt werden. Verstärkter physiologischer Tremor
4 Kopf und Rumpf werden manchmal torsionsdyston ge- Dass unter besonderen emotionalen Bedingungen Hände und
dreht. Beine (»weiche Knie«) zu zittern beginnen, hat wohl jeder Le-
4 Im Gesicht kommt es zu trägen, ständig wechselnden, bi- ser schon am eigenen Leib erfahren. Besondere Freude, Wut,
zarren, grimassierenden mimischen Bewegungen. Ärger, Angst, das Erleben eines Unfalls, viele andere Bedin-
4 Das Sprechen ist nur ganz mangelhaft artikuliert, und die gungen, bei denen es zu einer verstärkten sympathischen Ak-
athetotischen Impulse verhindern eine Koordination der tivität kommt, verstärken den physiologischen Tremor. Sicht-
Sprech- und Atemmuskeln. bar wird der Tremor in Ruhe, bei Halte- und dynamischen
Bewegungen. Oft schlägt der Tremor auch auf die Stimme, die
zittrig, leiser und ein wenig heiser wird. Pathophysiologisch
1.8 Tremor entsteht die Enthemmung des physiologischen Tremors über
eine vermehrte Aktivierung des zentralen Schrittmachers, der
Definition und Physiologie die 8–12 Hz Grundfrequenz bestimmt.
Jeder willkürlichen oder unwillkürlichen Halteinnervation
liegt eine meist nicht erkennbare oszillierende Muskelaktivität Essentieller Tremor
zugrunde. Wenn diese rhythmische, physiologische Oszillati- Die Frequenz des essentiellen Tremors ist etwas langsamer als
on von 8–12 Hz beim Halten sichtbar wird, spricht man von die des physiologischen Tremors. In Ruhe tritt der essentielle
Tremor, d.h. Zittern. Tremor ist ein Teil des normalen Tremor üblicherweise nicht auf. Charakteristisch ist ein fre-
Bewegungsrepertoires und eine Voraussetzung für die Durch- quenter Haltetremor, der sich bei Zielbewegungen verstärken
führung von schnellen Folgebewegungen oder synchronisier- kann (. Abb. 1.38). Als pathophysiologische Grundlage für
ten Haltebewegungen. Jede Muskelbewegung wird durch den essentiellen Tremor nimmt man einen zusätzlichen zen-
rhythmische Entladungen motorischer Einheiten erzeugt, die tralen Schrittmacher mit etwas geringerer Frequenz an.
bei niedriger Entladungsfrequenz noch kein volles Interferenz-
muster erreichen. Die rhythmische Modulation der Bewe- Parkinson-Tremor
gungen kommt durch zentrale Rhythmusgeber (Schrittma- Auf diese Tremorform wurde schon bei der Besprechung der
cher) zustande. Basalgangliensyndrome (7 Kap. 1.7) hingewiesen. Typischer-
Physiologisch ist die Amplitude der oszillierenden Aktivi- weise ist der Parkinson-Tremor ein Ruhetremor (. Abb. 1.39),
tät nur sehr gering, klinisch kaum zu beobachten, wenn nicht der sich bei Emotionen verstärkt, im Schlaf sistiert, bei Bewe-
besondere Verstärkungsmechanismen – meist emotionale Er- gungsintention nachlässt bzw. vorübergehend unterdrückt
regung – hinzutreten. Am besten ist sie im EMG bei leichter oder auf eine nicht bewegte Extremität überspringt. Pathophy-
Innervation zu erkennen. Interessant ist, dass die obere Tre- siologisch nimmt man einen Schrittmacher im oberen
morfrequenz des zentralen Schrittmachers, die bei etwa 12– Hirnstamm oder Thalamus an, der die 4- bis 6-Hz-Frequenz
14 Hz liegt, auch die obere Grenze der maximalen Frequenz des Parkinson-Ruhetremors triggert.
willkürlicher Folgebewegungen darstellt. Nicht jeder sichtbare
Tremor ist demnach krankhaft. Ein physiologischer Tremor Zerebellärer Tremor
wird pathologisch, wenn seine Amplitude ein behinderndes Die zerebellären Syndrome, darunter auch der Tremor, werden
Ausmaß erreicht. in 7 Kap. 1.10.1 besprochen. Die Frequenz dieser Bewegungs-
Zur Beschreibung des Tremors achtet man darauf, unter störung ist sehr niedrig, die Amplitude extrem variabel und auf
welchen Aktivierungsbedingungen der Tremor entsteht: Tritt das Ziel hin zunehmend (Zieltremor, fälschlich auch »Intenti-
er in Ruhe, bei isometrischen Haltefunktionen oder bei Zielbe- onstremor« genannt). Dieser Tremor kann, wenn er stark aus-
wegungen auf? Nimmt er während der willkürlichen Bewe- geprägt ist, eine Hand funktionell unbrauchbar machen.

. Abb. 1.38. EMG beim essentiellen Tremor.


Synchroner Tremor mit einer Frequenz von
etwa 8/s. (A. Ferbert, Kassel)
48 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

. Abb. 1.39. Tremor bei M. Parkinson. Syn-


1 chrone EMG-Ableitung aus Extensoren (oben)
und Flexoren (unten) der rechten Hand. Man er-
kennt einen Antagonistentremor von 4,5–5/s.
Agonist und Antagonist kontrahieren sich zeit-
lich versetzt. (A. Ferbert, Kassel)

Pathophysiologisch liegt diesem Syndrom eine Desyn- kann ebenso zu Myoklonien führen wie sein Überschuss, z.B.
chronisation der Abstimmung von Agonisten- und Antagonis- bei Myoklonien bei Psychopharmaka- und L-Dopa-Behand-
tenmuskulatur zugrunde, eine typische zerebelläre Funktions- lung. Serotoninmangel spielt beim postanoxischen Tremor
störung. Die Bremsinnervation durch den Antagonisten ist (Lance-Adams-Syndrom) eine wichtige Rolle.
verspätet und überschießend, und hierauf reagiert der Agonist
mit einer erneut verspäteten und noch weiter überschießenden Physiologische Myoklonien
Aktivierung. Bei paläozerebellären Störungen kann ein Vor- Beim Gesunden können Myoklonien in der Einschlaf- oder
wärts-rückwärts-Tremor mit niedriger Frequenz im Stehen Aufwachphase entstehen und auch mit Traumphasen verbun-
gefunden werden. den sein (Trauminhalt: Herabsteigen einer Treppe führt zu
plötzlicher Beinbewegung, von der man aufwacht). Die plötz-
liche Schreckreaktion (»zusammenzucken«), bei der auch
1.9 Myoklonien Gegenstände zu Boden fallen können, gehört ebenfalls zu den
physiologischen Myoklonien.
Definition und Pathophysiologie
Als Myoklonien bezeichnet man kurze, blitzartige Kontrakti- Essentielle Myoklonien
onen von Muskelfasern, ganzen Muskeln, Gruppen von Mus- Gehäuft auftretende Myoklonien, die nicht Ausdruck einer
keln, selbst des ganzen Körpers. Entsprechend kommen sie mit anderen zugrunde liegenden ZNS- oder Stoffwechselkrankheit
oder ohne Bewegungseffekt vor. Es bestehen fließende Über- sind, nennt man primäre oder essentielle Myoklonien.
gänge zum Faszikulieren auf der einen Seite, zum Tremor und
auch zu epileptischen Anfällen auf der anderen Seite. Myoklo- Epilepsien mit Myoklonien
nien können intermittierend oder aber kontinuierlich über Streng genommen sind auch alle epileptischen Muskelzu-
Stunden, Tage, selbst Wochen vorhanden sein. Sie können auf ckungen Myoklonien. Daher könnte man Epilepsien mit mo-
jedem Niveau des motorischen Systems, Hirnrinde, Marklager torischen Symptomen zu den Epilepsien mit Myoklonus rech-
der Hemisphären, Basalganglien, Hirnstamm, Kleinhirn und nen. Wir haben im Kapitel der Epilepsien (Kap. 14) diese
Rückenmark, ausgelöst werden. Eine Schrittmacherrolle für Einteilung nicht verfolgt, sondern uns an die Klassifikation
Myoklonien sollen Läsionen des sog. Guillain-Mollaret-Drei- gehalten, die international für Epilepsien gebräuchlich ist.
ecks spielen, das durch Faserverbindungen zwischen Nucl. ru-
ber, unterer Olive (ipsilateral) und dem kontralateralen Symptomatische Myoklonien
Nucl. dentatus des Kleinhirns sowie zurück zum kontralate- Sie kommen bei metabolischen Störungen (Leber, Niere), exo-
ralen Nucl. ruber gebildet wird. genen Intoxikationen, posthypoxischer Hirnschädigung (hier
Oft bestehen Abgrenzungsschwierigkeiten zu epilep- besonders als Aktionsmyoklonus), diffusen oder multilokulär
tischen Muskelzuckungen. Myoklonien können in Häufigkeit chronisch-entzündlichen Krankheiten des Gehirns, z.B. sub-
und Ausprägung erheblich variieren: Das Spektrum reicht von akute sklerosierende Panenzephalitis und Creutzfeldt-Jacob-
seltenen, kaum merkbaren Zuckungen einzelner Muskeln bis Krankheit, vor.
zu nahezu kontinuierlicher Myoklonusaktivität des ganzen Einige Typen sind von pathologischen Potential im Elek-
Körpers. Sie können spontan, bei Bewegungen (Aktionsmyo- troenzephalogramm (EEG) begleitet (kortikale Entstehung),
klonus) oder als Reaktion auf äußere Reize (Reflexmyoklo- andere spiegeln sich nicht im EEG wider (subkortikale Myo-
nus) auftreten. klonien).
Biochemisch sind verschiedene Transmitter an der Entste-
hung von Myoklonien beteiligt. Bei einzelnen spinalen Myo- Asterixis (oder flapping tremor)
klonusformen scheint ein Mangel an inhibitorischem Glycin Dies ist tatsächlich kein Tremor, sondern ein ruckartiger Ver-
eine Rolle zu spielen, kortikale und subkortikale Myoklonien lust des Haltungstonus mit unregelmäßigen Korrekturbewe-
werden auf einen Mangel an inhibitorischem GABA-Transmit- gungen beim Armhalteversuch. Während der Haltungstonus
ter zurückgeführt (woraus sich auch schon ein Hinweis auf die nachlässt, ist für Perioden von 50–200 ms elektrische Stille in
Behandlungsmöglichkeit mit GABAergen Substanzen, z.B. Muskeln zu registrieren, die normalerweise tonisch aktiv sind.
Valproat oder Tranquilizern, ergibt). Mangel an Serotonin Abhängig von der Schwere der Krankheit, beginnt die Asterixis
1.10 · Kleinhirnfunktion und Bewegungskoordination
49 1
an den Fingern, ergreift auch die Handgelenke und mehr pro- erst bei Menschenaffen nachzuweisen. Es wird auch Pontoce-
ximal auch die Ellenbogen- und Schultergelenke. rebellum genannt, weil der größte Teil seiner Faserverbin-
dungen über die Brücke zum Großhirn verläuft. Es vermittelt
schnelle, zielmotorische Bewegungen der Hände und Beine.
1.10 Kleinhirnfunktion und Bewegungs- Die pontozerebellären Bahnen enthalten 20-mal mehr Fasern
koordination als der Tr. corticospinalis.

Definition Die vielfältigen Faserverbindungen des Kleinhirns mit den an-


Koordination ist die Zusammenfassung von einzelnen Inner- deren Abschnitten des Zentralnervensystem (ZNS) verlaufen
vationen zu geordneten, fein dosierten oder zielgerichteten über die drei Kleinhirnstiele, die den drei Hauptabschnitten
Bewegungen. Wir unterscheiden die Koordination der Fein- des Hirnstamms entsprechen:
motorik (Hände, Lippen, Zunge), der Zielmotorik (Arme, Bei- 4 Im Corpus restiforme (Strickkörper) verlaufen Verbin-
ne), der Rumpfmotorik (Stand, Gang) und der Augenbewe- dungen von der und zur Medulla oblongata.
gungen. Die Koordination kann durch Funktionsstörungen 4 Im Brachium pontis verlaufen vorwiegend Bahnen aus
(Lähmungen, Funktionsstörungen in den Stammganglien oder den Brückenkernen.
im Cerebellum, Ausfall der Tiefensensibilität) beeinträchtigt 4 Im Brachium conjunctivum verlaufen vorwiegend ge-
sein. Wir besprechen sie hier zusammen mit den Kleinhirn- kreuzte Verbindungen zum Nucl. ruber und Thalamus.
syndromen.
. Abbildung 1.40 lässt deutlich das Organisationsprinzip von
Funktionelle Anatomie Rückmeldekreisen erkennen, in denen die Regelung der Mo-
4 Archicerebellum: Wegen seiner Verbindungen zum torik vollzogen wird.
Gleichgewichtsorgan wird es auch Vestibulocerebellum ge-
nannt. Es ist schon bei Fischen nachweisbar, die keine Extre- Untersuchung
mitäten haben. Anatomisch besteht es aus dem Lobulus floc- Für die klinische Orientierung werden folgende Prüfungen
culonodularis. Seine funktionelle Bedeutung ist die Regulati- ausgeführt:
on der Augen- und Kopfbewegungen. 4 Beim Finger-Nase-Versuch (FNV) führt der Patient die
4 Paläocerebellum: Wegen seiner Verbindungen zum Rü- Spitze des Zeigefingers erst bei offenen, dann bei geschlossenen
ckenmark wird es auch Spinocerebellum genannt. Es spielt bei Augen in weit ausholender Bewegung, ohne den Ellenbogen
Vögeln eine große funktionelle Rolle. Anatomisch besteht es aufzustützen, zur Nasenspitze (. Abb. 1.41). Beim Finger-Fin-
aus dem Oberwurm und dem vorderen Teil der Kleinhirnhe- ger-Versuch sollen in entsprechender Weise die Zeigefinger-
misphären (Lobus anterior). Es hat große funktionelle Bedeu- spitzen beider Hände zur Berührung gebracht werden.
tung für die proximalen Extremitätenmuskeln, speziell in der 4 Beim Knie-Hacken-Versuch (KHV) setzt der Patient im
Regulation von Gelenkposition und der Bewegung von Gelen- Liegen die Ferse des einen Fußes in weitem Bogen auf das Knie
ken. des anderen Beines und führt sie dann auf dem Schienbein
4 Neocerebellum: Den größten Teil des Kleinhirns, nämlich flüssig nach distal. Sehr nützlich ist eine wiederholte Ausfüh-
die Kleinhirnhemisphären, belegt das Neocerebellum. Es ist rung der Zielbewegungen (. Abb. 1.42). Bei beiden Tests achtet

. Abb. 1.40. Die drei Diagramme zeigen, dass die drei funktionell einflussen, aus denen sie hauptsächlich Afferenzen erhalten. Durchge-
unterschiedenen Abschnitte des Kleinhirns durch ihre efferenten Pro- zogene Linien sind Afferenzen, gestrichelte Efferenzen. (Aus Dichgans
jektionen in erster Linie die Abschnitte des Zentralnervensystems be- 1984)
50 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

. Abb. 1.41. Finger-Nase-Versuch. Einzelheiten 7 Text

man auf die Zielsicherheit und Flüssigkeit der Bewegungen


und auf Zieltremor.
4 Feinbeweglichkeit: Die rasche Aufeinanderfolge von al-
ternierenden Bewegungen heißt Diadochokinese (griech. diá-
dochos, aufeinander folgend). Der Patient soll die Finger beider
Hände rasch wie zum Klavierspielen oder Schreibmaschine-
schreiben bewegen, einen Finger nach dem anderen auf den
Daumen setzen und rasch alternierende Drehbewegungen der
Hand auf einer Unterlage ausführen (Diadochokinese). Sehr
nützlich ist auch die Aufgabe, die vorgehaltenen Hände alter-
nierend und entgegengesetzt zu pronieren und zu supinieren
oder so in die Hände zu klatschen, dass abwechselnd die rech-
te oder linke Hand die obere ist. Im Sitzen lässt man den Pa-
tienten rasch mit beiden Beinen pendeln und achtet darauf, ob
die Bewegungen flüssig und taktmäßig ausgeführt werden. An
den Füßen lässt man eine rasch alternierende Drehbewegung
(»Zigarettenkippe austreten«) ausführen. Auch prüft man al-
ternierende Tipp-Kick-Bewegungen und das »Schreiben« von
Zahlen mit den Füßen.
4 Der Barany-Zeigeversuch wird mit jeder Hand einzeln
ausgeführt. Der Patient hält bei offenen Augen den Arm gera-
de nach oben und senkt ihn dann langsam so weit nach vorn,
dass sein vorgestreckter Zeigefinger unmittelbar gegenüber
dem des Untersuchers steht. Anschließend führt er dieselbe
Bewegung wiederholt bei geschlossenen Augen aus. Bei einsei-
tiger vestibulärer oder zerebellärer Funktionsstörung weicht
der Arm zur kranken Seite ab.
4 Sitzstabilität: Im Sitzen mit geschlossenen Augen, die Arme
geradeaus gestreckt, kann der Gesunde ruhig und unbeweglich
verharren. Tritt dabei ein Schwanken des ganzen Körpers nach
den Seiten oder nach vorn und hinten auf, oft von einem Abwei-
chen der Arme begleitet, liegt eine Rumpfataxie vor. In schweren
Fällen kann der Kranke schon mit offenen Augen nicht gerade
sitzen.
4 Rebound: In der gleichen Stellung prüfen wir das Re-
bound-(Rückstoß-)Phänomen. Bei geschlossenen Augen
drückt der Patient den nach vorne gestreckten Arm kräftig
nach oben, während der Untersucher diesem Druck Wider-
stand leistet. Lässt der Gegendruck plötzlich nach, führt der
Arm zunächst eine Bewegung nach oben aus, die der Gesunde
aber schon nach wenigen Zentimetern durch automatische
Innervation der Antagonisten abfängt. Dadurch kommt es zu
einem kurzen Rückstoß nach unten, bevor der Arm wieder in
die Ausgangsstellung zurückkehrt. Pathologisch ist das Fehlen
. Abb. 1.42. Knie-Hacken-Versuch. Einzelheiten 7 Text dieser Korrekturbewegung. Bei zerebellärer Asynergie ist die
1.10 · Kleinhirnfunktion und Bewegungskoordination
51 1
automatische Verschiebung der Innervation von den Agonis- 1.10.1 Syndrome mit Koordinationsstörungen
ten (Heber) auf die Antagonisten (Senker) unmöglich, so dass (Zerebelläre Syndrome)
der befreite Arm ausfahrend nach oben schlägt (fehlender Re-
bound). Die wichtigsten Funktionen des Kleinhirns sind:
4 Der Romberg-Versuch ist ein Vergleich der Standsicher- 4 Steuerung und Korrektur der stützmotorischen Anteile
heit bei offenen und geschlossenen Augen. Er dient vor allem von Haltung und Bewegung,
zur Unterscheidung der spinalen – oder besser sensiblen – von 4 Kurskorrektur langsamer, zielmotorischer Bewegungen
der zerebellären Ataxie. und ihre Koordination mit der Stützmotorik,
4 Beim Unterberger-Tretversuch soll der Patient mit ge- 4 reibungslose Durchführung der vom Großhirn »entwor-
schlossenen Augen 0,5–1 min lang auf der Stelle treten. Bei fenen« schnellen Zielmotorik,
einseitiger vestibulärer oder zerebellärer Störung tritt eine »ro- 4 Stabilisierung der Blickmotorik auf ein Blickziel (vestibu-
settenartige« Drehung zur kranken Seite auf. Das Ergebnis ist lookulärer Reflex).
aber nur dann verwertbar, wenn es sich wenigstens dreimal
reproduzieren lässt. Während des Versuchs sind sämtliche Ge- Symptome der Funktionsstörungen des Kleinhirns
räusche oder Berührungen zu vermeiden, damit eine eventu- Zerebelläre Ataxie. Dies ist ein Oberbegriff für verschiedenar-
elle Abweichung nicht nach dem akustischen oder taktilen tige Störungen der Gleichgewichtsregulation und der Bewe-
Signal korrigiert wird. gungskoordination.
4 Untersuchung des Gehens: Die Gangstrecke soll wenigs- Bei der Rumpfataxie ist der Kranke nicht imstande, gerade
tens 10–15 Schritte lang sein, sonst hat die Untersuchung we- sitzen zu bleiben, sondern hat eine Fallneigung nach rückwärts
nig Wert. Der Patient geht barfuß, zuerst mit offenen, dann oder zu einer Seite (lokalisatorische Bedeutung zusammenfas-
mit geschlossenen Augen. Man achtet vor allem auf die Flüs- send weiter unten).
sigkeit der Bewegungen, die Mitbewegungen der Arme, nor- Die grobe Standataxie mit unsystematischem oder syste-
mal schmale oder pathologisch breite Führung der Beine, matischem Schwanken zeigt sich manchmal schon beim Ste-
Seitenabweichung, Schwanken oder Taumeln. Psychogenes hen in normaler Fußstellung. Bei leichterer Ataxie tritt die
Schwanken wird von den Patienten meist im letzten Augen- Unsicherheit erst ein, wenn der Patient die Romberg-Stellung
blick selbst aufgefangen, oder sie lassen sich auf eine Sitzgele- einnimmt, bei der sich die Füße parallel berühren. Auch die
genheit gleiten, die sie in der Nähe wissen. Man soll das Gehen Richtung des Schwankens kann von diagnostischer Bedeu-
auch unter erschwerten Bedingungen prüfen, z.B. als Seiltän- tung sein: Bei Funktionsstörungen des Paläocerebellums, ins-
zergang oder Einbeinhüpfen. Bei jeder Funktionsstörung von besondere des Kleinhirnvorderlappens, schwankt der Patient
Cerebellum oder Stammganglien soll der Patient eine Schrift- im Romberg-Versuch nach vorwärts und rückwärts, bei Funk-
probe geben und, am besten ohne Auflegen der Hand, meh- tionsstörungen im Archicerebellum schwankt er bereits vor
rere parallele Linien waagerecht und senkrecht, konzentrische dem Augenschluss bei Einnahme der Romberg-Stellung in
Kreise und eine Spirale zeichnen. Bei zerebellären Störungen beliebige Richtungen. Beim Gehen weicht er zu einer Seite ab
werden diese Zeichnungen verzerrt. oder gerät ins Taumeln (Gangataxie). Der Seiltänzergang ist
4 Untersuchung auf Blickstabilisierung, Nystagmus und nicht möglich. Die Schrittführung ist breitbeinig.
Sakkadentest (7 Kap. 1.3.1 und 1.3.4). Weitere typische Symptome der Kleinhirnataxie sind:
Ansteigen des ausgestreckten Arms beim Halteversuch, feh-
lender Rebound, Lateralisation beim Barany-Zeigeversuch,

Exkurs
Zerebelläre vs. spinale Ataxie
Die zerebelläre muss von der spinalen Ataxie bei Hinter- heit auch bei Läsionen der medialen Schleife, des Thalamus
strangerkrankungen des Rückenmarks oder bei peripherer oder des Gyrus postcentralis auftritt. Da die spinale Ataxie auf
Nervenschädigung unterschieden werden. Man kann sich einer Sensibilitätsstörung beruht, ist es möglich, den Ausfall der
die Charakteristika der beiden Formen durch folgende Über- Kontrolle durch die Tiefensensibilität durch eine andere senso-
legung einfach ableiten: Die Regulierung der Motorik, die rische Qualität, die optische Kontrolle, partiell zu ersetzen. Der
ganz überwiegend unbewusst erfolgt, ist davon abhängig, sensibel Ataktische wird also sicherer gehen, solange er seine
dass fortgesetzt, z.B. beim Gehen in unebenem Gelände, Füße fortgesetzt im Auge behalten kann. Ist auch die optische
Informationen über die relative Lage der Körperabschnitte Kontrolle ausgeschaltet, etwa durch Augenschluss oder Dun-
zueinander und die Beziehung des Körpers zum Außenraum kelheit, wird die Ataxie manifest. Sie ist vor allem eine lokomo-
verarbeitet werden. Die sensiblen Informationen stammen torische Ataxie, weil bei Bewegungen die sensible Steuerung
vor allem aus der sog. Tiefensensibilität. der Motorik besonders beansprucht wird. Ursache der zerebel-
Bei einer krankhaften Störung der Tiefensensibilität fällt lären Ataxie dagegen ist eine zentrale Störung in der Koordi-
die propriozeptive sensible Kontrolle der Motorik aus. Des- nation der Motorik und der Regulation des Gleichgewichts. Sie
halb erfolgen die Zielbewegungen unangepasst, ausfahrend ist oft bereits in Ruhe vorhanden. Da die sensiblen Afferenzen
und überschießend, d.h. ataktisch. Es wäre deshalb sinnvoller, intakt sind, wird sie durch Einsatz der optischen Kontrolle nicht
von »sensibler Ataxie« zu sprechen, zumal diese Unsicher- wesentlich verbessert.
52 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

. Abb. 1.43. Fixationssuppression.


1 Der Patient fixiert die Daumen bei aus-
gestreckten Armen und dreht dann
Kopf und Körper simultan zur Seite. Die
Augen bleiben dabei in der Mittelstel-
lung fixiert. Die Fixation unterdrückt so
den okulozephalen Reflex

Exkurs
Test auf Blickstabilisierung (Fixationssuppressionstest)
Der Patient soll die Arme vorwärts strecken und die neben- stuhl seitwärts (. Abb. 1.43). Dabei darf kein Nystagmus
einander gelegten Daumen fixieren. Man dreht dann seinen auftreten. Ist dies doch der Fall, so ist die Unterdrückung des
ganzen Körper einschließlich des Kopfes auf einem Dreh- vestibulookulären Reflexes durch Fixation mangelhaft.

Schwierigkeit beim Klopfen eines Rhythmus. Die Schrift ist Dysdiadochokinese. Die zerebelläre Koordinationsstörung
ausfahrend, oft verwackelt (Makrographie). macht sich auch als Erschwerung der Feinbeweglichkeit be-
merkbar (Dysdiadochokinese). Eine Beeinträchtigung diffe-
Dysmetrie. Zielbewegungen nennen wir dysmetrisch, wenn renzierter Bewegungen ist aber auch das Charakteristikum
sie ein falsches Ausmaß haben. Meist sind die Bewegungsim- der zentralen Bewegungsstörung und kommt ebenfalls durch
pulse überschießend, so dass die Gliedmaßenenden über das extrapyramidale Hyper- und Akinese zustande. Die Unter-
Ziel hinaus geführt werden (Hypermetrie). Der Bewegungs- scheidung zwischen diesen drei Formen ist leicht, wenn man
ablauf ist dabei nicht flüssig, sondern verwackelt, weil die do- auf die begleitenden Symptome achtet: die Mitbewegungen
sierte Steuerung der Innervation gestört ist und gleichzeitig und Masseninnervationen bei der zentralen Lähmung und
ein Zieltremor auftritt. Die Ataxie der Extremitäten betrifft die allgemeine Hyper- oder Akinese bei extrapyramidalen Syn-
stets mehr die Beine als die Arme. Dies erklärt sich daraus, dromen.
dass der größere Teil der spinozerebellären Bahnen aus dem
Lenden- und unteren Brustmark kommt, weil beim Menschen Reduzierter Muskeltonus. Auf der Seite der Kleinhirnläsion
die Beine weit mehr als die Arme an der Erhaltung des Gleich- ist der Muskeltonus abgeschwächt (Kleinhirnhypotonie). Die
gewichts beteiligt sind. Die Blickdysmetrie wurde bei der Tonusdifferenz lässt sich besonders gut im Stehen durch das
Okulomotorik besprochen. Schulterschütteln prüfen: Man fasst den Patienten mit beiden
Händen an den Schultern und dreht seinen Rumpf rasch ab-
Zieltremor. Dies ist ein Aktionstremor, der bei Annäherung an wechselnd nach beiden Seiten. Wenn er die Arme locker her-
das Ziel an Amplitude zunimmt. Er tritt mit niedriger Fre- abhängen lässt, sind die passiven Exkursionen des Arms auf
quenz (3–4/s) bei jeder willkürlichen Bewegung als unregel- der Seite der Läsion weiter ausfahrend. Paresen gehören nicht
mäßiges Zittern auf, das sich kurz vor Erreichen des Ziels zu zum zerebellären Syndrom, obwohl eine Schwierigkeit beim
einem so groben Wackeln steigern kann, dass das Ziel verfehlt Einsatz der Motorik den Eindruck der Schwäche machen
wird oder der Patient sich sogar verletzt. Der Crescendo-Cha- kann
rakter des Zieltremors ist bei der Prüfung der Zeigeversuche
besonders deutlich zu erkennen. Die häufig benutzte Bezei- Okulomotorische Symptome. Wichtige okulomotorische
chung »Intentionstremor« ist fehlleitend, da der Tremor nicht Symptome bei Kleinhirnerkrankungen, im wesentlichen des
bei der Intention der Bewegung, sondern bei der Annäherung Archicerebellums sind: Nystagmus, sakkadierte Blickfolge und
an das Bewegungsziel entsteht bzw. zunimmt, deshalb der Be- fehlende Unterdrückung des vestibulookulären Reflexes.
griff »Zieltremor«. Eine sehr charakteristische Symptomkombination ist die
nach dem großen französischen Neurologen benannte Char-
Skandierendes Sprechen. Als Skandieren bezeichnet man das cot-Trias, die aus Nystagmus, Intentionstremor und skandie-
Sprechen, wenn es durch eine zerebelläre Koordinationsstö- rendem Sprechen besteht. Sie kommt oft, aber keineswegs
rung nicht flüssig und in natürlicher Weise moduliert, son- ausschließlich, bei multipler Sklerose vor.
dern langsam, mühsam und abgehackt-stockend abläuft, wo-
bei jede einzelne Silbe betont wird. Dabei ist auch die Stimm-
gebung und manchmal die Sprechatmung beeinträchtigt, da 1.11 Sensibilität
der Tremor auch Atem- und Kehlkopfmuskeln erfassen kann.
Eine andere Form zerebellärer Sprechstörung äußert sich in Sensible Informationen dienen nicht nur der Wahrnehmung
»verwaschener« Artikulation. von Sinnesreizen, sondern auch der Regulierung der Motorik.
1.11 · Sensibilität
53 1
Facharzt
Lokalisatorische Bedeutung der Kleinhirnsymptome
Archicerebellum. Die Patienten haben eine Stand-, Gang- fallen, im Gegensatz zu solchen mit Läsion des Archicerebel-
und Rumpfataxie in alle Richtungen. Die Körperhaltung wird lum, nicht um. Beim Knie-Hacken-Versuch tritt ein seitliches
visuell nicht stabilisiert, d.h., schon bei Einnahme der Rom- Wackeln mit einer Frequenz von 3/s auf, während die Finger-
berg-Position mit offenen Augen gerät der Patient ins Nase-Versuche sicher sind. Das Sprechen ist skandierend.
Schwanken. Viele Patienten fallen bereits im Sitzen um.
Extremitätenataxie besteht nicht. Die Blickfolge ist sakka- Neocerebellum. Die Extremitätenbewegungen sind dysmet-
diert, Blicksprünge sind dysmetrisch. Der vestibulookuläre risch und v.a. hypermetrisch. Dies ist bei den Zeigeversuchen
Reflex wird durch Fixation nicht unterdrückt. Das Sprechen leicht nachzuweisen. Die Blickbewegungen sind pathologisch
ist dysarthrophonisch. sakkadiert. Die Patienten haben auch einen Blickrichtungsnys-
tagmus in alle Richtungen. Es besteht Dysarthrophonie und
Paläocerebellum. Die Patienten haben eine Stand- und Dysdiadochokinese. Der Intentionstremor ist seitwärts gerich-
Gangataxie mit Schwanken nach vorwärts und rückwärts. Mit tet. Bei akuten Schädigungen besteht muskuläre Hypotonie.
offenen Augen ist die Stabilisierung des Rumpfes noch mög- Diese lässt sich durch Absinken der Hände bei den Haltever-
lich, mit geschlossenen Augen ist sie schlecht. Die Patienten suchen nachweisen.

Sie beeinflussen die vegetative Innervation und können tief 4 Kurze Hinterwurzelfasern schalten im Hinterhorn sy-
greifende Veränderungen des psychischen Befindens bewir- naptisch um. Das zweite Neuron kreuzt auf der Eintrittsebene
ken. Alle sensiblen Leistungen sind in weit stärkerem Maße als oder ein bis zwei Segmente darüber in der vorderen Kom-
motorische von subjektiven Faktoren wie Einstellung, Auf- missur und zieht im kontralateralen Vorderseitenstrang
merksamkeit oder Stimmung abhängig. Entsprechend ist die als Tr. spinothalamicus nach rostral. In Höhe der Medulla
Verknüpfung der Funktionskreise im sensiblen System noch oblongata schließt sich diese Bahn der medialen Schleife
komplexer als im motorischen. an. Die synaptische Umschaltung im Thalamus geschieht in
anderen Kernen als denen der Hinterstrangbahnen. Das
dritte Neuron erreicht über die innere Kapsel ebenfalls die
1.11.1 Anatomische und psychophysiologische Hirnrinde.
Grundlagen

Afferente sensible Fasern und spinale Weiterleitung


Ein Teil dieser Fasern ist an Rezeptoren in der Haut, in den
Muskeln, den Sehnen und Gelenken angeschlossen, andere
enden frei in der Haut und im Periost. Die Neuriten fügen
sich zu den peripheren Nerven zusammen, die meist ge-
mischte Nerven sind, und erreichen über die Hinterwurzeln
das Rückenmark. Hier gliedern sie sich nach vier verschie-
denen Typen auf:
4 Kurze Hinterwurzelfasern (Reflexkollateralen) schließen
sich im Reflexbogen für die Eigen- und Fremdreflexe mono-
synaptisch oder polysynaptisch an die motorischen Vorder-
hornzellen an.
4 Lange Hinterwurzelfasern steigen, ohne synaptische
Umschaltung, im gleichseitigen Hinterstrang (Tr. spinobul-
baris) zu den sensiblen Hinterstrangkernen in der Medulla
oblongata auf. Im Halsmark sind ein medial gelegener Fasci-
culus gracilis (Goll-Strang) und ein lateraler Fasciculus cu-
neatus (Burdach) geschieden, denen jeweils der Kern gleichen
Namens entspricht. Das zweite Neuron zieht durch die Schlei-
fenkreuzung in der Medulla oblongata als mediale Schleife zu
den sensiblen Kernen des Thalamus.
Hier beginnt das dritte Neuron, das durch den hinteren
Schenkel der inneren Kapsel zu den sensiblen Projektions-
feldern in der hinteren Zentralwindung verläuft (. Abb. 1.44).
Auf jeder Station lässt sich eine differenzierte somatotopische
Gliederung nachweisen, die im Gyrus postcentralis etwa dem . Abb. 1.44. Verlauf der sensiblen Bahnen im Rückenmark.
Homunculus der vorderen Zentralwindung entspricht. 1 Hinterstrangfasern; 2 Tractus spinothalamicus
54 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

a b

. Abb. 1.45. a Motorische Repräsentation und Bahnen. b Sensible Repräsentation und Bahnen

4 Mittlere Hinterwurzelfasern schalten in der Clarke-Säu- konfiguriert. Im sensiblen Repräsentationskortex kommt es


le an der Basis des Hinterhorns um. Das zweite Neuron steigt, auch zur plastischen Ausweitung oder Verminderung von
vorwiegend gleichseitig, als Tr. spinocerebellaris dorsalis und Repräsentanzen, z.B. nach sensiblen Ausfällen oder bei chro-
ventralis durch den hinteren und vorderen Kleinhirnstiel zum nischem Schmerz (s.u.).
Cerebellum auf.

Sensible Einheiten 1.11.2 Anamnese und Untersuchung


Die rezeptiven Felder der »sensiblen Einheiten« (= Rezeptoren
plus angeschlossene Nervenfasern) überlappen sich sehr aus- Anamnestisch fragt man nach Sensibilitätsstörungen, Miss-
gedehnt. Natürliche Stimuli reizen immer mehrere Rezeptoren empfindungen, Schmerzen und deren Lokalisation. Man lässt
und erregen mehrere Fasern, die vermutlich nicht nur för- sich Art, zeitlichen Ablauf und die Gelegenheiten schildern,
dernde, sondern auch hemmende Wirkung haben. Die Stimu- unter denen die Schmerzen auftreten.
li setzen einen Verarbeitungsprozess in Gang, bei dem auf ver-
schiedenen Stationen des afferenten Systems Erregungen ge- Sensibilitätsprüfung
bahnt, gehemmt, modifiziert und mit anderen Erregungen Wenn die Anamnese keine Hinweise auf eine Sensibilitätsstö-
verrechnet werden, wobei sich das Erregungsmuster fortge- rung gegeben hat, verschafft man sich zunächst durch Bestrei-
setzt verändert. chen größerer Hautbezirke an den Extremitäten und am Rumpf
im Seitenvergleich einen ersten Überblick. Die Begrenzung der
Zentrale Repräsentation Sensibilitätsstörung wird von beiden Richtungen, aus dem ge-
Nach Umschaltung in den thalamischen Projektionskernen störten Bezirk und vom Gesunden her, festgelegt und in ein
erreichen die sensiblen Impulse die sensible Rinde. Die Schema eingetragen. Die Verteilung der peripheren und seg-
Repräsentation der Körperregionen erfolgt wie im motorischen mentalen Innervationsbereiche zeigt . Abbildung 1.46. Bei der
System in einem Homunculus, der Bedeutung, nicht physische Routineuntersuchung werden folgende Qualitäten geprüft:
Größe der Region abbildet (. Abb. 1.45). Der motorische und 4 Berührungsempfindung: Der Reiz besteht in einer leich-
der sensible Homunculus sind ähnlich, aber nicht identisch ten Berührung der Haut mit der Fingerspitze oder mit einem
1.11 · Sensibilität
55 1
Facharzt
Sensible Wahrnehmung
Dieses sehr einfache Schema muss auch für den klinischen dem der Zufluss sensibler Signale selektiv gedrosselt oder
Gebrauch noch etwas ergänzt werden: Die langen sensiblen gebahnt wird.
Bahnen, vor allem der Tr. spinothalamicus, geben kollate- Bereits aus diesen wenigen Anmerkungen ergibt sich,
rale Fasern zum Eigenapparat des Rückenmarks und zur dass die Funktion des afferenten sensiblen Systems nicht in
Formatio reticularis der Medulla oblongata und der Brücke dem simplen Denkschema Reiz – Erregungsleitung – Emp-
ab. Von hier laufen Verbindungen zu unspezifischen Kernen findung zu erfassen ist. Es ist nicht etwa so, dass jedem physi-
des Thalamus und zum Höhlengrau des Stammhirns. Über kalischen Reiz eine notwendig zugeordnete Empfindung
den Thalamus wird ein Teil der kollateralen Impulse zu den entspräche (Theorie des »psychophysischen Isomorphismus«),
Basalganglien geleitet. Auf diesen Wegen können durch sondern die Qualität einer Empfindung ist von Aufmerksam-
sensible Impulse das unspezifische System des Hirnstamms, keit, Erwartung, affektiver Situation, Bedeutungsgehalt des
vegetative Regulationsstätten und motorische Steuerungs- Stimulus und vor allem von Erfahrungen abhängig. So zeigen,
stellen so aktiviert werden, dass das Zentralnervensystem zur um nur ein Beispiel zu nennen, Tiere, die in den ersten Lebens-
Reaktion auf sensible Reize bereit ist. monaten ohne Kontakt mit Schmerzreizen aufgezogen werden,
In physiologischen Experimenten sind auch zentrifugale auch auf Nadelstiche, Verbrennungen oder harte Stöße keine
fördernde und hemmende Einflüsse von der Formatio reti- Schmerzreaktionen. Andererseits wird Schmerz bei depressiver
cularis des Mittelhirns auf die Synapsen der afferenten Verstimmung stärker als sonst und selbst ohne »objektiv
sensiblen Leitungssysteme nachgewiesen worden. Diese schmerzhaften« Stimulus erlebt.
sind wahrscheinlich Glieder eines Rückkopplungssystems, in

. Abb. 1.46a–c. Schema der segmen-


talen sensiblen Innervation. a Seitenan-
sicht.

a
56 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

. Abb. 1.46a–c (Fortsetzung) b, c Die Extremitäten sind zum besseren Verständnis in der Richtung des embryonalen Wachstums angeordnet

Wattetupfer. Der Patient soll angeben, ob er eine Berührungs- 4 Temperaturempfindung: Die Temperaturempfindung
wahrnehmung hat (. Abb. 1.48a). prüft man z.B. mit zwei Reagenzgläsern, von denen das eine
4 Lokalisationsvermögen: Der Patient soll den Ort der Rei- warmes, das andere kühles Wasser enthält. Die Reihenfolge
zung bezeichnen. muss wieder regellos variiert werden. Es ist nützlich, dabei
4 Unterscheidung von spitz und stumpf und Schmerz- nicht nur zu fragen, ob die Temperaturen überhaupt wahrge-
empfindung: Wir berühren in unregelmäßiger Reihenfolge nommen werden, sondern auch, ob die Empfindung an ver-
die Haut mit dem scharfen oder stumpfen Ende eines abgebro- schiedenen Körperstellen gleich intensiv ist.
chenen Holzstäbchen (. Abb. 1.47b). Der Patient soll angeben, 4 Erkennen geführter Bewegungen: Die Prüfung wird zu-
ob er einen spitzen oder stumpfen Reiz empfindet und ob der nächst distal an den Interphalangealgelenken der Zehen und
spitze schmerzhaft ist. Für den Seitenvergleich und die Ab- Finger vorgenommen. Nur wenn sich eine Störung zeigt, wer-
grenzung umschriebener Störungen ist das Nadelrad besser den auch größere, proximale Gelenke geprüft. Der untersuchte
geeignet als die mit der Hand geführte Nadel, weil die Reize Finger oder die Zehe wird seitlich mit Daumen und Zeigefin-
damit gleichmäßiger gegeben werden. ger geführt, weil der Patient sonst aus dem Druck von dorsal
1.11 · Sensibilität
57 1

. Abb. 1.47. Testung der Oberflächensensibilität durch Spitz-Stumpf-Diskrimination. Einzelheiten 7 Text

a b

. Abb. 1.48. a Vibrationstest zur Überprüfung der Tiefensensibi- b Der dunkle Übergangsbereich erlaubt eine halbquanitative Be-
lität, hier bei Aufsetzen der Stimmgabel am Malleolus medialis. stimmung (Pfeil). Einzelheiten 7 Text

oder volar die Richtung der Bewegung erschließen kann. Der Seite oder beidseits. Bei zentralen Sensibilitätsstörungen
Patient soll jeweils die Richtung nennen. werden auf der betroffenen Seite Einzelreize oft noch er-
4 Erkennen auf die Haut geschriebener Zahlen: Mit der kannt, während die Berührung bei beidseitiger Reizung nur
Spitze des Zeigefingers oder dem stumpfen Ende der Nadel auf der gesunden Seite wahrgenommen wird (Extinktion).
schreiben wir so, dass sie von kranial zu »lesen« sind, Zahlen 4 Tasterkennen (Stereognosie): Bei Sensibilitätsstörungen
auf die Haut des Rumpfes, der proximalen und der distalen an der Hand kann die Fähigkeit beeinträchtigt sein, Gegen-
Gliedmaßenabschnitte, die der Patient erkennen soll. Kann er stände taktil zu erkennen. Infolge der Sensibilitätsstörung ist
das nicht, sollte er wenigstens den Unterschied zwischen Kreis auch die Motorik des Tastens ungeschickt.
und Kreuz angeben können.
4 Untersuchung der Vibrationsempfindung mit einer Untersuchung auf Nervendehnungsschmerz: Zur Sensibili-
Stimmgabel: Die Stimmgabel hat skalierte Schwingungs- tätsprüfung gehört auch die Prüfung auf Nervendehnungs-
dämpfer, an denen wir die Schwingungsamplitude ablesen schmerz.
können. Man setzt die Stimmgabel auf markante Knochen- 4 Versuch nach Lasègue: Das gestreckte Bein wird passiv
punkte (Schultergelenk, Ellenbogen, distaler Abschnitt des angehoben. Liegt eine lumbosakrale Wurzelreizung oder eine
Radius, Dornfortsätze, Darmbeinkamm, Kniescheibe, Schien- Meningitis vor, wird die Bewegung unter Schmerzäußerung
bein und Großzehe). Der Patient hat die Augen geschlossen. reflektorisch gehemmt.
Er gibt an, bis zu welchem Augenblick er das Schwirren ver- 4 Umgekehrter Lasègue: In Bauchlage wird das Bein des
spürt, d.h. objektiv, bis zu welcher Amplitude er die rasch auf- Patienten passiv im Knie gebeugt und in der Hüfte überstreckt.
einander folgenden Schwingungsreize noch auflösen kann Bei Wurzelreizung L3 und L4 äußert der Patient Schmerzen
(. Abb. 1.89). Eine Verminderung der Vibrationsempfindung, und hebt die Hüfte auf der betroffenen Seite hoch, um der
d.h. Auflösungsvermögen nur für Schwingungsreize größerer Dehnung der Wurzel zu entgehen.
Amplitude, ist nur zu verwerten, wenn die Angaben konstant 4 Kernig-Versuch: Das in der Hüfte und im Knie gebeugte
sind und die Vibration an anderen Körperstellen besser emp- Bein wird im Knie gestreckt. Die Reaktion ist analog dem
funden wird. Das Vibrationsempfinden wird durch Läsionen Lasègue.
oberhalb des Thalamus nicht beeinflusst. 4 Versuch nach Brudzinski: Neigt man den Kopf des
4 Diskriminierung simultaner Berührungsreize: Man Patienten kräftig nach vorn, beugt er die Beine, um die
berührt in unregelmäßigem Wechsel die eine oder andere Dehnung der lumbosakralen Wurzeln zu entlasten.
58 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

4 Lhermitte-Zeichen (Nackenbeugezeichen): Bei chro- 5 Thermanästhesie (Ausfall der Temperaturempfindung),


1 nischer Reizung des Rückenmarks oder der Rückenmarkhäute 5 Analgesie (Ausfall der Schmerzempfindung),
im zervikalen Abschnitt ist das Nackenbeugezeichen nach 5 Pallanästhesie (Ausfall der Vibrationsempfindung).
Lhermitte positiv. Bei starker Neigung des Kopfes nach vorn 4 Hypästhesie: Es besteht eine sensible Wahrnehmung, sie
verspürt der Patient kribbelnde Missempfindungen in beiden ist aber im Vergleich zu anderen Regionen für alle Empfin-
Schultern oder den Rücken hinunter. Das Zeichen ist bei mul- dungsqualitäten abgeschwächt. Auch die Hypästhesie kann
tipler Sklerose häufig positiv (7 Kap. 22). modalitätsbezogen sein, dann spricht man von:
5 Thermhypästhesie (Abschwächung der Temperaturemp-
Fehlerquellen findung),
Als sehr subjektive Methode haben Sensibilitätsprüfungen 5 Hypalgesie (Abschwächung der Schmerzempfindung),
viele Fehlerquellen, die man erst bei einiger Erfahrung richtig 5 Pallhypästhesie (Abschwächung der Vibrationsempfin-
beurteilen kann: Einfach strukturierte oder kognitiv beein- dung).
trächtigte Menschen verstehen die Aufgaben oft erst nach 4 Dissoziierte Sensibilitätsstörung: Nur bestimmte sensib-
einigen Versuchen und geben bei alternativer Fragestellung le Qualitäten in einem Dermatom oder einer Extremität sind
regelmäßig abwechselnde Antworten, ohne auf die Qualität gestört, andere aber unverändert erhalten sind. Beispiel: iso-
des Reizes zu achten. Durch reines Raten kann man bei alter- lierter Ausfall der Schmerz- und Temperaturempfindung bei
nativen Prüfungen auf 50% Treffer kommen. Die Untersu- erhaltener Berührungsempfindung.
chung der Sensibilität ist besonders leicht durch psychogene
Tendenzen, von der unbewussten Aggravation bis zur Simu- Qualitative Veränderung der sensiblen Wahrnehmung:
lation, störbar. 4 Dysästhesie: Eine sensible Wahrnehmung ist vorhanden,
aber gegenüber der Empfindung beim Gesunden unangenehm
n verändert. Eine Dysästhesie kann mit Hypästhesie verbunden
1.11.3 Sensible Reizsymptome sein.
4 Parästhesien: Meist unangenehme und störende sensible
Sensible Reizsymptome treten als Schmerzen oder Missemp- Eindrücke entweder spontan oder bei sanften Berührungsrei-
findungen (Parästhesien) auf (s.u.). zen auftretend. Kribbelparästhesien, schmerzhafte Parästhe-
sien oder Kälteparästhesien sind typische Beispiele. Auch hier
Nomenklatur der Sensibilitätsstörungen kann eine Hypästhesie gleichzeitig bestehen.
Verminderung der sensiblen Wahrnehmung:
4 Anästhesie: Alle sensiblen Afferenzen sind ausgefallen, der Steigerung der sensiblen Wahrnehmung:
Patient empfindet nichts in der betroffenen Region. Sie kann 4 Hyperpathie (Allodynie): Berührungsreize werden als
sich auch einzelne sensible Modalitäten beziehen: Dann spricht unangenehm und schmerzhaft empfunden.
man von 4 Hyperalgesie: gesteigerte Schmerzempfindung.

Facharzt
Psychogene Sensibilitätsstörungen
Typische Verhaltensweisen sind:
Psychogene Analgesie selbst bei stärksten Schmerzrei- Geführte Bewegungen und auf die Haut geschriebene
zen. Sie ist nicht von einer Beeinträchtigung der Temperatur- Zahlen werden falsch angegeben, z.B. beim Schreiben der
empfindung und von trophischen Störungen begleitet, die (eckigen) »Sieben« wird eine »Sechs« angegeben. Wenn da-
man oft bei organisch bedingter Analgesie findet. Die üb- nach eine »Sechs« auf die Haut geschrieben wird, wird jetzt
rigen Qualitäten der Sensibilität sind oft normal. eine »Fünf« oder wieder die »Sieben« genannt. Gibt der Patient
aber stets die Gegenrichtung einer geführten Bewegung an
Unempfindlichkeit für alle Qualitäten. Sie hat häufig eine oder nennt er regelmäßig die nächsthöhere oder nächstniede-
Verteilung, die der subjektiven Gliederordnung oder gar der re Zahl, so ist die Empfindung gut erhalten.
Begrenzung von Kleidungsstücken (Ärmel, Hose) entspricht
und ist oft in der Mittellinie scharf begrenzt. Die psychogene Diagnose. Bei Verdacht auf psychogene Symptombildung
Anästhesie ist ebenfalls leicht am Fehlen vasomotorischer sind Gegenproben (durch Hantieren oder Gehen) und die
und trophischer Störungen zu erkennen. Sie findet sich Zeigeversuche (s.o.) nützlich. Dabei ist leicht zu erkennen, ob
häufig bei Kranken, die eine leichte Lähmung mit oder ohne tatsächlich eine sensible Ataxie oder eine Behinderung der
Sensibilitätsstörung haben oder hatten. Der naiv erlebende Motorik besteht, die bei schwerer Sensibilitätsstörung nie
Mensch macht keinen Unterschied zwischen Bewegen und ausbleibt. So prüft man beispielsweise bei einem Patienten,
Empfinden. Bei Lähmung klagt er oft, die Hand sei taub, und der starkes Schwanken beim Rombergversuch demonstriert,
er habe kein Gefühl, bei Sensibilitätsstörung erlebt er eine das Lesen von Zahlen auf dem Rücken. Bei der Konzentration
Verminderung der Kraft. auf diese schwierige diskriminative Leistung nimmt dann das
Schwanken deutlich ab.
1.11 · Sensibilität
59 1
Parästhesien und Dysästhesie Erregung oder bei Bewegungen verstärkt. Kausalgie tritt meist
Parästhesien werden als Kribbeln (wie Brennnesseln, wie im Versorgungsgebiet der Nn. medianus und tibialis auf, die
»Ameisenlaufen«), Brennen oder taubes, eingeschlafenes Ge- besonders viele vegetative Fasern enthalten. Entsprechend ist
fühl (»wie nach einer Spritze beim Zahnarzt«) empfunden. Je sie mit trophischen Veränderungen der Haut und Durchblu-
nach ihrer Ätiologie sind sie umschrieben, meist im Versor- tungsstörungen verbunden, die sich oft auf die ganze betrof-
gungsgebiet einzelner Nerven oder handschuh- und strumpf- fene Extremität ausbreiten. Viele Patienten geben Erleichte-
förmig, an den Gliedmaßenenden lokalisiert. Ähnlich wie rung nach Befeuchten der Hand oder des Fußes an.
Spontanschmerzen beruhen Missempfindungen auf Überer-
regbarkeit peripherer, sensibler Rezeptoren und Nervenfasern
oder zentripetaler Bahnen, unter anderem der Hinterstränge. Stumpfschmerz und Phantomschmerzen
Ein Reizzustand im Tr. spinothalamicus oder dem analogen Manche Amputierte haben neuralgische, andere kausalgie-
Tr. spinalis N. V äußert sich gelegentlich in Kälteparästhesien. ähnliche Schmerzen im Amputationsstumpf. Sie sind be-
Dysästhesie ist eine qualitative Veränderung der Empfindung sonders bei Wetterwechsel oder Bewegungen vorhanden. Die
von sensiblen Reizen. Kälte wird z.B. als Schmerz, Berührung Haut des Stumpfes ist schon gegen leichte Berührung über-
als Kribbeln empfunden. empfindlich.
Die meisten Amputierten haben längere Zeit nach der
Nervenschmerzen (Neuralgie) Amputation die lebhafte Empfindung, das fehlende Kör-
Lassen sich die Schmerzen einzelnen peripheren Nerven, Ner- perglied sei noch vorhanden. Sie können dieses Phantomglied
venplexus oder Wurzeln zuordnen, sprechen wir von Neural- oft frei und differenziert bewegen und erleben sogar Berüh-
gie. Der neuralgische Schmerz ist nicht ständig vorhanden, rungsreize daran, wenn das Phantom mit einem Hindernis
sondern tritt wellenförmig oder attackenweise auf. Er wird als in Kontakt kommt oder wenn eine andere Person es »anfasst«.
»hell«, reißend, ziehend, auch brennend empfunden und bleibt Häufig, aber keineswegs immer, blasst das Phantom im
meist auf das betroffene sensible Versorgungsareal begrenzt. Laufe der Jahre ab, während es sich gleichzeitig verkürzt,
Außer den spontanen bestehen auch Druck- oder Dehnungs- bis es ganz im Stumpf verschwindet (telescoping). Phantome
schmerzen der entsprechenden Nerven, nicht selten auch eine werden auch bei angeborenem Gliedmaßenmangel beobach-
umschriebene Hypästhesie (s.u.). In umschriebenen peri- tet. Sie können also nicht dadurch erklärt werden, dass dem
pheren oder segmentalen Versorgungsgebieten können Über- ZNS nach Amputation weiter sensible Reize aus dem Stumpf
empfindlichkeit für Berührungsreize (Hyperästhesie), für zufließen. Phantome sind Ausdruck einer Übererregbarkeit
Temperaturreize (Thermhyperästhesie) oder für Schmerzen der sensomotorischen Repräsentation der amputierten Kör-
(Hyperalgesie) auftreten. perglieder. In den Phantomen können hartnäckige und sehr
quälende Schmerzen erlebt werden. Dabei wird das Phantom-
Hyperpathie und Kausalgie glied fast immer als in einer verkrampften Stellung versteift
Als Allodynie (Hyperpathie) (griech. pathos, Leiden) bezeich- erlebt.
net man das Phänomen, dass schon leichte Berührungsreize Exkurs
einen äußerst unangenehmen, oft brennenden Schmerz auslö-
sen. Dieser setzt mit einer Latenz von wenigen Sekunden ein, 1.11.4 Sensible Ausfallsymptome
verstärkt sich nach Aussetzen des Reizes noch und breitet sich
auf benachbarte Hautareale aus. Eine Hyperpathie wird nach Oberflächensensibilität
partiellen peripheren Nervenverletzungen, bei Hinterstranglä- Klinisch werden Störungen der Empfindung exterozeptiver,
sion und bei Thalamusherden beobachtet. In dem betroffenen d.h. von außen auf die Haut treffender Stimuli als Störungen
Gebiet ist die Berührungsempfindung herabgesetzt. der Oberflächensensibilität zusammengefasst. Wenn jede
Kausalgie (griech. kausis, Brennen; griech. algos, Schmerz) sensible Wahrnehmung erloschen ist, spricht man von Anäs-
ist ein dumpf-brennender, schlecht abgrenzbarer, kaum er- thesie. Hypästhesien können die Berührungsempfindung (tak-
träglicher Schmerz, der schon in Ruhe besteht, aber mit Hy- tile Hypästhesie), die Temperaturempfindung (Thermhypästhe-
perpathie und Dysästhesie verbunden ist, d.h. sich nach leich- sie oder -anästhesie) oder die Verminderung oder Aufhebung
ten, sensiblen, aber auch sensorischen Reizen, bei affektiver der Schmerzempfindung (Hypalgesie, Analgesie) betreffen.

Exkurs
Chronischer Schmerz und zentrale Repräsentation
Ein umschriebener Schmerz wird nicht immer in der Periphe- Korrelat der Chronifizierung von Schmerzen ohne entspre-
rie ausgelöst und nach zentral geleitet, sondern kann auch chende fortbestehende periphere Läsion verstanden werden.
zentral »entstehen« und dann aufgrund der somatoto- Der Befund illustriert die Problematik der Behandlung des
pischen Gliederung des zentralen Systems umschrieben in chronischen Schmerzes und erklärt, warum dieser nicht auf
die Peripherie projiziert werden. Studien mit der funktio- die üblichen Analgetika anspricht. Dies muss auch berücksich-
nellen Kernspintomographie haben gezeigt, dass die Reprä- tigt werden, wenn man beim Versagen einer medikamentösen
sentation der betroffenen Gliedmaßen in der Hirnrinde bei Schmerztherapie chirurgische Maßnahmen zur Unterbrechung
chronischen Schmerzen vergrößert wird. Dies kann als ein der Schmerzleitung erwägt.
60 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Facharzt
1 Lokalisatorische Bedeutung der Sensibilitätsstörungen
Läsionen sensibler Nerven. Bei kompletten Läsionen be- turempfindung sind dagegen erhalten. Der Muskeltonus ist
steht Anästhesie für alle Qualitäten im Territorium des be- nicht herabgesetzt, und die Eigenreflexe sind nicht abge-
troffenen Nervens. Inkomplette Läsionen betreffen die ver- schwächt. Innerhalb der Hinterstrangbahn besteht eine
schiedenen Qualitäten unterschiedlich; Hypästhesie, Dys- somatotope Repräsentation. Dies gilt auch für die anderen
ästhesie und Neuralgie können die Folge sein. aufsteigenden Rückenmarksbahnen.

Läsionen gemischter peripherer Nerven. Gemischte peri- Spinothalamische Bahnen. Kontralateral tritt eine sog. disso-
phere Nerven haben sensible, motorische und vegetative ziierte Sensibilitätsstörung auf, d.h., Schmerz- und Tempera-
Anteile und Funktionen. Meist bestehen nebeneinander Reiz- turempfindung sind vermindert oder aufgehoben. Die Berüh-
und Ausfallsymptome sowie trophische Störungen, die auf rungsempfindung ist dagegen kaum gestört. Gelegentlich ist
das Versorgungsgebiet des betroffenen Nerven begrenzt sind. eine der beiden Qualitäten stärker als die andere betroffen.
Der Patient hat Parästhesien und spontane Schmerzen, der Die Patienten empfinden Schmerz- und Temperaturreize nur
Nerv ist empfindlich auf Dehnung und Druck. Die Sensibilität als Berührung. Sie können dabei aber, da die Hinterstränge
ist für alle Qualitäten etwa gleichmäßig herabgesetzt oder intakt sind, die Flächenausdehnung des Reizes gut erkennen
aufgehoben. Der zugehörige Eigenreflex ist erloschen, der und deshalb das spitze und stumpfe Ende der Nadel manch-
Muskeltonus ist schlaff. Häufig besteht gleichzeitig eine peri- mal nach der Größe des Stimulus unterscheiden.
phere Lähmung. Es gibt aber auch eine rein sensible Neuropa-
thie. An der Haut und an den Nägeln treten trophische Stö- Spinozerebellare Bahnen. Eine isolierte Schädigung kommt
rungen auf, Erwärmung zeigt eine Lähmung der Gefäßinner- praktisch nicht vor. Die Bahnen sind aber häufig bei Rücken-
vation (Vasodilatation) an. Im Gebiet der Sensibilitätsstörung marksläsion mitgeschädigt. Das einzige sichere Symptom ist
ist die Schweißsekretion herabgesetzt oder aufgehoben. die Hypotonie der Muskulatur.

Plexusschädigungen. Die Sensibilitätsstörungen und An- Hirnstamm. Rein sensible Hirnstammsymptome sind äußerst
hidrose betreffen mehrere Nerventerritorien, die sich aus der selten, da bei der engen Nachbarschaft von Hirnnervenkernen
anatomischen Zuordnung im Plexus ergeben (7 Kap. 31). und motorischen Projektionsbahnen Hirnstammherde fast
immer zu den kombinierten, häufig gekreuzten Syndromen
Spinale Wurzeln. Reizsymptome treten als segmentale, d.h. führen. Allerdings kommt auch im Hirnstamm eine dissoziierte
an den Gliedmaßen streifenförmige, am Rumpf gürtelför- Sensibilitätsstörung vor, was durch die Lokalisation der Kreu-
mige Schmerzen auf, die bei Dehnung der Wurzeln durch zung der Hinterstrangbahn in der unteren Medulla oblongata
Bewegungen und Erhöhung des spinalen Drucks (Husten, zustande kommt.
Pressen, Niesen) zunehmen. In den betroffenen Segmenten
können Hyperästhesie und Hyperalgesie bestehen. Diese Mittelhirn und Thalamus. In Mittelhirn und Thalamus ist die
Reizsymptome sind schwer von pseudoradikulären subjek- Sensibilität kontralateral repräsentiert, d.h. alle Bahnen haben
tiven Beschwerden bei wurzelnahen Knochen-, Gelenk- oder gekreuzt. Allerdings besteht hier eine somatotope und auch
Weichteilerkrankungen zu unterscheiden. qualitative Repräsentation. Der Thalamus enthält Kerne mit
Ausfallsymptome zeigen sich als segmentale (= radiku- sehr unterschiedlicher Funktion: solche mit subkortikalen
läre) Hypästhesie, in der Regel für alle Qualitäten. Oft besteht Verbindungen, sensible Projektionskerne und Assoziations-
Hyperpathie. Die Störung der sog. Tiefensensibilität führt zu kerne. Die erste und dritte Gruppe gehören zum unspezifi-
sensibler Ataxie, die Unterbrechung des monosynaptischen schen System, die zweite Gruppe empfängt spezifische Bah-
Reflexbogens zu Hypotonie und Areflexie der Muskulatur. nen und projiziert sie in die entsprechenden Regionen der
Großhirnrinde.
Hinterstränge. Reizsymptome äußern sich als ipsilaterale Die Projektionskerne empfangen Fasern aus dem Lem-
Parästhesien. Bei Ausfall dieser phylogenetisch jüngsten niscus medialis (Projektionen der Hinterstrangbahn), dem
unter den afferenten Bahnen ist die Berührungsempfindung Tr. spinothalamicus, den Basalganglien und aus dem Kleinhirn.
herabgesetzt. Die Lokalisation von taktilen Stimuli ist nur
ungenau möglich (Allästhesie = falsche Lokalisation), die Sensible Projektionsfelder der Hirnrinde. Die halbseitige
Diskrimination von zwei gleichzeitig gegebenen oder suk- Verteilung ist oft nur auf ein Körperglied beschränkt. Geführte
zessiven Reizen ist beeinträchtigt, die Vibrationsempfindung Bewegungen werden schlecht erkannt, im Gegensatz zur (fast)
verkürzt bis aufgehoben. Auf die Haut geschriebene Zahlen intakten Vibrationsempfindung. Es bestehen Störungen in der
und geführte Bewegungen können nicht mehr erkannt zeitlichen Diskrimination, manchmal Allästhesie. Durch die
werden. Das Tasterkennen ist gestört. Bei Prüfung der Zeige- sensible Störung ist die Feinmotorik erheblich beeinträchtigt
versuche, des Romberg-Versuchs, von Stand und Gang zeigt (Dysdiadochokinese). Schmerzen treten nicht auf.
sich eine sensible Ataxie, die Feinmotorik ist in den betrof-
fenen Extremitäten beeinträchtigt. Schmerz- und Tempera-
1.12 · Vegetative Funktionen
61 1
Tiefensensibilität optischer Kontrolle hat, langsame, unwillkürliche Beuge- und
Kann der Patient dagegen die Richtung geführter Bewegungen Streckbewegungen aus. Diese haben nur eine oberflächliche
nicht mehr angeben und ist er beim Stehen in Romberg-Stel- Ähnlichkeit mit extrapyramidalen Hyperkinesien. Das Phäno-
lung und bei Zielbewegungen ohne Augenkontrolle sensibel men beruht darauf, dass der tonische Fluss von zentrifugalen
ataktisch, spricht man von einer Störung der propriozeptiven Erregungen seiner propriozeptiven Kontrolle beraubt ist. Der
oder Tiefensensibilität. Ausfall dieser Kontrolle erklärt auch die Dysdiadochokinese bei
Wenn die Lagewahrnehmung erloschen ist, führt der Pati- Störungen der »Tiefensensibilität«.
ent häufig mit den Fingern und Zehen, solange er sie nicht unter

Facharzt
Thalamussyndrom 4 Spontane und auf leichte Berührung einsetzende Schmer-
Das klassische Thalamussyndrom entsteht durch Infarkte zen, die als brennend, stechend, schlecht lokalisierbar und in
im Territorium der A. thalamostriata oder A. thalamogenicu- ihrer Intensität als äußerst unangenehm beschrieben werden
lata oder durch Thalamusblutungen und hat folgende Symp- (Hyperpathie).
tome auf der Gegenseite: 4 Unwillkürliche Bewegungsunruhe, die an Choreoatheto-
4 Rasch vorübergehende Hemiparese mit Hypotonie se erinnert, und Ataxie bei Zielbewegungen. Beides beruht auf
der Muskulatur und nur geringen oder fehlenden Reflex- der erwähnten Störung der Lagewahrnehmung.
störungen. Die zentrale faziale Parese betrifft nur die 4 »Thalamushand«, die besonders beim Versuch deutlich
willkürlichen, nicht die emotionalen mimischen Bewegun- wird, die Hand zu strecken und die Finger zu spreizen. Die
gen. Finger sind im Grundgelenk gebeugt und in den Interphalan-
4 Herabsetzung der Empfindung, besonders für die sog. gealgelenken überstreckt. Sie zeigen eine Bewegungsunruhe.
Tiefensensibilität. Auch die zeitliche und räumliche Diskri- Wenn man die Hand auf eine feste Unterlage legt, gleicht sich
mination von taktilen Reizen ist beeinträchtigt (s.o.). Sofern die Fehlstellung aus, und die unwillkürlichen Bewegungen
die Berührungsempfindung betroffen ist, kann das Gesicht setzen aus, weil jetzt die sensible Korrektur nicht mehr bean-
ausgespart bleiben, weil die Trigeminusafferenzen eine sprucht wird.
eigene thalamische Repräsentation haben. 4 Homonyme Hemianopsie.

1.12 Vegetative Funktionen Komplexe Sensibilitätsstörungen


Eine Beeinträchtigung im Erkennen auf die Haut geschrie-
1.12.1 Aufbau des vegetativen Nervensystems bener Zahlen, in der Diskrimination von Sukzessivreizen
(zeitliches Auflösungsvermögen) und im Erkennen beidseits-
Das vegetative Nervensystem innerviert die glatte Muskulatur, simultaner taktiler Stimuli oder räumlicher Gegenstände
das Herz und die endokrinen Organe. Das vegetative Nerven- lässt sich nicht in dieses simplifizierende Schema von Ober-
system unterliegt keiner bewussten Steuerung, kann aber flächen- und Tiefensensibilität einordnen, da mehrere sensib-
durch zentrale Vorgänge unbewusst beeinflusst werden. Vege- le Qualitäten und kognitive Funktionen in diese Leistungen
tatives und somatisches Nervensystem sind komplementär. eingehen.
Ihre Steuerzentren in Hirnstamm und Zwischenhirn sind eng
miteinander verknüpft. Das periphere vegetative Nervensys- Untersuchungen bei Störungen der Trophik
tem besteht aus Sympathikus und Parasympathikus. Die Inner- Nägel, Haare, Haut und Gelenke können bei vegetativen In-
vierung der einzelnen Organe durch diese beiden Anteile des nervationsstörungen trophische Läsionen aufweisen. So
Nervensystems geht aus . Abbildung 1.49 hervor. Diese Abbil- wachsen die Fingernägel und Haare im betroffenen Gebiet
dung zeigt auch, dass der Parasympathikus zwei Zentren, ein langsamer und schlechter, und an den Nägeln können quer
medulläres und ein sakrales hat, während der Sympathikus aus verlaufende Störungen im Nagelaufbau beobachtet werden.
dem thorakalen Rückenmark entspringt. An der Haut zeigt sich eine Abflachung der Oberhautstruk-
tur, das Unterhautfettgewebe wird reduziert, die Haut insge-
samt glatt und glänzend. Verletzungen der Haut heilen
1.12.2 Vegetative Diagnostik schlechter, Ulzera können entstehen. Die Gelenke und an-
grenzenden Knochen können demineralisieren und arthro-
Die Prüfung der vegetativen Funktionen beschränkt sich bei tisch werden.
der Routineuntersuchung darauf, dass man den Patienten prä-
zise nach Störungen der Stuhl- und Urinentleerung (Retention, Untersuchungen bei Störungen des Schwitzens
Inkontinenz, verstärkter Entleerungsdrang), Männer nach Diese werden den Patienten meist nur bewusst, wenn eine
Erektionsstörungen und Ejakulationsproblemen befragt. Hyperhidrose (= vermehrtes Schwitzen) vorliegt. Bei einer
Anhidrose ist die Haut warm und trocken, oft schuppig und
gerötet. Gleichzeitig ist das reflektorische Aufstellen der Haare
(Piloarrektion) nach Bestreichen der Haut gestört.
62 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

. Abb. 1.49. Aufbau des peripheren vegetativen Nervensystems. drüsen und der Mm. arrectores pilorum ist nicht aufgeführt. (Nach
Fette Linien: präganglionäre Axone; am Ende blasse Linien: postgang- Schmidt u. Thews 1995)
lionäre Axone. Die sympathische Innervation von Gefäßen, Schweiß-

. Abb. 1.51. Hyp- bis Anhidrose der rechten Fußsohle durch lym-
phogranulomatöse Infiltration des rechten lumbalen Grenz-
strangs. (Nach Schliack u. Schiffter 1971)

. Abb. 1.50. Überträgerstoffe und die entsprechenden Rezep-


toren im peripheren Sympathikus und Parasympathikus. (Nach
Schmidt u. Thews 1995)
1.12 · Vegetative Funktionen
63 1
Exkurs
Funktionelle Anatomie des vegetativen Nervensystems
Beiden Anteilen des vegetativen Nervensystems ist gemein- thischen Ganglien, in denen dann die Umschaltung von prä-
sam, dass sie einen zentralen (1. Neuron, z.B. zentrale Sympa- auf postsynaptische Fasern erfolgt, liegen in der Nähe der
thikusbahn, Vaguskern und -fasern), einen präganglionären Erfolgsorgane oder in den Erfolgsorganen selbst (intramurale
(2. Neuron) und postganglionären (3. Neuron) Anteil haben. Ganglien).
Der Übergang vom präganglionären auf den postganglio- Die Funktion der beiden Anteile des peripheren vegeta-
nären Anteil ist in beiden Systemen cholinerg (nikotinartige tiven Nervensystems ist gegensätzlich:
cholinerge Wirkung), während die Übertragung vom post- 4 Am Herzen sorgt der Parasympathikus für eine Abnahme
ganglionären Neuron auf die Effektoren im Sympathikus der Herzfrequenz, der Sympathikus für eine Zunahme von
adrenerg und im Parasympathikus cholinerg (muskarinartige Herzfrequenz und Kontraktionskraft.
Wirkung) ist (. Abb. 1.50). Anatomisch liegen die Zellen des 4 An der Pupille führt Reizung des Sympathikus zur Kontrak-
präganglionären Neurons des Sympathikus im Brust- und tion des M. dilatator pupillae (Mydriasis), Parasympathikusrei-
oberen Lendenmark. Sie verlassen das Rückenmark mit den zung zur Kontraktion des M. sphincter pupillae und damit zur
Vorderwurzeln und erreichen als Rr. communicantes albi die Miosis. Daher entsteht bei Ausfall des Sympathikus ein rela-
postganglionären Neurone im paravertebralen Grenzstrang. tives Überwiegen des Parasympathikus und eine Miosis.
Dieser befindet sich beidseits neben der Wirbelsäule und 4 An der Harnblase aktiviert der Parasympathikus den
erstreckt sich von der Schädelbasis bis nach lumbo- M. detrusor vesicae, der Sympathikus die interne Sphinkter-
sakral. Aus den Grenzstrangganglien ziehen die postgang- muskulatur. Für die Miktion ist daher die Synergie von
lionären sympathischen Fasern zu den sensomotorischen Parasympathikusaktivierung und Sympathikusinaktivierung
Nervenplexus, deren Verlauf sie folgen. In einigen Fällen erforderlich.
bilden sie auch eigene periphere Nerven aus, die dann ihre 4 Bei den Blutgefäßen sind die Verhältnisse etwas anders:
Zielorgane erreichen. An den peripheren Arterien hat der Parasympathikus praktisch
Die Zellkörper des Parasympathikus liegen im keine Einflussnahme, dagegen ist hier die Unterscheidung
Hirnstamm (Vaguskerngebiet) und im Sakralmark. Die zwischen sympathischen Alpha- und Betarezeptoren von
präganglionären parasympathischen Fasern verlassen besonderer Bedeutung: Aktivierung der Alpha-1-Rezeptoren
Hirnstamm und Sakralmark und ziehen zu ihren Erfolgsor- führt zur Vasokonstriktion in Haut, Muskulatur und am Herzen,
ganen. Die präganglionäre parasympathische Versorgung Stimulation der Beta-2-Rezeptoren zur Vasodilatation. Weitere
der Organe des Brustraums und des Bauchraums erfolgt Details der Physiologie des vegetativen (autonomen) Nerven-
über den N. vagus. Parasympathische Fasern zu den Becken- systems müssen den Lehrbüchern der Physiologie entnom-
organen stammen aus dem Sakralmark. Die parasympa- men werden.

Facharzt

Ninhydrintest
Hände und Füße, aber auch das Gesicht, werden besser mit oder die Stirn auf je einen normalen Bogen Schreibmaschinen-
dem Ninhydrintest untersucht, der Störungen der spontanen papier. Der Papierbogen wird dann mit einer Lösung von 1%
Schweißsekretion im Versorgungsgebiet peripherer Nerven Ninhydrin in Aceton getränkt, die unmittelbar vor der Untersu-
(. Abb. 1.51) oder des zervikalen Grenzstrangs an der Stirn chung mit einigen Tropfen Eisessig versetzt worden ist. Im
zuverlässig nachweist. Da die sympathischen Fasern zu den Anschluss an die Befeuchtung wird der Bogen 2–3 min lang
Schweißdrüsen der Hände und Füße erst vom Plexus brachi- bei 110 °C im Heißluftsterilisator erwärmt.
alis und lumbosacralis an mit den peripheren Nerven verlau- Vom thermoregulatorischen muss das pharmakologisch –
fen, erlauben Einschränkung oder Ausfall der Schweißsekre- z.B. durch Pilocarpin – ausgelöste Schwitzen getrennt werden.
tion in einem umschriebenen Areal eine periphere Nerven- Bei dieser Prüfung werden ausschließlich die Störungen er-
schädigung von einer Wurzelläsion zu unterscheiden. Nin- fasst, die durch Grenzstrangläsionen oder weiter distal liegen-
hydrin färbt bestimmte Aminosäuren im menschlichen de periphere Nervenläsionen entstanden sind. Es wird durch
Schweiß violett an. So kann man anhidrotische Bezirke von s.c.-Injektion von 0,01 g Pilocarpin (= 1 ml einer 1%igen Pilo-
solchen mit normaler Schweißsekretion gut unterscheiden. carpinlösung) provoziert. Pilocarpin greift direkt an den post-
Zur Durchführung des Versuchs drückt der Patient beide ganglionären Fasern zu den Schweißdrüsen an.
Handflächen, beide Fußsohlen, die Fußrücken (in Bauchlage)

Wenn Störungen der Schweißsekretion in umschriebenen 1.12.3 Blasenfunktionsstörungen


Körperregionen nachgewiesen werden sollen, ist das einfache
Beobachten und Betasten der Haut nicht zuverlässig genug. Die neurologisch bedingten Blasenfunktionsstörungen sind
Der Ninhydrintest erlaubt eine objektive Erfassung von um- bei Rückenmarkkrankheiten besonders häufig. Sie können
schriebenen Störungen des Schwitzens. auch bei Krankheiten des Gehirns (z.B. Demenz, Parkinson,
64 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Hydrocephalus communicans) und bei Polyneuropathien auf- auf Dehnungsreize unterbrochen ist, tritt mit zunehmender
1 treten. Füllung eine Überdehnung der Wandmuskulatur ein. Wenn
der Blasendruck den Harnröhrenverschlussdruck überschrei-
Störungen der Blasenentleerung bei neurologischen tet, resultiert Inkontinenz (Überlaufblase). Aus dieser schlaf-
Krankheiten fen Blase des akuten Stadiums können zwei Formen von Bla-
Schockblase. Bei akuten Querschnittsverletzungen oder ande- senfunktionsstörungen entstehen: die hyperaktive und die
ren Krankheiten des Zentralnervensystems kommt es neben hypoaktive Blase (Detrusorhyper- und -hyporeflexie). Beide
der Paralyse aller glatten und quergestreiften Muskeln und Schädigungsformen können wieder in eine normoaktive Blase
Areflexie auch zu einer Wandlähmung der Blase (Schockbla- ausheilen. Der Heilungsverlauf kann aber auch in jeder der
se). Da der Reflexbogen für die Reaktion der Harnblasenwand beiden Phasen zum Stillstand kommen oder in eine Blasen-

Exkurs
Anatomie und Physiologie der Blasenentleerung Der normale Miktionsvorgang
Im muskulären Apparat des unteren Harntrakts unterschei- Nach urodynamischen, elektrophysiologischen und neuro-
den wir zwei funktionelle Einheiten: pharmakologischen Untersuchungen wird heute folgende
4 die Blase, deren glatte Muskulatur als M. detrusor vesi- Auffassung über die neurale Kontrolle von Blasenfüllung und
cae bezeichnet wird, -entleerung vertreten:
4 das Verschlusssystem der Blase mit Blasenhals, Harnröh- 4 In der Füllungsphase muss der intravesikale Druck niedrig
renmuskulatur und muskulärem Beckenboden. sein, damit ein ungehinderter Urinabfluss aus den Nieren
erfolgt. Dies wird bis zum Erreichen des ersten Harndrangs
Die Blase hat eine parasympathische, eine sympathische durch die viskoelastischen Eigenschaften des Detrusors ge-
und eine somatische (willkürmotorische) Innervation währleistet, dessen Zellen bis auf das Vierfache ihrer ursprüng-
(. Abb. 1.52). lichen Länge gedehnt werden können. An der Verhinderung
Die parasympathische Innervation des M. detrusor einer Detrusorkontraktion bis zum Erreichen der maximalen
erfolgt über parasympathische Efferenzen (1, 2), deren zen- Blasenkapazität sind dann verschiedene Ebenen des Nerven-
trale Ganglien den (somatischen) Vorderhornzellen des systems beteiligt.
N. pudendus eng benachbart sind und die aus dem 2.– 4 Von den Hemisphären (Gyrus frontalis superior und Basal-
4. Sakralsegment stammen. Als N. pelvicus ziehen die prä- ganglien) wird sowohl bewusst als auch unbewusst das pon-
ganglionären parasympathischen Neurone zum Plexus pel- tine Miktionszentrum der Formatio reticularis kontrolliert. In
vicus, von wo sie zur Blasenwand gelangen. Präganglionäre der Peripherie beeinflusst die zunehmende Stimulierung von
sympathische Efferenzen (4) entspringen den spinalen Dehnungsrezeptoren sakrale Interneurone und bewirkt damit
Segmenten Th11–L2, durchlaufen den Grenzstrang und bil- eine rückläufige Hemmung der Detrusormotoneurone. Außer-
den dann den N. hypogastricus. Von diesem ziehen Äste dem führen sympathische, afferente Signale zu einer Zunahme
zum N. pelvicus und bilden mit diesem den Plexus pelvicus präganglionärer sympathischer Aktivität, die eine Entspan-
(Ggl. hypogastricum). Postganglionäre sympathische nung des Detrusors bewirkt. Der sympathische Aktivitätsan-
Fasern innervieren vor allem die Blasenhalsregion. Post- stieg führt gleichzeitig zu einem Verschluss des Blasenhalses
ganglionärer Neurotransmitter der parasympathischen Ner- und gewährleistet mit tonischer Aktivität des externen Sphink-
ven ist Acetylcholin, das an muskarinergen Rezeptoren an- ters Kontinenz in der Füllungsphase.
greift, die vorzugsweise im Bereich des Blasenkörpers liegen. 4 Wenn die Blase voll ist, wird ein spinobulbospinaler Reflex,
Der postganglionäre Transmitter der sympathischen Nerven der unter Kontrolle des Großhirns steht, geschaltet. Abstei-
ist Noradrenalin, das α- und β-adrenerge Rezeptoren stimu- gende spinale Bahnen, die ihren Ursprung im Kortex, aber
liert. β-adrenerge Rezeptoren liegen überwiegend im Be- auch in der Medulla haben, lassen die quer gestreifte Becken-
reich des Blasendoms und bewirken eine geringe Erschlaf- bodenmuskulatur erschlaffen. Dies ermöglicht eine koordi-
fung der Blasenwand, während α-Rezeptoren überwiegend nierte Blasenentleerung mit Detrusortonusanstieg durch
im Trigonum, im Blasenhals und in der Prostata lokalisiert zunehmende parasympathische Aktivität und Blockierung des
sind und dort eine Kontraktion hervorrufen. sympathischen Systems mit aktiver Öffnung des Blasenhalses.
Der quer gestreifte äußere Harnröhrensphinkter 4 Die restharnfreie Miktion wird dann durch das sakrale
(M. sphincter urethrae externus) und die Beckenbodenmus- Miktionszentrum geregelt.
kulatur werden vom somatischen N. pudendus (3) versorgt. 4 Jeder Gesunde kann die Miktion willkürlich unterbrechen.
Hierbei werden, ausgehend vom Lobulus paracentralis, Impul-
Sensible Innervierung. Sensible Impulse stammen aus se über die Pyramidenbahn auf den Nucl. pudendus geschal-
Dehnungs- und Schmerzreizen der Blase und werden sowohl tet und die periurethrale Schließmuskulatur über den N. pu-
über den N. pelvicus als auch über den N. hypogastricus dendus aktiviert.
geleitet. Auch der N. pudendus hat afferente Funktionen und
leitet Signale aus der Harnröhre, die das Gefühl für Harnfluss
vermitteln, sowie propriozeptive Impulse aus der Beckenbo-
denmuskulatur.
1.12 · Vegetative Funktionen
65 1
Autonome Blase. Sitzt die Läsion in Höhe des sakralen Mikti-
onszentrums oder darunter (tiefe Kauda- oder Konusläsion),
entsteht eine schlaffe Blasenlähmung (Detrusorarreflexie). In-
takt gebliebene Ganglienzellen in der Blasenwand können bei
einem bestimmten Füllungszustand in seltenen Fällen
schwache Detrusorkontraktionen auslösen (sog. autonome
Blase). Eine ausreichende Blasenentleerung ist hierdurch aber
nicht gewährleistet. Wie bei der Detrusor-Sphinkter-Dyssy-
nergiearreflexie, resultiert ein stark erhöhter Restharn bei
großer Blasenkapazität.
Läsionen des Sakralmarks oder der tieferen Sakralwurzeln
führen außerdem zu einer elektromyographisch nachweis-
baren Denervierung der quer gestreiften Sphinkter- und Be-
ckenbodenmuskulatur.

Frontale Blasenstörung. Läsionen des frontalen Blasenzent-


rums beeinflussen vor allem die Unterdrückung des Miktions-
reflexes. So erklären sich die Pollakisurie und die Dranginkon-
tinenz bei Parkinson-Syndrom und Hydrocephalus communi-
cans.

Therapieansätze
Man unterscheidet 3 Gruppen von Pharmaka:
1. Pharmaka mit anticholinerger oder direkter hemmender
Wirkung auf die Blasenmuskulatur,
2. Pharmaka mit cholinerger Wirkung auf die Blasenmusku-
latur und
3. Pharmaka mit hemmender Wirkung auf die α-Rezep-
. Abb. 1.52. Zentrale und periphere Innervation der Blase. Erläu- toren.
terungen s. Text. (Nach Möbius et al. 1990)
Eine direkt hemmende Wirkung auf die Blasenmuskulatur hat
vor allem Oxybutynin (Dridase®), eine tertiäre Aminosäure,
starre mit irreversiblem Defekt der Blasenfunktion (Detrusor- die mit Erfolg bei ungehemmten Detrusorkontraktionen mit
Akontraktilität) einmünden. Pollakisurie und Dranginkontinenz eingesetzt wird. Parasym-
pathomimetika, z.B. Carbachol (Doryl®), haben ihre Indikati-
Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie. Nach Schädigung der auf- on, wie α-Rezeptorenblocker, überwiegend in der Behandlung
und absteigenden Bahnen im Rückenmark unterhalb des einer postoperativen Blasenschwäche. Bei oraler Gabe sind sie
pontinen und oberhalb des sakralen Miktionszentrums (also unwirksam und zur Langzeitbehandlung einer Detrusorhypo-
oberhalb von Th12) kommt es, insbesondere nach trauma- reflexie oder -arreflexie nicht geeignet.
tischen Querschnittsläsionen, zu einer Blasenfunktionsstö- Therapie der Wahl bleibt bei allen neurogenen Blasenent-
rung, die als Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie bezeichnet leerungsstörungen mit erhöhtem Restharn der intermittieren-
wird. Sie stellt auch bei Patienten mit fortgeschrittener mul- de Katheterismus, der bereits im Stadium der Schockblase
tipler Sklerose die häufigste Blasendysfunktion dar und ist angewandt und, wenn möglich, vom Patienten im weiteren
eine Kombination aus Detrusorhyperreflexie mit einer unzu- Verlauf in eigener Regie (Selbstkatheterismus) durchgeführt
reichenden Erschlaffung (Spastik) des äußeren Schließmus- werden sollte.
kels. Auf Dehnungsreize kommt es bereits bei niedrigem Fül-
lungsvolumen zu ungehemmten Detrusorkontraktionen (Re-
flexblase). Da der externe Blasensphinkter dabei nicht rela- 1.12.4 Sexualfunktionsstörungen
xiert oder sich sogar unwillkürlich anspannt, resultieren er-
höhte Restharnmengen mit der Gefahr rezidivierender Harn- Bei Störungen der Sexualfunktion ist das Zusammenspiel
wegsinfekte und einer fortschreitenden Nierenparenchym- zentraler (limbischer), spinaler und peripherer Vorgänge
schädigung. Dass sensible Reize aller Art bei diesen Patienten besonders bedeutsam. Störungen der Erektion und Eja-
unwillkürliche (reflektorische) Miktionen auslösen, macht kulation werden oft nicht spontan angegeben und müssen
man sich therapeutisch zunutze. So kann ein Teil der Patien- speziell erfragt werden. Sexualfunktionsstörungen bei der
ten, die häufig weder Harndrang noch Gefühl für den Harn- Frau werden auch auf Befragen deutlich seltener berichtet.
abgang haben, durch intermittierendes suprapubisches Be- Hypersexualität kommt bei manchen degenerativen Hirn-
klopfen die Blase fast restharnfrei entleeren (sog. balancierte krankheiten (M. Pick, 7 Kap. 25) oder bei bilateralen Tem-
Reflexblase). porallappenläsionen vor. Viel häufiger ist die Abschwächung
66 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

der Sexualfunktion. Psychisch bedingte Störungen sind liche Erektionen (Erektion im Schlaf 3- bis 4-mal pro Nacht,
1 häufig. Gesamtdauer bis über 30 min) auftreten, eine Erektion bei Se-
xualkontakt jedoch ausbleibt.
Erektionsstörungen Eng mit Störungen der Sexualfunktionen verbunden
Sie können somatisch und psychisch bedingt sein. Eine ein- sind Störungen des Sexualtriebs (Libidoverlust), die ebenfalls
fache Unterscheidung ist möglich, wenn unbewusste, nächt- oft eine psychische Ursache haben. Lumbalmark-, Kauda- und

Exkurs
Funktionelle Anatomie der Schweißsekretion
Die Schweißsekretion ist eine cholinerge Funktion, obwohl das periphere sympathische Neuron umgeschaltet und errei-
sie über das sympathische Nervensystem vermittelt wird. chen dann als R. communicans griseus den peripheren Ner-
Aus dem Hypothalamus, der Einflüsse von der Hirnrinde, ven, dem sie folgen. Daraus folgt, dass jede einzelne sympa-
speziell vom limbischen System, erhält, verläuft eine abstei- thische Wurzel mehrere somatische Segmente versorgt. Der
gende hypothalamoretikuläre Bahn über die Formatio reticu- Grenzstrang übt dabei eine Verteilerfunktion aus. Die Organi-
laris zum Rückenmark. Sie kreuzt bereits in der Höhe des sation der radikulären sympathischen Innervation im Unter-
Subthalamus. Im Rückenmark findet sich die spinale vegeta- schied zu der differenzierter gegliederten segmentalen soma-
tive Repräsentation in den Seitenhörnern der Segmente C8 tischen Innervation zeigt . Abbildung 1.53.
bis L2, wo die zentrale sympathische Bahn synaptisch um- Die sudorimotorische Innervation für das Gesicht stammt
schaltet. aus den Segmenten Th2–3, verläuft danach über die Wurzel
Für die Innervation der Schweißdrüsen und der Piloar- Th3, den Halsgrenzstrang und das sympathische Geflecht der
rektoren des ganzen Körpers, einschließlich des Gesichts, A. carotis und gesellt sich dann den peripheren Trigeminus-
verlassen die sympathischen Fasern das Rückenmark als ästen zu. In der Körperperipherie laufen die sympathischen
Rr. communicantes albi mit den somatischen Vorderwurzeln Nerven mit den somatischen, deshalb stimmt die periphere
in Höhe der Segmente Th3 bis L2, werden im Grenzstrang auf sympathische mit der somatischen Innervation überein.

. Abb. 1.53a,b. Repräsentation des Sympa-


thikus. a Spinale Segmente mit Einzeichnung
der spinalen vegetativen Repräsentation.
(nach Schliack 1969), b Sensible Dermatome,
darauf projiziert schematische Darstellung der
metameren Gliederung der vegetativen Effe-
renzen am Beispiel der Schweißdrüseninner-
vation. (Aus Mumenthaler u. Schliack 1965).
Dunkelblau: Versorgung aus Th2/3 bis Th4;
blau: Versorgung aus Th5 bis Th7; hellblau: Ver-
sorgung aus Th8 bis L2/3

a b
1.12 · Vegetative Funktionen
67 1
Konusläsionen führen beim Mann zur erektilen Impotenz ist z.B. beim Wallenberg-Syndrom der Fall, aber auch bei
und zusätzlich zum Verlust der Ejakulationsfähigkeit. Beide Querschnittsläsionen des Rückenmarks oberhalb von L2.
Funktionen unterliegen komplexen sympathischen und para- Das pharmakologisch ausgelöste Schwitzen bleibt dagegen
sympathischen Innervationen, die hier nicht im Einzelnen in der Körperperipherie erhalten und kann manchmal sogar
besprochen werden. gesteigert sein. Kontralateral bzw. oberhalb der Läsion kann
Nach Querschnittslähmung können Erektion und Ejaku- eine spontane kompensatorische Hyperhidrose beobachtet
lation reflektorisch ablaufen. Besonders häufig sind Erektions- werden. Da die efferenten sympathischen Fasern für die Sudo-
störungen bei diabetischer Polyneuropathie, vermutlich als rimotorik des ganzen Körpers erst ab Th3 das Rückenmark
Folge einer Neuropathie auch autonomer Nervenfasern oder verlassen, heben komplette Querschnittsläsionen in Th3 oder
der diabetischen Vaskulopathie. Zur Abklärung erektiler Funk- darüber das thermoregulatorische Schwitzen am ganzen Kör-
tionsstörungen empfiehlt sich die Konsultation bei einem An- per auf.
drologen.
Periphere Läsionen
4 Schädigungen einzelner Spinalwurzeln: Schädigungen
1.12.5 Störungen der Schweißsekretion einzelner Spinalwurzeln bleiben wegen der großen Überlap-
und Piloarrektion pung der vegetativen Innervation ohne Schweißsekretionsstö-
rung. Da die sudorisekretorischen Fasern das Rückenmark erst
Temperaturregulation ab Th3, also unterhalb des Abgangs der pupillomotorischen
Die Temperaturregulation wird hypothalamisch gesteuert. Fasern (C8–Th2) verlassen, bleibt ein Horner-Syndrom durch
Hier ist ein Sollwert vorgegeben, der unter bestimmten Um- Läsion der präganglionären sympathischen Fasern oft ohne
ständen verstellt werden kann und dann Veränderungen der Schweißstörung. Anhidrose ohne Horner-Syndrom beruht auf
Temperatur hervorruft, z.B. Fieber. Gesteuert wird die Tempe- einer Läsion unterhalb des Ggl. stellatum. Ohne Schweißstö-
ratur afferent über Impulse von Temperaturrezeptoren und rung bleiben auch Syndrome von Seiten der Wurzeln C4–C8,
efferent über ganz unterschiedliche vegetative und somatomo- weil diese Wurzeln keine sudorisekretorischen Fasern führen.
torische Wege, wie z.B. Weitstellung der Gefäße in der Periphe- Das Gleiche gilt für Läsionen unterhalb von L3. Eine Lähmung
rie, Stimulation oder Hemmung von Schweißdrüsensekretion, der Cauda equina führt nicht zu Anhidrose der Beine und
motorische Impulse, die zu Muskelzittern führen. So dienen Füße (Begründung s.o.).
Schüttelfrost und Engstellung der peripheren Gefäße der Tem- 4 Grenzstrangläsionen: Bei Grenzstrangläsionen findet
peraturerhöhung und bedingen hierdurch das Fieber (sind also man Schweißstörungen in den abhängigen Körperregionen.
keine Komplikation des Fiebers), Schwitzen und warme, rote Andere neurologische Ausfälle müssen dabei nicht vorliegen.
Haut durch Gefäßerweiterung senken das Fieber über Ver- Grenzstrangläsionen in Höhe des Ggl. cervicale superius füh-
dunstung und den vermehrten Wärmeaustausch der stärker ren zur Anhidrose von Gesicht und Hals (Nachweis mit Nin-
durchbluteten Haut. hydrintest, 7 Kap. 1.12.2) mit postganglionärem Horner-Syn-
drom. Läsionen des Ggl. cervicale inferius (Ggl. stellatum)
Arten des Schwitzens führen zur Anhidrose bis zum Versorgungsgebiet des soma-
4 Thermoregulatorisches Schwitzen: Es wird durch Erhö- tischen Segments Th2 mit präganglionärem, peripheren Hor-
hung der Körper- und damit der Bluttemperatur ausgelöst und ner-Syndrom. Grenzstrangläsionen darunter führen nur zu
vom Zwischenhirn über das sympathische Nervensystem gesteu- Schweißsekretionsstörungen, nicht zum Horner-Syndrom.
ert. Handflächen und Fußsohlen bleiben dabei meist trocken. Grenzstrangläsionen zwischen Th2 und Th7 lassen die Schweiß-
4 Emotional ausgelöstes Schwitzen: Es tritt besonders, sekretion im Gesicht, am Hals, am Arm und in der Achselhöh-
wenn auch nicht ausschließlich, an Handflächen und Fußsoh- le erlöschen.
len auf und wird ebenfalls vom zentralen Anteil des sympa- 4 Läsionen des Plexus brachialis oder lumbosacralis sowie
thischen Nervensystems ausgelöst. der peripheren Nerven: Läsionen des Plexus brachialis oder
4 Pharmakologisch ausgelöstes Schwitzen: Es wird durch lumbosacralis führen neben motorischen und sensiblen Aus-
s.c.-Injektion von Pilocarpin provoziert. fällen zur kompletten, d.h. thermoregulatorischen und phar-
makologischen Anhidrose in den betroffenen Versorgungsge-
Störungen der Schweißsekretion bieten. Dasselbe gilt für Schädigungen peripherer Nerven.
Läsionen des zentralen sympathischen Systems führen zum
Ausfall des thermoregulatorischen Schwitzens, während das
pharmakologisch ausgelöste erhalten bleibt. Läsionen des pe- 1.12.6 Störungen der Herzkreislaufregulation
ripheren sympathischen Systems lassen alle Formen der und der Atmung
Schweißsekretion erlöschen.
Herzrhythmus und Blutdruck sind zentral gesteuert. In der
Zentrale Schweißsekretionstörungen. Läsionen der zentra- pontomedullären Formatio reticularis werden der Blutdruck
len sympathischen Bahnen vom Zwischenhirn bis zum Rü- und der periphere Gefäßwiderstand reguliert. Sympathische
ckenmark haben, wenn sie einseitig sind, eine halbseitige, ip- und parasympathische Bahnen aus dem Hirnstamm und aus
silaterale Beeinträchtigung des thermoregulatorischen dem Kerngebiet des N. vagus steuern die Herztätigkeit. Über-
Schwitzens in den abhängigen Körperpartien zur Folge. Dies geordnete Zentren sind der Hypothalamus und der insuläre
68 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

Exkurs
1 Geschmacksschwitzen
Ein interessantes Reizsymptom des Sympathikus ist das sog. Umständen löst jeder Geschmacksreiz, selbst Trinken von
Geschmacksschwitzen. Schon beim Gesunden tritt beim Wasser oder »Leerschlucken« innerhalb weniger Sekunden
Essen besonders würziger oder heißer Speisen ein diffuses einen umschriebenen Schweißausbruch im Versorgungsgebiet
Schwitzen auf, besonders im Gesicht. Das Schwitzen kann des N. aurikulotemporalis aus, der nach Aussetzen des Stimu-
durch Atropin unterdrückt werden. Unter pathologischen lus sofort wieder aufhört.

Kortex. Deutlich werden diese Zusammenhänge, wenn man 4 Auf welcher Höhe ist es in seiner Längsausdehnung be-
die vegetativen Entgleisungen beim erhöhten Hirndruck (Puls- troffen?
verlangsamung, Blutdruckanstieg) und die Herzrhythmusstö-
rungen (und EKG-Veränderungen) nach Subarachnoidalblu- Anatomie des Rückenmarks
tungen, Hirninfarkten oder Hirnblutungen betrachtet. Das Grundprinzip des Bauplans des Rückenmarks ist auf jeder
Noch wichtiger ist die Steuerung der Atemtätigkeit, die – Höhe gleich: die zentrale »Schmetterlingsfigur« der grauen Subs-
obwohl willkürmotorisch kontrollierbar – eng mit der vegeta- tanz, um die sich die äußere Zone der weißen Substanz legt. Im
tiven Regulation des Herzens verbunden ist (z.B. respiratorische Rückenmarksgrau unterscheiden wir die Zellkomplexe des mo-
Arrhythmie). Das pontine respiratorische Zentrum mit alter- torischen Vorderhorns und des sensiblen Hinterhorns, im Brust-
nierend-rhythmisch feuernden Steuerneuronen für Inspiration mark ist durch vegetative Ganglienzellen auch ein Seitenhorn
und Exspiration wird durch übergeordnete kortikale, aber auch ausgebildet. Vorder- und Hinterhörner beider Seiten sind durch
vegetative und limbische Zentren kontrolliert und in seiner Kommissurenfasern miteinander verbunden, die den Zentralka-
Tätigkeit moduliert. Beispiele sind die Steuerung von In- und nal umgeben.
Exspiration beim Sprechen oder die Erhöhung der Atemfre- Die markhaltigen Fasern der weißen Substanz sind in zwei
quenz bei Angst, Unruhe und Aufregung. Pathologische Atem- große Stranggebiete unterteilt: die Hinterstränge und die Vor-
muster werden in Kap. 2.14 detailliert beschrieben. derseitenstränge. Die wichtigsten Bahnen sind in den vorange-
Zusammen mit Störungen im Elektrolythaushalt (inadä- gangenen Kapiteln bereits besprochen. . Abbildung 1.54 gibt
quate Diurese, Natriumverlust) können diese kardialen Kom- noch einmal eine zusammenfassende Darstellung.
plikationen die Krankheitsprognose beeinträchtigen. Aus diesen anatomischen Verhältnissen lassen sich vier
verschiedene Formen einer Querschnittsschädigung des Rü-
ckenmarks ableiten: Querschnittslähmung, Brown-Séquard-
1.12.7 Störungen der Pupillomotorik Syndrom, zentrale Rückenmarkschädigung, Hinterstrangläsi-
on und Konus-Kauda-Syndrom.
Obwohl auch die Innervation der Pupille vegetativ ist, haben
wir die Untersuchung der Pupillenfunktion mit der Besprechung
der Okulomotorik und der Hirnnerven zusammengefasst 1.13.1 Querschnittslähmung
(7 Kap. 1.2.3).
Als Querschnittslähmung bezeichnen wir ein Syndrom, bei
dem alle Strukturen des Rückenmarks auf einer Höhe geschä-
1.13 Rückenmarkssyndrome digt sind. Bei kompletter Querschnittslähmung ist die zentrale
Steuerung aller Funktionen des Rückenmarks unterhalb der
Bei der Lokaldiagnose von Rückenmarksprozessen stellen sich Läsion aufgehoben, bei inkompletter ist sie teilweise erhalten.
zwei Fragen:
4 Welcher Teil des Rückenmarks ist im Querschnitt geschä- 3Symptomatik. Klinisch findet man bei der kompletten
digt? Querschnittsläsion eine doppelseitige zentrale Lähmung mit

. Abb. 1.54. Rückenmarksquerschnitt in


Höhe des Halsmarks. Darstellung der
somatotopischen Anordnung der spinalen
Projektionsbahnen auf zervikaler Höhe
1.13 · Rückenmarkssyndrome
69 1
Exkurs
Spinale Automatismen
Bei vollständiger und auch bei partieller Querschnittsläh- Laufbewegungen der Beine aus. Diese spinalen Automatis-
mung des Rückenmarks werden Querverbindungen zwi- men werden leicht mit Willkürbewegungen verwechselt.
schen sensiblen oder autonomen und motorischen Bahnen Tatsächlich entstehen sie rein reflektorisch. Deshalb ist ihre
beider Seiten aktiviert. Exterozeptive Stimuli, z.B. Berüh- Bezeichnung als Automatismen nicht korrekt. Sie sind als
rungen, Lagewechsel der Gliedmaßen, aber auch entero- Rückschritt auf phylogenetisch und ontogenetisch frühe
zeptive Reize (Blasenfüllung) unterhalb der Läsion lösen Bewegungsformen aufzufassen, die im Rückenmark organi-
über diese Verbindungen Beugesynergien oder gekreuzte siert sind, beim Menschen im Laufe der Zerebralisation aber
Beuge- und Strecksynergien, manchmal auch automatische unterdrückt wurden.

einer Sensibilitätsstörung für alle Qualitäten und vegetativen


Störungen (Harn- und Stuhlverhaltung). Bei Herden im obe-
ren Brustmark kann es durch Lähmung der zentralen parasym-
pathischen Fasern für den Splanchnikus zum paralytischen
Ileus kommen. In den Hautbezirken unterhalb der Läsion ist
das spontane Schwitzen aufgehoben (thermoregulatorische
Anhidrosis). Das Querschnittssyndrom hat gewöhnlich eine
deutliche obere Grenze, die die segmentale Höhe der Läsion
anzeigt (Näheres s.u.). Darüber findet man häufig als Reiz-
symptom eine hyperalgetische Zone, die ein oder zwei Seg-
mente breit ist.
Setzt eine Querschnittslähmung plötzlich ein, etwa durch
Zusammenbruch eines Wirbels oder akute Mangeldurchblu-
tung des Rückenmarks, kommt es zum spinalen Schock. Dabei
ist die motorische Lähmung komplett, der Muskeltonus schlaff,
die Eigenreflexe sind erloschen. Das Syndrom gestattet keine
Schlüsse auf die Ursache und Schwere der Rückenmarkschädi-
gung oder die Prognose. Erst wenn die Lähmung über Wochen
komplett und im Tonus schlaff bleibt, sind die Aussichten für . Abb. 1.55. Schema zur Erläuterung des Brown-Séquard-Halb-
eine Restitution besonders ungünstig. In der Mehrzahl der Fäl- seitensyndroms des Rückenmarks
le wird die Parese nach dem Initialstadium allmählich spastisch.
Entwickelt sich das Querschnittssyndrom langsam, ist die
spastische Lähmung von Anfang an die Regel. Bei längerem gestört, weil die Hinterstrangfasern der gleichen Seite betroffen
Bestehen einer Querschnittslähmung, manchmal allerdings sind. Schließlich sind auch die vasokonstriktorischen Fasern
auch sehr früh, bilden sich spinalen Automatismen aus, die ipsilateral beeinträchtigt, die ungekreuzt im Seitenhorn des
jedoch nicht im strengen Sinne des Wortes automatisch, d.h. Brustmarks über den Grenzstrang in die Peripherie ziehen.
von Afferenzen unabhängig sind, sondern durch sensible und Kontralateral ist die Schmerz- und Temperaturempfin-
vegetative Reize reflektorisch ausgelöst werden. An den Beinen dung gestört (dissoziierte Sensibilitätsstörung), weil die spino-
wechseln Streck- und Beugesynergien, die bei längerem Beste- thalamischen Fasern nach ihrer Kreuzung in der vorderen
hen der Querschnittslähmung immer komplexer werden. An Kommissur lädiert sind. Bei genauer Untersuchung kann man
den Armen überwiegen Beugesynergien. Die Automatismen im Bezirk der halbseitigen, dissoziierten Sensibilitätsstörung
sind umso lebhafter, je höher die Läsion sitzt. Während der auch eine Herabsetzung der Berührungsempfindung feststel-
unwillkürlichen Beinbewegungen kann es auch dann zum len, die darauf beruht, dass der Tr. spinothalamicus an der
Urinabgang kommen, wenn eine Retentio urinae für die inten- Vermittlung von Berührungsreizen mitbeteiligt ist.
dierte Blasenentleerung besteht. Höhe und Schwere der neurologischen Ausfälle auf beiden
Seiten des Körpers sind oft nicht ganz kongruent: Die Grenze
der motorischen Ausfälle liegt gewöhnlich etwas höher als die
1.13.2 Brown-Séquard-Syndrom der sensiblen. Beiderseits findet sich nach oben eine hyperal-
getische Übergangszone. Blase und Darm sind nicht gelähmt.
Das Syndrom entsteht durch eine halbseitige Rückenmark-
schädigung. Die anatomischen Grundlagen sind in . Abbil-
dung 1.55 erläutert. 1.13.3 Zentrale Rückenmarksschädigung

3Symptomatik. Auf der Seite der Läsion kommt es durch Sehr charakteristisch ist auch die Symptomatik der zentralen
Unterbrechung des Pyramidenseitenstrangs zu einer ipsilatera- Rückenmarksschädigung bei Syringomyelie und intramedul-
len zentralen Parese. Die Tiefensensibilität ist ebenfalls ipsilateral lären Tumoren.
70 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

3Symptomatik. Auf der Höhe der Läsion sind beide Vor-


1 derhörner betroffen was zu einer atrophischen (peripheren)
Lähmung führt. Gleichzeitig werden die Fasern des Pyrami-
denseitenstrangs geschädigt. Die Folge ist eine zentrale Läh-
mung unterhalb der Läsion. Frühzeitig, oft vor Einsetzen der
spastischen Symptome, bildet sich eine querschnittsförmige
dissoziierte Gefühlsstörung aus. Sie beruht auf Unterbrechung
der spinothalamischen Fasern in der vorderen Kommissur und
im Tr. spinothalamicus. Die Hinterstränge sind meist nur ge-
ring betroffen, deshalb sind die Berührungs- und Tiefensensi-
bilität besser oder völlig erhalten.
Dagegen treten bald vegetative, trophische Störungen ein,
da das Seitenhorn regelmäßig geschädigt ist. Gefühlsstörungen
und Lähmungen sind oft an den Armen und den oberen
Rumpfpartien stärker als in den tieferen Segmenten ausge-
prägt. Dies erklärt sich aus der exzentrischen Lokalisation der
langen Bahnen, die weiter unten erläutert wird.

1.13.4 Hinterstrangläsion

Das Syndrom einer Hinterstrangläsion des Rückenmarks ist be-


reits bei den Sensibilitätsstörungen besprochen (7 Kap. 1.11.2).

1.13.5 Höhenlokalisation der Rückenmarks-


schädigung

Die Höhenlokalisation einer Rückenmarksschädigung wird in


Relation zum knöchernen Achsenskelett und der segmentalen
Anordnung des Rückenmarks definiert. Diese variieren im
Lumbal- und Sakralmark um mehrere knöcherne Segmente.
Das heißt, eine knöcherne Läsion bei Th12 kann schon Konus-
und Kaudastrukturen betreffen (. Abb. 1.56). Die Höhenloka- . Abb. 1.56. Topographische Beziehungen der Rückenmarkseg-
lisation ist leicht, wenn eine scharf begrenzte, vollständige mente und -wurzeln zur Wirbelsäule. Beachte: Die Wurzel C1 ist nur
Querschnittslähmung vorliegt. Sind die Funktionsstörungen motorisch. Aus ihr entsteht der N. suboccipitalis für die Innervation
aber geringer ausgeprägt, kann man die Lokaldiagnose erst der langen Halsmuskeln. Das oberste sensible Segment ist C2
nach genauer Analyse der motorischen und sensiblen Symp-
tome stellen.
Dabei hat die vergleichende Untersuchung der Reflexe eine gelähmt. Wie bei jeder zentralen Lähmung, überwiegt an den
besonders große Bedeutung. Strangsymptome können dagegen Armen der Beugetonus, so dass sie adduziert und im Ellenbo-
wegen der exzentrischen Lokalisation der langen Bahnen leicht gen gebeugt gehalten werden. Die Finger sind zur Faust ge-
zu Fehldiagnosen verleiten. In allen aufsteigenden und abstei- schlossen. Öffnung der Hand und Streckung des Arms sind
genden Tractus legen sich die Fasern für die höheren Segmente nicht möglich. Es besteht eine zentrale Parese der Atmung.
jeweils in Lamellen von innen her denen für die tieferen Seg- 4 Schädigung bei Segment C4: Ist das Segment C4 betrof-
mente an, so dass diese zur Rückenmarkperipherie abgedrängt fen, besteht eine Phrenikuslähmung mit Hochstand und para-
werden. Dadurch entsteht eine somatotopische Gliederung, bei doxer passiver Atembeweglichkeit des Zwerchfells. Eine dop-
der jeweils die Fasern für die Arme innen, die für die Beine pelseitige Phrenikusparese führt zu schwerer Ateminsuffizi-
außen verlaufen (. Abb. 1.57). Schädigungen, die das Rücken- enz mit Aktvierung der auxilliären Atemmuskeln wie Platys-
mark von extramedullär treffen, werden deshalb zunächst zu ma und Schultergürtelmuskeln. Sie ist, namentlich bei plötz-
Funktionsstörungen in den Fasern für die tieferen Segmente lichem Einsetzen, lebensgefährlich.
führen. Beim Syndrom der zentralen Rückenmarkschädigung 4 Schädigung des Vorderhorns (oder der Vorderwurzeln):
dagegen werden zuerst die Bahnen der höheren Segmente lä- Hier kommt es zu peripheren Lähmungen, die bei Läsionen
diert, während die der tieferen zunächst verschont bleiben. des mittleren Halsmarks im Schultergürtel und den proxima-
len Armmuskeln, bei Befall des unteren Halsmarks in den klei-
Halsmarkläsion nen Handmuskeln lokalisiert sind.
4 Schädigung oberhalb von C4: Bei dieser Lokalisation sind 4 Läsionen unterhalb von C4 betreffen dann die Funktion
die Arme bis zu ihrer proximalen Schultermuskulatur zentral der Armmuskeln segmentabhängig, d.h. bei einer Läsion in
1.13 · Rückenmarkssyndrome
71 1
. Abb. 1.57. Oben schematische Darstellung des
Verteilungsmusters der absteigenden kortikospi-
nalen und rubro- bzw. retikulospinalen motorischen
Bahnen im Rückenmark (Zervikalmark, Rhesusaffe;
Versuche von Lawrence u. Kuypers). Der untere Quer-
schnitt zeigt die Somatootopie der motoneuronalen
Kerngebiete für für proximale und distale Muskelgrup-
pen

Höhe C6 können die Schultermuskulatur und der Biceps bra- Lumbalmark-, Kauda- und Konusläsion
chii, partiell auch der Brachioradialis innerviert werden, wäh- Schwere Schädigungen des Rückenmarks unterhalb von LWK1
rend die Handgelenksfunktion, die Fingerbeuger und -stre- führen zu einer peripheren Lähmung der Beine. Zentrale Pa-
cker und auch die Streckung im Ellenbogengelenk gelähmt raparesen zeigen fast immer Brustmarkläsionen an.
bleiben. Befindet sich die Lähmung unterhalb C7, sind Hand- Die Unterscheidung zwischen einer Schädigung der un-
gelenk- und Fingerstrecker gelähmt, nicht aber die Ellenbo- teren Cauda equina und des Conus medullaris sowie die exakte
genbeuger und -strecker. Höhenlokalisation können sehr schwierig sein, da die Kau-
dafasern dicht gebündelt entlang dem Konus verlaufen und
> Für eine Halsmarkläsion ist die hohe Querschnittsläh-
beide Strukturen häufig zusammen lädiert werden.
mung mit Tetraparese (Lähmung der Arme und der
Beine) charakteristisch. Je nach der Lokalisation im Kaudasyndrom
Querschnitt kann allerdings auch nur eine zentrale
Das vollständige Kaudasyndrom ist durch folgende Symp-
Beinlähmung bestehen.
tomkombination charakterisiert:
4 periphere Lähmung beider Beine, die etwas asymmetrisch
Brustmarkläsion sein kann,
Charakteristisch ist die zentrale Paraparese der Beine, während 4 »reithosenartige« Gefühlsstörung für alle Qualitäten in
die Arme nicht gelähmt sind. In leichteren Fällen sind nur die den Lumbal- und Sakralsegmenten mit Schmerzen in diesem
Eigenreflexe der Beine gegenüber denen an den Armen gestei- Bereich,
gert. 4 Unmöglichkeit der spontanen Blasen- und Mastdarment-
Je nach dem Sitz des Prozesses im oberen, mittleren oder leerung sowie
unteren Brustmark werden auch die Thorax-, Rücken- und 4 Bleibender Ausfall aller Reflexe in den abhängigen Par-
Bauchmuskeln gelähmt. Dies ist daran zu erkennen, dass die tien.
thorakalen Atmungsexkursionen und der Hustenstoß schwach 4 Impotentia coeundi.
sind und die Bauchdecken seitlich ausladen. Wenn auch der
M. iliopsoas betroffen ist, kann der Patient sich nicht mehr aus Die Höhendiagnose wird durch MRT oder Myelo-CT ge-
dem Liegen aufrichten. Bei Läsion in den Segmenten Th7–Th12 stellt.
sind oft die Bauchhautreflexe in der oberen Etage noch auslös-
bar, während sie in der mittleren und unteren oder in der un- Läsion des Conus medullaris
teren allein fehlen. Die Sensibilitätsstörung hat eine strumpf- Bei den sehr seltenen isolierten Läsionen des Conus medulla-
hosenförmige Anordnung. ris kommt es zu einem sehr charakteristischen Syndrom. Da
die sakralen Regulationsstellen für die Blasen- und Darment-
> Für Brustmarkläsionen ist die zentrale Paraparese
leerung unterbrochen sind, bestehen Stuhl- und Urininkonti-
(Lähmung der Beine) charakteristisch.
nenz. Der Analreflex fehlt immer. Der M. sphincter ani klafft
und kontrahiert sich nicht reflektorisch bei der rektalen Un-
tersuchung. Lähmungen und Reflexstörungen an den Beinen
72 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

sind bei Lokalisation der Schädigung unterhalb von S2 nicht teilen können, was bei unruhigen, bewusstseinsgetrübten Pa-
1 zu erwarten. Die Sensibilität ist in den perianalen Segmenten tienten gar nicht so einfach ist.
S3–5 beeinträchtigt. 4 Unter keinen Umständen dürfen die Pupillen weitgetropft
werden, denn Weite und Reaktion der Pupillen müssen ohne
pharmakologische Einwirkung dokumentiert werden und ha-
1.14 Untersuchung des bewusstlosen ben beim Bewusstlosen eine viel größere diagnostische Aussa-
Patienten gekraft als der Augenhintergrund.

1.14.1 Neurologische Notfalluntersuchung


1.14.2 Anamnese und Inspektion
Bei Notfallpatienten wird oft nach nur kurzer Beobachtung
und orientierender körperlicher Untersuchung die Behand- 3Anamnese. Falls Angehörige anwesend sind, fragt man
lung lebensbedrohender Funktionsstörungen von Atmung nach den Umständen des Notfalls, und ob
und Kreislauf erforderlich. Zuverlässige Kenntnisse in Diag- 4 die Bewusstlosigkeit abrupt oder langsam progredient auf-
nostik und Therapie der Vitalstörungen sind daher eine Voraus- getreten ist,
setzung für die Behandlung neurologischer Notfälle. 4 vorher eine Lähmung aufgefallen ist,
Leitsymptome neurologischer Notfälle sind 4 der Patient über Kopfschmerzen geklagt hat oder
4 akute oder intermittierende Lähmungen, 4 schon vorher andere Krankheitszeichen wie Fieber gehabt
4 Nackensteifigkeit und perakute Kopfschmerzen, hat,
4 akute oder subakute Querschnittslähmung, 4 er kürzlich operiert wurde,
4 fokale oder generalisierte epileptische Anfälle und 4 ein Kopftrauma hatte,
4 akute Bewusstseinsstörung. 4 unter Anfällen, hohem Blutdruck oder Diabetes mellitus
leidet,
Solange ein Patient wach und kooperativ ist, unterscheidet sich 4 Alkohol- oder Drogenprobleme hat,
die neurologische Notfalluntersuchung kaum von der üblichen 4 regelmäßig Medikamente einnehmen muss oder
neurologischen Untersuchung. Wenn es sich aber beispielswei- 4 in psychiatrischer Behandlung war.
se um einen Patienten mit akuter Hemiparese handelt und die
Möglichkeit einer frühen Thrombolyse besteht, wird man kei- Initial kann man von den Beobachtern die genauesten An-
ne Zeit damit verlieren, das Vibrationsempfinden an den Bei- gaben über die Vorgeschichte erhalten – je größer die zeit-
nen zu testen. Wenn man eine schwere Hemiparese sieht, ist es liche Distanz wird, desto unpräziser werden die Berichte.
in der Notfallsituation nicht wichtig, wie die Reflexe sind. Bei Manchmal haben die Patienten, noch bevor sie bewusstlos
einer distalen Armparese ist dagegen die genaue Analyse der wurden, erste Symptome ihrer Erkrankung mitteilen kön-
Muskelfunktionen im Seitenvergleich und eine detaillierte nen (z.B. vernichtenden Kopfschmerz bei der schwer ver-
Prüfung der Sensibilität erforderlich. Trotzdem kann man laufenden aneurysmatischen Subarachnoidalblutung, begin-
nicht einzelne Untersuchungsschritte als weniger wichtig ab- nende Lähmung bei Hirnblutung oder infarkt, aufsteigende
tun. Die fehlenden Teile der Untersuchung müssen dann nach Übelkeit vor einem sekundär generalisierten epileptischen
Einleitung der Therapie nachgeholt werden. Oft sind es die Anfall).
nicht geprüften Reaktionen, die gefehlt haben, um die richtige
Diagnose zu stellen und die notwendigen weiterführenden Un- 3Inspektion. Die Beobachtung des Patienten gibt sehr viele
tersuchungen zu veranlassen. wertvolle Hinweise. Man schaut nach Wunden, Abschürfungen
und anderen Verletzungszeichen. Ist der Patient kachektisch?
Untersuchung eines bewusstlosen Patienten Wirkt er gepflegt oder ist er verwahrlost? Finden sich Einstich-
Die neurologische Untersuchung eines bewusstlosen Patienten stellen an den Armen, den Beinen, unter der Zunge? Auch die
ist in vielen Punkten von der eines bewusstseinsklaren und Umgebung und die Erscheinung der Angehörigen kann Hin-
kooperativen Patienten zu unterscheiden. Ziel der Notfallun- weise bieten. Alkoholflaschen, Fixerutensilien, eine herunter-
tersuchung ist nicht ein kompletter neurologischer Status. gekommene Wohnung, ein alkoholisierter Angehöriger lenken
Manche Untersuchungen, z.B. die ausführliche Prüfung ver- den Verdacht in Richtung auf eine Intoxikation oder eine trau-
schiedener Modalitäten der Sensibilität, können bei bewusst- matische Ursache.
losen Patienten nicht durchgeführt werden, andere sind in der Man achtet darauf, ob der Patient blutigen Speichel im
Akutsituation belanglos und halten nur auf: Mundwinkel hat, auf Bissverletzungen der Zunge oder der
4 Die Vibrationsgabel und das Nadelrad bleiben in der Ta- Wangenschleimhaut, ob er eingenässt hat – beides kommt
sche. nach generalisierten epileptischen Anfällen häufig vor. Riecht
4 Es interessiert nicht, ob die Bauchhautreflexe langsam oder der Atem des Patienten hepatisch, urämisch, ketotisch, nach
schnell erlöschen. Alkohol? Wie ist die Hautfarbe: ikterisch-gelb, aschfahl wie im
4 Man kann wertvolle Zeit mit dem Versuch der Spiegelung Schock, zyanotisch, rosig wie bei CO-Intoxikation? Findet
des Augenhintergrunds vergeuden. Der Augenhintergrund man kleine Hauthämorrhagien wie bei Sepsis oder Endokardi-
sollte nur von sehr erfahrenen Neurologen gespiegelt werden, tis, haben sich Hautblasen gebildet, die man bei Barbituratinto-
die die Papille ohne Pupillenerweiterung einstellen und beur- xikationen häufig sieht?
1.14 · Untersuchung des bewusstlosen Patienten
73 1
Die Lage des Körpers gibt wichtige Hinweise. Wenn der
Patient entspannt »wie im Schlaf« liegt, ist die Bewusstlosigkeit . Tabelle 1.9. Neurologische Notfalluntersuchung bei bewusst-
losen Patienten (Mod. nach Hacke 1988)
oft nicht sehr tief. Dies gilt auch, wenn er gähnt oder schluckt.
Bei den meisten Bewusstlosen sind die Augen und der Mund Anamnestische Daten
geschlossen; offene, unbewegte Augen und ein offener Mund 5 abrupter oder langsamer Beginn des Komas
mit geringem Massetertonus deuten auf eine tiefe Bewusstlo- 5 Kopftrauma in der jüngeren Vorgeschichte
sigkeit hin. Findet sich eine kontinuierliche Kopfwendung, 5 progrediente oder intermittierende Lähmung
5 Fieber, Kopfschmerz
vielleicht mit Blickwendung?
5 Diabetes, Hypertonie, Herzinfarkte
Wendung des Kopfes und der Augen, asymmetrische Beu-
5 frühere Schlaganfälle
gung und Streckung der Arme und Beine zeigen meist eine 5 bekannte Epilepsie
Hemisphärenschädigung an. Werden die Extremitäten seiten- 5 psychiatrische Anamnese, Alkohol, Drogen, Tabletten
gleich bewegt? Schon bei der Inspektion kann man eine Hemi-
parese erkennen. Die Extremitäten der gelähmten Körperhälfte Körperliche Inspektion
5 Spontanatmung, Atemmuster
liegen schlaff und breit auf der Unterlage, das Bein ist nach au-
5 Kopfhaltung: Überstrecken, Kopfwendung
ßen rotiert, keine aktive Bewegung ist sichtbar, während auf der
5 spontane Bewegungen, symmetrisch oder asymmetrisch
gesunden Körperhälfte Arme und Beine ungezielt bewegt wer- 5 fokale Anfälle oder Myoklonien
den. Rhythmische Bewegungen einer Extremität, einer Körper- 5 spontane Streck- oder Beugesynergien
hälfte oder des ganzen Körpers sind Hinweise auf fortbestehen- 5 Verletzungen
de epileptische Anfälle. 5 Erbrochenes, Urinabgang
Die charakteristische Dezerebrationshaltung ist leicht zu 5 allgemeine Hautveränderungen, Exsikkose, Kachexie
erkennen: Die Arme sind adduziert und gebeugt oder proniert 5 Umgebung: Tablettendosen, Injektionsnadeln, Alkohol-
und überstreckt, die Beine symmetrisch überstreckt. Opistho- flaschen, Unordnung
tonus (Rückwärtsneigung des Kopfes) und Überstreckung von Untersuchungsschritte
Rumpf und Extremitäten sowie spontane oder durch sensible 5 beste Reaktion auf lautes Anrufen
Reize ausgelöste Streckkrämpfe kommen bei akuter Mittel- – Sprachäußerung: orientiert – verwirrt – aphasisch – fehlend
hirnschädigung vor. Als Ursache kommen infrage: Einbruch – Augenöffnen: Zuwendung – ohne Zuwendung
einer Hemisphärenblutung in das Ventrikelsystem, Einklem- 5 beste Reaktion auf Schmerzreize
mung des Hirnstamms im Tentoriumschlitz bei raumfor- – Abwehrbewegungen: gerichtet – ungerichtet – fehlend
dernden intrakraniellen Prozessen oder direkte Schädigung – Streck- und Beugesynergien, Myoklonien, Wälzen
– keine Reaktion
des Mittelhirns (z.B. Trauma, Enzephalitis, Intoxikation).
5 Nackensteifigkeit und Kopfwendung
5 Pupillen
1.14.3 Praktischer Ablauf der Untersuchung – Weite: Isokorie – Anisokorie
eines Bewusstlosen – Reaktion direkt und konsensuell: vorhanden – verzögert –
ausgefallen
Die Notfalluntersuchung eines Bewusstlosen kann in 2–3 min 5 Augenstellung
durchgeführt werden, ist einfach zu dokumentieren und muss – Bulbusstellung spontan: konjugiert – mittelständig
im weiteren Verlauf mehrfach wiederholt werden, wobei man – Fixation – ohne Fixation divergierend – schwimmende
sich dann auf Symptome konzentriert, die sich mit Wahr- Bewegungen – konjugierte Deviation – spontaner Nystagmus
scheinlichkeit verändern werden, wenn sich der Zustand des 5 okulozephaler Reflex
– durch Fixation aufgehoben
Patienten ändert. Ein Beispiel: Wenn der rechte Arm vollstän-
– ausgedehnt positiv: konjugiert – diskonjugiert
dig gelähmt ist und das rechte Bein noch Restaktivität zeigt, so
– gering positiv: konjugiert – diskonjugiert
wird bei einer weiteren Verschlechterung des Zustands des Pa- – dissoziierte, tonische Restreaktion
tienten die Funktion des Beins weiter schlechter werden, die – fehlend
des Arms kann sich nicht mehr verschlechtern. 5 Schutzreflexe
Bei der neurologischen Notfalluntersuchung konzent- – Korneal- und Blinkreflex: vorhanden – einseitig gestört –
riert man sich auf die folgenden Funktionen und Symptome: fehlend
4 Beurteilung der Bewusstseinslage und Einschätzung der – reflektorisches Augenschließen bei Drohbewegungen in
Bewusstseinsstörung, beiden Gesichtsfeldhälften
4 Atmung und Atemtyp, – Würgreflex
5 Muskeltonus
4 spontane und reflektorische Augenbewegungen,
– schlaff – normal – gesteigert, wechselnd – asymmetrisch
4 Pupillenweite und -reaktion,
(Sehnenreflexe – Pyramidenbahnzeichen)
4 Nackensteifigkeit, 5 Auskultation der Halsgefäße, evtl. Orbita
4 Vorhandensein von Schutzreflexen 5 zentrale Atemstörungen und vegetative Regulationsstörungen
4 Muskeltonus und spontane Bewegungen.

Die einzelnen Schritte der Untersuchung sind in . Tabelle 1.9


und der Facharztbox aufgeführt. Zur Definition der einzelnen
Stadien der Bewusstlosigkeit 7 Kap. 2.14.
74 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

1.14.4 Notfallbehandlung
. Tabelle 1.10. Sofortmaßnahmen beim bewusstlosen Notfall-
1 patienten
Bei der Erstversorgung eines bewusstlosen Patienten arbeitet
5 Reanimation, wenn erforderlich
man unter Zeitdruck. Oft gehen Befunderhebung und erste
therapeutische Reaktionen Hand in Hand. . Tabelle 1.10 gibt 5 Intubation, wenn notwendig
eine Übersicht über einige wichtige Aspekte der Notfallbe- 5 Venöser Zugang (Braunüle®, ggf. Armvenenkatheter) und
handlung, zu denen die Stabilisierung von Atmung und Kreis- Blutabnahme, ggf. Blutkulturen
lauf, die Volumensubstitution und der Säure-Basen-Ausgleich – Behandlung vor Kenntnis der Laborwerte:
zählen, weiterhin Gabe von Antiarrhythmika, Bilanzierung isotone Kochsalzlösung
Glukose 5%, nicht bei Schlaganfall
von Elektrolyten und frühzeitige Sicherung eines zentralen Ve-
Thiamin 100 mg
nenzugangs, Hypoglykämiebehandlung, Senkung des Hirn-
– Ausgleich nach Eingang der Laborwerte:
drucks und die Behandlung von Krampfanfällen. Problema- Hypoglykämie: 20% Glukose
tisch ist manchmal die Blutdrucksenkung (7 Kap. 5). Hyperglykämie: Altinsulin
Elektrolytkontrolle
– Volumensubstitution bei Volumenmangel
1.14.5 Weiterführende Diagnostik – Antiarrhythmika
– Antihypertensiva (s. Kap. 5 und 6)
Die apparative Notfalldiagnostik bei Bewusstlosen zielt da- 5 Neurologische Untersuchung und CT
rauf ab, die häufigsten Ursachen der akuten Bewusstlosig- 5 Hirndrucktherapie
keit aus neurologischer Sicht, also Blutungen, Traumen, meta- – Lagerung
bolische Störungen, hypoxische Störungen oder Krampfan- – Osmotherapie
fälle, wahrscheinlich zu machen oder auszuschließen. Es – Dexamethason (bei Tumorödem)
muss sichergestellt sein, dass die geplante diagnostische Maß- 5 Anfälle behandeln (7 Kap. 14)
nahme auch beim Notfallpatienten suffizient ausgeführt wer-
5 Weitere Maßnahmen
den kann, ohne dass wertvolle Zeit dadurch vergeht, und ohne – Fieber senken
dass man mit apparativen Unzulänglichkeiten kämpfen muss. – Infektionsbehandlung, ggf. Antibiotika auch ohne Erreger
Insgesamt muss eine diagnostische Ökonomie angestrebt nachweis (schwerste Meningitis, V.a. Endokarditis)
werden, bei der mit möglichst wenigen, aber qualitativ gu- – Bei Vergiftung Antidot, falls bekannt
ten und aussagekräftigen diagnostischen Methoden und ei- – V.a. Drogen oder Medikamente – Intoxikation: Narcanti®,
nem geringen zeitlichen Aufwand eine große diagnostische Anticholium®, Anexate®
Sicherheit erreicht wird. Überlegungen der finanziellen Öko- – Sedierung nur bei extremer Unruhe und nach neurologischer
nomie müssen hier hintanstehen. Jede Diagnostik muss un- Untersuchung

Facharzt
Detaillierter Ablauf der Untersuchung eines Bewusstlosen
Reaktivität. Nähert man sich dem Patienten, wird man ihn und hält die Augen aktiv geschlossen. Bei Bewusstlosigkeit
zunächst laut ansprechen und beobachten, ob er daraufhin wird dem Augenöffnen kein Widerstand entgegengesetzt.
die Augen öffnet und sich zuwendet. Geschieht dies nicht, Von großer diagnostischer Bedeutung ist die Stellung der
appliziert man taktile Reize und danach schmerzhafte Reize Bulbi bei bewusstlosen Patienten. Divergenz und spontane
im Gesicht und am Rumpf, z.B. in der vorderen Achselfalte. Pendelbewegungen zeigen eine funktionelle oder anato-
Die Reaktion des Patienten auf die Schmerzreize wird regis- mische Hirnstammschädigung in der Brückenmittelhirnregion
triert: Öffnet er die Augen? Wendet er das Gesicht zu oder an. Konjugierte Abweichung der Bulbi zur Seite lässt auf einen
ab? Grimassiert er? Macht er eine verbale Unmutsäußerung? Herd im Stirnhirn (Abweichung zur Seite des Herdes) oder in
Kommt es zu gezielten oder ungezielten Abwehrbewe- der Brücke (Abweichung zur Gegenseite) schließen (Erklärung
gungen, Beuge- oder Strecksynergismen? 7 Kap. 1.3). Spontane Vertikalbewegungen sind ein ungünsti-
Selbst starke Schmerzreize, z.B. Nadelstiche, rufen beim ges Zeichen, ocular bobbing, 7 Kap. 1.3.5.
tief Bewusstlosen höchstens ungerichtete Abwehrbewe- Bei Tageslicht ist das Öffnen der Lider der adäquate Reiz
gungen hervor oder bleiben ohne Reaktion. für den Pupillenreflex. Abwechselndes einseitiges Abdecken
Falls er die Augen öffnet und sich zuwendet, versucht der geöffneten Bulbi ermöglicht die Beurteilung der konsen-
man, verbalen Kontakt aufzunehmen: Antwortet er adäquat suellen Reaktion. Wichtige Hinweise auf die Lokalisation einer
oder unzusammenhängend? Schädigung gibt die Pupillenweite: Läsionen im Subthalamus
verursachen ipsilateral eine mäßige Miosis von etwa 2–3 mm
Okulomotorik, Pupillen und okulozephaler Reflex. Da- Pupillendurchmesser. Subtotale Mittelhirnschädigungen füh-
nach werden mit Daumen und Zeigefinger beide Oberlider ren ipsilateral zu einer sehr starken Mydriasis (etwa 7–10 mm
hochgezogen. Manchmal wehrt sich der Patient dagegen Durchmesser), schwere Mittelhirnschädigungen sind an einer
6
1.14 · Untersuchung des bewusstlosen Patienten
75 1

mäßigen Mydriasis (4–6 mm) und schlechten Lichtreaktionen der betroffenen Seite sinkt das passiv gehobene Oberlid lang-
zu erkennen. Läsionen in der Brückenhaube führen durch samer ab, die Lidspalte bleibt durch die Orbikularislähmung
Unterbrechung der absteigenden sympathischen Fasern zu oft etwas geöffnet. Der Mundwinkel hängt herab, die Wange
einer bilateralen maximalen Miosis (1 mm). Anisokorie ist schlaffer, bei der Ausatmung werden Speichelbläschen
kommt daneben bei Läsionen des N. oculomotorius vor. durch den leicht geöffneten Mundwinkel geblasen.
Enge, seitengleiche und noch etwas auf Licht reagierende Manchmal ist die Kaumuskulatur aber so stark angespannt
Pupillen sind prognostisch günstiger als weite, lichtstarre. (Trismus), dass der Mund nicht oder nur mit vorsichtig einge-
Schnelles und brüskes Nach-vorne-Bewegen des Kopfes führten Hilfsmitteln geöffnet werden kann. Wenn der Mund
dient zur Beurteilung des vertikalen okulozephalen Re- sanft und ohne Widerstand geöffnet werden kann, beurteilt
flexes. Beim horizontalen okulozephalen Reflex wird der man die Lage der Zunge im Mund und führt die Inspektion des
Kopf des Patienten horizontal rasch und ausgiebig in eine Rachens aus.
Richtung bewegt und die reflektorischen Bewegungen der Wir verzichten meist auf die Auslösung des Würge-
Bulbi beobachtet. Danach folgt die Bewegung in die andere reflexes, da bei erhöhtem Hirndruck dieser Reflex enthemmt
horizontale Richtung. Bei leichter Bewusstseinsstörung ist sein kann und es zum Erbrechen mit Gefahr der Aspiration
der okulozephale Reflex sehr ausgeprägt, er nimmt bei kommen kann. Bei der Inspektion von Mund und Rachen
zunehmendem Koma ab und kann im tiefen Koma ganz achtet man auch auf alte, narbige Veränderungen der Zunge.
fehlen. Je nach der Schwere des Zustandes können im Koma Fremdre-
flexe, wie z.B. der Kornealreflex oder der Würgereflex erloschen
Nackensteifigkeit. Man prüft das Vorliegen von Nacken- sein.
steifigkeit durch passives Bewegen des Kopfes nach vorn,
bis das Kinn an das Sternum geneigt ist, und nach seitwärts. Motorik. Am Ende der Untersuchung wendet man sich den
Bei Nackensteifigkeit findet man einen erhöhten musku- Extremitäten zu. Die Sensibilitätsprüfung muss sich darauf
lären Widerstand gegen diese passiven Bewegungen, der beschränken, die Reaktion auf Schmerzreize zu beobachten.
manchmal nicht überwunden werden kann. Dann sind der Eine Koordinationsprüfung ist nicht möglich. Der Tonus von
Kopf und Rumpf oft primär überstreckt. Im tiefen Koma Armen und Beinen wird durch bilaterale, abwechselnde, nicht-
dagegen kann die Nackensteifigkeit bei generalisiertem rhythmische Bewegungen überprüft. Die Muskeldehnungsre-
Tonusverlust wegfallen! Die wichtigsten Ursachen für flexe können untersucht werden, um Ausgangswerte für den
Nackensteifigkeit sind Subarachnoidalblutung, Meningitis weiteren Verlauf zu haben. Im Koma kann sich der Reflexstatus
oder Tumor der hinteren Schädelgrube. sehr schnell ändern, dies gilt auch für Reflexe der Babinski-
Gruppe. Im tiefen Koma fehlen die Eigenreflexe, und der Mus-
Andere Hirnnervenfunktionen und Hirnstammreflexe. keltonus wird schlaff.
Den Kornealreflex überprüft man durch Berühren der Kor- Zeichen akuter Halbseitenlähmung, die man auch ohne
nea mit einem kleinen Mulltupfer von lateral. Je nach der Mitarbeit des Patienten feststellen kann, sind:
Schwere des Zustands kann der Kornealreflex erloschen sein. 4 Die gelähmten Gliedmaßen liegen durch Tonusverlust
Leichtes, nach oben geführtes Berühren der Wimpern führt breiter, wie ausgeflossen auf der Unterlage (»breites Bein«),
bei psychogener Bewusstseinstrübung zu einem verstärkten sie sind schwerer und fallen rascher und schlaffer auf die
Lidschluss. Unterlage zurück, nachdem man sie angehoben hat.
Bewusstlose Patienten mit einer zentralen Gesichtsläh- 4 Spontane und schmerzreflektorisch ausgelöste Bewe-
mung atmen auf der Seite der Lähmung »blasend« aus. Auf gungen sind auf der gelähmten Seite schwächer.

terbrochen werden, wenn Störungen von Vitalfunktionen 4 Dopplersonographie (Frage: Gefäßverschluss oder -ste-
auftreten. nose als Quelle einer Embolie?);
Auch wenn schon die klinische Symptomatik zuverlässige 4 EEG (Schwere der Allgemeinveränderung? Zeichen einer
Hinweise auf die Ursache einer akuten Bewusstlosigkeit geben Intoxikation? Herdbefund? Ein normales EEG schließt ein
kann, und einige Befundkonstellationen geradezu typisch für Koma nicht aus: sog. Alpha-Koma, vor allem bei Läsionen der
eine bestimmte Ätiologie sind, müssen bei allen Patienten mit Brücken- und Mittelhirnhaube, das EEG ist dann aber »areak-
Bewusstlosigkeit eine Reihe von neurologisch-apparativen Zu- tiv«);
satzuntersuchungen vorgenommen werden (7 Kap. 3): 4 eine Lumbalpunktion bei einem Bewusstlosen wird nur
4 Native konventionelle Röntgenaufnahmen haben keinen nach vorheriger CT vorgenommen, die vorherige Spiegelung
Platz in der Diagnostik. des Augenhintergrunds reicht hier nicht.
4 Computertomographie mit CT-Angiographie.
4 Heute können auch MR-Untersuchungen (MRT, MRA) bei
Notfallpatienten durchgeführt werden, da die Untersuchungs-
zeiten immer kürzer werden und Beatmung sowie Kreislaufmo-
nitoring möglich sind;
76 Kapitel 1 · Die neurologische Untersuchung und die wichtigsten Syndrome

In Kürze
1
Inspektion des Körpers und Untersuchung des Kopfes

Kerndaten der Anamnese. Beginn, Dauer, Schweregrad der Frenzelbrille: Nystagmusformen (Spontan, Lagerung, Lage,
Symptome, Tageszeit, Auslöser. Kopfschütteln).

Untersuchung. Hyperkinesien, Asymmetrien im Körperbau, N. glossopharyngeus (N. IX). Symptome: Fehlen des Gau-
Muskelatrophien, Kopfschmerzen, Bewegungseinschrän- mensegel- und Würgereflexes. Untersuchung: Berührungs-
kungen, psychogene Symptome, Druckschmerz der empfindung am Gaumen und Rachen mit Tupfer oder Spatel.
Nervenaustrittspunkte.
N. vagus (N. X). Symptome: Ein- oder doppelseitiges Hängen
Untersuchung auf Störungen der 12 Hirnnerven des Gaumensegels, fehlender oder mangelhafter Rachenreflex.
Untersuchung: Willkürliches Schlucken, Beobachten des
N. olfactorius (N. I). Symptome: Ein- oder doppelseitige Kehlkopfes. Röntgendurchleuchtung mit Breischluck, Video-
Anosmie als erstes oder einziges Symptom eines frontoba- Schluckuntersuchung.
salen Hirntumors. Untersuchung: Geruchsproben.
N. accessorius (N. XI). Symptome: Atrophie des M. sternoclei-
N. opticus (N. II). Symptome: Visus- oder Gesichtsfeldausfäl- domastoideus, Absinken der Schulter nach vorn. Untersu-
le. Untersuchung: Fingerzählen, Lesen, Wahrnehmung des chung: Kopfbeugung gegen Widerstand, Armhebung über die
Lichtes; Spiegelung des Augenhintergrundes, Fingerperimet- Horizontale.
rie.
N. hypoglossus (N. XII). Symptome: Periphere Lähmung,
Pupillomotorik. Symptome: Amaurotische Pupillenstarre faszikuläre Zuckungen der Zunge. Untersuchung: Herausstre-
ohne Lichtreaktion; absolute P. ohne direkte oder indirekte cken, rasches Hin- und Herbewegen der Zunge.
Reaktion auf Lichteinfall; reflektorische P. ohne direkte und
konsensuelle Lichtreaktion. Untersuchung: Direkte Lichtre- Zentrale Störungen der Okulomotorik
aktion durch plötzliche Belichtung, konsensuelle durch
Belichtung der gegenseitigen Pupille, Pupillenverengung bei Blickmotorik. Symptome: u.a. horizontale Blickparese: korti-
Konvergenzbewegung. kale, subkortikale oder pontine Läsion; Internukleäre Ophthal-
moplegie (INO): ein- oder doppelseitige Läsion des medialen
N. oculomotorius (N. III), N. trochlearis (N. IV), N. abdu- Längsbündels; Lähmung parapontiner retikulärer Formation;
cens (N. VI). Symptome: Nach außen gerichteter Bulbus, vertikale Blickparese: bilaterale Läsion in Mittelhirnhaube;
herabhängendes Augenlid (N. III); schräg stehende Doppel- Sakkadenhypermetrie und/oder sakkadierte Blickfolgebewe-
bilder, Kopfneigung zur gesunden Seite (N. IV); Augenabwei- gung: zerebelläre Läsion. Untersuchung: Abwechselndes
chen nach innen, horizontal nebeneinanderstehende, gerade Fixieren des Zeigefingers bei Festhalten des Kopfes zur Interfe-
Doppelbilder (N. VI). Untersuchung: U.a. Verfolgen des Zeige- renzvermeidung zwischen Augen- und Kopfbewegung.
fingers mit Blicken.
Nystagmus. Symptome: Sehstörungen, unscharfe Wahr-
N. trigeminus (N. V). Symptome: Ein- oder doppelseitige nehmung von sich scheinbar oszillierend bewegenden, jedoch
Kaumuskulaturlähmung. Untersuchung: Anspannen der stillstehenden Objekten. Untersuchung: u.a. Frenzelbrille, Beob-
Kiefermuskulatur, Sensibilitätsprüfung, Masseterreflex, Korneal- achtung auf Spontannystagmus bei offenen Augen, Lagerungs-
reflex. nystagmus nach raschem Hinlegen oder Aufrichten, Blickrich-
tungsnystagmus bei spontaner Blickbewegung. Formen: Phy-
N. facialis (N. VII). Symptome: Unterschiedliche Lidspal- siologischer Nystagmus: Fixation bleibt trotz Veränderungen
tenweite, Asymmetrien der Stirnfurchung und Nasolabial- der Körperlage oder Objektbewegung bestehen. Pathologi-
falten, Schiefstehen des Mundes. Untersuchung: Stirn- scher Nystagmus: Angeborener N. mit kontinuierlicher Bewe-
runzeln, Zukneifen der Augen, Naserümpfen, Lächeln, Lip- gungsunruhe; akuter, vestibulärer, richtungsbestimmter N. mit
penspitzen. Schwindel, Übelkeit, Ohrensausen, Hörminderung; Blickrich-
tungs-N. mit unsystematischem Schwindel.
N. statoacusticus (N. VIII). Symptome: Hörminderung,
Ohrgeräusche, systematischer Schwindel mit Übelkeit, Otitis Reflexuntersuchungen
media, Trommelfelldefekte. Untersuchung: Spiegeluntersu-
chung, binaurale oder monaurale Prüfung des Hörvermö- Eigenreflexe. Muskelzuckung, durch Muskeldehnung mit
gens für Umgangs- und Flüstersprache, Untersuchung mit Aktivierung der Muskelspindeln ausgelöst, kein Ermüden bei

6
1.14 · Untersuchung des bewusstlosen Patienten
77 1

Wiederholung. Formen: Armeigenreflexe wie Bizeps- und Untersuchung auf zerebelläre Störungen der Bewegungs-
Trizepssehnen-, Pronator-, Knips-, Fingerflexorenreflex; Bauch- koordination
deckenreflex; Beineigenreflex wie Partellasehenreflex.
Informationen zu geordneten, fein dosierten oder zielgerichte-
Fremdreflexe. Muskelzuckung, durch Stimulation taktiler ten Bewegungen (Fein-, Ziel- und Rumpfmotorik) werden vom
Rezeptoren in der Haut ausgelöst, Ermüden durch Kleinhirn nicht mehr verarbeitet (Kleinhirnataxie) oder gelangen
Habituation. Formen: Keine diagnostisch zuverlässigen nicht mehr ins Kleinhirn (afferente oder sensible Ataxie). Symp-
Fremdreflexe an oberer Extremität Bauchhaut-, Cremaster-, tome: Dysmetrie, Zieltremor, skandierendes Sprechen, Dysdia-
Analreflex, pathologische Reflexe der unteren Extremität dochokinese, okulomotorische Symptome. Untersuchung: u.a.
(Babinski-Gruppe) Versuch zur Feinbeweglichkeit, Finger-Nase-, Finger-Finger-,
Knie-Hacken-, Imitationsversuch.
Untersuchung auf motorische Störungen
Untersuchung auf Störungen der Sensibilität
Lähmungen. Ausfall in der Kraft der Muskelinnervation.
Periphere Lähmung: Durch Läsion im peripheren moto- Dient der Wahrnehmung von Sinnesreizen und Regulierung
rischen Neuron oder im Muskel selbst. Symptome: Parese der Motorik. Symptome: Hypästhesie, Anästhesie, Analgesie,
oder Paralyse, meist mit nervalem oder radikulärem Vertei- Allodynie, Neuralgie, Parästhesien, Dysästhesie, Hyperpathie,
lungsmuster, Atrophie der betroffenen Muskeln, Hypotonie, Kausalgie, Stumpf-, Phantomschmerz bei Amputationen.
abgeschwächte oder erloschene Eigenreflexe, keine patholo- Untersuchung: Berührungs-, Schmerz- und Temperatur-
gischen Reflexe. empfindung, Vibrationsempfindung, Lokalisationsvermögen.
Zentrale Lähmung: Betroffen sind ganze Regionen ohne
nervale oder radikuläre Prädilektion. Symptome: Beeinträch- Untersuchung auf vegetative Fehlfunktionen
tigung der Feinmotorik, Massenbewegungen, keine Atro-
phie, spastische Tonuserhöhung, Reflexsteigerung, Kloni, Symptome: Störungen der Blasenentleerung, Herzkreislaufre-
pathologische Reflexe. gulation, Atmung, Schweißsekretion, Sexualfunktion.

Basalganglien-Syndrome Untersuchung auf Rückenmarksyndrome

Parkinson-Syndrom. Hypokinese, Hypomimie, kleinschrit- Querschnittslähmung. Doppelseitige zentrale Lähmung mit


tiger schlurfender Gang, Rigor, »Zahnradphänomen«, Tremor. Sensibilitätsstörung für alle Qualitäten und vegetativen Stö-
rungen.
Choreatisches Syndrom. Hyperkinesen mit raschen, flüch-
tigen Kontraktionen einzelner Muskeln oder Muskelgruppen Brown-Séquard-Syndrom. Halbseitige Rückenmarkschädi-
mit ausgeprägtem Bewegungseffekt. gung mit mit gleichseitiger zentraler Parese und beidseitiger
dissoziierter Sensibilitätsstörung.
Ballismus. Unwillkürliche ausfahrende Bewegungen meist
im Schulter- und Beckengürtel.
Zentrale Rückenmarkschädigung. Periphere Lähmung in
Höhe der Läsion und zentrale Lähmung unterhalb der Läsion.
Dystonien. Kontraktionswellen im Gesicht, Drehbewegung
von Rumpf und proximalen Extremitätenabschnitten bei
Höhenlokalisation einer Rückenmarkschädigung. Hals-
generalisierter Dystonie. Blepharospasmus, laryngeale
markläsion; Brustmarkläsion, Lumbalmark-, Kaudo- und
oder spasmodische Dysphonie (angestrengtes Sprechen,
Konusläsion; Kaudasyndrom, Läsion des Conus medullaris.
Versiegen der Phonation), oromandibuläre Dystonie (to-
nische Hyperkinesen von Kiefer, Zunge und Mimik des
Untersuchung des Bewusstlosen
Untergesichts), segmentale zervikale Dystonie (Drehung des
Kopfes in unregelmäßiger Folge) bei fokaler Dystonie.
Neurologische Notfalluntersuchung: Behandlung lebensbe-
Athetose. Unwillkürliche Hyperkinesen distaler Extremitä- drohender Funktionsstörungen von Atmung und Kreislauf.
tenabschnitte und des Gesichts, mangelhafte Artikulation, Symptome: Akute oder intermittierende Lähmungen, Nacken-
fehlende Koordination der Sprech- und Atemmuskeln. steifigkeit, perakute Kopfschmerzen, akute oder subakute
Querschnittslähmung, fokale oder generalisierte epileptische
Tremor. Unwillkürliche, rhythmische, Kontraktion eines Anfälle, akute Bewusstseinsstörung. Notfallbehandlung:
Körperteils. Stabilisierung von Atmung und Kreislauf, Volumensubstitution,
Säure-Basen-Ausgleich. Weiterführende Diagnostik: CT mit
Myoklonien. Blitzartige Kontraktionen von Muskeln, Muskel- CTA, MRT/MRA, Dopplersonographie, EEG, Lumbalpunktion.
gruppen oder des ganzen Körpers mit oder ohne Bewe-
gungseffekt.
2

2 Neuropsychologische Syndrome
und Störungen des Bewusstseins
2.1 Psychischer Befund – 81

2.2 Neuropsychologischer Befund – 82


2.2.1 Neuropsychologische Leistungen – 82
2.2.2 Neuropsychologische Untersuchung – 82

2.3 Aphasien – 82
2.3.1 Broca-Aphasie – 83
2.3.2 Wernicke-Aphasie – 84
2.3.3 Globale Aphasie – 85
2.3.4 Amnestische Aphasie – 86
2.3.5 Differenzierung der vier Aphasietypen – 86
2.3.6 Lokalisation – 87
2.3.7 Therapie – 89

2.4 Apraxien – 89
2.4.1 Ideomotorische Apraxie – 89
2.4.2 Ideatorische Apraxie – 91

2.5 Räumliche Störungen – 91


2.5.1 Räumlich-konstruktive Störung – 92
2.5.2 Räumlich-perzeptive Störung (Räumliche Orientierungsstörung) – 92

2.6 Halbseitige Vernachlässigung (Neglect) – 93

2.7 Anosognosie – 93

2.8 Agnosie – 94

2.9 Gedächtnisstörungen und Syndrome von Amnesie – 95


2.9.1 Einteilung der Gedächtnisfunktionen – 95
2.9.2 Amnesie – 95

2.10 Störungen der Aufmerksamkeit – 96

2.11 Störungen der Planung und Kontrolle von Handlungen und Verhalten – 97

2.12 Demenzsyndrome – 97

2.13 Störungen von Affekt und Antrieb – 97


2.13.1 Antriebsstörung – 97
2.13.2 Pathologisches Lachen und Weinen – 98
2.13.3 Enthemmung des sexuellen und aggressiven Verhaltens – 98
2.14 Einteilung der Bewusstseinsstörungen – 98
2.14.1 Quantitative Bewusstseinsstörung – 98
2.14.2 Störungen der Bewusstheit – 99

2.15 Ursachen der akuten Bewusstlosigkeit – 101


2.15.1 Primäre und sekundäre Bewusstlosigkeit – 101

2.16 Dezerebrationssyndrome – 103


2.16.1 Apallisches Syndrom (persistierender vegetativer Zustand) – 104
2.16.2 Andere schwere Hirnstammsyndrome ohne Verlust der Wachheit – 104

2.17 Dissoziierter Hirntod – 105


2.1 · Psychischer Befund
81 2
> > Einleitung Befunds in den neurologischen Befund eingeht. Sie fühlen sich
hierdurch diskriminiert und psychiatrisiert, und verlangen, dass
Im Jahr 1848 erlitt der Bauarbeiter Phineas Gage im Alter von sowohl der Befund aus dem Arztbericht als auch die Untersu-
25 Jahren einen schweren Arbeitsunfall. Bei Sprengarbeiten bohrte chungsleistung aus der Rechnung entfernt wird. Nicht selten ist
sich der Eisenstab, mit dem das Sprengpulver in die Bohrung dieses Phänomen bei Akademikern und auch bei Ärzten zu
gestopft wird, quer durch seinen Kopf. Er trat an seiner linken finden – ein Zeichen dafür, dass der Weg zum unbefangenen
Wange ein, durchbohrte die Schädelbasis und den rechten Fron- Umgehen mit der Psyche noch weit ist.
tallappen und trat rechts frontal wieder aus. Phineas Gage verlor Das Gehirn ist unzweifelhaft der Ort, in dem psychische
nicht einmal das Bewusstsein und wurde sitzend in einer Kutsche Leistungen generiert werden, auch wenn es Fehlleistungen sind.
wegtransportiert. Der Eisenstab wurde entfernt, der Patient erhol- Dass bei organischen Krankheiten des Gehirns auch psychische
te sich erstaunlich gut und wurde nach zwei Monaten als geheilt und neuropsychologische Funktionen gestört sein können, ja
entlassen. Er konnte sprechen, hören, hatte keine Lähmungen und müssen, ist logisch und trivial. Dazu kommt, dass neurologische
keine Störungen der Feinmotorik, nicht einmal Koordinationsstö- Symptome wie Schmerzen, Lähmungen, Anfälle, Gangstörungen
rungen. Aber er war nicht mehr Phineas Gage: Aus einem freund- und viele andere mehr auch Gegenstand einer psychogenen
lichen, unterhaltsamen, selbstbewussten und immer rücksichtsvol- Syndrombildung sein können. Umso wichtiger ist die unvorein-
len jungen Mann war eine unkontrollierte, aggressive und überall genommene Beschreibung des psychischen Befunds.
aneckende Person geworden. Seine verbalen Äußerungen waren
einsilbig, unfreundlich, vulgär, obszön und beleidigend. Seine
gesamte Persönlichkeit kontrastierte scharf mit seinem ehema- 2.1 Psychischer Befund
ligen Wesen. Was war geschehen? Die Verletzung hatte Bereiche
des Gehirns zerstört, in denen offensichtlich Verhaltensweisen Der psychische Befund wird oft vernachlässigt. Viele Untersu-
repräsentiert sind, die unsere Persönlichkeit ausmachen. cher geben nur eine farblose Reihe von Kriterien an, nach de-
Hirnschädigungen führen nicht nur zu Lähmungen oder nen alle Patienten gleich erscheinen: Sie konstatieren, dass der
Gesichtsfelddefekten, sondern können auch psychologische Patient bewusstseinsklar und voll orientiert ist, keine formalen
Beeinträchtigungen zur Folge haben. Im Gehirn werden auch oder inhaltlichen Denkstörungen aufweist (die bei neurolo-
Funktionen wie Sprachvermögen, Gedächtnis, die Ausführung gischen Krankheiten ohnehin kaum zu erwarten sind) und
zweckmäßiger Handlungen, visuelle und akustische Wahrneh- dass keine »Werkzeugstörungen« vorgelegen haben.
mungen sowie räumliche Orientierung organisiert, um nur die Stattdessen sollte man zuerst versuchen, das Verhalten des
wichtigsten zu nennen. Neuropsychologische Syndrome, also die Patienten (spontan, im Gespräch und während der Untersu-
Störungen dieser Funktionen, werden empirisch mit Läsionen in chung) so anschaulich zu beschreiben, dass sich jeder, der die
umschriebenen Regionen des Assoziationskortex und seiner Krankengeschichte liest, einen eigenen Eindruck bilden kann.
Verbindungsbahnen in Beziehung gebracht. Die Prinzipien der Danach geht man auf die wichtigsten geistig-seelischen Kate-
Netzwerkorganisation und der multiplen Repräsentation erlau- gorien ein, auf die man in der Exploration und während der
ben jedoch keine festen lokalisatorischen Zuordnungen. neurologischen Untersuchung geachtet hat: Bewusstsein, Ori-
Der psychische Befund gehört zur neurologischen Untersu- entiertheit, spontaner Antrieb, Anregbarkeit, Stimmung, affek-
chung, auch wenn sich viele Patienten dagegen wehren und tive Resonanz, den mimischen, gestischen und sprachlichen
vehement ablehnen, dass eine Beschreibung des psychischen Ausdruck sowie schließlich Aufmerksamkeit, Konzentration,
6 begriffliche Schärfe des Denkens und Merkfähigkeit.

Exkurs
Intelligenz- und Persönlichkeitstests lungs-IQ = Hirnschädigung« trifft in dieser Schärfe nicht zu.
Bei der Berechnung des Intelligenzquotienten in der Extreme Gipfel und Täler im Testprofil sind selten, und im
Durchschnittsbevölkerung liegen entsprechend der Allgemeinen korrelieren die Leistungen in verschiedenen
Gauss’schen Verteilungskurve 68% der Bevölkerung inner- Beanspruchungen erstaunlich gut miteinander. Deshalb hat
halb von +/– 1 Standardabweichung (= 15 Punkte, d.h. der empirisch gewonnene Begriff des Intelligenzquotienten
zwischen 85 und 115 Punkten) um den Mittelwert von doch seine Berechtigung. Was man Intelligenz nennt, ist das
100 Punkten. Werte darunter oder darüber werden als unter- Produkt aus Leistungsverhalten in verschiedensten Situatio-
durchschnittlich bzw. überdurchschnittlich bezeichnet. Bei nen. Intelligenz setzt sich also aus Partialfertigkeiten zusam-
einem IQ unter 70, also außerhalb von 2 Standardabweichun- men und ist insofern eine Abstraktion. Diese Partialfertigkeiten
gen spricht man von Debilität. Die Frage, ob jemand hirn- korrelieren aber sehr hoch miteinander.
geschädigt oder infolge einer Hirnschädigung intellektuell
beeinträchtigt ist, lässt sich nur ganz grob beantworten, Persönlichkeitsfragebogen, wie MMPI (= Minnesota Multi-
zumal der prämorbide IQ aufgrund von Schulbildung und phasic Personality Inventory) oder FPI (= Freiburger Persön-
Berufsposition geschätzt wird. Es ist nicht immer so, dass lichkeitsinventar) geben wertvolle Aufschlüsse über die
eine Hirnschädigung verbale Leistungen fast unberührt lässt, affektive Seite der Persönlichkeit und ihre Charakterstruktur,
praktische Leistungen dagegen stärker beeinträchtigt. Die gehören aber seltener zur neuropsychologischen Untersu-
alte Behauptung: »Verbal-IQ wesentlich höher als Hand- chung.
82 Kapitel 2 · Neuropsychologische Syndrome und Störungen des Bewusstseins

Leider hat es sich eingebürgert, anstelle anschaulicher Be- 2.2.2 Neuropsychologische Untersuchung
schreibungen des Verhaltens schablonenhafte Begriffe wie
»Durchgangssyndrom« oder »hirnorganisches Psychosyn- Bei jedem Verdacht auf eine Hirnschädigung sollte wenigstens
drom« (kurioserweise abgekürzt zu HOPS, man beachte zu- eine orientierende neuropsychologische Untersuchung vorge-
2 dem die semantische Akrobatik: das Gehirn ist also organisch, nommen werden. Hierzu gehört eine kurze Intelligenzprüfung,
wie überraschend!) zu verwenden, und zwar ohne weitere eine Aphasieprüfung, die Untersuchung von Lesen und Schrei-
Charakterisierung. ben sowie die Prüfung der Praxie, der optisch-räumlichen Vor-
Solch blasse Kategorien, die den falschen Eindruck erwe- stellung, der konstruktiven Leistungen und des optischen Er-
cken, dass organische Hirnschädigungen jeder Art und Lokali- kennens.
sation ein einheitliches Syndrom von psychiatrisch-neuropsy-
chologischen Veränderungen zur Folge haben, sind wenig an- Intelligenz
schaulich und suggerieren einen Informationsgehalt, den sie Zuverlässige Befunde über die intellektuelle Leistungsfähigkeit
nicht haben. Nur am Rande sei bemerkt, dass mit dem Terminus kann man nur in einer neuropsychologischen Untersuchung
»Durchgangssyndrom« oft auch psychische und psychologische mit standardisierten Testverfahren, wie dem Wechsler-Intelli-
Veränderungen belegt werden, die bleibende Defektzustände genztest für Erwachsene (HWIE), dem Leistungsprüfsystem
sind. Bei vielen Krankheitszuständen wird dieser Begriff vor- (LPS) oder dem Intelligenzstrukturtest (IST) gewinnen. In die-
schnell und oberflächlich angewendet, und eine Beschreibung sen, wie auch in anderen Intelligenztests, wird eine Reihe von
im oben skizzierten Sinne wäre vorzuziehen. Im Übrigen unter- Partialleistungen untersucht:
stellt der Begriff eine Zielrichtung, vielleicht sogar in Richtung 4 das reine Erfahrungs- und Bildungswissen,
Normalisierung, die oft nicht eintritt. Erst wenn das »Durch- 4 das Verständnis für soziale Situationen,
gangssyndrom« beendet ist, weiß man definitiv, dass es eines 4 das abstrahierende Denken, geprüft an der Bildung von
war. Wer dennoch den Begriff des Durchgangssyndroms ver- Oberbegriffen,
wendet, sollte dieses durch ein beschreibendes Eigenschaftswort, 4 das logische Denken und Schlussfolgern, geprüft über das
etwa »aspontan« oder »delirant«, charakterisieren. Herstellen der richtigen Reihenfolge von Bildern, die bestimm-
te Szenen anschaulich darstellen,
4 das Analysieren und Umstrukturieren visueller Muster
2.2 Neuropsychologischer Befund (Mosaiktest, Figuren nach Art eines Puzzle zusammenlegen),
4 die verbale Ausdrucksfähigkeit und die Gewandtheit im
2.2.1 Neuropsychologische Leistungen Umgang mit sprachlichen Begriffen, geprüft über den Wort-
schatz,
Jeder kennt ältere Menschen, deren Gedächtnisfunktionen ge- 4 die Rechenfertigkeit,
litten haben. Sie suchen »ständig« Gegenstände des täglichen 4 die unmittelbare Merkspanne und
Gebrauchs, behalten nicht, was man ihnen sagt und reden im- 4 das psychomotorische Tempo, geprüft z.B. in einem Unter-
mer wieder von längst vergangenen Ereignissen. Andere fin- test, in dem unter Zeitbegrenzung festgelegte Symbole für Zah-
den sich in der gewohnten Umgebung nicht mehr zurecht, len eingesetzt werden müssen.
wieder andere können ihren Tagesablauf nicht mehr organisie-
ren. Die Leistungen der Versuchspersonen in den verschiedenen
Etwa 30% der Menschen, die einen Schlaganfall über- Untertests werden dann aber zu einem Gesamtergebnis zu-
leben, können nicht mehr korrekt und manchmal überhaupt sammengefasst, das man den Intelligenzquotienten nennt. Sei-
nicht mehr verständlich sprechen und auch gesprochene ne Punktzahl ist ein globales Maß für die intellektuelle Allge-
oder geschriebene Sprache nicht mehr verstehen. Solche Men- meinbefähigung eines Menschen.
schen werden leicht für verwirrt oder »abgebaut« gehalten,
selbst wenn ihre Fähigkeit zum Erfassen sozialer Situationen
und zum logischen Denken, d.h. zum Schlussfolgern, erhal- 2.3 Aphasien
ten ist.
Die Bezeichnung neuropsychologische Syndrome zeigt, dass 3Definition. Aphasie ist eine Störung im kommunikativen
hier Leistungen gestört sind, die normalerweise in den Bereich Gebrauch der Sprache, die in verschiedenen Formen auftreten
der Psychologie gehören. Sie müssen deshalb auch beim neu- kann. Sie muss von den Funktionsstörungen der Sprechmotorik
rologischen Patienten mit psychodiagnostischen Tests oder unterschieden werden, die man als Dysarthrophonie bezeich-
mit den Methoden der experimentellen Psychologie unter- net. Dieser Terminus sollte die alte Bezeichnung Dysarthrie
sucht werden. An geeignete, neuropsychologische Untersu- (griech. árthros, Gelenk) ablösen, weil nicht nur die Artikulati-
chungsmethoden sind folgende Anforderungen zu stellen: onsmotorik, sondern auch Stimmgebung und Sprechatmung
4 Sie sollen die zu untersuchende Leistung auch tatsächlich gestört sind.
prüfen (Validität).
4 Sie müssen unter standardisierten Bedingungen ange- 3Diagnostik. Spontansprache: Der wichtigste Teil der
wandt und ausgewertet werden. Untersuchung ist die genaue Beobachtung des spontanen
4 Die Ergebnisse sollen verlässlich (Reliabilität) und, wo im- Sprachverhaltens. Man lässt den Patienten möglichst frei und
mer möglich, quantifizierbar sein. ohne störende Unterbrechung über Themen berichten, die ihm
2.3 · Aphasien
83 2
Exkurs
Dysarthrophonie
Sprechstörungen werden durch Funktionsstörungen auf 4 die kortikale, pseudobulbäre oder bulbäre Dysarthro-
allen Ebenen verursacht, auf denen Motorik organisiert wird. phonie, die auf zentraler Bewegungsstörung oder peripherer
Dass die Sprechmotorik ein so feiner Indikator motorischer Lähmung der Sprechmuskulatur beruht,
Störungen ist, wird durch die folgenden Überlegungen 4 die zerebelläre Koordinationsstörung der Sprechbewe-
verständlich: Am Sprechen sind etwa 100 Muskeln beteiligt. gungen, die sich als skandierendes oder verwaschenes Spre-
Jeder Muskel enthält wenigstens 100 motorische Einheiten, chen äußert,
von denen in einem gegebenen Augenblick schätzungswei- 4 die Artikulationsstörungen bei Krankheiten der Basal-
se 10 aktiv sind. Beim Sprechen werden im Durchschnitt ganglien (7 Kap. 23).
14 Laute pro Sekunde geäußert. Daraus folgt, dass pro Se-
kunde 14.000 verschiedene neuromuskuläre Ereignisse oder Die Dysarthrophonie kann isoliert als reine Sprechstörung
Ereigniskombinationen im korrekten Zeitablauf der Inner- auftreten. In der Form der sog. kortikalen oder Hemisphä-
vation zur sprechmotorischen Leistung koordiniert werden rendysarthrophonie kann sie auch eine aphasische Sprach-
müssen. Wir unterscheiden in der Neurologie folgende störung begleiten.
Sprechstörungen:

emotional nahe liegen und denen er intellektuell gewachsen Die übliche Klassifikation der Aphasien bezieht sich auf
ist: Entwicklung der Krankheit und gegenwärtige Beschwer- Sprachstörungen bei Schlaganfallpatienten in der chronischen
den, berufliche Tätigkeit, Lebensgeschichte. Der Untersucher Erkrankungsphase (ab ca. 6 Wochen nach dem Ereignis). Bei
soll sich dabei so weit wie möglich zurückhalten und nur so anderen Krankheiten oder in der Akutphase trifft diese Eintei-
viele Fragen stellen oder kurze Bemerkungen machen, wie lung oft nicht zu. Hier beschränkt man sich auf die Beschreibung
nötig sind, um den Patienten am Reden zu halten. Man achtet der Symptome und – in Abhängigkeit von der Spontansprache
dabei auf – auf eine Einteilung in »flüssige« oder »nichtflüssige« Formen.
4 Sprachanstrengung,
4 Flüssigkeit des Sprechens,
4 Sprachmelodie, 2.3.1 Broca-Aphasie
4 Artikulation,
4 Entstellung von Wörtern (phonematische Paraphasien), Patienten mit Broca-Aphasie zeigen eine starke Sprachanstren-
4 falsche Wortwahl (semantische Paraphasien), gung und Agrammatismus bei relativ gutem Sprachverständ-
4 Wortneubildungen (Neologismen), nis und meist erhaltenem Störungsbewusstsein, d.h. die Pati-
4 Umschreibungen anstelle eines gesuchten Wortes, enten bemerken ihre Defizite und leiden sehr darunter.
4 die syntaktische Struktur der Sätze,
4 das Sprachverständnis und Spontansprache. Die Kranken sprechen spontan fast gar nicht.
4 die Reaktion des Patienten auf seine eventuellen sprach- Nach Aufforderung bringen sie zögernd, mühsam nach Wor-
lichen Minderleistungen. ten ringend, in abgehackter Betonung und undeutlicher Arti-
kulation sehr kurze Sätze hervor. Die Struktur dieser Sätze ist
Aus dem spontanen Sprechen ergeben sich oft schon wichtige auf einzelne, kommunikativ wichtige Substantive, Verben und
Aufschlüsse für die Beurteilung der einzelnen sprachlichen Adjektive reduziert, während Artikel, Konjunktionen, Präpo-
Minderleistungen, die später durch spezielle Tests gezielt un- sitionen und Pronomina sowie auch die Deklinations- und
tersucht werden. Konjugationsformen fortfallen (Agrammatismus oder Tele-
Sprachtests: Für die genauere Diagnostik wird die Spon- grammstil).
tansprache wie auch die Sprachproduktion in der Testsituation Die Wörter sind durch phonematische Paraphasien ver-
(s.u.) dokumentiert. Für die Klassifizierung und die Feststel- ändert, bei denen einzelne Laute oder Silben ausgelassen, um-
lung des Schweregrads der Aphasie verwendet man verschie- gestellt oder entstellt werden: z.B. Meksel statt Messer, Zezem-
dene Aufgabentypen, die unterschiedliche Sprachleistungen ber statt Dezember, Geschwindkeit, Beilstift, Tatschentuch.
prüfen: Die Broca-Aphasie ist meist mit einer artikulatorischen
4 Nachsprechen von Lauten, Wörtern und kurzen Sätzen, Sprechstörung (Dysarthrophonie) verbunden. Läsionen in der
4 Benennen und Beschreiben von gezeigten Abbildungen, Operkularregion der nichtdominanten Hemisphäre führen zu
4 Verständnis für Namen von Objekten und für Sätze, ge- einer rasch vorübergehenden dysarthrophonischen Sprechstö-
prüft mit Auswahlaufgaben, rung ohne Aphasie.
4 Schriftsprache. Viele Patienten mit Broca-Aphasie und rechtsseitiger
Halbseitenlähmung haben zusätzlich eine Apraxie.
Ein linguistisch aufgebauter, psychometrisch zuverlässiger
Test ist der Aachener Aphasie-Test (AAT), dessen Ergebnisse > Broca-Aphasie: Sprachanstrengung, Telegrammstil,
auch als Grundlage der logopädischen Therapie von Aphasien Agrammatismus, phonematische Paraphasien, aber
dienen. oft relativ gut erhaltenes Sprachverständnis.
84 Kapitel 2 · Neuropsychologische Syndrome und Störungen des Bewusstseins

Exkurs
Transskript bei Broca-Aphasie Patient: Unfall ja … nicht … und zwar … meine … Frau und
Untersucher: Wie hat das denn angefangen mit Ihrer Krank- ich eh … eh … eh … Badeanstalt … und dann schwimmen …
heit? einmalig … nicht … eh … eh … eh … prima … eh … eh …
2 Patient: Meine Frau und ich … schwimmen … und war Bade Wasser … nicht … und dann eh … eh … eh … dann … eh …
… un … eh … eh … eh … Ba … de … un … ah … nein. Beterbrett … und zwar runtergesprungen … untata … ge-
Untersucher: Doch, stimmt … Bade … un … taucht … und dann eh … eh … Wasser auch … eh … eh … eh
Patient: Nein. … und dann eh … eh … ich auf einmal weg … weg … also …
Untersucher: Badeunfall. belwusstlos.

Sprachverständnis. Regelmäßig findet man auch Störungen -rhythmus). Phrasenlänge und Sprechgeschwindigkeit entspre-
im Sprachverständnis in unterschiedlicher, aber fast immer chen der Normalsprache. Die Rede ist durch reichliche Parapha-
leichter Ausprägung. Diese beeinträchtigen die Kommunikati- sien entstellt, die die Patienten meist nicht zu verbessern suchen.
on aber nicht erheblich. Gelegentlich deckt erst die standardi- Bei manchen Kranken überwiegen phonematische (die Laut-
sierte Aphasieprüfung Sprachverständnisstörungen auf, die in struktur betreffend), bei anderen semantische (den Bedeutungs-
der Exploration nicht zu erkennen waren. gehalt betreffend) Paraphasien. Dies sind Fehlbenennungen, die
meist aus dem Bedeutungsfeld des Zielworts stammen, aber
Schreiben und Lesen. Das Schreiben ist in ähnlicher Weise wie auch grob davon abweichen können. Die paraphasischen Ent-
das Sprechen durch Agrammatismus und Paragraphien ge- stellungen können zu Neologismen führen, d.h. zu Wörtern, die
stört. Eine aphasische Agraphie lässt sich gut nachweisen, wegen ihrer phonematischen oder semantischen Struktur nicht
wenn die Patienten aus Buchstabentäfelchen Wörter und/oder zum Wortschatz der jeweiligen Sprache gehören.
aus Satzteilen Sätze nur fehlerhaft zusammenlegen. Der Satzbau ist aufgrund von fehlerhafter Kombination
Das Lesen ist in dem Maße beeinträchtigt wie das Sprechen, und Stellung von Wörtern, von Satzabbrüchen, Verschrän-
das Lesesinnverständnis ist dagegen verhältnismäßig gut erhal- kungen von Sätzen und aufgrund falscher Endungsformen
ten. Es sind also alle expressiven sprachlichen Leistungen betrof- gestört. Diese Veränderungen des Satzbaus werden unter dem
fen, aber auch die rezeptiven Sprachleistungen sind nicht intakt. Begriff Paragrammatismus zusammengefasst.
> Wernicke-Aphasie: Reichliche, unkontrollierte
2.3.2 Wernicke-Aphasie Sprachproduktion, semantische Paraphasien, Para-
grammatismus und schwere Störung im Sprachver-
ständnis.
Patienten mit Wernicke-Aphasie zeigen einen gut erhaltenen
Sprachfluss, meist eine überschießende Sprachproduktion mit Sprachverständnis. Dieses ist erheblich beeinträchtigt: Die Pa-
reichlich phonematischen oder semantischen Paraphasien und tienten erfassen die Rede ihres Gesprächspartners nur ganz
Neologismen. Das Sprachverständnis ist stark gestört, so dass ungefähr und können beim Benennen von Objekten, das ihnen
die Kommunikation erheblich eingeschränkt ist. Patienten mit grob misslingt, aus einer angebotenen Auswahl von Bezeich-
Wernicke-Aphasie werden häufig als verwirrt ins Krankenhaus nungen nicht die zutreffende erkennen. Formal bleibt dabei
eingewiesen, weil die schwer verständliche Rede als Ausdruck der dialogische Austausch von Rede und Gegenrede (sog. Spre-
einer Denkstörung aufgefasst wird. cherwechsel) erhalten.

Spontansprache. Die Spontansprache der Patienten ist gut ar- Weitere Symptome. Nachsprechen, Lesen, spontanes Schrei-
tikuliert und von normaler Prosodie (Sprachmelodie und ben und nach Diktat schreiben sind durch Paraphasien, Para-

Exkurs
Transkripte von Patienten mit Wernicke-Aphasie
1. Wernicke-Aphasie mit vorwiegend semantischen Para- Beweis mit seinen Papier dass er nachweisen kann … ich kann
phasien: ihm aber nicht nachweisen … wird aber bloß festgestellt
Untersucher: Sie waren doch Polizist, haben Sie mal einen vorläufig … aber er kann laufen.
festgenommen?
Patient: Na ja … das ist so … wenn Sie einen treffen draußen 2. Wernicke-Aphasie mit überwiegend phonematischen
abends … das ist ja … und der Mann wird jetzt versucht … Paraphasien:
als wenn er irgend was festgestellen hat ungefähr … ehe Untersucher: Können Sie mich eigentlich verstehen?
sich macht ich … ich kann aber noch nicht amtlich … jetzt Patient: Ich brauch unbedingt die Helfen des Seren … ah …
muss er sein Beweis nachweisen … den hat er nicht … also das mir die Möglichkeit gibt der Intolationen zu verarbeitnen
ist er fest … und wird erst sicher gestellt festgemacht … der und anzuweitnen … die ich ohne … z.B. mit geschlognen
wird erst festgestellt werden und dann wird festgestellt was Augnen gar nich mehr benutzen könnte. Da wird also das
sich dort vorgetragen hat … nicht … erst dann … ist ein gleich … das gleich … äh … exkult … verschiedn.
2.3 · Aphasien
85 2
Exkurs
Transkripte von Patienten mit Jargon-Aphasie
1. Wernicke-Aphasie mit phonematischem Jargon: 2. Wernicke-Aphasie mit semantischem Jargon:
Untersucher: Was haben Sie denn an diesem Wochenende Der Patient soll eine Kneifzange benennen: »Kann man halt
gemacht, Herr P.? zurechtlegen irgendwie, wie man will, irgendwie drehen, Sie
Patient: Jeden Tag … Kegenabende … fringe … der Men- meinen doch, wenn da ein Steck dran ist, das Besteck, halt,
schen reden … nicht … dann fringe … in … in Tage in Men- halt die Uhr kann man da vielleicht abmachen, könnte man
schen … und immer Papa immer wergen. auch, weiß nich, was da noch dabei dran, muss abschalten,
Untersucher: Gehen Sie manchmal auch schwimmen? nich, kann es aber auch so machen und irgendwie als was
Patient: Ja ich … als einschmal war ich geh ich aber die anderes dazu, vielleicht irgendwie was anbringen muss, ir-
kommersch wegen … kommt es langsam … kommer … da gendwie vielleicht was Innenverbindung und dann wieder
bin ich … no als Menschen kommer jetzt menscher mensch dick machen, oder so was.«
… und ich werde dann wieder komm …

lexien und Paragraphien entstellt, mündliches und schrift- nehmen. Auf Ansprache wenden sie sich zu, verstehen aber nur
liches Rechnen sind schwer gestört. Mechanisches Kopieren einfachste Aufforderungen und Fragen, die man zudem so stel-
ohne Verstehen des Geschriebenen und Aufsagen automati- len muss, dass die Reaktion trotz Apraxie und Hemiparese
sierter Reihen gelingt oft gut, jedenfalls besser als die übrigen noch zu beurteilen ist. Ihre sprachlichen Reaktionen sind,
Sprachleistungen. Ein Störungsbewusstsein fehlt häufig, d.h. wenn die Patienten überhaupt sprechen, kaum verständlich.
die Patienten bemerken nicht, dass sie keine sinnvolle Sprach- Sie bestehen aus schlecht artikulierten und mit großer Sprach-
produktion mehr haben. anstrengung und mangelhafter Prosodie hervorgebrachten,
stereotyp wiederholten Wortfragmenten. In diesem Stadium
Jargon-Aphasie ist eine umfassende Aphasieprüfung nicht möglich. Man muss
Von Jargon-Aphasie spricht man, wenn die Rede durch Para- die Untersuchung auf Nachsprechen oder Mitsprechen be-
phasien und Neologismen so entstellt ist, dass sie über weite schränken, was häufig die einzige Möglichkeit ist, den Pati-
Strecken nicht mehr verständlich ist. Dabei können wiederum enten zu sprachlichen Äußerungen zu bringen.
phonematische Entstellungen oder semantische Paraphasien Fortlaufende Sprachautomatismen: Eine Untergruppe
überwiegen. Zwei Beispiele erläutern diese beiden Formen der von Kranken mit globaler Aphasie ist dadurch gekennzeichnet,
Jargon-Aphasie. dass sie ohne Sprechanstrengung, mit gewisser Prosodie und
Artikulation immer wieder dieselben sprachlichen Äuße-
rungen produzieren, die aus aneinandergereihten sinnlosen
2.3.3 Globale Aphasie Lautfolgen bestehen (»tatatatata«). Sie werden als fortlaufende
Sprachautomatismen oder recurring utterances bezeichnet.
Bei der globalen Aphasie sind alle expressiven und rezeptiven Das Sprachverständnis ist sehr schwer gestört.
sprachlichen Funktionen erheblich und etwa gleich schwer be-
einträchtigt. > Globale Aphasie: Störung von Sprachproduktion und
Sprachverständnis, Sprachanstrengung, semantische
Spontansprache. Im akuten Stadium machen globale Aphasi- und phonematische Paraphasien, Stereotypien,
ker kaum einen Versuch, spontansprachlich oder mimisch und manchmal gar keine Sprachäußerung oder Kommuni-
gestisch mit der Umgebung kommunikativen Kontakt aufzu- kation möglich.

Exkurs
Transkript bei globaler Aphasie
Die Form der Kommunikation mit einem schwer gestörten Patient: ja … wa … pompe
globalen Aphasiker illustriert folgendes Beispiel: Untersucher: Sprechen Sie mal schön deutlich … schön laut
Untersucher: Seit wann sind Sie denn schon bei uns hier? und deutlich.
Patient: … wa … pa Patient: schön … schön … schön
Untersucher: Sind Sie heute erst gekommen? Untersucher: Haben Sie eine Familie?
Patient: ja … ja … ja Patient: Familie … ja
Untersucher: Wohnen Sie in Aachen? Untersucher: Wie viele Kinder haben Sie?
Patient: wa … wa Patient: zwei … zwei … zw
Untersucher: Wo wohnen Sie denn da in Aachen? Untersucher: Und wie alt sind Ihre Kinder?
Patient: … ich … wa … pompe Patient: zwei Mädchen und ein … ein Männchen.
Untersucher: Jetzt erzählen Sie mir mal, was Sie für Be-
schwerden haben.
86 Kapitel 2 · Neuropsychologische Syndrome und Störungen des Bewusstseins

2.3.4 Amnestische Aphasie Notizbuch, Tier statt Hund, andere beschreiben den Gebrauch
oder die besondere Eigenschaft des Gegenstandes: Gürtel =
Patienten mit amnestischer Aphasie zeigen in erster Linie zum die Hose zu halten; Bleistift = zum Schreiben; Taschen-
Wortfindungsstörungen, die den ansonsten gut erhaltenen lampe = da macht man Licht mit. Der Patient ist im Wortfeld,
2 Sprachfluss ins Stocken bringen können. Sie werden meist tastet sich aber mühevoll und oft erfolglos an das gesuchte
durch Ersatzstrategien kompensiert. Das Sprachverständnis Wort heran.
und der Satzaufbau sind nur gering gestört, die Kommunika- In der spontanen Beschreibung kann ein Wort, das in der
tionsfähigkeit ist recht gut erhalten. Untersuchungssituation nicht reproduziert wurde, plötzlich
zur Verfügung stehen: Ein Patient, der seine Brille nicht zu
Spontansprache. Bei leichteren Formen können die Patienten benennen wusste, kann einige Minuten später, bei der Prüfung
eine Unterhaltung flüssig, sinnvoll und in syntaktisch kor- des Lesens, erklären, jetzt müsse er erst seine Brille aufsetzen.
rekten Sätzen führen. Man bemerkt aber bald, dass sie sich Bietet man den Patienten bei der Prüfung eine Auswahl
auffällig unpräzise ausdrücken und die genaue Bezeichnung von Benennungen an, sind sie in der Lage, prompt die zutref-
für Objekte und Tatbestände durch Umschreibungen und all- fende herauszufinden, allerdings mit einer gewissen subjek-
gemeine, schablonenhafte Redensarten ersetzen. Auf die Frage tiven Unsicherheit: Kugelschreiber, oder …?
nach seinem Beruf erwiderte ein Schäfer z.B.: »Ich bin so durch
die Gegend gelaufen«, auf die Frage nach dem Wohnort sagte Sprachverständnis. Im Hinblick auf das Sprachverständnis
eine Patientin: »Wo die Großstadt ist, da wohne ich noch im- sind Patienten mit amnestischer Aphasie im Gespräch unauf-
mer«, eine andere: »Da, wo ich eben immer arbeiten tu«. Auf fällig. Die Schriftsprache ist ähnlich beeinträchtigt wie das
die Frage nach den Beschwerden hört man oft die vage Ant- Sprechen, das Lesesinnverständnis meist erhalten.
wort: »Ach, es geht eben doch nicht so ganz«.
In schweren Fällen haben die Kranken eine zögernde
Sprechweise. Sie ergreifen kaum spontan das Wort, antworten 2.3.5 Differenzierung der vier Aphasietypen
auf Fragen nur in kurzen Sätzen und führen das Gespräch nicht
aktiv weiter. Häufig werden die Sätze auf halbem Wege ab- Die verschiedenen Formen von Aphasie werden in . Tabel-
gebrochen, und die Patienten nehmen auch gestische Darstel- le 2.1 differenziert.
lungen zu Hilfe. Paraphasien kommen in geringer Häufigkeit Alle diese klinisch unterschiedenen Formen der Aphasie
vor. haben eine Reihe von Eigenschaften gemeinsam: Immer ist die
Insgesamt wirkt die Rede der Patienten in ihrer sprach- Aussagesprache, z.B. die Fähigkeit, einen Bericht zu geben, ein
lichen Form verhältnismäßig intakt, sie fällt jedoch durch Objekt oder einen Tatbestand zu benennen, stärker betroffen
ihren geringen Informationsgehalt auf. als die emotionale Sprache und die präformierten automatisier-
ten Sprachäußerungen und sozialen Floskeln. Die Ausprägung
Wortfindungsstörung. Bei näherer Prüfung findet man eine der aphasischen Sprachstörungen ist sehr von der affektiven
Störung des Benennens, die sich auf Hauptwörter, Eigen- Verfassung, von der Antriebs- und Bewusstseinslage abhängig,
schaftswörter und Tätigkeitswörter erstreckt (Wortfindungs- daher kann beim selben Patienten die Schwere der sprachlichen
störung). Die gesuchten Wörter werden entweder gar nicht Minderleistungen in wechselnden Situationen ganz unter-
gefunden, durch ein Füllwort ersetzt (»das Dings da«) oder schiedlich sein.
durch charakterisierende Umschreibungen ersetzt. Manche Über die Differenzierung nach Aphasietypen hinweg ist
Patienten nennen nur die übergeordnete Kategorie: Buch statt eine Einteilung nach Schweregraden für Verlaufsuntersu-

Exkurs
Transkript bei amnestischer Aphasie
Untersucher: Frau J., können Sie mir mal sagen, wo Sie gebo- eh … (hustet) … auf gute Leistung wie man das drüben sagt
ren sind, wie Sie aufgewachsen sind, was der Vater von Beruf bei d‹ … eh … bei der DDR drüben … ja bin ich noch auf …
gemacht hat. (stöhnt) … Institut für Lehrerbildung … so jetzt weiß ich das
Patientin: Mein Vater ist … eh … vermisst … 1942 … und … Lehrerbildung und nun hab ich … nachher Kinder … eh
meine Mutter ist … wir sind im Dorf aufgewachsen … ja Kindergarten gemacht … das heißt … Kindergarten nicht …
sonst … was soll man machen … groß … gr … drei Kinder bis jetzt in … diesem Jahr … hab ich jetzt … Volksschule …
… sind wir … und an und für sich … ganz gut aufgewachsen Kindergarten hätt ich beinah gesagt (flüstert) nee nicht …
… sehr gut … trotz meinem Vater … dass der … mein Groß- (laut) nein Kindergarten … nicht … Kinderheim … Kinderheim
mutter war … wir sind alle zusammengelebt. hab ich gemacht … Ja … Kinderheim hab ich gemacht.
Untersucher: Hatten Sie noch Geschwister? Untersucher: Was haben Sie denn da gemacht in dem Kinder-
Patientin: Ja … hatt ich … zwei … hatt ich doch gesagt. heim?
Untersucher: Und was für eine Schule haben Sie dann be- Patient: Nur … Kinder … garten … eh … Kinder …
sucht? Kindergarten … wie soll ich sagen … Kindergarten geleitet …
Patientin: Ich bin nur die … Volksschule be … eh … wie soll also wie man sagt … Kindergarten nicht … also Kinder …
man sagen … normale Volksschule … und dann bin ich … Kindergruppen geleitet.
2.3 · Aphasien
87 2

. Tabelle 2.1. Klassifikation und Leitsymptome der aphasischen Syndrome


Amnestische Aphasie Wernicke-Aphasie Broca-Aphasie Globale Aphasie

Sprachproduktion Meist flüssig Flüssig Erheblich verlangsamt Spärlich bis 0, auch Sprach-
automatismen
Artikulation Meist nicht gestört Meist nicht gestört Oft dysarthrophonisch Meist dysarthrophonisch
Prosodie (Sprach- Meist gut erhalten Meist gut erhalten Oft nivelliert, auch skan- Oft nivelliert, bei Automatis-
melodie, -rhythmus) dierend men meist gut erhalten
Satzbau Kaum gestört Paragrammatismus (Verdop- Agrammatismus (nur ein- Nur Einzelwörter, Floskeln,
pelungen und Verschrän- fache Satzstrukturen, Fehlen Sprachautomatismen
kungen von Sätzen und Satz- von Funktionswörtern)
teilen)
Wortwahl Ersatzstrategien bei Viele semantische Para- Relativ eng begrenztes Äußerst begrenztes Vokabu-
Wortfindungsstörun- phasien, oft grob vom Ziel- Vokabular, kaum seman- lar, grob abweichende se-
gen, einige seman- wort abweichend, seman- tische Paraphasien mantische Paraphasien
tische Paraphasien tische Neologismen; in der
stärksten Form semantischer
Jargon
Lautstruktur Einige phonematische Viele phonematische Para- Viele phonematische Sehr viele phonematische
Paraphasien phasien bis zu Neologismen, Paraphasien Paraphasien und Neo-
auch phonematischer Jargon logismen
Verstehen Leicht gestört Stark gestört Leicht gestört Stark gestört

Tabelle 2.2. Kommunikationsskala nach Goodglass und Kaplan zur Feststellung des Schweregrades bei Aphasie
Grad Aphasie

0 Keine verständliche Sprachäußerung und kein Sprachverständnis


1 Kommunikation nur durch fragmentarische Äußerungen; der Hörer muss den Sinn des Gesagten erschließen, erfragen und erraten. Der Um-
fang an Informationen, die ausgetauscht werden können, ist begrenzt, und der Gesprächspartner trägt die Hauptlast der Kommunikation
2 Eine Unterhaltung über vertraute Themen ist mit Hilfe des Gesprächspartners möglich. Häufig gelingt es nicht, den jeweiligen Gedanken zu
übermitteln, jedoch tragen Patienten und Gesprächspartner etwa gleich viel zur Kommunikation bei
3 Der Patient kann sich fast über alle Alltagsprobleme ohne oder mit nur geringer Unterstützung unterhalten, jedoch erschweren Beeinträchti-
gungen des Sprechens oder des Verstehens ein Gespräch über bestimmte Themen oder machen es unmöglich
4 Die Flüssigkeit der Sprachproduktion ist deutlich vermindert oder das Verständnis ist deutlich eingeschränkt. Jedoch liegt keine nennens-
werte inhaltliche oder formale Beeinträchtigung des Sprechens vor
5 Kaum wahrnehmbare Schwierigkeiten beim Sprechen. Der Patient kann subjektive Schwierigkeiten haben, die der Gesprächspartner nicht
bemerkt

chungen, für die Planung der Sprachtherapie und für die Beur- dem Gebrauch der Sprache zugrunde liegen, gleichermaßen
teilung der Rehabilitation nützlich (. Tabelle 2.2). befähigt. Deshalb kann ein Kind nach linksseitiger, schwerer
Hirnschädigung in den ersten Lebensjahren eine normale
Sprachentwicklung nehmen. Diese Möglichkeit zur Verlage-
2.3.6 Lokalisation rung der Sprachdominanz vermindert sich aber rasch in den
frühen Kindheitsjahren und ist mit Erreichen der Pubertät
Lateralisierung nicht mehr gegeben.
Beim erwachsenen Rechtshänder sind Läsionen in der linken Bei 5–6% der Menschen entwickelt sich eine Bevorzugung
Fronto-Temporo-Parietalregion regelmäßig von aphasischen der linken Hand. Linkshändigkeit ist aber nicht das Spiegelbild
Störungen gefolgt. Die Sprachfähigkeit ist bei ihm also an die von Rechtshändigkeit. Viele Linkshänder führen eine Reihe
Intaktheit der Hemisphäre gebunden, die die Bewegungen der von Kraft- und Geschicklichkeitsleistungen doch mit der rech-
bevorzugten Hand steuert. Diese wird als sprachdominant ten Hand aus, so dass wir sie als Beidhänder (Ambidexter)
bezeichnet. bezeichnen. Zudem ist die Seitenbevorzugung nicht auf die
Die linksseitige Sprachdominanz ist zwar angeboren, sie Hand beschränkt: Jeder Mensch bevorzugt auch ein Bein, ein
wird aber erst in den ersten Lebensjahren manifest. Zunächst Auge und ein Ohr. Diese Seitenbevorzugung ist nicht konsis-
sind beide Hemisphären zur Übernahme der Fähigkeiten, die tent, oft sind z.B. Hand, Fuß und Auge der einen und das Ohr
88 Kapitel 2 · Neuropsychologische Syndrome und Störungen des Bewusstseins

Facharzt
Akute Aphasien
Die im Kapitel Aphasien beschriebenen Aphasietypen sieht Aphasie mit schwerer Sprachverständnisstörung (akute globa-
2 man so nur in der chronischen Phase nach Hirnverletzung le Aphasie) fast immer zu Residuen führt. Diese Patienten
oder Schlaganfall. In der Akutphase, also in den ersten Stun- haben meist auch größere Hirnläsionen, sind nicht selten
den nach Schlaganfall, Blutung oder anderen Hirnverlet- bewusstlos und sind antriebsgestört. In seltenen Fällen ist bei
zungen, werden diese »reinen« Aphasietypen nicht gefunden. der akuten nicht-flüssigen Aphasie das Nachsprechen erhal-
Häufig sind die Aphasien initial noch von anderen ten: dann spricht man von einer akuten transkortikalen Apha-
neuropsychologischen oder neurologischen Symptomen sie. Dieser Aphasie liegt eine Störung des spontanen Sprach-
(Bewusstseinsstörung, Delir, Antriebsstörung) überlagert antriebs zugrunde, während Nachsprechen von vorher perzi-
oder in ihrer Präsentation verändert. In den ersten Stunden pierten Inhalten möglich ist.
bildet sich kein stabiles Aphasiesyndrom aus. Akute flüssige Aphasien sind viel seltener. Bei ihnen ist die
Man kann bestenfalls zwischen einer akuten nicht- Sprachproduktion selbst nur leicht vermindert. Es treten dage-
flüssigen Aphasie und einer akuten flüssigen Aphasie gen sehr viele Paraphasien auf (»akute Wernicke-Aphasien«)
unterscheiden. Wesentliches Kriterium der nicht-flüssigen oder die akute Aphasie ist durch ausgeprägte amnestische
Aphasie ist die verminderte Sprachproduktion, die sich, Elemente (»akute amnestische Aphasie«) gekennzeichnet. Die
wenn überhaupt, auf einzelne Wortäußerungen oder Intona- Prognose der letzteren ist günstig, während die akute Werni-
tionen beschränkt. Die akute nicht-flüssige Aphasie kann cke-Aphasie unter Umständen auch in eine globale Aphasie
sowohl mit erhaltenem Sprachverständnis als auch mit übergehen kann. Eine Sonderform ist die akute Leitungsapha-
schwerer Sprachverständigungsstörung auftreten. Wenn das sie, bei der das Nachsprechen, im Gegensatz zur transkortikalen
Sprachverständnis erhalten ist (»akute Broca-Aphasie«), ist Aphasie, nicht möglich ist. Die die Spontansprache ist dagegen
die Prognose eher günstig, während die akute, nicht-flüssige sehr wohl, wenn auch meist nicht flüssig, vorhanden.

der anderen Seite bevorzugt. Linkshänder haben meist keine (»Sprachzentrum«) bezeichnet. Sie erstreckt sich von der Ge-
durchgängig ausgebildete Lateralisierung. gend des frontalen Operkulum über die obere Konvexität des
Dieser unvollständig ausgeprägten Seitenbevorzugung in Schläfenlappens bis zur temporoparietalen Übergangszone
der Händigkeit entspricht eine unvollständige Ausbildung der (. Abb. 2.1). Nach pathologisch-anatomischen Untersu-
Sprachdominanz. Bei mehr als der Hälfte der Linkshänder ist chungen, Befunden aus bildgebenden Verfahren sowie aus
nicht etwa die kontralaterale rechte, sondern ebenfalls die linke Stoffwechseluntersuchungen und Messungen der regionalen
Hemisphäre für die sprachlichen Leistungen führend. Bei den Hirndurchblutung sind folgende klinisch-lokalisatorische Zu-
übrigen hat sich keine eindeutige Dominanz entwickelt, und die ordnungen möglich:
Sprachfähigkeiten, aber auch andere Leistungen, die sonst von 4 Broca-Aphasie tritt bei prärolandischen Läsionen, d.h. bei
der dominanten Hemisphäre bestimmt werden, sind bilateral Herden im frontalen Anteil der Sprachregion auf (Versor-
repräsentiert. gungsgebiet der A. praecentralis).
Dies hat klinisch zur Folge, dass sich beim Linkshänder 4 Wernicke-Aphasie wird bei retrorolandischen Läsionen
eine Aphasie nach linksseitiger Hirnschädigung gewöhnlich im Versorgungsgebiet der A. temporalis posterior beobachtet.
rascher und besser zurückbildet als beim Rechtshänder, da bei 4 Amnestische Aphasie kommt durch temporoparietale Lä-
ihm die gesunde Hemisphäre bis zu einem gewissen Grade die sionen zustande. Sie ist bei Hirntumoren und Schläfenlappen-
gestörten Funktionen übernehmen kann. Nur bei einem sehr abszessen sowie bei zerebralen Abbauprozessen besonders
kleinen Prozentsatz der Linkshänder sind die Sprachfunkti- häufig.
onen nur rechtsseitig lokalisiert. 4 Globale Aphasie zeigt eine Funktionsstörung im gesamten
Versorgungsgebiet der A. cerebri media an.
Lokalisation der Sprachregion
Innerhalb der sprachdominanten Hemisphäre lässt sich eine Wada-Test
Region abgrenzen, deren Läsion mit Regelmäßigkeit zu Sprach- Die Sprachdominanz lässt sich mit dem Na-Amytal-Test fest-
störungen führt und die man deshalb als Sprachregion stellen. Injiziert man 125 mg der Substanz in die A. carotis der

Exkurs
Aphasie bei Polyglotten
Mehrsprachige Patienten sind meist nach Art und Ausmaß die kaum noch benutzte Muttersprache relativ gut erhalten
der Aphasie in jeder Sprache gleich betroffen. Bei manchen bleibt, während die längst gewohnte Landessprache durch die
Patienten wird die früher erlernte Sprache geringer als eine Aphasie erheblich gestört ist. Von dieser Regel gibt es aber
später erlernte von der Aphasie beeinträchtigt, und zwar Ausnahmen. So kann beispielsweise eine Sprache besser
auch dann, wenn sie schon lange nicht mehr die Umgangs- verfügbar bleiben, die für den Patienten eine größere lebens-
sprache war. Bei Auswanderern kann man beobachten, dass geschichtliche Bedeutung hat.
2.4 · Apraxien
89 2
leistungen auch auf nicht geübtes Material generalisiert wer-
den können und dass auch diese Generalisierung stabil
bleibt.

2.4 Apraxien

3Definition. Apraxie ist eine Störung in der sequentiellen


Anordnung von Einzelbewegungen zu Bewegungsfolgen oder
von Bewegungen zu Handlungsfolgen, während die elemen-
tare Beweglichkeit erhalten ist. Der Begriff Apraxie (oder
Gliedmaßenapraxie) wird verwendet, wenn nach linkshemis-
phärischer Läsion Fehlhandlungen auftreten. Traditionell un-
terscheidet man bei den Gliedmaßenapraxien die ideomoto-
rische und die ideatorische Apraxie. Wie bei allen umschrie-
benen neuropsychologischen Syndromen gilt, dass diese Stö-
rung nur dann diagnostiziert wird, wenn nicht eine andere
spezifische oder allgemeine Funktionsstörung, wie schwere
. Abb. 2.1. Sprachrelevante Regionen im menschlichen Gehirn. Beeinträchtigung der Tiefensensibilität, Bewusstseinstrübung
1 Broca-Area; 2 motorische Gesichtsregion; 3 somatosensorische Ge- oder schwere Demenz, vorliegt, die das Symptom erklären
sichtsregion; 4 Hörfelder; 5 Wernicke-Area; 6 Gyrus supramarginalis;
kann. Apraxie ist eine Störung der motorischen Exekutive. Die
7 Gyrus angularis; 8 visuelle Assoziationsregion; blau Äste der A. cere-
Patienten sind meist imstande, die Bewegungen, die sie selbst
bri media. (W. Huber, Aachen)
nicht vollführen können, beim Untersucher als richtig oder
falsch zu erkennen.
sprachdominanten Hemisphäre, so tritt ein vorübergehender
Verlust des expressiven Sprachvermögens auf.
2.4.1 Ideomotorische Apraxie

2.3.7 Therapie Leitsymptom der ideomotorischen Apraxie sind Parapraxien,


d.h. Entstellungen im Ablauf von Bewegungselementen, die oft
Aphasien sind behandlungsbedürftige Krankheitszustände. In durch Perseveration zustande kommen. Parapraxien treten nur
der logopädischen Aphasietherapie werden verschiedene Be- bei gezielter Prüfung auf. Bei der ideomotorischen Apraxie ist
handlungsphasen unterschieden: die Ausführung einfacher Bewegungsfolgen in der Untersu-
4 In einem ersten Stadium werden stimulierende und deblo- chungssituation, nicht dagegen im spontanen Verhalten, wie
ckierende Methoden verwendet, bei denen relativ intakte Fä- Winken, Hand auf die Stirn legen, Mund spitzen oder Nase
higkeiten zur Reaktivierung von gestörten Sprachleistungen rümpfen, möglich. Wenn vor allem die Mund- und Gesichtsbe-
herangezogen werden. wegungen betroffen sind, spricht man von der bukkofazialen
4 Wenn sich der allgemeine Krankheitszustand des Patienten Apraxie. Apraxie ist eine Funktionsstörung der sprachdomi-
stabilisiert hat und das aphasische Syndrom klassifizierbar ist, nanten Hemisphäre.
werden störungsspezifische Therapieformen eingesetzt. Die
Modalitäten, auf die der Schwerpunkt der Behandlung gelegt 3Untersuchung. Ein standardisiertes Testverfahren exis-
wird, ergeben sich aus den Testleistungen. Die Periode der stö- tiert bislang nicht. In der Prüfung auf ideomotorische Apraxie
rungsspezifischen Therapie dauert zwischen 6 Monaten und wird die Ausführung der Aufgaben grundsätzlich nicht nur
etwa einem Jahr. Je häufiger die Behandlungen ausgeführt wer- nach verbaler Aufforderung, sondern auch imitatorisch ver-
den, desto besser für den Patienten. langt. Wenn man nur verbal prüft, läuft man Gefahr, Fehler
4 Es gibt auch die Möglichkeit einer stationären Intensivthe- aufgrund einer Sprachverständnisstörung irrtümlich für
rapie, bei der die Patienten zweimal am Tag behandelt werden. apraktisch zu halten. Man prüft beide Hände getrennt, bei
Durch eine solche Intensivtherapie lassen sich signifikante Ver- rechtsseitiger Lähmung die linke Hand allein. Bimanuelle Be-
besserungen in den Sprachleistungen erreichen, die über dem wegungen wie klatschen, die in der Literatur gelegentlich vor-
Verlauf liegen, der nach der Spontanremission zu erwarten geschlagen werden, bringen keine zusätzliche diagnostische
wäre. Information. Die Untersuchung erstreckt sich auf folgende Be-
4 In einer Konsolidierungsphase werden die erreichten wegungskategorien:
Besserungen mehr und mehr in soziale Situationen einge- 4 Ausdrucksbewegungen, z.B. drohen, winken, militärisch
baut. grüßen, lange Nase machen, die Hand wie zum Schwure he-
ben,
Therapieziel ist, dass die Besserung in den behandelten 4 Gebrauch von imaginären Objekten, z.B. hämmern, sä-
Modalitäten stabil ist, dass die zurückgewonnenen Sprach- gen, rauchen, Schnaps kippen, Zähneputzen, sich kämmen,
90 Kapitel 2 · Neuropsychologische Syndrome und Störungen des Bewusstseins

Exkurs
Funktionelle Grundlagen der Apraxien
Die richtige sequentielle Anordnung motorischer Elemente Assoziationscortex werden Informationen für die auszufüh-
zu einer Bewegung hängt von der Intaktheit des linken rende Bewegung einmal zum linken primären motorischen
2 motorischen Assoziationskortex ab. Die linke Hemisphäre Cortex und außerdem über die Kommissurenfasern des vor-
ist also dominant nicht nur für die Sprache, sondern auch für deren Balkens zum motorischen Assoziationscortex der
das Handeln. Bei rechtsseitiger Sprachdominanz führt rechts- rechten Hemisphäre und von dort zum rechten primären
seitige Hirnschädigung zur Apraxie. Der linke motorische motorischen Cortex geleitet. Diese schematische Vorstellung
Assoziationskortex empfängt über den Fasciculus arcuatus erlaubt es, die Manifestationen der ideomotorischen Apraxie
(. Abb. 2.2a,b) Zuflüsse aus der Sprachregion und dem zu einer anatomischen Läsion in Beziehung zu setzen und so
linken visuellen Assoziationskortex. Vom linken motorischen zu erklären.

4 bedeutungslose Bewegungen, z.B. Handrücken an die 4 Perseveration: Sehr häufig entstehen Fehler dadurch, dass
Stirn legen, Handfläche auf die Schulter legen, mit Daumen Elemente vorangegangener Bewegungen in den motorischen
und Zeigefinger einen Kreis formen, ausgestreckte Hand dia- Ablauf eingehen. Dadurch kann z.B. eine richtige Bewegung
gonal durch die Luft führen. Bedeutungslose Bewegungen wer- mit falscher Haltung ausgeführt werden: Ein Patient, der eben
den nur imitatorisch ausgeführt, weil das Verstehen der An- eine drohende Bewegung ausgeführt hat, legt beim militä-
weisung für die meist aphasischen Patienten zu schwierig ist. rischen Gruß die zur Faust geschlossene Hand an die Schläfe.
Für die klinische Diagnostik ist die Prüfung mit realen Ob- Oder es wird eine falsche Bewegung bei richtiger Stellung aus-
jekten entbehrlich. geführt: Ein Patient, der gerade »den Vogel« gezeigt hat, führt
beim »lange Nase machen« den ausgestreckten Zeigefinger an-
3Symptomatik. Patienten mit ideomotorischer Apraxie stelle der gespreizten Hand wiederholt zur Nasenspitze.
machen bei diesen Bewegungen folgende Arten von Fehlern:
4 Auslassung bzw. fragmentarische Ausführung: Wesent- Wenn die Perseveration so stark ist, dass der Patient auf wech-
liche Elemente der Bewegung werden ausgelassen bzw. die selnde Stimuli stets mit der gleichen, in sich korrekten Bewe-
Bewegung wird vorzeitig abgebrochen. gung antwortet, kann man die Diagnose einer Apraxie nicht
4 Substitution: komplette, aber falsche motorische Reaktion, stellen. Gliedmaßenapraxie wird üblicherweise nur für Arme
d.h., die Anlage der Bewegung ist im Groben erhalten, die Aus- und Hände geprüft. Man findet sie aber auch bei entspre-
führung ist aber nicht voll ausdifferenziert. Zum Beispiel wird chenden Bewegungen an den Beinen bzw. Füßen (Beinapra-
ein Patient, der militärisch grüßen soll, die Hand zum Kopf xie), z.B. kicken, ein Kreuz in die Luft zeichnen.
führen, aber sie dann vage tastend an die Schläfe legen. Um einen Patienten als apraktisch zu charakterisieren, ge-
4 Überschussbewegungen: zusätzliche motorische Akti- nügt es nicht, dass er die Bewegungsfolgen lediglich unge-
onen oder Geräusche. schickt oder unvollständig ausführt. Entscheidend ist vielmehr

b
a
. Abb. 2.2. Semantische Darstellung der wesentlichen subkortikalen Verbindungszahlen des Großhirns, in lateraler (a) und medialer (b) An-
sicht. Die einzelnen Fasern sind in der Zeichnung beschriftet.
2.5 · Räumliche Störungen
91 2
das Auftreten von Parapraxien, d.h. das Auftreten von fehler- rischen Apraxie. Der ideatorischen Apraxie liegt, anders als der
haften Elementen in einer Bewegungsfolge. Fehlerhafte Ele- ideomotorischen, keine Störung der motorischen Exekutive,
mente können entweder Bewegungen sein, die nicht zu der sondern eine Beeinträchtigung in der konzeptuellen Organisa-
geforderten Bewegungssequenz gehören, oder solche, die tion von Handlungsfolgen zugrunde, die nötig sind, um ein
durch falsche sequentielle Anordnung an sich passender Ele- bestimmtes Handlungsziel zu erreichen. Sie ist nicht an die
mente zustande kommen. Schließlich kann der Patient eine aktuelle Manipulation von Objekten gebunden.
andere, in sich richtige, aber nicht geforderte Bewegungsfolge
ausführen. Die ideomotorische Apraxie beeinträchtigt das 3Symptome. Die ideatorische Apraxie besteht darin, dass
spontane motorische Verhalten nicht, sondern wird erst durch der Patient im spontanen Verhalten gewohnte Handlungsfolgen,
gezielte Prüfung aufgedeckt. wie Kaffeekochen oder eine Büchse öffnen und entleeren, nicht
mehr ausführen kann, obwohl ihm die hierfür notwendigen ein-
3Lokalisation. Ideomotorische Apraxie entsteht bei Läsi- zelnen Bewegungsabläufe möglich sind. Der Patient weiß, was er
onen der sprachdominanten Hemisphäre (. Abb. 2.2.a und b): tun soll. Er hat ein vages Gefühl, dass er die Handlungen falsch
der Wernicke-Region, subkortikaler Bezirke unter dem Oper- ausführt und unterbricht sie immer wieder. Er kann sich aber
kulum, des parietalen Fasciculus arcuatus, des motorischen selbst nicht korrigieren und auch dann die Handlung nicht kor-
Assoziationskortex und der Kommissurenfasern, die den lin- rekt ausführen, wenn ihm dies vom Untersucher demonstriert
ken mit dem rechten motorischen Assoziationskortex verbin- wird. Eine häufige Fehlerart ist die Perseveration, also die unan-
den. gebrachte Wiederholung von Bewegungen oder Handlungs-
Gesichtsapraxie (bukkofaziale Apraxie): Diese tritt dann schritten. Die elementare Motorik, die Sensibilität und die Bewe-
ein, wenn eine Läsion den motorischen Assoziationskortex der gungskoordination sind erhalten.
Gesichtsmuskulatur oder die dorthin führenden Assoziations- Anders als die ideomotorische Apraxie, die erst in der Un-
fasern betrifft. Auch hier stützt sich die Diagnose auf das Auf- tersuchungssituation aufgedeckt wird, zeigt sich die ideato-
treten von Parapraxien. Diese Form der Apraxie wird bei 80% rische Apraxie im spontanen Verhalten, und die Patienten
aller Patienten mit Aphasie beobachtet, und zwar besonders werden oft irrtümlich für verwirrt oder dement gehalten (»…
dann, wenn die Sprachproduktion durch häufige phonema- kann noch nicht einmal mit Messer und Gabel essen«).
tische Paraphasien ausgezeichnet ist. Alle Betroffenen sind aphasisch. Die Schwere der Aphasie
steht nicht in Beziehung zur Schwere der Apraxie.

2.4.2 Ideatorische Apraxie


2.5 Räumliche Störungen
3Definition. Die ideatorische Apraxie ist eine konzeptuelle
Störung des Objektgebrauchs. Nicht nur die Ebene der moto- Zur räumlichen Wahrnehmung sind so grundlegende Fähig-
rischen Ausführung ist betroffen, die Patienten machen auch keiten wie das Schätzen von Winkeln und Linien, Abständen,
Fehler, wenn man sie bittet, Serien von Fotos, die komplexe mo- die Anordnung von Objekten zueinander sowie die Perspekti-
torische Handlungssequenzen darstellen, in die richtige Reihen- ve von entscheidender Bedeutung. Störungen können einzelne
folge zu bringen. oder mehrere dieser Fähigkeiten betreffen. Dementsprechend
Das seltene Syndrom tritt ebenfalls nach Läsion in der tem- gibt es eine Reihe unterschiedlicher Störungsbilder. Eine mög-
poroparietalen Region der sprachdominanten Hemisphäre liche Zusammenfassung dieser Störungsbilder zu zwei Grup-
auf. Es ist keine besonders schwere Ausprägung der ideomoto- pen ist die Unterscheidung in konstruktive (das eigenhändige

Facharzt
Besondere Apraxieformen
Bilaterale Apraxie. Sie ist die Folge einer Läsion im linken vor, weil die Kommissurenfasern zum rechten motorischen
motorischen Assoziationscortex. Die Tatsache, dass der Fasci- Assoziationskortex im Anfang ihres Verlaufs unterbrochen
culus arcuatus zwei Komponenten hat, die aus der Sprachre- sind. Dies ist die häufigste Form der Apraxie. Der Patient kann
gion und aus dem visuellen Assoziationscortex stammen, dann mit der nicht gelähmten linken Hand Folgebewegungen
erklärt, dass gelegentlich die beiden Modalitäten – Ausfüh- oder Bewegungssequenzen nicht ausführen, ist also in dop-
rung nach verbaler Anweisung und imitatorisch – differenti- peltem Maße behindert.
ell betroffen sind. Sie erklärt auch die hohe Korrelation mit
phonematischen Paraphasien, denn diese gehören zu den Linksseitige ideomotorische Apraxie. Eine Läsion der Kom-
sprachlichen Symptomen, die bei Läsionen des Fasciculus missurenfasern allein, namentlich im vorderen Drittel des
arcuatus auftreten. Balkens, hat lediglich eine linksseitige ideomotorische Apraxie
zur Folge. Die rechtsseitigen Gliedmaßen bleiben in ihrer
Sympathische Dyspraxie. Wenn eine linksseitige Hemisphä- elementaren Beweglichkeit und Praxie unbeeinträchtigt, weil
renläsion sich nach oberhalb der inneren Kapsel erstreckt, ihre motorischen Projektions- und Assoziationssysteme intakt
liegt neben der rechtsseitigen zentralen Hemiparese oder sind.
Hemiplegie eine sympathische Dyspraxie der linken Hand
92 Kapitel 2 · Neuropsychologische Syndrome und Störungen des Bewusstseins

Schaffen, die Synthese betreffend) und perzeptive (das Wahr- definierte Auswertetechnik vorschreiben und einen Normver-
nehmen, die Analyse betreffend) Störungen. Konstruktive und gleich der Ergebnisse erlauben. Solche Tests sind z.B. der Com-
räumliche Störungen treten vorwiegend nach parietalen Läsi- plex-Figure-Test nach Rey, der Mosaik-Test aus dem Ham-
onen der nicht sprachdominanten Hemisphäre auf. burg-Wechsler-Intelligenztest oder der Visual-Orientation-
2 Test nach Hooper. . Abbildung 2.3 zeigt einige Beispiele von
einem 58-jährigen Bankangestellten mit Alzheimer-Krankheit.
2.5.1 Räumlich-konstruktive Störung Man sieht, dass die Bauelemente der Gegenstände in der Zeich-
nung vorhanden sind, aber ihre Zusammenfügung grob miss-
3Definition. Die räumlich-konstruktive Störung verhin- lungen ist.
dert gestaltende Handlungen, die unter visueller Kontrolle aus-
geführt werden, ohne dass eine Parese oder eine Apraxie vor-
liegen. 2.5.2 Räumlich-perzeptive Störung
(Räumliche Orientierungsstörung)
3Symptomatik. Patienten mit räumlich-konstruktiven Stö-
rungen versagen bei Aufgaben, die das Zusammenfügen von 3Definition. Auf der rezeptiven Seite entspricht der räum-
einzelnen Elementen zu einem räumlichen Gebilde verlangen. lich-konstruktiven Störung ein Syndrom, das als Störung der
Diese Patienten haben Schwierigkeiten bei zeichnerischen und optisch-räumlichen Orientierung bezeichnet wird. Diese Pati-
konstruierenden Tätigkeiten, also beim freien Zeichnen oder enten haben Probleme mit dem Einschätzen der Vertikalen
Abzeichnen sowie beim Zusammenbauen einzelner Teile zu und Horizontalen, wenn sie einen Raum unterteilen (beispiels-
zwei- oder dreidimensionalen Figuren. Bei der täglichen Ar- weise die Hälfte eines Ganges markieren) oder die Position von
beit fällt beispielsweise ein Techniker dadurch auf, dass er Gegenständen im Verhältnis zueinander angeben sollen.
schon bei einfachen Planzeichnungen oder beim Zusammen-
setzen von Maschinenteilen versagt. In schweren Fällen kommt 3Symptomatik. Die Patienten finden sich im Raum nicht
es auch zu Störungen beim Schreiben. Diese sind nicht sprach- mehr zurecht, auch wenn ihnen die Umgebung vertraut ist: Sie
abhängig, sondern durch die Unfähigkeit bedingt, die einzel- verlaufen sich in ihrem Dorf oder Stadtviertel, weil sie nicht
nen graphischen Elemente räumlich zu kombinieren. wissen, welche Richtung sie einschlagen und welchen Weg sie
verfolgen sollen. Sie finden ihr Haus, ihr Zimmer und im
3Untersuchung. Bei Verdacht auf derartige Störungen for- Krankenhaus ihr Bett nicht wieder. Häufig haben sie Schwie-
dert man den Patienten auf, zeichnerisch frei geläufige Gegen- rigkeiten beim Ankleiden, offenbar, weil sie die räumliche
stände wie Haus, Uhr oder Würfel darzustellen. Wegen der Struktur der Kleidungsstücke nicht erfassen und diese nicht zu
schon prämorbid sehr unterschiedlichen Zeichenfertigkeit ist ihrem Körper in Beziehung setzen können.
der Wert dieser Prüfung begrenzt, und es kommt deshalb auch Die Störung betrifft nicht nur die visuelle Orientierung in
bei der Beurteilung nicht auf die Eleganz der Ausführung an, einer konkreten Situation, sondern auch die optisch-räumliche
sondern vielmehr auf die korrekte räumliche Zuordnung der Vorstellung: Die Patienten können räumliche Zusammenhän-
einzelnen Teile zueinander. Besser eignen sich das zeichne- ge, etwa den Verlauf einer ihnen bekannten Straße, nicht be-
rische Kopieren einfacher geometrischer Figuren und Aufga- schreiben, und sie sind auch nicht zu den oben besprochenen
ben, die nach Vorlage das Zusammenfügen von Stäbchen oder konstruktiven Leistungen fähig, die eine Gestaltung nach
Bauklötzen zu bestimmten Mustern wie Stern, Raute oder Py- einem vorgestellten optischen Plan verlangen. Die Kranken
ramide verlangen. Derartige Leistungen können auch von können keine Entfernungen schätzen und sich nicht an einer
gänzlich ungeübten Patienten erwartet werden. einfachen Planskizze orientieren. Oft sind sie nicht in der Lage,
Eine objektivere Leistungsbewertung ist möglich, wenn die Uhrzeit nach der Stellung der Zeiger abzulesen. Häufig be-
standardisierte Testverfahren angewandt werden, die eine klar reitet es ihnen Schwierigkeiten, sich am eigenen Körper zu

. Abb. 2.3. Zeichnungen eines


Patienten mit konstruktiver
Apraxie
2.7 · Anosognosie
93 2
orientieren, besonders wenn die Unterscheidung zwischen Motorischer Neglect
rechten und linken Körperteilen verlangt wird. Hier werden die Extremitäten einer Körperhälfte nur auf spe-
zielle Anforderung voll bewegt, nicht dagegen spontan. Die
3Weitere Symptome. Lesen und Schreiben sind dadurch Patienten, die fast immer bettlägerig sind, erwecken den Ein-
erschwert, dass die Patienten die Zeile verlieren und die Ord- druck einer schweren Hemiparese oder Hemiplegie, weil sie
nung von Buchstaben und Wörtern nicht verfolgen oder nicht die betroffenen, meist die linken, Gliedmaßen bei spontanen
einhalten können. Bei den Kranken ist die Fähigkeit gestört, Verrichtungen nicht benutzen. Auch nach Aufforderung zu
die räumliche Ordnung von Objekten wahrzunehmen und einseitigen oder bilateralen Bewegungen setzen sie die Extre-
selbst praktisch oder in der Vorstellung räumliche Beziehungen mitäten einer Körperhälfte nicht oder nur äußerst zögernd ein.
herzustellen. Sie versagen deshalb bei psychologischen Tests, Erst wenn sie ihre Aufmerksamkeit speziell darauf richten,
die solche Leistungen fordern. Die Gesichtsfelder sind nur we- sind sie zu besserer Beweglichkeit imstande. Es ist wichtig, das
nig oder gar nicht eingeschränkt. Dagegen bestehen regelmä- Phänomen zu kennen, weil man sonst den neurologischen Sta-
ßig Störungen in der Regulation der Blickbewegungen. Diese tus des Patienten zu schlecht einschätzt.
Störungen treten zwar zusammen mit der Orientierungsstö-
rung auf, können sie aber nicht erklären. Sensibler Neglect
Die Kranken nehmen bei bilateraler taktiler Stimulation kor-
3Lokalisation. Die beiden Syndrome treten nach Läsionen respondierender Körperareale einen der beiden Stimuli, ge-
der Inferior-parietalen-Region (Gyrus supramarginalis, Teile wöhnlich den linken, nicht wahr, obwohl sie ihn bei einseitiger
des Gyrus angularis, hintere superiore Temporalwindung) auf, Stimulierung registrieren. Die Patienten fallen dadurch auf,
in der die Integration von optischen und sensomotorischen dass sie z.B. nicht spüren, dass sie auf einer Hand sitzen oder
Prozessen stattfindet. Die Herde sind häufiger in der rechten die Finger in den Speichen des Rollstuhls haben. Wie beim
als in der linken Hemisphäre lokalisiert. motorischen Neglect müssen sie gezielt ihre Aufmerksamkeit
auf die Körperhälfte richten, um sensible Reize wahrzuneh-
men.
2.6 Halbseitige Vernachlässigung
(Neglect) Visueller Neglect
Spricht man im klinischen Alltag von Neglect, ist meist die vi-
3Definition. Neglect ist der englische Terminus für halbsei- suelle Vernachlässigung gemeint. Auf visuelle Stimuli im lin-
tige Vernachlässigung. Ohne dass eine Beeinträchtigung des ken Außenraum reagiert der Patient aktiv nicht. Das kann dazu
Wachbewusstseins oder der Orientiertheit vorliegt, können bei führen, dass er z.B. seinen Teller nur halb leer isst oder die
diesen Kranken isoliert oder in Kombination (supramodaler Klingel am linken Bettrand nicht findet. In so genannten Such-
Neglect) motorische, sensible, akustische und visuelle Reize oder Durchstreichaufgaben bearbeiten diese Patienten nur die
vernachlässigt werden. Ein Erklärungsmodell für die Entste- rechte Hälfte des Blattes. Beim Lesen lassen sie oft den Anfang
hung der halbseitigen Vernachlässigung des Neglect definiert der Zeile oder des Wortes weg. Bei doppelt simultaner Stimu-
den Neglect als Folge einer Störung der Aufmerksamkeit. Die lation beider Gesichtsfeldhälften wird der Stimulus im linken
halbseitig gerichtete Aufmerksamkeit ist in einem Funktions- Gesichtsfeld nicht wahrgenommen, obwohl jedes Gesichtsfeld,
kreis organisiert, dessen wichtigste Relaisstation der rechte wenn es getrennt geprüft wird, funktionstüchtig ist. Auf visu-
Parietallappen ist. elle Stimuli im linken Außenraum reagiert der Patient aktiv
nicht. Selbst die Reaktion auf linksseitige akustische Stimuli
3Untersuchung. Bei doppelt simultaner Stimulation (sen- kann ausbleiben. Untersuchungsverfahren schließen, wie ge-
sibel, akustisch oder visuell) wird der Stimulus in der linken schildert, die bilateral simultane taktile oder visuelle Stimula-
Körperhälfte nicht wahrgenommen, er wird vom Reiz in der tion ein. Lässt man den Patienten Striche markieren, die auf ein
rechten Körperhälfte »gelöscht«. Dieses Phänomen bezeichnet großes Blatt Papier gezeichnet sind, so markiert er die Striche
man als Extinktion. Zuvor muss allerdings sicher gestellt wor- auf der linken Seite des Blattes nicht oder weniger. . Abbil-
den sein, dass der entsprechende Reiz bei einseitiger Vorgabe dung 2.4 zeigt typische Zeichnungen.
in der linken Körperhälfte wahrgenommen wird.
Darüber hinaus existieren ausführliche neuropsycho- Multimodaler Neglect
logische Testbatterien wie z.B. der Neglect-Test (NET, auch Beim multimodalen Neglect nehmen die Patienten alle Arten
Behavioral Inattention Test (BIT) genannt). von Ereignissen in der linken Hälfte ihrer Umwelt nicht wahr
und wenden sich auch nicht dorthin, selbst wenn man sie mit
3Lokalisation. Die klassische Region, deren Läsion halbsei- lebhafter Gestik anspricht und gleichzeitig berührt.
tige Vernachlässigung hervorruft, ist der Lobulus parietalis
inferior der nicht sprachdominanten, also gewöhnlich der
rechten Hemisphäre. Andere Läsionsorte können in den Basal- 2.7 Anosognosie
ganglien (Putamen und (seltener) Nucleus caudatus), im Tha-
lamus (Pulvinar, Intralaminarkerne), im anterioren Gyrus Als Anosognosie (griech. a-noso-gnosie, Nichterkennen eines
cinguli oder im dorsolateralen Frontalhirn und im frontalen krankhaften Zustands) bezeichnet man das neuropsycholo-
Augenfeld jeweils in der rechten Hemisphäre liegen. gische Phänomen, dass ein Kranker die Minderung oder Auf-
94 Kapitel 2 · Neuropsychologische Syndrome und Störungen des Bewusstseins

rende Antworten: Sie können den (objektiv gelähmten) Arm


bewegen (dabei bewegen sie den anderen, gesunden); sie
könnten schon aufstehen, aber der Doktor hat es nicht erlaubt
oder sie haben die Pantoffeln nicht am Bett bzw. sind gerade
2 nach einem Spaziergang etwas abgespannt; sie sehen schon
gut, aber es ist im Zimmer so dunkel, sie haben die Brille nicht
zur Hand, man sieht im Alter eben nicht mehr so gut.
Manchmal verschieben sie auch den Defekt auf einen ande-
ren Körperbereich oder auf andere Personen: Gelähmte Kranke
klagen über Verdauungsbeschwerden, am Kopf Operierte über
Rückenschmerzen, andere erkundigen sich nach der Gesund-
heit des Arztes. Können die Patienten ihr Defizit zwar benennen,
verhalten sich aber indifferent ihrer Erkrankung gegenüber,
spricht man von Anosodiaphorie. In schweren Fällen lehnen die
Patienten die vorliegende oder überhaupt jegliche krankhafte
Störung ab und schreiben selbst ihre gelähmten Körperglieder
einer anderen, imaginären Person zu, die krank neben ihnen
liege. Dies soll nicht mit der psychodynamischen Krankheitsver-
leugnung (denial of illness) verwechselt werden, bei der es sich
nicht um eine organisch begründbare Störung handelt.

2.8 Agnosie

Zum Erkennen von Objekten sind eine perzeptive und eine


semantische Phase der Wahrnehmung nötig. In der ersten Pha-
se werden die charakterisierenden Elemente des Objektes er-
. Abb. 2.4. Vernachlässigung einer (hier der linken) Raumhälfte
fasst und in der zweiten erfolgt die Verknüpfung mit dem se-
beim Abzeichnen oder freien Zeichnen einer Blume. (Aus Poeck mantischen Gedächtnis.
1989) Nicht nur die oben besprochene ideomotorische Apraxie,
sondern auch die visuellen Agnosien werden als Leitungsstö-
rungen erklärt. Agnosien sind Störungen des Erkennens, die
hebung einer Funktion oder Leistung nicht beachtet oder nicht nicht durch Beeinträchtigung der elementaren Wahrnehmung
wahrnehmen kann. Die Anosognosie kann sich auf Blindheit, oder Aphasie erklärbar sind. Je nach Ort der Diskonnektion un-
homonyme Hemianopsie, Taubheit, Halbseitenlähmung, auf terscheidet man zwischen einer aperzeptiven (Störung der er-
eine durchgemachte Operation oder die Tatsache der Krank- sten Phase) oder einer assoziativen (Störung der zweiten Phase)
heit überhaupt erstrecken. Anosognosie tritt vor allem nach Agnosie.
großen Läsionen im rückwärtigen Anteil der nicht sprachdo-
minanten Hirnhälfte auf. 3Symptomatik. Patienten mit aperzeptiver Agnosie nehmen
Teile eines Objektes wahr, können sie aber nicht zu einem
3Symptomatik. Die Patienten verhalten sich so, als sei die Ganzen zusammenfügen (z. B. benennen sie ein Vorhänge-
krankhafte Störung nicht vorhanden. Versucht man, sie damit schloss als »etwas mit einem U«). Bei der assoziativen Agnosie
zu konfrontieren, so geben sie ausweichende oder rationalisie- belegen die Patienten die Objekte mit falschen Begriffen und

Facharzt
Reine Alexie
Eine sehr interessante Symptomkombination ist das Syn- homonyme Hemianopsie nach rechts zur Folge. Die Patienten
drom reine Alexie mit Farbbenennungsstörungen und Hemi- sind also für ihr Sehen auf die linke Gesichtsfeldhälfte, d.h. auf
anopsie nach rechts. Die Patienten haben nur eine leichte die rechte Sehrinde angewiesen. Wenn optische Eindrücke mit
oder gar keine Aphasie. Sie können spontan schreiben, aber sprachlichen Begriffen zusammengebracht werden sollen,
das selbst Geschriebene nicht lesen. Sie können auch nicht müssen Signale aus der rechten Sehregion über die paravisu-
abschreiben. Während sie Farben nicht benennen können, ellen Assoziationsfelder und über das Splenium des Balkens
sind sie in der Lage, Farbmuster richtig zu sortieren. Das zur Sprachregion geleitet werden. Das ist aber nicht mehr
Syndrom kommt bei Infarkten im Versorgungsgebiet der möglich, da das Splenium selbst oder seine Verbindungen mit
linken A. cerebri posterior zustande. Dabei ist die linke Sehre- den angrenzenden Teilen der linken Hemisphäre unterbrochen
gion lädiert, gleichzeitig gewöhnlich auch das Splenium des sind.
Balkens. Die linksseitige Okzipitallappenschädigung hat eine
2.9 · Gedächtnisstörungen und Syndrome von Amnesie
95 2
können auch den Gebrauch eines Gegenstandes nicht erklären, Im Strukturmodell des Gedächtnisses kennen wir
da der Pfad zum semantischen Wissen gestört ist. Die Patienten 4 das Kurzzeitgedächtnis (Arbeitsgedächtnis) und
haben außerhalb der Prüfungssituation kaum oder gar keine 4 das Langzeitgedächtnis.
Schwierigkeiten im Umgang mit den Objekten. Sie können z.B.
ein Glas Wasser nicht sprachlich identifizieren, sind aber in der Im Langzeitgedächtnis wird deklaratives und nondeklaratives
Lage, wenn sie durstig sind, aus einem Glas Wasser zu trinken. unterschieden. Das episodische Gedächtnis und das seman-
tische Gedächtnis sind Teile des deklarativen Gedächtnisses.
Die verschiedenen Anteile des Gedächtnisses können einzeln
2.9 Gedächtnisstörungen und Syndrome oder kombiniert geschädigt werden (. Abb. 2.5).
von Amnesie

2.9.1 Einteilung der Gedächtnisfunktionen 2.9.2 Amnesie

Man kann Gedächtnis als Prozess und als Struktur auffassen. 3Definition. Amnesie ist definiert als die Unfähigkeit auf
Im Prozessmodell der Informationsverarbeitung unterschei- Gedächtnisinhalte zurückzugreifen und neue Gedächtnisin-
den wir halte zu speichern. Nicht alle Gedächtnisinhalte sind gleicher-
4 Aufnahme (Enkodierung), maßen betroffen; in der Regel sind jünger zurückliegende In-
4 Konsolidierung (Speicherung) und halte nicht, ältere hingegen besser abrufbar.
4 Abruf von Informationen.

Facharzt
Leitungsstörungen
Assoziationsfelder sind durch Kommissurenfasern mitein- den, die dem anderen, freien Auge entspricht. Die Hemisphäre,
ander verbunden. Die neokortikalen Kommissurenfasern, die infolge einer Abdeckung des Auges beim Lernvorgang
die hier interessieren, verlaufen über den Balken. Den vor- keine Informationen erhalten hat (das Chiasma opticum war
deren und mittleren Anteil des Balkens bilden vor allem die durchschnitten!), hat an dem Lernvorgang nicht teilgenommen
Verbindungen zwischen beiden sensomotorischen Rinden- und kann auch später nicht mehr davon profitieren. Mit derar-
feldern sowie zwischen der rechten Temporoparietalregion tigen Versuchen ist nachgewiesen, dass Informationen, die
und der Sprachregion. Im hinteren Balkenanteil verlaufen Lernvorgängen zugrunde liegen, über das Kommissurensystem
vor allem Fasern, die die visuellen Assoziationsfelder mitei- des Neocortex von einer Hemisphäre zur anderen geleitet
nander verbinden. Leitungsstörungen durch Unterbrechung werden.
des Kommissurensystems kommen nicht nur bei Läsion
des Balkens selbst zustande, sondern auch bei subkortikaler »Split-Brain«-Operation beim Menschen. Ähnliche Befunde
Schädigung der benachbarten Marksubstanz (vgl. auch sind bei Patienten erhoben worden, die wegen therapieresis-
. Abb. 2.2). tenter Epilepsie einer »Split-Brain«-Operation unterzogen
Das sehr spezielle Gebiet der Leitungsstörungen wird worden waren. Bei diesem Eingriff wurden der Balken und
hier nicht im Detail erörtert, sondern es werden einige cha- andere Kommissurenverbindungen durchtrennt, um die Aus-
rakteristische Beispiele gegeben, um das Prinzip zu erläutern. breitung der epileptischen Erregung von einer Hirnhälfte zur
Ausgangspunkt sind zwei Beobachtungen aus Tierexperi- anderen zu unterbinden. Die experimentell-psychologische
menten und am Menschen. Untersuchung dieser Patienten hat verständlicherweise nicht
vollständig kongruente Ergebnisse gebracht, weil die prämor-
Tierexperiment. Unterbricht man beim Versuchstier alle bide Organisation des Gehirns und die Lokalisation und Aus-
neokortikalen Kommissurensysteme und zusätzlich die dehnung des Eingriffs am Menschen, zumal am Hirnkranken,
Sehnervenkreuzung im Chiasma opticum, so sind die beiden nicht so genau bekannt sind wie im Tierversuch. Übereinstim-
Hemisphären anatomisch voneinander isoliert (»Split- mend fand man aber Folgendes:
Brain«-Präparation). Die absteigenden und aufsteigenden 4 Die sprachliche Identifizierung von Objekten war nur dann
Verbindungen zum Hirnstamm und über die Projektions- möglich, wenn der sensible oder sensorische Reiz der linken,
bahnen zum und vom Rückenmark bleiben dagegen erhal- sprachdominanten Hemisphäre zugeflossen war.
ten. Da die Projektionsbahnen fast ausschließlich gekreuzt 4 Gingen die Meldungen dagegen in die rechte Hemisphäre,
verlaufen, bleiben die afferenten sensiblen und sensorischen war der Patient nicht imstande, ein Reizobjekt zu benennen oder
Meldungen praktisch auf die kontralaterale Hirnhemisphäre dessen Namen auszuwählen. Manche Patienten konnten noch
beschränkt. Das Gleiche gilt für die efferenten Impulse aus nicht einmal sprachlich angeben, ob sie etwas wahrgenommen
den motorischen Rindengebieten, die nur den gegensei- hatten.
tigen Extremitäten zufließen. Wenn man mit einem solchen 4 Im Gegensatz zu diesem Versagen waren innerhalb der
Versuchstier bedingte Reflexe, z.B. auf der Grundlage op- rechten Hemisphäre komplexe Auswahl- und Zuordnungs-
tischer Reize, trainiert und dabei ein Auge abdeckt, so ist das leistungen möglich, sofern das Sprachvermögen dabei nicht
Erlernen der bedingten Reflexe an die Hemisphäre gebun- beansprucht wurde.
96 Kapitel 2 · Neuropsychologische Syndrome und Störungen des Bewusstseins

. Abb. 2.5. Strukturmodell Gedächtnis

3Lokalisation. Das Arbeitsgedächtnis ist in Anteilen des Globale Amnesie


Frontal- und Parietallappens lokalisiert. Das Langzeitgedächt- Bei dieser schwersten Form der Amnesie sind Gedächtnisein-
nis ist komplexer organisiert: Das limbische System (Enkodie- drücke nicht mehr verfügbar, die sich vor dem Krankheitsfall
rung und Konsolidierung) und die Papez-Schleife (beinhaltet bis zu einer Zeit von Jahren oder Jahrzehnten ereignet haben.
u.a. die Mamillarkörper, die Hippocampusformationen, Forni- Gleichzeitig besteht eine Unfähigkeit, neue Inhalte abzuspei-
ces, anteriore Thalamukerne), der mediale Temporallappen chern, also eine Unfähigkeit zu lernen. Im Gegensatz zum de-
und der Frontallappen (Abruf) sind beteiligt. klarativen ist das prozedurale Gedächtnis erhalten. Die Pati-
enten finden sich also auf ihrer Straße nicht mehr zurecht, weil
Anterograde Amnesie sie die nicht mehr erkennen, können aber einen Pkw fahren.
Dies ist häufigste Form der Gedächtnisstörung. Eine prospek- Die Gedächtnis- und Lernstörung ist irreversibel. Behand-
tive Speicherung von neuen Gedächtnisinhalten ist erschwert lungsversuche mit sog. Gedächtnistraining haben keinen Er-
bzw. unmöglich. Neue Inhalte können nicht enkodiert und ge- folg gebracht.
speichert werden. Somit ist auch der Abruf von Informationen Die transiente globale Amnesie (amnestische Episode) ist
gestört. Speziell betroffen ist das Langzeitgedächtnis: Ein in Kap. 25 besprochen.
Funktionieren im »Jetzt« ist noch möglich – das Arbeitsge-
dächtnis arbeitet noch (eingeschränkt).
2.10 Störungen der Aufmerksamkeit
Retrograde Amnesie
Bei der retrograden Amnesie können alle Ereignisse, die der Störungen der Aufmerksamkeit gehören zu den häufigsten
Patient in einer kürzeren oder längeren Zeit vor einer akuten Symptomen nach Hirnschädigungen. Da Aufmerksamkeits-
Hirnschädigung registriert hatte, nicht mehr abgerufen wer- funktionen grundlegend für Handeln und Verhalten sind, füh-
den. Diese Form der Amnesie wird am häufigsten nach Hirn- ren Defizite der Aufmerksamkeit meist auch zu Einbußen in
trauma beobachtet. Ihre Dauer kann einige Sekunden oder anderen Teilleistungsbereichen (z.B. Sprache oder Gedächt-
Minuten, aber auch Stunden, Tage und selbst Wochen betra- nis). Umgekehrt können Einschränkungen in anderen kogni-
gen. Es besteht keine feste Beziehung zwischen der Zeitdauer tiven Leistungen teilweise durch eine vermehrte Aufmerksam-
der Erinnerungslücke und der Schwere des Hirntraumas. Die keitszuwendung kompensiert werden, was jedoch zum häufig
retrograde Amnesie kann sich teilweise wieder aufhellen. Eine geklagten Symptom einer vorzeitigen Ermüdung führen kann.
gewisse Gedächtnislücke bleibt aber auf Dauer bestehen. Konzentration ist eine Komponente der Aufmerksamkeits-
Episodische Informationen werden umso eher vergessen, je funktionen.
näher sie dem Zeitpunkt der Schädigung sind. Deshalb erin-
nern selbst demente Patienten häufig Kindheits- oder Jugend- 3Funktionen der Aufmerksamkeit. Charakteristische Funk-
erlebnisse noch recht gut. Retrograde Amnesien kommen ei- tionen von Aufmerksamkeit und Konzentration sind
gentlich nie ohne einen Anteil von anterograder Amnesie vor; 4 die allgemeine Reaktionsbereitschaft. Sie wird als Alertness
bei isolierten retrograden Amnesien besteht der Verdacht ei- bezeichnet, wobei hier noch zwischen tonischer Alertness
ner psychischen Genese. (Wachheit) und phasischer Alertness (kurzzeitige Aufmerk-
2.13 · Störungen von Affekt und Antrieb
97 2
samkeitssteigerung nach einem Warnreiz) unterschieden 4 Weitere Symptome: Typische Verhaltensänderungen nach
wird; frontalen Läsionen sind das so genannte »Imitation Behavior«
4 die auf relevante Aspekte einer Aufgabe gerichtete Auf- und das »Utilization Behavior«. Bei Ersterem imitiert der Pati-
merksamkeit. Gerichtete Aufmerksamkeit wird meist als selek- ent z.B. Gestik und Mimik des Gesprächspartners. Bei Letzte-
tive Aufmerksamkeit bezeichnet (umgangssprachlich »Kon- rem hantiert er ohne klare Absicht mit Gegenständen in seiner
zentration«); Nähe. Beide Verhaltensweisen werden als Folge einer feh-
4 die geteilte Aufmerksamkeit bezeichnet die Fähigkeit, lenden Hemmung (Kontrolle) von motorischem Verhalten
gleichzeitig oder in kurzer Folge verschiedenartige Reize zu durch frontale Areale verstanden.
beachten und zu verarbeiten und
4 die Daueraufmerksamkeit (Vigilanz), die auf Entde-
ckung seltener Ereignisse in monotonen Situationen gerichtet 2.12 Demenzsyndrome
ist.
Im täglichen Sprachgebrauch wird unter Demenz eine globale
3Lokalisation. Die verschiedenen Komponenten der Auf- Minderung der Intelligenzfunktionen verstanden. Demenz
merksamkeit sind in einem ausgedehnten Netzwerk, das den wird beschrieben als Einbuße an kognitiven Funktionen, die
Hirnstamm (Anteile der Formatio reticularis), den Thalamus dazu führt, dass der Betroffene den Anforderungen des täg-
(Nucleus reticularis), das Cingulum sowie frontale und parie- lichen Lebens nicht mehr gewachsen ist. Eine Bewusstseinsstö-
tale Areale umfasst, repräsentiert. PET-Studien zeigen bei Auf- rung liegt nicht vor. Viele Autoren beziehen emotionale Stö-
gaben zur Alertness eine vorwiegend rechtshemisphärische rungen in die Beschreibung ein. Ein fortschreitender Verlauf
Aktivierung; bei der selektiven Aufmerksamkeit spielen links- gehört nicht mehr zur Definition. Bei Demenzen kommt es zur
hemisphärisch gelegene Areale eine größere Rolle. Störung verschiedener neuropsychologischer Funktionen.
Ausführlich werden Demenzkrankheiten und ihre Syndrome
in Kapitel 25 besprochen.
2.11 Störungen der Planung und Kontrolle
von Handlungen und Verhalten
2.13 Störungen von Affekt und Antrieb
3Inhalte
4 Planen und Handeln: Dies erstreckt sich auf die Zielge- 2.13.1 Antriebsstörung
richtetheit und den Entwurf einer Handlung, besonders in
ihrer zeitlichen Dimension. Pläne müssen anhand von Alter- Störungen des Antriebs kommen bei verschiedensten neu-
nativen veränderbar sein, und es muss eine Rückkopplung vom rologischen und psychiatrischen Krankheiten vor. Eine An-
Handeln auf das Planen stattfinden. triebshemmung führt zu der Unfähigkeit intendierte Hand-
4 Problemlösen: Die Auswahl von Strategien, die Anwen- lungen durchzuführen. Eine Herabsenkung des spontanen
dung geeigneter Operationen und die Bewertung von Ergeb- Antriebs wird auch als Antriebsmangel bezeichnet. Bei depres-
nissen sind hier eingeschlossen. Hierzu gehört auch das siven Syndromen findet man nicht selten eine Antriebsver-
Schlussfolgern aus bekannten oder unterstellten Fakten und armung, die sich durch eine verminderte Aktivität in Dingen
Konstellationen. des täglichen Lebens bemerkbar macht. Auf der anderen Seite
4 Konzeptbildung: Diese stellt Beziehungen zwischen Ob- gibt es Antriebssteigerungen bis hin zu Antriebshemmung,
jekten im weitesten Sinne und deren Eigenschaften her. bei der Aktionen, auch sozial unwerwünschte, ungehemmt
durchdringen und manchmal sogar zu delinquentem Verhal-
3Symptomatik ten führen.
4 Dysexekutives Syndrom: Kognitive Defizite, die die In der Psychiatrie ist die Antriebssteigerung in der bipo-
Steuerung und Kontrolle von Handlungen und Verhalten be- laren Psychose sehr typisch, bei neurologischen Störungen
treffen, werden neuropsychologisch oft unter dem Begriff sind bifrontale basale Läsionen nicht selten mit einer Antriebs-
des »dysexekutiven Syndroms« zusammengefasst. Im kli- steigerung verbunden. Das Stirnhirn ist bei Antriebsstö-
nischen Alltag wird häufig noch der Begriff Frontalhirnsyn- rungen zentral involviert, sowohl bei Antriebslosigkeit als
drom verwendet, der allerdings irreführend ist, da Störungen auch bei Antriebssteigerung. Meist sind Impulskontrolle, emo-
exekutiver Funktionen nicht allein bei frontalen Läsionen auf- tionale Regulation, Steuerung der Aufmerksamkeit und die
treten können. Planung von Handlungen mit Betroffenen mit beeinträchtigt.
4 Störung der Impulskontrolle: Ähnlich wie in der Psychi- All diese Funktionen werden auch als exekutive Funktionen
atrie kann man Verhaltensänderungen grundlegend in Plus- bezeichnet.
und Minussyndrome unterscheiden. Der initial beschriebene Die Maximalvariante einer Antriebsminderung ist der aki-
Phineas Gage z.B. hatte wohl eher Ersteres mit Störung der Im- netische Mutismus, bei dem Patienten wach sind, aber sich
pulskontrolle und distanzlos-dissozialen Verhaltensweisen. Für weder bewegen, noch zu sprachlichen Leistungen in der Lage
das Minussyndrom kennzeichnend ist eine mehr oder weniger sind. Syndrome mit einer Verminderung des Antriebs sind
ausgeprägte Apathie und eine affektive Indifferenz. Beide Syn- meist oberen Frontalhirnregionen zuzuschreiben, während
drome sind nicht selten gleichzeitig vorhanden, z.B. eine ausge- frontobasale Läsionen sich hauptsächlich durch Störungen des
prägte Apathie mit aggressiven Ausbrüchen. Affekts und der Kritikfähigkeit auszeichnen.
98 Kapitel 2 · Neuropsychologische Syndrome und Störungen des Bewusstseins

2.13.2 Pathologisches Lachen und Weinen Läsionen im Tierexperiment hervorrufen kann. Es kommt zu
dranghaften sexuellen Handlungen oder iktalen sexuellen
Bei zerebralen Krankheitsprozessen tritt gelegentlich ein un- Empfindungen (7 S. 37).
aufhaltsames Lachen und Weinen auf, das der Situation nicht Etwas häufiger sind hemmungslose Wutausbrüche, die
2 angemessen ist und das die Patienten nicht unterdrücken oder spontan oder auf geringfügige unspezifische und keineswegs
unterbrechen können. In der neuropsychiatrischen Literatur bedrohliche Stimuli einsetzen. Unter Brüllen und Zähneflet-
spricht man oft von »Zwangslachen«, »Zwangsweinen« oder schen zerreißen und zerbeißen die Kranken beliebige Gegen-
gar von »Zwangsaffekten«. Diese Bezeichnungen geben ein stände, die ihnen gerade erreichbar sind, und fallen auch ande-
falsches Bild von der inneren Verfassung der Patienten. Von re Menschen an (s. Rabies, Kap. 19).
Zwangsphänomenen sprechen wir heute bei solchen Hand-
lungen, die psychologisch determiniert sind und bei denen der
Versuch, die Handlung zu unterdrücken, Angst hervorruft. 2.14 Einteilung der Bewusstseins-
Davon kann beim pathologischen Lachen und Weinen keine störungen
Rede sein. Es handelt sich vielmehr um neurologisch bedingte
Enthemmungsphänomene von angeborenen Ausdrucksbewe- Qualitative Bewusstseinsstörungen sind Störungen des inhalt-
gungen, die man den motorischen Schablonen, z.B. dem pa- lichen Bewusstseins oder der Bewusstheit. Quantitative Be-
thologischen Hand- und Mundgreifen, an die Seite stellen wusstseinsstörungen beschreiben Einschränkungen des Wach-
muss. bewusstseins und der Reaktionsfähigkeit.

3Symptomatik. Das pathologische Lachen und Weinen


lässt keine dynamische Beziehung zu einem adäquaten Anlass 2.14.1 Quantitative Bewusstseinsstörung
erkennen. Es läuft vielmehr spontan oder nach Einwirkung
variabler, unspezifischer Stimuli (Ansprechen, Essen reichen, Das Spektrum reicht von der leichten Bewusstseinstrübung
die Bettdecke aufschlagen) in der Art eines Automatismus oder bis zur tiefen Bewusstlosigkeit, dem Koma. Auch im Koma
einer Stereotypie formstarr und wiederholbar ab. unterscheidet man verschiedene Ausprägungen. Entscheidend
Pathologisches Lachen und Weinen enthält alle Bewe- für die Klassifikation der Bewusstseinsstörung ist die beste
gungskomponenten der natürlichen Ausdrucksbewegungen: Reaktionsmöglichkeit auf Außenreize. Diese Reize können
Mimik, Atmung, Vokalisation und vasomotorisch-sekreto- akustisch, visuell und somatosensibel sein. Öffnet der Patient,
rische Innervation. Die Bewegung setzt jeweils ohne Übergang auf welchen Reiz auch immer, die Augen, so ist er nicht koma-
stoßartig, stufenweise und krampfhaft ein, sie ist nach Ausmaß tös, sondern bewusstseinsgetrübt oder -eingeschränkt, auch
und Dauer überschießend und kann im Ablauf weder gesteuert wenn er dann nicht kooperativ ist bzw. nicht gezielt reagiert.
noch aufgehalten werden. Die mimische Bewegung kann in Im Koma werden die Reaktionen auf Schmerzreize zum ent-
einem Ablauf vom Lachen zum Weinen oder in umgekehrter scheidenden Untersuchungsbefund.
Richtung umschlagen. Begriffe wie Somnolenz, Sopor, Koma, Verwirrtheit oder
Die Automatismen des Affektausdrucks werden nicht von apallisches Syndrom werden vielerorts sehr unterschiedlich
einer gleichgerichteten affektiven Bewegung getragen. Im Ge- verstanden und benutzt. Dabei ist die Unterscheidung, ob ein
genteil suchen die Kranken sich meist gegen den als fremd und Patient nur erheblich bewusstseinsgetrübt oder schon komatös
beherrschend erlebten enthemmten Bewegungsablauf zu weh- ist, gerade für den Informationsaustausch zwischen den über-
ren. Nur manchmal entsteht im Laufe der Bewegung eine ge- weisenden Ärzten und den konsiliarisch zugezogenen Neuro-
wisse affektive Beteiligung. logen sehr wichtig, da sie wertvolle Informationen über den
Verlauf der Krankheit nach der Erstuntersuchung beinhaltet.
3Ursachen. Pathologisches Weinen und Lachen kommt bei Die folgenden operationalen Definitionen erleichtern diese
zentralen Bewegungsstörungen, die die mimische Muskulatur Kommunikation sehr. Sie zwingen auch zu einem bewussten
mit einbeziehen, z.B. Bulbärparalyse, Pseudobulbärparalyse, und korrekten Einsatz medizinischer Terminologie.
Chorea, Athetose, vor. Meist finden sich Läsionen in der inne-
ren Kapsel und den Basalganglien, seltener im Thalamus. Es Bewusstseinstrübung
wird auch als epileptisches Anfallssymptom beobachtet. 3Somnolenz. Der bewusstseinsgetrübte Patient ist zwar
schläfrig oder kann in einem schlafähnlichen Zustand sein,
auf Anrufen oder kräftiges Berühren öffnet er jedoch die
2.13.3 Enthemmung des sexuellen Augen. Man kann kurzfristig Kontakt mit ihm aufnehmen,
und aggressiven Verhaltens und wenn neurologische Herdsymptome (Aphasie, Lähmung)
dies nicht verhindern, kann der Patient einfache Auffor-
Tumoren, Blutungen und enzephalitische Herde in basalen derungen befolgen. Er kann dann auch kurze Angaben zur
Anteilen des Temporallappens, im Mittelhirn und Hypothala- Vorgeschichte machen. Häufig dämmert der Patient danach
mus, d.h. in Strukturen, die man als limbisches System zusam- wieder ein und muss durch neue Außenreize wieder geweckt
menfasst (lat. limbus, Rand, Saum), können zu pathologischen werden. Dieser Zustand wird Somnolenz genannt. In der eng-
Veränderungen des sexuellen und aggressiven Verhaltens füh- lischsprachigen Literatur werden hierfür synonym die Begriffe
ren, die denen sehr ähnlich sind, die man nach entsprechenden »drowsiness« oder »impaired consciousness« benutzt.
2.14 · Einteilung der Bewusstseinsstörungen
99 2
Exkurs
Sprachliche Verwirrung bei den Definitionen der Bewusstlosigkeit
Der Begriff »Bewusstlosigkeit« wird oft falsch benutzt und Anfällen – die Patienten intubiert, so dass sie, obwohl gar
viele Ärzte sind sich über die Definitionen der verschiedenen keine Bewusstlosigkeit vorlag, auf die Intensivstation gebracht
Arten der Bewusstseinstörungen nicht im Klaren. werden müssen. Euphemistisch bezeichnete man diese medi-
In Fernsehen und Presse werden medizinische Begriffe zinisch falsche Verhaltensweise dann als therapeutische Maß-
ausufernd und nur ganz selten einigermaßen adäquat be- nahme. Im künstlichen Koma können Patienten Tage und
nutzt. Ein Beispiel hierfür ist das »künstliche Koma«. Es gibt Wochen gehalten werden, doch ist ein solches Vorgehen nicht
keinen Bericht mehr über einen mehr oder weniger schwer immer harmlos: Komplikationen wie Infektionen, Druckge-
verletzten Patienten, der auf eine Intensivstation gebracht schwüre, Organversagen, Kreislaufdysregulation oder Gerin-
wurde und dann nicht ins künstliche Koma versetzt worden nungsstörungen kommen dabei häufig vor.
sein soll. Was versteht man eigentlich hierunter? Der ur- So ist »künstliches Koma« eine Art falscher »Qualitäts-
sprüngliche Begriff stammt aus einer Zeit, in der man tat- marker« geworden. Richtig gut kann eine Intensivstation nicht
sächlich versucht hat, Schwerverletzte, die noch bei Bewusst- sein, wenn man nicht Patienten im künstlichen Koma hat, und so
sein waren, in Narkose zu versetzen. Neben der Überlegung, wird jede Sedierung zur besseren Beatmung als künstliches
den Patienten durch die Analgosedierung Schmerz und Koma bezeichnet. Künstliches Koma ist eine »Auszeichnung«
Stress zu nehmen, war hiermit auch die Hoffnung verbun- geworden, ein Maß dafür, wie schwer denn eine Verletzung wohl
den, dass mit bestimmten Maßnahmen ein Schutz des Ge- gewesen mag. Ich erinnere sehr gut den Fall eines recht be-
hirns erreicht werden könnte. Man versuchte beispielsweise, kannten Autorennfahrers, der nach einem schweren Crash, aber
diese Patienten in ein Barbituratkoma zu bringen oder in mit wenig schwerwiegenden Verletzungen noch auf der Piste
Hypothermie neuroprotektiv zu behandeln. Im Übrigen hat intubiert und sediert und anschließend mit dem Hubschrauber
die Hypothermie tatsächlich eine nachweislich positive in eine bekannte Universitätsklinik verbracht wurde, wo die
Wirkung auf Patienten, die nach kardiopulmonaler Reanima- Intensivärzte dann eine Woche lang mit den Komplikationen der
tion bewusstlos sind! offensichtlich schwer gefallenen Intubation zu kämpfen hatten.
In Traumatologie und Intensivmedizin werden oft – Auch dieser Patient blieb im »künstlichen Koma«, aber hier war
schon bei leichten Schädeltraumen oder nach epileptischen es wegen der iatrogenen Schäden nicht zu vermeiden.

3Sopor. Wenn der Patient nur mit ganz erheblichen, Glasgow-Koma-Skala (GSC). International hat sich die Glas-
schon schmerzhaften Reizen kurz geweckt werden kann und gow-Koma-Skala zur Klassifizierung der Tiefe einer Be-
dann immer wieder, auch bei Fortbestehen oder Wiederho- wusstseinsstörung durchgesetzt. Sie wurde für die Beurteilung
lung dieser Reize hinwegdämmert, so bezeichnet man diesen von Patienten mit Schädelhirntrauma entwickelt und dort be-
Zustand als Sopor. Im Sopor wird also immer wieder ein neu- sprochen und im Anhang A1, Skalen, dargestellt. Sie berück-
es, höheres Reizniveau verlangt, um den Patienten noch zur sichtigt Wachheit, Motorik und Sprache und ist auch für Ko-
Zuwendung oder Reaktion zu veranlassen. Der Begriff Sopor mata anderer Ursache anwendbar. Auch wenn es methodische
ist nur im deutschen Sprachraum verbreitet. Den Begriff Mängel der Skala gibt (z.B. ist ein Mensch mit einem Skalen-
»stuporous (Adj.)« oder »Stupor«, mit dem im angelsächsi- wert von 15 nicht komatös, ein Verletzter mit Wert 3 praktisch
schen Schrifttum diesen Grad der Bewusstseinsstörung be- hirntod und nicht mehr komatös, und die Sprache ist bei
zeichnet wird, birgt, wenn man ihn im Deutschen anwendet, einem Intubierten schwer beurteilbar), ist der breite Einsatz
die Gefahr der Verwechslung mit dem psychiatrischen Stu- der Skala empfehlenswert und auch Teil des Notarztprotokolls
porbegriff, der keineswegs eine Störung des Bewusstseins be- sowie verschiedener intensivmedizinischer Scores.
zeichnet.

Bewusstlosigkeit (Koma) 2.14.2 Störungen der Bewusstheit


Im Koma ist der Patient nicht mehr erweckbar. Die Augen sind
fast immer geschlossen. Die Tiefe des Komas wird durch 4 Va- Als anatomisches Substrat für die verschiedenen Formen der
riablen definiert: Bewusstheitsstörungen gilt das limbische System, das Teile des
1. die beste motorische Reaktion auf Anrufen oder Schmerz- Zwischenhirns mit entwicklungsgeschichtlich alten Großhirn-
reize, anteilen (Hippocampus, Inselrinde, Gyrus cinguli) verknüpft.
2. den Muskeltonus, Patienten mit Störungen der Bewusstheit, des qualitativen
3. die Funktion von Hirnstammreflexen einschließlich der Bewusstseins, sind nicht bewusstlos. Ihr Bewusstsein ist jedoch
Okulomotorik und der Beurteilung von Pupillenform und Pu- verändert. Daneben können Wahrnehmung, Reizverarbei-
pillenreaktion, tung und Orientierung gestört sein. Manchmal treten Stö-
4. die Beurteilung der Spontanatmung. rungen der Merkfähigkeit und des Antriebs hinzu.

Das Koma wird in 4 Stadien eingeteilt. Die Komastadien I und Verwirrtheit


II werden als leichtes, die Stadien III und IV als schweres Koma Der Begriff Verwirrtheit beschreibt eine akute, subakute oder
bezeichnet (. Tabelle 2.3). chronisch-progredient auftretende Denkstörung, die von
100 Kapitel 2 · Neuropsychologische Syndrome und Störungen des Bewusstseins

Facharzt
Mittelhirn-, Bulbärhirnsyndrom und Koma
Nach den beschriebenen Kriterien Wachheitsgrad, Reaktions- Dann wird zunächst die Pupille kontralateral zur Läsion erwei-
2 fähigkeit auf äußere Reize, Okulomotorik und Körperhaltung tert (Zug auf den N III durch Seitwärtsverlagerung des Hirn-
lassen sich verschiedene Syndrome abgrenzen, die es erlau- stamms, kontralaterale Streck- und Beugesynergien), danach
ben, mit einfacher klinischer Untersuchung das Niveau der wird die zweite Pupille weit und die Beuge/Streck-Schablone
Funktionsstörung im Hirnstamm auf Mittelhirn- und Bulbär- symmetrisch.
hirnebene zu bestimmen. Diese Syndrome wurden bei Beim Übergang auf die nächste funktionelle Ebene des
schweren Traumen des Gehirns, seltener auch bei Blutungen Hirnstamms, das Bulbärhirn (Bulbärhirnsyndrom) lässt die
und Sinusthrombosen beobachtet. Sie reflektieren zum Teil Streckstellung der Arme wieder nach, der Muskeltonus nimmt
die Mechanismen der transtentoriellen Einklemmung, wie sie ab. Wenn in diesem Stadium die Streckkrämpfe nachlassen,
in Kap. 11 beschrieben werden. darf man daraus nicht auf eine Besserung schließen.
Das Vollbild des Bulbärhirnsyndroms ist durch tiefe Be-
Entwicklung der fortschreitenden Bewusstseinsstörung wusstlosigkeit ohne Spontan- oder reaktive Motorik, schlaffen
bei transtentorieller Herniation. Zu Beginn ist der Patient Muskeltonus, maximal weite und reaktionslose Pupillen, feh-
benommen, er reagiert auf äußere Reize nur verzögert. lenden Kornealreflex und okulozephalen Reflex gekennzeich-
Die Körperhaltung ist noch normal. Spontane Massen- und net. Die Bulbi stehen in Divergenz und bewegen sich nicht
Wälzbewegungen werden häufig als allgemeine psychomo- mehr spontan. Es tritt Atemstillstand ein, die Pulsfrequenz
torische Unruhe verkannt. Auf Schmerzreize führt der Patient verlangsamt sich, der Blutdruck sinkt ab bei leicht erhöhter
gerichtete Abwehrbewegungen aus. Die Pupillen sind sei- oder normaler Körpertemperatur. Der Weg zum dissozierten
tengleich und mittelweit, die Lichtreaktion ist normal. Die Hirntod ist nicht mehr weit.
Bulbi stehen orthograd und führen konjugierte, schwim- In der nicht so häufigen Rückbildung treten die beschrie-
mende Seitwärtsbewegungen aus. Der vestibulookuläre benen Phasen gewöhnlich in umgekehrter Reihenfolge
Reflex ist nicht auslösbar, da der Patient noch fixiert. auf, bis die Großhirnfunktionen wieder in Tätigkeit sind
Mit fortschreitender oberer Hirnstammschädigung wird und die Kranken wieder eine Beziehung zur Umwelt auf-
der Patient somnolent. Er reagiert nur noch schwach auf nehmen.
äußere Reize. Die Arme führen noch spontane Massenbewe-
gungen aus, während die Beine bereits in Streckstellung Leichtes Koma. Im Komastadium I reagiert der Patient auf
liegen. Auf Schmerzreize nimmt die Streckstellung zu, wäh- Schmerzreize mit gezielten Abwehrbewegungen in nicht-
rend die Arme ungerichtete Abwehrbewegungen ausführen. paretischen Extremitäten. Bei Patienten, deren Koma nicht
Die Eigenreflexe sind lebhaft gesteigert, pathologische Re- durch supratentoriell raumfordernde Läsionen mit begin-
flexe werden auslösbar. Die Pupillen sind untermittelweit, nender Einklemmung, sondern durch primäre Hirnstammer-
seitengleich und reagieren nur verzögert auf Licht. Die Stel- krankungen ausgelöst wurde, kann durch den Ort der struk-
lung der Bulbi wechselt zwischen Divergenz und Konver- turellen Läsion schon früh eine schwere Störung der Okulo-
genz, die Bulbusbewegungen sind nicht mehr konjugiert. motorik oder auch der Atmung eintreten.
Der vestibulokuläre Reflex ist jetzt nachweisbar. Atmung und Asymmetrische Paresen oder andere neurologische Herd-
Puls sind beschleunigt, während der Blutdruck normal ist. symptome sollten nicht für die Klassifikation der Komatiefe
Danach wird der Patient bewusstlos und reagiert nur herangezogen werden. Ihr Einfluss auf die Reaktionsmöglich-
noch auf Schmerzreize. Die Körperhaltung zeigt jetzt das keiten des Patienten muss jedoch bedacht werden: Wenn ein
Beuge-/Streckmuster, das sich auf Schmerzreize noch ver- bewusstloser Patient auf Schmerzreize einen Arm nicht be-
stärkt. Der Muskeltonus ist erhöht. Die Reflexe sind sehr wegt, den anderen jedoch zielgerecht zur Schmerzabwehr
lebhaft, pathologische Reflexe sind deutlich auslösbar. einsetzt, so wird die bessere Reaktionsmöglichkeit für die
Die Pupillen sind eng, die Lichtreaktion ist nur träge. Der Klassifikation der Komatiefe genutzt. Gleichzeitig kann die
Kornealreflex ist noch erhalten. Die Bulbi divergieren, sie fehlende Schmerzreaktion als Zeichen einer zentralen Parese
führen keine spontane Zuwendung mehr aus. Der okulo- interpretiert werden.
zephale Reflex ist sehr deutlich. Die Atmung hat sich be- Im Komastadium II sind die Abwehrbewegungen unge-
schleunigt, rhythmisiert und kann den Cheyne-Stokes-Atem- richtet oder zeigen sich als grobe Massenbewegung auf der
typ aufweisen (. Tabelle 2.4, . Abb. 2.6). Seite des Schmerzreizes, selten auch auf der Gegenseite. Die
Vegetativ bestehen Maschinenatmung, Tachykardie, Bulbi divergieren in diesem Stadium meist, und es zeigen sich
Blutdruckerhöhung und gesteigerte Schweißsekretion, d.h., erste Pupillenstörungen.
die vegetativen Funktionen reagieren übermäßig. Erst wenn die übergeordnete Reaktion auf Außenreize,
Dieser Zustand wird auch als Mittelhirnsyndrom be- vornehmlich Schmerzreize, ausgefallen ist, gewinnt die
zeichnet, womit der Ort der sekundär geschädigten Hirn- Beurteilung der zephalen Reflexe, des Muskeltonus und
stammanteile beschrieben wird. Da die Druckentwicklung der Spontanatmung für die Klassifikation des Komas an Be-
oft einseitig ist, kommt es auch zu asymmetrischen Bildern. deutung.

6
2.15 · Ursachen der akuten Bewusstlosigkeit
101 2

Tiefes Koma. Der Übergang von ungerichteten Abwehrbe- Im Komastadium IV finden sich auf Schmerzreize nur
wegungen zu einseitigen oder bilateralen Beuge- und noch inkonstante Streckbewegungen, die schließlich völlig
Strecksynergien leitet über zum Komastadium III. Beuge- fehlen. Der Muskeltonus wird schlaff, die zephalen Reflexe
oder Streckkrämpfe sind bei den kraniokaudal fortschreiten- fallen in kraniokaudaler Reihenfolge aus. Die Spontanatmung
den traumatischen Komaformen lokalisatorisch zu verwer- ist noch erhalten, das Atemmuster aber fast immer patholo-
ten. Streck-/Beugesynergien werden in höheren Hirnstamm- gisch. Die Pupillen werden weit und reaktionslos. Das Koma
strukturen ausgelöst als die generalisierten Streckbewe- Grad IV zeigt einen so schweren Grad der Hirnschädigung an,
gungen, die oft mit Krampfanfällen verwechselt werden. Der dass es trotz tagelanger Intensivtherapie gewöhnlich nicht
Muskeltonus ist in diesem Komastadium meist erhöht, und überlebt wird. Diese tiefe Komaform leitet über zum dissozi-
man kann spontane Pyramidenbahnzeichen beobachten. ierten Hirntod (7 Kap. 2.7).

. Tabelle 2.3. Klassifikation und Leitsymptome der Störungen des Wachbewusstseins (Mod. nach Hacke 1988)
1. Bewusstseinstrübung 2. Bewusstlosigkeit (Koma)
5 Schläfriger bis schlafähnlicher Zustand 5 Patient ist nicht erweckbar, die Augen sind meist geschlossen
5 Augen werden spontan oder auf Anruf und/ 5 Reaktionsmöglichkeit auf Schmerzreize, Schutzreflexe, Tonus und Spontanatmung definieren
oder leichte Schmerzreize geöffnet die Komatiefe:
5 Einfache Aufforderungen können befolgt
werden (Somnolenz) Leichtes Koma Tiefes Koma

5 Tiefschlafähnlicher Zustand, der nur mit er- 5 Koma I: 5 Koma III:


heblichen Außenreizen, die zu kurzem Erwachen auf Schmerzreize gezielte Abwehrbewe- auf Schmerzreize inkonstante, ungezielte Be-
führen, unterbrochen werden kann (Sopor) gungen in nichtparetischen Extremitäten, kei- wegungen, evtl. Streck- und Beugesynergien,
ne Pupillenstörungen, Bulbi konjugiert, erhöhter Muskeltonus, zephale Reflexe +/– er-
okulozephaler Reflex deutlich positiv halten, okulozephaler Reflex pathologisch,
5 Koma II: vestibulookuläre Reflexe pathologisch,
auf Schmerzreize konstant ungezielte Ab- Pupillen variabel, eher eng, Anisokorie mög-
wehrbewegungen, Anisokorie möglich, Licht- lich, Lichtreaktion +/–
reaktion erhalten 5 Koma IV:
keine Schmerzreaktion, evtl. seltenes spon-
tanes Strecken, Pupillen weit und reaktionslos,
zephale Reflexe fallen kraniokaudal aus

einer Bewusstheitsstörung begleitet sein kann. Die Patienten der Thalami bedingt. Die Ursachen für diese Läsionen sind
sind wach oder leicht erweckbar. Charakteristisch ist spon- vielfältig und können direkt (primär) oder indirekt (sekundär)
tan oder reaktiv inadäquates Verhalten bei verschiedenen wirken.
Gelegenheiten. Die Umgebung und die Personen, die sich
mit dem Patienten beschäftigen, werden verkannt. Die Orien-
tierung zu Ort, Zeit und selten auch zur eigenen Person 2.15.1 Primäre und sekundäre Bewusstlosigkeit
(Lebensalter) kann gestört sein. Bei subakuten und chro-
nischen Verwirrtheitszuständen erkennt man den Übergang Zur primären Bewusstlosigkeit kommt es bei einer lokalen
zur Demenz mit langsam fortschreitender Desorganisation Läsion von Hirnstamm und Zwischenhirn, z.B. durch eine Hirn-
verschiedener Funktionen wie Affektivität, Antrieb und Ge- stammblutung, eine Basilaristhrombose oder eine Hirn-
dächtnis. stammkontusion.
Die sekundäre Bewusstlosigkeit kann durch neurolo-
Delir gische und nichtneurologische Auslöser verursacht werden.
Das Delir ist gekennzeichnet durch ängstliche psychomoto- Neurologische Ursachen sind hemisphärische, supratentorielle
rische Unruhe, Übererregbarkeit, Desorientiertheit, Halluzi- Läsionen (Trauma, Blutung, Infarkt, Tumor, Abszess, Enze-
nationen und Suggestibilität. phalitis), die, wenn sie raumfordernd sind, durch die Einklem-
mung (s.o.) bei intrakranieller Druckerhöhung eine sekundäre
Schädigung des Hirnstamms verursachen können.
2.15 Ursachen der akuten Bewusstlosigkeit Nichtneurologische Ursachen des Komas sind alle Erkran-
kungen, die über eine Minderperfusion, eine Hypoxie oder
Jede Bewusstseinsstörung ist durch eine funktionelle oder eine metabolisch-toxische Störung zur Hirnstammfunktions-
morphologische Läsion des aufsteigenden, aktivierenden Teils störung führen. Bei Patienten, die nach Herz-Kreislauf-Still-
der mesenzephalen Formatio reticularis des Hirnstamms oder stand und Reanimation bewusstlos bleiben, ist die Bewusstlo-
102 Kapitel 2 · Neuropsychologische Syndrome und Störungen des Bewusstseins

Exkurs
Atmungsstörungen im Koma (. Abb. 2.6 und Vegetative Regulationsstörungen im Koma
. Tab. 2.4) Temperaturregulationsstörungen. Bei hypothalamusnahen
Die Maschinenatmung ist eine neurogene Hyperventilation, Läsionen, bei Ventrikeltamponade, bei akuter transtentorieller
2 die bei Schädigungen des pontomesenzephalen Übergangs Einklemmung und beim Hydrocephalus communicans oder
auftritt und durch die funktionelle Abkopplung des Atem- occlusus finden sich Störungen der Temperaturregulation, die
zentrums von allen modifizierenden höheren Zentren ge- als zentrale Hyperthermie bezeichnet werden. Beim Fortschrei-
kennzeichnet ist. ten der Komatiefe und beim Übergang in den Hirntod kommt
Die ataktische Atmung ist eine Funktionsstörung des es zur stufenweisen, manchmal abrupten Temperaturabnahme.
medullären Schrittmacherzentrums mit irregulären, unter- Die Diagnose der zentralen Hyperthermie wird wahrscheinlich
schiedlich langen und tiefen Atemzügen, zum Teil mit län- zu häufig gestellt. Meist ist sie assoziiert mit einer gleichzei-
geren Atempausen. tigen arteriellen Hypertonie und Tachykardie. Die Hypertonie
Die Cheyne-Stokes-Atmung tritt häufig bei metabo- ist als wichtiges Differentialkriterium gegen eine Sepsis aufzu-
lischen Schädigungen des Hirnstamms, aber auch bei pri- fassen.
mären Hirnstammläsionen auf. Sie ist durch die rhythmische
Ab- und Zunahme der Atemexkursion, verbunden mit unter- Kreislaufstörungen. Auch Pulsfrequenz und Blutdruck kön-
schiedlich langen Atempausen, gekennzeichnet. Die Atem- nen in verschiedenen Komastadien unterschiedlich fehlge-
pausen sind wahrscheinlich durch einen verminderten steuert sein. Bei erhöhtem Hirndruck können die Pulsfrequenz
Atemantrieb bedingt. Hierdurch kommt es zur CO2-Erhö- und auch der Blutdruck erhöht sein (Cushing-Reflex). Hier-
hung, die dann wieder eine Enthemmung der inspirato- durch kommt es zu den befürchteten, das Hirnödem noch
rischen Neurone bewirkt, die zu der Hyperventilation in der verstärkenden Hirndruckspitzen. Tachyarrhythmien und Extra-
Crescendo-Phase der Cheyne-Stokes-Atmung führt. systolen sind nicht ungewöhnlich. Erst im tiefen Koma kommt
es zur reflektorischen Bradykardie, viel früher kann der Blut-
druck abfallen.

. Tabelle 2.4. Zentrale Atemstörungen


Cheyne-Stokes-Atmung Dieser Atemtyp ist durch wellenförmige Ab- und Zunahme von Atemfrequenz und Atemtiefe gekennzeich-
net. Man findet ihn bei metabolischen Komaformen, bei raumfordernden supratentoriellen Läsionen und
bei primären Hirnstammläsionen (. Abb. 2.6a).
Ataktische Atmung Atemrhythmus und -frequenz sind sehr unregelmäßig, In- und Expirationsphasen sind schlecht koordiniert.
Die Rezeptorfunktionen sind ungestört. Dieser Atemtyp kommt bei primären infratentoriellen Läsionen
und Intoxikationen vor (. Abb. 2.6b).
Maschinenatmung Sie ist durch eine regelmäßige, tiefe Hyperventilation gekennzeichnet. Ursache ist die Entkoppelung des
medullären Atemzentrums von den dienzephalen Reglern. Diesen Atmungstyp findet man bei akuter,
transtentorieller Einklemmung und primären mesenzephalen Läsionen (. Abb. 2.6c).
Posthyperventilatorische Bei manchen Patienten mit zentralen Atemstörungen kommt es zu längeren Pausen nach einer spontanen
Apnoe (Gruppenatmung) Hyperventilation. Diese Pausen können bis zu 30 Sekunden anhalten. Sie sind durch eine abnorme Emp-
findlichkeit der CO2-Rezeptoren auf ein erniedrigtes paCO2 bedingt.
Zentrale Rezeptoren- Atemstörungen mit normalem Atemrhythmus und normaler Atemtiefe, jedoch gestörten zentralen
störung CO2-Rezeptoren führen zu Hyper- und Hypokapnie. Sie werden nur durch regelmäßige Blutgasanalysen
festgestellt.

sigkeit also durch die sekundäre Funktionsstörung des Psychogene Bewusstseinsstörungen


Hirnstamms begründet und muss nicht durch eine neurolo- Hierbei handelt es sich nicht um eine echte Bewusstlosigkeit,
gische Grunderkrankung erklärt werden. sondern um eine psychogen bedingte Reaktionslosigkeit. Die
In . Tabelle 2.5 sind die häufigsten Ursachen, die zu einer Augenlider und der Mund sind oft aktiv geschlossen, beim
akuten Bewusstlosigkeit führen können, zusammengestellt. Berühren der Wimpern bzw. beim Öffnen der Augen wird ak-
Jede dieser Gruppen zeigt eine Reihe charakteristischer Symp- tiver Widerstand entgegengesetzt. Der okulozephale Reflex ist
tome, die eine Zuordnung ermöglichen. Hiermit können unterdrückt, vestibulookuläre Reflexe sind erhalten. Trotz
Hinweise auf die sinnvolle weitere Diagnostik gefunden wer- wechselndem Muskeltonus finden sich keine pathologischen
den. Hat man die Gelegenheit, Patienten im Koma längere Zeit Reflexe. Die Atmung wechselt zwischen Hyperventilation und
zu beobachten, so geben zusätzlich auch die Veränderungen Apnoe. Überstreckte Kopf- und Körperhaltung erinnern an
der Einzelsymptome Hinweise auf Läsionstyp und Läsions- einen Meningismus. Kombiniert mit der typischen Pfötchen-
ort. stellung der Hände findet sich diese Haltung bei psychogener
2.16 · Dezerebrationssyndrome
103 2
Hyperventilation. Schmerzreaktionen können selbst für starke
Schmerzreize reaktionslos unterdrückt werden.

2.16 Dezerebrationssyndrome

Unter Dezerebration versteht man eine funktionelle Abkopp-


lung des Hirnstamms vom gesamten Hirnmantel. Als Grund-
lage können entweder ausgedehnte bilaterale Schädigungen
im Marklager der Großhirnhemisphären oder Läsionen im
Hirnstamm selbst vorliegen. Die häufigsten Ursachen sind
schweres Hirntrauma (7 Kap. 26), Enzephalitis (7 Kap. 18 und
19), Blutungen (7 Kap. 6), Hypoxie, z. B. bei vorübergehendem
Herzstillstand oder Narkosezwischenfall und Thrombose der
A. basilaris (7 Kap. 5).

3Symptome. Die Arme sind entweder in einer Beugehal-


tung fixiert oder innenrotiert und gestreckt, die Beine sind
immer in Streckstellung (. Abb. 2.7). Spontan oder nach sen-
siblen oder sensorischen Reizen können sich die Beuge- und
Streckmuster als tonischer Anfall für Sekunden bis Minuten
verstärken (Beuge- oder Streckkrämpfe).
Regelmäßig haben die Patienten Störungen der Pupillen-
. Abb. 2.6a–c. Schematische Darstellung verschiedener Atem- oder Augenmotorik: Fakultativ beobachtet man Miosis oder
regulationsstörungen. Die einzelnen Atemtypen sind in Tabelle 2.3 einseitige bzw. doppelseitige Mydriasis mit eingeschränkter
besprochen. (Mod. nach Brandt; in Kunze 1992) oder aufgehobener Lichtreaktion, Divergenz- oder Konver-

. Tabelle 2.5. Charakteristische Symptome bei verschiedenen Ursachen der Bewusstlosigkeit (Nach Hacke 1988)
1. Primär infratentorielle 5 meist akuter Komabeginn mit fokalen Hirnstammfunktionsstörungen
Läsionen 5 überwiegend bilaterale Ausfälle, nur geringe Asymmetrie
5 primäre Hirnnervenläsionen
5 spontane Strecksynergismen, bilaterale Myoklonien
5 keine klassischen Stadien der Komaklassifikation
5 ungewöhnliche Atemtypen und frühe Kreislaufregulationsstörungen
2. Supratentorielle raum- 5 Beginn mit halbseitigen neurologischen Ausfällen
fordernde Läsionen mit 5 subakuter bis akuter Komabeginn
beginnender transtent- 5 kraniokaudale Veränderung der Funktionsstörung
orieller Einklemmung 5 »klassische« Atemtypen
3. Metabolisches Koma 5 vorangehende Verwirrtheit oder Verlangsamung
5 langsame Entwicklung des Komas
5 häufige bilaterale motorische Reiz- und Ausfallserscheinungen (Tremor, Myoklonien, generalisierte und fokale
Anfälle)
5 keine Hirnnervensymptome
4. Koma nach Kreislauf- 5 akuter Beginn, symmetrische, meist schlaffe motorische Störungen
versagen oder Hypoxämie 5 Zuordnung der Syndrome zu definierten Hirnstammebenen
5 kraniokaudale Verschlechterung, die sich bei Stabilisierung des Zustands wieder nach kranial hin verbessern kann
5 »klassische« Atemtypen
5. Postparoxysmale 5 blutiger Speichel, Einnässen, Zungenbiss
Bewusstseinsstörung 5 tiefe, forcierte Atmung, motorische Unruhe
5 postparoxysmale Parese, die sich langsam zurückbildet
5 fortbestehende fokale Anfälle
6. Psychogene »Bewusst- 5 Augenlider und Mund oft aktiv geschlossen
seinsstörung« 5 Augenschluss nach leichtem Berühren der Wimpern
(besser Reaktionslosigkeit) 5 okulozephaler Reflex unterdrückt
5 vestibulookuläre Reflexe erhalten
5 keine pathologischen Reflexe bei wechselndem Muskeltonus
5 oft vollständig unterdrückte Schmerzreizreaktionen
104 Kapitel 2 · Neuropsychologische Syndrome und Störungen des Bewusstseins

werden wie laminare Nekrosen, Gliose, Nervenzellverluste,


kleine Blutungen und ausgedehnte bilaterale Schädigungen des
Marklagers, des Hypothalamus und der Basalganglien.
2 3Symptomatik. Die Patienten öffnen nach längerer Be-
wusstlosigkeit wieder die Augen und der Schlaf-Wach-Rhyth-
mus stellt sich wieder ein. Der Blick geht ins Leere. Auf senso-
rische Reize wird der Blick nicht zugewendet. Die Patienten
fixieren nicht und nehmen keinen Blick- oder anderen Kontakt
auf. Die Extremitäten sind in generalisierter Beugestellung fi-
xiert oder die Arme gebeugt und die Beine überstreckt, so dass
sich Kontrakturen einstellen. Der Muskeltonus ist erhöht, Py-
ramidenbahnzeichen können vorhanden sein. Atmung und
Kreislauf sind ungestört. Die Nahrungsaufnahme ist meist nur
über eine Sonde möglich.

3Diagnostik. Die EEG-Befunde im apallischen Syndrom


sind unspezifisch, auch Nulllinien-EEGs werden beschrieben.
rCBF-Messungen sollen eine mäßige Minderung der gesamten
Hirndurchblutung zeigen.
Nach langanhaltender Hypoxie findet man in CT und
. Abb. 2.7. Dezerebrationshaltung. 51-jährige Patientin mit Zu- MRT charakteristische Befunde: In den Hemisphären sind
stand nach alter Basalganglienblutung rechts und frischer Basalgang- Rinden- und Markgrenze aufgehoben und die Stammganglien
lienblutung links. Spontane Atmung, apallisches Syndrom strukturell nicht mehr abgrenzbar, manchmal im CT deutlich
hypodens. Dagegen wirken die Anatomie und das Signalver-
halten in Hirnstamm und Kleinhirn normal.
genzstellung der Bulbi, konjugierte oder unkoordinierte hori- Leider ist die Prognose des apallischen Syndroms, wenn
zontale, seltener vertikale oder gar diagonale Pendelbewe- es wie oben beschrieben definiert wird, trotz gegenteiliger Be-
gungen der Augen. hauptungen, sehr schlecht, was das Wiedererlangen des Be-
Eine Störung des Wachbewusstseins fehlt selten. Sie beruht wusstseins oder gar eine völlige Wiederherstellung angeht. Die
auf Beeinträchtigung des retikulären Aktivierungssystems im Berichte von Erwachen aus monatelangem Koma oder aus
Hirnstamm. Je nach der Lokalisation und dem Verlaufsstadi- dem apallischen Syndrom, die immer wieder die Presse errei-
um besteht ein tiefes Koma mit geschlossenen Augen, Sopor chen, betreffen in aller Regel Patienten, die nicht apallisch wa-
mit schwacher Reaktionsfähigkeit auf äußere Reize oder ein ren. Hiermit werden aber falsche Hoffnungen bei den Angehö-
apallisches Syndrom (s.u.). rigen solcher Patienten geweckt, die sich natürlich an jede
Hoffnung klammern. Patienten mit apallischem Syndrom
können bei entsprechender Pflege und Versorgung viele Jahre
2.16.1 Apallisches Syndrom (persistierender überleben, was einen immensen persönlichen und finanziellen
vegetativer Zustand) Aufwand bedeutet.
Es liegt in der Verantwortung des Intensivmediziners,
3Definition. Ein apallisches Syndrom (apallisches Syndrom frühzeitig die Prognose des Patienten mit schwerster Hirn-
von a-pallium = ohne Hirnmantel) kann entstehen, wenn eine schädigung zu erfassen und seine intensivmedizinischen Be-
sehr schwere Hirnschädigung überlebt wird. Das Mittelhirnsyn- mühungen bei aussichtsloser Situation zu reduzieren. So wird
drom kann bei irreparablen Läsionen in eine chronische Deze- das apallische Syndrom, das eigentlich, wie auch der dissoziier-
rebration, das apallische Syndrom, übergehen, das monatelang te Hirntod, ein intensivmedizinisches Artefakt ist, seltener ent-
und in Ausnahmefällen selbst über Jahre bestehen bleiben. Als stehen. Ganz vermieden werden kann es nicht.
apallisches Syndrom bezeichnet man einen Zustand, in dem
Patienten wach zu sein scheinen, jedoch nicht fähig sind, mit
der Umwelt Kontakt aufzunehmen. Im angloamerikanischen 2.16.2 Andere schwere Hirnstammsyndrome
Schrifttum nennt man das Syndrom persistent vegetative state ohne Verlust der Wachheit
(persistierender vegetativer Zustand). Diese Bezeichnung betont
die Diskrepanz zwischen erhaltenen vegetativen Funktionen Akinetischer Mutismus
und verlorenen kognitiven Möglichkeiten. Bei Laien, Hilfsorga- Diese Patienten zeigen keine spontane Motorik und geben
nisationen und in der Presse hat sich leider der widersprüch- auch keine verbalen Äußerungen von sich. Sie wirken wach.
liche Begriff »Wachkoma« eingebürgert. Er suggeriert Wachheit Nur selten findet sich eine Tonuserhöhung oder die Beugehal-
im Sinne von Bewusstheit, die aber nicht besteht. tung des apallischen Syndroms. Die Pyramidenbahnen schei-
Neuropathologisch findet man sehr unterschiedliche Be- nen daher intakt. Auch diese Patienten haben einen Schlaf-
funde. Normale Kortexstrukturen können ebenso gefunden Wach-Rhythmus.
2.17 · Dissoziierter Hirntod
105 2
3Ursachen. Ursachen des akinetischen Mutismus sind dien- sie wahrnimmt, ist weniger eine medizinische als eine mensch-
zephale, von dorsal her wirkende raumfordernde Läsionen in liche Frage. In der Literatur wird über einige Überlebende be-
Höhe des 3. Ventrikels. Das Syndrom wurde jedoch auch bei richtet, deren Krankheitsgeschichte in literarischer und fil-
bilateralen subkortikalen hemisphärischen Läsionen (Grenzzo- mischer Form dargstellt wurde. Trotzdem überleben nur weni-
neninfarkte, ausgedehnte Demyelinisierung (SSPE 7 Kap. 19; ge Patienten ein Locked-in-Syndrom und werden rehabilitiert.
CO-Vergiftung), beim Hydrocephalus communicans und Wir sedieren daher Patienten mit einem Locked-in-Syndrom
bei großen bilateralen Läsionen in den Basalganglien und der – mit deren Zustimmung – immer tief, um sie die sicherlich
oberen Frontallappen beschrieben. quälende Eingeschlossenheit in ihre irreversible Paralyse nicht
Das Syndrom beschreibt einen vegetativen Zustand mit erleben zu lassen.
nur geringerer Schädigung der Pyramidenbahn und unter-
scheidet sich dadurch vom apallischen Syndrom, mit dem es
eng verwandt ist. 2.17 Dissoziierter Hirntod
Locked-in-Syndrom (de-efferentierter Zustand) 3Definition und Problematik. Das Syndrom des dissoziier-
Bei diesem Syndrom liegt eine ausgedehnte supranukleäre, ten Hirntods wird nach schwersten primären Hirnschäden
also oberhalb der Hirnnervenkernen gelegene Schädigung der wie Traumen, Hirn- oder Subarachnoidalblutungen, Enze-
Pyramidenbahn und der extrapyramidalen Bahnen vor. Es re- phalitis, aber auch nach vorübergehendem Herzstillstand
sultiert eine vollständige Lähmung aller Extremitäten (Tetra- oder bei anderen schweren sekundären, metabolischen zere-
paralyse) und nahezu aller motorischer Hirnnerven. Die Pati- bralen Krankheitsprozessen beobachtet. Es ist definiert als
enten müssen immer beatmet werden. Das Bewusstsein ist vollständiger, irreversibler Funktionsausfall des Gehirns, im
erhalten. Die Patienten sind wach und nehmen ihre Umgebung Unterschied zum irreversiblen Herzstillstand, dem Herz-
wahr. Kreislauf-Tod.
In manchen Fällen bleibt die Möglichkeit willkürlicher Der Hirntod ist ein intensivmedizinisches Artefakt: Vor
vertikaler Augenbewegungen und des Lidschlusses erhalten. Einführung der assistierten Beatmung konnte er nicht entste-
Diese Restmotorik wird zur letzten kodierbaren Kommunika- hen, da die Schädigung des Atemzentrums zum zentralen
tionsform, wenn die vertikalen Augenbewegungen und der Atemstillstand führt und Minuten vor dem Hirntod, der Herz-
Lidschluss mit »Ja« und »Nein« belegt werden. So kann der Kreislauf-Tod als vermeintlich natürlicherer Tod eintritt. An-
Kontakt mit dem Patienten aufrechterhalten werden. dererseits war aber schon immer auch der Tod des Gehirns,
auch wenn er nicht spezifisch geprüft wurde, zentraler Teil des
3Ursachen. Dem Locked-in-Syndrom liegen primäre Hirn- Todes des Menschen, da das Gehirn nur wenige Minuten des
stammerkrankungen wie Basilaristhrombose, Hirnstammblu- Kreislaufstillstands überlebt. Mit Hilfe der Intensivmedizin ist
tungen oder Hirnstammkontusionen zugrunde. Manchmal es jetzt möglich, den Restorganismus nach dem Hirntod in
können auch Erkrankungen der peripheren Nerven, z.B. beim Funktion zu halten.
Guillain-Barré-Syndrom mit vollständiger Beteiligung der mo- Bei der Diagnose des dissoziierten Hirntodes geht es nicht
torischen Hirnnerven, ein Locked-in-Syndrom vortäuschen um eine prognostische Stellungnahme, sondern um die Fest-
(Panparalyse). Beim Locked-in-Syndrom ist die Formatio reti- stellung des Ist-Zustands, also um die Frage, ob ein irreversib-
cularis mit ihrem aktivierenden aufsteigenden Anteil intakt. Sie ler totaler Funktionsverlust jetzt bereits vorliegt. Bei vielen
liegt dorsal von den zerstörten efferenten motorischen Bahnen. Patienten kann die Prognose absolut infaust sein, und man
Dorsal verlaufende Teile des hinteren Längsbündels, das die weiß, dass sie die nächsten Stunden nicht überleben werden,
Okulomotorik regelt, können ebenfalls funktionsfähig bleiben trotzdem liegen noch nicht die Zeichen des Hirntods vor.
und die vertikalen Augenbewegungen steuern. Die sehr emotional geführte öffentliche Diskussion hat bei
Patienten und Angehörigen zu Verunsicherung, Angst und
3Diagnostik. Elektrophysiologische Methoden können die Misstrauen geführt. Die Angst, für tot erklärt zu werden, ob-
erhaltene Perzeption objektivieren: Sowohl die kortikale Ver- wohl der Körper noch lebt, reflektiert eine atavistische Furcht
arbeitung somatosensibler Reize (SEP, 7 Kap. 3.2.5) als auch die des Menschen und wird durch diese Diskussion, nur auf ande-
Verarbeitung akustischer Reize (AEP, mittlerer Latenz) können rer Ebene, erneut verbalisiert.
nachgewiesen werden. Die Patienten können sich nicht sprach- Bei keiner anderen Feststellung des Todes sind so klare
lich oder motorisch äußern (daher die Bezeichnung »de-effe- Richtlinien und Untersuchungsvorschriften vorhanden wie bei
rentierter Zustand«). der Diagnose des Hirntods. Die Angst vor der zu frühen Fest-
stellung des Hirntods, möglicherweise sogar motiviert durch
3Prognose. Die Unterscheidung dieses Syndroms vom den Wunsch nach der Gewinnung von Organen für eine Trans-
apallischen Syndrom und vom akinetischen Mutismus ist aus plantation, ist bei korrekter Einhaltung der verbindlichen Re-
zwei Gründen wichtig: Auch ein Patient, der sich nicht mehr geln völlig unbegründet. Die den Hirntod feststellenden Ärzte
bewegen kann und bewusstlos wirkt, kann, wenn ein Locked- müssen vom Transplantationsteam unabhängig sein. Im Üb-
in-Syndrom vorliegt, seine Umgebung und Schmerzen wahr- rigen stellt sich das Problem der Diagnose des dissoziierten
nehmen und auch Kommentare und Bemerkungen, die achtlos Hirntods viel häufiger ohne die Frage nach einer Organspende,
gemacht werden, verstehen. Die oben beschriebene Möglich- es wird aber in der Öffentlichkeit nur in diesem Zusammen-
keit der Kommunikation muss ebenfalls bekannt sein. Ob man hang diskutiert.
106 Kapitel 2 · Neuropsychologische Syndrome und Störungen des Bewusstseins

3Klinische diagnostische Kriterien. Voraussetzung für die rungen über längere Zeit isoelektrisch sein kann, ohne dass die
Diagnose des zerebralen Todes sind folgende klinische Krite- Funktionsstörung des Gehirns irreversibel ist. Das EEG muss
rien: durchgeführt werden, wenn eine primär infratentorielle Hirn-
4 Koma, läsion, z.B. Basilaristhrombose oder Hirnstammblutung, vor-
2 4 Lichtstarre beider Pupillen, die ohne Mydriatikum we- liegt. In diesen Fällen können die klinischen Zeichen des
nigstens mittelweit, meist maximal weit sind, Hirntods sämtlich durch die lokale Läsion bedingt sein
4 Fehlen des Kornealreflexes, (»Hirnstammtod«). Mit dem EEG wird dann der Funk-
4 Fehlen von Reaktionen auf Schmerzreize im Versorgungs- tionsverlust des Großhirns bewiesen.
gebiet des N. trigeminus,
4 Fehlen des pharyngealen Trachealreflexes, Angiographie. Der zuverlässigste Nachweis für die Feststel-
4 Fehlen des vestibulookulären Reflexes und lung des Hirntods wäre die Dokumentation des intrazerebralen
4 Ausfall der Spontanatmung. Perfusionsstillstands, wie er am besten mit Hilfe der Angiogra-
phie nachgewiesen werden könnte. Diese Untersuchung darf
Diese Kriterien müssen von zwei unabhängigen Untersuchern aber nur dann ausgeführt werden, wenn sie der Suche nach der
festgestellt werden. Bestehen beim Erwachsenen mit schwerer, Ursache der zerebralen Funktionsstörung dient und die Mög-
primärer Hirnschädigung diese klinischen Kriterien länger als lichkeit einer therapeutischen Konsequenz besteht, nicht aber
12 Stunden, so kann die Diagnose des Hirntods gestellt wer- für die Diagnosestellung des dissoziierten Hirntods selbst, da
den. Bei sekundärer Hirnschädigung (z.B. nach Herzstillstand nicht ausgeschlossen werden kann, dass durch die Angiogra-
und später Reanimation, metabolischem oder endokrinem phie ein zusätzlicher, wenn auch nur minimaler Schaden ent-
Koma) erhöht sich die Beobachtungsdauer auf 72 Stunden. stehen könnte. Da heute eine Angiographie zur Diagnose der
Die klinische Diagnose des Hirntods darf bei fortbestehen- Grundkrankheit praktisch nicht mehr notwendig ist – CT und
der Intoxikation oder neuromuskulärer Blockade, bei fortbe- MRT, Labor und Liquor beweisen praktisch immer die zu-
stehender Hypothermie und Behandlung mit sedierenden grunde liegende Diagnose – ist die Angiographie in der Hirn-
Medikamenten, z.B. Barbituraten, auch nach 72 Stunden nicht toddiagnostik nicht mehr von Bedeutung.
gestellt werden.
Evozierte Potentiale. Dagegen gehören inzwischen der Aus-
3Technische Zusatzuntersuchungen. Diese haben den fall der Wellen II–V der frühen akustischen Hirnstammpo-
Sinn, die Beobachtungszeit zu verkürzen. Sie beweisen den tentiale nur bei primärer supratentorieller Läsion – und der
Hirntod nicht alleine, sondern sind nur ein weiteres Glied in Verlust der kortikalen somatosensibel evozierten Potentiale
der diagnostischen Kette. bei erhaltenen spinalen Potentialen zu den offiziell aner-
kannten, die Beobachtungszeit verkürzenden Methoden für
EEG. Die Diagnose des Hirntods darf bei Erwachsenen mit die Diagnose des Hirntods.
primärer Hirnschädigung schneller gestellt werden, wenn nach
der ersten Feststellung der oben genannten Kriterien ein min- Dopplersonographie. Der zerebrale Zirkulationsstillstand
destens 30 min langes artefaktfreies EEG nach den Richtlinien kann mit der Dopplersonographie durch transkranielle Be-
der Deutschen EEG-Gesellschaft abgeleitet wird und wenn schallung der Hirnbasisarterien und Untersuchung der extra-
dieses EEG keine aus dem Gehirn generierte bioelektrische kraniellen hirnversorgenden Arterien von einem in dieser
Aktivität mehr zeigt (sog. Nulllinien-EEG). Diese Aussage gilt Methode speziell erfahrenen Untersucher bewiesen werden.
wieder nur für Patienten mit primärer Hirnschädigung oder Die Dokumentation des Hirntods erfolgt von zwei vom
schwerer sekundärer Hirnschädigung mit den oben angeführ- Transplantationsteam unabhängigen, in der neurologischen
ten Einschränkungen. Das EEG allein beweist den zerebralen Intensivmedizin erfahrenen Untersuchern auf einem Form-
Tod nicht, da es z.B. bei schweren Vergiftungen oder Erfrie- blatt, das auf jeder Intensivstation vorhanden sein sollte.

Exkurs
Apnoeprüfung
Die Apnoeprüfung erfolgt beim intubierten und beatme- geringe Atemexkursion, die man am Monitor beobachten
teten Patienten nach 20-minütiger Hypoventilation mit 100% kann, bewirkt, ist die Apnoe, das heisst der Ausfall des Atem-
O2 und unter intratrachealer Insufflation mit 6 l O2/min und antriebs und der Spontanatmung als Funktion des kaudalen
Blutgasmonitoring bis ein pCO2 von über 60 mmHg erreicht Hirnstamms, bewiesen und ein weiteres Element des Hirntod-
ist. Dann wird die Beatmung unterbrochen, durch die Insuf- syndroms bewiesen. Wir führen die Apnoeprüfung nur durch,
flation von 100% O2 wird die Oxygenierung des Blutes auf- wenn die anderen Kriterien bereits erfüllt sind.
recht erhalten. Wenn dieser pCO2-Reiz keine auch noch so
2.17 · Dissoziierter Hirntod
107 2

In Kürze

Befunderhebung

Psychischer Befund. Beschreibung des Verhaltens des fische Störung betrifft die Orientierung im Raum. Ursache:
Patienten, der geistig-seelischen Kategorien wie Bewusst- Läsionen der inferior-parietalen Region.
sein, Orientiertheit, spontaner Antrieb, Stimmung, Konzent-
ration. Neglect. Halbseitige Vernachlässigung motorischer, sensibler,
akustischer und visueller Reize. Ursache: u.a. Läsion des
Neuropsychologischer Befund. Prüfung von Intelligenz, Lobulus parietalis inferior der nicht sprachdominanten Hemis-
Aphasie, Lesen und Schreiben, Aufmerksamkeits- und Ge- phäre.
dächtnisleistungen, Apraxie, optisch-räumliche Vorstellung,
konstruktive Leistung, optisches Erkennen, exekutive Funk- Anosognosie. Funktionsminderung oder -aufhebung, Leis-
tionen. tung wird nicht wahrgenommen oder beachtet. Ursache:
Läsionen im rückwärtigen Anteil der nicht sprachdominanten
Neuropsychologische Syndrome Hirnhälfte.
Unterbrechung der Verbindungen zwischen kortikalen Projek-
Aphasie. Störung im kommunikativen Sprachgebrauch. tions- oder Assoziationsfeldern.
Aussagesprache stärker betroffen als emotionale Sprache,
Ausprägung abhängig von affektiver Verfassung, Antriebs- Amnesie. Unfähigkeit auf Gedächtnisinhalte zurückzugrei-
und Bewusstseinslage. Therapie: Strukturierende und deblo- fen und neue zu speichern, vor allem Langzeitgedächtnis
ckierende Methoden. betroffen.

Broca-Aphasie. Starke Sprachanstrengung und Agrammatis- Störungen der Aufmerksamkeit. Einbußen auch in anderen
mus, gutes Sprachverständnis und meist erhaltenes Stö- Teilleistungsbereichen wie Sprache.
rungsbewusstsein, oft artikulatorische Sprechstörung
(Dysarthrophonie). Ursache: Prärolandische Läsion, Versor- Störungen der Planung und Kontrolle von Handlungen
gungsgebiet der Sprache ist betroffen. und Verhalten. Fehlende Hemmung von motorischen Verhal-
ten durch frontale Areale wie »imitation behavior« oder »utili-
Wernicke-Aphasie. Gut erhaltener Sprachfluss, stark gestör- zation behavior«.
tes Sprachverständnis, eingeschränkte Kommunikation,
fehlendes Störungsbewusstsein. Ursache: Retrorolandische Demenz. Störung neuropsychologischer Funktionen (Ge-
Läsion. dächtnis, Sprache, Planung von Handlung und Verhalten),
psychomotorische Störungen, Persönlichkeitsveränderungen,
Globale Aphasie. Expressive und rezeptive sprachliche keine Bewusstseinsstörung.
Funktionen beeinträchtigt. Ursache: Funktionsstörung im
gesamten Versorgungsgebiet. Bewusstseinsstörungen
Amnestische Aphasie: Wortfindungsstörungen, Kommunika-
tionsfähigkeit, Sprachfluss und Sprachverständnis erhalten. Qualitative Bewusstseinsstörung. Störungen der Wahrneh-
Ursache: Temporo-parietale Läsion. mung, Reizverarbeitung und Orientierung oder der Bewusst-
heit ohne Bewusstlosigkeit.
Apraxie. Störung in sequenzieller Anordnung von Bewe- Formen: Verwirrtheit: akute, subakute oder chronisch-pro-
gungen zu Bewegungsfolgen. gredient auftretende Denkstörung, fehlende Orientierung zu
Ideomotorische Apraxie: Auftreten fehlerhafter Elemente Ort, Zeit und Person; Delir: Übererregbarkeit, Desorientiert-
in Bewegungsfolgen. Ursache: u.a. Läsionen der Wernicke- heit, ängstliche psychosomatische Unruhe, Halluzination und
Region, subkortikaler Bezirke unter dem Operculum. Suggestibilität.
Ideatorische Apraxie: Beeinträchtigung in der konzeptuellen
Organisation von Handlungsfolgen. Elementare Motorik, Sensi- Quantitative Bewusstseinsstörung. Einschränkung des
bilität und Bewegungskoordination sind erhalten. Ursache: Wachbewusstseins oder der Reaktionsfähigkeit auf Außen-
Läsion in der temporo-parietalen Region der sprachdominanten reize.
Hemisphäre. Formen: Bewusstseinstrübung: Patient ist schläfrig, öffnet
kaum die Augen, kann einfache Aufforderungen nicht befol-
Räumlich Störungen. Bei räumlich-konstruktiver Apraxie gen (Somnolenz) oder benötigt höheres Reizniveau, um zu
können einzelne Elemente nicht mehr zu einem räumlichen reagieren (Sopor); Bewusstlosigkeit geht mit Koma einher,
Gebilde zusammengefügt werden. Räumliche-topogra- Patient ist nicht mehr erweckbar.

6
108 Kapitel 2 · Neuropsychologische Syndrome und Störungen des Bewusstseins

Ursache: Akute Bewusstlosigkeit durch funktionelle oder her wirkende raumfordernde Läsionen in Höhe des 3. Ven-
morphologische Läsionen des aufsteigenden, aktivierenden trikels.
Teils der mesenzephalen Formatio reticularis des Hirnstamms
2 oder der Thalami. Primäre Bewusstlosigkeit durch Locked-in-Syndrom. Vollständige Lähmung aller Extremitäten
Hirnstammblutung, sekundäre Bewusstlosigkeit durch (Tetraparalyse) und nahezu aller motorischer Hirnnerven,
neurologische (Trauma, Blutung, Insult, Tumor, Abszess, Beatmung notwendig, Bewusstsein ist erhalten. Ursache:
Enzephalitis) oder nicht-neurologische Auslöser (Minderper- Primäre Hirnstammerkrankungen wie Basilaristhrombose,
fusion, Hypoxie oder metabolisch-toxische Störung führen Hirnstammblutungen oder -kontusionen.
zur Hirnstammfunktionsstörung). Psychogene Bewusstseins-
störung als nicht echte Bewusstlosigkeit durch psychogen Dissoziierter Hirntod
bedingte Reaktionslosigkeit (Hyperventilation).
Vollständiger, irreversibler Funktionsausfall des Gehirns. Ursa-
Dezerebrationssyndrome che: Schwerste primäre Hirnschäden, vorübergehender Herz-
stillstand oder schwere, sekundäre, metabolische zerebrale
Funktionelle Abkoppelung des Hirnstamms vom gesamten Krankheitsprozesse. Klinische diagnostische Kriterien: Koma,
Hirnmantel, u.a. durch schweres Hirntrauma, Enzephalitis, Lichtstarre beider Pupillen, Fehlen von Reaktionen auf
Blutung, Sauerstoffmangelschädigung. Symptome: Erhö- Schmerzreize im Versorgungsgebiet des N. trigeminus, Fehlen
hung des Muskeltonus und Wachbewusstseins, Störungen des paraphyngealen Trachealreflexes, des vestibulo-okulären
der Pupillen- und Augenmotorik. Reflexes und des Kornealreflex, Ausfall der Spontanatmung.
Kriterien müssen > 12 h bei schwerer, primärer Hirnschädi-
Appallisches Syndrom. Patient wirkt wach, kann aber mit gung, 72 h bei sekundärer Hirnschädigung, 24 h bei Kindern
Umwelt keinen Kontakt aufnehmen (persistierender vegeta- erfüllt sein.
tiver Zustand), wacht selten wieder auf. Ursache: Überleben
einer schweren Hirnschädigung. Ergänzende technische Methoden: EEG (Nullinie) SEP, BAEP,
Dopplersonographie
Akinetischer Mutismus. Spontane Motorik und verbale
Äußerungen fehlen. Ursache: Dienzephale, von dorsal
3

3 Apparative und laborchemische


Diagnostik
3.1 Liquordiagnostik – 110
3.1.1 Liquorpunktion – 110
3.1.2 Untersuchung des Liquors – 111

3.2 Neurophysiologische Methoden – 113


3.2.1 Elektromyographie (EMG) – 113
3.2.2 Elektroneurographie (ENG) – 117
3.2.3 Reflexuntersuchungen – 118
3.2.4 Transkranielle Magnetstimulation (TKMS) – 120
3.2.5 Evozierte Potentiale (EP) – 121
3.2.6 Elektroenzephalographie (EEG) – 123
3.2.7 Magnetenzephalogramm (MEG) – 127
3.2.8 Elektrookulographie (EOG) – 128

3.3 Neuroradiologische Untersuchungen – 129


3.3.1 Konventionelle Röntgenaufnahmen – 129
3.3.2 Computertomographie (CT) – 129
3.3.3 Magnetresonanztomographie (MRT) – 131
3.3.4 Nuklearmedizinische Untersuchungen – 136
3.3.5 Digitale Subtraktionsangiographie (DSA) – 137
3.3.6 Myelographie – 140
3.3.7 Ventrikulographie – 140

3.4 Ultraschalluntersuchungen – 140


3.4.1 Extrakranielle Dopplersonographie (ECD) – 140
3.4.2 Transkranielle Dopplersonographie (TCD) – 142
3.4.3 Extrakranielle Duplexsonographie – 142
3.4.4 Intrakranielle Duplexsonographie – 143
3.4.5 Ultraschallkontrastmittel – 144
3.4.6 Funktionelle Untersuchungen – 144
3.4.7 Untersuchung des peripheren Nervensystems und der Muskulatur – 144

3.5 Biopsien – 144


3.5.1 Muskelbiopsie – 144
3.5.2 Nervenbiopsie – 145
3.5.3 Hirnbiopsie und Biopsie der Meningen – 145
3.5.4 Andere Biopsien – 145

3.6 Spezielle Laboruntersuchungen – 145


3.6.1 Muskelbelastungstests – 145
3.6.2 Hypothalamisch-hypophysäre Hormondiagnostik – 145
3.6.3 Neuronale Marker – 146

3.7 Molekulargenetische Methoden – 146


110 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

> > Einleitung

Der Nobelpreis für Medizin wurde im Jahr 1978 an den eng-


lischen Physiker Hounsfield, Mitarbeiter von EMI, und seinen
südafrikanischen Kollegen Cormack verliehen. Sie erhielten
ihn für eine richtungsweisende Neuerung: Sie hatten Ende der
3 sechziger Jahre die Computertomographie erfunden, indem
sie von Computern eine zweidimensionale Bilddarstellung aus
vielen einzelnen, um jeweils wenige Winkelgrade verschobenen
Röntgenstrahlabschwächungen errechnen ließen. EMI schwamm
damals im Geld. Es war der Musikverlag und Plattenproduzent
der Beatles und konnte sich so leisten, Dr. Hounsfields Grund-
lagenforschung zu ermöglichen. Die ersten Bilder waren noch
sehr grob, trotzdem konnte man Knochen, Hirnsubstanz und
Ventrikel in einzelnen transversalen Schichten identifizieren. Dies
war ein Quantensprung in der medizinischen Diagnostik. Weitere
. Abb. 3.1. Seitliche Röntgenaufnahme der Lendenwirbelsäule
dramatische Verbesserungen bei der intravitalen Diagnostik von mit lumbaler Punktionsnadel in situ bei L3/L4
pathologischen Veränderungen in Hirn und Rückenmark ergaben
sich durch die Kernspintomographie und die nuklearmedizi-
nischen computertomographischen Methoden (vor allem PET). 4. oder des 4. und 5. Lendenwirbelkörpers, d.h. unterhalb des
Alle technischen Untersuchungsverfahren haben ihren Wert Conus medullaris des Sakralmarks eingeführt. Dies ist nur mög-
jedoch nur dann, wenn sie gezielt und nicht nur als blinde Such- lich, wenn der Patient den Rücken maximal krümmt, so dass die
methode eingesetzt werden. Manchmal hat man den Eindruck, Dornfortsätze leicht entfaltet werden. Die Punktionsstelle liegt
dass technische Untersuchungen an Stelle einer gründlichen etwa im Schnitt der Wirbelsäule mit einer gedachten Linie zwi-
körperlichen Untersuchung angefordert werden. Bevor man eine schen dem oberen Rand beider Beckenschaufeln. Bei Deformitä-
Untersuchung anordnet, soll man sich im Klaren sein, welche ten der Wirbelsäule kann die Lumbalpunktion unmöglich sein.
Befunde man erwarten kann bzw. welche Läsion man finden Heute verwendet man oft atraumatische LP-Nadeln (z.B.
oder ausschließen will. So ist z.B. bei einer zentralen Beinläh- die Sprotte-Nadel). Mit diesen ist das Risiko postpunktioneller
mung ein CT des lumbalen Spinalkanals aus anatomischen Grün- Beschwerden deutlich geringer; man erkauft dies aber mit ei-
den nicht sinnvoll. Invasive Untersuchungen müssen mit beson- ner schlechteren Führung der Nadel, besonders bei adipösen
derer Sorgfalt eingesetzt werden. Patienten oder älteren Menschen. Manchmal muss man dann
Die Darstellung der Untersuchungsmethoden wird sich auf doch auf die klassischen starreren LP-Nadeln zurückgreifen.
die Beschreibung von Prinzip, technischer Durchführung und Nach der Punktion bleibt der Patient, wenn er stationär ist,
Leistungsfähigkeit der Methoden, auf Indikationen und ggf. 24 h überwiegend flach im Bett liegen, obwohl das Einhalten
Kontraindikationen beschränken. Die Befunde, die bei den ein- einer mehrstündigen Bettruhe keine effektive Prophylaxe von
zelnen Krankheiten zu erheben sind, werden in den entspre- postpunktionellen Kopfschmerzen ist, ebenso nicht das Ein-
chenden Kapiteln besprochen. bringen eines Blutpatches in den Punktionskanal.
Die LP ist bei intrakranieller Drucksteigerung dadurch ge-
fährlich, dass die plötzliche Druckentlastung eine Einklem-
3.1 Liquordiagnostik mung des Hirnstamms im Tentoriumschlitz oder Hinter-
hauptsloch auslösen kann (7 Kap. 11.2). Ihr muss deshalb in
3.1.1 Liquorpunktion der Regel eine Computertomographie des Gehirns vorange-
hen. Die Spiegelung des Augenhintergrunds, die vor der CT-
Die Untersuchung des Liquor cerebrospinalis ist für die Diag- Ära gefordert wurde, reicht nicht aus, da große raumfordernde
nose einer großen Zahl von Krankheiten unerlässlich. Der Li- Läsionen auch ohne Stauungspapille vorkommen.
quor wird routinemäßig durch Lumbalpunktion (LP) aus dem Eine Subokzipitalpunktion erfolgt nur noch in Ausnah-
Subarachnoidalraum entnommen (. Abb. 3.1). Es wird immer mefällen. Ventrikulären Liquor gewinnt man, wenn aus thera-
gleichzeitig Blut abgenommen für die vollständige Proteindi- peutischen Gründen ein Ventrikelkatheter gelegt worden ist.
agnostik, Blutzucker- und Laktatbestimmung. Bei Verdacht
auf eine Meningitis werden auch (aerob und anaerob) Blutkul- Liquordruckmessung
turen abgenommen. Die Messung des Liquordrucks wird bei der Lumbalpunktion
mit Hilfe eines Steigrohrs beim entspannt liegenden Patienten
Lumbalpunktion (LP) ausgeführt. Ängstliche Erregung mit Anspannung der Bauch-
Die LP wird unter sterilen Bedingungen (Desinfektion, steriles muskeln oder forciertes Atmen erhöhen den Liquordruck über
Abdecken der Umgebung, sterile Handschuhe, Einmal-LP-Na- eine venöse Abflussbehinderung und damit Steigerung des
deln) im Sitzen oder Liegen vorgenommen. Eine Lokalanästhe- intrakraniellen Drucks sofort. Der Liquordruck wird in »Mil-
sie ist meist entbehrlich, zumal sie den Eingriff verlängert. Die limeter Wassersäule« (mmH2O) gemessen. Werte bis 200 sind
Punktionsnadel wird zwischen den Dornfortsätzen des 3. und normal, bis 250 grenzwertig, über 250 pathologisch.
3.1 · Liquordiagnostik
111 3

Leitlinien Durchführung der Lumbalpunktion*


4 Die Entnahme des Liquors setzt das Einverständnis des liche Untersuchungsergebnisse zu den Vorteilen der verschie-
einwilligungsfähigen Patienten voraus. denen Nadeln vorliegen bzw. keine Studien unter definierten
4 Die Punktion muss durch Ärzte durchgeführt werden, Bedingungen durchgeführt worden sind.
die über entsprechende Erfahrung verfügen oder unter der 4 Nadeln geringeren Durchmessers führen seltener zu post-
Aufsicht eines Erfahrenen erfolgen. punktionellen Kopfschmerzen (A).
4 Die Öffnung der Punktionsnadel sollte so eingestellt 4 Atraumatische Nadeln reduzieren signifikant die Wahr-
werden, dass sie parallel zur Verlaufsrichtung der Durafasern scheinlichkeit postpunktioneller Kopfschmerzen (A).
liegt (B).
4 Für die Auswahl der Punktionsnadel können keine ver-
bindlichen Empfehlungen gegeben werden, da widersprüch- * Leitlinien der DGN 2005 und 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)

Postpunktionelles Liquorunterdrucksyndrom durchgeführt. Die entsprechenden Parameter werden in Li-


Es tritt mit einer Latenz von 1–2 Tagen mit heftigen Kopf- quor und Serum bestimmt.
schmerzen, Übelkeit, Ohrensausen und Ohnmachtsneigung
auf, die beim Aufstehen zunehmen und sich im Liegen bessern. Liquorstatus (Basisuntersuchungen)
Es wird auf Liquorverlust durch den Stichkanal zurückgeführt 3Aspekt
und lässt sich durch Benutzung spezieller Punktionsnadeln oft, Der normale Liquor ist wasserklar. Verfärbungen beruhen auf
aber nicht immer verhindern. Das postpunktionelle Syndrom Beimischung pathologischer Bestandteile: Bei Zellvermeh-
kann tagelang anhalten und ist, obschon harmlos und immer rung über rund 800/μl wird er trübe, etwa ab 3000/μl wer-
reversibel, oft extrem unangenehm und quälend. Entgegen den segmentkernige Zellen eitrig. Gelbfärbung (Xanthochro-
landläufiger Meinung sind es nicht immer zarte, etwas asthe- mie) beruht auf Beimischung von Blutfarbstoff nach Zerfall
nisch wirkende Personen, die dieses Syndrom entwickeln. von Erythrozyten im Liquor oder auf starker Eiweißvermeh-
Dieses Syndrom ist (besser: war) der Grund, warum die LP bei rung. Bei schwerem Ikterus mit Bilirubinwerten über 15 mg/dl
Laien (und manchen Ärzten) immer als ein so eingreifendes tritt Bilirubin in solcher Menge in den Liquor über, dass er
und angstmachendes Ereignis galt. Die wesentlichsten Prädik- ebenfalls ikterisch verfärbt ist. Ist der Eiweißgehalt des Li-
toren für die Entwicklung postpunktioneller Kopfschmerzen quors sehr hoch, gerinnt der Liquor in der Nadel oder im
und damit für die Prophylaxe sind der Durchmesser und der Reagenzglas.
Typ der verwendeten Punktionsnadel. Nadeln geringeren Die Unterscheidung einer blutigen Punktion von einem
Durchmessers (≥ 25 Gauge) führen seltener zu postpunk- primär blutigen Liquor ist manchmal schwierig. Die sog. Drei-
tionellen Kopfschmerzen als Nadeln größeren Durchmessers gläserprobe kann helfen. Wenn die Punktion artefiziell blutig
(≤ 20 Gauge). Bei Verwendung einer traumatischen Nadel soll- war, nimmt der Blutanteil beim Abtropfen des Liquors konti-
te der Schliff der Nadel parallel zu den Durafasern laufen, um nuierlich ab. Im dritten Liquorröhrchen ist dann deutlich we-
diese nicht zu durchtrennen, sondern auseinander zu drängen. niger Blut zu erkennen. Bei einer primären Blutung in den Li-
Atraumatischer Nadeln reduzieren das Risiko des Auftretens quorraum ist dagegen der Blutanteil in den drei Röhrchen
postpunktioneller Kopfschmerzen signifikant. Zur Therapie immer gleich. Der Nachweis von Xanthochromie hilft nur,
siehe Kapitel 26. wenn die initiale Blutung länger als 6 h vor der Lumbalpunkti-
on stattgefunden hat. Auch durch die sofortige Zentrifugation
des Liquors kann man oft die artefizielle blutige Punktion vom
3.1.2 Untersuchung des Liquors blutigen Liquor unterscheiden: Bei der artefiziell blutigen
Punktion ist der Überstand stets klar, nach wirklicher Blutung
In der Basisuntersuchung des Liquors bestimmt man oft schon xanthochrom.
4 die Zahl und Art der Liquorzellen,
4 den Gehalt an Eiweiß, 3Liquorzellzahl
4 die Glukosekonzentration und Die normale Zellzahl beträgt bis 4 Zellen/μl (Lymphozyten
4 die Eiweißsubgruppen (Liquorproteinprofil). und Monozyten). Vermehrung über diesen Wert oder Auftre-
ten von neutrophilen Granulozyten, eosinophilen Granulo-
Bei speziellen Fragestellungen kommt noch eine Vielzahl an- zyten, Plasmazellen und Tumorzellen ist pathologisch. Auch
derer Untersuchungsmethoden zur Anwendung: die Liquorzy- Tumorzellen können im Liquor nachgewiesen werden. Eine
tologie, die Analyse infektionsspezifischer Immunglobuline, normale Gesamtzellzahl schließt die Anwesenheit patholo-
molekularbiologische Methoden (z.B. Polymerasekettenreak- gischer Zellen nicht aus.
tion, PCR) zum Erregernachweis und die Untersuchung auf Eine Vermehrung der Zellzahl im Liquor wird als Pleozy-
Tumormarker. Für die meisten Parameter und für alle Protein- tose bezeichnet. Meist gibt man dazu an, welche Zellfraktion
untersuchungen ist der Vergleich mit den Werten im Serum erhöht ist (z.B. »lymphozytäre Pleozytose«). Auch wenn der
wichtig, daher wird immer gleichzeitig eine Blutentnahme Liquor artefiziell blutig ist, kann man durch Vergleich mit der
112 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

Zellverteilung im Blutbild noch Hinweise auf eine Vermeh-


rung der weißen Blutkörperchen im Liquor bekommen. Als
Faustregel kann gelten, dass pro 700 Erythrozyten ein Leukozyt
abzuziehen ist, um annäherungsweise den wahren Leukozy-
tenanteil im Liquor zu bestimmen.
Bei bakterieller Meningitis können mehrere 10.000 Granu-
3 lozyten pro μl Liquor gefunden werden. Eosinophile Zellen
findet man bei manchen Pilz-, Wurm- und Protozoeninfektio-
nen sowie bei der tuberkulösen Meningitis. Lymphozyten sind
vermehrt bei viralen Infektionen (7 Kap. 19) und im subakuten
Stadium bakterieller Infektionen.

3Eiweißgehalt
Der normale Eiweißgehalt des lumbalen Liquors bei Erwach-
senen beträgt 0,15–0,45 g/l. Der Eiweißgehalt ist von der Funk-
tion der Blut-Liquor-Schranke abhängig, die Moleküle in Ab- . Abb. 3.2. Graphische Darstellung der Liquorproteinprofile.
hängigkeit von ihrem Molekulargewicht passieren lässt bzw. I Konzentrationsquotient für IgG (Liquor/Serum); A Konzentrations-
zurückhält. So finden sich bei intakter Blut-Liquor-Schranke quotient für Albumin (Liquor/Serum); 1 Normalbereich = 9; 2 Stan-
dardabweichungen; 2 Blut-Liquor-Schrankenstörung mit erhaltener
keine hochmolekularen Eiweißmoleküle im Liquor, und Albu-
Filterfunktion für große Serumproteine (z. B. bei Tumoren, nach In-
mine treten nur in geringem Maße durch die Blut-Liquor-
sulten); 3 Schrankenstörung mit gesteigerter Durchlässigkeit für
Schranke. Zellen können praktisch nicht übertreten, deshalb große Serumproteine in den Liquor (z. B. intrazerebrale Blutung, SAB);
auch der zellarme normale Liquor. Wenn die Blut-Liquor- 4 Schrankenstörung wie bei 2 mit zusätzlicher autochthoner IgG-Pro-
Schranke geschädigt ist, lässt sie größere Moleküle leichter duktion (z. B. Enzephalitis, luische Vaskulitis); 5 isolierte autochthone
passieren. Der Eiweißgehalt des Liquors wird höher, große IgG-Produktion ohne Schrankendefekt (z.B. MS). Die Normwerte für
Eiweißmoleküle können übertreten, und Albumine sind in die Quotienten beziehen sich auf den lumbalen Liquor. Die Ventrikel-
höherer Konzentration vorhanden. Der Vergleich der Albu- werte liegen um den Faktor 0,4, die des zisternalen Liquors um den
minkonzentrationen in Serum und Liquor wird als Maß für die Faktor 0,65 niedriger (V-QAlb = 0,4 * QAlb, z-QAlb = 0,65 * QAlb)
Schrankenfunktion genutzt (. Abb. 3.2). Die Schrankenfunk- (Mod. nach Reiber 1980; aus Hacke 1986)
tion ist altersabhängig, die Werte hier beziehen sich auf Er-
wachsene. Andererseits kann man, wenn bestimmte großmo-
lekulare Substanzen wie Immunglobuline in hoher Konzentra- von Bedeutung. Da der Zucker rasch reduziert wird, muss er
tion im Liquor nachzuweisen sind, aber keine relative Albumin- wenige Stunden nach der Punktion bestimmt werden. Nor-
erhöhung – und damit keine Schrankenstörung – gefunden malwert: Zucker 2,7–4,1 mmol/l, also etwa die Hälfte des
wird, darauf schließen, dass die pathologischen Moleküle in- Serumwerts. Der Liquorzucker sinkt bei akuten bakteriellen
nerhalb der Blut-Liquor-Schranke gebildet wurden, und somit Infektionen stark ab, da er von vielen Erregern (und auch von
einen Immunprozess innerhalb des Nervensystems beweisen. manchen sehr stoffwechselaktiven Zellen) verbraucht wird.
Bei Zuckerreduktion ist der Laktatwert erhöht. Der Laktat-
3Immunglobuline wert bleibt auch unter Behandlung, wenn sich der Liquor-
Zum Nachweis von erregerbedingten entzündlichen Krank- zucker schon normalisiert hat, länger erhöht.
heiten des ZNS werden alle 3 Immunglobulinklassen (IgA,
IgG, IgM) im Serum und Liquor bestimmt. Deren Konzentra- Spezialuntersuchungen des Liquors
tion im Liquor wird von 3 Faktoren beeinflusst: 3Oligoklonale Banden (OKB)
4 Konzentration im Serum (Anstieg im Serum führt zu Mit Hilfe der isoelektrischen Fokussierung werden oligoklo-
einem Anstieg auch im Liquor), nale Banden von IgG nachgewiesen (. Abb. 3.3). Sie werden
4 Permeabilität der Blut-Liquor-Schranke und bei vielen chronisch entzündlichen Krankheiten (chronische
4 lokale Immunglobulinproduktion im Zentralnervensys- Meningitis oder Enzephalitis, Borreliose, Aids, Lues), autoim-
tem. munologischen Krankheiten (multiple Sklerose) und manchen
Tumorkrankheiten gefunden.
Eine lokale (= autochthone) IgG-Vermehrung im Liquor als
Folge einer eigenständigen Produktion im ZNS wird durch den 3Mikrobiologische und molekularbiologische
Liquor-Serum-Quotienten für IgG, bezogen auf den Liquor- Untersuchungen
Serum-Quotienten für Albumin, nachgewiesen. Diese Berech- Der Nachweis von Bakterien und die Untersuchung auf Pilze
nung lässt sich besonders anschaulich in dem Schema nach gelingt durch Färbung, Kultur, Komplementbindungsreak-
Reiber (. Abb. 3.2) ablesen. tionen und Neutralisationstests. Untersuchungen auf Anti-
körper gegen Viren mit dem Enzyme-linked-immunosorbent-
3Liquorzucker Assay (ELISA) werden im Vergleich zu entsprechenden Anti-
Die Bestimmung des Liquorzuckers ist bei bakterieller und körpertitern im Serum dargestellt (Auswertung analog zum
Virusmeningitis/-enzephalitis sowie bei Tumorkrankheiten Reiber-Schema: autochthone Produktion von virusspezifi-
3.2 · Neurophysiologische Methoden
113 3
3.2 Neurophysiologische Methoden
a 3.2.1 Elektromyographie (EMG)

Die Elektromyographie ist die Untersuchung der elektrischen


Aktivität in der Muskulatur. Die Indikation zum EMG wird
bei folgenden Fragen gestellt:
4 Differenzierung von neurogener und myogener Muskel-
atrophie,
b 4 Differenzierung zwischen neurogener Parese, Inaktivitäts-
atrophie, mechanischer Behinderung (Gelenk, Sehnenriss),
psychogener Lähmung und schmerzreflektorischer Ruhigstel-
lung,
4 Untersuchung der Ausdehnung bzw. Generalisierung von
neurogenen Veränderungen, d.h. Beteiligung von klinisch un-
. Abb. 3.3. Oligoklonale Banden. a Oligoklonale Banden im Liquor auffälligen Muskelgruppen und
und zusätzlich identische Banden im Serum (Bandenmuster Typ III), 4 Beurteilung der Reinnervierung nach neurogener Lä-
b Oligoklonale Banden ausschließlich im Liquor (Bandenmuster Typ sion.
II). Die Trennung der Liquor- (L) und Serumproteine (S) erfolgt mittels
isoelektrischer Fokussierung auf einem modifizierten Agarosegel. 3Methodik
Über eine Immunfixation mit Peroxidase markiertem Anti-IgG werden Der Muskel ist funktionell aus motorischen Einheiten aufge-
die oligoklonalen IgG-Banden visualisiert. (B. Storch-Hagenlocher, baut. Dies sind Muskelfasern, die von einem motorischen
Heidelberg)
Nerven und seinem Axon innerviert werden (. Abb. 3.4).
Wenn die Vorderhornzelle im Rückenmark feuert, wandert
das Nervenaktionspotential zu den motorischen Endplatten
schen Antikörpern). Dies gilt auch für Seroreaktionen auf und wird dort mittels des Botenstoffs Acetylcholin auf die
Borrelien und Treponema pallidum in Liquor und Serum. Muskelfasern dieser motorischen Einheit übertragen. Hier-
Für immer mehr Erreger lässt sich heute mit Hilfe der durch kommt es zu einer Permeabilitätsänderung der Na/K-
Polymerasekettenreaktion (polymerase chain reaction, PCR, Kanäle mit einer Depolarisation der Membran aller Muskel-
7 Kap. 3.7) erregerspezifisches Genommaterial im Liquor fasern, die von dem entsprechenden Axon innerviert werden
nachweisen. Diese Untersuchung ist schon heute ein Routine- und die motorischen Einheiten kontrahieren sich. Die sich
verfahren bei tuberkulöser Meningitis, Herpesenzephalitis, ausbreitende Depolarisation verursacht eine messbare Poten-
Zytomegalieinfektion und einer Reihe anderer Viruskrank- tialschwankung, das Potential einer motorischen Einheit
heiten (7 Kap. 18 und 19). Der HIV-Nachweis im Liquor mit- (PmE).
tels PCR bei bekannter HIV-Infektion hat dagegen keine di- Bei der Elektromyographie untersucht man den Muskel
agnostische Bedeutung, da sich bei fast jeder HIV-Infektion mit konzentrischen Nadelelektroden (Elektroden, deren dif-
HIV-Genom im Liquor nachweisen lässt, ohne dass gleichzei- ferenter Pol, ein dünner Platindraht, in der Mitte, bis auf die
tig schon eine Infektion des ZNS erfolgt ist. Spitze isoliert ist; er ist umgeben von einer Stahlhülle als indif-
ferentem Pol). Es werden die Potentialschwankungen abgelei-
3Zytologische Untersuchungen tet, die durch die Aktivierung einer oder mehrerer moto-
Die normale zytologische Beurteilung erfolgt in einer ein- rischer Einheiten erzeugt werden. Die Potentialschwan-
fachen Zellfärbung (May-Grünwald-Giemsa), lediglich zur kungen, die man über die konzentrische Nadelelektrode ablei-
Subklassifizierung von Tumorzellen und lymphoproliferativen tet, werden verstärkt und am Bildschirm sichtbar gemacht;
Neoplasien sind immunzytochemische Färbungen hilfreich. gleichzeitig ist eine akustische Kontrolle über einen einge-
Qualitative Untersuchung des Liquorzellbildes, besonders auf bauten Lautsprecher möglich. Eine Registrierungs- und Spei-
Plasma- und eosinophile Zellen, Nachweis von Tumorzellen chermöglichkeit ist für die Dokumentation der Befunde uner-
einschließlich Spezialfärbungen (7 Kap. 11.3.3), aktivierte Lym- lässlich. Eine Speicherfunktion des Bildschirms ist ebenfalls
phozyten und Klassifikation von Lymphozytensubpopula- notwendig, da Form und Dauer von Potentialen nur am ste-
tionen gehören hierzu. henden Bild mit ausreichender Sicherheit beurteilt werden
können.
3Weitere Untersuchungen Beim EMG wird eine Reihe von Muskeln, deren Auswahl
Tumormarker wie das karzinoembryonale Antigen (CEA) sich nach der klinischen Fragestellung richtet, mehrfach son-
oder das β2-Mikroglobulin, Entzündungsmarker (ACE-Kon- diert und nach folgenden Kriterien beurteilt:
zentration bei M. Boeck) oder spezielle neuronale Enzyme 4 Ruheaktivität (elektrische Stille oder pathologische Spon-
(neuronenspezifische Enolase (NSE), Amyloid Beta 1–42 tanaktivität),
(Abeta 42), Tau-Protein und 14–3–3-Protein) als Marker des 4 maximale Willküraktivität (dicht oder gelichtet, bis zu
neuronalen Zelluntergangs können bei entsprechender Frage- Einzeloszillationen),
stellung im Liquor bestimmt werden (7 a. Kap. 25.1, S. 575). 4 Beschreibung der PmE bei geringer Willküraktivität.
114 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

. Abb. 3.4.a–c. Morphologische und elektromyographische Cha- EMG: i. allg. keine Spontanaktivität, diese kann aber bei Myositis oder
rakteristika des Normalmuskels bei Myopathie und neurogener schnell verlaufender Muskeldystrophie vorkommen. Die PmE sind
Muskelatrophie. Links: Schematische Darstellung der Innervation niedrig, polyphasisch und im Vergleich zur Norm verkürzt. Das Aktivi-
von Muskeln durch zwei motorische Einheiten, Mitte: schematische tätsmuster wird bereits bei nur mäßiger Kraftentfaltung früh dicht. Die
Darstellung des histologischen Befundes, Rechts: Elektromyogramm. Amplitude ist niedrig. c Neurogene Muskelatrophie: Eine motorische
I. Spontanaktivität. II. Potentiale und Einheiten; III. maximales Interfe- Einheit ist ganz ausgefallen. Zwei ihrer Muskelfasern sind von dem ge-
renzmuster. a Normalfall: Beide motorischen Einheiten sind intakt und sunden Neuron kollateral innerviert. Histologisch feldförmig gruppier-
versorgen ihre zugeordneten Muskelfasern. Histologisch normale po- te Atrophie einzelner Muskelfasern bei normaler Histologie der ver-
lygonale Muskelfasern von gleichem Kaliber. Im EMG keine Spontan- bleibenden Muskelfasern. Vermehrung randständiger Kerne. EMG: pa-
entladung, bi- bis triphasische Potentiale motorischer Einheiten und thologische Spontanaktivität in Form von positiven scharfen Wellen
dichtes, interferentes Aktivitätsmuster bei maximaler Willkürinnerva- und Fibrillationen. Die PmE sind polyphasisch, amplitudenerhöht und
tion. b Myopathie: In beiden Einheiten sind einzelne Muskelfasern aus- verlängert. Bei maximaler Innervation werden große Potentiale mit
gefallen. Histologisch: numerische Atrophie mit Kalibervariation, hoher Frequenz rekrutiert, das Aktivitätsmuster ist von hoher Amplitu-
Abrundung des Querschnitts, zentralen Kernen und Spaltbildung. de, aber gelichtet. (M. Krause, Heidelberg)

Es müssen mindestens 3–5 Nadellagen pro Muskel (2–3 Ein- Potentiale gespeichert und nach den Kriterien Phasenzahl,
stiche und Verschieben der Nadel nach Einstich) abgeleitet Amplitude und Potentialdauer analysiert. Die Daten werden
werden. mit Normalwerten verglichen. Die im Folgenden gemachten
Aussagen über Potentialformen bei bestimmten Krankheiten
3Exakte Nadelmyographie beziehen sich auf die exakte Nadelmyographie. Bei sehr stark
Bei bestimmten Fragestellungen wird die exakte Nadelmyo- ausgeprägtem Krankheitsbefund lassen sie sich jedoch schon
graphie mit quantitativer Analyse der PmE durchgeführt. bei der orientierenden Untersuchung erfassen. Dennoch
Hierbei werden pro Muskel mindestens 20 sicher reprodu- sollte man es sich zur Regel machen, beim Screening mindes-
zierte und durch exakten Beginn und exaktes Ende definierte tens bei 3 Nadellagen mehrere sichere polyphasische PmE
3.2 · Neurophysiologische Methoden
115 3
dokumentiert zu haben, bevor man von vermehrter Polypha- gleich bleibende Amplitude (akustisch: Lautstärke) auf. Sie
sie spricht und diesen Befund als Hinweis auf neurogene können aus komplexen Sequenzen von Einzelfaserpotentialen
Veränderungen festlegt. Andernfalls besteht die Gefahr, dass zusammengesetzt sein, mit einer inkompletten Kopplung
die Beurteilung eines durchlaufenden Potentials durch die dieser Komplexe, die wie ein stotternder Motor akustisch im-
Fragestellung beeinflusst wird. poniert. Diese Entladungsserien sind meist viel länger als die
Verschiedene Hersteller bieten rechnergestützte EMG-Sys- myotonen und enden oft abrupt. Bizarre hochfrequente Ent-
teme an, bei denen die Potentialanalyse automatisch durchge- ladungsserien sind nicht spezifisch und treten vor allem bei
führt wird, an. Hierdurch soll die Gefahr der subjektiv gefärb- chronisch neurogenen Schäden auf.
ten Interpretation der Potentiale motorischer Einheiten verrin- 4 Faszikulationen. Bei der chronischen Denervierung finden
gert wird. Die bisher erhältlichen Programme können aber die sich häufig auch Faszikulationen. Das sind hochamplitudige
Untersuchung durch einen erfahrenen Auswerter noch nicht PmE, die irregulär auftreten und klinisch als ein Zucken ein-
ersetzen. zelner Muskelfaserbündel mit dem bloßen Auge zu sehen sind.
Faszikulationen finden sich jedoch in geringem Umfang auch
3Befunde beim Gesunden (z.B. nach intensiver sportlicher Betätigung).
4 Normales EMG: Bei völliger Entspannung finden im
gesunden Muskel keine Potentialschwankungen statt, da kei- 3 Pathologische Potentiale motorischer Einheiten
ne Depolarisationen erfolgen. Lediglich beim Einstechen der Bei leichter Willkürinnervation kann man die PmE beurteilen.
Nadel kommt es zu 2–3 kurzen Entladungen, der so genann- Hierbei wird vor allem die Potentialdauer und Anzahl der
ten Verletzungsaktivität (Einstichaktivität). Die Potentiale Phasen, wie auch die Amplitudengröße berücksichtigt. Nor-
motorischer Einheiten haben 2–4 Phasen, sie werden mit ei- male PmE haben zwischen 2 und 4 Phasen und eine für den
ner normalen Entladungsfrequenz (2–8/s) rekrutiert. Zuerst jeweiligen Muskel typische mittlere Potentialdauer. In jedem
erscheinen kleine Potentiale, bei zunehmender Kraftentwick- gesunden Muskel können jedoch einige Potentiale gefunden
lung treten mehr und größere Potentiale hinzu, die sich bei werden, die eine vom Mittelwert abweichende Potentialdauer
maximaler Innervation zu einem dichten Muster (Interfe- haben und eine vermehrte Phasenzahl aufweisen (Polyphasie
renzmuster; . Abb. 3.4) summieren. Endplattenrauschen ist, = mehr als 4 Phasen). Die Aussage über Potentialdauer (um
wie die normale Einstichaktivität, eine nichtpathologische 10 ms) und Phasenzahl ist also eine statistische und exakt nur
Spontanaktivität, die vermutlich Folge der Verstärkung von mit Hilfe einer genauen Potentialanalyse möglich, mit der
Miniaturendplattenpotentialen ist und die bei Änderung der auch die Normalwerte gewonnen wurden. Für die Praxis be-
Nadellage verschwindet. deutet dies, dass einige wenige polyphasische Potentiale auch
ohne krankhafte Bedeutung in jedem normalen Muskel ge-
3Pathologische Spontanaktivität funden werden können.
4 Fibrillationen und positive scharfe Wellen. Zur patho- Bei der PmE-Analyse nach Buchthal wird die Potential-
logischen Spontanaktivität gehören die positiven scharfen dauer und Phasenzahl von mindestens 20 verschiedenen PmE
Wellen (PSW) und Fibrillationspotentiale. Beide haben einen statistisch ausgewertet und mit alterskorrelierten Normwerten
positiven Abgang (definitionsgemäß nach unten), sind meist verglichen. Da ein Muskel nicht gleichmäßig erkrankt, son-
klein (etwa 100 μV) und kurz (etwa 5 ms). Ihre ausgeprägt re- dern meist nur einzelne Muskelfasern betroffen sind (. Abb.
gelmäßige Entladungsfolge und ihre Form lassen sie von ande- 3.4), ist es notwendig, den Muskel mit der Nadel an vielen ver-
ren Wellen (wie Endplattenspikes und Willkürpotentialen, s. schiedenen Stellen zu sondieren. Wenn ein motorisches Axon
u.) unterscheiden. Bei Denervierung tritt diese pathologische oder die entsprechende motorische Vorderhornzelle geschä-
Spontanaktivität etwa 2–3 Wochen nach Durchtrennung des digt ist, sind die dazugehörigen Muskelfasern nicht mehr in-
Nerven auf und nimmt über Monate zu, um dann über Jahre nerviert. Intakte Vorderhornzellen bilden Axonkollateralen
hinweg wieder abzunehmen. Bei Myopathien ist die Spon- und sprossen zu den nicht mehr innervierten Muskelfasern.
tanaktivität seltener als bei Neuropathien und meist geringer
ausgeprägt. Die exakte Pathophysiologie der Spontanaktivität 3Neurogene oder myopathische Läsion?
ist bis heute nicht vollständig geklärt. Fibrillationen und PSW Für die in der Klinik wichtige Differenzierung von neuro-
sind mit dem bloßen Auge nicht am Muskel zu sehen. genen und myogenen Veränderungen kann man folgende
4 Myotone Entladungen. Bei bestimmten Muskelerkran- Kriterien nennen (. Tabelle 3.1).
kungen (Na/K-Kanalkrankheiten, wie Myotonia dystrophica 4 Bei neurogenen Schädigungen gehen ganze motorische
Curschmann Steinert) finden sich im entspannten Muskel Einheiten zugrunde. Hieraus resultiert eine Lichtung des Akti-
myotone Entladungsserien. Diese Entladungsserien bestehen vitätsmusters. Die denervierten Muskelfasern reagieren über-
meist aus hochfrequenten Fibrillationspotentialen, die ampli- empfindlich auf Acetylcholin und zeigen spontane Entla-
tuden- und frequenzmoduliert sind. Diese Entladungsserien dungen (Fibrillationen, positive scharfe Wellen). Von erhalten
klingen wie ein aufheulendes Motorrad. Myotone Entladungs- gebliebenen PmE sprossen terminale Axonverzweigungen aus
serien sind die einzige Spontanaktivität, die spezifisch für eine und koppeln denervierte Muskelfasern an noch intakte PmE
bestimmte Erkrankungsklasse (Myotonien) ist. Davon manch- an (Sprouting, . Abb. 3.4c). Hieraus resultiert eine Vergröße-
mal schwer abgrenzbar sindbizarre hochfrequente (pseudo- rung des Territoriums und der Amplitude der verbliebenen
myotone) Entladungsserien. Diese sind wesentlich frequenz- motorischen Einheit, eine Verlängerung der Potentialdauer
stabiler (akustisch: Tonhöhe) und weisen meist auch eine und eine Desynchronisierung der Potentialanteile (Polypha-
116 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

. Tabelle 3.1. Myopathie vs. Neuropathie


Art der Schädigung Spontanaktiviät PmE Interferenzmuster
Neurogene Fibrillationen, PSWs, bizarre hochfre- verlängerte Potentialdauer, poly- gelichtet, großamplitudig
quente Entladungsserien phasisch, großamplitudig
Myogen spärlich Fibrillationen, PSWs, Sonder- kurz bis normale Potentialdauer, »früh dicht«, kleinamplitudig
3 form: myotone Entladungsserien polyphasisch, kleinamplitudig

sie). Das Aktivitätsmuster ist entsprechend dem Ausfall von In . Abbildung 3.4c sind exemplarisch die Potentiale mo-
motorischen Einheiten gelichtet. torischer Einheiten aus einem normalen Muskel, einem durch
4 Bei einer Erkrankung der Muskulatur gehen dagegen Myopathie veränderten Muskel und aus einem Muskel mit
Muskelfasern diffus, ohne Bindung an motorische Einheiten neurogener Läsion dargestellt. Als Faustregel kann man sich
zugrunde. Die Zahl der zu einer PmE gehörenden Muskelfasern merken,
und damit ihr Territorium wird kleiner. Die Amplituden der 4 dass bei chronischen neurogenen Läsionen die PmE poly-
PmE werden deshalb niedrig und kürzer, können desynchro- phasisch, vergrößert und verlängert sind,
nisieren und daher polyphasisch werden. Die Zahl der moto- 4 während bei primären Muskelkrankheiten die PmE ver-
rischen Einheiten bleibt jedoch lange konstant. Infolgedessen kürzt, erniedrigt und polyphasisch werden.
bleiben die maximalen Aktivitätsmuster dicht, sie werden sogar
früher dicht als es der Kraftentwicklung entspricht (vorzeitig 3Pathologisches Aktivitätsmuster bei maximaler
dichtes Interferenzmuster). Fibrillationspotentiale können auf- Willküraktivität
treten. Ihre Anwesenheit spricht nicht gegen eine Myopathie. Im gesunden Muskel werden bei maximaler Willküraktivität
Trotz dieser anschaulichen Regeln (. Tabelle 3.1) kann im so viele PmE rekrutiert, dass eine Grundlinie auf dem Oszillo-
Einzelfall die Differenzierung zwischen neurogen und myopa- graphen nicht mehr zu erkennen ist (dichtes Interferenz-
thisch sehr schwierig sein. muster).

Facharzt
Polyphasie, Potentialdauer und Amplitude
3Polyphasie und Dauer bedingt die unterschiedliche Ausbreitung einer Depolarisation
Da das Nervenaktionspotential zu diesen Fasern eine weitere in den Muskelzellen, was zu Polyphasie führt. Da die Fasern
Laufstrecke hat als zu den Fasern, die vorher zu der mE ge- pro mE verringert sind, ist die Potentialdauer meist verkürzt.
hörten, ist die Potentialdauer verlängert. Teilweise treten
kleine Satellitenpotentiale auf (Pfeil in . Abb. 3.4c), die von 3Amplitude der PmE
angekoppelten Muskel-Fasern herrühren. Auch nimmt die Potentiale bei neurogenen Läsionen sind in der Regel von
Amplitude der PmE zu, da zu der mE jetzt mehr Muskelfasern höherer Amplitude als bei muskeleigenen Krankheiten. Bei
gehören als vor dem Sprouting. Da die größer gewordene manchen chronischen Vorderhornzellkrankheiten kommt es
überlebende mE die neuen motorischen Fasern nicht ganz zu sehr hochamplitudigen PmE (Riesenpotentiale).
zeitgleich innerviert, wie die bisher zu der mE gehörenden
wird das PmE polyphasisch. 3Willison-Analyse
Bei Myopathien sterben einzelne Muskelfasern ab. Da Die Willison-Analyse untersucht das Verhältnis von Amplitu-
die Anzahl der Neurone gleich bleibt, gehören zu jeder mE de/Umkehrpunkt pro Umkehrpunkt/Zeit und erfasst damit bei
weniger Muskelfasern. Folglich werden die PmE kleiner kräftiger Innervation die Größe der PmE im Verhältnis zur
(7 Abb. 3.4b). Die Myopathie führt meist zu Veränderung der Dichtigkeit des Interferenzmusters. Niedrige Werte sprechen
Muskelmembran mit unterschiedlicher Erregbarkeit. Dies für Myopathien, hohe für neurogene Prozesse.

Exkurs
EMG bei zentralnervösen Störungen
Hierunter wird die Anwendung des EMG bei der Untersu- betroffenen Muskeln für die Injektion von Botulinumtoxin in
chung zentraler Bewegungsstörungen verstanden. Mit meist der Behandlung der Dystonien (7 Kap. 23.4), in der Klassifika-
mehrkanaligen Ableitungen mit Oberflächenelektroden wird tion von Tremorformen und bei der Untersuchung psycho-
die Aktivität von Muskelgruppen abgeleitet, in denen patho- gener Bewegungsstörungen. Bei Myoklonien kann mit ge-
logische Bewegungen zu erkennen sind. Myoklonien, Dysto- meinsamer Analyse von EMG und EEG unter Verwendung be-
nien und verschiedene Tremorformen können hiermit cha- stimmter elektronischer Mittelungsverfahren (back-averaging)
rakterisiert werden. Über die wissenschaftliche Bedeutung auf die kortikale oder subkortikale Entstehung der Myoklonien
hinaus ist das EMG hilfreich bei der Auswahl von besonders rückgeschlossen werden.
3.2 · Neurophysiologische Methoden
117 3
4 Bei peripheren Nervenkrankheiten kommt es zum Aus- konsequente Vereinheitlichung der Untersuchungsbedingun-
fall einzelner motorischer Einheiten und zu Lücken im Aktivi- gen voraus.
tätsmuster (gelichtetes Aktivitätsmuster). Diese Lichtung kann Krankhafte Veränderungen der Markscheiden beeinflussen
bis auf nur noch ganz wenige erhaltene, hochamplitudige PmE die NLG besonders stark, und zwar stets in Richtung einer
fortschreiten. Gleichzeitig steigt aber die Entladungsfrequenz Verlangsamung. Wenn die Markscheiden der am schnellsten
der verbleibenden motorischen Einheiten stark an: Die Folge leitenden Fasern betroffen sind, kann die NLG-Verzögerung
ist ein Muster mit hochfrequenter Rekrutierung nur einzelner extrem sein.
PmE bei kräftiger Innervation (hochfrequente Einzeloszillati- Primär axonale Schädigungen dagegen haben oft zunächst
onen). Bei kompletter Nervenläsion ist keine Willküraktivität keine oder nur eine geringe Änderung der NLG zur Folge. Die
mehr möglich. Die Lichtung des Aktivitätsmusters ist sofort Amplitude des abgeleiteten Potentials wird jedoch sehr niedrig.
nach der Schädigung zu finden.
4 Bei Muskelkrankheiten findet man dagegen eine sehr 3Methoden
frühe kompensatorische Aktivierung aller erhaltenen moto- 4 Motorische Nervenleitgeschwindigkeit: Bei der Messung
rischen Einheiten bei geringer Kraft (vorzeitige Rekrutie- der motorischen NLG wird ein Nerv an mehreren Stellen supra-
rung). Das Muster kann daher früh dicht werden, die Ampli- maximal stimuliert, und die motorische Antwort wird in einem
tude der PmE ist jedoch verhältnismäßig niedrig. Beispiele für distalen Muskel mit Oberflächenelektroden (selten mit Nadel-
die Änderungen der Aktivitätsmuster finden sich ebenfalls in elektroden) abgeleitet (. Abb. 3.5). Die Differenz der Latenz-
. Abb. 3.4. zeiten vom Reiz bis zur muskulären Antwort (Aktionspotential)
wird in Relation zur Entfernung zwischen den Reizstellen ge-
setzt. Gesucht wird speziell nach umschriebenen Leitungsver-
3.2.2 Elektroneurographie (ENG) zögerungen, die auf eine lokale Schädigung hinweisen können.
In manchen Fällen kommt auch der distalen Latenz (Überlei-
Elektroneurographie ist die Messung der motorischen und tungszeit vom distalen Stimulationsort zum Muskel, dL) diag-
sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit. nostische Bedeutung zu. Auch hierfür gibt es Normalwerte.
Form und Amplitude des Muskelantwortpotentials werden
3Prinzip. Die Bestimmung der Nervenleitgeschwindigkeit ebenfalls beurteilt, da bei leichten axonalen Läsionen die maxi-
(NLG, gemessen in m/s) erfolgt mit dem gleichen Gerät, das malen Leitgeschwindigkeiten normal bleiben können. Eine
auch zum EMG eingesetzt wird. Die NLGs sind für verschie- Verbreiterung des Muskelaktionspotentials kann auf eine er-
dene sensible und motorische Nerven, sogar für einzelne Ab- höhte Dispersion der NLGs im Faserspektrum hinweisen.
schnitte eines Nerven, sehr unterschiedlich und darüber hin- 4 Stimulationselektromyographie (Überprüfung der
aus temperaturabhängig (1–2 m/s pro °C) und altersabhängig, Funktion der motorischen Endplatte): Bei Störungen der
so dass ihre Beurteilung nur mit Hilfe von Normalwerttabellen Übertragungsfunktion der motorischen Endplatte wird eine
möglich ist. Die Benutzung von Normalwerttabellen setzt eine Modifikation der motorischen NLG-Bestimmung, die Fre-

. Abb. 3.5.a,b. Messung der motorischen


(a) und sensiblen (b) Erregungsleitungs-
geschwindigkeit am N. ulnaris. S1–3 Stimula-
tionsorte; a1, a2 Ableitungsorte. Die Kurvenaus-
schnitte zeigen jeweils den Reizeinbruch und
die mit unterschiedlicher Latenz einsetzende
Reizantwort. n normales sensibel orthodromes
Potential; p pathologisches sensibel orthodro-
mes Potential bei distaler Ulnarisläsion. (Nach
Mumenthaler u. Schliack 1965)

a b
118 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

quenzbelastung der motorischen Endplatte, ausgeführt. Hier- terale, desynchronisierte, späte, polysynaptische Komponente
bei wird der motorische Nerv frequent (3–20 Hz) supramaxi- (R2, R2’; . Abb. 3.6).
mal gereizt und die Amplitude des Muskelaktionspotentials
fortlaufend registriert. Bei einer Myasthenie (7 Kap. 34) oder 3Anwendung. Der Blinkreflex hat seinen Platz in der Diag-
einem paraneoplastischen myasthenen Syndrom (7 Kap. 13, nostik von Läsionen des Nn. trigeminus und facialis, bei Hirn-
dort auch Abbildung) findet man typische Veränderungen in stammläsionen, im Koma und bei der elektrophysiologischen
3 den Amplituden der Muskelantwortpotentiale. Diagnostik der multiplen Sklerose.
4 Sensibel-antidrome Nervenleitgeschwindigkeit: Bei der
Messung der sensibel-antidromen NLG wird die antidrome Er- Masseterreflex und Kieferöffnungsreflex
regungsausbreitung in sensiblen Nerven ausgenutzt. Man reizt 3Prinzip. Der Masseterreflex wird mit Nadel- oder Oberflä-
einen Nerven und leitet distal von Fingern oder Zehen mit chenelektroden abgeleitet. Die Reflexauslösung erfolgt so wie
Ringelektroden das sensible Potential der Digitalnerven ab. Da bei der klinischen Untersuchung. Eine elektronische Schaltung
keine synaptische Übertragung zwischengeschaltet ist, kann ermöglicht es, dass die Reflexauslösung durch den Hammer
man bereits aus einem Messwert (dL) und der Distanz die sen- die Dokumentation auf dem Bildschirm auslöst.
sibel-antidrome NLG berechnen (Geschwindigkeit = Weg/Zeit). Der Kieferöffnungsreflex, ein Schutzreflex, der klinisch
Die sensibel-antidrome Technik ist eine gute Screening-Metho- durch Unterbrechung der Muskelaktivität in der Kaumuskula-
de, die ohne großen Aufwand vorgenommen werden kann. tur nach sensibler Reizung der Zunge, der Lippen oder Wan-
4 Sensibel-orthodrome Nervenleitgeschwindigkeit: Die genschleimhaut charakterisiert ist, wird nach sensibler Stimu-
Messung der sensibel-orthodromen NLG ist aufwendiger, lation des Lippenrots bei gleichzeitiger Ableitung der Mus-
führt jedoch zu Ergebnissen von besserer Aussagekraft. Gereizt kelaktivität der willkürlich aktivierten Masseteren untersucht.
werden in diesem Fall distal die sensiblen Nerven, z.B. eines Die Reflexantwort ist das Sistieren der Aktivität in den Mus-
Fingers. Die Ableitung des sensiblen Nervenantwortpotentials keln (→ Kieferöffnung).
(SNAP) erfolgt in der Regel mit unipolaren Nadelelektroden
transkutan in der Nähe des Nervenstamms. Der Einsatz der 3Anwendung. Der Masseterreflex ist als ergänzende Unter-
orthodromen Technik ist besonders bei Polyneuropathien und suchung bei der Frage nach peripheren oder zentralen Trige-
Engpasssyndromen von Interesse. minusläsionen von Bedeutung. Der Kieferöffnungsreflex wird
bei Verdacht auf Hirnstammläsionen untersucht. Beim Teta-
3Klinische Anwendung. Mit Hilfe der Neurographie lassen nus ist dieser Reflex aufgehoben.
sich die verschiedenen Störungen der Nervenleitung (moto-
risch und/oder sensibel) objektivieren und lokalisieren. So füh- H-Reflex und F-Welle
ren Läsionen der Markscheiden (lokal oder generalisiert) zur 3Prinzip. Der H-Reflex (Hoffmann-Reflex) ist ein elektrisch
Verminderung der NLG, während axonale Läsionen zunächst ausgelöster Eigenreflex. Das heißt, die Afferenz läuft ortho-
geringe NLG-Veränderungen hervorrufen, jedoch die Ampli- drom über die Ia-Afferenzen über die Hinterwurzeln zum Rü-
tuden der Muskel- und Nervenantwortpotentiale vermindern. ckenmark, die Efferenz und Vorderwurzeln und motorische
Nervenfasern zum Muskel. Der H-Reflex ist beim Erwachse-
nen ohne Vorspannung am leichtesten von der Wadenmusku-
3.2.3 Reflexuntersuchungen latur auszulösen. Er entspricht daher dem Achillessehnenre-
flex. Er wird durch relativ geringe Reizstärken ausgelöst, die zu
Orbicularis-oculi-Reflex (Blinkreflex) schwach sind, um über direkte, efferente Reizung der moto-
Unter Ausnutzung der Möglichkeiten, die schon ein einfaches rischen Fasern schon eine Muskelantwort auszulösen.
EMG-Gerät bietet, lässt sich der elektrisch ausgelöste »Augen- Im Gegensatz dazu ist bei der Untersuchung der F-Wellen
schlussreflex« registrieren und messen. eine stark überschwellige Reizung erforderlich. Die F-Welle wird
nicht über die Hinterwurzel, sondern durch antidrome Aktivie-
3Prinzip. Ableitung im Zweikanalbetrieb mit Oberflächen- rung der Motoneurone über die Vorderwurzel zum Rücken-
elektroden von beiden Mm. orbiculares oculi, elektrische Rei- mark ausgelöst. Es kommt zu einer Art Spiegel-Entladung an der
zung des N. trigeminus am Foramen supraorbitale. Als Ant- motorischen Vorderhornzelle, die sich nach dem antidromen
wort registriert man eine ipsilaterale, synchronisierte, frühe Stimulus efferent entlädt. Die F-Welle lässt sich jedoch konstant
Reflexkomponente (R1), die oligosynaptisch ist und eine bila- von verschiedenen Bein- und Hand-(Arm-)Muskeln ableiten.

Exkurs
Nervenleitgeschwindigkeit
Nach einem überschwelligen Reiz wird in Nervenfasern ein saltatorisch. Je dicker die Markscheidenumhüllung ist und
fortgeleitetes Aktionspotential ausgelöst. Dieses Potential je größer der Internodienabstand (Abstand zwischen zwei
wird vom Reizort aus nach beiden Seiten weitergeleitet: Ranvier-Schnürringen), desto schneller ist die NLG. Bei
orthodrom, d.h. in Richtung der physiologischen Leitung des den üblichen Messungen der Nervenleitgeschwindigkeit
betreffenden Nerven, und antidrom, d.h. entgegengesetzt. bestimmt man die NLG der schnellsten Fasern des stimulierten
Bei markhaltigen Nervenfasern erfolgt die Erregungsleitung Nerven.
3.2 · Neurophysiologische Methoden
119 3
. Abb. 3.6. Elektrisch ausgelöster Orbicu-
laris-oculi-Reflex. Oben links ist die schema-
tische Untersuchungsanordnung des Blink-
reflexes, oben rechts eine Darstellung des
Reflexbogens und unten die bilaterale Ablei-
tung des Blinkreflexes bei Reiz auf der rech-
ten Seite wiedergegeben. t.s.N.V. tractus spi-
nalis N. trigemini; f.r. formatio reticularis. Die
R2’-Komponente wird durch die kreuzenden
Bahnen vermittelt. Die vertikalen, unterbro-
chenen Linien markieren die Normwertgren-
zen für die einzelnen Reflexkomponenten.
Bei Auslösung des Reflexes rechts erkennt
man eine Verspätung der R2- und R2’-Kompo-
nenten (obere Registrierungen), während bei
Auslösung links (untere Registrierungen) die
Latenzen aller ipsi- und kontralateralen Re-
flexkomponenten im Normbereich liegen.
Dieses Störungsmuster weist auf eine laterale
pontomedulläre Läsion (spinaler Trigeminus-
kern rechts) hin (grauer Bezirk in der anato-
mischen Skizze). (Mod. nach Stöhr 1980 u.
Hacke 1983)

Facharzt
Weitere Reflexuntersuchungen
Long-loop-Reflex (LLR). Mechanisch gesteuerte, abrupte den werden. Die Untersuchung kann dazu beitragen, neuro-
Bewegungen der Finger oder die elektrische Reizung sensib- gene erektile Dysfunktionen von psychogen verursachten
ler oder gemischter Nerven am Arm führen zu einer in den Störungen zu trennen.
Handmuskeln registrierbaren transkortikal verschalteten Überschwellige elektrische Stimulation der pudendus-
Reflexantwort. Diese Reflexantwort ist erst durch Mittelwert- versorgten Regionen bei Mann und Frau führen zur reflek-
bildung (Summierung) gleichgerichteter Signale sicher regis- torischen Anspannung des M. sphincter ani externus, die mit
trierbar. Darüber hinaus muss der Handmuskel, über dem Oberflächen- und Nadelelektroden abgeleitet werden kann.
abgeleitet wird, gering angespannt werden. Bei vollständiger Diese objektive Untersuchung des Analreflexes ist von Be-
Entspannung ist die Reflexantwort nicht zu erhalten. Dieser deutung bei der Analyse von Sphinkterfunktionsstörungen.
LLR (so genannt wegen der supraspinalen Verschaltung) ist
verändert bei Läsionen des Hinterstrang-Lemniskus-Systems, Urodynamographie. Dies ist eine kombinierte klinisch-appa-
des sensomotorischen Kortex und der Pyramidenbahn. We- rative Diagnostik, bei der verschiedene Aspekte der Harnent-
gen dieses langen Reflexbogens werden bei einer multiplen leerung simultan registriert und ausgewertet werden. Blasen-
Sklerose häufig pathologische Veränderungen gefunden. entleerungsdruck, Flussdynamik, Sphinkterdruck und Elektro-
Darüber hinaus wurden typische Veränderungen bei myoklo- myogramm der Beckenboden- und Blasenmuskulatur werden
nischen Erkrankungen beschrieben. Sehr früh im Krankheits- untersucht. Oft werden auch noch der Bulbocavernosus-
verlauf einer Chorea Huntington fällt der Reflex aus. Reflex, der Sphinkter-ani-Reflex oder Pudendus-evozierte
Potentiale untersucht. Wie die Diagnostik der erektilen Impo-
Bulbocavernosusreflex und Analreflex. Nach elektrischer tenz, werden diese Untersuchungen meist in spezialisierten
Stimulation des N. pudendus am Penisschaft wird mit EMG- urodynamischen Labors an urologischen Kliniken durchge-
Nadelelektroden im M. bulbo-cavernosus beidseitig eine führt. Der Neurologe wird aber häufig um seinen Beitrag zur
Reflexantwort registriert. Diese zeigt eine frühe und eine Frage einer zentralen Mitbeteiligung bei einer solchen Störung
späte Komponente. Die Latenz der ersten Komponente wird gebeten.
herangezogen als Maß für eine intakte Leitung im spinalen
Reflexbogen. Pathologische Veränderungen können bei Reflexpolygraphie. Hierbei werden Mehrkanalableitungen
peripheren, spinalen und weiter zentralen Läsionen gefun- von Körperstammmuskeln nach elektrischer oder taktiler
6
120 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

Reizung und bei Spontanbewegungen untersucht. Die leichte Vermehrung der Schweißsekretion zu einer Verände-
Methode ist von Interesse bei seltenen Störungen reflekto- rung des elektrischen Hautwiderstands führt (mehr Feuchtig-
rischer spinaler oder zerebraler Übererregbarkeit und wird keit = geringerer Widerstand), die mit einer einfachen Versuchs-
nur in speziellen Zentren durchgeführt. anordnung gemessen werden kann. Auch nach Schmerzreizen
kommt es mit Latenz von wenigen Sekunden zu einer nicht nur
3 Galvanischer Hautreflex. Dieser Reflex ist vielen als Teil der auf die gereizte Extremität beschränkten Änderung des Haut-
Lügendetektormethodik bekannt. Er beruht darauf, dass eine widerstands. Das Verfahren kann für den Nachweis peripherer
emotional bedingte (→ limbisches System), unbewusste, Nervenläsionen mit herangezogen werden.

3Anwendung. Beide Methoden haben praktische Be- 3Methodik. Eine Stimulatorspule wird über dem Stimu-
deutung bei der Diagnose von entzündlichen, proximalen lationsort auf dem Kopf platziert (. Abb. 3.7). Der Ort wird
Nervenläsionen, bei denen der H-Reflex ausfällt und die für Messungen in der Pyramidenbahn für Arm und Hand
F-Wellen rarefiziert und zeitlich dispers werden. Ihre Bedeu- über dem Vertex, für Bein und Fuß einige Zentimeter davor
tung für die Diagnostik mechanischer Nervenwurzelschäden gewählt. Durch einen ultrakurzen Stromstoß von mehreren
durch Bandscheibenvorfälle oder Tumoren ist gering, zumal tausend Volt wird ein zur Spule senkrecht stehendes Magnet-
die meisten F-Wellen über mehrere Wurzeln vermittelt feld von bis zu 2 Tesla erzeugt. Dieses induziert wiederum ei-
werden. nen Stromfluss im Gewebe, der entgegengesetzt zur Flussrich-
tung des Stroms in der Spule ausgerichtet ist. Man kann auch
durch Positionierung der Spule über der Wirbelsäule die mo-
3.2.4 Transkranielle Magnetstimulation torischen Nervenwurzeln erregen und damit die periphere
(TKMS) Leitzeit bestimmen. Gemessen werden Latenz und Amplitude
von EMG-Antwortpotentialen in Arm- oder Beinmuskeln.
Mit dieser Methode kann schmerzlos die Impulsleitung im Diese Daten werden mit Normwerten verglichen. Die zentrale
Tractus corticospinalis und im peripheren Nerven sowie in motorische Leitzeit ermittelt man durch Subtraktion der peri-
bestimmten motorischen Hirnnerven gemessen werden. pheren von der Gesamtleitzeit. Vorinnervation eines Muskels

. Abb. 3.7a,b. Transkranielle Magnetstimu-


lation. Stimulationsspule über dem Vertex.
a Position der Stimulationssonde über dem Ver-
tex, b Ableitung der Potentiale nach transkrani-
eller magnetischer Stimulation. Oben kortikal-
motorische Latenz bei Reizung über dem Kortex
und Ableitung am Hypothenar; unten periphere
motorische Latenz bei Reizung über Dornfortsatz
C7). Rechnerisch ergibt sich aus der Differenz der
beiden Latenzen die zentral-motorische Latenz

b
3.2 · Neurophysiologische Methoden
121 3
verkürzt die Latenz und erhöht die Amplitude des Antwortpo- mit Oberflächenelektroden von der Kopfhaut, wobei die diffe-
tentials. rente Elektrode über dem jeweiligen Projektionsgebiet (okzipi-
tal bei VEP, kontralateral-parietal bei SEP) platziert wird. Aus
3Anwendung. Bei der multiplen Sklerose ist die zentrale dem Spektrum der möglichen Reaktionspotentiale haben die
motorische Leitzeit oft verzögert und die Amplitude des Ant- evozierten Potentiale
wortpotentials vermindert, selbst wenn noch keine bei der 4 nach visueller Stimulation (VEP),
neurologischen Untersuchung fassbare Lähmung besteht. Die 4 nach somatosensibler Stimulation peripherer Nerven
Methode hat hier einen gleich hohen diagnostischen Wert wie (SEP) und
die Registrierung der VEP (7 Kap. 3.2.5). 4 die frühen Potentialveränderungen nach akustischer Sti-
Bei der amyotrophischen Lateralsklerose lässt sich frühzei- mulation (BAEP)
tig eine Pyramidenbahnschädigung nachweisen. Psychogene einen festen Platz in der neurophysiologischen Diagnostik ge-
Lähmungen können dann identifiziert werden, wenn sie mas- wonnen.
siv und die Werte bei der Magnetstimulation normal sind. Weitere Analysen von mehr wissenschaftlichem Interesse
Auch die Willkürinnervation des Sphincter ani externus kann beziehen sich auf die Analyse ereigniskorrelierter Potentiale,
mit dieser Methode überprüft werden. die sich im EEG nach zum Teil komplexer Stimulation finden
Bei der peripheren Nervenleitung ist die konventionelle (vgl. funktionelles MRT, 7 Kap. 3.3.3, MEG, 7 Kap. 3.2.7 und
elektrische Stimulation der magnetischen Stimulation überle- PET, 7 Kap. 3.3.4). Hierzu gehört auch die Untersuchung des
gen, da sie fokaler reizt. Lediglich an Orten, an denen der Nerv Bereitschaftspotentials, einer Welle langsamer Hirnaktivität,
sehr tief liegt und der elektrischen Stimulation schwer zugäng- die Willkürbewegungen vorausgeht.
lich ist, kommt die TKMS zur Anwendung (z.B. Plexus brachi- Die Potentiale werden durch Form, Amplitude und vor
alis, N. ischiadicus im proximalen Abschnitt). allem Latenz der prägnanten positiven und negativen Poten-
tialanteile charakterisiert, die nach Polarität (P oder N) und
mittlerer Latenz (in ms) in einem Normalkollektiv bezeichnet
3.2.5 Evozierte Potentiale (EP) werden. Für die frühen akustischen Potentiale gilt eine andere
Nomenklatur.
3Prinzip. Die Veränderungen der elektroenzephalographi-
schen (EEG-)Kurve, die als Reaktion auf wiederholte senso- Visuell evozierte Potentiale (VEP)
rische Reize entstehen, werden durch reizgekoppelte elektro- 3Methodik. Als Reiz werden Lichtblitze und Schachbrett-
nische Mittelung (averaging) aus dem zufällig verteilten EEG- muster mit Kontrastumkehr verwendet. Der entscheidende
Grundsignal herausgehoben (. Abb. 3.8). Die Ableitung erfolgt diagnostische Parameter ist die Latenz einer sehr deutlichen

a b

. Abb. 3.8. a Registrierung der visuellen Reaktionspotentiale b Visuell evozierte Potentiale (TV-Stimulation) im Seitenvergleich.
nach Stimulation mit Schachbrettmuster. Durch elektronische Mit- Untere Zeilen 2 reproduzierte Einzeldurchgänge; obere Zeilen sum-
telung einer Anzahl einzelner EEG-Abschnitte (links) wird die reizab- miertes Potential. (Aus Hacke 1986)
hängige Spannungsänderung im EEG herausgehoben (rechts)
(Aus Vogel 1981),
122 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

positiven Auslenkung nach 100 ms (P100). Bei Gesunden lässt 3Anwendung. Bei MS-Diagnostik, bei unklaren Sensi-
sich diese Welle oft schon nach wenigen Durchgängen identi- bilitätsstörungen, bei Verdacht auf psychogene Gefühlsstö-
fizieren. In der Regel reichen 64 bis 128 Durchgänge aus, um rungen und zur intraoperativen Überwachung der Funktion
ein VEP darzustellen. Für die Dokumentation wird aber gefor- des sensiblen Systems, z.B. bei Operationen am Rückenmark
dert, dass das Potential mindestens einmal in gleicher Qualität oder an der A. carotis, findet die SEP-Ableitung ihre An-
reproduziert wird (. Abb. 3.8). Die VEPs können auch ge- wendung.
3 sichtsfeldabhängig und mit unterschiedlichen Mustergrößen
Frühe akustische Hirnstammpotentiale (FAHP)
bei nicht kooperationsfähigen Patienten zur annähernden Be-
stimmung der Sehschärfe eingesetzt werden. Synonym: brainstem acustic evoked potential (BAEP).

3Anwendung. Ihre überragende Bedeutung haben die 3Methodik. Für die neurologischen Untersuchungen wird
VEPs in der Diagnostik der multiplen Sklerose (MS). Sie fin- durch Klicklaute (alternierender Sog und Druck) ein Ohr akus-
den auch Interesse in der Diagnostik vaskulärer und degenera- tisch gereizt, das andere wird durch Rauschen vertäubt. Über
tiver Läsionen der Sehnerven und der Sehbahnen. Mit der Elektroden (Mastoid, Vertex) werden Änderungen des elek-
Standardtechnik lassen sich allerdings nur Aussagen über das trischen Feldes im Frequenzspektrum von z.B. 100–3000 Hz
makulopapilläre Bündel des N. opticus machen. registriert. Es müssen bei Normalhörenden zwischen 1000
und 2000 Reizerfolge gemittelt werden. Man erhält ein relativ
Somatosensibel evozierte Potentiale (SEP) charakteristisches Kurvenbild mit 5 nachweisbaren Wellen in
3Methodik. In der klinischen Diagnostik werden die SEPs den ersten 5–6 ms nach Reizbeginn, die den Hirnstammsta-
durch elektrische Stimulation der Nervenstämme und durch tionen der zentralen Hörbahn entsprechen und mit den rö-
Mittelung von 64 bis 128 Durchgängen bei Ableitung über mischen Ziffern I–V belegt werden (. Abb. 3.10). Neben den
dem kontralateralen sensiblen Projektionsgebiet registriert. Latenzen der einzelnen Spitzen ist auch der Abstand zwischen
Sie können auch über dem Armplexus und über der Wirbel- Welle III und V als Hirnstammlaufzeit von diagnostischem
säule abgeleitet werden. Die ersten positiven und negativen Interesse.
Grundlinienschwankungen werden gemessen (. Abb. 3.9).
Aussagen sind über den Vergleich mit Normalwerten der La- 3Anwendung. Einsatz findet die Untersuchung in der Diag-
tenzen und im Seitenvergleich möglich. Verschiedene Elektro- nostik vieler entzündlicher, vaskulärer, traumatischer und neo-
denmontagen ermöglichen die Analyse einzelner Subkom- plastischer Hirnstammläsionen, bei der Überwachung von
ponenten. SEPs sollten immer nur im Seitenvergleich beurteilt Operationen in der hinteren Schädelgrube und, mit modifi-
werden. zierter Methodik, bei der objektiven Audiometrie (brainstem

. Abb. 3.9. Somatosensibel evozierte Potentiale


nach Stimulation des N. medianus. Ableitungen über
dem zum Reiz kontralateralen Handfeld (CP3/4) mit einer
Referenz bei Fz, vom Vertex (Cz) zur reizkontralateralen
Schulter (SH), von HWK 7 (C7 zum Vertex bzw. zum
vorderen Hals (Jug Fossa jugularis) und vom Erb-Punkt
(Fossa supraclavicularis) zum Vertex. Anatomische
Zeichnung: 1 Gyrus postcentralis; 2 Thalamus, Nucl.
ventralis posterolateralis; 3 Lemniscus medialis; 4 Nucl.
cuneatus; 5 Fasciculus cuneatus; 6 Radix dorsalis nervi
spinalis; 7 Ganglion spinale; 8 spinale Interneurone.
(H. Buchner, Recklinghausen)
3.2 · Neurophysiologische Methoden
123 3

. Abb. 3.11. Entstehung des EEG. Oberflächennegative langsame


Hirnpotentiale werden durch Polarisation des Kortex erzeugt, indem
thalamische Afferenzen die apikalen Dendriten von Pyramidenneu-
ronen aktivieren. Die extrazellulären Ströme erzeugen auf der Kopf-
haut messbare Potentiale. (Nach Birbaumer u. Schmidt 1996)

. Abb. 3.10. Frühe akustisch evozierte Potentiale, Stimulation


mit Klick, Ableitung vom Mastoid (A1, ipsilateral zum Reiz) zum leitepunkten von der Kopfhaut abgeleitet (. Abb. 3.12a) und
Vertex. Anatomische Zeichnung: 1 N. cochlearis; 2 Nucl. cochlearis über ein Verstärkersystem registriert (. Abb. 3.12b). Durch
dorsalis; 3 Nucl. cochlearis ventralis; 4 Corpus trapezoideum; 5 Lemnis- geeignete Wahl standardisierter Ableitungskombinationen
cus lateralis; 6 Colliculus inf.; 7 Corpus geniculatum med.; 8 Gyri tem- lässt sich die bioelektrische Tätigkeit umschriebener Hirn-
porales transversi. Die lateinischen Ziffern I–V bezeichnen die Wellen. regionen erfassen. Die EEG-Untersuchung ist unschädlich,
Deren Generatoren sind in der anatomischen Zeichnung ebenfalls la-
schmerzlos und beliebig oft wiederholbar. Der Zeitaufwand für
teinisch mit I–V bezeichnet. (H. Buchner, Aachen)
eine Routineableitung ist mit etwa 30 min. gering. Ein »posi-
tives« EEG kann wertvolle und diagnostisch entscheidende
evoked response audiometry, BERA). Mittelschnelle und späte Hinweise geben, ein »negatives«, d.h. normales EEG, schließt
»kognitive«, akustisch evozierte Potentiale haben bisher keine jedoch kaum eine Krankheit aus.
klinische Bedeutung.
3Besondere Ableitungen und Provokationsverfahren
Olfaktorisch evozierte Potentiale Hyperventilation und Photostimulation. Häufig wird die Rou-
Sie sind nur in Ausnahmefällen (Begutachtung, wissenschaft- tine-EEG-Untersuchung ergänzt durch Provokationsverfah-
liche Projekte bei degenerativen Hirnerkrankungen) von Inte- ren, die Herdbefunde oder epileptische Aktivität aus der La-
resse und als Untersuchung nicht weit verbreitet. tenz heben sollen. Zur Provokation verwendet man
4 die Hyperventilation (Abatmen von CO2 führt zur Alka-
lose und damit zur relativen Hypokalzämie sowie zur Vermin-
3.2.6 Elektroenzephalographie (EEG) derung der Hirndurchblutung, 7 Kap. 5),
4 die Stimulation mit intermittierenden Lichtblitzen wech-
Die Elektroenzephalographie ist die Registrierung der bio- selnder Frequenz (Photostimulation) und
elektrischen Aktivität des Gehirns. 4 den Schlaf, am besten nach vorangegangenem Schlafent-
zug.
3Methodik. Beim EEG handelt es sich um Makropotenti-
ale, die die Aktivität großer Neuronenverbände reflektieren. Früher wurde auch die pharmakologische Provokation mit
Der Ursprung dieser Potentiale ist nicht genau geklärt. Ver- Medikamenten, die die Krampfschwelle des Gehirns herabset-
mutlich entsprechen sie Summationspotentialen postsynap- zen, eingesetzt. Dies wird heute jedoch nur noch in speziellen
tischer Potentiale (. Abb. 3.11). Die Potentialschwankungen Epilepsiezentren unter besonderer Überwachung durchge-
werden mit 16 oder mehr Elektroden an standardisierten Ab- führt.
124 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

. Abb. 3.12a,b. EEG-Elektroden-Platzierung. a EEG-Elektroden-


schema nach internationaler Konvention (10–20-System), Schema-
zeichnung, b EEG-Haube nach dem 10–20-System mit Verbindung
der Elektroden zum EEG-Vorverstärker b

Facharzt
Weitere EEG-Methoden
Langzeit-EEG. Dies erlaubt die Analyse des EEG während multimodalen Messung bei Schlafstörungen und schlafassozi-
eines normalen Tagesablaufs und erhöht die Wahrscheinlich- ierten Atmungsstörungen (Schlafapnoesyndrom, 7 Kap. 15.2.2).
keit, selten auftretende EEG-Veränderungen zu dokumentie- Auf die Veränderungen des EEG im Schlaf wird weiter unten
ren. Mittlerweile erlauben Geräte das Ableiten bis zu 24 eingegangen.
monopolaren EEG- und 8 bipolaren Polygraphie-Kanälen. Die
Speicherung erfolgt auf Flash-Karten, die sogar während des EEG-Analyse. Verschiedene computerassistierte Analysever-
Betriebs getauscht werden können. Dadurch erhöht sich die fahren helfen, die Datenmengen bei länger dauernder EEG-
Aufnahmedauer auf mehrere Tage. Ableitung zu reduzieren und überschaubar zu machen. Die
bekannteste beruht auf der Fourier-Frequenzanalyse, bei der
Video-EEG. Die gleichzeitige Aufzeichnung des EEG mit die Energie in den verschiedenen EEG-Frequenzen über die
einer Videoaufnahme des Patienten kann helfen, unklare Zeit dargestellt wird. Diese Methode eignet sich für die Über-
Anfallsereignisse mit EEG-Veränderungen zu korrelieren. Die wachung des EEG auf Intensivstationen oder bei Dauerüber-
Aufzeichnungen werden zum Teil über mehrere Stunden bis wachung von Epilepsiepatienten. Andere Computerpro-
hin zu einigen Tagen durchgeführt. Diese Methode gehört in gramme erlauben die Rückrechnung von EEG-Veränderungen
spezielle Epilepsiezentren. auf zugrunde liegende Ereignisse (event-related potentials)
oder Spannungsquellen (Quellenanalyse). Die evozierten
Schlaflabor. EEG-Ableitungen gehören neben Herz-Kreislauf- Potentiale, auch eine Form der Computeranalyse des EEG,
Parametern, Atmungskurven, Okulogramm und EMG zur wurden bereits besprochen.

3Wellenformen 4 β-Wellen, 12,5–30/s. Sie sind im normalen Ruhe-EEG we-


Die Wellen, die von der Kopfhaut registriert werden, unter- sentlich kleiner als die α-Wellen und kommen hauptsächlich
scheiden sich nach Frequenz, Amplitude, Form, Verteilung frontal-zentral vor. Unter der Einwirkung von Sinnesreizen,
und Häufigkeit (. Abb. 3.13). Die wichtigsten Wellenformen bei geistiger Anspannung, aber auch bei bestimmten Intoxika-
sind: tionen treten sie vermehrt auf (. Abb. 3.13b,c).
4 α-Wellen, Frequenz von 7,5–12,5/s. Sie sind der physiolo- 4 ϑ- oder Zwischenwellen (3,5–7,5/s; . Abb. 3.13d)
gische Grundrhythmus des ruhenden Gehirns und haben ge- 4 δ-Wellen (0,5–3,5/s; . Abb. 3.13e). Sie sind mit flacher
wöhnlich ihr Maximum über der Okzipitalregion (. Abb. Amplitude in jedem normalen EEG zu finden,nehmen mit
3.13a). Schwankungen oder Störungen der Vigilanz diffus zu und
3.2 · Neurophysiologische Methoden
125 3
Exkurs
EEG im Schlaf
Der Schlaf modifiziert das EEG: Beim Einschlafen verlang- (vermehrt) – besonders tief. Man spricht deshalb vom para-
samt sich das EEG. Man unterscheidet verschiedene Schlaf- doxen Schlaf. Der Muskeltonus ist gleichzeitig stark herabge-
stadien von unterschiedlicher Tiefe, die während der Nacht setzt, im Gesicht und an den Gliedmaßen treten myoklonische
3- bis 5-mal zyklisch durchlaufen werden. Sie werden, begin- Zuckungen auf. In diesem Stadium führen die Augen rasche,
nend mit der Wachheit, als Stadien A–E beschrieben: Zuneh- horizontale und vertikale Bewegungen mit einer Frequenz von
mender Schlaftiefe entspricht eine Verlangsamung bis zu 5–10/s aus, weshalb man den paradoxen auch als REM-Schlaf
sehr langsamen, synchronen δ-Wellen. Tiefschlaf (Stadium E) (REM, rapid-eye movements) bezeichnet. Vorwiegend im REM-
wird meistens nur in der ersten Schlafhälfte erreicht. Jeder Schlaf treten die strukturierten Träume auf. Die Dauer der
EEG-Zyklus endet mit einem Stadium, in dem das Kurvenbild REM-Phasen nimmt im Verlauf des Nachtschlafes von etwa
von flachen, raschen und unregelmäßigen Wellen beherrscht 20 min auf etwa 35 min zu. Der REM-Schlaf macht beim Er-
wird. Währenddessen ist die Weckschwelle stark erhöht, der wachsenen im mittleren Lebensalter etwa 20% des Nacht-
Schlaf ist also – in augenscheinlichem Gegensatz zum EEG- schlafes aus. Neugeborene und Säuglinge haben mehr REM-
Muster, zum Blutdruck (erhöht) und zur Hirndurchblutung Schlaf als Erwachsene.

können bei umschriebenem (v.a. einseitigen) Auftreten auf 3Pathologisches EEG


herdförmige Störungen der zerebralen Aktivität hinweisen. Die wichtigsten pathologischen Veränderungen des EEG
sind:
Außerdem kann das EEG verschiedene Formen von großen, 4 Herdbefunde,
steilen Abläufen enthalten sowie charakteristische Potentialkom- 4 Allgemeinveränderungen (AV),
binationen (Komplexe und Muster, . Abb. 3.13f), die z.T. als 4 Krampfpotentiale.
epilepsietypische Potentiale gelten. Sie haben in der Diagnostik
der Epilepsie jeder Genese eine herausragende Bedeutung. Alle Veränderungen können auch kombiniert vorkommen.
Krampfpotentiale treten generalisiert oder herdförmig auf.
3Normales EEG Die Befunde können kontinuierlich oder diskontinuierlich
Das EEG des gesunden Erwachsenen wird in der Ruhe bei erscheinen. Dies ist bei Epilepsien von Bedeutung und be-
geschlossenen Augen vom α-Grundrhythmus beherrscht, der sonders häufig: Nur im Anfall treten die epilepsietypischen
okzipital am stärksten ausgeprägt ist. Beim Augenöffnen, nach Potentiale auf, im Intervall ist das EEG oft normal. Dann ge-
Sinnesreizen oder bei geistiger Tätigkeit desynchronisiert das winnen die oben genannten Provokationsverfahren an Be-
EEG, vermutlich unter der Wirkung des retikulären Akti- deutung.
vierungssystems im Hirnstamm: Die gleichmäßigen α-Wellen
verschwinden und werden durch unregelmäßige β-Wellen er- Herdbefunde. Diese sind in verschiedener Abstufung von um-
setzt. Diesen Vorgang nennt man α-Blockierung oder Arou- schriebener Verlangsamung des α-Rhythmus bis zu fokalen
sal-Reaktion. Er gehört zur Charakteristik des normalen EEG δ-Wellen möglich. Je langsamer die Frequenz, desto schwerer
(. Abb. 3.14). der Herdbefund.
Normvarianten sind EEG-Kurven mit anderer Grundak-
tivität, aber identischem Arousal-Effekt. Zu ihnen zählen das Allgemeinveränderungen. Als AV bezeichnet man unter-
β-EEG und die ϑ-3–5/s-Grundrhythmusvariante. Sie sind ge- schiedliche Grade der diffusen Verlangsamung und Unregel-
netisch bedingt, kommen nur bei einem geringen Prozentsatz mäßigkeit des Kurvenbildes. Sie treten vor allem bei Epilepsie,
der Bevölkerung vor und haben keine pathologische Bedeu- diffusen, organischen Hirnkrankheiten, nach Hirntraumen
tung. Geistige Aktivität, emotionale Erregung und Medika- und bei Intoxikationen auf. Das Wachbewusstsein ist locker an
mente können das EEG massiv verändern: Unregelmäßige den α-Rhythmus gebunden. Bei mittlerer und schwerer AV ist
Kurven, Blockade oder Verlangsamung der Grundaktivität der Patient häufig, wenn auch nicht immer, bewusstseinsge-
und medikamentös bedingte Einlagerungen von β-Wellen sind trübt. Schließlich zeigt der Grad der Allgemeinveränderung
häufige Befunde. Viele Medikamente, besonders Psychophar- Akuität und Progredienz eines neurologischen oder psychia-
maka, verändern das Kurvenbild. Dies muss bei der Deutung trischen Syndroms an.
des EEG berücksichtigt werden, da heute viele Menschen Me- Vermehrtes Auftreten von höherfrequenten Wellen wird
dikamente einnehmen, die auf das ZNS einwirken. vor allem unter der Wirkung bestimmter Medikamente und im
Im Kindes- und Jugendalter ist das EEG langsamer und epileptischen Anfall beobachtet.
unregelmäßiger als beim Erwachsenen. Der α-Rhythmus setzt
erst allmählich nach dem 3. Lebensjahr ein. Das EEG »reift« Epileptiforme Muster. Als epileptiforme Muster (früher:
erst jenseits der Pubertät zu dem Kurvenbild, das später wäh- Krampfpotentiale) werden spitze Wellenformen bezeich-
rend des ganzen Lebens für das Individuum charakteristisch net, die sich aus der Grundaktivität herausheben. Hierzu ge-
ist. Erst in diesem Alter schränkt sich auch die vorher sehr hören spikes, sharp waves und ihre charakteristische Kombi-
große Variationsbreite des Normalen ein, die die Beurteilung nation miteinander und mit anderen Wellenformen (z.B. Poly-
des kindlichen EEG sehr schwierig macht. spike-, Spike-Wave- oder sharp wave-slow wave-Komplexe).
126 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

a b c

d e f

. Abb. 3.13a–f. Beispiele von EEG-Wellen der verschiedenen Fre- den einzelnen Abbildungen verglichen werden, da sie mit unter-
quenzbänder, Amplituden und Formen. Es ist jeweils ein Ausschnitt schiedlichen Verstärkungsfaktoren aufgezeichnet wurden. Für Details
von ca. 3,3 s dargestellt. Die Amplitudenhöhen können nicht zwischen 7 Text. (Nach Birbaumer u. Schmidt 1996)

Das Auftreten von Krampfpotentialen spricht bei einem Pa- Andererseits kann grundsätzlich jedes Gehirn, wenn es nur
tienten, der anfallsartige Störungen hat, für deren epileptische stark genug provoziert oder geschädigt ist, Krampfpotentiale
Genese. Verschiedene Formen kleiner Anfälle sind nur nach produzieren. Findet man also im EEG Krampfpotentiale, darf
ihrem charakteristischen EEG-Muster richtig zu klassifizieren man allein daraufhin die Diagnose einer Epilepsie nicht stellen.
(7 Kap. 14). Bestimmte EEG-Muster, die man bei Epilepsiekranken häufig
Ein im Intervall normales EEG beweist nicht, dass keine findet (z.B. 3/s-Spike-wave-Komplexe, Krampfpotentiale nach
Epilepsie vorliegt, da bei etwa 30% der Anfallskranken der Photostimulation), sind ein eigenes genetisches Merkmal. Sie
Kurvenverlauf unauffällig ist. In diesen Fällen wiederholt man finden sich in einem hohen Prozentsatz auch bei klinisch ge-
die Ableitung mehrmals, auch unter Provokationsmaßnahmen, sunden Geschwistern von Anfallspatienten. Das EEG ist also
die geeignet sind, das Auftreten von Krampfpotentialen zu be- immer nur ein Hilfsmittel bei der Diagnose der Epilepsie. Ent-
günstigen. scheidend ist das Auftreten von epileptischen Anfällen.
3.2 · Neurophysiologische Methoden
127 3
. Abb. 3.14. Normales EEG
mit α-Blockade beim Augen-
öffnen. (Nach Jung 1953)

Anwendung 3.2.7 Magnetenzephalogramm (MEG)


Die größte Bedeutung hat das EEG in der Diagnostik der Epi-
lepsie. Darüber hinaus hat das EEG in der Diagnose diffuser Der Vorteil des MEG liegt in der Verbindung von hoher ört-
Hirnschädigungen, wie Enzephalitis, Stoffwechselkrankheiten, licher (3 mm) und sehr hoher zeitlicher Auflösung (<1 ms).
Intoxikationen und besonders in der Differentialdiagnose und Von besonderem Interesse ist es, neben der Lokalisation auch
Verlaufsbeurteilung komatöser Zustände auf der Intensivstati- die zeitliche Dynamik der ereigniskorrelierten Magnetfelder
on große Bedeutung. Dagegen spielt es keine Rolle mehr in der mit den Blutflussänderungen bzw. Stoffwechselprozessen in
Diagnostik von Hirntumoren oder Schlaganfällen. Verbindung zu bringen, die im funktionellen MRT bzw. PET

Exkurs
Prinzip des MEG
Aufgrund der funktionellen Organisation der Hirnrinde in enzephalogramm weitgehend unabhängig von der Leitfähig-
vertikale, zur Oberfläche senkrecht angeordnete Kolumnen keit und individuellen Geometrie des Schädelknochens und
entstehen bei Aktivierung einer Hirnregion intrazelluläre der Kopfhaut. Es kann deshalb mit einem einfachen Volumen-
Dipolströme gleicher Raumrichtung. Da jeder elektrische modell beschrieben und zur genauen nichtinvasiven Lokalisa-
Strom mit einem Magnetfeld einhergeht, führt dies außer- tion von fokaler elektrischer Hirnaktivität herangezogen wer-
halb des Kopfes zu einer positiven Überlagerung der extrem den. Da das MEG nur Magnetfelder von Strömen messen kann,
kleinen Magnetfelder, die von jeder aktiven Nervenzelle die parallel zur Hirnoberfläche verlaufen, werden im MEG
ausgehen. Die externe Magnetfeldverteilung sieht so aus, als vorwiegend die Aktivitäten aus den Einfaltungen des Cortex
ob sie von einem äquivalenten Dipolvektor im Zentrum der erfasst, während im EEG die Aktivität der Cortexoberfläche
aktivierten Hirnregion ausgehen würde. Trotz dieses Summa- dominiert.
tionseffekts liegt die Größenordnung dieser Magnetfelder Mit dem MEG kann man spontane sowie ereigniskorrelier-
nur im femto-Tesla-Bereich (10–15 T, ca. ein Hundertmillions- te Aktivität untersuchen, z.B. paroxysmale, interiktale Entla-
tel des Erdmagnetfeldes). Daher sind extrem rauscharme dungen bei Epilepsiepatienten (7 Kap. 14) oder evozierte
supraleitende Detektoren erforderlich (SQUIDs; superconduc- Magnetfelder des primären somatosensorischen Cortex nach
ting quantum inference devices), die ein quantenmecha- taktiler oder elektrischer Reizung peripherer Nerven. Dazu
nisches Phänomen nutzen, um die mit den Hirnströmen stellt man die berechneten Dipolvektoren gemeinsam mit
einhergehenden Magnetfelder verlustfrei zu erfassen. Zur dem strukturellen MRT dar (. Abb. 3.15). Derzeit werden diese
besseren Unterdrückung externer Störquellen, z.B. Stromlei- Ableitungen überwiegend mit Ganzkopf-MEG-Systemen
tungen, Maschinen, Verkehr, werden spezielle Spulen- durchgeführt, die zwischen 122 und 309 Kanälen aufweisen.
anordnungen (Gradiometer) sowie hochwertige magne- Diese Systeme sind teuer, aufwendig und personalintensiv,
tische Abschirmkammern verwendet. bieten aber eine hinreichende räumliche Auflösung, um ver-
Anders als das EEG, das den Spannungsabfall der sekun- schiedene Hirnaktivitäten, z.B. während perzeptiver, kognitiver
dären Volumenströme an der Kopfhaut misst, ist das Magnet- und motorischer Prozesse, lokalisieren zu können.
128 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

b
a

c d

. Abb. 3.15. Evozierte Magnetfelder nach elektrischer Stimulati- dunklen den Eintritt. Im bandpassgefilterten Signal (20–200 Hz) ist bei
on des linken N. medianus. a MEG-Dipol nach Medianusstimulation 20 ms ein deutliches Maximum der Aktivität zu erkennen. b–d Lage
(600 Reizmittelungen). Rekonstruierte Magnetfeldlinien zum Zeit- und Orientierung des Stromdipols in den anatomischen Schnittbil-
punkt der maximalen evozierten Aktivität bei 20 ms. Der Pfeil gibt den dern der Versuchsperson, deren M20 nach elektrischer Stimulation
auf die Kopfoberfläche projizierten äquivalenten Stromdipol über dargestellt ist. Der äquivalente Stromdipol repräsentiert den Schwer-
dem kontralateralen primären somatosensorischen Kortex wieder Die punkt des aktivierten Handareals
hellen Flächen stellen den Magnetfeldaustritt aus dem Kopf dar, die

erfasst werden. Dies ist von besonderem wissenschaftlichen 3.2.8 Elektrookulographie (EOG)
Interesse für die kognitive Neurologie, die Neuropsychologie
und die Psychopathologie. Elektrokulographie ist die elektrische Registrierung von Au-
genbewegungen wie dem spontanen und des durch Provokati-
3Klinische Anwendung. Bisher hat das MEG durch die on ausgelösten Nystagmus.
Aufdeckung und Lokalisierung von Epilepsieherden bereits Diese Methode gestattet eine genauere Analyse von Au-
Bedeutung in der klinischen Praxis erlangt. Mit Hilfe des genbewegungen und Nystagmus als die unmittelbare Beob-
MEGs konnte in zahlreichen Untersuchungen ein enger Zu- achtung und gestattet die Untersuchung von Bulbusbewe-
sammenhang zwischen perzeptiven und kognitiven Leistun- gungen auch bei geschlossenen Augen. Dabei werden Phäno-
gen und der abgeleiteten spezifischen Aktivität nachgewiesen mene sichtbar, die bei offenen Augen nicht nachweisbar sind.
werden. Daher ist mit Hilfe dieser Methode eine Bereiche- Mit Hilfe der EOG ist die Bestimmung der Sakkadengeschwin-
rung der neuropsychologischen Kenntnisse bzgl. der Objek- digkeit möglich.
tivierbarkeit von Leistungseinbußen zu erwarten. Mit man-
chen der für das MEG entwickelten Auswertungsmethoden 3Prinzip. Die Augen sind ein elektrischer Dipol, bei dem
gewinnt auch das EEG zunehmend wieder an Bedeutung. die Kornea positiv, die Retina negativ ist. Augenbewegungen
3.3 · Neuroradiologische Untersuchungen
129 3
bewirken eine Veränderung im elektrischen Feld, das durch je Infarkten) oder aber auch jenseits einer gestörten Bluthirn-
zwei Elektroden abgeleitet wird: bitemporal für horizontale, schranke und in entzündlich verändertem Gewebe an und
frontal gegen ein Ohr für vertikale Bulbusbewegungen. verändert dort den Bildkontrast durch die resultierende
Strahlenabschwächung. Die Dokumentation der Abbildungen
3Untersuchungsgang. Man untersucht nacheinander auf erfolgt mittels Laserkamera auf Film oder auf digitalen Spei-
Spontannystagmus mit offenen und geschlossenen Augen, chermedien.
Nystagmus bei willkürlichen Blickbewegungen, Führungsbe-
wegungen, optokinetischen Nystagmus (Projektion rotie- Kraniale Computertomographie
render Muster auf einen halbkreisförmigen Schirm) sowie la- Mit der Computertomographie ist es möglich, anatomisch ge-
byrinthären Nystagmus nach Drehreizen und Kalorisation. nau intrakranielle Strukturen, wie graue und weiße Substanz
des Hirngewebes, Liquorräume, Plexus chorioideus und de-
ren pathologische Veränderungen durch Hirntumoren, Hirn-
3.3 Neuroradiologische Untersuchungen ödem, Kontusionsherde, Infarkte sowie Blutungen darzustel-
len. Insbesondere in der Notfalldiagnostik bei intrakraniellen
3.3.1 Konventionelle Röntgenaufnahmen Blutungen (obwohl diese mittels MRT im frühen Stadium auch
sicher dargestellt werden) ist das CT noch immer in den meis-
Konventionelle Röntgenaufnahmen haben in der Neurologie ten Kliniken die Methode der Wahl. Dies gilt auch für die
fast keine Bedeutung mehr. Akutdiagnostik von Schädel-Hirn-Traumen (Kontusionsblu-
tungen, sub- und epidurale Hämatome) und Hirninfarkten.
Übersichtsaufnahmen des Schädels. Die knöchernen Struktu- . Abbildung 3.16 zeigt den Vergleich morphologischer Darstel-
ren der Schädelbasis und insbesondere auch das Felsenbein lungen ausgewählter Hirnschnitte in CT, Magnetresonanzto-
können heute wesentlich besser mit der Computertomogra- mographie (s.u.) und im anatomischen Präparat.
phie dargestellt werden. Die Untersuchung ist schmerzlos und risikofrei. Die Strah-
lenbelastung der Standarduntersuchung ist wesentlich gerin-
Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule. Diese gehörten zu den ger als bei allen vergleichbaren invasiven neuroradiologischen
Routinemethoden in der Diagnostik von degenerativen und Untersuchungsmethoden. Die Augenlinse ist im Kopfbereich
entzündlichen Wirbelprozessen. Die drei Abschnitte der Wir- das strahlenempfindlichste Organ (Katarakt). Bei häufigen
belsäule werden im sagittalen und seitlichen Strahlengang auf- Dünnschichttomogrammen der Orbita kann sie mit zu hohen
genommen, die Zwischenwirbellöcher der HWS werden durch Strahlendosen belastet werden.
zusätzliche Schrägaufnahmen dargestellt. Funktionsaufnah- Nach internationaler Konvention werden CT und MRT-
men lassen Instabilitäten erkennen. Abbildungen so dargestellt, dass sich rechts die linke Gehirn-
hälfte befindet und links die rechte.

3.3.2 Computertomographie (CT) Spiral-CT


Die Einführung ultraschneller Scanner und insbesondere die
3Prinzip. Röntgenstrahlen werden beim Durchdringen Entwicklung der Spiral-CT erweitern das Indikationsspekt-
von Gewebe abgeschwächt. Der Grad der Abschwächung rum der CT erheblich. Dieses Verfahren beruht darauf, dass
hängt von der Dichte des Gewebes ab. Im Gegensatz zur innerhalb eines definierten Untersuchungsvolumens nicht
konventionellen Röntgentechnik werden die geschwächten jede Schicht komplett unter Röntgenstrahlung gewonnen,
Röntgenstrahlen aber nicht zur Filmschwärzung benutzt, sondern rechnerisch aus Daten der Nachbarschichten be-
sondern mit Hilfe spezieller Detektoren gemessen. Durch stimmt wird. Der Patient wird mit dem Untersuchungstisch
verfeinerte Messtechnik und Datenverarbeitung der Mess- kontinuierlich in eine Richtung bewegt, während gleichzeitig
werte kann ein Bild aufgebaut werden, das eine wesentlich die Röntgenröhre rotiert, so dass effektiv eine spiralig ausge-
feinere Differenzierung der Gewebsdichte ermöglicht als richtete Röntgendurchstrahlung resultiert. Es handelt sich
das konventionelle Röntgenbild. Der Rechner ordnet die also nicht um ein Schichtaufnahme-, sondern vom Prinzip
Messwerte in einer Bildmatrix, in der die verschiedenen her um ein Volumenaufnahmeverfahren. Die Auflösung und
Schwächungswerte in Graustufen bildlich dargestellt werden die Geschwindigkeit sind abhängig von der Zahl der Detek-
(Hounsfield-Einheiten). Im Schichtverfahren werden die in- torreihen (aktuell bis 256-Zeiler). Die Spiral-CT ermöglicht
teressierenden anatomischen Abschnitte des jeweiligen Or- durch die digitale Nachbearbeitung der gewonnenen Daten
gans (Schädel, Gehirn, Wirbelsäule, Rückenmark) in variabel die anatomisch exakte dreidimensionale Darstellung des
wählbarer Schichtdicke (meist zwischen 1 mm und max. knöchernen Schädels und der Wirbelsäule.
10 mm) untersucht und abgebildet.
CT-Angiographie
3Methodik. Man kann die Untersuchung in zwei Arbeits- Mit der CT-Angiographie, einem weiteren Ergebnis der Ent-
gängen ausführen: Als Nativ-Scan und nach intravenöser wicklung der Spiral-CT, ist eine Methode verfügbar, die die
Gabe eines jodhaltigen Kontrastmittels. Dieses reichert sich Darstellung extra- und intrakranieller Gefäße (7 Kap. 5) er-
besonders stark in abnormen Gefäßen (Gefäßmissbildungen, möglicht. Die CT-Angiographie der zerebralen Gefäße in Spi-
Tumorgefäße), in hyperämischen Bereichen (Randzone von ral-CT-Technik liefert heute eine so gute Darstellung, dass sie
130 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

. Abb. 3.16a–c. Vergleich CT (a), Anatomie (b) und MRT (c)


3.3 · Neuroradiologische Untersuchungen
131 3

Exkurs
Methodik der CT-Angiographie
Je nach Fragestellung wird ein definiertes Untersuchungsvo- Intensity-Projektion« (MIP), einen Rechenalgorithmus, der die
lumen (z.B. der Circulus arteriosus Willisii oder die Karotisbi- Gefäße in Abhängigkeit von ihrer KM-Dichte darstellt.
furkation) in Spiraltechnik dargestellt. Unmittelbar vor dem Die Vorteile dieser Technik sind neben der fehlenden
Untersuchungsbeginn wird eine definierte Kontrast- Invasivität die bessere dreidimensionale räumliche Darstel-
mittelmenge (100–150 ml nichtionisches jodhaltiges KM) lung. Damit können z.B. bei Aneurysmen die Größe des
intravenös maschinell injiziert. Nach der ersten Lungenpas- Aneurysmahalses und die anatomische Beziehung zum Träger-
sage des Mittels werden die Arterien kontrastiert. Spezielle gefäß oder die Morphologie einer verkalkten Karotisbifurkati-
Nachverarbeitungstechniken erlauben eine dreidimensio- on besser eingeschätzt werden. Man darf allerdings nicht
nale Rekonstruktion der Gefäße und die (zumindest teilwei- vergessen, dass hier eine relativ große Menge von jodhaltigem
se) Subtraktion des benachbarten Knochens. Analog zu den KM eingesetzt wird. Schilddrüsen und Nierenfunktionsparame-
in der Magnetresonanzangiographie verwendeten Nachver- ter müssen vorher bekannt sein. Auch allergische Reaktionen
arbeitungsprogrammen gibt es hierzu eine sog. »Maximum- können vorkommen.

mehr als eine Alternative zur konventionellen Angiographie ist giezustände der Wasserstoffatomkerne bewirken. Nach Ab-
(Abbildungen 7 Kap 5). Gleichzeitig ist dies auch die Basis für schalten wird die eingestrahlte Energie wieder abgegeben und
das Perfusions-CT, mit dem die Durchblutung des Hirnparen- trägt damit zur Bildgebung bei. Charakteristische Normalbe-
chyms abgebildet werden kann. funde gibt die . Abbildung 3.17.
Durch Überlagerung von Gradientenfeldern über das sta-
Spinale Computertomographie und Myelo-CT tische Feld in den 3 Raumebenen X, Y, Z kann man Ortsinfor-
Auch für die spinale Diagnostik ist die CT gut geeignet. Hier mationen erhalten, da die Anregungsbedingungen nur in einer
stellt sie vor allem die knöchernen Strukturen und die Band- definierten Schicht hergestellt werden. Dies bedeutet, dass die
scheiben gut dar, während das Rückenmark nicht gut abgebil- Schichtbilder in axialer, sagittaler und koronarer Orientierung
det wird. Mit dem Myelo-CT lässt sich nach intrathekaler direkt (d.h. ohne Umlagerung des Patienten) erzeugt werden
Gabe von Kontrastmittel (KM) die Beziehung von Bandschei- können. Die von Knochenartefakten weitgehend freie Darstel-
ben und Rückenmark bzw. Nervenwurzeln gut erkennen. Eine lung der MR-Tomographie machen diese besonders geeignet
exakte klinisch-neurologische Vordiagnostik ist zur Höhenlo- für die Abbildung anatomischer und pathologischer Struktu-
kalisation notwendig. Zur endgültigen Diagnose und vor allem ren an der Basis der mittleren Schädelgrube, in der hinteren
für die Indikation zur Operation wird heute meist die spinale Schädelgrube und im Spinalkanal.
Magnetresonanztomographie (s.u.) oder, wo diese nicht verfüg- Immer wieder werden zu viele falsch-positive Befunde bei
bar ist, die lumbale Myelographie mit nachfolgender spinaler Signalveränderungen erhoben, die entweder vieldeutig oder
CT (Myelo-CT) verwendet. ohne pathologische Bedeutung sind. Auch das Erkennen von
Thorakale und zervikale Computertomographie werden Artefakten verlangt große Erfahrung. Weitgehend unbeein-
ebenfalls in Verbindung mit der Myelographie angewendet. flusst bleibt die MR-Tomographie durch die bei der Computer-
Die Computertomographie bewährt sich besonders bei Miss- tomographie häufig artefaktgebenden knöchernen Strukturen
bildungen und raumfordernden Läsionen, vor allem dann, der Schädelbasis oder der Wirbel. Die MRT liefert einen der CT
wenn diese sich intra- und extraspinal ausdehnen und das weit überlegenen Weichteilkontrast, z.B. bei der Differenzie-
Achsenskelett beteiligen. rung von Bandscheiben und Bandstrukturen im Spinalkanal.
Die Diagnose des primär oder durch spondylarthrotische Die T1- und T2-Eigenschaften der Gewebe begünstigen
Gelenkveränderungen sekundär engen Spinalkanals ist mit der zwar die kontrastreiche, bildhafte Darstellung anatomischer
spinalen CT in Knochentechnik am besten möglich. Strukturen, reichen aber nicht aus, um verlässliche Aussagen
über die histologische Zusammensetzung des Gewebes zu tref-
fen. Verschiedene chemische Substanzen lassen sich durch ihr
3.3.3 Magnetresonanztomographie (MRT) Magnetresonanzverhalten spektroskopisch (7 S. 135) klassifi-
zieren.
3Prinzip. Die Magnetresonanztomographie beruht auf der
Tatsache, dass alle Atomkerne mit einer ungeraden Nukleo- Diffusionsgewichtetes MR
nenzahl ein magnetisches Moment aufweisen. Für bildgebende 3Prinzip. Diffusionsgewichtetes Imaging (DWI) wird durch
Verfahren in lebenden Organismen lässt sich diese Eigenschaft die Ergänzung von sog. Diffusionsgradienten in Spin-Echo-
am Wasserstoffatomkern besonders günstig ausnutzen. Sequenzen erzeugt. Hierbei wird die Bewegung von Wasser im
Der Patient wird im Gerät einem ständig vorhandenen sta- Extrazellulärraum abgebildet (Braun-Molekularbewegung).
tischen Magnetfeld ausgesetzt, das die Wasserstoffatomkerne
parallel zum Magnetfeld in Nord-Süd-Richtung ausrichtet. Die Perfusions-MR
Untersuchung erfolgt durch die Einstrahlung von Hochfre- 3Prinzip. Ein Bolus eines paramagnetischen Kontrastmit-
quenzimpulsen (sog. Gradienten), die unterschiedliche Ener- tels wird in möglichst kurzer Zeit in die Blutbahn gegeben. Die
132 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

a b c

d e f

. Abb. 3.17 a–f. Beispielhafte MRT-Sequenzen (Normalbefunde). auf Seitenventrikelniveau, d T2 Gehirn sagittal, Schichtführung Mittel-
a T1 axial Gehirn; Schichtführung auf Stammganglienniveau, b T2 axi- linie, e T1 sagittal lumbale Wirbelsäule, f T1 sagittal zervikale Wirbel-
al Gehirn, gleiche Schichtebene, c FLAIR axial Gehirn, Schichtebene säule

Exkurs
MRT-Sequenzen
Methodisch unterscheidet man verschiedene Verfahren zur ab, ob mittels der Aufnahmeparameter eine Abbildung mehr
Bildgebung, z.B. die Spin-Echo- und Gradienten-Echotechnik, der T1- oder mehr der T2-Eigenschaften des Gewebes gewählt
neuerdings auch die Turbo-Spin-Echotechnik und das Echo- wurde. In einem T1-betonten Bild stellen sich signalarme
Planar-Imaging. Letztere erlauben eine enorm schnelle Bereiche mit langer T1-Zeit dunkel dar, während sich im T2-
Durchführung der Untersuchung, so dass man pro Bild weni- betonten Bild signalreiche Bezirke mit langer T2-Zeit hell
ger als eine Sekunde an Aufnahmezeit benötigt. Im Vergleich darstellen. Krankhafte Veränderungen im Gewebe beeinflus-
dazu liegen die Untersuchungszeiten beim klassischen Spin- sen das T1- bzw. das T2-Verhalten oder auch beide Eigen-
Echo pro Bild im Bereich von 30 Sekunden bis zu Minuten. schaften der Wasserstoffkerne.
Die Grauwertverteilung, mit der sich anatomische Strukturen Für die Durchführung dreidimensionaler Untersuchungen,
im MR-tomographischen Bild darstellen lassen, hängt davon von MRT-Angiographien und für funktionelle Untersuchungen
6
3.3 · Neuroradiologische Untersuchungen
133 3

sind diese schnellen Sequenzen unbedingte Voraussetzung. Neue Sequenzen, die die Diffusion von Wasser darstellen
Bei der Bilderstellung unterscheidet man in Abhängigkeit (Diffusionsgewichtetes MR (DWMR oder DWI)) und solche, die
von den gewählten Untersuchungsparametern grundsätzlich Rückschluss auf die regionale Hirndurchblutung zulassen
zwischen sog. T1-, T2- und protonendichtegewichteten (Perfusions-MR), haben schon jetzt einen festen Platz in der
Bildern, die je nach Fragestellung eingesetzt werden. Die T1- MR-Diagnostik gewonnen (. Abb. 3.19).
gewichteten Darstellungen geben die beste anatomische
Darstellung und können mit Kontrastmittelgabe kombiniert
werden (. Abb. 3.18).

a b

. Abb. 3.18. MRT T1 Sequenz ohne (a) und mit (b) Kontrastver- Stammganglienebene eines normalen Gehirns erkennt man die KM-
stärkung (Gadolinium GTPA). Auf dieser axialen Schicht durch die Anreicherung im Ventrikelplexus und den Hirnvenen und Sinus

a b

. Abb. 3.19. Mismatch zwischen diffusionsgewichteter Sequenz Perfusionsdefizit (b) über dem mittleren MCA-Territorium. Die Diffe-
und Perfusions-MR (Mean transit time (MTT) Paradigma). Wäh- renz zwischen beiden Sequenzen gilt als MR-tomographisches Kor-
rend die Diffusionseinschränkung (a) helles Signal linke Hemisphäre relat zur Penumbra (s. Kap. 5), die bei erfolgreicher Reperfusion nicht
(a) auf ein sehr kleines Areal paraventrikulär beschränkt ist, das schon infarziert
zu diesem Zeitpunkt infarziert ist, findet man ein ausgedehntes, tiefes
134 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

Facharzt
Diffusions- und Perfusions-MR im Detail
DWI PMR
3Prinzip. In der Zelle ist die Diffusion durch das Zytoske- 3Prinzip. Entgegen des üblichen Einsatzes von Gadolinium
lett, die Zellorganellen und letztlich auch durch die Zell- als T1-zeitverkürzender Substanz wird bei der Perfusionsmes-
membran begrenzt. Das Bildsignal hängt somit von der sung (PMR) der T2*-Effekt des Kontrastmittels zur Bildgebung
3 Anzahl der Wassermoleküle und der Weite des extrazellu- genutzt. Dieser Effekt verursacht eine deutliche Signalminde-
lären Diffusionsraums ab. Je stärker die Diffusionswichtung rung bei Passage des Kontrastmittels. Danach erreicht das
ist, desto größer ist der Kontrast zwischen Gewebe mit nor- Gewebe wieder die initiale Signalstärke. Das KM wird mit einer
maler Diffusion und Gewebe mit eingeschränkter Diffusion. Flussrate von 5 ml/s intravenös appliziert und mit einem un-
Beim zytotoxischen Ödem kommt es zu einer Verlagerung mittelbar anschließenden NaCl 0,9%-Lösung-Bolus intravenös
der Wassermoleküle nach intrazellulär, und der verbleibende appliziert. Bei einer Perfusionsmessung wird das Gewebe repe-
Extrazellularraum wird durch die Zellschwellung enger. titiv vor, während und nach der Kontrastmittelpassage in
Synergistisch führen diese beiden Phänomene zu einer einem definierten Zeitintervall gemessen. Verwendet man die
deutlichen Reduktion der Diffusion, was in der DWI abgebil- heute üblichen Geräte, so kann man 12 Bildschichten mit 1,2 s
det wird. Die Messung der Diffusion mit unterschiedlichen Repetition oder 20 Bildschichten mit 1,8 s Repetition aufneh-
Gradientenstärken ermöglicht die Quantifizierung der Diffu- men. Das Integral der Boluskurve entspricht in Annäherung
sion als sogenannter apparenter Diffusionskoeffzient (ADC, dem lokalen zerebralen Blutvolumen. Eine absolute Messung
apparent diffusion coefficient). Unmittelbar mit Entstehung des regionalen Blutflusses ist jedoch nicht möglich. Hierfür
des zytotoxischen Ödems (also z.B. wenige Minuten nach wäre die Bestimmung der arteriellen Inputfunktion erforder-
Schlaganfallbeginn) sinkt der ADC. lich.

Kontrastmittelpassage führt zu einer messbaren Signalverän- 3Anwendung. Die MRA bietet die Möglichkeit, auf nicht-
derung des Gewebes während der Boluspassage. invasivem Weg die extra- und intrakraniellen hirnversorgen-
DWI und PMR werden neben Forschungsfragen in der den Arterien darzustellen. Grundsätzlich sollte immer berück-
klinischen Routine vor allem für neurovaskuläre, zunehmend sichtigt werden, dass sie eine funktionelle Methode ist, die
aber auch für neuroonkologische (Malignitätsgrad von Tumo- Flussphänomene darstellt, aber nicht die Gefäßmorphologie
ren) und neuroimmunologische (Degeneration von Faser- oder -anatomie abbildet. Darin unterscheidet sie sich grund-
bahnen) Fragestellungen eingesetzt. sätzlich von der klassischen Angiographie und beinhaltet diag-
nostische Fehlerquellen. Die Interpretation einer MRA erfor-
Magnetresonanzangiographie (MRA) dert die genaue Kenntnis der technischen Parameter, der phy-
3Prinzip. Die MRA wird vom technisch-physikalischen sikalischen Abläufe und der zu erwartenden und möglichen
Prinzip her in zwei verschiedenen Formen durchgeführt: ent- Artefakte sowie Fehlermöglichkeiten, nicht zuletzt auch der
weder als sog. Time-of-flight-Angiographie (TOF) oder aber Grenzen der Methode. Andernfalls können Interpretations-
als Phasenkontrastangiographie, wobei es bei beiden Verfah- fehler zur falschen Diagnose führen. Zudem ist die räumliche
ren die Möglichkeit gibt, entweder sog. 2D- oder 3D-Se- Auflösung der verfügbaren Sequenzen zurzeit noch deutlich
quenzen zu verwenden und über eine spezielle Rekonstruk- schlechter als die einer modernen DSA (s.u.), so dass eine dif-
tions-Software eine räumliche Darstellung des Gefäßbaums ferenzierte Diagnostik der kleinen intrakraniellen Gefäße, z.B.
zu erstellen. Der Nachteil dieser virtuellen, algorithmischen bei der Fragestellung Vaskulitis, nicht möglich ist. Die MRA ist
Nachbearbeitung ist der Informationsverlust des Bildinhalts gegenwärtig nicht immer in der Lage, die intraarterielle Angio-
von bis zu 30% im Vergleich zu den ursprünglichen Daten- graphie – außer bei einigen speziellen Fragestellungen – zu
sätzen. ersetzen.

Exkurs
MR-Angiographie
Time-of-flight-Angiographie. Der Vorteil der TOF-Methode Phasenkontrastangiographie. Demgegenüber sind die
ist die rasche und einfache Darstellung des schnellen arte- Phasenkontrastverfahren, die auf der Phasendifferenz be-
riellen Flusses. Sie beruht darauf, dass in ein bestimmtes wegter und stationärer Protonen beruhen, sowohl gut geeig-
Gewebsvolumen, das von einem Gefäß durchkreuzt wird, net, langsamen Fluss darzustellen als auch quantitative Fluss-
ständig frische, ungesättigte Protonen einströmen, deren geschwindigkeitsmessungen durchzuführen. Beide Verfahren
Signal zur Bildgebung verwendet wird. Daraus ergeben sich werden, je nach Fragestellung, ergänzend zueinander einge-
aber auch Probleme, da bei sehr langsamen Flussgeschwin- setzt. Beide Verfahren benötigen kein Kontrastmittel.
digkeiten und bei turbulenten Stenosen zahlreiche Artefakt-
möglichkeiten bestehen (. Abb. 3.20) Kontrastmittelangiographie. Hierbei wird die Angiographie
mit MR-Kontrastmittel, vergleichbar der CTA, durchgeführt.
3.3 · Neuroradiologische Untersuchungen
135 3
wickelt. Absehbar sind jedoch vielfältige klinische Einsatz-
möglichkeiten im neuropsychologischen und neurologischen
Bereich, innerhalb der neurochirurgischen prä- und postope-
rativen Diagnostik sowie bei psychiatrischen und pharmako-
logischen Fragestellungen.

Kontraindikationen und Komplikationen der MRT


4 Bestimmte Typen mechanischer Herzklappen, Herz-
schrittmacher, manche Aneurysmaclips, Metallfremdkörper
im Gewebe (z.B. Granatsplitter) machen eine MRT unmöglich.
4 Menschen mit Klaustrophobie empfinden den Aufenthalt
in der engen Untersuchungsröhre als unerträglich. Hier ist mit
der Entwicklung sog. offener MR-Systeme ein Ausweg geschaf-
fen worden. Offene MR-Systeme haben allerdings den Nachteil
niedriger Feldstärken und damit einer geringeren Ortsauflö-
sung bei längeren Messzeiten und höherer Artefaktanfällig-
keit.
4 Eine Kontrastmittelallergie auf paramagnetische Substan-
zen ist wesentlich seltener als nach Applikation jodhaltiger
Kontrastmittel. Eine seltene, aber schwerwiegende Kompli-
. Abb. 3.20. Normale TOF-MRA im ap-Bild
kation gadoliniumhaltiger Kontrastmittel ist eine systemische
Fibrose, die vor allem bei Patienten mit schwerer Niereninsuf-
fizienz vorkommt.
Funktionelle Magnetresonanztomographie
3Prinzip. Die funktionelle Magnetresonanztomographie ist MR-Spektroskopie
ein Verfahren, das sich die lokal vermehrte Durchblutung ak- Die MR-Spektroskopie ist ein nicht-invasives Verfahren, mit
tivierter Hirnareale zunutze macht. Die globalen und fokalen dem biochemische Informationen über das untersuchte Gewe-
Aktivitäten des Gehirns sind von regional unterschiedlichen be gewonnen werden können. Während man in der MR-Bild-
Veränderungen der Oxygenierung, des Blutflusses und des gebung ausschließlich Signale von Protonen misst, die an Was-
Blutvolumens begleitet. Diese Schwankungen können mit spe- ser bzw. Fett binden, wird bei der MR-Spektroskopie das Signal
ziellen MRT-Techniken prinzipiell an jedem konventionellen von Metaboliten, wie z.B. Cholin, Kreatin oder N-Acetylaspar-
MR-Tomographen dargestellt werden (. Abb. 3.21). tat, erfasst.

3Stellenwert. Derzeit wird die Methode überwiegend bei 3Prinzip. Bei der MR-Spektroskopie wird ein definiertes
wissenschaftlichen Fragestellungen eingesetzt und weiterent- Volumen (Voxel) selektiv angeregt, so dass bei der Datenaus-

. Abb. 3.21. Funktionelles Mapping und


Traktographie bei einem rechtshändigen
Patienten mit einem links temporoinsulär
gelegenen, niedrigradigem Astrozytom
zur Operationsplanung. Sprachaktivie-
rungen in gelb-rot, Wernicke- und Broca-Re-
gion verbindender Fasciculus arcuatus in hell-
blau-blau (die Farbgradienten repräsentieren
die Aktivierungs- bzw. Faserverlaufswahr-
scheinlichkeiten; A.J. Bartsch, Heidelberg)
136 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

Exkurs
Funktionelles Mapping und Traktographie
Für wissenschaftliche und zunehmend klinische Zwecke lokalen Oxyhämoglobinerhöhung, und damit einem verzögert
lassen sich der intrinsische T2(*)-Kontrast des paramagne- einsetzenden Anstieg des blood oxygenation level dependent
tischen Desoxyhämoglobins oder perfusionsgewichtete (kurz BOLD-) Signals. Alternativ kann mit arterial spin labeling
Aufnahmen zur funktionellen MRT (fMRT) und multidirek- (ASL) die zugrunde liegende Mehrdurchblutung detektiert
3 tionale Diffusionswichtungen für Traktographien nutzen. werden. Da die Signalunterschiede in beiden Fällen gering
Anhand dieser Epiphänomene neuronaler Aktivierungen und und in der Größenordnung des physiologischen Rauschens
der Myelinisierung intakter Faserbahnen können inzwischen sind, müssen die Daten gezielt vorverarbeitet und dann kom-
sowohl Hirnaktivierungen der grauen Substanz als auch petent statistisch ausgewertet werden. Geeignete Stimulati-
zentrale Projektions-, Kommissuren- und Assoziationstrakte onsparadigmen (angefangen von einfachsten audiovisuellen
der weißen Substanz verfolgt werden. Diese Verfahren ermög- Reizungen über motorische bis hin zu komplexen neuropsy-
lichen unter anderem, im Rahmen der Planung und intraope- chologischen Aufgaben) oder auch die Ruheaktivität des
rativen Neuronavigation bei neurochirurgischen Eingriffen menschlichen Gehirns sorgen für die zeitlichen Signalschwan-
motorische und spracheloquente Hirnareale zu berücksich- kungen, welche dann örtlich zugeordnet werden (»Mapping«).
tigen und zu schonen oder vor cochleären Implantationen Die anatomische Konnektivität zwischen miteinander
die Integrität des auditorischen Systems zu prüfen. verbundenen Hirnregionen ist dagegen dadurch zugänglich,
Das funktionelle Mapping stützt sich dabei auf die dass die Diffusion entlang der Nervenfaserbahnen erleichtert,
sogenannte funktionelle Hyperämie, welche neuronale senkrecht zu den zentral von Oligodendroglia myelinisierten
Aktivierungen begleitet und bereits 1890 von Roy und Sher- Axonen aber erschwert ist. Wie beim fMRT ist jedoch eine
rington postuliert wurde. Im Rahmen des gesteigerten Sau- komplexe Datenverarbeitung erforderlich, um z.B. auch bei
erstoffverbrauchs vermehrt aktiver Hirngebiete kommt es sich kreuzenden Fasern oder das MRT-Signal störenden Läsi-
zunächst zu einer lokal erhöhten Sauerstoffextraktion, die onen die Vorzugsrichtungen der Diffusion weiterzuverfolgen
sich in T2(*)-sensitiven MRT-Sequenzen durch die verminder- und Faserverbindungen zu isolieren (Diffusion-Tensor-
te Konzentration des diamagnetischen Oxy- und die erhöhte Imaging, Traktographie). Beide Verfahren sind trotz ihres nur
Konzentration des paramagnetischen, signalreduzierend interdisziplinär zu realisierenden Mess- und Datenverarbei-
wirkenden Desoxyhämoglobins in einem initialen Signalab- tungsaufwands gegenüber z.B. nuklearmedizinischen Verfah-
fall ausdrückt (»initial dip«). Dieser ist allerdings kaum mess- ren oder dem WADA-Test so attraktiv, da sie nichtinvasiv und
bar. Die zerebrale Autoregulation führt in der Folge zum präoperativ erfolgen, ohne eine radioaktive Strahlenexposition
verstärkten Einstrom sauerstoffgesättigten Blutes, also einer auskommen und im Prinzip beliebig oft wiederholbar sind.

lese auf eine Ortskodierung verzichtet werden kann. Aus dem dimensionalen Anordnung mehrerer Voxel bestimmt. Aus den
gemessenen Signal kann man mittels einer Fourier-Transfor- Spektren lassen sich ortsaufgelöste Karten der Metaboliten-
mation die spektrale Zusammensetzung des Signals in Ab- konzentration berechnen.
hängigkeit von der Resonanzfrequenz bestimmen. Diese Reso- Neben Protonen (1H-Spektroskopie) können auch andere
nanzfrequenz hängt wiederum von der chemischen Umgebung Kerne zur MR-Spektroskopie verwendet werden, z.B. 31-Phos-
der Protonen ab; daher weisen Protonen, die in unterschied- phor oder 23-Natrium. Für solche Untersuchungen muss der
liche Moleküle eingebunden sind, unterschiedliche Resonanz- MR-Tomograph jedoch mit zusätzlichen Hardware-Komponen-
frequenzen auf. ten (Breitbandverstärker, Hochfrequenzspulen) ausgestattet
Eine gute spektrale Auflösung kann nur erreicht wer- werden.
den, wenn das Magnetfeld homogen ist. Daher ist für die
MR-Spektroskopie immer eine Homogenisierung (Shim)
des Magnetfelds im untersuchten Voxel erforderlich. Außer- 3.3.4 Nuklearmedizinische Untersuchungen
dem muss das Signal der Wasserprotonen durch spezielle
Hochfrequenzpulse unterdrückt werden, da sonst die in Emissions-Computertomographie (ECT):
deutlich geringerer Konzentration vorliegenden Metabolite SPECT und PET
nicht erfasst werden können. Nach einer aufwendigen 3Prinzip. Die Emissions-Computertomographie ist die
Datennachverarbeitung (Filter, Phasenkorrektur, Baseline- rechnergestützte, schichtweise Abbildung der Radioaktivitäts-
Korrektur) kann aus den Spektren Aufschluss über die Kon- verteilung in Organen nach Injektion von radioaktiven Tracern.
zentration der unterschiedlichen Metabolite im untersuchten Man unterscheidet die Positronen-Emissions-Tomographie
Gewebe, insbesondere bei Hirntumoren gewonnen werden (PET) und die Single-Photon-ECT (SPECT). Kurzlebige Posit-
(. Abb. 3.22 und . Abb. 11.3). ronenemitter (z.B. C15O2) müssen in einem klinikeigenen
Eine Erweiterung der hier beschriebenen Single-Voxel- Zyklotron hergestellt werden. Die PET ist deshalb bisher auf
Spektroscopy (SVS), bei der das untersuchte Volumenelement wenige Zentren beschränkt. Das Verfahren erbringt sehr prä-
a priori festgelegt werden muss, stellt das Chemical-Shift-Ima- zise Werte für regionale Hirndurchblutung, Glukosestoffwech-
ging (CSI) dar. Hierbei werden die Spektren nicht nur in einem sel oder über die Rezeptorenverteilung, z.B. der Dopaminrezep-
Voxel, sondern in einer zweidimensionalen oder drei- toren beim M. Parkinson.
3.3 · Neuroradiologische Untersuchungen
137 3

. Abb. 3.22. MR-Spektrum aus dem Centrum semiovale eines gesunden Probanden. Darstellung von Myoinositol (mIns), Cholin (Cho),
Kreatin (Cr) und N-Acetylaspartat (NAA)

3Methodik. Bei der SPECT werden Radionuklide wie 3.3.5 Digitale Subtraktionsangiographie (DSA)
99mTc, 123J oder 133Xenon verwendet. Neben 123Jod-Ampheta-

min spielt zurzeit 99mTc-Hexamethylpropylenaminoxim Die zerebrale Angiographie ist die Röntgendarstellung des
(HMPAO) als flussanzeigendes Radiopharmazeutikum die zerebralen Gefäßsystems nach selektiver, intraarterieller Injek-
größte Rolle. Registriert wird mit einer rotierenden Gamma- tion eines jodhaltigen Kontrastmittels in wässriger Lösung.
kamera oder mit Multidetektorsystemen. Hiermit wird die
Verteilung von Radiopharmazeutika in Abhängigkeit von der 3Prinzip. Beginnend mit der Injektion wird jeweils eine Se-
regionalen Perfusion und/oder Organfunktion schichtweise rie von digitalen Röntgenbildern aufgenommen, die nachein-
wiedergegeben. Die Methode kann auch mit der Xenon-Inha- ander den Durchfluss des Kontrastmittels in den arteriellen,
lationsmethode kombiniert werden, wobei nur bei diesem kapillären und venösen Phasen zeigen. Man fertigt zwei Serien
SPECT-Verfahren die Bilder die regionale Hirndurchblutung an, die eine im sagittalen, die andere im seitlichen Strahlen-
in ml/100 g/min vermitteln. Mit den übrigen Substanzen ist gang. Für bestimmte Fragestellungen verwendet man Spezial-
die Beurteilung als normal oder pathologisch bisher nur über projektionen.
den Seitenvergleich möglich.
3Methodik. Die intraarterielle Angiographie wird als digi-
3Indikationen. Die für die Neurologie wichtigste Bedeu- tale Subtraktionsangiographie (DSA) durchgeführt. Eine DSA
tung hat die SPECT heute bei der Diagnostik von Tumoren, nach venöser Kontrastmittelinjektion wird heute nicht mehr
extrapyramidal-motorischen Krankheiten und Multisystema- durchgeführt. Bei der intraarteriellen DSA wird mit Hilfe
trophien (. Abb. 3.23). Auch zur Aufdeckung von funktio- eines Computers ein Leerbild von dem Füllungsbild einer
nellen Gewebsveränderungen bei fokal bedingten Epilepsien angiographischen Aufnahme subtrahiert. Dadurch wird der
kann die Methode einen Beitrag liefern. Dagegen ist die Rolle Gefäßkontrast so angehoben, dass man mit sehr viel geringe-
der SPECT bei vaskulären Krankheiten in den Hintergrund rer Kontrastmittelkonzentration ausgezeichnete Darstellun-
getreten. gen auch kleiner Gefäße gewinnt. Eine zuverlässige Dar-
PET-Untersuchungen sind vor allem bei wissenschaft- stellung der intrazerebralen Gefäße ist nur durch selektive,
lichen Fragestellungen von Bedeutung. Klinisch setzt man das intraarterielle Angiographietechniken möglich. Durch die
PET bei der Diagnostik von Demenzen und, als Ganzkörper- heute verfügbaren leistungsstarken Angiographieanlagen ist
PET, bei der Suche nach Tumoren, die sich der Standard- auch eine dreidimensionale Darstellung der Gefäße möglich
diagnostik entziehen, ein. (7 Kap. 9, Subarachnoidalblutung).
138 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

a b
. Abb. 3.23. a DATSCAN. Normale Anreicherung des Tracers am Do- SPECT. Hochregulierte Dopamin-Rezeptordichte bei IPS (li), vermin-
pamintransporter im Striatum (li) bei Normalperson; deutliche Abnah- derte Dopaminrezeptormarkierung bei MSA. (Aus Gerlach et al. 2003)
me der Aktivität bei idiopathischem Parkinson-Syndrom (re), b IBZM-

3Durchführung. Nach Lokalanästhesie und Punktion der 4 Gefäßmissbildungen (sackförmige Aneurysmen, arteriove-
A. femoralis in der Leistenbeuge wird ein spezieller Angiogra- nöse Angiome und Fisteln) sind meist sehr deutlich zu sehen.
phiekatheter unter Röntgendurchleuchtungskontrolle über die Die exakte Darstellung ihrer Gefäßversorgung in mehreren Ebe-
Aorta und den Aortenbogen in die hirnversorgenden Arterien nen ist die Voraussetzung für die weitere Behandlungsplanung.
eingebracht. Diese Technik erlaubt die Darstellung aller zere-
bralen Gefäße nach nur einer Arterienpunktion. 3Komplikationen. Kontrastmittelallergien sind heute sel-
4 Karotisangiographie: Durch die Kontrastmittelinjektion ten. Das Schlaganfallrisiko wird in der Literatur je nach Erfah-
werden die A. carotis interna und ihre großen Äste, A. cerebri rung des Untersuchers mit 0,1–1% angegeben. Es beruht auf
anterior und media, sowie deren Aufzweigungen dargestellt. In der Möglichkeit einer Ablösung von arteriosklerotischen Pla-
etwa 10% geht die A. cerebri posterior direkt aus der A. carotis ques oder der Bildung von Thromben im oder am Katheter mit
interna ab (sog. embryonaler Abgangstyp). Oft füllt sie sich von nachfolgender Embolie und ischämischem Infarkt.
der A. carotis interna aus über die A. communicans posterior. In
der venösen Phase zeigen sich die oberflächlichen und die tiefen Therapeutisch-interventionelle Angiographie
Hirnvenen und Sinus. Die Gefäßdarstellung erfasst also die Neben der rein diagnostischen selektiven Angiographie mit
Hirnanteile, die über dem Tentorium cerebelli liegen: Groß- Sondierung der Halsschlagadern ist auch die superselektive
hirnhemisphären, Stammganglien und Mittelhirn (. Abb. 3.24). Angiographie möglich. Diese wird bei neuroradiologischen
4 Vertebralisangiographie: Im Arteriogramm stellen sich Interventionen, z.B. bei der Embolisation von Gefäßmissbil-
beide Aa. vertebrales, die drei Paare der Zerebellararterien, die dungen (7 Kap. 8 und 9), eingesetzt. Sie ermöglicht die gezielte
unpaare A. basilaris und in der Regel ihre Endaufzweigungen, Sondierung auch kleiner intrazerebraler Arterien (z.B. Endäste
die beiden Aa. cerebri posteriores, dar. In der venösen Phase der A. cerebri media). Dabei werden sog. Koaxialkatheter ein-
sind der rückwärtige Abschnitt des Sinus sagittalis superior, gesetzt, die aus einem etwas dickeren Führungskatheter und
die inneren Hirnvenen sowie Sinus rectus und transversus zu einem darin liegenden Mikrokatheter bestehen. Der Füh-
sehen. Durch die Vertebralisangiographie werden vor allem rungskatheter wird in die entsprechende Halsschlagader ein-
der Raum der hinteren Schädelgrube, Kleinhirn, Medulla ob- gebracht (z.B. A. carotis interna), der Mikrokatheter wird da-
longata und Brücke, zum kleineren Teil auch das Mittelhirn raufhin durch den Führungskatheter in die zerebrale Zirkula-
und der basale Okzipitallappen erfasst (. Abb. 3.25). tion manövriert.

3Befunde 3Behandlungsmöglichkeiten
4 Stenosierende Gefäßprozesse und Gefäßverschlüsse zeigen 4 Lokale Fibrinolyse bei der akuten Thrombose der A. basi-
sich als Lumeneinengung, Abbrüche oder fehlende Darstel- laris oder Embolie in die A. cerebri media, Embolektomie
lung von Arterien. 4 Verschluss zerebraler, arteriovenöser Fisteln und Angiome,
4 Aus der Verlagerung von Gefäßen und aus gefäßfreien 4 endovaskuläre Ausschaltung zerebraler Aneurysmen,
Räumen kann auf die Lokalisation von Hirntumoren oder 4 präoperative Embolisation von Tumoren,
Hirnblutungen geschlossen werden. 4 palliative, lokale, intraarterielle Chemotherapie maligner
4 Durch charakteristische Anfärbung, pathologische Gefäße Tumoren.
und arteriovenöse Kurzschlüsse mit beschleunigter Kreislauf- 4 Stentgeschützte Angioplastie extra- oder intrakranieller
zeit werden bei einigen Hirntumoren auch artdiagnostische Stenose
Hinweise gewonnen, z.B. bei Meningeomen, Metastasen und 4 invasive Behandlung von Vasospasmen (z.B. nach Sub-
Glioblastomen. arachnoidalblutungen s. Kapitel 9).
3.3 · Neuroradiologische Untersuchungen
139 3

b
a

c d

e f

. Abb 3.24a–f. Normales Karotisangiogramm, jeweils links sche- c,d seitlicher Strahlengang, arterielle Phase, e,f sagittaler Strahlen-
matische Zeichnung und rechts entsprechende digitale Subtrakti- gang, venöse Phase
onsangiographie (DSA). a,b Sagittaler Strahlengang, arterielle Phase,
140 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

Spinale Angiographie Ausbreitung mit der Computertomographie überprüft. Heute


Neben der zerebralen Angiographie ist heute auch die selektive wird die Ventrikulographie meist durch liquorflusssensitive
und superselektive spinale Angiographie möglich. Sie wird MRT-Sequenzen ersetzt.
ebenfalls über einen Leistenzugang in Lokalanästhesie durch-
geführt. Mit speziell geformten Kathetern werden die einzel- 3Indikation. Überprüfung der Durchgängigkeit von Aquä-
nen, paarig angelegten Interkostal- und Lumbalarterien son- dukt und der Foramina Luschkae und Magendii, Shuntkontrol-
3 diert und mit kleinen Kontrastmitteldosen, die per Hand ap- le in der Neurochirurgie.
pliziert werden, in DSA-Technik dargestellt. In der Regel ist so
die Darstellung der rückenmarkversorgenden Arterien (A. spi-
nalis anterior und Aa. spinales posterolaterales) möglich. 3.4 Ultraschalluntersuchungen

3Indikationen. Spinale Gefäßmissbildungen (Angiome Die neurosonologischen Techniken bieten eine Reihe von Vor-
und AV-Fisteln), präoperative Darstellung von Rückenmark- teilen, die andere Methoden nicht aufweisen. Hierzu gehören
und Wirbeltumoren. Auch hier besteht die Möglichkeit der vor allem die Ungefährlichkeit für Patient und Untersucher, die
superselektiven und der interventionellen Angiographie (z.B. hohe Mobilität, die Kostengünstigkeit, und die dadurch nahe-
Angiomembolisation, präoperative Tumorembolisation). zu uneingeschränkte Wiederholbarkeit. Außerdem handelt es
sich um dynamische Untersuchungen, bei denen über einen
3Risiken und Komplikationen. Die spinale Angiographie längeren Zeitraum unter verschiedenenUmgebungsbedin-
hat das Risiko der spinalen Ischämie mit einer bleibenden gungen die Auswirkungen auf die Hämodynamik erfasst wer-
Querschnittslähmung. Sie erfordert eine entsprechende Qua- den können. Von Nachteil sind die hohe Untersucherabhän-
lifikation und Erfahrung des Neuroradiologen und sollte nur gigkeit und die Schwierigkeiten einer standardisierten und
in spezialisierten Zentren mit hoher Untersuchungsfrequenz nachvollziehbaren Dokumentation.
durchgeführt werden.

3.4.1 Extrakranielle Dopplersonographie (ECD)


3.3.6 Myelographie
3Methodik. Mit der extrakraniellen Dopplersonographie
3Prinzip. Die segmentale Höhe, die Quer- und die Längs- wird die Blutströmung in den Halsgefäßen registriert. Das Ver-
ausdehnung eines raumfordernden spinalen Prozesses können fahren beruht auf dem sog. Dopplereffekt, der Frequenzver-
durch Myelographie exakt festgestellt werden. Bei der Myelo- schiebung, die bei einer Relativbewegung zwischen dem Sender
graphie wird auch der Liquor entnommen und untersucht. und dem Empfänger einer Schallquelle bzw. eines Schallreflek-
tors auftritt. Mit den korpuskulären Bestandteilen als Reflektor
3Methodik. Die modernen, nichtdissoziierenden wasser- kann deshalb mit Hilfe von Ultraschall die Geschwindigkeit
löslichen Kontrastmittel gestatten eine Darstellung des gesamt- fließenden Blutes gemessen werden. Die Frequenzverschiebung
en Spinalkanals. Lumbal appliziert man ca. 6–12 ml einer Lö- zwischen gesendetem und empfangenem Ultraschall ist linear
sung, die 170–300 mg/ml Jod enthält. Die Passage des Kontrast- proportional zur Blutflussgeschwindigkeit. Für die extrakra-
mittels im Spinalkanal wird unter Durchleuchtung verfolgt. nielle Dopplersonographie wird der sog. Continuous-wave-
Bei Verdacht auf einen raumfordernden Prozess kann die Doppler (cw-Doppler) eingesetzt. Hierbei wird von einem
Myelographie, wie oben erwähnt, mit der spinalen Computer- Kristall kontinuierlich eine Ultraschallwelle erzeugt und von
tomographie kombiniert werden (Myelo-CT). Viele Myelogra- einem zweiten Kristall registriert. Hauptnachteil dieser Technik
phien sind durch MRT-Untersuchungen ersetzt worden. Die ist, dass sich Signale verschiedener Gefäße überlagern können,
Liquorraumszitigraphie wird bei der Suche nach Lecks im Li- weil keine Tiefendifferenzierung möglich ist. Der Doppler-Shift
quorraum zusätzlich eingesetzt, zum Beispiel beim spontanen wird als akustisches Signal wiedergeben und graphisch als Fre-
Liquorunterdrucksyndrom. quenzspektrum angezeigt (. Abb. 3.26). Das Signal enthält ver-
schiedene Strömungsanteile, wodurch z.B. Turbulenzen er-
3Indikationen. Trotz der Bedeutung der MRT gibt es nach kennbar sind. Mit der cw-Dopplersonographie können Steno-
wie vor Indikationen zur Durchführung einer Myelographie sen der Halsgefäße, die das Lumen um mehr als 40% einengen,
wie der enge Spinalkanal bzw. die primäre und sekundäre Spi- mit hoher Sensitivität und Spezifität lokalisiert und eingeschätzt
nalkanalstenose, die Arachnopathie oder der Wurzelausriss werden. Durch indirekte Hinweise sind auch distale, nicht di-
nach zervikalen Traumen (z.B. Motorradunfällen; DD: Plexus- rekt beschallbare Strömungshindernisse (z.B. Karotissiphonste-
schädigung). nosen) erfassbar. Zu diesen indirekten Hinweisen gehören der
Nachweis von Kollateralkreisläufen oder die Reduktion diasto-
lischer Spektralanteile in proximaleren Gefäßabschnitten.
3.3.7 Ventrikulographie
3Klinische Anwendung. Klinisch wird die Methode in der
3Prinzip. Bei der Ventrikulographie wird ein wasserlös- Neurologie zum Erkennen pathologischer Strömungsgeschwin-
liches, jodhaltiges Kontrastmittel über einen Shunt oder eine digkeiten und -richtungen in den periorbitalen Arterien und
Ventrikeldrainage in das Ventrikelsystem gegeben und seine den am Hals direkt beschallbaren hirnversorgenden Arterien
3.4 · Ultraschalluntersuchungen
141 3

c d

. Abb. 3.25. Normales Vertebralisangiogramm, jeweils links graphie (DSA). a,b Sagittaler Strahlengang, arterielle Phase; c,d seit-
schematische Zeichnung und rechts digitale Subtraktionsangio- licher Strahlengang, arterielle Phase

Exkurs
Diagnostische Möglichkeiten in der Neurosonologie
Mit den neurosonologischen Methoden können nichtinvasiv 4 Untersuchung der Vasomotorenreserve
und beliebig oft wiederholbar stenosierende Läsionen und 4 Erfassung kardialer Rechts-links-Shunts
funktionelle Veränderungen an den extra- und intrakrani- 4 Detektion von Emboliesignalen in der Langzeitableitung
ellen Hirnarterien beobachtet und dokumentiert werden. 4 Diagnose von Fisteln
Die wichtigsten Anwendungsgebiete sind: 4 Erfassung intrakranieller Zirkulationsstörungen bei Hirn-
4 Erkennen extra- und intrakranieller Gefäßstenosen oder drucksteigerung
-verschlüsse 4 Nachweis des zerebralen Kreislaufstillstandes (Hirntod-
4 Darstellung von Kollateralkreisläufen diagnostik)
4 Erkennen von Vasospasmen nach Subarachnoidal- 4 Untersuchung peripherer Nerven und der Muskulatur
blutung oder Meningitis

(Karotiden und Vertebrales) und Subclaviae verwendet. So ralkreisläufen ist die Untersuchung der supraophthalmischen
können beispielsweise Stenosen der Karotisbifurkationen an Äste am inneren Augenwinkel wichtig. Für speziellere Frage-
der Strömungsbeschleunigung und an den poststenotischen stellung ist auch die Untersuchung weiterer Äste der A. carotis
Turbulenzen erfasst werden. Extrakraniell können der Truncus externa, z.B. der A. temporalis superficialis und der A. occipi-
brachiocephalicus, die Karotiden, die Vertebrales und die talis, möglich.
Subclaviae beurteilt werden. Für die Bestimmung von Kollate-
142 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

3.4.2 Transkranielle Dopplersonographie (TCD) Kreislaufstillstandes angewandt. Außerdem ist sie die Grund-
lage bei einer Reihe funktioneller Untersuchungstechniken.
3Methodik. Die transkranielle Dopplersonographie wird
technisch als sog. Pulsed-wave-Doppler (pw-Doppler) reali-
siert. Hierbei sendet ein Kristall einen kurzen Ultraschallim- 3.4.3 Extrakranielle Duplexsonographie
puls aus, um nach einer definierten Pause das Echo zu registrie-
3 ren. Hierdurch ist es möglich, die Untersuchungstiefe festzu- 3Methodik. Duplexgeräte stellen die Kombination einer
legen. Durch Anwendung niedriger Ultraschallfrequenzen zweidimensionalen sonographischen Echtzeitdarstellung (sog.
(1,5–2,0 Mhz) und im Vergleich zur extrakraniellen Doppler- B-Mode) mit einem Dopplerteil in einer Geräteschallkopf-
sonographie höherer Schallenergien ist es möglich, die Schall- einheit dar. Bei der farbkodierten Duplexsonographie, die heu-
absorption an der Schädelkalotte zu überwinden. Vorausset- te den gebräuchlichen Standard darstellt, wird das Doppler-
zung ist, dass ein geeignetes Schallfenster vorliegt, was beson- signal farbig kodiert in das Schwarz-Weiß-Bild eingeblendet.
ders bei älteren Frauen schwierig sein kann. Die gebräuchlichs- Bei normaler arterieller Gefäßwand erkennt man das Gefäß-
ten Schallfenster sind temporal für die Untersuchung der lumen als von zwei hellen Reflektionen begrenzte echoarme
A. cerebri media, A. cerebri anterior und A. cerebri posterior Region (. Abb. 3.26). Untersucht werden können alle extrakra-
(. Abb 3.27) bzw. nuchal das Foramen magnum zur Beurtei- niellen Hirngefäße. Hierbei besitzt die farbkodierte Darstel-
lung der distalen Vertebralisabschnitte und der A. basilaris. lung wesentliche Vorteile gegenüber der Dopplersonographie
beim schnellen Aufsuchen und Differenzieren der Gefäße.
3Anwendung. In der klinischen Routine wird diese Tech- Die Darstellung der A. carotis communis im Längsschnitt
nik unter anderem angewandt zum Nachweis intrakranieller ist von wesentlicher Bedeutung bei der Beurteilung der sog.
Gefäßstenosen, zur Untersuchung auf Vasospasmen nach Sub- Intima-Media-Dicke. Diese hat sich in den letzten Jahren als
arachnoidalblutungen und zur Bestimmung des zerebralen Marker der subklinischen Arteriosklerose etabliert und zeigt

. Abb. 3.26. B-Bild einer regelrechten Karotisbifurkation mit den sung der Intima-Media-Dicke (zwischen den beiden hellgrünen Linien,
Dopplerspektren der einzelnen Gefäßsegmente aus der cw-Doppler- Pfeil) demonstriert (ACC: A. carotis communis; ACI: A. carotis interna;
sonografie (4MHz-Sonde). In der Ausschnittsvergrößerung ist die Mes- ACE: A. carotis externa). (P. Ringleb, Heidelberg)
3.4 · Ultraschalluntersuchungen
143 3
tungen oder Ablösung von Thromben, können erkannt werden.
Ein weiterer Vorteil der Duplexsonographie ist die Möglichkeit
der winkelkorrigierten Flussgeschwindigkeitsmessung.

3Anwendung. Durch diese Vorteile im Vergleich zur extra-


kraniellen Dopplersonographie hat sich die Duplexsonogra-
phie in den letzten Jahren zur Methode der Wahl bei der Beur-
teilung der hirnversorgenden Gefäße entwickelt. Dennoch darf
sie nicht als isoliertes Verfahren gesehen werden, viele Frage-
stellungen sind oft nur in Kombination mit der »konventio-
nellen« Dopplersonographie zu klären.
. Abb. 3.27. Schematische Darstellung der transkraniellen
Dopplersonographie. Die Ultraschallsonde (S) ist auf dem Ultra-
schallfenster der Temporalschuppe platziert. Der fokussierte Schall- 3.4.4 Intrakranielle Duplexsonographie
strahl ist koaxial zum Hauptstamm der A. cerebri media gerichtet. Auf-
grund der gepulsten Dopplertechnik kann die aus dem Echo erhält- 3Methodik. Moderne Duplexgeräte bieten die Möglichkeit
liche Information auf ein kleines Messvolumen (sample volume) der Untersuchung intrakranieller Strukturen, allerdings beste-
beschränkt werden. Mit Hilfe einer besonderen elektronischen Schal- hen nach wie vor deutliche Qualitätsunterschiede zwischen
tung kann dieses Messvolumen schrittweise entlang der Gefäßachse
verschiedenen Geräten. Bei transtemporaler Beschallung las-
verschoben werden. Dadurch lassen sich die Flusssignale und ihre Ver-
sen sich verschiedene Hirnstrukturen auch morphologisch
änderungen den verschiedenen Arterienabschnitten topodiagnos-
tisch zuordnen. (Nach Ringelstein et al. 1985)
beurteilen. Die wichtigsten Ebenen in axialer Schichtführung
sind dabei die mesenzephale Schnittebene, bei der das Mittel-
hirn beurteilt werden kann, und die dienzephale Schnittebene,
eine lineare Korrelation mit der kardiovaskulären Letalität. Eine die den III. Ventrikel erkennen lässt (. Abb. 3.29). Die Lage und
Intima-Media-Dicke von über 1 mm gilt in der Regel als patho- Weite dieses Ventrikels eignen sich zur Beurteilung von lokalen
logisch. Außerdem ist es mit dieser Technik möglich, verschie- Hirndruckerhöhungen mit Massenverlagerung. Das gleiche
dene Arten und Ausprägungen von Plaques zu differenzieren. Schallfenster dient bei der farbkodierten Duplexsonographie der
Veränderungen in der Plaquemorphologie, z.B. durch Einblu- Beurteilung der großen Hirnbasisarterien.

. Abb. 3.28. Farbduplexsono-


grafische Darstellung einer
normalen Carotisbifurkation.
(P. Ringleb, Heidelberg)

. Abb. 3.29. Normale trans-


cranielle duplexsonografische
Darstellung des Circulus arteri-
osus durch das temporale Schall-
fenster in axialer Schichtführung.
Der Stern markiert den Hirn-
stamm in Höhe des Mesencepha-
lon (ACA: A. cerebri anterior;
ACM: A. cerebri media; ACP:
A. cerebri posterior) (P. Ringleb,
Heidelberg)
144 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

3Anwendung. Im Vergleich mit der konventionellen TCD valide Untersuchung des peripheren Nervensystems und der
gelingt die Lokalisation intrakranieller Stenosen mit höherer Muskulatur möglich. Die peripheren Nerven des Armes und
Zuverlässigkeit. Auch die definitive Diagnose von Gefäßver- des Beines können an vielen Stellen mittels Ultraschall dar-
schlüssen ist valider, ebenso die Bestimmung von Kollateral- gestellt werden. Vor allem bei Engpasssyndromen wie dem
kreisläufen. Die Untersuchung der Aa. vertebrales und der Karpaltunnelsyndrom des N. medianus oder dem Ulnaris-
A. basilaris durch das nuchale Schallfenster gelingt hingegen rinnensyndrom ist die Sonographie zu der klinischen und elek-
3 mit geringerer Zuverlässigkeit als mit der konventionellen trophysiologischen Untersuchung komplementär, kann in Er-
TCD. gänzung zur gebräuchlicheren elektrophysiologischen Diag-
Eine spezielle Anwendung ist die Untersuchung der gro- nostik aber auch ätiologische Hinweise liefern. Bei der Beurtei-
ßen venösen intrakraniellen Blutleiter. Hierbei gibt es jedoch lung der Muskulatur wird auf Lage, Form, Größe und Echoge-
eine Reihe anatomischer und technischer Probleme, so dass nität geachtet. Vor allem zur Dokumentation von Muskelatro-
nicht damit zu rechnen ist, dass diese Technik die neuroradio- phie oder -hypertrophie und zur Erfassung pathologischer
logischen Diagnosemöglichkeiten ersetzen wird. Bewegungsmuster, z.B. Faszikulationen, ist die Myosonogra-
phie gut geeignet. Dies gilt auch zur Auswahl geeigneter Mus-
kelstellen für therapeutische Botulinumtoxininjektionen.
3.4.5 Ultraschallkontrastmittel

Ultraschallkontrastmittel kommen bei schlechten Schallbedin- 3.5 Biopsien


gungen sowohl bei extra-, vor allem aber bei intrakraniellen
Untersuchungen zur Anwendung, insbesondere bei der transkra- 3.5.1 Muskelbiopsie
niellen Duplexsonographie. Alle heute verwendeten Ultra-
schallkontrastmittel bestehen aus mikroskopisch kleinen Gas- Die Gewebeprobe wird nach Möglichkeit aus einem Muskel
bläschen, die von unterschiedlichen Substanzen stabilisiert entnommen, der klinisch leicht- bis mittelgradig betroffen
werden. Die Ultraschallkontrastmittel führen zu einer um den ist. Die Auswahl erfolgt elektromyographisch (Muskelbiopsie
Faktor 1000 höheren Rückstreuung des Ultraschalls und damit nicht aus kürzlich myographierten Muskeln entnehmen (Ver-
zu einer Verbesserung des Signal-Rausch-Verhältnisses und zu letzungsfolgen, kleine Blutungen), stattdessen aus dem ent-
besseren Bildern. sprechenden Muskel aus der Gegenseite (wenn ein generali-
siertes Problem wie eine Myopathie vorliegt) und gegebenen-
falls nach vorheriger Ultraschall- oder kernspintomogra-
3.4.6 Funktionelle Untersuchungen phischer Untersuchung.

Mit neurosonologischen Techniken können wegen der Mög- 3Methodik. Das Spektrum der muskelhistologischen Diag-
lichkeit der langfristigen Anwendung eine Reihe funktioneller nostik umfasst je nach Fragestellung die normale, lichtmikros-
Fragestellungen geklärt werden. Dazu gehören z.B. die Unter- kopische Morphologie, spezielle Enzymuntersuchungen, den
suchung der zentralen Vasomotorenreserve bei hochgradigen Nachweis von immunologischen Markern (z.B. für Dystrophin
extrakraniellen Stenosen nach CO2-Atmung, die Detektion von bei Muskeldystrophie), molekulargenetische Analysen und die
Mikroemboliesignalen, die Untersuchung auf autonome Regu- elektronenmikroskopische Untersuchung, die nicht routine-
lationsstörungen bei Kipptischuntersuchungen und die Unter- mäßig, sondern nur bei bestimmten Fragestellungen nach vor-
suchung auf einen kardialen Rechts-links-Shunt mittels nicht- heriger Absprache mit dem Neuropathologen durchgeführt
lungengängiger Kontrastmittel. Als kostengünstiges Kontrast- wird. In der Lichtmikroskopie werden die Muskelfasern nach
mittel kann hierfür ein suspendiertes Luft-Kochsalz-Blut-Ge- Form, Größe, entzündlichen Veränderungen bzw. zellulären
misch verwendet werden (weswegen diese Untersuchung auch Infiltraten und Ersatz von Muskel durch Fett und Bindegewebe
Bubble-Test heißt), das intravenös injiziert wird. Normaler- untersucht. Histochemische Untersuchungen mit Spezialfär-
weise werden die Luftbläschen pulmonal eliminiert. Bei Vor- bungen ermöglichen die Typisierung der Muskelfasern auf-
handensein eines Rechts-links-Shunts, z.B. eines persistieren- grund ihrer unterschiedlichen Enzymzusammensetzung (wei-
den offenen Foramen ovale, gelangen die Luftbläschen über ße, langsam kontrahierende oder rote, schnell kontrahierende
diesen Shunt in das arterielle Gefäßsystem und erreichen als Fasern) und ermöglichen Aussagen über metabolische Stö-
(ungefährlicher) Schauer nach ca. 10 s die A. cerebri media, wo rungen in der Muskulatur. Aus Muskelbiopsien können auch
sie aufgrund einer typischen Signalcharakteristik im TCD iden- molekularbiologische Untersuchungen durchgeführt werden.
tifiziert und quantifiziert werden können. Das Phänomen kann Bei der Entnahme der Biopsien sind eine sorgfältige chir-
spontan oder erst nach einem Valsalva-Versuch auftreten. urgische Technik, eine fachgerechte Präsentation des Gewebes
und die sofortige Einbettung in geeignete Medien (z.B. NaCl
für Nativproben, Glutaraldehyd für Elektronenmikroskopie,
3.4.7 Untersuchung des peripheren Einfrieren in flüssigem Stickstoff, Versendung in Trockeneis)
Nervensystems und der Muskulatur nach Absprache mit dem Neuropathologen wichtig. Meist wird
ein Teil des Muskels leicht gedehnt (nicht gestreckt) längs und
Durch die Entwicklung hochfrequenter Ultraschallsonden ein anderer Teil quer zur Faserrichtung auf einem Holzträger
und die Weiterentwicklung der Ultraschallgeräte wurde die oder einer Korkplatte orientiert.
3.6 · Spezielle Laboruntersuchungen
145 3
3Indikation. Im Wesentlichen erhält man aus der Muskel- ckenmark zu entnehmen, um eine histologische Untersu-
biopsie eine Differenzierung zwischen neurogener und myo- chung durchzuführen.
gener bzw. myositischer Schädigung der Muskulatur und die
semiquantitative (histochemische) Darstellung genetischer, 3Indikation. Die Biopsie ist indiziert bei Hirntumoren, die
metabolischer und immunologischer Störungsmuster. Im neu- nach Lage und Größe nicht komplett operabel zu sein scheinen
rogen geschädigten Muskel findet man feldförmig gruppierte und bei denen man eine histologische Diagnose vor Einleitung
Muskelfaseratrophien, manchmal auch schon in Muskeln, die einer Strahlentherapie oder einer Chemotherapie herbeifüh-
klinisch noch nicht in einen generalisierten Krankheitsprozess ren möchte, sowie bei unklaren, nicht sicher tumorösen Ver-
einbezogen sind (z.B. bei der amyotrophischen Lateralsklero- änderungen im Gehirn, z.B. bei atypischen Entzündungsher-
se). Wenn eine Myositis vorliegt, können entzündliche zellu- den, Lymphomen, selten bei degenerativen Prozessen.
läre Infiltrate, meist um die kleinen Gefäße innerhalb der Mus- Biopsien der Hirnhäute werden beim Verdacht auf eine Vas-
kulatur gelegen, gefunden werden, manchmal auch Ablage- kulitis des Nervensystems durchgeführt. Hier hat sich die Lep-
rungen von Immunglobulinen und Immunkomplexen. Bei tomeninxbiopsie der Hirnbiopsie als überlegen erwiesen. Nicht
nichtentzündlichen myopathischen Veränderungen findet vergessen sollte man, dass beim Verdacht auf eine Vaskulitis des
man z.B. Unregelmäßigkeiten der Muskelfasern und Struktur- Nervensystems eine Muskelbiopsie durchgeführt werden sollte,
anomalien, disseminierte Nekrosen und Untergänge einzelner da hier nicht selten entzündliche Veränderungen in den klei-
Muskelfasern, z.T. mit vermehrter bindegewebiger Einlage- nen Gefäßen der Muskulatur gefunden werden können.
rung oder unregelmäßige Färbemuster muskulärer Enzyme.

3.5.4 Andere Biopsien


3.5.2 Nervenbiopsie
Die Biopsie der A. temporalis wird bei Verdacht auf eine Rie-
Fast ausschließlich wird der rein sensible N. suralis lateralis, senzellarteriitis (7 Kap. 5) in der Regel vom Augenarzt oder
der nur ein kleines sensibles Versorgungsgebiet hinter dem Kieferchirurgen durchgeführt. Rektumbiopsien, Dünndarm-
Malleolus lateralis hat, entnommen. Er ist bei generalisierten biopsien und Hautbiopsien – gemeinsam mit Internisten und
Neuropathien repräsentativ, kann aber bei rein motorischen Chirurgen – sind bei besonderen Fragestellungen, z.B. Amylo-
Neuropathien elektrophysiologisch und neuropathologisch idose oder M. Whipple, indiziert.
unauffällig sein. Die Biopsie dieses Nerven bietet sich auch
deshalb an, weil man korrespondierende neurophysiologische 3.6 Spezielle Laboruntersuchungen
Untersuchungen aus der sensiblen Neurographie des N. suralis
hat und weil er leicht zugänglich ist. In ausgesuchten Fällen von 3.6.1 Muskelbelastungstests
generalisierter motorischer Neuropathie kann der Endast des
N. musculocutaneus ohne die Gefahr einer funktionellen Ein-
Beim Muskelbelastungstest werden vor und nach einer leich-
buße biopsiert werden.
ten Muskelarbeit (meist auf dem Fahrradergometer bei gerin-
ger Wattzahl) Laktat und Ammoniak, ferner auch die Kreatin-
3Methodik. Der Nerv wird licht- und elektronenmikrosko-
kinase, die Aldolase und, bei bestimmten Fragestellungen,
pisch untersucht. Das Biopsat wird in Kochsalz und Glutaral-
auch Myoglobin im Serum bestimmt. Er wird vor allem in der
dehyd eingelegt. In einem kleinen Hautareal verbleibt eine
Diagnostik von metabolischen Myopathien eingesetzt.
Anästhesie. Sehr selten kann es zur Ausbildung einer hartnä-
ckigen Neuralgie im Versorgungsgebiet des inkomplett ent- Laktat-Ischämietest
fernten oder ligierten N. suralis kommen. Über diese Möglich-
Bei dieser Variante werden Laktat und Ammoniak im Serum
keit muss der Patient aufgeklärt werden.
vor und nach Muskelarbeit unter Ischämie untersucht. Der
Test prüft die anaerobe Glykogenolyse und Glykolyse bei Mus-
3Indikation. Die Biopsie ist besonders bei entzündlichen
kelbelastung und wird eingesetzt bei der Suche nach metabo-
Erkrankungen des Nervensystems im Rahmen von Kollageno-
lischen Myopathien (v.a. Glykogenosen und Myoadenylat-
sen, z.B. der Panarteriitis nodosa, bei Gammopathien und
Deaminase-Mangel). Die Methode ist in 7 Kap. 34, S. 744 be-
Amyloidose angezeigt. Bei Verdacht auf Leukodystrophie oder
schrieben.
auf hereditäre motorisch-sensible Neuropathie empfehlen sich
heute gezielte laborchemische oder molekulargenetische Un-
tersuchungen (7 Kap. 32). 3.6.2 Hypothalamisch-hypophysäre
Hormondiagnostik

3.5.3 Hirnbiopsie und Biopsie der Meningen Die hypothalamischen bzw. hypophysären Regelkreise können
bei Krankheiten des Zwischenhirns, der Hypophyse und der
Computertomographisch und magnetresonanztomogra- knöchernen und bindegewebigen Umgebung dieser Struktu-
phisch gesteuerte Biopsiemethoden haben es ermöglicht, mit ren gestört werden. Es kann zur Hormonüberproduktion oder
hoher Zielgenauigkeit minimal-traumatisch Gewebeproben zur Unterbrechung von Regelkreisen mit Hormonausfall kom-
aus den Hemisphären, dem Hirnstamm, sogar aus dem Rü- men (7 Hypophysenadenome, Kap. 11). Klinisch ist eine Unter-
146 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

scheidung zwischen hypophysärer und hypothalamischer

Punktmutationen, große Duplikationen die das ganze Gen


Störung oft schwer möglich. Die Diagnostik der hypothala-
misch-hypophysären Achse wird gemeinsam mit endokrino-

Deletionen in ca 60% der Patienten, Punktmutationen


logischen Kollegen durchgeführt.

Punktmutationen, Deletionen, splice Mutationen


Punktmutationen, Deletionen, splice Mutationen
Hormonbasisdiagnostik
3 Diese sollte bei Verdacht schon vom Neurologen veranlasst
werden. Sie umfasst die Bestimmung der Schilddrüsenhor-
mone T3, T4 und TSH, von Prolaktin und des Kortison-Tages-

Reduzierte Anzahl D4Z4 repeats


profils. Darüber hinausgehende Untersuchungen richten sich

vor allem Punktmutationen


nach dem vermuteten Ausfall oder der vermuteten Überpro-

GAG-Deletion in Exon 5
Trinucleotid-expansion
duktion der Hormone. In diesen Fällen können Untersu-
chungen des Wachstumshormons, von ACTH, den Gonado-

Punktmutationen
Punktmutationen

Punktmutationen
Punktmutationen
tropinen (LH und FSH), Sexualhormonen (Progesteron, Ös-

Mutationstyp
tradiol, Testosteron), ADH und viele andere, zum Teil nach

umfassen
spezifischer Stimulation, durchgeführt werden.
Prolaktin ist nach einem Grand Mal deutlich erhöht. Die
Prolaktinbestimmung im Serum kann also helfen, wenn man
sich nicht sicher ist, ob ein Patient einen großen epileptischen

geschlechtsgebunden
geschlechtsgebunden
Anfall erlitten hat.

3.6.3 Neuronale Marker

dominant
dominant
dominant
dominant

dominant

dominant
dominant

dominant
dominant

dominant
Erbgang
Neuronenspezifische Enolase (NSE)
Die NSE ist ein Enzym, das beim Untergang von Neuronen
freigesetzt wird. Die Aktivität der NSE im Serum ist mit dem
Ausmaß des Neuronenuntergangs korreliert. Es ist sinnvoll, Se-
rumspiegel der NSE bei Patienten abzunehmen, bei denen der
Verdacht auf eine schwere hypoxische Hirnschädigung oder

nicht kodierende DNA-Sequenz


eine andere gravierende Hirnschädigung besteht. Speziell bei Notch homolog 3 (Drosophila)
hypoxischer Hirnschädigung sind NSE-Werte, die etwa 12–36 h
Superoxid Dismutase 1

GTP Cyclohydrolase 1
nach Eintritt der Hirnschädigung abgenommen worden sind,
Amyloid beta Peptid
kodiertes Protein

prognostisch verwertbar. Wiederholt sehr hohe Werte (>30 ng/l)


bei bewusstlosen Patienten sprechen für eine schlechte Prog-
. Tabelle 3.2. Bekannte Gene wichtiger neurologischer Erkrankungen (Auswahl)

Presenilin 2
Presenilin 1

Dystrophin

nose. Zur Labordiagnostik bei Demenzen 7 Kap. 25.1.


Huntingtin

Lamin A/C
TorsinA

Emerin
Antineuronale Antikörper
Antineuronale Antikörper sind von besonderem Interesse
beim Verdacht auf paraneoplastische Krankheiten und sind
NOTCH3

daher in 7 Kap. 13 besprochen.


PSEN2
PSEN1

LMNA
GCH1
SOD1

DYT1

FRG1
DMD

EMD
Gen

APP

HD

Andere Antikörper
Antikörper gegen Acetylcholinrezeptoren werden bei Verdacht
Chr

auf Myasthenie (7 Kap. 34) untersucht. Heute ist die Bestim-


14
21

21
14

19

X
X

4
1
1

mung der Antikörper nach der Bungarotoxinantikörper-Me-


thode üblich. Immer wieder einmal findet man auch gleichzeitig
Fazioskapulohumarale Muskelathrophie

Antikörper gegen Skelettmuskulatur und Schilddrüsengewebe.


Muskeldystrophie Duchenne/Becker

Weitere Antikörper sind bei den immunvermittelten En-


Emery Dreifuss Muskeldystrophy

zephalitiden besprochen.
Amyotrophe Lateralsklerose

DOPA responsive Dystonie


Primäre Torsionsdystonie

Tumormarker
Alzheimer Erkrankung

Diese sind im 7 Kap. 11 (. Tabelle 11.2) besprochen.


Chorea Huntington

3.7 Molekulargenetische Methoden


CADASIL

In immer rascherer Folge werden die genetischen Grundlagen


neurologischer Krankheiten identifiziert (. Tabelle 3.2). In der
familiäre hemiplegische Migräne 19 CACNA1A Alpha-Untereinheit des spannungsab- dominant Punktmutationen
hängigen Calciumkanals Typ P/Q
1 ATP1A2 ATPase, Na+/K+ transporting, alpha 2 dominant Punktmutationen
(+) polypeptide
Friedreich Ataxie 9 FXN Frataxin rezessiv Trinucleotid-expansion, selten Punktmutationen
Gliedergürtelmuskeldystrophie 2 DYSF Dysferlin rezessiv vor allem Punktmutationen und kleine Deletionen
3 CAV3 Caveolin 3 dominant oder rezessiv Punktmutationen
9 FKTN Fukutin rezessiv Punktmutationen
3.7 · Molekulargenetische Methoden

frontotemporale Demenz 17 MAPT Microtubule-associated dominant Punktmutationen, splice Mutationen


Protein Tau
17 GRN Granulin dominant vor allem Deletionen, Punktmutationen, und splice
Mutationen
Parkinson Erkrankung 6 PARK2 Parkin rezessiv Deletionen, Duplikationen,
Punktmutationen
1 PINK1 PTEN-induced Kinase 1 rezessiv Punktmutationen
12 LRRK2 Leucine-rich repeat Kinase-2 dominant Punktmutationen
Spinocerebelläre Ataxien, u.A.:
SCA1 6 ATXN1 Ataxin 1 dominant trinucleotid-expansion
SCA2 12 ATXN2 Ataxin 2 dominant trinucleotid-expansion
SCA3 (Machado-Joseph Erkrankung) 14 ATXN3 Ataxin 3 dominant trinucleotid-expansion
SCA7 3 ATXN7 Ataxin 7 dominant trinucleotid-expansion
Myotone Muskeldystrophie 19 DMPK1 Dystrophia myotonica-Protein Kinase dominant trinucleotid-expansion
Proximale Myotone Myopathie 3 CNBP CCHC-type zinc finger, nucleic acid bin- dominant tetranucleotid-expansion
ding Protein
HMSN IA (Charcot-Marie-Tooth Erkran- 17 PMP22 peripheral myelin protein 22 dominant Punktmutationen, große Duplikationen die das ganze Gen
kung) umfassen
HMSN III (Dejerine-Sottas Syndrom) 17 PMP22 peripheral myelin protein 22 dominant oder rezessiv Punktmutationen
Myoklone Epilepsie 2 SCN1A Alpha-Untereinheit des spannungsab- dominant vor allem Punktmutationen und kleine Deletionen
hängigen Natriumkanals Typ I
detaillierte und kontinuierlich ergänzte Zusammenstellung im Internet bei
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/sites/GeneTests/?db=GeneTests
147

http://www.orpha.net/consor/cgi-bin/index.php
3
148 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

Facharzt
Molekularbiologische Methoden in der Diagnostik
Polymerasekettenreaktion (PCR). Das gesuchte DNA- Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (FISH). Hybridisierung
Fragment wird durch eine DNA-Polymerase und sog. Primer von großen DNA-Sonden an komplementäre DNA-Sequenzen
amplifiziert, die Anfang und Ende des zu amplifizierenden in ganzen Zellen (Meta- oder Interphase). Dadurch können
DNA-Stücks definieren. Nach elektrophoretischer Auftren- große DNA-Sequenzen durch an Fluoreszin gekoppelte Anti-
3 nung werden die DNA-Fragmente durch Färbung sichtbar körper lichtmikroskopisch sichtbar gemacht werden. Die Me-
gemacht. thode findet Anwendung bei großen Genen mit heterogenem
Mutationsspektrum, z.B. Muskeldystrophie vom Typ Duchenne
Southern-Hybridisierung. Die DNA wird zunächst mir oder beim Nachweis von Chromosomenaberrationen. In Zu-
Restriktionsenzymen zerschnitten, und die resultierenden kunft wird der Nachweis der Genprodukte, auch über immun-
Restriktionsfragmente werden elektrophoretisch aufge- zytochemische Verfahren (z.B. Dystrophin), an Bedeutung
trennt. Markierte DNA-Sonden binden an komplementäre zunehmen
DNA-Abschnitte und werden durch Autoradiographie sicht-
bar gemacht.

klinischen Diagnostik wird der direkte vom indirekten Gen- Molekulargenetische Untersuchung der DNA
nachweis unterschieden. Ist das Gen bekannt, ist eine direkte Diese ist zu einem wichtigen Bestandteil der Diagnostik gewor-
DNA-Diagnostik auch bei einzelnen Erkrankten möglich. Bei den. Als Quelle der DNA werden Leukozyten und lymphoblas-
bekannter Lokalisation des mutierten Gens, aber unbekanntem toide Zelllinien aus Vollblut (Heparin oder EDTA) oder Fibro-
molekularen Defekt, ist nur ein indirekter Nachweis möglich. blastenkulturen aus Hautbiopsien verwendet. Nach Isolierung
Dabei macht man sich die gemeinsame Vererbung des mutier- und nach Amplifizierung spezifischer Sequenzbereiche in einer
ten Gens mit benachbarten bekannten Genmarkern (darunter Polymerasekettenreaktion (PCR) kommen verschiedene Ver-
Restriktionslängenpolymorphismen und Triplet-Wiederho- fahren zur Identifizierung von Mutationen zur Anwendung:
lungen zunutze. Der so definierte Genotyp wird erkrankten 4 Längenbestimmung des PCR-Produkts durch Gelelektro-
und gesunden Familienmitgliedern zugeordnet (Linkage). phorese für den Nachweis von kleinen Deletionen oder zur
Damit ist die indirekte Diagnostik nur in Familien mit bereits Abschätzung der Anzahl von Trinukleotid-Repeats,
sicher Betroffenen und nicht bei einzelnen Erkrankten an- 4 Sequenzierung des PCR-Produkts für den Nachweis von
wendbar. Punktmutationen.

In Kürze

Liquordiagnostik

Liquorpunktion (LP). Entnahme des Liquors aus Subarach- zwischen neurogener und myogener Muskelatrophie, neuro-
noidalraum unter sterilen Bedingungen im Sitzen oder Lie- gener Parese, Inaktivitätsatrophie, mechanischer Behinde-
gen bei max. Rückenkrümmung. Punktionsstelle: Im Schnitt rung, psychogener Lähmung, schmerzreflektorischer Ruhig-
der Wirbelsäule zwischen oberen Rand der Beckenschaufeln. stellung.
Liquordruckmessung (in »Millimeter Wassersäule«, mm H2O) Untersuchung des Muskels: Muskel wird mehrfach sondiert
mittels Steigrohr beim entspannt liegenden Patienten. Un- und nach Kriterien beurteilt (Ruheaktivität, max. Willküraktivi-
tersuchung des Liquors: Zahl und Art der Liquorzellen, tät, eindrucksgemäße Beschreibung der Potenziale einer mo-
Eiweißgehalt, Liquorzucker, Eiweißsubgruppen, intrathekale torischen Einheit bei geringer Willküraktivität).
Immunglobulinproduktion, Erregerdiagnostik. Postpunktio- Veränderung der Muskelaktivität: Pathologische Spontan-
nelles Liquorunterdrucksyndrom: Nach 1–2 Tagen heftige aktivität: Fibrillationen, positive scharfe Wellen, myotone
Kopfschmerzen, Übelkeit, Ohrensausen und Ohnmachtsnei- Entladung, Faszikulationen; Neurogene Läsion: Zerstörung
gung bedingt durch Liquorverlust durch den Stichkanal. motorischer Einheiten verursacht Lichtung des Aktivitätsmus-
Therapie: Infusion von Elektrolytlösung, einfache Analgeti- ters, degenerierte Muskelfasern reagieren überempfindlich
ka, Antiemetika, Bettruhe. auf Acetylcholin, spontane Entladungen; Myopathische
Läsion: Diffuse Muskelfaserzerstörung bei max. dichtem
Neurophysiologische Methoden Aktivitätsmuster; Pathologisches Aktivitätsmuster bei max.
Willküraktivität: Muskelkrankheiten, Periphere Nervenkrank-
Elektromyographie (EMG). Untersuchung der elektrischen heiten.
Aktivität der Muskulatur. Indikationen: Differenzierung
6
3.7 · Molekulargenetische Methoden
149 3

Elektroneurographie (ENG). Objektivierung und Lokalisie- Spinal-CT: Darstellung lateraler und mediolateraler lumbaler
rung verschiedener Störungen der Nervenleitung (motorisch Bandscheibenvorfälle.
und/oder sensibel).
Untersuchung: Supramaximale Stimulierung des Nervs an Magnetresonanztomographie (MRT). Darstellung von
mehreren Stellen, motorische Antwort wird im distalen Weichteilkontrasten. Magnetresonanzangiographie (MRA):
Muskel mit Oberflächenelektroden abgeleitet. Räumliche Darstellung der extra- und intrakraniellen hirnver-
sorgenden Arterien.
Reflexuntersuchungen.
Orbicularis-oculi-Reflex (Blinkreflex): Zur Diagnostik von Nuklearmedizinische Untersuchungen.
Läsionen des N. facialis, bei Hirnstammläsionen, im Koma Emissions-Computertomographie (ECT): Rechnergestützte,
und bei elektrophysiologischer Diagnostik der MS. schichtweise Abbildung der Radioaktivitätsverteilung in Or-
Masseterreflex: Ergänzende Untersuchung bei peripheren ganen nach Injektion von radioaktiven Tracern. Diagnostik von
oder zentralen Trigeminusläsionen. Tumoren, extrapyramidal-motorischen Krankheiten und Multi-
Kieferöffnungsreflex: Bei Verdacht auf Hirnstammläsionen. systematrophien.
H-Reflex und F-Welle: Bei Diagnose von entzündlichen,
proximalen Nervenläsionen. Kontrastuntersuchungen.
Ventrikulographie: Überprüfung der Durchgängigkeit von
Transkranielle Magnetstimulation (TKMS). Schmerzlose Aquädukt und Foraminae Luschkae und Magendii, Shunt-
Messung der Leitfähigkeit im Tractus corticospinali, im peri- kontrolle in der Neurochirurgie.
pheren Nerven und in bestimmten motorischen Hirnnerven Digitale Subtraktionsangiographie (DSA): Röntgendarstel-
u.a. bei MS, amyotrophischer Lateralsklerose und psycho- lung des zerebralen Gefäßsystems für Diagnostik von Hirn-
genen Lähmungen. tumoren oder -blutungen, Gefäßmissbildungen, Sinusthrom-
bose.
Evozierte Potenziale (EP). Myelographie: Feststellung eines raumfordernden spinalen
Visuell evozierte Potenziale (VEP): Diagnostik der MS, Prozesses.
vaskulärer und degenerativer Läsionen der Sehnerven und
Sehbahnen. Ultraschalluntersuchungen
Somatosensibel evozierte Potenziale (SEP): MS-Diagnos-
tik, bei unklaren Sensibilitäts- und psychogenen Gefühls- Extrakranielle Dopplersonographie (ECD). Erkennen patho-
störungen. logische Strömungsgeschwindigkeiten und -richtungen in
Frühe akustische Hirnstammpotenziale (FAHP): Diagnos- periorbitalen Arterien und an Halsgefäßen.
tik entzündlicher, vaskulärer, traumatischer und neoplasti-
scher Hirnstammläsionen. Transkranielle Dopplersonographie (TCD). Nachweis intra-
kranieller Gefäßstenosen, Untersuchung auf Vasospasmen
Elektroenzephalographie (EEG). Registrierung der bioelekt- nach Subarachnoidalblutung, Bestimmung des zerebralen
rischen Aktivität des Gehirns, v.a. für Diagnostik der Epilepsie, Kreislaufstillstandes.
diffuser Hirnschädigungen und in Differentialdiagnose.
Extrakranielle Duplexsonographie. Beurteilung der hirnver-
Elektronystagmographie. Elektrische Registrierung der sorgenden Gefäße.
Augenbewegungen des spontanen und des durch Provoka-
tion ausgelösten Nystagmus. Ultraschallkontrastmittel. Führen zu einer um den Faktor
1000 höheren Rückstreuung des Ultraschalls und damit zur
Neuroradiologische Untersuchungen Verbesserung des Signal-Rausch-Verhältnisses und der Bilder.

Konventionelle Röntgenaufnahmen. In der Neurologie Funktionelle Untersuchung. U.a. Untersuchung der zentralen
kaum noch von Bedeutung. Vasomotorenreserve bei hochgradigen extrakraniellen Steno-
sen nach CO2-Atmung, Detektion von Mikroemboliesignalen.
Computertomographie (CT). Anatomisch genaue Darstel-
lung intrakranieller Strukturen (graue und weiße Substanz Biopsien
des Hirngewebes, Liquorräume, Plexus chorioideus, Hirn- Muskelbiopsie. Differenzierung zwischen neurogener und
ödem). myogener bzw. myositischer Schädigung der Muskulatur und
Spiral-CT: Volumenaufnahmeverfahren durch spiralig aufge- semiquantitative Darstellung genetischer, metabolischer und
richtete Röntgenstrahlung. immunologischer Störungsmuster.
CT-Angiographie: Darstellung extra- und intrakranieller
Gefäße.
6
150 Kapitel 3 · Apparative und laborchemische Diagnostik

Nervenbiopsie. Ausschließlich Biopsie des rein sensiblen Molekulargenetische Methoden der DNA
N. suralis lateralis. Bei entzündlichen Erkrankungen des
Nervensystems im Rahmen von Kollagenosen. Direkter und indirekter Gennachweis durch Leukozyten und
lymphoblastoide Zelllinien aus Vollblut oder Fibroblastenkul-
Hirnbiopsie und Biopsie der Meningen. Bei unklarem turen aus Hautbiopsien.
3 Hirntumor und Veränderung im Gehirn.

Spezielle Laboruntersuchungen
Laktat- und Ischämietest, Hypothalmisch-hypophysäre
Hormondiagnostik, neuronale Marker.
4

4 Genetische und molekulare


Grundlagen der Entstehung
neurologischer Krankheiten
4.1 Genetik neurologischer Krankheiten – 152
4.1.1 Monogenetische Störungen – 153
4.1.2 Dysfunktionelle Proteine und Kanäle – 153
4.1.3 Ionenkanäle und Kanalkrankheiten – 155
4.1.4 Störungen der Atmungskette und des Zellmetabolismus – 155
4.1.5 Myelin und Störungen der Myelinisierung – 156

4.2 Signalwege und ihre Störungen – 157


4.2.1 Transmitter und Synapsen – 158
4.2.2 Rezeptoren – 159
4.2.3 Neurotrophe Faktoren und andere Signalwege – 159

4.3 Bluthirnschranke – 159


4.3.1 Die neurovaskuläre Einheit – 159

4.4 Stammzellen – 161

4.5 Zelltod – 162


4.5.1 Zellnekrose – 162
4.5.2 Apoptose – 162

4.6 Immunologische Störungen – 163


152 Kapitel 4 · Genetische und molekulare Grundlagen der Entstehung neurologischer Krankheiten

> > Einleitung Die Hoffnung, dass mehr Grundlagenforschung auch immer
schneller in therapeutische Optionen umgesetzt werden könnte,
Einige der häufigsten und medizinökonomisch teuersten Krank- hat sich allerdings nicht erfüllt. Die Kluft zwischen neuer Er-
heiten des Menschen betreffen das Gehirn und das Nervensys- kenntnis und therapeutischer Anwendung wächst sogar. Weder
tem (Stichworte sind Schlaganfall, Demenzen und Parkinson, die massiv geförderte Stammzellforschung noch die Gentherapie
Epilepsien und Kopfschmerzen). Damit gehören sie, wenn sie haben in der klinischen Neurologie bislang Erfolge gezeigt. Pikant
organisch bedingt sind, in das Gebiet der Neurologie. Aufgrund ist, dass bei der Diskussion über die Stammzellforschung immer
der bekannten Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung neurologische Krankheiten als Beispiele für mögliche Therapien
und der wachsenden Lebenserwartung gilt die Neurologie bei genant werden (Alzheimer, Parkinson, Multiple Sklerose, Epi-
4 Gesundheitspolitikern und den Kostenträgern als einer der weni- lepsien). Hiervon sind wir allerdings noch sehr weit entfernt, und
gen Bereiche der Medizin, in der trotz Bevölkerungsrückgang mit es wäre weitaus ehrlicher, wenn dies auch zugegeben würde.
einer Ausweitung der stationären und ambulanten Versorgungs- Trotzdem, in der Neurologie hat sich vieles getan, was pa-
kapazitäten zu rechnen ist. Das Spektrum neurologischer Krank- thophysiologisches Verständnis, Diagnostik und neue Thera-
heiten ist breit und ihre Ursachen sind vielfältig. Dies ist nicht pien angeht; und oft dort, wo man es nicht erwartet hatte, und
überraschend, wenn man bedenkt, dass wir es alleine im Gehirn manchmal folgte sogar die Grundlagenforschung der klini-
mit einem System von vielen Milliarden neuronalen Zellen – viel schen Entwicklung, zum Beispiel in der Thrombolyse des
entscheidender aber noch vieler Billionen synaptischer Verbin- Schlaganfalls oder in der Aufdeckung der Regelmechanismen
dungen, die die Zellen über dendritische und axonale Verbin- der Basalganglien nach Einführung von L-Dopa, gewisserma-
dungen verknüpfen – zu tun haben. Glauben Sie nicht die plaka- ßen »Translation« in die andere Richtung.
tiven pseudo-präzisen Aussagen, die über 50–150 Milliarden In diesem Kapitel sollen einige naturwissenschaftliche
Neuronen, zigmillionen Kilometern von Faserverbindungen, Grundlagen für die Erstellung neurologischer Krankheiten be-
fußballfeldgroßen Endotheloberflächen und 1012-16 Synapsen sprochen werden.
räsonieren. Niemand hat das je gezählt (wenn jemand dies ver-
suchen wollte, säße er in einigen Jahrhunderten noch daran).
Alle Angaben sind Approximationen und Hochrechnungen, die 4.1 Genetik neurologischer Krankheiten
suggerieren sollen, wie viel man vom Gehirn schon versteht. Das
Gegenteil ist der Fall. Das System Gehirn und Rückenmark ist so Das genetische Material ist Träger von Information. Die gene-
komplex, dass schon die bescheidenen Fortschritte der Wissen- tische Information ist in Einheiten (Genen) strukturiert, welche
schaft beachtlich erscheinen. Man schätzt, dass zwischen 30 die Kodierung für Proteine enthalten. Der Informationsfluss in
und 50% des kodierenden menschlichen Genoms sich auf das jeder Zelle verläuft nur in einer Richtung: von den Genen zu
Nervensystem bezieht. Das ganze Gehirn ist durch den knöcher- den Proteinen. Eine spezifische genetische Veränderung ist nie
nen Schädel, die Hirnhäute und schützende Wasserkomparti- die Folge, sondern immer Ursache einer Erkrankung.
mente vor traumatischen und dazu noch durch die Bluthirn- Die Genetik ist nicht nur für das Verständnis seltener
schranke funktionell vor vielen systemischen Einflüssen beson- neurologischer Erbkrankheiten wichtig, sondern auch für die
ders geschützt. Selbst für das menschliche Immunsystem – dem Analyse von Volkskrankheiten (Schlaganfall, Alzheimersche
einzigen System, das in seiner Komplexität an das Nervensystem Demenz, Multiple Sklerose), bei denen erbliche Faktoren ne-
heranreicht – ist die Bluthirnschranke ein beachtliches Hindernis, ben den modifizierbaren Risikofaktoren ebenfalls eine Rolle
dafür übernimmt aber das Gehirn selbst mit residenten Immun- spielen können.
zellen spezielle und ungewöhnliche Aufgaben. Dabei ist das Aufgrund der Komplexität des Genoms gibt es viele stö-
Gehirn das am besten durchblutete Organ, mit einem auf Redun- rungsanfällige Bereiche (und Abläufe), und die krankmachen-
danz und Ausweichmöglichkeiten programmierten Gefäßsystem den Mechanismen sind sehr breit gefächert. In manchen Fällen
und einer primären Luxusperfusion, die in körperlicher Ruhe bis liegen genetisch determinierte Fehlfunktionen vor, aber nur
zu einem Drittel des Herzminutenvolumens erhält. relativ selten sind es eindeutige monogenetische Kausalitäten.
Bei diesen sind z.B. durch Mutationen einzelne Elemente ge-
Vorbereitung stört, durch die es zu unverwechselbaren Phänotypen kommt.
Nur das Verständnis der zu Grunde liegenden Pathophysiologie Beispiele sind die Duchennesche Muskeldystrophie oder die
macht es möglich, gezielte und ätiologisch stimmige Therapien Huntingtonsche Chorea. Typisch für diese monogenetischen
zu entwickeln. Es wird die meisten Leser verwundern, dass die Erkrankungen ist ihr familiäres Auftreten mit dominanten,
»kausalen Therapien« erst in den letzten Jahrzehnten auf breiter rezessiven oder geschlechtsgebundenen Erbgang.
Front entwickelt worden sind (übrigens nicht nur in der Neuro- Viel häufiger sind polygenetische Muster und genetische
logie). Auch ist verblüffend, dass wir erst jetzt die Wirkmecha- Präpositionen, die das Auftreten von Krankheiten erleichtern,
nismen mancher, schon lange bekannter, wirksamer Medika- aber nicht kausal hierfür verantwortlich sein müssen. Beispiele
mente verstehen. Wie kaum ein anderes Fach hat die Neurologie hierfür sind die Multiple Sklerose und der Schlaganfall. Diese
von den Fortschritten in der (bildgebenden) Diagnostik und im Erkrankungen treten meistens nicht familiär auf, aber Ver-
molekularen Verständnis der Krankheitsentstehung profitiert. wandten von Betroffenen können ein leicht erhöhtes Risiko
Hierdurch ist auch ihr Wandel von dem kontemplativen diag- tragen, das nur statistisch nachweisbar ist.
nostischen in ein therapeutisch hochaktives Fach als Teil der Manchmal helfen seltene familiäre, und damit genetisch
modernen interventionellen Medizin zu verstehen. klar determinierte Varianten häufiger Krankheiten die Patho-
4.1 · Genetik neurologischer Krankheiten
153 4
physiologie besser zu verstehen, so bei der ALS und bei ande- Pathologische Proteine
ren degenerativen Krankheiten (wie z. B. Alzheimer Demenz Dies ist ein Klassiker unter den genetischen Krankheiten. Ein
oder Parkinson-Syndrom). Dennoch sind die ungleich häu- Gen, das für ein bestimmtes Protein kodiert, mutiert und das
figeren sporadischen Formen viel komplexer und auch unvor- Genprodukt ist ein mehr oder weniger funktionsuntüchtiges
hersehbarer als die selteneren familiären Varianten. Alles in Protein.
allem gibt es sehr viele genetisch determinierte neurologische Das Ausmaß der Dysfunktion erstreckt sich über ein weites
Funktionsstörungen, von denen die monogenetischen Varian- Spektrum zwischen leichter Funktionseinbuße über schwere
ten eher seltene Krankheiten sind, während die polygenetisch Dysfunktion bis zur Letalmutation.
mitbestimmten Krankheiten zum Teil zu den häufigsten Er- Die pathologischen Proteine werden oft nach der Krank-
krankungen überhaupt gehören. heit, in deren Pathogenese sie eingebunden sind, bezeichnet,
z.B. Huntingtin, Ataxin, Dystrophin. Die dazu gehörenden
Gene oft ebenfalls entsprechend abgekürzt (z.B. SCA1-Gen für
4.1.1 Monogenetische Störungen spino-zerebelläre Ataxie 1).
Die progressive Muskeldystrophie entsteht aufgrund einer
Manche Mutationen sind letal, d.h. die Mutation betrifft ein so veränderten Bildung des Proteins Dystrophin. Sie kann als
wichtiges System, dass der Wegfall eines Protein, die Fehlfunk- Beispiel für die Bandbreite der Beeinträchtigungen dienen:
tion eines Ionenkanals oder das Fehlen eines Signalweges in Sie reichen von den geringen, oft im Alltag nicht merkli-
der Embryonalentwicklung nicht überlebt werden kann. An- chen Funktionseinbußen bei Konduktorinnen über die deut-
dere Mutationen sind mit dem Leben vereinbar, bringen aller- liche Behinderung mit geringer Einschränkung der Lebens-
dings massive Störungen in einem oder mehreren Systemen erwartung bei der rezessiven Form der Beckerschen Mus-
mit sich, die die Funktion des Organismus massiv beeinträch- keldystrophie bis zu der schwersten Behinderung bei der Du-
tigen und die Lebenserwartung erheblich einschränken kön- chenneschen dominanten Muskeldystrophie.
nen. Manchmal gehen diese so weit, dass der Tod durch die In allen Fällen wird vom Dystrophin-Gen ein funktionsge-
Krankheit selbst oder ihre Komplikationen schon im Kindes- störtes Protein der Muskelfasermembran, das Dystrophin, ko-
oder Jugendalter eintritt. diert. Das »gesunde« Dystrophin verbindet intrazellulär Aktin
In genetisch veränderten Mäusen konnten die Effekte vie- und β-Dystroglykan, das über die Muskelmembran mit dem
ler Mutationen experimentell untersucht werden. Hierdurch extrazellulären α-Dystroglykan in Verbindung steht (Dystro-
hat man viel über die Funktionen der Systeme und den Einfluss phin-Glykoproteinkomplex) und stabilisiert so die Muskel-
von Punktmutationen oder Deletionen gelernt. Leider fehlt membran. Liegt das veränderte, pathologische Protein vor, so
meist noch der nächste Schritt, nämlich die therapeutische führt dies zur Ruptur des Sarkolemms und zu fortschreiten-
Nutzung dieses Verständnisses. Gentherapien für neurolo- dem Muskelverlust.
gische Krankheiten stehen noch immer ganz am Anfang.
Störungen der Proteinfaltung und pathologische
Proteinaggregation
4.1.2 Dysfunktionelle Proteine und Kanäle Dass Störungen der Proteinfaltung und pathologische Protein-
aggregation eine Rolle in der Entstehung neurologischer Krank-
Die meisten Gene kodieren für Proteine, die als Strukturpro- heiten spielen können (. Abb. 4.1), ist schon seit der Beschrei-
teine in Membranen, Organellen und Organen, Rezeptoren, bung der Neuropathologie der Alzheimerkrankheit bekannt.
Kanälen, Signalmoleküle oder Transmitter benötigt werden. Senile Plaques, das sind Akkumulationen von Amyloid, und
Die meisten Gene kodieren nicht für strukturelle Elemente die Alzheimer’schen Fibrillen waren schon in den Zeichnungen
der Zelle, sondern für Enzyme, das Instrumentarium, mit dem des Erstbeschreibers zu sehen und galten in bestimmter Ver-
die Zelle sich konstruiert. teilung als pathognomonisch. Es blieb aber für Generationen
Die Mutationen können Veränderungen in einem einzel- – und bis heute – unklar, ob dies eine kausale oder begleitende
nen Basenpaar des Gens sein (Punktmutationen) oder durch Pathologie ist. Inzwischen weiß man, dass bei familiären
größere Strukturveränderungen im Chromosom verursacht Alzheimer-Fällen Mutationen zur vermehrten Bildung eines
werden (z. B. Deletionen). Eine besondere Klasse von Mutati- β-Amyloid führt, das 42 anstelle von 40 Aminosäuren und
onen bilden die sogenannte »Triplet-Repeat-Vermehrungen«, dadurch eine größere Neigung zur Bildung pathologischer Ag-
die vor allem durch einige neurologischen Erkrankungen gregate hat. Weil man annimmt, dass diese Aggregate neuro-
bekannt wurden. Sie nehmen über die Zahl der abnormen toxisch sind und den neurodegenerativen Prozess der Alz-
Repeats auch Einfluss auf Erkrankungsalter, (mit jeder Gene- heimer’schen Krankheit begründen, hat man Impfungen gegen
ration mehr Repeats, mehr Repeats desto früherer Krankheits- das mutierte β-Amyloid getestet. In einer Alzheimer-Mausmu-
beginn (Antizipation)), die Erkrankungsgeschwindigkeit und tante gelang es dann auch, durch Impfung die Bildung der
-ausprägung. Sie führen, wenn sie im kodierenden Bereich Amyloidplaques nahezu vollständig zu verhindern – der neu-
liegen, zur Produktion pathologischer Proteine, die zur Aggre- rodegenerative Prozess aber blieb unverändert bestehen. Imp-
gation (Beispiel Huntingtin) neigen. Andere Trinukleotid-Ex- fungen gegen pathologische Proteine werden auch beim Men-
pansions-Mutationen liegen nicht im kodierenden Bereich schen getestet, haben aber in ersten klinischen Versuchen nicht
und führen – wie bei Patienten mit fragilem X-Syndrom – zu die erhofften Ergebnisse gezeigt – im Gegenteil, bei Alzheimer-
einer Inaktivierung des betreffenden Gentranskripts. Impfstudien kam es zu dramatischen Nebenwirkungen.
154 Kapitel 4 · Genetische und molekulare Grundlagen der Entstehung neurologischer Krankheiten

. Abb. 4.1. Proteinstrukturen

Im Übrigen finden sich Alzheimer-Plaques in geringerer 4 Chorea Huntington (vermehrte Produktion von patholo-
Menge auch bei gesunden alten Menschen und es mehren gischen Huntingtin, das in intrazellulären Einschlüssen aggre-
sich die Anzeichen, das vaskuläre Risikofaktoren und chro- giert).
nische Durchblutungsstörungen eine wichtige Rolle für
Zeitpunkt und Ausprägung der Demenz vom Alzheimertyp Auch unter physiologischen Bedingungen kommt es immer wie-
haben. der zur Aggregation von Proteinen, allerdings sind die Proteo-
Weitere Mutationen, die pathologische Proteinaggrega- somen in der Zelle in der Lage, diese Aggregate wieder abzu-
tionen verursachen, finden sich bei bauen. Gelingt dies nicht drohen Zellschäden, die zur Apoptose
4 familiären Parkinsonsyndromen (alpha-Synuklein, Parkin führen können. Die Korrelation zwischen Ausmaß der Aggregate
und Ubiqitin), und neuronalem Tod oder Ausmaß der klinischen Symptome ist
4 sporadischen Parkinsonsyndromen (Lewy-Körperchen, nicht sehr hoch, wie schon bei den Amyloidplaques erwähnt.
eosinophile cytoplasmatische Einschlüsse von alpha-Synuclein
und Neurofilamenten, die sich auch bei der Lewy-body-De- Prionproteine
menz finden), Eine besondere Rolle kommt der Proteinfaltung und Akkumu-
4 bei frontotemporalen Demenzen (neurofibrilläre Tangles lation bei Prionkrankheiten zu. Physiologisch kommen zellu-
aus pathologisch gespaltenem tau-Protein), läre Prionproteine (cPP) im Hirngewebe vor, wo sie für die
4 ALS (intrazelluläre Aggregation von Superdismutase-Mo- Neurogenese und die endogene Bekämpfung freier Radikale
lekülen) und wichtig sein sollen (. Abb. 4.2). Auch hier hat das Studium sel-
4.1 · Genetik neurologischer Krankheiten
155 4
Kanäle sind Teile der Zellmembranen und werden durch
transmembrane Proteine, die sich aus 4-5 Kanalunterheiten
zusammensetzen, gebildet. In diesen Kanaluntereinheiten lie-
gen die Angriffspunkte für die Störungen der Kanäle durch
Mutationen in den für die Untereinheiten kodierenden Genen.
Immer mehr solche Störungen werden bekannt, die für
bestimmte, eher seltene neurologische Krankheiten (soge-
nannte Kanalkrankheiten) verantwortlich sind. Sowohl das
ZNS als auch die Muskulatur können betroffen sein.
Zu den Kanalopathien zählen
4 die familiäre hemiplegische Migräne,
4 die episodischen Ataxien,
4 einige idiopathische Epilepsien,
4 die dyskaliämischen Lähmungen und
4 einige Formen der Myotonien.
. Abb. 4.2. Normales und pathologisches Prion Protein beim Rind.
Es darf damit gerechnet werden, dass noch weitere, bislang
Im normalen Prion Protein finden sich ausgedehnte korkenzieherar-
tige Alpha-Helices (links). Diese werden in abgeflachte Beta-Gruppen
ätiologisch ungeklärte neurologische Störungen als Kanal-
konvertiert, die das krankmachende Prion Protein repräsentieren krankheiten identifiziert werden, vielleicht auch Punktmutati-
(rechts). Modifiziert nach Wille et al, 2002 onen in »sub-unit«-kodierenden Genen, die für die Empfind-
lichkeit mancher Menschen eine Migräne, posttraumatische
tener, erblicher Prionkrankheiten (familiäre Jakob-Creutzfeld Epilepsien oder auch Vasospasmen oder kardiale Arrhythmien
Krankheit) das Wissen um Proteinfaltung weit vorangebracht. zu bekommen, verantwortlich sein können.
Der Prozess ist so bemerkenswert, das man den Begriff der infek- Auch bei den hereditären Epilepsien sind Mutationen in
tiösen Proteine eingeführt hat. Prionproteine kommen in einer den Genen, die für Untereinheiten der Natrium- und Kalium-
bestimmten Faltungsstruktur physiologisch vor. Physiologische kanäle kodieren entdeckt worden. Diese veränderten Unter-
(d.h. normale oder apathogene) Prionen (PrPC) haben zu 43% einheiten sind für die erhöhte Erregbarkeit durch veränderte
die Struktur von α-Helices. Die pathogenen Formen (PrPSc) Steuerung der Kanäle verantwortlich, was letztendlich zu einer
jedoch bestehen nur zu 30 % aus α-Helices, zu 43 % bestehen sie repetetiven, synchronisierten überschüssigen Entladung der
aus β-Faltblatt-Strukturen. Beide unterscheiden sich aber nicht Neurone und damit zum epileptischen Anfall führt.
in ihrer Aminosäurensequenz und somit gibt es auch keine Mu- Die Störungen bei den Kanalkrankheiten sind nicht immer
tation auf dem kodierenden Gen. Wenn nun ein pathologisch dauerhaft vorhanden, sondern sie treten in den meisten Krank-
gefaltetes Protein (mehr β-Faltblatt-Strukturen) hinzukommt, heiten episodisch auf. Was letztendlich darüber entscheidet,
induziert dieses auf bislang unbekannte Weise die Umstruktu- wann die jeweilige »Episode« pathologischer Aktivität entsteht,
rierung des gesunden Proteins in die pathologische Faltung. ist in den meisten Fällen unklar. Auch die Bindung der dyska-
Wie in einem Dominoeffekt nehmen immer mehr Prionpro- liämischen episodischen Lähmungen an den Glukosestoff-
teine die pathologische Quartärstruktur an und akkumulieren. wechsel ist nicht kausal verstanden.
Pathogene Prionen gelangen exogen durch kontaminierte Nah- Es gibt auch nicht-genetisch determinierte Störungen der
rung in den Körper (z.B. bei BSE, Kuru), endogen entstehen sie Kanalfunktion, z. B. beim antikörpervermittelten paraneoplas-
entweder genetisch, z.B. bei der familiären Variante der Creutz- tischen Stiff-Person-Syndrom. Nebenbei ist dies ein Beispiel
feldt-Jakob-Krankheit, wenn das PRNP-Gen, das für PrPC ko- dafür, dass es viele biologische Prozesse gibt, die sowohl durch
diert, mutiert oder spontan bei der sporadischen Creutzfeldt- genetische Veränderungen (Mutationen) als auch durch Um-
Jakob-Krankheit, wenn sich PrPC-Moleküle zufällig in PrPSc welteinflüsse gestört sein können. Die Einsicht, dass das Zusam-
umfalten und so den Dominoeffekt auslösen. menspiel von Veranlagung und Umweltfaktoren das regelrechte
Funktionieren unseres Nervensystems erst möglich machen,
widerspricht der noch immer gängigen Art, zu Quantifizierung,
4.1.3 Ionenkanäle und Kanalkrankheiten wie groß der Einfluss der Genetik auf bestimmte Merkmale sei
(etwa: Intelligenz sei zur 70% erblich) – ein falsche, aber für
Für die Funktion des Nervensystems und der Muskulatur ist die manche attraktive Interpretation der Vererbung.
Aufrechterhaltung des Ruhepotentials der Nervenzellen und
die Möglichkeit, auf Reize mit Aktionspotentialen zu reagieren,
entscheidend. Dies geschieht, wie wir aus der Neurophysiologie 4.1.4 Störungen der Atmungskette
wissen, über Ionenströme, die über Ionenkanäle geleitet wer- und des Zellmetabolismus
den. Die meisten Kanäle sind auf den Transport bestimmter
Ionen spezialisiert. Die Steuerung dieser Kanäle ist komplex. Ohne eine ausreichende Durchblutung und Versorgung mit
Manche werden durch die Membranspannung (»voltage ga- Sauerstoff, Glukose und Aminosäuren kann das Nervensys-
ted«), andere durch Transmittersubstanzen (»ligand-gated«), tem nicht funktionieren. Die Energiegewinnung folgt Regeln,
Neurotrophine oder intrazelluläre Signalwege aktiviert. wie sie auch für andere Organsysteme gelten, allerdings mit
156 Kapitel 4 · Genetische und molekulare Grundlagen der Entstehung neurologischer Krankheiten

. Abb. 4.3. Atmungskette

gewissen Varianten. Der Energiestoffwechsels in den neuro- 4.1.5 Myelin und Störungen der Myelinisierung
nalen und glialen Zellen läuft über die Atmungskette und ihren
nacheinander stattfindenden biochemischen Redoxreaktionen. Myelin umgibt Axone in einer vielschichtigen Umhüllung und
Wichtig ist allerdings, dass die Nervenzellen fast ausschließlich ermöglicht damit die schnelle Erregungsausbreitung über
Glukose und in bescheidenem Umfang Laktat, nicht aber Ami- langstreckige Neuriten, bei denen die Erregung über das iso-
nosäuren oder Fette verstoffwechseln können. Die Elektronen- lierende Myelin von Schnürring zu Schnürring »springt«. Das
transportkette ist in der Membran des Mitochondriums loka- Myelin wird von Zellen um die Axone gewickelt, im Zentral-
lisiert (. Abb. 4.3). Da die Atmungskettenkomplexe aus zahl- nervensystem von Oligodendrozyten und im peripheren
reichen Untereinheiten zusammengesetzt sind, für die zum Nervensystem von Schwann-Zellen. Je dicker die Wicklung
Teil mitochondriale (rein maternale), zum Teil aber auch nuk- und damit die Markscheide, desto schneller ist die Erregungs-
leäre DNA kodiert, sind sowohl x-chromosomale oder autoso- leitung (. Abb. 4.4a und b).
mal-rezessive aber auch rein maternale Erbgänge möglich. Eine ganze Reihe von genetisch bedingten Störungen be-
Störungen der Atmungskette kommen bei genetisch bedingten treffen die Myelinisierung. Es gibt Mutationen von Genen für
Mitochondriopathien vor und führen zu charakteristischen Schlüsselproteine des Myelins wie basisches Myelinprotein
neurologischen Syndromen, die durch metabolische Auffällig- oder für Bestandteile des peripheren Myelins, das sich che-
keiten und durch strukturelle Veränderungen des Gehirns und misch vom zentralnervösen unterscheidet. Mutationen kön-
der Muskulatur gekennzeichnet sind. nen genetische Krankheiten der Myelinisierung des peripheren
Die Mitochondrien haben die hauptsächliche Funktion, Nerven (hereditäre Neuropathien, z.B. Charcot Marie Tooth)
durch Fettsäureverbrennung, Abbau von Acetyl-CoA sowie oxi- und der Myelinisierung des ZNS (Leukodystrophien) betreffen.
dative Phosphorylierung in der Atmungskette energiereiches Myelin ist mit einer Reihe seiner Bestandteile (basisches
ATP für die Zellen zur Verfügung zu stellen. Sind sie aufgrund Myelinprotein, myelin- oligodendrozytäres Glykoprotein bei
von fehlenden oder veränderten Strukturproteinen der Fettsäu- MS und Myelin-Ganglioside) antigen und Ziel für autoimmu-
reoxidation, des Citratzyklus oder der Atmungskette dysfunkti- nologische (s.u.) Krankheiten sowohl im zentralen wie peri-
onell, hat dies aufgrund einer mangelhaften Verfügbarkeit von pheren Nervensystem (MS, Guillain-Barre-Syndrom und an-
Energie Auswirkungen auf den gesamten Stoffwechsel der Zelle, dere immunologische Neuropathien, z.B. GM1 bei multifoka-
da alle energieverbrauchenden Schritte gebremst werden. ler motorischer Neuropathie). Schließlich kann Myelin auch
Störungen können die Pyruvat-Oxidation als zentrales exogen toxisch (Diabetes, Alkohol, ionisierende Strahlen) ge-
Element der Glukose-Verbrennung, den Citratzyklus, At- schädigt werden und direkt in infektiöse Prozesse einbezogen
mungskette und den Fettstoffwechsel (nur in der Muskulatur) sein (Lepra, PML).
betreffen. Das Spektrum der mitochondrialen Krankheiten
wird in den entsprechenden Kapiteln zu den Mitochondriopa-
thien und der metabolischen Muskelkrankheiten besprochen.
4.2 · Signalwege und ihre Störung
157 4

a b

c d
. Abb. 4.4. Leitung im myelinisierten Axon. a myelisiertes Axon messer. d Schema einer markhaltigen Nervenfaser (Faser relativ zur
(a=Axon, SZ=Schwann-Zelle, MS= Myelinscheide) b Myelisierung des Länge 20mal zu dick). Na fließt bei Erregung nur an den Schnürringen
Axons (A) durch Umwicklung mit Schwannzell (SC-)Membranen. Der ein, die Depolarisation pflanzt sich elektrisch zwischen den Schnür-
Bereich des Schnürrings (N) ist ebenfalls durch eine komplex gestalte- ringen fort. Fast die ganze Leitungszeit wird an den kurzen Schnür-
te Schwannzelle fast bedeckt. c Leitungsgeschwindigkeit einer mark- ringen verbraucht
haltigen und einer marklosen Faser in Abhängigkeit vom Faserdurch-

4.2 Signalwege und ihre Störungen 4 die direkte elektrische Übertragung über Gap-junctions,
die ebenfalls zur Öffnung von Kanälen und Poren führt, über
Die Funktion des Nervensystems, der Sinnesorgane und der die Metaboliten und Ionen direkt von einer Zelle in die andere
Muskulatur ist nur möglich über ein extrem komplexes und passieren können und
vielschichtiges System von Signalwegen. Das Basiselement 4 über Zytokine und Wachstumsfaktoren, die die Ausdiffe-
dieser Signalwege sind die elementaren intrazellulären Steuer- renzierung und Migration von Progenitorzellen und ganzer
vorgänge von Gentranskription zur Proteinsynthese, die sich Zellensemble ermöglichen oder aber Wachstum und Prolifera-
prinzipiell nicht von den Vorgängen anderer somatischer tion verhindern können.
Zellen unterscheiden (vergleiche auch endogene Apoptose).
Daneben gibt es hochspezifische intrazelluläre Signalkaskaden Gap-junctions dienen der Signalübertragung zwischen glialen
in Neuronen, die im Wesentlichen zur Verarbeitung und Wei- Zellen. Sie helfen bei der Entfernung von Exitotoxinen (Gluta-
terleitung ankommender externer Reize dienen. Die multiplen mat, Kalzium) aus dem Extrazellulärraum, die unter patholo-
Interaktionen zwischen den Zellen, sei es von Neuron zu Neu- gischen Bedingungen zu sich langsam ausbreitenden Wellen
ron, von Neuron mit Gliazelle, Endothel mit Gliazellen und von Depolarisationen führen (spreading depression) und für
zwischen glialen Strukturen sind für das Nervensystem charak- den epileptischen »march of convulsion« oder die Migräne mit
teristisch. Aura verantwortlich zu sein scheinen.
Diese Interaktion kann auf viele Arten entstehen:
4 Die klassische synaptische Übertragung, bei der elektrische
Impulse in chemische (Transmitter-)Signale umgewandelt
werden und postsynaptisch zur Öffnung von Ionenkanälen
oder intrazellulären Signalen führt,
158 Kapitel 4 · Genetische und molekulare Grundlagen der Entstehung neurologischer Krankheiten

. Abb. 4.5. Schematischer Aufbau einer Synapse


mit Beschreibung der einzelnen Komponenten in
den prä- und postsynaptischen Bereichen

4.2.1 Transmitter und Synapsen ronen auf den Muskel (Störung: Myasthenie), im ZNS im ba-
salen cholinergen System (Mangel findet sich beim der Alz-
Dies ist der dominierende und am besten verstandene Signal- heimerkrankheit), im vegetativen Nervensystem präganglio-
weg im Nervensystem und von Nerv zu Muskel. Neurotrans- när und im parasympathischen Nervensystem postganglionär
mitter werden in der präsynaptischen Region gebildet und sowie in striatalen Interneuronen.
in Vesikeln gespeichert. Beim Eintreffen eines elektrischen 4 Noradrenalin: Aktivierende noradrenerge Synapsen sind
Signals werden die Vesikel zum synaptischen Spalt bewegt, er- im limbischen System und vom Locus coeruleus ausgehend
öffnet und die Transmittersubstanzen in den schmalen sub- (Mangel führt zu Depression oder Angststörungen) sowie post-
synaptischen Spalt entlassen. Dort binden sie an die adäquaten ganglionär im sympathischen vegetativen System zu finden.
Rezeptoren der postsynaptischen Membran. Durch dieses 4 Serotonin: Auch das serotoninerge System ist aktivierend.
Andocken kommt es zu einer Konformitätsänderung der Re- Ein wichtiger Schaltkreis betrifft die ausgedehnten Projek-
zeptoren, die eine Reihe von intrazellulären und transmem- tionen von den Raphekernen zum Großhirn, deren Stö-
branösen Prozessen auslösen kann, auf die noch später einge- rung ebenfalls zu Depressionen führt. Andere Projektions-
gangen wird (. Abb. 4.5). wege sind in der Migräne und auch bei der Schmerzleitung
Die Transmittersubstanzen unterliegen nach dem Ando- betroffen.
cken an die Rezeptoren ebenfalls einer Transformationsände- 4 Dopamin: Das aktivierende dopaminerge System ist im
rung, durch die sie von den Rezeptoren gelöst werden und nigrostriatalen Schaltkreis bei der Steuerung der Motorik
aktiv in die präsynaptische Struktur wieder aufgenommen (Ausfall: führt zu Parkinson) und im limbischen System (Be-
werden können. Andere Wege der Elimination der Transmitter lohnungssystem) aktiv.
sind spezifische Inaktivierungsprozesse oder die einfache Weg- 4 Glutamat: Diese stark exzitatorische Transmittersubstanz
diffusion aus dem synaptischen Spalt. ist im ZNS weit verbreitet und physiologisch im Pyramiden-
Die verschiedenen klassischen Transmitter können exzita- bahnsystem aktiv. Sie wird von vielen Neuronen bei Schädi-
torisch und inhibitorisch wirken, d.h., dass in einem Fall die gung freigesetzt und ist damit zentraler Teil der pathologischen
Aktivierung des Rezeptors zu einer Erregung des Neurons, Exzitotoxizität.
während im anderen Fall diese Aktivierung zur Inhibition der 4 Glycin: Dies ist die wesentliche inhibitorische Transmit-
Zelle führt. Inhibitionsvorgänge sind im Nervensystem beson- tersubstanz im Rückenmark. Verminderte Glycinpräsenz führt
ders wichtig, ein Versagen oder schon eine Schwächung der zu Syndromen erhöhter spinaler Erregbarkeit wie Spastizität,
inhibitorischen Funktionen führt zu Syndromen erhöhter Er- spinalen Myoklonien und Hyperekplexie.
regbarkeit wie der Epilepsien, Spastik, Hyperekplexie oder 4 GABA: Dies ist der wichtigste inhibitorische Transmitter
Stiff-Person-Syndromen. im Gehirn. Er findet sich speziell in Interneuronen und be-
Klassische Neurotransmitter und ihre wesentlichen Funk- grenzt die Erregungsausbreitung. Ihr Fehlen erleichtert die
tionssysteme sind: Ausbreitung epileptischer Aktivität oder der unkontrollierten
4 Acetylcholin: Die cholinergen aktivierenden Synapsen Muskelaktivität beim Tetanus (fehlende Freisetzung aus den
finden sich bei der synaptischen Übertragung von Motoneu- Renshawzellen).
4.3 · Bluthirnschranke
159 4
Der Prozess der synaptischen Übertragung kann an vielen Stel- der neuronalen Differenzierung und der Synaptogenese über
len gestört werden und dadurch zu neurologischen Syndro- diesen Mechanismus zu verstehen.
men führen.
4 Verminderte Bereitstellung der Transmittersubstanz:
Dies kommt bei Synthesestörung (z.B. GABA-Synthesestörung 4.2.3 Neurotrophe Faktoren
durch Antikörper gegen die Glutaminsäuredecarboxylase und andere Signalwege
beim Stiff-Person-Syndrom) oder bei primärer Degeneration
der transmitterproduzierenden dopaminergen Zellen in der Außer den klassischen Transmittersubstanzen können auch
Substantia nigra und verminderter Funktion des nigro-stria- eine Reihe von Cytokinen und Neuropeptiden die neuronale
talen Pfades liegt (M. Parkinson) vor. Ähnliches gilt für den Aktivität modulieren. Diese Substanzen werden vom Zellso-
selektiven Zelluntergang der cholinergen basalen Frontal- ma, zum Teil auch von Gliazellen oder Immunzellen sekretiert.
hirnzellen bei der Alzheimerschen Krankheit. Die Nigrazellen Dies ist eine mehr unspezifische Aktivierung, die von der
können auch direkt toxisch geschädigt werden (MPTP-Parkin- reinen Zell-zu-Zell-Aktivierung abweicht. Auch retrograde
sonoid). Signalwege, die von postsynaptisch nach präsynaptisch modi-
4 Störung der Ausschüttung der Transmittersubstanz: fizierende Signale senden, existieren. Einfache Moleküle wie
Beim Lambert-Eaton-Syndrom treten Antikörper gegen prä- NO oder CO können diesen Signalweg benutzen.
synaptische Ca2+-Kanäle auf, die die Freisetzung von Acetyl- Neurotrophine sind komplex agierende Moleküle, die mul-
cholin behindern. Beim Botulismus wird die Freisetzung durch tiple Funktionen haben. Neben ihrer Rolle in der Steuerung
das Botulinumtoxin gehemmt. von Zellwachstum, Differenzierung von neuronalen Stamm-
4 Störungen der Kopplung des Transmitters an den Re- zellen, sichern sie das Überleben von Neuronen, wirken anti-
zeptor: Dies kann zum Beispiel durch gegen den Rezeptor ge- apoptotisch, und sind zum Teil als Neuromodulatoren aktiv
richteten Antikörpern geschehen. Diese Situation findet sich und möglicherweise auch in Lernen und Gedächtnis invol-
paradigmatisch bei den Acetylcholin-Rezeptor-Antikörpern viert. Klassische Neurotrophine sind der nerve growth factor
bei der Myasthenia gravis. Strychnin verhindert das Andocken NGF, der glial derived growth factor GDGF und der brain deri-
von Glycin an spinale Rezeptoren, die einen Chloridkanal ved neurotrophic factor BDNF. Aber auch systemische Cytokine
steuern, und führt dadurch zu den Krämpfen bei der Strych- wie der granulozyte colony stimulating factor G-CSF, Interleu-
ninvergiftung. Aber auch genetisch bedingte Störungen in der kin-6, oder Fibroblasten-Wachstumsfaktoren haben neurotro-
Konfiguration des Rezeptors kommen vor (cholinerg: konna- phe Wirkungen im ZNS. Sie werden bei primär neurodegene-
tale Myasthenie; glycinerg: Hyperekplexie). rativen Krankheiten wie ALS oder Parkinson und beim Schlag-
4 Störung des Abbau der Transmitters: Dies findet man bei anfall, sowohl akut als auch in der Rehabilitation in klinischen
iatrogener Überdosierung von Cholinesterasehemmstoffen, Studien getestet.
der sogenannten cholinergen Krise.

4.3 Bluthirnschranke
4.2.2 Rezeptoren
Die Bluthirnschranke (BHS) isoliert das Nervensystem partiell
Kommen wir zurück zu der Stelle, an der der Transmitter mit von der Umgebung. Sie ist für kleine Moleküle durchlässig,
dem Rezeptor koppelt und die Konformationsänderung des schirmt aber große Moleküle und Immunzellen wirksam ab.
Rezeptors stattfindet (. Abb. 4.6a, b). Diese Aktivierung kann Die Durchlässigkeit für einzelne Moleküle hängt von deren
zwei Reaktionen in der Empfängerzelle hervorrufen: Molekulargewicht und ihrer Lipophilie ab. Viele Substanzen
Einmal kommt es zur Öffnung von Ionenkanälen mit der kommen unter physiologischen Bedingungen gar nicht passiv
Folge eines veränderten Einstroms von Ionen in die Zelle. Dies über die BHS, andere nur zu einem geringen Teil. Das physio-
ist ein sehr schneller Vorgang, der sofort zu einer Änderung logische Verhältnis der Serum- und Liquorkonzentration von
der Spannungscharakteristik der Zelle führt. Die Ionenkanäle Albumin (das im ZNS nicht synthetisiert werden kann, also
bestehen jeweils aus mehreren Subeinheiten, deren Struktur komplett aus dem Serum stammt) kann als Maß der Intaktheit
und Funktion durch Mutationen verändert werden können. der BHS herangezogen werden.
Der andere Effekt der Rezeptorerregung führt zu einer In- Glukose und Aminosäuren gelangen über spezielle Trans-
teraktion mit Membran- und Transmembranmolekülen, die porter über die BHS. Astrozytenausläufer treten in engen Kon-
hierdurch ebenfalls eine Konformationsänderung erfahren takt mit dem Endothel kleiner Arterien und erlauben so den
(. Abb. 4.6c), mit intra- oder extrazellulären Molekülen kop- Transport von Glukose, Sauerstoff und anderen kleinen Mole-
peln und hierdurch Enzyme, Proteasen und Kinasen sowie die külen.
Gentranscription aktivieren.
Paradigmatisch kann die cholinerge, an die G-Protein-ver-
mittelte Aktivierung und Steuerung von enzymatischen Kas- 4.3.1 Die neurovaskuläre Einheit
kaden gelten (. Abb. 4.6d). Ein weiteres Beispiel ist bei der
exogenen Apoptose gegeben, die später besprochen wird. Die- Die Funktion der Neurone, aber auch der glialen Zellen, ist
se Prozesse spielen eine wesentliche Rolle beim Denken, Ler- enger mit den versorgenden Gefäßen verknüpft, als man frü-
nen, Gedächtnis und Adaption. Vermutlich sind auch Aspekte her angenommen hat. Die enge Verbindung zwischen Ge-
160 Kapitel 4 · Genetische und molekulare Grundlagen der Entstehung neurologischer Krankheiten

a b

. Abb. 4.6. a Nicotinerger cholinerger Rezeptor. Er besteht aus Acetylcholinrezeptors (n-ACH-R) α2,β, γ, δ. Beim adulten Säuger ist die
5 Untereinheiten und ist ein Ionenkanal mit zentralem Nicotinrezeptor. γ-Untereinheit dagegen durch eine funktionell leicht unterschiedliche
b Nicotionrezeptor in dreidimensionaler molekularer Darstellung ε-Untereinheit ersetzt: α2,β, ε, δ. Die katalytische Aktivität der kataly-
mit verschiedenen Untereinheiten in Top- und Frontansicht. c Typen tischen Rezeptoren liegt auf der zytoplasmatischen Domäne. Sie wird
membranständiger Rezeptoren und ihrer Membrantopographie. durch Bindung des Liganden aktiviert. Je nach Rezeptor kann es sich
Beim Zitterrochen und beim Säugetierembryo beträgt die Zusam- um eine Tyrosinkinase, Tyrosinphosphatase oder eine Guanylylzyklase
mensetzung der Untereinheiten des peripheren nikotinischen handeln
4.4 · Stammzellen
161 4

d
. Abb. 4.6. d Der Rezeptor ist ein β-adrenergischer Rezeptor, der mit Adenylzyklase wirkt. Nach Stimulation produziert die Adenylzyklase
einem G-Protein gekoppelt ist, das stimulierend auf den Effektor, die CAMP aus ATP.

fäßendothel, Gliazelle und Neuron wird durch die zum Teil Experimentell können neurale Progenitorzellen vom hu-
direkten Interaktionen zwischen den Komponenten und der manem fetalen ZNS-Gewebe (hier setzt auch die Diskussion
Bereitstellung von Sauerstoff, Aminosäuren und Glukose cha- um die ethischen Probleme der fetalen Stammzellen an) und
rakterisiert. Auch das extrazelluläre Milieu, das einen direkten auch von adultem Ependym entwickelt und differenziert wer-
Einfluss auf die Empfindlichkeit und die Reaktionsmöglichkeit den. Diese können nach Transplantation in Mäuse dort über-
der Neurone hat, wird durch diese Einheit definiert. Störungen leben und sich in funktionelle Netzwerke integrieren.
der Durchblutung und des Sauerstoffgehalts, Veränderungen Schon vor der Stammzelleuphorie gab es Versuche, degene-
des Endothels und seiner Funktion, Veränderungen in den rative Hirnkrankheiten, speziell den M. Parkinson mit Hilfe der
Gap-junctions und metabolische systemische Störungen sind Transplantation fetaler Substantia nigra-Zellen, oder auch die
verantwortlich für viele Funktionsstörungen des ZNS, z.B. der Chorea, zu behandeln. Der Erfolg war zweifelhaft. Allerdings
chronischen Ischämie, die degenerative Erkrankungen akzele- konnte man zeigen, das ein Teil der transplantierten Zellen tat-
rieren kann, oder metabolische Enzephalopathien. Anderer- sächlich überlebte. Bei allen kritische Anmerkungen über die
seits ermöglicht die enge Interaktion zwischen Gefäßen und oft inadäquat positiven Berichte über die Erfolge der Stamm-
Neuronen, dass die Durchblutung an die neuronale Aktivität zelltherapie (die in Anbetracht der immensen Ressourcen, die
angepasst werden kann. Bei der funktionellen Kernspintomo- dafür bereitgestellt werden, eher bescheiden sind – und das gilt
graphie wird die Durchblutung als Maß für die neuronale Ak- auch für Länder, die einen lockereren Umgang mit fetalen
tivität dargestellt. Stammzellen erlauben, hieran liegt es also nicht), lässt die Tat-
sache hoffen, dass nun auch dem Nervensystem des Erwachse-
nen die Zellneogenese zugetraut wird, so dass in fernerer Zu-
4.4 Stammzellen kunft manches von dem, was heute schon vollmundig ver-
sprochen wird, erreichbar sein könnte. Dies setzt aber auch eine
Erst vor wenigen Jahren hat man im ZNS neurale Progeni- realistische Einschätzung der Möglichkeiten und einen ethisch
torzellen entdeckt, die in der Lage sind, in bescheidenem Um- einwandfreien Umgang mit den Informationen voraus. Das,
fang sich in verschiedene neuronale Zellen zu differenzieren, was heute teilweise an inakzeptablen und unehrlichen Sensa-
Axone und Synapsen auszubilden und über gewisse Distanzen
im ZNS entlang vorgegebener Passagen zu migrieren. Beson-
ders in der subependymalen Zone entlang der Ventrikelwände,
im Hippocampus und im Riechepithel sind diese Stammzellen
zu finden, die unter Einfluss von Neurotrophinen und Wachs-
tumsfaktoren zu Nervenzellen auswachsen können (. Abb.
4.7). In Anbetracht der immensen Menge neuronaler Zellen ist
die Neogenese von Nervenzellen unter physiologischen Bedin-
gungen selbst unter dem Aspekt der Plastizität zu vernachläs-
sigen, sieht man von der Hypothese ab, dass im Hippocampus
generierte neue Neurone in der Gedächtnisspeicherung eine
Rolle spielen könnte.
Dennoch findet dieses Konzept großes Interesse in der
Grundlagenforschung und man versucht die Signalwege zu
erkunden, mit deren Hilfe die Zellen zu dem gewünschten
Zelltyp differenzieren und an den gewünschten Ort gebracht . Abb. 4.7. Neuronale Stammzellen (Ratte). Die subendymalen
werden können. Bislang ist die Migrationskapazität dieser Zel- Stammzellen treten in der Spezialfärbung (schwarz) bilateral-symmet-
len beim Menschen noch sehr bescheiden. risch hervor. SVZ = subventrikuläre Zone
162 Kapitel 4 · Genetische und molekulare Grundlagen der Entstehung neurologischer Krankheiten

tionsmittelungen in die Presse gelangt, ist der Sache Stammzell- lExitotoxität


therapie eher abträglich. Ich erwarte allerdings weniger, dass Die Exitotoxität beschreibt eine Kaskade von extra- und intra-
sich neu entstehende Neurone in geschädigten Bereichen an- zellulären Prozessen, die durch vermehrte extrazelluläre Kon-
siedeln und funktionell erfolgreich »verkabeln«, sondern eher, zentrationen an exzitatorischen Neurotransmittern initiiert
dass es gelingen kann, defiziente Transmitter, andere Stoff- wird. Eine zentrale Rolle spielt in der Entstehung der post-
wechselprodukte oder therapeutische Moleküle auf diesem Weg ischämischen Exzitotoxizität (diese ist am besten in Tiermo-
in das ZNS zu bringen. Wenn es gelingen könnte, über die dellen des Schlaganfalls erforscht) der NMDA-Rezeptor. Durch
geeigneten Neurotrophine und Signalpfade eine bessere Migra- seine Stimulation kommt es zu übermäßigem Einstrom von
tionsfähigkeit der endogenen Stammzellen zu erreichen, dann Kalziumionen in die Zellen und die Mitochondrien. Dies führt
4 könnte der Traum einer von innen heraus möglichen Reparatur zu einer Störung des Zellstoffwechsels mit Bildung toxischer
untergegangener Gehirnabschnitte gelingen. Dies gilt übrigens freier Radikale, verstärkter proteolytischer Aktivität und
nicht nur für neuronale Zellen, auch die Möglichkeit über die Störung der Proteinsynthese über eine radikal-vermittelte
Differenzierung in Oligodendrozyten letztendlich eine Remye- DNS-Schädigung. Die komplexen Interaktionen sind in mehr
linisierung zu erzielen, scheint vorstellbar. oder weniger übersichtlichen Schaubildern den meisten
Biochemielehrbüchern zu entnehmen. Experimentell lassen
sich die Folgen der Ischämie durch NMDA-Rezeptor-Antago-
4.5 Zelltod nisten minimieren. Leider sind entsprechende Substanzen aber
in klinischen Studien wegen ihrer Toxizität gescheitert. Eine
4.5.1 Zellnekrose zentrale Rolle spielt die NO-Synthetase, die für die Generation
freier Radikale verantwortlich ist. Tierexperimentell haben
Fokale oder globale Hypoxie und Hypoglykämie sind die Mäuse, die für NO-Synthase oder die Ribopolymerase defizi-
stärksten und am schnellsten wirksamen exogenen Noxen, die ent sind, eine höhere Toleranz für Ischämie.
zur Nekrose von Neuronen und ganzen Hirnarealen führen.
Globale Hypoxie tritt beim Herz-Kreislauf-Stillstand, fokale
Ischämie beim Schlaganfall und globale Hypoglykämie beim 4.5.2 Apoptose
hypoglykämen Schock auf.
Auf zellulärer Ebene wird die Zellnekrose durch eine ver- Dieser Begriff wird zur Beschreibung des programmierten
mehrte Erregung der ohnehin schon durch Hypoxie vulnera- Zelltodes benutzt. Man spricht auch von Suizidprogrammen,
bel gewordenen Zellen initiiert, ein Vorgang, der als Exitotoxi- die in jeder Zelle vorprogrammiert sind und durch geeignete
zität bezeichnet wird. Signale angeregt werden können. Progammierter Zelltod setzt

. Abb. 4.8. Zelluläre Vorgänge bei Apoptose und Nekrose


4.6 · Immunologische Störungen
163 4
schon in der Embryonalentwicklung ein, wenn überzählige Zytoplasma freigesetzt und Transkriptionsfaktoren aktiviert.
oder fehlgesteuerte Neurone über Signalpfade zum Zelltod Auch hier steht die Caspase-Kaskade am Ende der Aktivie-
gesteuert werden (. Abb. 4.8). Bis zum Erreichen endgültigen rung.
Verschaltung von Hirnarealen und Nervenzellen werden die Gegenwärtig wird die Apoptose bei der Krebsentstehung
meisten aller gebildeten Neurone noch in der Embryonalperio- und bei Autoimmunerkrankungen erforscht. Ein Ziel der
de wieder eliminiert. Bei der Abwehr von Infektionen können Krebsforschung ist es, kontrollierte Apoptose bei entarteten
Signale der immunologische Zellen das Programm starten. Zellen auszulösen. Andererseits können Gliomzellen über ein
Auch bei massiven Schädigungen des Genoms und in der endo- Oberflächenprotein, den Fas-Liganden, Apoptose auslösen.
genen Bekämpfung von Tumorentwicklung spielen Apoptose-
signale eine wichtige Rolle.
Offensichtlich spielen apoptotische Mechanismen bei vie- 4.6 Immunologische Störungen
len degenerativen neurologischen Krankheiten eine Rolle, z.B.
bei Morbus Alzheimer, Chorea Huntington, Morbus Parkin- Das Nervensystem gilt als immunologisch privilegiert: Die
son oder ALS, offen bleibt aber, ob dies kausal oder ein Epiphe- Abschirmung gegen zirkulierende Antikörper erfolgt durch
nomen ist. In all diesen Beispielen findet man DNA-Fragmen- die Bluthirnschranke (s.u.), Mikroglia existiert als residentes
tisierung und andere Charakteristika der Apoptose. Bei der Abwehrsystem mit Liganden, die Apoptose in eingewanderten
Werdnig-Hoffmann’schen infantilen spinalen Muskelatrophie Immunzellen, die einen speziellen fas-Rezeptor tragen, indu-
ist der Beweis einer kausalen Verknüpfung bereits geführt: zieren können und auch regulatorische Cytokine, die eine
Hier finden sich Mutationen in mehreren Genen die für Apop- weitere immunsupressive Komponente darstellen, tragen hier-
tosemechanismen kodieren. zu bei.
Bei dem apoptotischen Zelluntergang werden proteoly- Auf der anderen Seite kennen wir eine Vielzahl von neu-
tische Aktivitäten in der Zelle selbst angestoßen und die DNA roimmunologischen Krankheiten, die durch eine autochtone
wird fragmentiert, die Zelle schrumpft und geht ohne eine Immunreaktion gekennzeichnet sind (z.B. die Multiple Sklero-
inflammatorische Komponente unter. Die Mitochondrien se oder die Neuroborreliose).
spielen bei der Initiierung der Apoptose eine wichtige Rolle. Speziell bei der Multiplen Sklerose gibt es eine Vielzahl von
Sie produzieren u.a. den Apoptose initiierenden Faktor AIF. hochkomplexen immunologischen Reaktionen, die bei Unter-
Apoptose kann auch durch exzitotoxische Signale angeregt formen und im Krankheitsverlauf differieren. Die massiven
werden, obwohl exzitotoxische Signale eher Nekrosen aus- sekundären Immunantworten bei der MS oder anderen Ent-
lösen. Ein Energiemangel liegt, im Gegensatz zur Nekrose, zündungen sind die Folge einer initial außerhalb des Nerven-
nicht vor. Oft ist es eine Zelle im Verbund, die dem Suizidpro- systems entstehenden Immunantwort, bei der autoimmune
gramm unterliegt, während alle anderen Zellen unbeeinflusst T-Zellen (seltener auch B-Zellen) aktiviert werden. Diese Zel-
weiterleben. len können danach die Gefäßwand durchdringen, an die Blut-
Dies unterscheidet die Apoptose von der Nekrose, bei der hirnschranke andocken und sie überwinden. Danach werden
die Zellen über vermehrte Wassereinlagerung anschwellen, sie durch Autoantigene reaktiviert und produzieren Zytokine,
ihre Zellmembran zerstört wird, ein lokaler Entzündungspro- wie Interferone und Interleukine, Proteasen, TNF und Kom-
zesse entsteht und immer viele benachbarte Zellen gemeinsam plement, die letztendlich zu einer Myelinzerstörung beitragen.
untergehen. Schließlich kommt es zur autochtonen Produktion von Auto-
antikörpern vom IgG- und IgM-Typ, die ebenfalls zur De-
3Steuerung der Apoptose myelinisierung und auch zur sekundären Degeneration der
Man unterscheidet die exogen initiierte und die endogene betroffenen Neurone führt.
Apoptose. Bei der exogenen Auslösung binden Zytokine wie Dagegen sind die peripher neurologischen Syndrome (z.B.
Tumornekrosefaktor an Rezeptoren, die eine »death domain« die Myasthenia gravis, die Polymyositis, das Guillain-Barré-
besitzen und durch deren Aktivierung und Konfigurations- Syndrom, die Polymyositis und viele paraneoplastische Syn-
änderung eine komplexe Sequenz von Schritten initiiert wird, drome) häufiger durch zirkulierende Antikörper ausgelöst.
die letztlich die Caspase-Kaskade triggert, in der Caspasen 8 Während die intakte BHS des Gehirns und des Rückenmarks
und 9 mit einem aktivierenden Feedbackmechanismus eine für zirkulierende Antikörper kaum überwindbar ist, sind die
zentrale Rolle spielen. Bedingungen im peripheren Nervensystem schon ab den Spi-
Bei der endogenen Apoptose werden durch verschiedene nalwurzeln anders. Die Blut-Nervenscheide ist weniger dicht
Signale Cytochrom C oder andere pro-apoptotischen Boten- und präsentierende Antigene können von zirkulierenden Au-
stoffe aus dem mitochondrialen Intermembranraum in das toantikörpern direkt angegriffen werden.
II Vaskuläre Krankheiten
des zentralen
Nervensystems
5 Zerebrale Durchblutungsstörungen:
Ischämische Infarkte – 167

6 Spontane intrazerebrale Blutungen – 227

7 Hirnvenen- und -sinusthrombosen – 239

8 Gefäßfehlbildungen – 249

9 Intrakranielle arterielle Aneurysmen


und Subarachnoidalblutungen – 261

10 Spinale vaskuläre Syndrome – 279


5

5 Zerebrale Durchblutungsstörungen:
Ischämische Infarkte
5.1 Anatomie und Pathophysiologie der Gefäßversorgung des Gehirns – 170
5.1.1 Anatomie – 170
5.1.2 Pathophysiologie der Ischämie: Energiegewinnung und Durchblutung – 170

5.2 Epidemiologie und Risikofaktoren – 175


5.2.1 Epidemiologie – 175
5.2.2 Risikofaktoren – 177

5.3 Ätiologie und Pathogenese ischämischer Infarkte – 179


5.3.1 Arteriosklerose und Stenosen der hirnversorgenden Arterien – 179
5.3.2 Lokale arterielle Thrombosen – 181
5.3.3 Embolien – 181
5.3.4 Intrazerebrale Arteriolosklerose (Mikroangiopathie) – 181
5.3.5 Dissektionen – 182

5.4 Einteilung der zerebralen Ischämien – 182


5.4.1 Einteilung nach Schweregrad und zeitlichem Verlauf – 182
5.4.2 Einteilung nach der Infarktmorphologie – 183

5.5 Klinik und Gefäßsyndrome – 185


5.5.1 Zerebrale Ischämien in der vorderen Zirkulation – 185
5.5.2 Ischämien in der hinteren Zirkulation – 188
5.5.3 Klinische Besonderheiten bei Dissektionen – 190
5.5.4 Lakunäre Infarkte – 191
5.5.5 Multiinfarktsyndrome – 191
5.5.6 Vaskulitische Infarkte – 191

5.6 Apparative Diagnostik – 191


5.6.1 Computertomographie (CT) – 192
5.6.2 Magnetresonanztomographie (MRT) – 194
5.6.3 Ultraschall – 197
5.6.4 Angiographie – 200
5.6.5 Kardiologische Diagnostik – 201
5.6.6 Labordiagnostik – 203
5.6.7 Biopsien – 203

5.7 Therapie – 204


5.7.1 Schlaganfall als Notfall – 204
5.7.2 Allgemeine Therapie – 204
5.7.3 Perfusionsverbessernde Therapie (Thrombolyse) – 206
5.7.4 Spezielle intensivmedizinische Maßnahmen – 208
5.7.5 Logopädie, Krankengymnastik und Rehabilitation – 210

5.8 Prävention – 212


5.8.1 Primärprävention – 212
5.8.2 Sekundärprävention – 213
5.9 Seltene Schlaganfallursachen und ihre Therapie – 218
5.9.1 Vaskulitische Infarkte – 218
5.9.2 Fettembolie – 221
5.9.3 Luftembolie – 221
5.9.4 Septisch-embolische Herdenzephalitis – 222
5.9.5 Moya-Moya-Syndrom – 223
5.9.6 CADASIL (zerebrale autosomal dominante Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten
und Leukenzephalopathie) – 223
5.9.7 Migräne-assozierter Schlaganfall – 223
5.9.8 Hypertensive Krise – 223
5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte
169 5
> > Einleitung Von den Überlebenden wird nur etwa ein Drittel so gut wie-
derhergestellt, dass sie ohne Einschränkungen wie vor dem
Der Schlaganfall ist eine der häufigsten und volkswirtschaftlich Schlaganfall leben können. Ein weiteres Drittel wird zwar wie-
eine der teuersten Krankheiten. Schlaganfälle sind heute in vielen der so weit selbständig, dass einfache tägliche Dinge verrichtet
Ländern häufiger als Herzinfarkte. Dennoch ist der Kenntnisstand werden können, die Patienten sind aber durch Lähmungen
über den Schlaganfall viel geringer ausgeprägt als für andere, oder andere Symptome behindert, nicht mehr berufsfähig und
zum Teil deutlich seltenere Krankheiten. Entsprechend beschei- müssen im täglichen Leben viele Einschränkungen akzep-
den ist auch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und seine tieren. Das letzte Drittel der überlebenden Patienten bleibt
Präsenz in den Medien. Ein Politiker darf Herzprobleme haben dauerhaft partiell oder vollständig pflegebedürftig.
und einen Bypass bekommen, und die Presse berichtet. Ein Poli- Wie beim Herzinfarkt ist auch die Inzidenz (Zahl der
tiker hat einen Schlaganfall, und es herrscht Heimlichtuerei: Man Neuerkrankungen) des Schlaganfalls in den letzten Jahren
verbirgt die Diagnose und spricht von einem Kreislaufproblem kaum gestiegen, und das trotz der steigenden Lebenserwar-
(was ja nicht völlig falsch ist, aber die Absicht ist klar). tung der Bevölkerung und dem explosionsartigen Anstieg
Jeder Schlaganfall ist ein Notfall. Aber er wurde in der Ver- mancher Risikofaktoren. Vermutlich führte das verbesserte
gangenheit nicht wie ein solcher behandelt. In allgemeinen und Gesundheitsbewusstsein großer Teile der Bevölkerung zu
internistischen Notaufnahmen hatte der Schlaganfallpatient, dieser Entwicklung. Trotzdem sind Risikofaktoren wie Hyper-
verglichen mit Herzinfarkt, Trauma, akutem Abdomen, einem tonie, Rauchen, Diabetes und Hypercholesterinämie sowie
epileptischen Anfall oder einer akuten Psychose oft eine nied- Bewegungsmangel, die eigentlich gut beeinflussbar wären,
rigere Priorität. Es waren eben die alten, multimorbiden Men- noch in weiten Kreisen der Bevölkerung erhalten. Sie nehmen
schen, die jetzt obendrein noch einen Schlaganfall bekamen. z.T. sogar wieder zu, wie die Zahl der Raucher unter Jugend-
Man hatte gelernt, dass man nichts machen könne, und also tat lichen und bei Frauen zeigt. Man muss angesichts der Zunah-
man auch nichts. Bis vor wenigen Jahren wurde ernsthaft disku- me von Übergewicht und früh auftretendem Typ II Diabetes
tiert, ob ein Mensch mit einem Schlaganfall überhaupt in eine mit einer deutlichen Zunahme der Schlaganfälle auch bei jün-
Klinik eingewiesen werden sollte. Seitdem wirksame Akutthera- geren Menschen rechnen.
pien zur Verfügung stehen, wurde hier glücklicherweise eine Neue Möglichkeiten der primären und sekundären Präven-
Trendwende erreicht. Der Schlaganfall ist in großen neurolo- tion sowie der Akutbehandlung bei Schlaganfällen stellen jetzt
gischen Kliniken die häufigste neurologische Krankheit. Bis zu und für die Zukunft eine der wesentlichen Aufgaben des all-
50% aller stationär behandelten Patienten in diesen Kliniken gemeinmedizinisch, internistisch oder neurologisch tätigen
haben eine vaskuläre Krankheit des Nervensystems. Arztes dar.
Wie in kaum einem anderen Gebiet der modernen Medizin Hinzu kommt, dass eine weitere Folge der Schlaganfälle,
haben Fortschritte in Diagnostik und Therapie eine grundlegende die vaskuläre Demenz, in der Vergangenheit in ihrer Bedeu-
Änderung der Versorgungsstruktur bewirkt: Patienten kommen tung deutlich unterschätzt wurde. Kognitive Störungen im
schneller in die Klinik, werden notfallmäßig diagnostiziert und auf Alter wurden mit der Alzheimer’schen Krankheit gleichgesetzt.
modernen Schlaganfallstationen behandelt, es gibt wirksame Me- Heute nimmt man an, dass mindestens ein Drittel aller De-
dikamente, und die Prognose ist viel besser als noch vor 10 Jahren. menzen auf multiple Infarkte zurückzuführen sind und da-
Besonders erfreulich ist, dass dieser Paradigmenwechsel in rüber hinaus auch bei der Alzheimer-Demenz vaskuläre Ko-
Deutschland, aber auch in Österreich wie in keiner anderen faktoren für Ausbruch und Schwere des Syndroms mitverant-
Region der Welt, nahezu flächendeckend umgesetzt werden wortlich sind.
konnte: über 200 Stroke Units in Deutschland beweisen dies. Für die Akutbehandlung ist es entscheidend, den Schlag-
Es gibt kaum einen Bereich in der klinischen Medizin, der inter- anfall als Notfall zu akzeptieren. Diese Erkenntnis ist noch
national so stark von deutschen Spezialisten geprägt wird. nicht weit genug in das Bewusstsein der Bevölkerung, aber
auch vieler Ärzte, gedrungen. Was für den Herzinfarkt heute
Vorbemerkungen Standard ist, muss auch für den Hirninfarkt eingeführt werden:
Schlaganfälle sind die dritthäufigste Todesursache, die führen- Das Hirn ist noch empfindlicher für Sauerstoffmangel als das
de Ursache dauernder Invalidität und, medizinökonomisch Herz: Zeit ist Gehirn.
betrachtet, in westlichen Industrieländern die teuerste Krank-
heitsgruppe. Weltweit steht der Schlaganfall, hinter den Infek- ä Der Fall
tionskrankheiten, aber noch vor den Krebs- und den Herz- Der Notarzt wird zu einer 65-jährigen Frau gerufen, die beim
Kreislauf-Krankheiten an 2. Stelle der Todesstatistiken. In Frühstück eine plötzliche Lähmung der linken Körperhälfte,
China, Russland und Brasilien ist es die häufigste Todesur- besonders der Hand und des Arms erlitten hat. Beim Eintreffen
sache. Die häufigsten Schlaganfälle sind ischämische Infarkte, des Notarztes ist die Patientin wach, wirkt etwas verlangsamt, hat
d.h. Durchblutungsstörungen, die zur Ischämie in umschrie- eine hochgradige Lähmung auf der linken Körperhälfte und kann
benen Gefäßterritorien des Gehirns führen. Sie liegen bei 80% die Hand gar nicht mehr bewegen. Sie hat zusätzlich einen Ge-
der Patienten dem Schlaganfall zugrunde. sichtsfeldausfall nach links. Der Blutdruck beträgt 210/120 mmHg.
In Deutschland erleiden ungefähr 200.000–250.000 Ein- Ein hoher Blutdruck ist lange bekannt und wird mit Antihyper-
wohner pro Jahr einen Schlaganfall. Rund 700.000 Menschen tensiva behandelt. Der Puls ist arrhythmisch, Vorhofflimmern soll
in Deutschland leben mit den Folgen eines Schlaganfalls. Etwa schon seit Jahren vorliegen, wurde jedoch nicht behandelt. Die
10–15% der Patienten sterben innerhalb der ersten 4 Wochen. Patientin ist Diabetikerin.
170 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

5.1 Anatomie und Pathophysiologie (. Abb. 5.3a). In . Abbildung 5.3b–d sind einige Varianten des
der Gefäßversorgung des Gehirns Circulus arteriosus Willisii dargestellt (7 auch Box Facharzt-
wissen).
5.1.1 Anatomie

Vier Arterien versorgen das Gehirn mit Blut: die beiden Karo- 5.1.2 Pathophysiologie der Ischämie:
tiden und die beiden Vertebralarterien. Obwohl diese vier Ge- Energiegewinnung und Durchblutung
fäße über Anastomosen miteinander verknüpft sind, ist eine
Einteilung in ein vorderes (Carotis-Media-Anterior) und ein Sauerstoffbedarf
hinteres (Vertebralis-Basilaris-Posterior) Versorgungsgebiet Obwohl das Hirngewicht nur 2% des Körpergewichts beträgt,
zweckmäßig (. Abb. 5.1). Aus praktischen Gründen wird die erhält es in körperlicher Ruhe ca. 15% (etwa 1,2 l) des Herzmi-
5 A. carotis interna (ICA) in verschiedene Abschnitte unterteilt nutenvolumens und verbraucht dann etwa 20% des gesamten
(. Abb. 5.2). Die vier Hauptarterien werden über den Circulus O2-Bedarfs des Körpers (ca. 3,35 ml Sauerstoff pro 100 g Hirn-
arteriosus Willisii miteinander an der Schädelbasis verbunden gewebe und Minute).

. Abb. 5.1. Schematische Darstellung von Aortenbogen und . Abb. 5.2. Die Abschnitte der A. carotis interna in seitlicher und
Hauptarterienstämmen des Gehirns. (Nach Dorndorf 1983) antero-posteriorer Ansicht. a A. ophthalmica, b A. communicans
posterior; c A. chorioidea anterior. (Nach Huber 1979)

a b c d
. Abb. 5.3a–d. Variationen des Circulus arteriosus Willisii. a Nor- beide Anteriores. c Komplette Dissoziation von vorderer und hinterer
male Konfiguration, b Fehlendes A1-Segment auf der linken Seite, die Zirkulation durch Aplasie beider Aa. communicantes posteriores,
beiden Aa. cerebri anteriores werden von rechts versorgt. Zusätzlich d Direkt in der A. cerebelli inferior posterior endende A. vertebralis auf
fehlende A. communicans posterior rechts. Die A. carotis interna ver- der rechten Seite
sorgt ohne Kollateralen vom Circulus arteriosus Willisii die Media und
5.1 · Anatomie und Pathophysiologie der Gefäßversorgung des Gehirns
171 5
Facharzt
Einzelheiten der Anatomie der extra- und intrakraniellen Gefäße
Extrakranielle Gefäße.* lostriatae zusammengefasst werden (. Abb. 5.5). Große Teile
Die rechte A. carotis communis (CCA) entsteht aus der Tei- der Basalganglien, der inneren Kapsel und des paraventriku-
lung des Truncus brachiocephalicus in die A. subclavia und lären Marklagers werden von diesen Arterien versorgt, wäh-
die A. carotis communis. Links geht die A. carotis communis rend Hypothalamus und große Teile des Thalamus ihr Blut aus
direkt aus dem Aortenbogen ab. Die Vertebralarterien stam- vergleichbaren Ästen der A. communicans posterior erhalten.
men aus den Aa. subclaviae. Varianten des Abgangs der Auch aus der A. cerebri anterior entspringen einige weiter
großen, hirnversorgenden Gefäße aus dem Aortenbogen rostral gelegene zentrale Gefäße, von denen die Heubner-
sind nicht selten: Die linke Carotis communis kann aus dem Arterie einen besonders langen intrazerebralen Verlauf nimmt
rechten Truncus brachiocephalicus hervorgehen, die Verte- und zum Caput des Nucleus caudatus zieht. Die beiden Ante-
bralarterien können einseitig oder doppelseitig direkt aus riores sind durch die A. communicans anterior (Acom) verbun-
dem Aortenbogen entspringen. den. Diese Verbindung unterliegt auch einer Reihe von Varia-
Die CCA teilt sich etwa in Höhe des Schildknorpels in die tionen und ist, wie wir im Kapitel über die aneurysmatischen
Aa. carotis interna (ICA) und externa (ECA) auf. Die Karotis- Subarachnoidalblutungen (7 Kap. 9) ausführen werden, eine
bifurkation ist besonders häufig von arteriosklerotischen der häufigsten Lokalisationen für Aneurysmen. Nicht selten
Plaques und Stenosen betroffen. Die ICA läuft dann ohne finden sich erhebliche individuelle Variationen in der Anato-
Aufzweigung bis zum Canalis caroticus in der Schädelbasis. mie der A. cerebri anterior, v.a. bedingt durch Normabwei-
Die beiden Vertebralarterien verlaufen durch die Forami- chungen der A. communicans anterior. Manchmal stammen
na transversaria der oberen sechs Halswirbelkörper, umrun- beide Aa. pericallosae aus einem Anteriorsegment, während
den den lateralen Teil des Atlas (Atlasschleife) und treten der andere horizontale Anteriorabschnitt hypoplastisch ist
durch das Foramen occipitale magnum in die hintere Schä- oder fehlt.
delgrube ein. Oft ist eine (meist die linke) Vertebralarterie
kaliberstärker angelegt, manchmal ist eine Vertebralis stark Vertebralis-Basilaris-Posterior-Territorium. Vor dem Zusam-
hypoplastisch oder fehlt. Auch im intrakraniellen Segment menschluss der beiden Vertebrales zur A. basilaris (BA) am
gibt es Normvarianten: So kann z.B. eine A. vertebralis (VA) in Übergang von Medulla oblongata zur Brücke geben beide
einer A. cerebelli inferior posterior (PICA) enden, ohne einen Vertebralarterien Äste für die A. spinalis anterior und die bei-
Zusammenfluss mit der anderen Vertebralarterie zu bilden. den Aa. cerebelli posteriores inferiores (PICA) ab. Diese im
intrakraniellen Segment der Vertebralis entspringenden Arte-
Intrakranielle Gefäße* rien versorgen die lateralen und dorsalen Kleinhirnhemisphä-
Karotis-Media-Anterior-Territorium. Nach Austritt aus dem ren und die Kleinhirnkerne. Einige Äste versorgen den Hirn-
Canalis caroticus tritt die ICA in den Sinus cavernosus (intra- stamm von ventral (paramediane Äste), ein Ast erreicht die
kavernöser Abschnitt) ein. Im Sinus cavernosus bildet die Medulla oblongata in ihrem dorsolateralen Anteil (»Wallen-
ICA eine Schleife, Karotissiphon genannt. Der Karotissiphon berg-Arterie«, 7 Kap. 5.5.2). Dieser Ast kann direkt aus der
(. Abb. 5.4) reicht bis zum Karotis-T, der Aufteilung des Basilaris, aus dem intrakraniellen Teil der Vertebralis oder aus
Gefäßes in die A. cerebri media (MCA) und die A. cerebri der PICA abgehen. In variabler Höhe, auch im Seitenvergleich,
anterior (ACA). Aus dem Karotissiphon entspringt die gehen von der Basilaris die Aa. cerebelli inferiores anteriores
A. ophthalmica. Über diese werden wesentliche Anastomo- (AICA) ab, die den ventralen Anteil der Kleinhirnrinde, einen
sen zu Ästen der A. carotis externa (ECA) gebildet. Danach Teil des Kleinhirnmarklagers und die Kleinhirnkerne versorgen.
zweigt die A. communicans posterior (Pcom) ab. Sie verläuft Auch die AICA gibt kleine Seitenäste für die Medulla oblongata
ziemlich gerade nach hinten und stellt die Verbindung zur und die Brücke ab. Von der AICA zweigt meist die A. labyrinthi
A. cerebri posterior (PCA) her. Auch die A. chorioidea ante- (auditiva) ab. Die Basilaris gibt danach eine Reihe von direkten
rior, die u.a. wesentliche Teile der zentralen Sehbahn, des Ästen zum Hirnstamm (Rami ad pontem) ab, die dort kleine
limbischen Systems, der Basalganglien und des hinteren Territorien versorgen. Die nächsten großen Äste sind die obe-
Kapselschenkels versorgt, entspringt meistens aus dem ren Zerebellarterien (Aa. cerebellares superiores, SUCA). Sie
Karotissiphon. Sie geht eine enge Verbindung mit Ästen ihrer entspringen knapp unterhalb der Basilarisspitze. Von ihnen
aus der hinteren Zirkulation stammenden Zwillingsarterie, werden dorsorostrale Anteile des Kleinhirns, die oberen Klein-
der A. chorioidea posterior, ein. hirnstiele und ventrale Anteile des Mittelhirns und der Brücke
Am Karotis-T teilt sich die Interna in ihre beiden Endäste, versorgt. Schließlich teilt sich die Basilaris in die beiden
die MCA und die ACA. Die MCA stellt ihrem Kaliber nach die Aa. cerebri posteriores auf. In dieser Region entspringen u.a.
eigentliche Fortsetzung der ACI dar. Sie verläuft nach lateral die Aa. chorioideae posteriores und die Aa. communicantes
in Richtung Sylvische Furche, der sie dann folgt. In ihrem posteriores (Pcom), die die Verbindung zum Karotisstromgebiet
proximalen, horizontal gerichteten Abschnitt entspringen herstellen.
der MCA eine Reihe von penetrierende Arterien, die als End- Aus der Pcom und dem proximalen Anteil der PCA ent-
arterien praktisch nicht kollateralisiert und als Aa. lenticu- springen eine Reihe von perforierenden Ästen, die u.a. den

6
172 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Hypothalamus und den Thalamus versorgen (Aa. thalamoper- die Media etwa in Höhe der Inselrinde in ihre verschiedenen
forantes posteriores) und mit einzelnen Ästen auch an der Endäste, die nach frontal, parietal und temporal verlaufen. Sie
Blutversorgung der hinteren inneren Kapsel teilnehmen gehen mit Ästen aus den Aa. cerebri anterior und posterior
(Aa. thalamogeniculatae). ausgedehnte, leptomeningeale Anastomosen (Heubnersche
Die PCA entsteht phylogenetisch aus dem Karotisstrom- leptomeningeale Anastomosen) ein. Hieraus resultieren Grenz-
gebiet, ist aber bei Primaten meist dem Vertebralis-Basilaris- zonen, auf die noch im Detail eingegangen wird.
Gebiet zuzuordnen. Übrig bleibt dann die Pcom, die in Ka- Aus den proximalen intrakraniellen Gefäßen, aus dem
liber und Ausprägung sehr stark variiert. Manchmal ist sie Circulus arteriosus Willisii und den basalen Abschnitten der
einseitig nicht angelegt. In anderen, seltenen Fällen entsprin- langen Zirkumferenzarterien entspringen die paramedianen,
gen beide Posteriores direkt aus der Interna, ohne eine Ver- perforierenden Äste. Diese sehr dünnen Gefäße verlassen die
5 bindung zur A.basilaris zu haben (sog. embryonaler Abgang Stammarterien fast rechtwinklig, streben sofort nach intra-
der PCA). zerebral und haben im Verhältnis zu ihrem Gefäßlumen einen
sehr langen, intrazerebralen Verlauf. Sie gehen kaum Anas-
Funktionelle Einteilung der Hirnarterien. Die Hirnarterien tomosen ein und sind funktionelle Endarterien, die in den
werden in Zirkumferenzarterien und in perforierende Arterien Hemisphären die subkortikalen Kerngebiete und große Anteile
eingeteilt. Diese Einteilung ist im Hirnstamm besonders gut des Marklagers versorgen.
zu erkennen (. Abb. 5.6). Die Zirkumferenzarterien ent-
springen aus dem Circulus arteriosus und aus der Vertebra- * Die eingeführten Abkürzungen richten sich nach der eng-
lis/Basilaris und verlaufen auf der Hirnoberfläche (Pia-Arte- lischen Terminologie, deshalb wird z.B. die A. carotis interna
rien) über die laterale und vordere Konvexität bis zur Hau- als ICA (internal carotid artery) und nicht als ACI abgekürzt.
benregion. Auf ihrem Weg geben sie kleine Äste in nahegele- Man mag dies bedauern, international führen deutsche Ab-
gene Kortexabschnitte ab. In der Sylvischen Furche teilt sich kürzungen aber eher zur Verwirrung.

Der Energiebedarf des Gehirns ist im Schlaf und bei geis-


tiger Aktivität gleich. Nur im Status epilepticus ist er auf etwa
das Doppelte gesteigert. Hauptenergielieferant für das Gehirn
ist Glukose, die unter physiologischen Bedingungen zu über
95% oxidativ zu CO2 und H2O metabolisiert und zu 5% anae-
rob zu Pyruvat abgebaut wird. Es besteht ein empfindliches
Gleichgewicht zwischen O2-Versorgung und Nährstoffzufuhr
(Glukose), da das Gehirn nur kurzfristig den anaeroben Stoff-
wechselweg gehen kann, der zu deutlich geringerer Energie-
ausbeute und zur Anhäufung von Laktat als Endprodukt führt
(. Abb. 5.7).

Struktur- und Funktionsstoffwechsel


Die Unterbrechung der Substratzufuhr hat ein rasches Erlö-
schen der Gehirnfunktionen zur Folge, da das Gehirnparen-
chym fast keine Sauerstoff- oder Glukosevorräte besitzt. Nach
68 s findet man in der grauen Substanz des Gehirns keinen
molekularen Sauerstoff mehr; nach 34 min ist die freie Gluko-
se verbraucht. Schon wenige Sekunden nach Unterbrechung
des Blutstroms treten EEG-Veränderungen auf. Nach 10–12 s
tritt Bewusstlosigkeit ein und nach 4–5 min kommt es zu den
ersten Nekrosen von Ganglienzellen. Einen Herzstillstand von
8–10 min Dauer kann das Gehirn nicht überleben. Auch bei
Hypoglykämie unter 2,3 mmol/l Glukose im arteriellen Blut
treten Bewusstseinsstörungen auf. Die extreme Abhängigkeit
von ununterbrochener Substratzufuhr (und Abtransport von
. Abb. 5.4. Schematische Darstellung verschiedener Anastomo- Metaboliten) verlangt, dass die Hirndurchblutung in sehr en-
sen der arteriellen Versorgung des Gehirns. Dargestellt sind die gen Grenzen konstant gehalten wird.
A. carotis externa – A. ophthalmica Kollaterale und die leptomeninge-
alen Kollateralen zwischen Aa. cerebri media, posterior und anterior Zerebrale Durchblutung
sowie der basale Arterienring (Circulus art. Willisii)
3Perfusionsdruck. Der zerebrale Blutfluss (CBF, cerebral
blood flow) hängt von der Herzleistung, dem arteriellen Mittel-
5.1 · Anatomie und Pathophysiologie der Gefäßversorgung des Gehirns
173 5
. Abb. 5.5. Intrakranielle Aufteilung der Karotis
interna in Aa. cerebri media und anterior (Karo-
tis-T) und basale, zentrale Arterien. (Nach Huber
1979)

. Abb. 5.6. Gefäßversorgung des Hirnstamms auf dem


Niveau der Brücke. Es sind die Versorgungsgebiete der para-
medianen, der kurzen und der langen zirkumferenten Äste
aus der A. basilaris sowie der A. cerebelli inferior anterior und
A. cerebelli superior angegeben. Man sieht, dass die parame-
dianen und die kurzen, zirkumferenten Äste vorwiegend den
Brückenfuß, die übrigen Arterien vorwiegend die Brücken-
haube versorgen

> Formeln:
4 zerebraler Perfusionsdruck (CPP) = mittlerer arte-
rieller Druck (maP) – intrazerebraler Druck (ICP)
4 Zerebraler Blutfluss (CBF) = Perfusionsdruck/
Gefäßwiderstand

3Regulation der zerebralen Durchblutung. Die Sicherheit


der zerebralen Durchblutung wird durch mehrfache Schutz-
mechanismen gewährleistet. Hierzu zählen
. Abb. 5.7. Anaerobe Glukoseverwertung in der Glykolyse und 4 die physiologische Perfusion weit oberhalb der Infarkt-
oxidative Umsetzung von Glukose in der Atmungskette. ATP Ade- schwelle,
nosintriphosphat; Gluc. Glukose; Lact. Laktat; Pyr. Pyruvat. (Aus Hacke 4 das Kollateralensystem (Circulus arteriosus Willisii) und
1991) die leptomeningealen Kollateralen (s. o.) sowie
4 die Autoregulation.

druck, dem peripheren Gefäßwiderstand und dem intrakra- Durch die Autoregulation bleibt die Hirndurchblutung weitge-
niellen Druck ab. Wenn der intrakranielle Druck ansteigt, wird hend vom arteriellen Blutdruck unabhängig.
der CBF bei gleichbleibendem Blutdruck geringer. Der CBF
entspricht dem Quotienten von Perfusionsdruck und Gefäß- 3Ischämieschwelle, Infarktschwelle und Penumbra. Wie
widerstand. Über den Gefäßwiderstand kann der CBF beein- alle anderen lebenden Zellen, haben Hirnzellen einen Struk-
flusst werden. turstoffwechsel, der für die Aufrechterhaltung der Zellstruk-
174 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

turen unbedingt notwendig ist. Wird dieser Stoffwechselum- nächst reversibel eingestellt. Bei weiterem Verlust der Energie
satz nicht erreicht, treten irreversible Schäden der Zelle auf, wird auch die Aufrechterhaltung des Ionengleichgewichts, der
und die Zelle stirbt. Für die neuronale Funktion muss die Zelle Gradienten für Kalium, Natrium und Kalzium gefährdet und
darüber hinaus die Energie bereitstellen, die für die aktiven es kommt zur Schädigung der zellulären Integrität (Infarkt-
Tätigkeiten benötigt werden (Funktionsstoffwechsel). Die schwelle).
neuronale Funktion wird bei Unterschreiten einer kritischen Verschiedene Hirnregionen und auch verschiedene Zell-
Durchblutungsgröße, die man Funktionsschwelle nennt, zu- arten haben unterschiedliche Ischämieschwellenwerte. So ist

Exkurs
Kollateralen
Für das ätiologische Verständnis der ischämischen Infarkte ist 4 der basale Arterienkreis (Circulus arteriosus Willisii) und
5 die Kollateralversorgung ein entscheidender Faktor. Physio- 4 leptomeningeale Anastomosen.
logische Anastomosen von extrakraniellen Gefäßen stellen Bei intaktem basalen arteriellen Netzwerk kann der Verschluss
eine zusätzliche Sicherung der Blutversorgung des Gehirns in einem, manchmal auch mehreren zuführenden extrakrani-
dar. Die Gefäße der Hirnoberfläche und der Hirnrinde sind ellen Gefäßen lange toleriert werden. Das leptomeningeale
keine Endarterien, sondern durch Gefäßnetze miteinander Anastomosensystem zwischen ACA und MCA (parasagittale
verbunden (. Abb. 5.4). Die wichtigsten kollateralen Ver- Grenzzone), zwischen Media-, Posterior- und Anteriorstromge-
sorgungswege sind: biet (parietookzipitale Grenzzone) und über den Kleinhirn-
4 physiologische Anastomosen zwischen extra- und hemisphären unterliegt ebenfalls starken individuellen Varia-
intrakraniellen Gefäßen, tionen.

Facharzt
Hirndurchblutung, Energiegewinnung und Ischämie
Zerebraler Blutfluss und Ischämieschwelle. Bei einem tion kann in dem genannten Bereich als linear angenommen
gesunden Erwachsenen beträgt der zerebrale Blutfluss (CBF) werden. Bei Erhöhung des paCO2 um 1 mmHg resultiert eine
ca. 60–80 ml pro 100 g Hirngewebe und Minute. Der CBF ist 4%ige Zunahme der Durchblutung (. Abb. 5.8).
sehr auf Sicherheit ausgelegt, denn erst wenn er auf ca. 1/3 Die CO2-Regulation ist blutdruckabhängig. Bei chronisch
bis 1/4 des Ausgangswerts (etwa 20 ml/100 g/min) sinkt, erhöhtem Blutdruck sind die Grenzen (nach oben) verschoben.
kommt es zu neurologischen Funktionsstörungen. Unter physiologischen Bedingungen ist die Durchblutung
des Gehirns eng an den metabolischen Bedarf des Gewebes
Regulation der Hirndurchblutung. Die Hirndurchblutung gekoppelt. Da die funktionelle Aktivierung des Gehirns mit
ist in einem breiten physiologischen Bereich, etwa zwischen einer Zunahme der metabolischen Aktivität verbunden ist,
arteriellen Mitteldruckwerten von 50–150 mmHg, durch die sind Hirnfunktion und regionale Hirndurchblutung gekoppelt.
Autoregulation blutdruckunabhängig. Steigerung des Blut-
drucks bei Belastung oder aus anderen Gründen, Abfall bei Penumbra. Der CBF-Bereich zwischen Infarkt- und Ischämie-
orthostatischer Dysregulation, starke Zunahme des Herz- schwelle wird auch als Penumbra, als ischämischer Halbschat-
minutenvolumens bei körperlicher Anstrengung oder kurzfris- ten, bezeichnet. Dies ist das Hirnareal, das gefährdet und
tige Abnahme, z.B. bei Extrasystolen, verändern beim Gefäß- funktionsgestört ist, aber bei zeitiger Therapie gerettet werden
gesunden die Durchblutungsgröße des Gehirns nicht. Steigt könnte. Wie ausgedehnt die Penumbra im Einzelfall ist, kann
der systemische Blutdruck an, kontrahieren sich die Hirn- nur über (zeitaufwendige und komplizierte) Untersuchungen
gefäße, bei sinkendem Druck erweitern sie sich, und halten wie PET, Diffusions- und Perfusions-MRT oder Perfusions-CT
dadurch die Hirndurchblutung konstant. Dieser Mechanismus abgeschätzt werden. Bestimmt wird die Ausdehnung der
wird Bayliss-Effekt genannt. Penumbra von
Außerhalb der genannten Grenzen und in ischämisch 4 dem Ausmaß der regionalen CBF-Minderung,
geschädigtem Gewebe und seiner Umgebung geht die 4 dem Ort des Gefäßverschlusses und dem Status der Kolla-
Autoregulation verloren, und die Durchblutung folgt passiv teralen sowie
den Blutdruckveränderungen. 4 der Dauer des Perfusionsdefizits.
Die oben genannten Blutdruckwerte gelten unter der
Voraussetzung eines normalen pCO2. Eine Zunahme des Die Penumbra ist ein dynamisches Konzept. Auch die Dauer
paCO2 führt zur Vasodilatation, die Abnahme des paCO2 einer Ischämie ist von Bedeutung: Eine Durchblutungsminde-
zur Vasokonstriktion. Diese Regulation findet in einem rung auf 15 ml/100 g/min würde nach den obigen Regeln einer
paCO2-Bereich von 25 mmHg bis etwa 60 mmHg statt. Jen- reversiblen Funktionsstörung entsprechen. Wenn diese Störung
seits eines paCO2 von 60 mmHg nimmt die Hirndurchblu- über längere Zeit anhält, kann es auch bei zunächst ausrei-
tung nicht mehr zu, die Vasodilatation ist dann maximal. Die chend erscheinenden Durchblutungswerten zur Infarzierung
Relation zwischen Hirndurchblutung und paCO2-Konzentra- kommen. Eine frühe Rekanalisation, die manchmal, aber leider
6
5.2 · Epidemiologie und Risikofaktoren
175 5

zu selten, auch spontan vorkommen kann (immerhin etwa diese Depolarisierung der Zellmembran reversibel. Dauert sie
20% in den ersten 12 h), rettet das Gewebe und verbessert länger an, treten auch strukturelle Schäden auf (. Abb. 5.9).
die Prognose, da die Funktion bei ausreichender Perfusion Aufgrund des Sauerstoffmangels fällt die Energiegewin-
wieder aufgenommen wird. Eine längere Zeit andauernde nung durch den Zitronensäurezyklus aus, die anaerobe Glyko-
grenzwertige Minderperfusion kann auch späte Verände- lyse tritt ein und führt zur Azidose. Diese ist auch für die Ent-
rungen im Gewebe hervorrufen, die nicht einer typischen stehung des ischämischen Hirnödems, das durch Zellschwel-
Infarzierung entsprechen. Oft sind dann nur Neurone, nicht lung entsteht, mitverantwortlich. Das Hirnödem führt zur
aber Gliazellen betroffen: Man spricht vom »verzögerten Druckerhöhung und damit zur weiteren Minderung des loka-
neuronalen Tod« (delayed neuronal death). len CBF. Es folgt eine Kaskade von metabolischen Schritten,
die schließlich zur strukturellen Schädigung der Zelle führen.
Versagen des Funktionsstoffwechsels. Wenn die Durchblu-
tung in einem Gehirnabschnitt unter die Ischämieschwelle Exzitotoxizität. In den letzten Jahrzehnten ist die Bedeutung
sinkt, kommt es bald zu einem Versagen des Funktionsstoff- der terminalen Freisetzung von exzitatorischen Transmittern,
wechsels. Auch die Ionenpumpen funktionieren nicht mehr wie z.B. dem Glutamat, erkannt worden. Diese werden in
ausreichend. Das Membranpotential bricht zusammen, Ka- unphysiologisch hoher Konzentration freigesetzt und öffnen
liumionen strömen in den Extrazellulärraum, während Na- Kalziumkanäle, was zu intrazellulärer Anreicherung von Kalzi-
trium- und Kalziumionen intrazellulär angereichert werden. um führt. Die Produktion von freien Radikalen, Leukotrienen,
Hierdurch wird die Zelloberfläche negativiert, und die elek- von NO-Synthetase und NO (. Abb. 5.10) führt zu einer frühen
trische Erregbarkeit der Membranen erlischt. Zunächst ist zusätzlichen Schädigung der ohnehin gefährdeten Zellen.

der Hirnstamm etwas weniger empfindlich als das Großhirn liegt und das gefährdet und funktionsgestört ist, aber bei zeiti-
und die Hirnrinde etwas empfindlicher als das Marklager. ger Therapie gerettet werden könnte. Es wird als Penumbra
Bei Unterschreitung der Infarktschwelle kann die zellu- (Halbschatten) bezeichnet Die Penumbra ist kein stabiles Ge-
läre Integrität der Hirnzelle nicht aufrechterhalten werden, webeareal, sondern stark fluktuierend. Je länger eine kritische
die Zelle stirbt. Neben der absoluten Höhe der Restdurchblu- Minderzirkulation besteht, desto eher wird potentiell rettbares
tung und des Sauerstoff- bzw. Glukoseanteils im Blut entschei- Gewebe doch infarziert.
det auch die Dauer einer bestimmten Perfusionsbehinderung Dieser Zone kommt für rekanalisierende Therapien eine
darüber, ob nur eine Ischämie (Funktionsstörung) oder ein besondere Bedeutung zu (7 auch die folgende Box).
Infarkt (Gewebszerstörung) auftritt (. Abb. 5.9 und 5.10). Das
bedeutet, dass eine Durchblutung, die eigentlich noch knapp
über der Infarktschwelle liegt, nach einiger Zeit nicht mehr 5.2 Epidemiologie und Risikofaktoren
ausreicht, um die Zellen intakt zu halten: Es kommt zum In-
farkt. 5.2.1 Epidemiologie
In der Umgebung des Infarktkerns befindet sich Hirnge-
webe, dessen CBF zwischen Infarkt- und Ischämieschwelle Die Inzidenz der Schlaganfälle wird in Deutschland auf 200–
250/100.000 Einwohner und Jahr geschätzt. Daten aus Baden-
Württemberg aus dem Jahr 2008 zeigen über 35.000 dokumen-
tierte, stationär behandelte Schlaganfallpatienten bei einer
Einwohnerzahl von etwa 10 Millionen, was eine noch höhere
Inzidenz suggeriert. Davon entfallen etwa 80–85% auf ischä-
mische Infarkte, die restlichen 15–20% auf intrazerebrale Blu-
tungen, Subarachnoidalblutungen und Sinusthrombosen, die
in den folgenden Kapiteln besprochen werden. Die Prävalenz
von Personen, die mit den Folgen eines Schlaganfalls leben,
beträgt etwa 700.000 Einwohner in Deutschland. Es gibt gra-
vierende Unterschiede in der Inzidenz weltweit. Besonders
im früheren Ostblock werden Inzidenzen von 400 oder mehr
Schlaganfällen pro 100.000 Einwohnern berichtet, während
die Inzidenz im Mittelmeerraum niedriger ist. Männer erkran-
ken in allen Altersgruppen häufiger an Schlaganfällen, mit
Ausnahme bei den über 85jährigen, bei denen Frauen aus
naheliegenden Gründen überwiegen.
. Abb. 5.8. CO2-Reaktivität der Hirndurchblutung: Im Bereich
zwischen 25 mmHg und 60 mmHg besteht eine lineare Abhängigkeit
Allgemeine Prognose nach Schlaganfall
zwischen paCO2 und Hirndurchblutung, die sich in 4%iger Zunahme Art des Schlaganfalls (Ischämie oder Blutung), Schwere des
pro mmHg ausdrückt. (Aus Hacke 1991) Infarkts und Begleiterkrankungen spielen für die Prognose eine
176 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

. Abb. 5.9. Schwellen für die zere-


brale Mangelperfusion (Funktions-
und Infarktschwelle) und die kritische
Oxygenierung mit Darstellung der asso-
ziierten EEG- und EP-Veränderungen
sowie der Membranfunktionsstörungen,
die der Gewebsschädigung zugrunde
liegen. (Aus Hacke 1991)

. Abb. 5.10. Die Kaskade der Reak-


tionen im Ablauf einer ischämischen
Schädigung, die zur metabolischen
Entgleisung führt (. auch Abb. 5.9).
(Aus Hacke 1991)

entscheidende Rolle. Die Prognose erklärt auch die volkswirt- derten ist leicht gesunken (ca. 20%). Der Anteil der leicht Be-
schaftliche Bedeutung. Hierbei hilft eine Faustregel, die natür- hinderten ist in etwa gleich geblieben und etwa 40% der Betrof-
lich nicht präzise ist, aber die Größenordnungen prägnant ver- fenen erreichen eine gute Überlebensqualität mit den oben
anschaulicht: In der Vergangenheit, d.h. bis vor etwa 10 Jahren, gemachten Einschränkungen. Diese Verschiebung finden wir
konnte man eine 25%-Regel postulieren, die besagte, dass etwa auch bei den älteren Patienten, wenn gleich ausgehend von
ein Viertel der Patienten nach der Diagnose eines ischämischen einer schlechteren Gesamtprognose: Ein Patient jenseits der
Infarkts innerhalb von 3 Monaten sterben würde, ein weiteres 80, mit Vorerkrankungen und einem sehr schweren Schlagan-
Viertel mit einer schwere Behinderung bei teilweiser oder voll- fall hat zwar eine viel höhere Frühmortalität, und seine Reha-
ständiger Pflegebedürftigkeit überleben und das nächste Viertel bilitationschancen sind geringer, aber insgesamt auch besser
der Patienten zwar eine neurologische Behinderung davon- geworden.
tragen, dabei aber in weiten Bereichen des täglichen Lebens
unabhängig von Hilfe sein würde. Nur 25% aller Schlaganfall- Rezidive
opfer erreichten einen Zustand, der äußerlich keine erkennbare Wenn ein Mensch einen Schlaganfall erlitten und überlebt hat,
Behinderung zeigen würde, wobei doch viele dieser Patienten bedeutet dies ein Risiko dafür, weitere Schlaganfälle zu erleiden.
darüber klagten, dass sie nicht die Leistungsfähigkeit und Le- Auch hier gilt, dass die Statistik nicht ohne weiteres auf den Ein-
bensqualität wiedererlangt hätten, wie sie vor dem Schlaganfall zelfall übertragbar ist: Je nach Ursache des Schlaganfalls und
bestand. Dies betrifft vor allem kognitive Funktionen, neuro- abhängig davon, wie die Sekundärprophylaxe durchgeführt
psychologische Leistungen wie Belastbarkeit, Ausdauer, Kon- wird und Risikofaktoren kontrolliert werden können, gelten an-
zentrationsfähigkeit, die Bewältigung mehrerer parallel ablau- dere Werte. Aber auch hier hilft eine einfache, didaktische Regel
fender Aufgaben (multitasking) und, wenn die dominante He- (die natürlich keine arithmetische Gültigkeit in Bezug auf die
misphäre betroffen war, Wortflüssigkeit und lexikalische Fähig- letzten epidemiologischen Daten hat): Das Risiko, nach einem
keiten. (Zur Prognose bei intrazerebralen Blutungen und nach ischämischen Schlaganfall jeder Ursache oder jedes Schwere-
Subarachnoidalblutung 7 Kap 6 und 9.) grades, in den nächsten 3 Jahren einen weiteren Infarkt zu erlei-
Heute hat sich die Prognose durch Therapie und Rehabili- den, liegt ohne Behandlung bei 12–15%. Etwa 4% der Rezidive
tation eindeutig verbessert, speziell wenn man von der Alters- entstehen in den ersten 14 Tagen nach dem Ereignis, dies ist also
gruppe der unter 80-Jährigen ausgeht. Die Sterblichkeit ist auf die gefährlichste Zeit. Weitere 4–5% ereignen sich bis zu Ende
10–15% reduziert worden, auch der Anteil der Schwerbehin- des ersten Jahres, und die verbleibenden 5–6% treten danach
5.2 · Epidemiologie und Risikofaktoren
177 5
Facharzt
Risikoabschätzung bei Vorhofflimmern und nach TIA
In den letzten Jahren haben zwei prognostische Scores in Auch für Patienten, die eine TIA erlitten haben, gibt es
den klinischen Alltag Einzug gehalten, die eine Risikoab- einen prognostischen Score, den ABCD2-Score. Er erfasst Alter
schätzung für weitere Schlaganfälle erlauben: über 60 Jahre (A, 1 Punkt), Blutdruck bei der Erstuntersuchung
Der CHADS 2-Score wurde entwickelt, um Risikogrup- über 140/90 mm Hg (B, 1 Punkt), klinische (C) Symptome (wie
pen unter den Patienten mit idiopathischem Vorhofflimmern halbseitige Muskelschwäche 2 Punkte oder Sprachstörungen
zu charakterisieren. Kardiomyopathie (C), Hypertonus (H), ohne Schwäche 1 Punkt) und schließlich die Dauer (D) der
Alter über 65 (A) und Diabetes (D) erhalten je einen Punkt, Symptome (60 Minuten oder länger: 2 Punkte, 10 bis 50 Minu-
ein früherer Schlaganfall (S) 2 Punkte. ten: 1 Punkt). Maximal sind also 6 Punkte auf dem ABCD2-
Bei einem CHADS 2-Score von 2 oder mehr beträgt das Score möglich.
jährliche Risiko für einen Schlaganfall mehr als 5 %/Jahr und Wenn der ABCD 2-Score über 2 liegt, besteht ein hohes
die Patienten müssen unbedingt mit oralen Vitamin K-Anta- Schlaganfallrisiko in den nächsten 30 Tagen.
gonisten behandelt werden.

Exkurs
Messung des Behandlungserfolgs nach Schlaganfall
Die Ebenen, auf denen die Überlebensqualität nach einem Die modifizierte Rankin-Skala (mRS) (siehe Anhang) ist
Schlaganfall analysiert werden kann sind komplex und eine sehr einfache Skala zur Erfassung des Grades der Behinde-
können sehr detailliert sein. Neurologische Ausfälle, neuro- rung nach einem Schlaganfall ist. Sie wird heute häufig als
psychologische und psychische Folgen, die Einbuße be- Endpunkt bei klinischen Behandlungsstudien eingesetzt und
sonderer früherer Fähigkeiten in musischen, intellektuellen von den Zulassungsbehörden verlangt. Die Skala ist nicht me-
oder sportlichen Bereichen, aber auch einfache Dinge wie trisch. Sie hat 7 Punktwerte, von 0 (völlig gesund) bis 6 (tot),
das Bewältigen einfacher Kulturtechniken und täglicher dazwischen liegen die verschiedenen Stufen einer Behinderung.
Anforderungen (ADL, activities of daily living) sind bei der Oft wird diese grobe Skala noch dadurch vereinfacht, dass
Beurteilung des individuellen Schicksals von Bedeutung. eine Dichotomisierung in mRS 0 und 1 versus 2–6 (ohne Behin-
Diese detaillierte Beurteilung verbietet sich natürlich in derung versus behindert oder tot) oder mRS 0–2 versus 3–6
großen epidemiologischen Erfassungen oder bei der Be- (unabhängig versus abhängig oder tot) vorgenommen wird. Auf
urteilung der Behandlungserfolge in großen klinischen diesen Graduierungen des Behandlungserfolgs basieren die
Studien. Ergebnisse der großen Akutbehandlungsstudien.

auf. Bestimmte Infarktursachen wie kardiale Embolien bei Vor- lären Krankheiten: Schlaganfälle werden mit zunehmendem
hofflimmern (s.u.) haben deutlich höhere Rezidivraten, andere Alter immer häufiger, Männer erleiden häufiger Schlaganfälle
liegen weit niedriger, z.B. Infarkte nach Dissektionen (s.u.) oder als Frauen, und es ist unzweifelhaft, dass selbst bei gut kontrol-
Rezidive nach Amaurosis-fugax-Attacken (s.u.). lierten Risikofaktoren bestimmte Patienten aus genetischer
Disposition heraus einen Schlaganfall erleiden, während ande-
re Patienten mit dem gleichen Risikoprofil nicht erkranken.
5.2.2 Risikofaktoren
Modifizierbare Risikofaktoren
Es ist nicht überraschend, dass die Risikofaktoren, die das Auf- Bluthochdruck. Dies ist der wichtigste und auch der am besten
treten eines Schlaganfalls begünstigen, weitgehend mit den zu beeinflussende Risikofaktor. Bluthochdruck erhöht das rela-
Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen überein- tive Risiko, einen Schlaganfall (ischämisch und hämorrhagisch)
stimmen (. Tabelle 5.1). Als spezielle Risiken für ischämische zu erleiden, um das 4- bis 5fache. Ein Anstieg des systolischen
Infarkte treten kardiologische Krankheiten, die mit einem er- Blutdrucks um 10 mmHg erhöht das Risiko, einen Schlaganfall
höhten Embolierisiko verbunden sind, hinzu: höhergradige zu erleiden, um 10%. Weiterhin besteht ein eindeutiger Anstieg
Rhythmusstörungen (Lown IVb, Sick-Sinus-Syndrom), Klap- des Schlaganfallrisikos mit steigendem diastolischen Blutdruck.
penfehler und Klappenersatz, Vorhofseptumdefekte, abgelau- Bedenkt man die Prävalenz des Bluthochdrucks in der Bevölke-
fene Myokardinfarkte, Kardiomyopathien und vor allem, als rung, so wird die Bedeutung der Hypertonie für die Schlagan-
einer der gefährlichsten Risikofaktoren überhaupt, das Vorhof- fallentstehung klar.
flimmern (atrial fibrillation, AF). Man kann die Risikofaktoren
in modifizierbare und nichtmodifizierbare einteilen. Vorhofflimmern. Das Hirninfarktrisiko erhöht sich bei unbe-
handeltem, nichtrheumatischem Vorhofflimmern auf das 6-
Nichtmodifizierbare Risikofaktoren bis 16fache, allerdings ist die Prävalenz des Vorhofflimmerns
Nichtmodifizierbare Risikofaktoren sind Alter, Geschlecht geringer als die des Hypertonus. Besonders häufig führt Vor-
und die genetische Disposition zu kardio- und zerebrovasku- hofflimmern zu Hirnembolien, wenn komplizierende Fakto-
178 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

. Tabelle 5.1. Risikofaktoren für ischämische Insulte


Risikofaktor Relatives Risiko (x-fach) Prävalenz in der Bevölkerung [%]
Alter Verdopplung pro Dekade nach 55 Lj. alle
Geschlecht 24–30% höheres Risiko bei Männern Alle Männer
Genetische Disposition 1,9fach höher bei Verwandten ersten Grades
Arterielle Hypertonie 3–5 25–40
Herzkrankheit (nicht spezifiziert) 2–4 10–20
Idiopathisches Vorhofflimmern 6–16 5
Diabetes mellitus 2–3 4–8
5 Alkoholmissbrauch 1–4 30–40
Hyperlipidämie 1–3 6–40
Zigarettenrauchen 2–4 20–40
Bewegungsmangel 2 20–40
Karotisstenose
– asymptomatische 2 3
– symptomatische 3–6 2

ren wie koronare Herzkrankheit, Hypertonus, Herzinsuffizi- einem Vorhofseptumaneurysma, ein hohes Risiko für embo-
enz mit Vorhofdilatation, linksventrikuläre Dysfunktion oder lische Infarkte bedeutet.
Diabetes mellitus hinzukommen (vgl. CHADS2-Score, Ein- Ein besonderes Risiko liegt wahrscheinlich nur vor, wenn
schub S. 177). das OFO mit einem Vorhofseptumaneurysma (ASA), Aus-
lenkung >10 mm, assoziiert wist. Dann muss man von einer
Offenes foramen ovale. Die kausale Bedeutung eines OFO für 4-Jahres-Rezidivrate von 16% ausgehen. Ohne ASA beträgt das
Schlaganfälle bei jungen Patienten wird kontrovers diskutiert. Rezidivrisiko etwa 3% auf 4 Jahre.
Ein persistierendes offenes Foramen ovale findet man viel häu- OFOs sind überzufällig assoziiert mit
figer bei Patienten, bei denen ein Schlaganfall ohne andere 4 Vorhofseptumaneurysmen – absoluter Arrhythmie,
ätiologische Erklärung vorliegt. Andererseits ist es auch bei 4 Migräne,
Gesunden mit einer Inzidenz von 20–25% nicht selten. Daher 4 Absolute Arrhythmie mit Vorhofflimmern
ist fraglich, ob man es als Risikofaktor bezeichnen darf. Un- 4 prothrombotischen Faktoren wie Prothrombinmutationen
strittig ist, dass paradoxe Embolien aus dem venösen System oder Faktor-V-Mangel.
über ein offenes Foramen ovale symptomatisch werden kön-
nen. Fraglich ist nur, wie häufig dieser Mechanismus zutrifft. Andere kardiale Krankheiten (. Tabelle 5.2). Mit relativ ho-
Häufiger scheinen lokale Thrombenbildungen in der Region hem Schlaganfallrisiko verbunden sind der akute Myokard-
um das PFO zu sein, besonders bei gleichzeitigem Vorhofsep- infarkt, besonders der Vorderwandinfarkt, Aortenstenosen,
tumaneurysma. Viel spricht dafür, dass ein OFO nur zusam- künstliche Herzklappen, linksventrikuläre Hypertrophie
men mit anderen Pathologien des Vorhofseptums, vor allem (2,5fach), Kardiomyopathie mit hypokinetischem linken Vent-
rikel und Vorhof- oder Ventrikelthromben. Weniger starke
und zum Teil nicht endgültig gesicherte kardiale Risikofak-
. Tabelle 5.2. Kardiale Emboliequellen toren sind der Mitralklappenprolaps, die Mitralklappenstenose
ohne Vorhofflimmern und ein weniger als 6 Monate zurück-
Häufige Ursachen Seltenere und nicht end-
gültig gesicherte Ursachen liegender Herzinfarkt.

Idiopathisches Vorhofflimmern Nicht bakterielle Endokarditis


Symptomatische Karotisstenose. Eine Karotisstenose, die
Sick-Sinus-Syndrom Myxom schon früher zu einer zerebralen Durchblutungsstörung ge-
Akuter Myokardinfarkt Mitralklappenvorfall führt hat (sog. symptomatische Karotisstenose), ist ein weiterer
wesentlicher Risikofaktor. Asymptomatische Karotisstenosen
Linksventrikuläres Aneurysma Andere Arrhythmien
haben ein niedrigeres Risiko. Interessant ist, dass eine asympto-
Kardiomyopathie Länger zurückliegender Herz- matische Karotisstenose ein starker prädiktiver Faktor für das
klappenersatz Auftreten eines Herzinfarkts innerhalb des nächsten Jahres ist.
Herzklappenkrankheit Mitralringverkalkung
Offenes Foramen ovale (OFO) OFO ohne Begleiterkrankung Fettstoffwechselstörung. Die Rolle von erhöhtem Cholesterin,
mit Vorhofseptumaneurysma erniedrigtem High-density-Lipoprotein (HDL) und erhöhten
Low-density-Lipoproteinen (LDL) sowie erhöhten Triglyzeri-
Infektiöse Endokarditis
den im Serum als Risikofaktor für den Schlaganfall ist nicht so
5.3 · Ätiologie und Pathogenese ischämischer Infarkte
179 5
bedeutend wie für den Myokardinfarkt. Ein Cholesterinwert Übergewicht. In Kombination sind Übergewicht und Be-
von mehr als 240 mg/dl ist aber sicher ein Risikofaktor für den wegungsmangel ein oft unterschätzter Risikofaktor. Daneben
ischämischen Insult. Alternativ kann ein LDL-Cholesterin erleichtern sie auch das Entstehen von Hypertonus und Dia-
über 160 mg/dl als Risiko angesehen werden. betes.

Gerinnungsstörungen. Erhöhte Anti-Kardiolipin-Antikörper Migräne mit Aura (7 Kap. 16). Sie ist ein geringgradig ausge-
oder Störungen im Gerinnungssystem (z.B. Protein-C- oder prägter Risikofaktor für ischämische Infarkte.
Protein-S-Mangel, Heterozygotie für Faktor V (Leiden) und
Resistenz gegen aktiviertes Protein C) können einen Risikofak- Orale Kontrazeptiva. Nur in Kombination mit Übergewicht
tor für Schlaganfälle darstellen. und Rauchen führen diese bei Frauen zu einem leicht erhöh-
ten Schlaganfallrisiko. Die postmenstruelle Hormonsubsti-
Generalisisierte Arteriosklerose und thrombogener Aorten- tution ist mit einem erhöhten Risiko für Schlaganfälle und
bogen. Beide stellen einen Risikoindikator für embolische Herzinfarkte, aber auch von Mammakarzinomen, verbunden
Schlaganfälle dar. (Women’s Health Study).

Diabetes. Bei Diabetes mellitus besteht ein eindeutiger Zusam- Andere exogen Risiken. Kortisonbehandlung geht mit einem
menhang zwischen der Dauer und Ausprägung des Diabetes erhöhten Schlaganfallrisiko einher. Verschiedene Drogen
und dem Auftreten von Schlaganfällen. (Crack, Kokain, synthetische Drogen können ischämische In-
farkte und akute Vaskulitiden hervorrufen. Häufiger sind aber
Rauchen. Es besteht ein klarer Zusammenhang zwischen Hirnblutungen mit aktuellem Drogenkonsum verbunden.
Dauer und Menge des Zigarettenkonsums und dem Auftreten
von Schlaganfällen sowie anderer vaskulärer Komplikationen,
besonders der peripheren arteriellen Verschlusskrankheit. 5.3 Ätiologie und Pathogenese
ischämischer Infarkte
Infektionen, sCRP. Vorbestehende und interkurrente Infek-
tionen sind ebenfalls unabhängige Risikofaktoren. Erhöhtes 5.3.1 Arteriosklerose und Stenosen
sCRP-Werte (sensitives C-reaktives Protein, nicht das im Stan- der hirnversorgenden Arterien
dardlabor bestimmte CRP), ist, wie beim Myokardinfarkt,
auch für den ischämischen Schlaganfall einen Risikofaktor. Arteriosklerotische Veränderungen der extra- und intrakrani-
ellen Hirnarterien entstehen durch multifaktorielles Zusam-
Hyperhomozysteinämie. Ihre Bedeutung ist noch immer in menspiel verschiedenster Risikofaktoren. Störungen des Cho-
der Diskussion. Möglicherweise besteht eine Beziehung zur lesterinmetabolismus und endotheliale Schädigungen schei-
Aktivierung von arteriosklerotischen Läsionen. Allerdings war nen die Ausprägung der Arteriosklerose zu bestimmen. Die
in einer großen Studie Vitamin- und Folsäuresubstitution zur Arteriosklerose nimmt mit dem Alter zu und ist bei Männern
Beeinflussung der Homozysteinspiegel nicht effektiv in der häufiger als bei Frauen.
Verminderung des Schlaganfallrisikos.
3Lokalisation. Arteriosklerose tritt aufgrund strömungs-
Alkohol. Interessant ist, dass geringe Alkoholmengen einen mechanischer Faktoren besonders häufig an der Karotisbifur-
eher protektiven Effekt für das Auftreten von Schlaganfällen kation auf. Ebenfalls betroffen sind die Vertebralisabgänge, die
haben. Höhere Mengen Alkohol verursachen jedoch hohen distale A. vertebralis im intraduralen Segment, die mittlere
Blutdruck, und hier ist dann eine Beziehung zur Häufigkeit A. basilaris und der Karotissiphon. Seltener sind direkte arte-
von Schlaganfällen unausweichlich. Ein linearer Bezug besteht riosklerotische Veränderungen an anderen intrakraniellen Ge-
auch zwischen der Alkoholmenge und dem Auftreten von Sub- fäßen, z.B. im proximalen Segment der Media oder am Poste-
arachnoidalblutungen oder Hirnblutungen. riorabgang.

Facharzt
Morphologie der Plaques
Die Morphologie der arteriosklerotischen Plaques ist vielfäl- Region losgelöst werden und in die Gehirnzirkulation gelan-
tig: Glattbegrenzte, epithelialisierte und kalzifizierte Einen- gen. Eine Plaqueruptur führt zur akuten Thrombose und
gungen des Gefäßlumens sind ebenso möglich wie breite, damit zum Gefäßverschluss oder zur Embolie.
exulzerierte, in ihrer Oberfläche zerklüftete und durch appo- Während Ultraschalltechniken die Plaquemorphologie
sitionelle Thromben zusätzlich aufgelockerte Plaques. Einblu- nur annäherungsweise darstellen, besteht große Hoffnung,
tungen, Blutungsresorption, Thrombose, zusätzliche Lipidab- das neue MR-Techniken mit hochauflösenden Oberflächen-
lagerungen und Verkalkungen sowie fibröse Umwandlungen spulen und lokaler Mikro-Temperaturmessung, vielleicht auch
können die Morphologie der Plaques mitbestimmen. Ulzera- PET-Studien nicht-invasiv die Plaquecharakteristika sichtbar
tive Veränderungen an den Plaques sind häufig die Ursache machen können.
von Embolien, die durch den turbulenten Blutfluss in dieser
180 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Facharzt
Infarkte bei hämodynamisch wirksamen Stenosen
Hämodynamisch bedingte Infarkte entstehen bei signifi- störungen und später zum Infarkt. Wenn Kollateralen in Funk-
kanter Drosselung des Perfusionsdrucks mit Verlust des tion treten, können hochgradige Stenosen und Verschlüsse
Druckgefälles in der Gefäßperipherie oder im Zentrum eines der großen, hirnzuführenden Gefäße toleriert werden. Nicht
von außen kollateralisierten Hirnbezirks. Unter normalen selten sind mehrere hirnversorgende Arterien kritisch einge-
Bedingungen werden erst Stenosen ab 80% hämodynamisch engt. Manchmal hat man Patienten vor sich, bei denen beide
wirksam. Dies ändert sich, wenn mehrere Stenosen hinter- ICA verschlossen sind und eine Vertebralarterie stenosiert ist,
einander geschaltet sind oder wenn starke Anämie, syste- deren gesamte zerebrale Blutversorgung also von einer Ver-
mische Hypotonie, Schock, verzögerte Reanimation oder tebralarterie und den Ophthalmikakollateralen abhängt.
veränderte rheologische Parameter des Blutes hinzukom- Tandemstenosen sind aufeinanderfolgende Stenosen an
5 men. Insgesamt ist dieser Pathomechanismus deutlich sel- einem Gefäß, z.B. an der Karotisgabel und im Karotissiphon.
tener relevant als arterio-arterielle Embolien. Über die hämodynamische Wirksamkeit entscheidet die
höhergradige der beiden Stenosen.
3Endstrominfarkte. Diese ereignen sich im Ausbreitungs- In der hinteren Zirkulation ist die mittlere A. basilaris eine
gebiet der langen, nichtkollateralisierten Markarterien, da Prädilektionsstelle für Arteriosklerose. Auch hier kann ein
sich erst dort der kritische Perfusionsabfall bemerkbar macht. Verschluss weitgehend asymptomatisch toleriert werden,
wenn eine gute Kollateralisierung über das zerebelläre lepto-
3Grenzzoneninfarkte. Sie entstehen im Grenzgebiet meningeale Netzwerk und retrograd aus dem Karotisterrito-
zwischen dem Versorgungsgebiet zweier oder mehrerer rium erfolgt (embryonaler Versorgungstyp, s.o.). Andererseits
Hirnarterien und werden auch als Wasserscheideninfarkte tendieren hochgradige Stenosen der A. basilaris zur zusätz-
bezeichnet. lichen Thrombose und können dann unter dem Bild eines
akuten Basilarisverschlusses lebensbedrohliche Symptome
3Pathophysiologie. Unterschreitet der Blutfluss die verursachen.
kritischen Schwellen, kommt es zu fluktuierenden Funktions-

3Einteilung der Stenosen. Oft führt die Arteriosklerose Thromben nahezu ausgefüllten, distalen Karotissegment zu
zu Gefäßverengungen, sog. Stenosen. Man unterteilt Stenosen, finden ist, zum Verschluss entwickeln.
je nachdem, ob sie schon einmal neurologische Symptome
> Stenosen der hirnversorgenden Gefäße können hä-
verursacht haben oder nicht, in symptomatische Stenosen
modynamisch bedingte Infarkte auslösen, häufiger
und asymptomatische Stenosen. Der Stenosegrad gibt die
aber sind sie Quelle arterio-arterieller Embolien
Lumeneinengung als Prozentwert an. Verwirrung ist aller-
dings dadurch entstanden, dass zwei große Behandlungs- Eine Sonderform der Arteriosklerose ist die dilatative Arteri-
studien unterschiedliche angiographische Definitionen ein- opathie. Die betroffenen Gefäße, meist die Basilaris, oft die
geführt haben, die doch gravierende Unterschiede zeigen. intrakranielle ICA, seltener die MCA, können stark erweitert
Eine 70%ige Stenose nach NASCET, der nordamerikani- (fusiformes Aneurysma) und elongiert sein. Der Blutfluss sinkt
schen Karotisoperationsstudie entspricht einer etwa 85%igen in den Gefäßen, und die Thromboseneigung steigt. Manchmal
Stenose nach Europäischer Karotisstudie (ECST). Und nicht
genug, heute wird die Stenoseeinschätzung ohnehin nach
Ultraschallkriterien vorgenommen, und da kann man beide
Definitionen nicht anwenden, sondern bezieht sich auf Strö-
mungsgeschwindigkeiten. Da somit 70% nicht gleich 70% sind,
sollte man immer angeben, welche Definition zugrunde liegt
(. Abb. 5.11).
Eine grobe Einteilung der Stenosegrade in
4 niedriggradig (<50%),
4 mittelgradig (50–70%),
4 hochgradig (70–90%)
4 höchstgradig (>90%)
4 und filiform (>95%)

ist klinisch praktikabel. Wenn an der Karotisbifurkation der


Abgang der ICA mit mehr als 80–90% Lumeneinengung be-
troffen ist, kann die Stenose hämodynamisch relevant werden. . Abb. 5.11. Berechnung des lokalen Stenosierungsgrades und
Die Stenose kann sich über das Stadium einer Pseudookklu- des Stenosierungsgrades relativ zum distalen Gefäßdurchmesser
sion, bei der nur noch ein minimaler Restfluss in einem von (distaler Stenosierungsgrad). (Nach Widder et al. 1986b)
5.3 · Ätiologie und Pathogenese ischämischer Infarkte
181 5
Facharzt
Emboliequellen
Arterioarterielle Embolien Kardiale Embolien. Herzkrankheiten wie idiopathisches
4 Embolien von der Karotisbifurkation: Arteriosklero- Vorhofflimmern, Herzklappenkrankheiten, der akute Myokard-
tische Stenosen jeder Ausprägung an der Karotisgabel tragen infarkt, die koronare Herzkrankheit, Herzinsuffizienz oder
ein Embolierisiko, das von Plaquemorphologie und Stenose- ventrikuläre Hyperthrophie prädisponieren zu Schlaganfällen
grad abhängt. Beim Verschluss eines Gefäßes kommt es nicht (. Tabelle 5.2). Das Vorhofflimmern ist mit einem hohen
selten zur akuten periokklusionellen Embolie, die die kli- Schlaganfallrisiko verbunden, wenn komplizierende Faktoren
nischen Symptome beim symptomatischen Gefäßverschluss wie Herzinsuffizienz oder koronare Herzkrankheit hinzutreten.
auslöst. Deshalb muss beim Verdacht auf einen akuten Gefäß- Das unkomplizierte idiopathische Vorhofflimmern stellt ein
verschluss eines extrakraniellen Gefäßes immer überprüft viel geringeres Risiko dar. Der akute Myokardinfarkt führt
werden, ob nicht gleichzeitig eine supraokklusionelle Embo- häufig zu einem zusätzlichen Schlaganfall, besonders wenn
lie in eine intrazerebrale Arterie stattgefunden hat. Embolien ventrikuläre Thromben entstehen.
von intrakraniellen Stenosen der ICA oder ihrer Äste sind Ein persistierendes offenes Foramen ovale ist viel häufiger
selten. In der hinteren Zirkulation sind Embolien von intrakra- bei Patienten, bei denen ein Schlaganfall ohne andere ätiolo-
niellen Vertebralistenosen in die Basilaris, die Zerebellararte- gische Erklärung vorliegt. Andererseits ist es auch bei Gesun-
rien und in die A. cerebri posterior nicht ungewöhnlich. den mit einer Inzidenz von 20–25% nicht selten. Ein OFO
4 Embolien aus der Aorta: Die aszendierende Aorta ist ist vermutlich nur zusammen mit einem Vorhofseptumaneu-
ebenfalls ein häufiger Ausgangspunkt von arterioarteriellen rysma ein Risiko für embolische Infarkte.
Embolien, da sie besonders stark von arteriosklerotischen Vorhof- oder Ventrikelthromben und ulzerierte Aorten-
Veränderungen, die sich auch auf die Abgänge der großen klappen sind häufige Emboliequellen.
hirnversorgenden Arterien erstrecken können, betroffen ist.
Selbst aus der deszendierenden Aorta können über turbu-
lente Flussanteile arterio-arterielle Embolien in die hirnver-
sorgenden Arterien gelangen.

wird das Gefäß so groß, dass es die umgebenden Hirnstruktu- Embolische Infarkte führen zu typischen Territorialinfarkten
ren komprimieren kann. An der Basilaris wird diese Arterio- (s.u.). Kleine Embolien können aber auch Infarkte von Laku-
sklerose vom dilatativem Typ auch als Megadolichobasilaris nengröße verursachen, wenn sie penetrierende Arterien ver-
bezeichnet. schließen.
Die häufigste Ursache eines Hirninfarkts ist der embo-
lische Verschluss einer zerebralen Arterie. Er liegt etwa 30%
5.3.2 Lokale arterielle Thrombosen aller Schlaganfälle zugrunde.

Arteriosklerose an den großen Hirnbasisgefäßen wie der


intrakraniellen Karotis, der MCA und der Basilaris kann 5.3.4 Intrazerebrale Arteriolosklerose
neben der stenotischen Einengung der Gefäße auch zu loka- (Mikroangiopathie)
len Thrombosen führen. Es gibt also hämodynamische und
embolische Mechanismen bei diesen Lokalisationen. Vermut- Alter, arterielle Hypertonie und andere Risikofaktoren wie
lich kommen für die Entstehung solcher Läsionen noch an- Diabetes mellitus und Hypercholesterinämie verursachen ar-
dere Faktoren wie die genetische Prädisposition (Arterioskle- teriosklerotische Veränderungen der kleinen intrazerebralen
rose dieser Gefäße ist bei Asiaten und Afroamerikanern häu- Gefäße (sog. Mikroatherome), die zunächst elongiert werden.
figer), Infektionen und eine gesteigerte Thromboseneigung Danach kommt es zu einer Lipohyalinose genannten Verdi-
ins Spiel. ckung der Gefäßwand. Das Lumen wird hierdurch eingeengt.
Lipidreiche Makrophagen können einwandern. Wanddefekte
und kleine Wandaneurysmen, die Ursache hypertensiver Ba-
5.3.3 Embolien salganglienblutungen sein können, bilden sich aus.

Embolien können aus dem Herzen (kardiale Embolie), aus den 3Lakunäre Infarkte
hirnzuführenden Arterien (Aorta, Karotis, Vertebralarterien) Diese Veränderungen betreffen nahezu ausschließlich die
oder den intrakraniellen Arterien (Karotissiphon, intrakrani- von basal penetrierenden lentikulostriären Arterien und Rami
elle Vertebralis, Basilaris) stammen. Sie können in ihrer Zu- ad pontem. Die Okklusion der kleinen Gefäße führt durch ar-
sammensetzung sehr heterogen sein: Es gibt frische (paradoxe) teriosklerotischen Verschluss oder zusätzliche Thrombose zu
venöse Embolien, frische arterielle Plättchenthromben, die von subkortikalen, kleinen Infarkten, sog. Lakunen. In der Maxi-
arteriosklerotischen Plaques losgelöst werden können, und malvariante kommt es zum Status Lacumeris und zur ischä-
organisierte, z.T. verkalkte oder cholesterinreiche Embolien. mischen Demyelinisierung des Marklagers (SAE, 7 Kap. 5.5.5).
182 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Facharzt
Seltenere Ätiologien ischämischer Infarkte
Koagulopathien. Schlaganfällen können Faktoren, die mit zu Hirninfarkten. Spezifische Antikörper, zirkulierende Immun-
einer erhöhten Gerinnungsbereitschaft des Blutes einherge- komplexe und Endotoxine können die Gefäßwand direkt
hen, zugrunde liegen (. Tabelle 5.3). Bei jüngeren Patienten, schädigen und Vasospasmen oder Thrombosen verursachen.
die keine arteriosklerotischen Risikofaktoren haben, sollte Immunologische Mediatoren sind auch die Ursache von um-
man daher nach Gerinnungsstörungen wie AT-III-Mangel, schriebenen vaskulitischen Veränderungen bei bakteriellen
Protein-C-Mangel und Protein-S-Mangel suchen. Allen ist oder viralen Infektionen. Hier können auch granulomatöse,
gemeinsam, dass sie etwas häufiger Thrombosen im venösen direkt entzündliche Arteriitiden (z.B. bei Lues, Tbc, Pilzinfekti-
System verursachen, arterielle Gefäßverschlüsse sind jedoch onen) auftreten.
bei allen beschrieben.
5 In letzter Zeit wird der Resistenz gegen aktiviertes Pro- Immunkomplexvermittelte Erkrankungen sind
tein C (APC-Resistenz) und Anti-Kardiolipin-Antikörpern eine 4 die Panarteriitis nodosa (PAN),
große Bedeutung zugeschrieben. Seltene Krankheiten wie 4 der systemische Lupus erythematodes (SLE) und die
die thrombotische thrombozytopenische Purpura und die Wegener-Granulomatose,
disseminierte intravasale Gerinnung können zu Schlagan- 4 die Takayasu-Arteriitis und die allergische Angiitis (Churg-
fällen führen. Unter Heparinbehandlung kann es zur hepa- Strauss) (. Tabelle 5.3).
rininduzierten Thrombozytopenie kommen, die auch zu
thrombotischen Verschlüssen von Hirngefäßen führen kann. Immunmechanismen werden auch bei der Entstehung von
Schlaganfällen (ischämischen Infarkten und Blutungen) bei
Immunologische Mechanismen. Immunmechanismen Drogenabusus (Heroin, Kokain, Crack, Ecstasy) diskutiert.
führen zu Vaskulitiden der Hirngefäße und konsekutiv auch

3Amyloidangiopathie jedoch keine traumatische Ursache und muss nach anderen


Auch die deszendierenden kortikalen Arterien, die von den prädisponierenden Faktoren suchen. Eine angeborene Störung
leptomeningealen Gefäßen abgehen, können pathologisch ver- des Aufbaus der Gefäßwand (fibromuskuläre Dysplasie, Eh-
ändert sein. Hier findet sich meist eine Verdickung der Gefäß- lers-Danlos-Syndrom, Marfan-Syndrom) wird bei manchen
wand mit Amyloidablagerungen. Sie lassen sich mit Kongorot Patienten gefunden. Auch scheinen spontane Dissektionen oft
anfärben (deshalb auch »kongophile Angiopathie«). Wandver- im Zusammenhang mit Infektionen aufzutreten (. Tabelle 5.3).
änderungen führen zu Fragmentierung und Verlust der Tunica
elastica interna. Mikroaneurysmen können sich ausbilden und 3Lokalisation. Besonders häufig finden sich Dissektionen
prädisponieren zu Blutungen. Eine Kombination mit einer distal der Karotisgabel bis zum Eintritt der Karotis in die Schä-
subkortikalen arteriosklerotischen Enzephalopathie (SAE, delbasis, aber auch im petrösen Segment und selten im Karo-
7 Kap. 5.5.5) ist möglich. tissiphon. Die Vertebralarterien sind vor allem in ihren dista-
len Anteilen (an der Atlasschleife, am Duradurchtritt im intra-
3Genetisch bedingte Erkrankungen der kleinen Gefäße kraniellen Segment und am Übergang V1/V2 (Eintritt in die
Außerdem gibt es mit dem CADASIL-Syndrom auch eine fa- Querfortsätze)) betroffen (7 Kap. 5.5.3). Dissektionen der in-
miliäre, genetisch determinierte Krankheit der kleinen Gefäße trakraniellen Arterien sind viel seltener.
(7 Kap. 5.9.6).

5.4 Einteilung der zerebralen Ischämien


5.3.5 Dissektionen
5.4.1 Einteilung nach Schweregrad
3Pathogenese. Pathogenetisch liegt Dissektionen eine Ein- und zeitlichem Verlauf
blutung in die Gefäßwand zugrunde. Diese kann unter der In-
tima, aber auch in der Media oder unter der Adventitia liegen. Zerebrale Ischämien mit völliger oder weitgehender
Bei der subintimalen Dissektion kann eine erhebliche Lumen- Rückbildung der Symptome (flüchtige Ischämien)
einengung bis hin zum Verschluss des Gefäßes resultieren. Bei Die Terminologie flüchtiger Durchblutungsstörungen ist im
subadventitialer Dissektion kann hingegen eine Dilatation des Wandel. Der WHO-definierte Begriff der transitorisch-ischä-
Gefäßes mit Pseudoaneurysmabildung entstehen. Bei etwa der mische Attacke (TIA) mit Spontanremission der neurolo-
Hälfte der Patienten lässt sich ein vorhergehendes, mehr oder gischen Symptome innerhalb von 24 h ist nicht länger zu hal-
weniger schweres Trauma als Ursache der Dissektion fest- ten, da verschiedene Studien gezeigt haben, dass die meisten
stellen. Hierzu gehören direkte Schlag-, Schuss-, Stichverlet- flüchtigen Symptome, die länger als 30 min andauern, zu vor
zungen, Hyperextension des Halses, chiropraktische Manöver, allem mit der sensitiven Diffusions-MRT nachweisbaren Läsi-
Operationen, Gurtverletzungen bei Autounfällen und vieles onen im Gehirn führen. Auch ist das Schlaganfallrezidivrisiko
andere mehr. Bei der anderen Hälfte der Patienten findet man nach einer »TIA« und nach einem kompletten Infarkt inner-
5.4 · Einteilung der zerebralen Ischämien
183 5

. Tabelle 5.3. Seltene Ursachen von ischämischen Insulten . Tabelle 5.3 (Fortsetzung)
Arterielle Dissektion Entzündliche, immunologische und ätiologisch ungeklärte
Ursache von Schlaganfällen
Direkt Bedingt Fraglich trau-
traumatisch traumatisch matisch/spon- 1. Infektiöse Vasku- Bakteriell
tan (ca. 50%) litis – Treponemen (Lues, Borreliose)
– Tuberkulose
Auto/Motorradunfall Sportaktivitäten Husten, Niesen
Pilze
(selten HWS-Distor- (ohne direktes Zähneputzen – Mukormykose
sion) Trauma) – Aspergillose
Chiropraktische Basketball, Ringen, Überkopf-Arbeit Viral
Manöver Tennis, Ski, Fußball – Herpes zoster
u.v.m. – Zytomegalie
Parasiten
Mundhöhlen- – Zystizerkose
verletzung
2. Sekundäre Vas- Riesenzellarteriitis
Schütteltrauma starke Kopfwen- kulitiden Takayasu-Syndrom
(Kindesmisshandlung) dung (Militär, Arteriitis temporalis
Autofahren) Isolierte Vaskulitis des ZNS
Schlägerei (Karate) Headbanging Nekrotisierende Vaskulitis
Panarteriitis nodosa
Hämatologische Ursachen
Allergische Angiitis
1. Faktormangel AT III Systemischer Lupus
Protein C; APC-Resistenz Hypersensitivitätsvaskulitis
Protein S Wegener-Granulomatose
Plasminogen Sklerodermie
Plasminogenaktivator Sarkoidose
2. Faktorenüberex- Faktor V Mitochondriopathien
pression Faktor VIII Hyperhomozysteinämie
Sneddon Syndrom
3. Überproduktion Paraproteinämien
von Plasmaprotei- Kryoglobulinämie 3. Unspezifische Fibromuskuläre Dysplasie
nen Hyperfibrinogenämie Angiopathien Spontane Dissektion
Moya-Moya-Syndrom
4. Zelluläre Hämoglobinopathien Angiopathie nach Bestrahlung
Störungen Plättchenhyperaggregation
Polyzythämie 4. Genetische Ursa- Bindegewebsstörungen (Marfan-
Thrombozythämie chen (wenn nicht an- Syndrom, Ehlers-Danlos-Syndrom)
Leukämie derweitig erwähnt) CADASIL/CARASIL
Mitochondriopathien (z.B. MELAS)
5. Immunologische thrombotisch/thrombozytopenische
prothrombotische Purpura TTP (Moschcowitz)
Syndrome Heparininduzierte Thrombozytopenie
Antiphospholipid-Antikörpersyndrom
sind kompletten Infarkten mit ausgedehnten Funktionsstörun-
6 Tumorassoziierte Koagulopathien
gen flüchtige Attacken oder vollendete Infarkte mit leichtem
Defizit im gleichen Strombahngebiet vorausgegangen. Eine
Einteilung des Schweregrades von Hirninfarkten anhand etab-
halb der ersten 30 Tage identisch, wenn bei einer TIA in der lierter klinischer Scores ist sinnvoll. Für den akuten Hirn-
Bildgebung (CT, MR-DWI) bereits Ischämiezonen demarkiert infarkt ist hierfür das National Institute of Health Stroke Scale
sind. Der Übergang von der TIA zum Infarkt mit völliger oder (NIH-SS) verbreitet (s. Anhang).
weitgehender Rückbildung der Symptome ist fließend.

Zerebrale Ischämien mit bleibenden 5.4.2 Einteilung nach der Infarktmorphologie


Ausfallserscheinungen (vollendeter Infarkt,
Infarkt mit bleibenden Symptomen) Morphologische Befunde in CT und MRT enthalten Hinweise
Kennzeichen des vollendeten Infarkts sind neurologische Aus- auf den Entstehungsmechanismus des ischämischen Infarkts.
fälle persistieren. Sind nur leichte neurologische Ausfälle zu Ganz wesentlich ist die Unterscheidung, ob es sich um Läsionen
finden, spricht man von einem vollendeten Infarkt mit leich- handelt,
tem oder mäßigem Defizit (engl. minor stroke). Ein vollende- 4 die auf den Verschluss penetrierender, kleiner intrazere-
ter Infarkt mit erheblichem Defizit zeigt sich z.B. mit einer braler Arterien (Mikroangiopathie) oder
schweren Aphasie, einer fortbestehenden Hemianopsie und 4 großer pialer oder extrakranieller Arterien (Makroangio-
einer hochgradigen Hemiparese oder Hemiplegie. Nicht selten pathie)
184 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Exkurs
TIA, flüchtige Ischämie und progredienter Infarkt
Eine alte, noch immer oft benutzte, aber inzwischen überhol- unabhängig von der – ohnehin nur retrospektiv festzulegen-
te Einteilung zerebraler Ischämien stützt sich auf die Beschrei- den Klassifikation – erfolgen.
bung des zeitlichen Verlaufs der Ischämie. Man unterschied Dennoch ist das Konzept der sich schnell vollständig
4 die transitorisch-ischämische Attacke (TIA), zurückbildenden Durchblutungsstörung weiterhin wichtig:
4 den Infarkt mit guter oder völliger Remission (reversibles Der flüchtigen, voll reversiblen Attacke können in engem
ischämisches neurologisches Defizit, RIND), zeitlichem Zusammenhang neue, schwerere und nicht mehr
4 den progredienten (oder fluktuierenden) Insult und reversible Ausfälle folgen. Die TIA ist und bleibt ein wichtiges
4 das Stadium des vollendeten Infarkts, das mit stabilem Warnsignal. Entgegen einer immer noch weit verbreiteten
Defizit oder partieller Rückbildung einhergehen kann. Meinung rechtfertigt eine rasche klinische Besserung oder
5 eine nur gering anhaltende oder fluktuierende Funktions-
Der Begriff »vollendeter Infarkt« sagte nichts über das Aus- störung nicht eine abwartende Haltung. Im Gegenteil, diese
maß des neurologischen Defizits aus. flüchtigen Ischämien sollten Anlass sein, prophylaktisch nach
Ursprünglich beschrieb man als TIA fokale neurologische einer behandelbaren Ursache zu fahnden. Wird dies versäumt,
Funktionsstörungen, die innerhalb von 24 h vollständig rever- droht den Patienten Invalidität oder Tod nach einem vollende-
sibel sind. In der Realität sind sie viel kürzer, 80% der Attacken ten Infarkt.
dauern weniger als 30 min und nur 5% dauern länger als 6 h. Der seltene progrediente Insult stellt diagnostisch und
Die meisten flüchtigen Symptome, die länger als 30 min therapeutisch ein besonderes Problem dar. Über Stunden (im
andauern, führen zu nachweisbaren Läsionen im Gehirn. hinteren Kreislauf auch über Tage) nehmen die Ausfälle an
Entsprechend ist auch die neue Definition der TIA: Die Schwere und Ausmaß immer mehr zu. Verlaufsformen mit
Symptome müssen sich innerhalb von 1 h vollständig zurück- fluktuierender Symptomatik, mit Remissionen (Crescendo-TIA)
bilden und dürfen in der bildgebenden Diagnostik keine und mit kontinuierlicher fortschreitender Verschlechterung
morphologische Läsion hinterlassen haben. Die Behandlung der neurologischen Ausfälle sind möglich und kommen vor
von Patienten in der Frühphase einer Ischämie sollte daher allem bei Infarkten in der Capsula interna und dem Pons vor.

Facharzt
Makro- und Mikroangiopathie
Makroangiopatische Infarkte können thrombembolisch, farkte zwischen den Versorgungsgebieten von zwei oder drei
autochthon thrombotisch oder hämodynamisch (Verlust des großen Gefäßen (. Abb. 5.12c,d). Ihnen liegen immer hoch-
Druckgradienten) entstehen. gradige, hämodynamisch wirksame Stenosen (oder Verschlüs-
se) der extrakraniellen Gefäße (Karotisgabel, Vertebralisab-
Territorialinfarkte. Sie entstehen durch embolischen oder gang, distale Vertebralis) oder der intrakraniellen großen Arte-
lokal thrombotischen Verschluss von großen und mittelgroß- rien (Karotissiphon, proximale Media, Basilaris) zugrunde.
en Hirnoberflächenarterien. Sie sind oft keilförmig auf das Neben der arteriosklerotischen Ätiologie kommen auch Dis-
Versorgungsgebiet (Territorium) der betroffenen Arterie sektionen der Arterien infrage.
beschränkt (. Abb. 5.12e und 5.13e). Bei partieller Kollatera-
lisierung des Randbezirks eines solchen Territorialinfarkts Mikroangiopathien. Als Mikroangiopathie bezeichnet man
entstehen zentrale Infarkte. Die Okklusion der Aa. lenticulos- eine durch Mikroatherome, Lipohyalinose und fibrinoide
triatae am Abgang des Gefäßbündels aus der A. cerebri Nekrose gekennzeichnete Wandveränderung der kleinen
media führt zu einem ausgedehnten Basalganglieninfarkt, Gefäße. Sie führt zu isolierten oder multiplen Thrombosen der
der eine Sonderform eines Territorialinfarkts darstellt kleinen, dünnen, tief in das Hirngewebe penetrierenden Arte-
(. Abb. 5.12f ). rien. Dem entspricht das Muster der lakunären Infarkte
Embolien stammen vom Herzen, aus der Aorta ascen- (. Abb. 5.12a,b und 5.13a, b). Sie sind meist Ausdruck einer
dens und von arteriosklerotischen Plaques. »Systemkrankheit« der kleinen Hirngefäße. Einzelne oder
Lokale Thrombosen der Hirngefäße sind bei Vaskulitis, einseitig betonte Infarkte von Lakunengröße (<1 cm3) können
Arteriosklerose und Koagulopathien zu finden, sie sind in der selten einmal auch durch Embolien bedingt sein. Meist ist die
vorderen Zirkulation selten, spielen aber in der hinteren Mikroangiopathie durch Hypertonie, oft auch begleitet von
Zirkulation eine wesentliche Rolle. einem jahrelangen Diabetes, verursacht.
Natürlich gibt es auch Übergangsformen der einzelnen
Hämodynamische Infarkte. Hier unterscheiden wir End- Infarktmuster und Patienten, bei denen sich Infarkte unter-
strominfarkte (im distalen Ausbreitungsgebiet der penet- schiedlicher Ätiologie ereignet haben.
rierenden Arterien, »letzte Wiesen«) und Grenzzonenin-
5.5 · Klinik und Gefäßsyndrome
185 5

a c e

b d f

. Abb. 5.12a–f. Charakteristische Beispiele für die verschiedenen Mediaversorgungsgebiet rechts (Grenzzoneninfarkt), e Territorial-
Formen der mikro- und makroangiopathischen Infarkte. a Status infarkt der mittleren Mediaastgruppe, f Typischer Infarkt im Versor-
lacunaris bei zerebraler Mikroangiopathie mit bilateralen Lakunen in gungsgebiet der Aa. lenticulostriatae. Die Beispiele sind so ausge-
den Stammganglien, b Diffuse Dichteminderung des Marklagers mit wählt, dass jede der Läsionen (Ausnahme d) eine gleichartige klini-
einzelnen eingelagerten paraventrikulären Lakunen (subkortikale sche Symptomatik, nämlich eine zentrale, brachiofazial betonte
arteriosklerotische Enzephalopathie, M. Binswanger), c Subkortikal- Hemiparese rechts hervorrufen könnte. Durch die Kombination aus
paraventrikuläre Läsion (Endstrominfarkt), d Extraterritoral gelegene Klinik und zeitlicher Entwicklung des Schlaganfalls allein könnte kein
subkortikale Läsion im Grenzzonengebiet zwischen Anterior- und sicherer Rückschluss auf die zugrunde liegende Angiopathie erfolgen

zurückzuführen sind (. Abb. 5.12 und 5.13; . Tabelle 5.4). Wei- 5.5 Klinik und Gefäßsyndrome
terhin geben die morphologischen Befunde Hinweise auf die
Infarktursache, z.B. auf eine Embolie. 5.5.1 Zerebrale Ischämien in der
vorderen Zirkulation
> Makroangiopathien können thrombembolisch
bedingt oder hämodynamisch entstanden sein. Als Territorium der A. carotis interna
Emboliequellen kommen das Herz, die aufsteigende Arteriosklerose am Abgang der ICA führt häufig zu hemisphä-
Aorta und die hirnversorgenden Arterien in Frage. rischen Ischämien mit kontralateralen Halbseitensymptomen.
Mikroangiopathien entstehen durch eine meist durch Wegen der guten Kollateralisierung führt ein Karotisverschluss
Hypertonie hervorgerufene Veränderung der Wand meist nur zu Symptomen des Mediaterritoriums. Ein proxima-
der kleinen, intrazerebralen Endarterien (Mikroathe- ler Verschluss der ICA kann wegen der oft ausreichenden Kol-
rome und Lipohyalinose). lateralisierung symptomfrei toleriert werden. Der – meist akut
auftretende – distale Karotisverschluss (Karotis-T-Verschluss)
führt dagegen zu ausgedehnten Hirninfarkten mit schwersten
neurologischen Ausfällen (maligner Infarkt).

A. ophthalmica
Die Amaurosis-fugax-Attacke (retinale TIA) ist ein sich meist
vertikal, von oben nach unten ausdehnender Visusverlust auf
einem Auge »wie ein sich senkender Vorhang«, der innerhalb von
Minuten wieder verschwindet (. Abb. 5.14). Rezidive sind häufig.
186 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

. Abb. 5.13a–f. Schematische Darstellung


der verschiedenen ischämischen Läsionsmus-
ter im Großhirn entsprechend der Anordnung
in Abb. 5.11. a Multiple lakunäre Infarkte an den
Prädilektionsstellen, b Typischer Befund bei sub-
kortikaler arteriosklerotischer Enzephalopathie
(M. Binswanger) mit lakunären Infarkten an den
Prädilektionsstellen und diffuser, periventrikulär
betonter Dichteminderung der weißen Subs-
tanz, c Unterschiedlich große Endstrominfarkte
(»letzte Wiesen«) an typischer Stelle, streng sub-
kortikal, d Vorderer und hinterer Grenzzonen-
5 infarkt mit kombinierter kortikaler und subkorti-
kaler Läsion. Nachweis in den apikalen Schich-
ten, e Unterschiedlich große Territorialinfarkte
der vorderen, mittleren und hinteren Mediaast-
gruppe (links), des gesamten Mediaterritoriums
(Mitte) sowie des Anterior- und Posteriorgebiets
(rechts). Ein sehr kleiner kortikaler Territorialin-
farkt eines peripheren Mediaastes ist ebenfalls
abgebildet, f So genannter »ausgedehnter Lin-
senkerninfarkt«. Das Territorium der Aa. lenticu-
lostriatae ist in allen Schnittebenen betroffen.
(Nach Ringelstein 1985)

. Tabelle 5.4. Ätiopathogenetische Einteilung der Infarkte


Infarktmuster Ätiologie Risikofaktoren
Mikroangiopathie
Lakunäre Infarkte
– Einzelne 1. Lipohyalinose 1. Hypertonus
2. Diabetes
2. arterioarterielle Embolie 1. Hypertonus
2. Diabetes
3. Hypercholesterinämie
3. kardiale Embolie 1. Vorhofflimmern
2. Andere kardiale Quellen
– Multiple 1. Lipohyalinose 1. Hypertonus
2. kardiale Embolie 1. Vorhofflimmern
2. Andere kardiale Quellen
Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie 1. Lipohyalinose 1. Hypertonus
2. Diabetes
Makroangiopathie
Territorialinfarkt 1. Kardiale Embolie 1. Vorhofflimmern
2. Andere Quellen
2. Arterio-arterielle Embolie Hypertonus
1. Karotisstenose Diabetes
2. Aortenarteriosklerose Hypercholesterinämie
3. Dissektion 1. Trauma
2. Infektion
4. Lokale Thrombosen 1. Gerinnungsstörung
2. Lokale Arteriosklerose
3. Vaskulitis
4. Drogen
Hämodynamisch induzierte Infarkte 1. Extrakranielle Stenosen 1. Hypertonus, Diabetes
2. Intrakranielle Stenosen 2. Hypercholesterinämie
3. Dissektion 3. Trauma
Gliederung von Ätiologie und Risikofaktoren nach Häufigkeitsrangfolge (1.–3.) und Bedeutung (fett hervorgehoben = sehr häufig und
wichtig; kursiv hervorgehoben = eher selten).
5.5 · Klinik und Gefäßsyndrome
187 5
Es treten sensible, motorische oder sensomotorische, kon-
tralaterale Halbseitensymptome, Störungen der Blickmotorik,
Störungen der Sprechmotorik, neuropsychologische Syndrome
wie Aphasien oder Apraxien, Lese- oder Rechenstörungen auf.
Den Mediateilinfarkten liegen überwiegend embolische oder
lokal atheromatös-thrombotische Läsionen zugrunde. Im CT
findet man entsprechend dem verschlossenen Mediaast sub-
kortikal-kortikale territoriale Infarkte. Bei sehr kleinen In-
farkten kann die Läsion auf den Kortex beschränkt sein und
sich nur im MRT oder bei Gabe von Kontrastmittel im CT
zeigen.
Bei subkortikalen Ischämien, wie dem ausgedehnten Lin-
senkerninfarkt, steht eine Hemiparese, manchmal mit früher
Tonuserhöhung, im Vordergrund. Nicht selten sind auch Sen-
sibilitätsstörungen und, wenn die zentrale Sehbahn betroffen
ist, eine Gesichtsfeldeinschränkung. Auch bei subkortikalen
Infarkten treten in der Frühphase oft neuropsychologische
Symptome auf: So wird eine initiale, globale oder nicht-flüssige
Aphasie beim linksseitigen Linsenkerninfarkt beobachtet. Dies
führt man auf eine durch den Basalganglieninfarkt ausgelöste
funktionelle Hemmung benachbarter kortikaler Areale zu-
rück. Die Funktionsstörung lässt sich mit der PET als vorüber-
gehende Minderperfusion und Drosselung von Stoffwechsel-
vorgängen in dieser Region nachweisen.
Hämodynamische Infarkte machen sich mit einer fluktu-
ierenden kontralateralen Lähmung bemerkbar, bei der man
manchmal eine Abhängigkeit vom systemischen Blutdruck
feststellen kann.

A. cerebri anterior
. Abb. 5.14. Synoptische Darstellung (a) der Dynamik von Gesichts-
Die ACA ist selten (<5%) isoliert von Infarkten betroffen. Eine
feldveränderungen, (b) von retinalen Ischämieterritorien und (c) Ge- distal betonte Parese des kontralateralen Beins, manchmal
fäßprozessen in den Retinaarterien bei Amaurosis-fugax-Attacken. Mit auch Hüfte und Schulter erfassend, steht im Vordergrund. Bei
wechselnder Lokalisation des Gefäßverschlusses (1–4) ändert sich Schädigung der supplementär-motorischen Region können
auch die Symptomatologie entsprechend dem Ischämieterritorium. auch Hand und Gesicht betroffen sein. Sensibilitätsstörungen
(Nach Toole 1984) sind selten, Apraxie kommt bei einseitigen Infarkten vor.
Andere neuropsychologische Störungen sind nur bei bila-
Ursache: meist embolischer, kurzdauernder Verschluss der Zent- teralen Infarkten im Anteriorstromgebiet bemerkbar (vorderes
ralarterie (Emboliequelle: Karotisbifurkation, selten kardial). Diskonnektionssyndrom, Antriebs- und Orientierungsstö-
rung).
A. cerebri media Iatrogene Anteriorinfarkte kommen relativ häufig nach
Das Mediasyndrom mit armbetonter Hemiparese, Hemihyp- Klippung von Aneurysmen der A. communicans anterior vor.
ästhesie und Dysarthrie bzw. Aphasie ist die häufigste klinische Neben der doppelseitigen motorischen Symptomatik resultiert
Manifestation eines Schlaganfalls. eine schwere Antriebsstörung.

Facharzt
Subclavian-Steal-Syndrom
Es kann bei Stenosen bzw. Verschlüssen der A. subclavia besteht eine Blutdruckdifferenz zwischen beiden Armen.
proximal vom Abgang der A. vertebralis oder des Truncus Oft ist der betroffene Arm pulslos. Nur selten kommt es zu
brachiocephalicus auftreten. Da die A. subclavia nicht mehr fluktuierenden hämodynamischen Hirnstammsymptomen
genügend Blut erhält, kehrt sich der Blutstrom in der be- (Schwindel, Nystagmus, Doppelbilder, kurze Bewusstlosigkeit
treffenden A. vertebralis um. Über diese Strömungsumkehr bei angestrengter Armarbeit). Die Diagnose ist bei rezidivie-
wird der ipsilaterale Arm versorgt (. Abb. 5.15a,b). Die render, belastungsabhängiger Brachialgie, besonders nach
verminderte Blutversorgung löst während der Muskelarbeit Überkopfarbeit, einseitiger Pulsabschwächung und einer
im betroffenen Arm Schmerzen aus. Das Anzapfen des Blutdruckdifferenz über 25 mmHg systolisch klinisch sehr
Basilariskreislaufs reicht dabei nicht immer für die O2-Versor- wahrscheinlich und wird mit Dopplersonographie und Angio-
gung des Arms aus, so dass dieser rasch ermüdet. Immer graphie bestätigt.
188 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

. Abb. 5.15. Subklavia-Anzapf-Syndrom.


a Schematische Darstellung der Fluss- und Kollate-
ralverhältnisse bei proximaler Subklaviastenose
(links) und Subklavia-Anzapf-Syndrom, b-d Sub-
clavian Steal Syndrom bei Stenose der rechten
T. brachiocephalicus mit Füllung der rechten
A. vertebralis und A. subclavia bei Injektion in die
linke A. vertebralis (b). Nach Beseitigung der Steno-
se durch einen Stent (c) kommt es zu einem antero-
graden Fluss in die rechte A. vertebralis (d)

b
a

c d

Bilaterale Anteriorinfarkte. Diese kommen zustande, wenn dynamische Ischämien der hinteren Zirkulation (Schwindel,
beide Anteriores gemeinsam aus einer Karotis stammen und Nystagmus, Doppelbilder, Tonusverlust) vor. Die Arterioskle-
embolisch, thrombotisch oder durch Spasmen nach Subarach- rose betrifft auch die distalen, intrakraniellen Vertebralisab-
noidalblutung verschlossen werden. schnitte und kann zu einem Hirnstamminfarkt, zu einem
Kleinhirninfarkt und zu embolischen Verschlüssen der dista-
len Basilaris bzw. der Posteriores führen. Wenn die gegensei-
5.5.2 Ischämien in der hinteren Zirkulation tige Vertebralis gesund ist, wird ein Vertebralisverschluss oft
asymptomatisch toleriert.
A. vertebralis
Die A. vertebralis ist in ihrem proximalen Abschnitt, am Ab- A. cerebelli inferior posterior
gang aus der A. subclavia, oft von konzentrischer Arterioskle- Die PICA versorgt etwa 2/3 des ipsilateralen Kleinhirns. Bei
rose betroffen. Nur bei beidseitiger hochgradiger Stenosierung Verschlüssen kommt es zum Kleinhirnhemisphäreninfarkt mit
oder ausgeprägter kontralateralter Hypoplasie kommen hämo- ipsilateraler Ataxie, rotierendem Spontannystagmus, Dysmet-
5.5 · Klinik und Gefäßsyndrome
189 5
rie, ausgeprägter Zeigeataxie und Rebound-Phänomen. Bei 4 Kaudale vertebrobasiläre Thrombose
ausgedehnten Kleinhirnhemisphäreninfarkten kann es zur le- Meist arteriosklerotisch bedingt, kommt es bei dieser Throm-
bensbedrohlichen Kleinhirnschwellung mit Kompression des bose zu ausgedehnten, oft bilateralen Funktionsstörungen mit
Ventrikelsystems, Hydrozephalus und druckbedingten zusätz- Ausfall der kaudalen Hirnnerven, sensibler Bahnen, schwerer
lichen Hirnstammfunktionsstörungen kommen. Frühsymp- Ataxie und Hemi-/Tetraparese. Initial sind die Patienten nicht
tome sind Veränderungen der Bewusstseinslage, Schluckauf, bewusstlos.
Erbrechen, Doppelbilder durch Abduzenslähmung und im CT Ein- oder doppelseitige Kleinhirninfarkte können hinzu-
die Erweiterung der Temporalhörner sowie die Kompression treten. Die Thrombose kann sich weiter über den Zusammen-
des vierten Ventrikels. fluss der beiden Vertebralarterien in die mittlere A. basilaris
ausdehnen. Auch Embolien von hier in die Basilarisspitze
A. basilaris kommen vor.
Verschlüsse der aus der Basilaris entstammenden großen
und kleinen Arterien führen zu vielfältigen Symptomen, ab- 4 Syndrom der mittleren Basilaris. Hier ist eine Tetraplegie
hängig vom jeweiligen Hirnstammbezirk. Die Symptome, die durch bilaterale pontine Infarkte charakteristisch. Das in
bei Durchblutungsstörungen des Hirnstamms entstehen, sind Kap. 2 beschriebene Locked-in-Syndrom kann auftreten
charakterisiert durch bilaterale und gekreuzte klinische Symp- (7 Kap. 2.16.2). Ursache ist meist eine hochgradige Arterioskle-
tome. Dabei können ipsilateral Hirnnervenlähmungen und rose mit zusätzlicher Thrombose und Verschluss der perfo-
kontralateral Symptome der langen Bahnen auftreten (. Tabel- rierenden Arterien. Diese beiden Verschlussformen neigen
le 5.5). Die Blickmotorik kann bei ausgedehnten Hirnstamm- nach erfolgreicher Rekanalisierung zur Re-Okklusion, ein
infarkten stark beeinträchtigt sein. Ein- oder doppelseitige Problem, das man gut von den Koronararterien kennt, das aber
horizontale Blickparesen, ein- oder doppelseitige internukleäre sonst bei Verschlüssen der Hirngefäße (wegen der häufigen
Ophthalmoplegie, Abduzensparese, nukleäre oder infranukle- embolischen Genese) kaum vorkommt.
äre Okulomotoriusparese und die Kombination von horizon- Asymptomatische und mild symptomatische Stenosen der
taler Blickparese und internukleärer Ophthalmoplegie (Ein- mittleren Basilaris kommen vor und haben eine deutlich bes-
einhalb-Syndrom) können auftreten. Die vertikale Okulomo- sere Prognose. Dann handelt es sich um eine eher gutartige
torik ist seltener betroffen. Arteriosklerose ohne komplizierende Ruptur mit akutem
Kleinhirninfarkte führen oft zu einer Ocular-tilt-Reak- thrombotischen Verschluss.
tion mit Kopfschiefhaltung zur geschädigten Seite und Achs-
abweichung der Augen (skew deviation). 4 Verschluss der Basilarisspitze. Dieser ist meist embolisch
Die Symptomatik des Verschlusses der A. cerebelli infe- bedingt (Basilarisspitzenembolie). Die Patienten werden oft
rior anterior ist uncharakteristisch, da auch das von ihr ver- früh bewusstlos, haben Okulomotorik- und Pupillenstörungen
sorgte Territorium sehr variabel ist. Zeigeataxie, horizontaler sowie Sehstörungen (Hemianopsie oder kortikale Blindheit).
Nystagmus zur Gegenseite, ipsilaterales Horner-Syndrom und Fast immer sind die beiden Posteriores und die thalamoperfo-
eine kontralaterale (dissoziierte) Sensibilitätsstörung wurden rierenden Arterien betroffen. Beim Basilarisverschluss über
beschrieben. Der Verschluss der oberen Zerebellararterien mehrere Segmente treten die Symptome kombiniert auf.
führt zum Kleinhirnwurminfarkt mit Störung von Stand und
> Der akute Verschluss der A. basilaris ist lebensbedroh-
Gang, aber nur gering ausgeprägter Ataxie. Nystagmus ist
lich. Unbehandelt liegt die Sterblichkeit bei 80%.
selten.

3Basilaristhrombose A. cerebri posterior


Der akute Verschluss der A. basilaris (AB) hat eine besonders Aus dem proximalen Anteil der PCA entspringen einige Arte-
schlechte Prognose. Die BA kann in verschiedenen Abschnit- rien (A. choroidea posterior, Aa. thalamoperforantes anterior
ten verschlossen sein. Die unterschiedlichen Lokalisationen und posterior) die Thalamus, Corpus geniculatum laterale und
unterscheiden sich in den klinischen Symptomen und der Äti- obere Hirnstammanteile versorgen. Verschlüsse dieser Arterien
ologie des Verschlusses. führen bei Thalamusinfarkten zu vielfältigen Symptomen mit

Facharzt
Wallenberg-Syndrom
In etwa 50% der Fälle geht aus der PICA eine Arterie hervor, Temperatur und Schmerz, ipsilateral Horner-Syndrom, disso-
die den dorsolateralen Teil der Medulla oblongata versorgt. ziierte Sensibilitätsstörung im Gesicht, Paresen der Hirnner-
In anderen Fällen entspringt diese Arterie direkt der VA oder ven IX und X sowie Hemiataxie. Fakultativ Dysphagie, Dysar-
der proximalen Basilaris. Der embolische oder lokal throm- throphonie, Doppelbilder (bei Abduzenskernläsion), Schwindel
botische Verschluss dieses kleinen Gefäßes führt zum Wal- und Nystagmus, zum Teil vertikal, zum Teil horizontal mit
lenberg-Syndrom. In seiner klassischen Konstellation ist es rotierender Komponente. Eine Hemiparese oder Pyramiden-
relativ selten, Varianten sind jedoch häufig. Symptome: bahnzeichen gehören nicht zu diesem Syndrom.
kontralateral am Körper dissoziierte Sensibilitätsstörung für
190 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

. Tabelle 5.5. Häufige Hirnstamm- und Kleinhirnsyndrome


Bezeichnung Lokalisation Symptome (Gefäßterritorium)
Ipsilateral Kontralateral
Mittelhirnsyndrome
Oberes Rubersyndrom Nucleus ruber Okulomotoriusparese, evtl. Blickparese Hemiataxie, Hyperkinese
Unteres Rubersyndrom Nucleus ruber Okulomotoriusparese Hemiataxie, Hemiparese, Intentions-
tremor,
– Weber-Syndrom Mittelhirnfuß Okulomotoriusparese Hemiparese
– Nothnagel-Syndrom Vierhügelregion Okulomotoriusparese Hemiataxie
5 Brückensyndrome
– Paramedianer Pons-Infarkt Ventrale Brücke Hemiparese
Medulläre Syndrome
– Wallenberg-Syndrom Dorsolaterale Medulla Zentrales Horner-Syndrom, Nn. IX und Dissoziierte Sensibilitätsstörung am
oblongata X-Läsion-Hemiataxie, Nystagmus sen- Stamm und Extremitäten
sibler N.-V-Ausfall
Kleinhirnsyndrome
Syndrom der oberen Kleinhirn- A. cerebelli sup. Hemiataxie, Horner-Syndrom Dissoziierte Sensibilitätsstörung
arterie
Syndrom der unteren vorderen A. cerebelli inf. ant. Variabel: Hemiataxie, N-VIII-Ausfall, N-
Kleinhirnarterie VII-Parese, Nystagmus, Opsoklonus
Syndrom der hinteren unteren A. cerebelli inf. post. Hemiataxie, Dysmetrie, Lateropulsion, Dissoziierte Sensibilitätsstörung
Kleinhirnarterie Dysdiadochokinese, Nystagmus, Hei-
serkeit, Dysphagie
Basilarissyndrome
Basilarisspitzensyndrom Basilarisverschluss auf Symptome meist bilateral:
Mittelhirnniveau Okulomotorikstörungen, Hemianopsie, kortikale Blindheit, Pupillenstörungen,
Mittelhirnsyndrome, Parinaud-Syndrom, Verwirrtheit, Gedächtnisstörung
(durch
Thalamusbeteiligung), Tetraparese
Syndrom der mittleren Pontomedulläre Hemiparese, Tetraparese, Nystagmus, Locked-in-Syndrom, Hörstörung
A. basilaris Basilaris
Kaudales vertebrobasiläres Intradurale Vertebralis Wallenberg-Syndrom, bilaterale Nn.-IX-XII-Lähmungen, Dys-, Anarthrie, Schluck-
Syndrom uni- oder Bilateral, störung, Ataxie, Nystagmus, Atemlähmung, Koma
kaudale Basilaris

Apathie, Desorientiertheit, Aspontaneität, homonymer Hemi- 5.5.3 Klinische Besonderheiten


anopsie zur Gegenseite, Hemineglect, Hemiataxie sowie Ge- bei Dissektionen
dächtnisstörungen, Blickparesen und Okulomotorikstörungen.
Bei Posteriorteilinfarkten kann, wenn obere Anteile betroffen 3Allgemeine Symptome. Das Spektrum der Symptome ist
sind, auch eine Quadrantenanopsie nach unten entstehen. breit. Es reicht von monosymptomatischen Schmerzen im vor-
deren Halsdreieck (Differentialdiagnose Karotidodynie, 7 Kap.
Bilaterale Posteriorverschlüsse 16.9) über ein ipsilaterales Horner-Syndrom (Läsion des Hals-
Wenn beide PCA betroffen sind, resultiert eine kortikale Blind- sympathikus in der Umgebung der ICA), kaudale Hirnnerven-
heit. Letztere ist deshalb von Bedeutung, weil viele Patienten sie läsionen, vor allem von Nn. VIII und X bis hin zu den Fernsymp-
nicht bemerken (Anosognosie) und verwirrt wirken. Die kli- tomen eines sekundären ischämischen Infarkts in Folge von
nische Symptomatik ist relativ typisch: Unbewusst orientieren Embolien und (seltener) hämodynamischer Dekompensation.
sich die Patienten an der Richtung des gesprochenen Wortes Dissektionen können zu hämodynamisch bedingten In-
und »schauen durch den Untersucher hindurch«. Sie sehen die farkten (selten) und zu embolischen Infarkten (häufig) führen.
ausgestreckte Hand nicht, finden sie aber mit Suchbewegungen. Oft heilen sie ohne Restsymptome aus, sie können aber auch
Konfabulationen und Halluzinationen können vorkommen. zum permanenten Verschluss führen. Emboliegefährdet sind
Das Syndrom ist gelegentlich eine vorübergehende Komplika- Patienten, bei denen die Dissektion über lange Zeit mit deut-
tion nach Angiographien, speziell kardialen Angiographien licher Gefäßinnenwandunregelmäßigkeit oder Pseudoaneu-
mit hoher Kontrastmittelmenge. rysmen bestehen bleibt.
5.6 · Apparative Diagnostik
191 5
3Karotisdissektion Oft, aber nicht obligat und häufig erst bei mehrjährigem
Bei traumatischen und spontanen Karotisdissektionen finden Verlauf kommt es zu einer intellektuellen und affektiven Nivel-
sich oft lokale Symptome (Horner-Syndrom, Hypoglossuspa- lierung in Kombination mit neuropsychologischen Störungen.
rese), die durch das Gefäßhämatom druckbedingt entstehen. Eine apraktische Gangstörung (Differentialdiagnose: Normal-
Die Symptomatik kann hierauf beschränkt bleiben. Fast immer druckhydrozephalus; 7 Kap. 25) ist häufig. Die SAE ist die
werden Schmerzen an der betroffenen Halsseite berichtet. wichtigste Form der vaskulären Demenz.
Bei etwa der Hälfte der Patienten treten Symptome eines
Mediainfarkts auf. Der Schweregrad ist variabel und reicht von Status lacunaris
TIAs bis zum kompletten, raumfordernden Infarkt. Dissekti- Beim Status lacunaris des Hirnstamms liegen multiple, laku-
onen können auch mehrere Gefäße betreffen. Dissektion kön- näre Erweichungen im mittleren und unteren Hirnstamm
nen wiederholt auftreten, wobei das selbe Gefäß nur sehr selten vor, die die Bahnen für die unteren motorischen Hirnnerven
mehrfach betroffen wird. Außerdem können simultan mehre- lädieren. Der Verlauf ist schubweise. Neurologisch kommt es
re Hirngefäße, in Einzelfällen alle vier hirnversorgenden Arte- zur dysarthrischen Sprechstörung, Heiserkeit, Zungenläh-
rien betroffen sein. mung, Gaumensegelparese und zur Steigerung des Masseter-
reflexes. Einzelbewegungen werden durch Massenbewegun-
3Vertebralisdissektion gen ersetzt. Das Sprechen ist heiser, mangelhaft artikuliert,
Vertebralisdissektionen im intrakraniellen Segment können häufig von schwachen Hustenstößen unterbrochen. Die Pa-
eine Subarachnoidalblutung verursachen. Häufiger ist aber tienten verschlucken sich häufig. Dieses Syndrom wird auch
auch hier der schwere lokalisierte Nackenkopfschmerz (ipsila- Pseudobulbärparalyse genannt (7 Kap. 33.4) Charakteristisch
teral zur Dissektion) sowie Symptome, die denen eines embo- ist auch das Auftreten von pathologischem Lachen und
lischen Kleinhirnarterien-, Posterior- oder Basilarisverschlus- Weinen. Bei den Patienten mit diesen Symptomen findet
ses entsprechen. Die Symptome können auch nur flüchtig sein. man computertomographisch die morphologischen Kriterien
Bilaterale Dissektionen der Vertebralarterien sind nicht selten der SAE.
Ursache des tödlichen Ausgangs von Verkehrsunfällen.

5.5.6 Vaskulitische Infarkte


5.5.4 Lakunäre Infarkte
Eine Vaskulitis im Zentralnervensystems kann Ausdruck
Lakunäre Läsionen treten als Folge mikroangiopathischer Ver- einer systemischen Autoimmunkrankheit (häufig) und einer
änderungen der perforierenden Arterien (Rami ad pontem, isolierten erregerbedingten (Lues, Borreliose, Tuberkulose)
Thalamusarterien, Basalganglienarterien) auf. Wenn die Brücke oder anderen autoimmunen Erkrankung im ZNS (selten) sein.
betroffen ist, können rein motorische Halbseitensyndrome ent- Häufig betroffen sind die PCA, ACA und MCA, meist multi-
stehen. lokulär.
Es gibt einige relativ typische lakunäre Symptome und Syn-
drome wie
4 die rein motorische Hemisymptomatik, 5.6 Apparative Diagnostik
4 die rein sensible Halbseitensymptomatik,
4 die ataktische Hemiparese oder 3Apparative Voraussetzungen. Diagnostik und Therapie
4 das Dysarthria-clumsy-hand-Syndrom. der zerebrovaskulären Krankheiten verlangen heute gezielte
und qualitativ hochwertige apparative Diagnostik. Zu den
Dennoch sollte man lakunäre Infarkte nur diagnostizieren, Mindestvoraussetzungen gehören:
wenn sich der Verdacht in CT oder MRT bestätigt. 4 ein 24 h pro Tag verfügbares und sachkundig betreutes
Computertomographiegerät (CT),
4 eine kompetente Ultraschalldiagnostik,
5.5.5 Multiinfarktsyndrome 4 ein normal ausgestattetes biochemisches Labor (ein-
schließlich Liquordiagnostik),
Subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie 4 internistisch/anästhesiologische Konsiliarversorgung und
(SAE) 4 eine neurochirurgische Abteilung in der Nähe.
Die SAE (M. Binswanger) ist pathologisch-anatomisch durch
viele lakunäre Infarkte in Stammganglien und Hirnstamm in Wünschenswert ist ein Magnetresonanztomographiegerät und
Kombination mit einer vakuolären Demyelinisierung des die Möglichkeit der Angiographie als konventionelle digitale
Marklagers beider Hemisphären mit diffuser periventrikulärer Subtraktionsangiographie und die MR- oder CT-Angiogra-
Dichteminderung im CT gekennzeichnet. phie. Die einzelnen diagnostischen Methoden sind in 7 Kap. 3
Neuropathologische Untersuchungen sprechen dafür, dass dieses Buches detailliert besprochen worden. Hier geben wir
die großen, konfluierenden Entmarkungen im Marklager über nur Hinweise zum Ablauf und Zeitpunkt der Untersuchungen
eine Hyalinisierung der Arteriolen ischämisch bedingt sind. und auf besondere Befunde und Techniken, die für Schlagan-
Die Abnahme des Perfusionsdrucks wird für die ischämischen fallpatienten relevant sind.
Läsionen verantwortlich gemacht.
192 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

5.6.1 Computertomographie (CT) meterbilder des zerebralen Blutvolumens (CBV), zerebralen


Blutflusses (CBF) oder der Zeit zum Kontrastmittelpeak (TTP)
Auch wenn andere moderne Bildgebungstechniken eine um- generiert werden können (. Abb. 5.21). Von der Perfusions-
fassendere und sensitivere Diagnostik bei akuten Schlaganfäl- technik her ist das PCT der PWI ebenbürtig, von Nachteil ist
len erlauben, ist die CT aufgrund ihrer Verbreitung nach wie die der CT und CTA folgende zusätzliche Strahlenbelastung.
vor die wichtigste diagnostische Maßnahme beim Schlaganfall, Mit den CT-Scannern der neuen Generation (bis zu 256-Zeiler
insbesondere innerhalb der ersten 3–4,5 Stunden. und mehr) wird die Qualität und die Geschwindigkeit der Dar-
Die Technik ermöglicht die Differenzierung zwischen intra- stellung immer besser. Wie bei der CTA wird auch bei der PCT
zerebraler Blutung und ischämischer Läsion, Aussagen über Ort, jodhaltiges Kontrastmittel verwendet. In der Akutsituation
Art, Alter und Ausdehnung des Infarkts, die Identifikation frü- müssen zwischen Nutzen und Risiko einer KM-Gabe abge-
her Infarktzeichen bei schweren, schlecht kollateralisierten Ischä- schätzt werden.
5 mien, den Nachweis älterer Infarktnarben und die Abgrenzung
Infarktmuster
von anderen pathologischen intrakraniellen Befunden.
Einzelne Infarktmuster sind typisch für eine bestimmte Ätio-
CT-Angiographie logie:
Mit der CT-Angiographie (7 Kap. 3.3.2) ist auch die Darstellung 4 Der komplette, meist raumfordernde Mediainfarkt (. Abb.
kleinerer Gefäßstrukturen (bis 2 mm) und der leptomenin- 5.17, 5.19) mit Beteiligung der Basalganglien kommt nur beim
gealen Kollateralisierung computertomographisch möglich. embolischen, nichtkollateralisierten Verschluss der distalen
. Abbildung 5.20 zeigt die CT-Angiographie eines proximalen ICA (Karotis-T) oder der proximalen Media vor.
Mediaverschlusses der linken A. cerebri media in 3D-Rekons- 4 Sitzt der Mediaverschluss hinter dem Abgang der lentiku-
truktion vor (a) und nach (b) Lysetherapie. Der Hauptvorteil für lären Gefäße, entsteht der Mediainfarkt unter Aussparung der
die Akutbehandlung des Schlaganfalls liegt in der Geschwindig- Basalganglien.
keit der Untersuchung, der geringen Invasivität und der Mög- 4 Der isolierte Basalganglieninfarkt ist charakteristisch für
lichkeit der flexiblen, dreidimensionalen Darstellung aus belie- die embolische oder arteriosklerotische Verlegung der Abgän-
bigen Blickwinkeln. Diese Technik kann auch indirekte Aussa- ge der lentikulostriären Gefäße bei guter leptomeningealer
gen über Kollateralisierung und Perfusionsausfall liefern. Anastomosierung (. Abb. 5.12f).
4 Doppelseitige Posteriorinfarkte (. Abb. 5.22c) sind fast im-
Perfusions-CT (PCT) mer Folge einer Embolie in die Basilarisspitze, bei der es auch
Während der Passage eines Kontrastmittelbolus können dyna- zu doppelseitigen Thalamusinfarkten und Infarkten im Mittel-
mische CT-Bilder erfasst werden, aus denen funktionelle Para- hirn kommen kann (. Abb. 5.22b).

Facharzt
Zeitliche Entwicklung der Infarkte im CT
Für die Akutdiagnostik sind die Informationen, die sich aus mend dichtegemindert und lässt die genaue anatomische
der zeitlichen Entwicklung der Infarkte ergeben, von größter Lokalisation klarer erkennen. Größere Infarkte können durch
Bedeutung. Ödementwicklung anschwellen und einen raumfordernden
In den ersten Stunden. In Abhängigkeit vom Ort des Gefäß- Effekt haben (. Abb. 5.17). Kompression der Liquorräume bei
verschlusses und dem Grad der Kollateralen können frühe einem raumfordernden Kleinhirninfarkt kann zum okklusiven
Infarktzeichen bei Territorialinfarkten schon in den ersten 2– Hydrozephalus führen (. Abb. 5.18). . Abbildung 5.19 zeigt
6 h nach Symptombeginn gefunden werden. Frühe Infarkt- einen einige Tage alten kompletten Mediainfarkt.
zeichen (. Abb. 5.16a–d) sind:
4 Thrombuskontrast im betroffenen Gefäß (hyperdenses Nach mehreren Tagen. Nach einigen Tagen können die In-
Mediazeichen, . Abb. 5.16a). Hierbei handelt es sich genau farkte durch Schädigung der Blut-Hirn-Schranke Röntgenkont-
genommen nicht um ein Infarktzeichen, sondern den CT- rastmittel aufnehmen. Es gibt jedoch, außer bei der CT-Angio-
Nachweis eines Thrombus in einer Hirnarterie, graphie, keinen Grund, beim ischämischen Infarkt Kontrastmit-
4 frühe Hypodensität (. Abb. 5.16b), tel zu geben.
4 Verlust der Differenzierung von grauer und weißer Subs-
tanz auf Basalganglien- oder Cortexniveau (. Abb.5.16c). Fogging-Phase. Wenn der Infarkt etwa 10–18 Tage zurück-
liegt, führen Reparationsvorgänge im Infarktbezirk möglicher-
Das Erkennen ausgedehnter, früher Infarktzeichen ist wichtig weise zu Dichteveränderungen, die den Infarkt verbergen
für die Auswahl von Patienten, die nicht mit thrombolyti- können (Fogging-Effekt; fog = Nebel).
scher Therapie behandelt werden sollen. Die frühen Infarkt-
zeichen können sehr umschrieben oder ausgedehnt, z.B. auf Nach Wochen. Erst danach, ab der 3. bis 4. Woche, demarkiert
das ganze Mediaterritorium bezogen sein. sich die definitive Infarktnarbe. Nach transitorisch-ischämi-
schen Attacken sind bei etwa 1/3 der Patienten asymptoma-
Nach Stunden bis Tagen. In den folgenden Stunden und tische Infarktläsionen, z.T. kortikal, z.T. subkortikal zu erkennen.
Tagen demarkiert sich dann der Infarktbezirk. Er wird zuneh- Dieses Phänomen ist bei der MRT noch häufiger.
5.6 · Apparative Diagnostik
193 5

a b

c d

. Abb. 5.16a–d. Frühe Infarktzeichen im CT. a Kompletter Medi- waschenem Linsenkern und N. caudatus links (Pfeil). d Ausgedehnte,
ainfarkt re. mit hyperdensem Thrombus in der proximalen A. cerebri sehr frühe Infarktzeichen mit fehlender Differenzierbarkeit von Kortex
media. b Frühe kortikale Ischämiezeichen rechts in der Insel sowie und weißer Hirnsubstanz im rechten Mediastromgebiet
im frontalen Operculum (Pfeil). c Stammganglieninfarkt links mit ver-

a b c

. Abb. 5.17. Progrediente Ödementwicklung bei einem ischä- Der Seitenventrikel ist komprimiert, es liegt eine deutliche Mittellini-
mischen Infarkt. Zwischen den beiden CTs (a,b) liegen 36 h. Man enverlagerung vor. c Nach Dekompression geht der raumfordernde
sieht schon initial die erhebliche raumfordernde Wirkung des Infarkts, Effekt auf die Mittelstrukturen zurück, die Ausdehnung erfolgt nach
die von der ersten zur zweiten Untersuchung noch massiv zunimmt. außen
194 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

. Abb. 5.18. Raumfordernder Kleinhirnin-


farkt. (a) Infarkt der A. cerebelli inferior posteri-
or rechts mit Kompression des Hirnstamms, Ver-
legung des Aquädukts und Erweiterung der
Temporalhörner als Ausdruck der zunehmen-
den Liquorabflußstörung (Hydrocephalus
occlusus), (b) Nach dekompressiver Operation
ist die raumfordernde Wirkung weniger ausge-
prägt, der 4. Ventrikel wieder entfaltet und die
Erweiterung der Temporalhörner reversibel

5 a b

. Abb. 5.19. Kompletter Mediainfarkt, etwa drei Tage alt mit


schon deutlicher Raumforderung und Verlagerung der Mittellinie

4 Kleinhirninfarkt (. Abb. 5.18) und Infarkte im Hirnstamm


sind charakteristisch für den intrakraniellen Vertebralisver-
schluss (. Abb. 5.23, hier wegen besserer Auflösung im MRT
dargestellt).
4 Multiple Lakunen und ischämische Dichteminderung im
Marklager (. Abb. 5.13b) kommen bei hypertensiver (SAE)
oder genetisch bedingter Mikroangiopathie vor.
> Der Schlaganfallpatient wird nach allgemeinmedizi-
nischer Stabilisierung und Notfallversorgung prak-
tisch immer zuerst computertomographisch, manch-
. Abb. 5.20a,b. CT-Angiographie. a 3D-rekonstruierte CT-Angio-
mal auch mit der MRT untersucht. Nur bei wenig
graphie eines proximalen A.-cerebri-media-Verschlusses auf der linken
bedrohlichem klinischen Bild kann die dopplersono-
Seite. Man erkennt den Abbruch des Gefäßes (Pfeil), b Nach thrombo-
graphische Untersuchung am Anfang der diagnos- lytischer Therapie Reperfusion des verschlossenen Gefäßes. (R. von
tischen Kette stehen. Kummer, Dresden)

bedeutet dies nicht, dass jeder Patient mit einem typischen


5.6.2 Magnetresonanztomographie (MRT) Hirnstamminfarkt und fehlendem CT-Befund unbedingt
noch eine MRT braucht. Die MRT sollte vor allem in der Akut-
Die MRT ist der CT in den meisten Fällen überlegen, allerdings situation großzügiger eingesetzt werden, v.a. bei Ischämien
bedeutet dies nicht, dass man sie auch immer unbedingt in der hinteren Zirkulation oder zur Planung akuter neuro-
einsetzen muss. Bei subakuten ischämischen Läsionen in der radiologischer Interventionen. Auch aus Kostengründen sollte
vorderen Zirkulation ist die CT ausreichend ausssagekräftig. sie auf unklare Fälle, in denen vom Ergebnis der Untersuchung
Dies wird anders, wenn es sich um Hirnstamminfarkte han- therapeutische Konsequenzen zu erwarten sind, beschränkt
delt (. Abb. 5.23). Hier ist das Auflösungsvermögen der MRT bleiben. Des weiteren sollte man nicht vergessen, dass es
wegen geringerer Artefaktanfälligkeit besser. Aber auch hier immer noch viele Patienten gibt, die aus verschiedenen Grün-
5.6 · Apparative Diagnostik
195 5
. Abb. 5.21. CT-Perfusion. Darstellung von
Blutvolumen (a) und Time to Peak (b) bei Caro-
tisverschluss rechts. Im zentralen Mediastrom-
gebiet rechts ist das zerebrale Blutvolumen
(a, violett dargestellt) in den zentralen Anteilen
des Mediastromgebiets deutlich erniedrigt, als
Ausdruck einer Perfusionsstörung im gesamten
Carotisstromgebiet rechts kommt es zu einer
deutlich verzögerten Anflutung des Bluts im
Anterior- und Mediastromgebiet rechts (grün
markiert)

a b

a b c

. Abb. 5.22. Läsionsmuster nach Basilarisembolie. a bilaterale, durch Verschluss (auch meist passager) der perforierenden Arterien
multilokuläre Kleinhirninfarkte durch passageren Verschluss verschie- zum Thalamus aus der Basilarisspitze und den proximalen PCAs. c Bila-
dener Kleinhirnarterien. b Bilaterale posteriore Thalamusinfarkte terale, ausgedehnte Posteriorinfarkte durch Verschluss beider PCAs

. Abb. 5.23. MR-Darstellung eines kleinen medullären Infarkts in axialem (a), sagittalen (b) T2 und in der diffusionsgewichteten Darstel-
lung (c). Die Infarktläsion ist mit Pfeilen gekennzeichnet
196 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

a1 a2 b

. Abb. 5.24. Vertebralisdissektion. (a1) Thrombussignal in der dis- axial, beides fettgesättigte Sequenzen, (b) MRA mit Abstand des Fluss-
talen Vertebralis, (a2) frischer Thrombus mit exzentrischer Lage (Pfeil), signals in der distalen Vertebralis, die zudem hypoplastisch erscheint

den nicht im MR untersucht werden können. Phobien, Metal- gleichzeitigem Verlust des flow void findet man bei Dissektio-
limplantate unklaren Alters und Materials oder vitale Über- nen (Einblutung in die Gefäßwand und Stenose; . Abb. 5.24).
wachungsnotwendigkeit bei Schwerstkranken sind Beispiele Im axialen T2-Bild erscheint das betroffene Gefäß wie eine
hierfür. Zielscheibe mit hellem äußeren Blutrand und schwarzem
Da fließendes Blut im MRT einen Signalausfall (flow void) Zentrum.
verursacht, kann das Fehlen des flow void als Hinweis auf einen Blutanteile verändern zeit- und stoffwechselabhängig ihr
Perfusionsausfall im Gefäß interpretiert werden. Ein hyper- Signal in verschiedenen MR-Sequenzen, was eine zeitliche Ein-
intenses Signal in Projektion auf ein extrakranielles Gefäß mit ordnung von Blutungen erlaubt. Entgegen früherer Annahmen
ist die CT der MRT bei akuten Blutungen nicht überlegen.

MR-Angiographie
Die MR-Angiographie beruht auf einer weiteren Analyse der
Flusssignale und gibt exzellente Darstellungen der extra- und
intrakraniellen Gefäße (. Abb. 5.25 und 5.26). Zwar werden der

. Abb. 5.25. MRA. Timer Flight Angiographie vom Aortenbogen und . Abb. 5.26. Intrakranielle MRA. Time of flight-MR-Angiographie
den hirnversorgenden Gefäßen einschließlich des Circulus arteriosus MCA-Verschluss rechts
willisii. Normalbefund
5.6 · Apparative Diagnostik
197 5
. Abb. 5.27a–d. Perfusions- und diffu-
sionsgewichtete MRT. a Im T2-gewichteten
Bild Nachweis einer perlschnurartig ange-
ordneten Hyperintensität im frontoparietalen
Marklager links als frühes Ischämiezeichen.
b Korrespondierend hierzu: im diffusionsge-
wichteten Bild kommt es in diesem Bereich
zu einer Diffusionsrestriktion als Ausdruck
eines zytotoxischen Ödems, welches sich auf
den ADC-Bildern (c) mit erniedrigten, d.h.
dunklen Signalwerten darstellt. Deutlich über
dieses Areal hinaus geht die Perfusionsstö-
rung (d) in der perfusionsgewichteten MRT,
welche das komplette Mediastromgebiet auf a b
der linken Seite betrifft

c d

Stenosegrade eher überschätzt, und hochgradige Stenosen BOLD-imaging


können als Verschlüsse erscheinen, dennoch ist die MR-Angio- Als kernspintomografisches Korrelat der Sauerstoffextraktion
graphie eine schonende, nichtinvasive Methode bei Patienten, kann die BOLD (blood oxygen level dependent)-Technik An-
denen man eine konventionelle Angiographie (noch) nicht zu- wendung finden. Sie basiert auf den unterschiedlichen Relaxa-
muten will. Sie eignet sich auch für die Suche nach größeren tionszeiten von Oxy-Hb und Deoxy-Hb. Unterschiede in den
Aneurysmen oder bei Verdacht auf Sinusvenenthrombose (MR- Hb-Konzentrationen kommen entweder durch Hirnaktivie-
Venogramm). In Abhängigkeit der Fragestellung werden ver- rung oder vermehrte Sauerstoff-Extraktion durch Minderper-
schiedene MRA-Techniken angewandt, am häufigsten wird die fusion zustande. Diese Technik findet bereits weite Anwen-
ToF-MRA (Time of Flight-Angiographie) verwendet. Noch bes- dung in der funktionellen MRT, bietet jedoch auch großes
ser in der Auflösung ist die kontrastunterstützte Phasen-Kon- Potential zur besseren Charakterisierung der ischämischen
trast-MRA (CE-MRA). Aber auch hier ist die CT-Angiographie Penumbra und gefährdetem Hirngewebe.
eine Methode, die mit den moderner Multislice-Scannern kon-
kurrieren kann.
5.6.3 Ultraschall
Perfusions-MRT und Diffusions-MRT
Diese Sequenzen (. Abb. 5.27) können früh ischämische Die Methoden der vaskulären Ultraschalldiagnostik sind in
Areale sichtbar machen und möglicherweise in Zukunft 7 Kap. 3.4 detailliert dargestellt. Entsprechend dieser metho-
auch Penumbra und definitiven Infarkt unterscheiden helfen. dischen Gegebenheiten sind neurosonologische Verfahren
Bislang sind sie nur an großen Zentren Routinemethoden. hervorragend zur diagnostischen Abklärung in allen Phasen
Durch ein optimiertes Protokoll und neue Hochfeldtomo- zerebrovaskulärer Erkrankungen geeignet. Hierfür ist aller-
graphen liegt die Untersuchungsdauer bereits deutlich unter dings notwendig, dass die Ultraschalldiagnostik schnell und
15 Minuten. In dieser Zeit werden eine konventionelle mor- zuverlässig rund um die Uhr verfügbar ist. Wir besprechen hier
phologische Untersuchung, eine MR-Angiographie sowie Per- den Einsatz der Ultraschalltechniken in Abhängigkeit vom
fusions- und Diffusions-MRT-Darstellungen durchgeführt Zeitpunkt der Untersuchungen.
und danach kann die Therapie rational geplant werden. Eine
Standardisierung der Perfusionssequenzen ist wünschens- Akutphase
wert. Erste automatisierte Analysesysteme sind in der An- In der Initialphase nach Beginn eines Hirninfarkts, in der es
wendung. um unverzüglich durchzuführende therapeutische Maßnah-
198 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Exkurs
Schlaganfall-MRT und Patientenauswahl für die Lysetherapie
Die Kombination verschiedener MRT-Sequenzen (konventio- (DWI) und das minderdurchblutete Hirnareal (PWI) dar.
nelle T2-gewichtete Bilder oder FLAIR-Bilder, suszeptibilitäts- Innerhalb der ersten 6–12 Stunden nach Schlaganfallbeginn
gewichtete T2*-Bilder oder Gradientenecho-(GRE-)Bilder, ist bei mehr als 80% der Patienten das auf PWI-Bildern ge-
MR-Angiographie, diffusionsgewichtete (DWI) und Perfusion- störte Hirnareal größer als das Areal auf DWI-Bildern. Das PWI-,
(PWI) Sequenzen) wird als Schlaganfall-MRT-Protokoll be- aber nicht DWI-gestörte Hirnareal entspricht annäherungs-
zeichnet. Ein solches Protokoll benötigt etwa 15 min Zeit weise MR-morphologisch der ischämischen Penumbra
inklusive Patientenlagerung und der Untersuchung, die (7 Box Kap. 5.1.2). Der »MR«-Terminus für die Penumbra ist
Ergebnisse sind direkt danach auf dem Bildschirm vorhan- »PWI/DWI-Mismatch«.
den. Der Vorteil eines solchen »multiparametrischen« MRT- Hat man mit dem Schlaganfall-MRT einen Schlaganfall
5 Protokolls ist die genaue Charakterisierung der Pathophysio- derart charakterisiert, kann man in spezialisierten Zentren
logie eines Schlaganfallpatienten. auch außerhalb rigider Zeitfenster Patienten mit einer potenti-
T2-WI oder FLAIR zeigen das Ausmaß vaskulärer oder ell rettbaren Penumbra identifizieren und behandeln, die sonst
anderer Vorschäden, insbesondere ältere Infarkte. T2*-Se- keiner weiteren Therapie zugänglich gewesen wären.
quenzen weisen schon innerhalb weniger Minuten nach So schön diese Theorie ist, in klinischen Studien ist die
Symptombeginn mit einer identisch hohen Sensitivität wie generelle Gültigkeit noch nicht bewiesen worden. Zwar hatte
die CT intrazerebrale Blutungen als wichtigste Differential- man in Pilotstudien (DIAS, DEDAS) eine Korrelation zwischen
diagnose des ischämischen Schlaganfalls nach. Mismatch und Lyseerfolg im späteren Zeitfenster (bis 9 h)
Die MRA bildet die hirnversorgenden Arterien ab und gefunden, dieses Ergebnis konnte aber in der größeren DIAS
dementsprechend das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines II-Studie nicht wiederholt werden. Zur Zeit werden weitere
Gefäßverschlusses sowie dessen Lokalisation. DWI und Studien durchgeführt, in denen die Wertigkeit der MRT-basier-
PWI stellen schließlich annäherungsweise den Infarktkern ten Lyse weiter getestet wird.

men geht, können neurosonologische Verfahren helfen, die rebri media sprechen, sind ein umschrieben fehlendes Signal
primäre Frage nach dem Vorliegen eines intrakraniellen Ge- trotz guter technischer Untersuchungsbedingungen, Redukti-
fäßverschlusses zu klären. Der transkranielle Doppler (TCD) on der Strömungsgeschwindigkeit in zuführenden Gefäßab-
und die transkranielle Farbduplexsonographie haben eine über schnitten und ggf. Nachweis von Kollateralen (. Abb. 5.28a).
90%ige Sensitivität beim Nachweis intrakranieller Verschlüsse Der dopplersonographische Nachweis distal gelegener Media-
gezeigt. Dopplerkriterien, die für einen Verschluss der A. ce- astverschlüsse (M2- oder M3-Abschnitt) ist problematischer;

a b

. Abb. 5.28. a Transkranielle Dopplersonographie bei akutem links (Ausschlag nach unten) im Vergleich zu rechts als Hinweis auf
Verschluss der linken A. cerebri media: Fehlendes Strömungssignal einen leptomeningealen Kollateralkreislauf, b Duplexsonografische
der linken A. cerebri media (ACM li) bei 50 mm Untersuchungstiefe. Darstellung eines Verschlusses der A. cerebri media links (Pfeil). Ein
Die Darstellung der A. cerebri anterior (ACA li, Ausschlag nach oben) insuffizientes Schallfenster ist aufgrund der guten und regelrechten
und A. cerebri posterior links (ACP li, Ausschlag nach oben) zeigt, dass Darstellung der A. cerebri anterior und A. cerebri posterior ausge-
das knöcherne Schallfenster gut ist. Man beachte die höhere Strö- schlossen. (P. Ringleb, Heidelberg)
mungsgeschwindigkeit der A. cerebri anterior und A. cerebri posterior
5.6 · Apparative Diagnostik
199 5
dafür sprechen eine im Seitenvergleich niedrigere Strömungs- Postakutphase
geschwindigkeit in der proximalen A. cerebri media, ein feh- Die wesentliche in der Postakutphase zu klärende Frage ist die
lendes Signal im distalen Gefäßverlauf, und die Zunahme der ätiologische Einordnung der Schlaganfallursache, da hiervon
Strömungsgeschwindigkeit in der A. cerebri anterior oder pos- sekundärprophylaktische Entscheidungen abhängig sind.
terior. Schneller und zuverlässiger als mit der TCD können
Verschlüsse der A. cerebri media mittels TCCD diagnostiziert Emboliequellen. Als neurosonologisches Verfahren zur ätiolo-
werden, da man das B-Bild zur Orientierung verwenden und gischen Einordnung ischämischer Schlaganfälle steht die TCD
die A. cerebri media in der Sylvischen Furche aufsuchen kann zur Detektion kardialer und pulmonaler Rechts-links-Shunts
(. Abb. 5.28b). zur Verfügung (sog. »OFO-Test«). Ein positiver Befund ist in
Für den transkraniellen Duplex werden im Vergleich zur . Abbildung 5.29 dargestellt. Die Korrelation mit der transöso-
Magnetresonanzangiographie eine Sensitivität und Spezifität phagealen Echokardiographie (TEE) ist hoch, möglicherweise
von je 100% beschrieben. Schwieriger ist der dopplersonogra- erhöht die simultane oder additive Anwendung beider Verfah-
phische Nachweis von Verschlüssen im vertebrobasilären ren die Sensitivität.
Stromgebiet, hier liegt für den TCD die Sensitivität zum Nach- Die Anwendungsgebiete der neurosonologischen Verfah-
weis eines Verschlusses der A. basilaris bei nur 60%. Bei tech- ren in der Postakutphase liegen vor allem in der Überprüfung
nischen Schwierigkeiten, wie Durchschallungsproblemen oder des Risikos und der Effektivität sekundärprophylaktischer
fehlenden Signalen in den Zielgefäßen, sollte frühzeitig auch Maßnahmen. Mittels transkranieller Monitoringsysteme be-
der Einsatz von Ultraschallkontrastmitteln in Erwägung gezo- steht die Möglichkeit einer semiautomatischen Detektion
gen werden. Im Vergleich zu den neuroradiologischen Verfah- asymptomatisch zirkulierender Mikroembolien (. Abb. 5.30).
ren haben die neurosonologischen Verfahren den Vorteil der Während die klinische Relevanz solcher asymptomatischer
höheren Verfügbarkeit und der raschen Durchführbarkeit Mikroembolien noch nicht gänzlich geklärt ist, konnte gezeigt
auch bei unruhigen Patienten: Die transkraniale Dopplerun- werden, dass die Anzahl der Emboliesignale nach der Opera-
tersuchung ist sehr gut zur Verlaufskontrolle der Frage einer tion einer symptomatischen Karotisstenose reduziert ist. Auch
Rekanalisierung oder Reokklusion geeignet, da sie wenig inva- wurde eine deutliche Abnahme solcher Embolieartefakte nach
siv und strahlenbelastend ist und direkt am Patientenbett Beginn einer suffizienten Thrombozytenaggregationshem-
durchgeführt werden kann. Insbesondere im vertebrobasilären mertherapie beschrieben.
Bereich hat die CT-Angiographie jedoch eine deutlich höhere
Sensitivität als die TCD und sollte hier bevorzugt werden; sys- Extrakranielle Gefäßveränderungen. Neurosonologische Ver-
tematische Studien zur diagnostischen Wertigkeit der TCCD fahren können klare diagnostische Aussagen über das Vorlie-
in der vertebrobasilären Strombahn in der Perakutphase ste- gen extra- oder intrakranieller Gefäßstenosen oder -verschlüs-
hen noch aus. Eine Option zur Verbesserung der Aussagekraft se liefern. Zum Nachweis und zur Quantifizierung von Steno-
stellt die kontrastverstärkte TCCD dar. Dieses Verfahren ist für sen der extrakraniellen Gefäße werden cw-Verfahren schon
die Akutsituation nur in Ausnahmefällen geeignet. seit Jahrzehnten eingesetzt. Mittels solcher Verfahren können

. Abb. 5.29. Indirekter Nachweis eines offenen Foramen ovale . Abb. 5.30. Emboliedetektion durch TCD. »High intensity transi-
durch TCD. Nach Übertritt eines kubital injizierten Ultraschallkontrast- ent signal« (Pfeil »HITS«) im Doppler-Frequenzspektrum als Zeichen
mittels vom rechten in den linken Vorhof über ein offenes Foramen einer klinisch stummen Mikroembolie aus einer kurz zuvor sympto-
ovale unter Valsalva-Pressmanöver werden Schauer von Gasbläschen matischer Karotisstenose. Das Emboliesignal liegt innerhalb des
in der MCA registriert. Aufgrund der sehr starken Schallreflektion normalen Strömungsspektrums und hebt sich durch seine höhere
durch Gasbläschen übersteuern die im Frequenz-Zeit-Spektrum dar- Signalintensität sichtbar und deutlich hörbar davon ab. (R. Winter,
gestellten Emboliesignale das Ultraschallgerät. (R. Winter, Heidelberg) Heidelberg)
200 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Exkurs
Besondere Ultraschalltechniken
TCD mit Kontrastmittel. Bis vor kurzem konnte die TCD Bubble-Test. Hierbei wird ein Luft-Kochsalz-Gemisch (Cave:
bei etwa 20% der Patienten, meist Frauen, aufgrund des keine Zulassung als Arzneimittel, daher haftungsrechtliche
fehlenden temporalen Schallfensters nicht zufriedenstellend Probleme) oder ein nicht-lungengängiges Echo-Kontrastmittel
durchgeführt werden. Nach Einführung eines speziellen in eine Armvene injiziert. Man benutzt den frühen Nachweis
Ultraschallkontrastmittels ist der Prozentsatz auf unter 2% von Luftbläschen in der Hirnzirkulation als Hinweis auf einen
gesunken. Vorhofshunt. Normalerweise wird dieses Gemisch beim Durch-
gang durch die Lunge weitgehend eliminiert. Dies geschieht
CO2-Stimulation. Mit CO2-Stimulation und/oder Diamox- nicht, wenn im Vorhof ein Rechts-links-Shunt über ein offenes
Stimulation lässt sich auch die zerebrale Vasomotorenreserve Foramen ovale (OFO) vorliegt. Dann erreicht ein Schauer von
5 (CO2-Reaktivität) nachweisen. In Einzelfällen stellt man nach (ungefährlich kleinen) Luftbläschen die Media in weniger als
dem Ergebnis dieser Untersuchung die Indikation zur Opera- 10 s nach Injektion. Das Phänomen kann spontan oder erst
tion einer asymptomatischen Karotisstenose. nach synchronem Valsalva-Manöver auftreten (. Abb. 5.29).

Strömungsbehinderungen erfasst werden, wenn die Lumen- den, die mittels der morphologischen Verfahren als solche rasch
einengung, berechnet nach dem lokalen Stenosegrad, mindes- zu erkennen sind. Im extrakraniellen Duplex können auch flot-
tens 50% beträgt. Anhand folgender Parameter gelingt eine tierende Thromben dargestellt werden. Auch intrakranielle
Einteilung der Obstruktionen in Schweregradgruppen: Stenosen sind unter der Einschränkung der Schallpenetration
4 qualitative Audiosignalveränderungen (Turbulenzen), der Evaluation mit neurosonologischen Verfahren gut zugäng-
4 Zunahme der systolischen und/oder diastolischen Strö- lich. Die Zuordnung zu den einzelnen Gefäßen gelingt in der
mungsgeschwindigkeit, TCD durch die Flussrichtung und die Ableittiefe.
4 Abnahme der pulsatilen Amplitudenmodulation, Die transkranielle Farbduplexsonographie hat im Vergleich
4 Veränderung des Dopplersignals proximal oder distal der zum TCD den Vorteil der leichteren Differenzierbarkeit einzel-
Obstruktion, ner Gefäßsegmente und der winkelkorrigierten Flussmessung.
4 fehlendes Dopplersignal. Bei ähnlich hoher Nachweissensitivität kann sie besser zwischen
distalem Carotissiphon- und proximalen Mediastenosen sowie
Solche Einteilungen gelten einschränkend nur für einseitige zwischen Mediaast- und distalen Mediahauptstammstenosen
Gefäßprozesse, Modifikationen sind notwendig bei Obstrukti- differenzieren. Je nachdem, wie akut das Krankheitbild ist, sollte
on der Gegenseite und auch bei Mehretagenstenosen (»Tan- entweder eine engmaschige dopplersonographische Kontrolle
demstenosen«). Ergänzt und stellenweise ersetzt wird die oder eine Befundbestätigung mittels alternativer Diagnostikver-
cw-Dopplersonographie, durch die B-Bild- und Duplexsono- fahren, z.B CT-Angiographie, erfolgen.
graphie, die eine direkte morphologische Beurteilung der Ge-
fäßobstruktion und weitergehende ätiologische Einordnung
gestattet. 5.6.4 Angiographie

Morphologische Aussagen. Über das Stenoseausmaß hinaus Die Angiographie (7 Kap. 3.3.5) wird in selektiver, digitaler
können Informationen über die Beschaffenheit des zumeist Subtraktionstechnik (DSA) ausgeführt. Die alleinige Aorten-
arteriosklerotischen Materials, seine Binnen- und Oberflä- bogendarstellung, die retrograde Brachialisangiographie oder
chenstruktur gewonnen werden (. Abb. 5.31). Zum Nachweis gar eine venöse DSA sind obsolet.
kompletter Karotisverschlüsse ist die Duplexsonographie (DS) Indikationen zur Angiographie:
unerlässlich. Außergewöhnliche Gefäßverläufe und subtotale 4 vor oder bei interventionellen Eingriffen,
Stenosen können in der DS als Verschluss fehlinterpretiert wer- 4 Verdacht auf Pseudoaneurysma nach Dissektion,

. Abb. 5.31. Plaquestruktur im B-Bild.


Hochauflösender B-mode Scan (13 MHz
dynamic range linear transducer) einer
heterogenen Plaque (Pfeile) der Karotis-
bifurcation (CCA: A. carotis communis,
ICA: A. carotis interna). Die fibröse Grenz-
schicht zeigt proximal (weißer Pfeil) ein
stärkeres Echo als distal (grauer Pfeil). Die
Plaque zeigt eine weiche Oberfläche, die
in das Lumen reicht. Unter der Plaque-
oberfläche zeigt sich ein echoarmer Bezirk
(*), der Lipideinlagerungen entspricht.
(S. Meairs, Mannheim)
5.6 · Apparative Diagnostik
201 5
4 intrakranielle Gefäßstenosen, Ausschluss anderer Ätiologien schon dringend sein. Deutliche
4 Verdacht auf Pseudookklusion, Vorteile weist die TEE im Nachweis von intrakardialen Throm-
4 Verdacht auf Vaskulitis oder ben, von Septumveränderungen (OFO, Vorhofseptumaneurys-
4 wenn eine lokale Thrombolyse geplant ist. ma, . Abb. 5.32a, b) und beim Nachweis arteriosklerotischer
Veränderungen des Aortenbogens auf. Je früher die TEE nach
einem Schlaganfall durchgeführt wird, desto höher ist die
5.6.5 Kardiologische Diagnostik Wahrscheinlichkeit, eine Emboliequelle zu finden.
Eine kardiologische und angiologische Untersuchung ist
Immer sind die klinische Auskultation des Herzens, häufige vor geplanter Karotisoperation wegen der häufigen Komorbi-
Blutdruckmessungen und ein EKG Teil der Aufnahmeroutine. dität (Atherothrombose als Systemkrankheit) notwendig. Hier
Eine RR-Langzeitmessung und ein 24-h-EKG zur Aufdeckung bietet sich additiv die Messung des ABI an (Ankle-Brachial-
von intermittierenden Rhythmusstörungen wird häufig Index: systolischer RR am Knöchel/systolischer RR am Ober-
durchgeführt und sind Standard auf Stroke Units. arm; normal ca. 1,0 und pathologisch < 0,9. Je kleiner der ABI,
Das transthorakale Echokardiogramm (TTE) ist einfach desto ausgeprägter ist die pAVK).
und nichtinvasiv durchführbar, liegt aber in seiner Empfind-
lichkeit besonders im Vorhof und im linken Ventrikel deutlich > Die große ätiologische Bedeutung kardialer Embo-
hinter der transösophagealen Echokardiographie (TEE) zu- lien macht, besonders bei jüngeren Schlaganfallpati-
rück. Für diese sollte aber eine besondere Indikation gestellt enten ohne wesentliche andere Risikofaktoren, eine
werden und der Verdacht auf eine kardiale Emboliequelle nach konsequente kardiologische Diagnostik erforderlich.

Exkurs
Ein Interaktionen zwischen Hirn und Herz
Die Folgen schwerer Hirnverletzungen und Schlaganfälle auf
die Herzfunktion ist schon lange bekannt, aber erst in letzter
Zeit ist klar geworden, wie häufig und vielfältig diese sein
können.

EKG-Veränderungen. Bei über der Hälfte aller Schlaganfall-


patienten können sekundäre EKG-Veränderungen gefunden
werden. Sie treten am häufigsten nach SAB auf, gefolgt von
Tako-Tsubo Syndrom. Schematische Darstellung der patholo-
Blutungen und zuletzt bei Ischämien, bei denen noch die
gischen Kontraktion klappennah (A) im Vergleich zur normalen
Frage der wechselseitigen Kausalität hinzu kommt. Zu diesen Kontraktion (B)
Veränderungen gehören ST-Senkungen, QT-Verlängerungen
und Arrhythmien sowie ein Phänomen, das im amerika-
nischen Schrifttum als »cerebra lT-waves« bezeichnet wird. Reduktion der Ejektionsrate auf 10% kommt vor. Die Koronari-
en sind in der Regel frei. Stresshormone sind massiv erhöht.
Laborwerte. 10% aller ischämischen Schlaganfälle zeigen Die Symptome der Stress-Kardiomyopathie gleichen denen
Troponin-Erhöhungen (sekundäre contraction body necrosis) eines Myokardinfarktes mit plötzlich beginnende heftige und
und erhöhte Katecholaminspiegel, besonders nach Läsionen Luftnot. Negative T-Wellen werden gefunden.
in der rechten Inselrinde. Hiergegen helfen Betablocker, ACE- Bei fast allen Patienten geht den Symptomen ein emotio-
Hemmer und Diazepam. nal belastendes Ereignis, der Tod eines Angehörigen, eine
Naturkatastrophe, ein heftiger Streit oder die Diagnose einer
Tako Tsubo Myopathie (Broken Heart Syndrom) schweren Erkrankung, aber selten auch erfreuliche Überra-
An gebrochenem Herzen sterben, geht das? Was der Volks- schungen voraus. Auch nach schweren Infarkten oder SAB,
mund beschrieb, hat offensichtlich einen ernsten biolo- aber auch Enzephalitis, ist das Syndrom beobachtet worden.
gischen Hintergrund. Man kann vor Schreck sterben, man Obwohl die Veränderungen in der Regel reversibel sind und
kann nach massiven körperlichen, seelischen oder orga- die Herzfunktion nach einigen Wochen wieder normal sein
nischen-zerebralen Belastungen eine stressbezogene Kardio- kann, ist dies keine grundsätzlich benigne Situation: Auch
myopathie bekommen, die ein ganz charakteristisches mor- Todesfälle kommen vor. So lassen sich auch die gehäuften
phologisches Substrat im linken Ventikel hat: Die klappen- Herztodraten bei Sportübertragungen wie Fußball-Endspielen
nahen Anteile sind maximal kontrahiert, die apikalen Struk- erklären.
turen dilatiert und kommen gegen den erhöhten Auswurfwi- Im weitesten Sinne gehört auch der Voodootod in diesen
derstand nicht mehr an. Das Bild des Herzens erinnert an das Zusammenhang. Der »Zauber«, der von Voodoopriestern
Gerät, das japanische Fischer beim Fang von Tintenfischen verhängt wurde, wird durch den Glauben des Opfers wirksam,
verwenden: einen bauchigen, oben konisch verengten Korb, die in überschießender Angst erkranken und letztlich auch
aus dem die Tintenfische nicht mehr herauskommen. Eine sterben können.
202 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

a b

. Abb. 5.32a,b. Kontrastmittelübertritt bei offenem Foramen Heidelberg), b TEE mit Thrombus in situ, der durch das offene Foramen
ovale mit Septumaneurysma. a TEE mit KM. Bubble-Übertritt durch in den linken Vorhof ragt (Pfeil). (D. Mereles, Heidelberg)
kleines OFO mit Vorhofseptumaneurysma (Pfeil) (S. Bährle-Szabo,

. Tabelle 5.6. Klinische Laboruntersuchungen bei Patienten mit zerebralen Ischämien


I II III IV
Unbedingt notwendige Basisin- Klinische Aufnahmeroutinea Laboruntersuchung bei spezi- Bei Verdacht auf Vaskulitis
formation (Praxis, Notambulanz) ellen Fragestellungen
Blutsenkungsgeschwindigkeit Diff.-Blutbild Zusätzl. Gerinnungsunter- Protein-Elektrophorese
(BSG) Harnstoff, Kreatinin suchung wie Fibrinogen, C3, C4
Blutbild (Hb, Thrombozyten Natrium, Kalium Protein C, Protein S, AT III, CRP
Erythrozytenzahl, Hämatokrit SGOT, SGPT, AP, Fibrinogen-Spaltprodukte, ANA
Leukozyten) GLDH, γ-GT, CK APC-Resistenz ANCA
Kreatinin Glukose Thrombozytenfunktionstest ds-DNA
Glukose HbAIc Lupus-Antikoagulans, Rheumafaktoren
Wünschenswert ferner Quick, PTT Kardiolipin-AK Liquorstatus
Na+, K+, Quick, PTT, Fibrinogen Gesamteiweiß, Elektrophorese, Blutkulturen, spezifische Liquorimmunologie‚ Borrelien-
Harnsäure Entzündungsparameter Serologie
Cholesterin, Triglyzerideb wie Lues-, HIV-Serologie
Lipidelektrophorese,
HDL, LDL, VLDL,
Apolipoproteine
Blutzuckertagesprofil
OGT
TSH
CDT
Genetische Untersuchungen
wie Prothrombin-Genmutation,
Faktor V-Leiden-Mutation,
Notch3-Muation bei v.a. CADA-
SIL
a Die klinische Aufnahmeroutine ist von Klinik zu Klinik unterschiedlich; hier ist eine Laborroutine für Patienten auf Schlaganfallstationen dar-
gestellt. Eine Reihe der Untersuchungen (Harnstoff, Kreatinin, T3, T4) dient auch der Patientensicherheit für den Fall geplanter Kontrastmittel-
untersuchungen.
b Nur bei Nüchternabnahme sinnvoll.
5.6 · Apparative Diagnostik
203 5
5.6.6 Labordiagnostik ä Der Fall: Fortsetzung
Es ist klar, dass die Patientin einen Schlaganfall erlitten hat. Ob
Die Labordiagnostik dient der Aufdeckung allgemeiner Risi- eine Blutung oder ein Infarkt vorliegt, ist an der Symptomatik
kofaktoren für Arteriosklerose, der Überprüfung anderer Or- nicht zu erkennen. Der hohe Blutdruck könnte für eine Blutung
ganfunktionen in der Akutbehandlung des Schlaganfalls und sprechen, aber auch nach ischämischem Infarkt sind hohe Blut-
dem Nachweis seltener Schlaganfallätiologien (Vaskulitis, Ko- druckwerte nicht ungewöhnlich. Idiopathisches Vorhofflimmern
agulopathie usw.). Die klinischen Laboruntersuchungen sind hat ein hohes embolisches Hirninfarktrisiko. Es bleiben also drei
in . Tabelle 5.6 zusammengestellt. Die Liquordiagnostik ist nur Differentialdiagnosen:
bei Verdacht auf Vaskulitis sinnvoll. 4 die intrakranielle Blutung,
4 die kardiale Embolie,
4 die arterioarterielle Embolie von einer Karotisstenose.
5.6.7 Biopsien
Die Patientin wird innerhalb von 2 h ins Krankenhaus gebracht,
Gefäß- und Muskelbiopsien werden bei Verdacht auf Vas- und nach initialer Stabilisierung wird ein CT durchgeführt, das
kulitis durchgeführt. Hautbiopsien sind bei jungen Patien- keine Blutung und nur geringe frühe Infarktzeichen in den
ten mit spontanen Gefäßdissektionen und bei Verdacht Stammganglien zeigt.
auf CADASIL, eine genetisch bedingte Mikroangiopathie Es liegt also keine Blutung vor. Dagegen finden wir Zeichen
(7 Kap. 5.9), oder Mitochondriopathien (MELAS, 7 Kap. 28.7) einer frühen ischämischen Läsion in den lateralen Basalganglien.
hilfreich. Die Dopplersonographie zeigt eine etwa 70%ige Stenose der
rechten ICA. Die transkranielle Dopplersonographie spricht für
einen Verschluss im M1-Segment der rechten MCA, der durch die
CT-Angiographie bestätigt wird.

Leitlinien Diagnostik des Schlaganfalls*


4 Eine rasche körperliche Untersuchung ist neben der 4 Bei klinischem Verdacht auf eine subarachnoidale Blutung
Erhebung von Basisdaten aus der Labordiagnostik Grundla- und unauffälliger zerebraler Bildgebung muss zum endgül-
ge einer akuten Schlaganfallbehandlung (A). tigen Ausschluss einer SAB eine Lumbalpunktion durchgeführt
4 Bei eindeutigen Symptomen eines akuten Schlaganfalls werden (A).
innerhalb der ersten 3 Stunden nach Symptombeginn muss 4 Eine Thrombose zerebraler Venen und Sinus kann mittels
eine zerebrale Bildgebung durchgeführt werden, um den CTV oder MRV dargestellt werden. Erstere lässt sich mit nur
Patienten mit einem ischämischen Schlaganfall bei fehlen- geringem zeitlichem Mehraufwand im Anschluss an eine
den Kontraindikationen einer systemischen Thrombolyse mit native CCT durchführen, letztere liefert auch eine sensitivere
Alteplase zuführen zu können (A). Dieser Blutungsausschluss Parenchymdarstellung und kann die Akuität der Erkrankung
gelingt durch CCT oder MRT rasch und sicher (A). näher beschreiben (B).
4 Die MRT stellt ischämische Läsionen besser und früher 4 Zur Erstbehandlung, Vermeidung von frühen Sekundär-
dar als die CCT und kann ischämische Risikokonstellationen komplikationen (Fieber, Infektionen, Blutdruck und Blutzucker-
regelhaft abbilden (B) – und zeigt akute intrakranielle Blu- entgleisungen) und zur Prognoseeinschätzung ist ein optima-
tungen mit der gleichen Sensitivität (A), chronische intrakra- les Management des Patienten beginnend mit dem Zeitpunkt
nielle Blutungen (sog. Microbleeds) sogar mit einer besseren der Information über ein mögliches Schlaganfallereignis er-
Sensitivität an (B). forderlich, am besten im Rahmen einer Stroke Unit mit inten-
4 Diffusions- und perfusionsgewichtete MRT-Aufnahmen sivem Monitoring des klinisch-neurologischen Status, der
sowie eine intrakranielle MR-Angiografie können zusätzliche Kreislaufparameter, der Körpertemperatur, des Blutzuckers
Informationen zur Risiko-Nutzen-Abschätzung einer revasku- und der infektionsrelevanten Laborparameter (A).
larisierenden Therapie liefern (B). 4 Die extra- und transkranielle Doppler- und Duplexsono-
4 Bei klinischen Zeichen einer Basilaristhrombose oder graphie sind schnelle, am Patientenbett durchführbare und
-embolie sollte zu der Schnittbildgebung eine CT- oder MR- zum Monitoring geeignete nichtinvasive Methoden, die viele
Angiographie vorliegen, um entscheiden zu können, ob im ätiologische und prognostische Zusatzinformationen über den
Rahmen eines individuellen Heilversuches eine intraarterielle individuell aktiven Gefäßprozess erbringen. In Kombination
oder systemische intravenöse Thrombolyse in einem Zeit- mit den Daten aus der zerebralen Schnittbildgebung ergibt
fenster von bis zu 12 Stunden durchgeführt werden kann (B). sich damit eine bessere ätiologische Klärung und prognosti-
4 Bei Patienten mit vorübergehenden neurologischen sche Einschätzung (A).
Defiziten, nur gering ausgeprägten neurologischen Beein-
trächtigungen oder bei einer raschen spontanen Rückbildung
der neurologischen Symptome ist ebenso wie bei Patienten
mit manifesten neurologischen Defiziten eine sofortige und * gekürzt nach den Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitli-
vollständige diagnostische Klärung notwendig (B). nien.html)
204 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

5.7 Therapie Krankengymnasten (Stroke Team) zusammenarbeiten und


eine standardisierte Behandlung der Patienten durchführen.
5.7.1 Schlaganfall als Notfall Die Behandlung auf einer Stroke Unit führt nachweislich und
signifikant
Präklinische Versorgung 4 zu einer Verkürzung der Behandlungsdauer,
Der Schlaganfall ist, wie der Herzinfarkt oder die Lun- 4 zu einer beschleunigten Übernahme in Rehabilitationsein-
genembolie, als medizinischer Notfall zu behandeln. In der richtungen,
präklinischen Behandlungsphase ist eine sichere Differen- 4 zu einem geringeren Anteil an dauerhaft pflegebedürftigen
zierung zwischen den einzelnen Schlaganfallsubtypen nicht oder abhängigen Patienten und
möglich. Die Mehrheit der Schlaganfallpatienten erhält kei- 4 zu einer Senkung der Mortalität.
ne adäquate Therapie, weil sie nicht rasch genug das Kran-
5 kenhaus erreichen. Beim Verdacht auf einen Schlaganfall je- Ziel aller Sofortmaßnahmen bei Schlaganfallpatienten ist es,
den Schweregrades soll der Rettungsdienst, bei schweren eine Stabilisierung und Normalisierung allgemeiner Körper-
Schlaganfall mit Bewusstseinsstörung der Notarzt gerufen funktionen (Herz-Kreislauf-, Lungenfunktionen, Flüssigkeits-
werden. haushalt, metabolische Parameter) herbeizuführen und, falls
Die erfolgreiche Versorgung des akuten Schlaganfalls be- sich therapeutische Konzequenzen absehen lassen, den Patien-
ruht auf einer viergliedrigen Kette: ten in eine Klinik zu bringen, in der Diagnostik und spezielle
1. rasches Erkennen von und Reagieren auf die Schlaganfall- Therapie durchgeführt werden können. Bei inkompletten,
symptome (Angehörige, Patienten, Hausärzte), leichteren Schlaganfällen kann eine rechtzeitige Therapie und
2. umgehende Information der Rettungsdienste (Leitstellen), Prophylaxe die Entwicklung eines viel schwereren Schlagan-
3. bevorzugter Transport mit Voranmeldung am Zielkran- falls verhindern.
kenhaus,
4. rasche und zielgerichtete Versorgung im Krankenhaus.
5.7.2 Allgemeine Therapie
Dies setzt eine verbesserte Information über die Symptome
und richtiges Verhalten beim »Schlaganfall« für Betroffene Oxygenierung
und Angehörige, für Rettungsdienste und Aufnahmestationen, Störungen der Atmung sind in den ersten Stunden nach einem
die Einbindung der Hausärzte und Notärzte in ein Akutversor- Schlaganfall, gleich welcher Genese, selten. Nur Patienten mit
gungssystem, verbesserte Transportwege in Kliniken, in denen ausgedehnten, hemisphärischen oder vertebrobasilären In-
adäquate Diagnostik und Therapie durchgeführt werden kann farkten, großen Hirnblutungen, schweren Subarachnoidalblu-
und Beschleunigung und Standardisierung der Abläufe in Not- tungen oder Krampfanfällen sind primär ateminsuffizient oder
ambulanz und Klinik voraus. Es ist immer eine Bildgebung haben frühzeitig eine reduzierte Vigilanz und damit ein er-
notwendig, um zwischen Blutung und Infarkt zu differenzie- höhtes Aspirationsrisiko. Eine gute Oxygenierung des Blutes
ren. Deswegen muss ein Schlaganfallpatient in eine Klinik mit ist entscheidend. Patienten mit akutem mittelschweren bis
strukturierter Schlaganfallversorgung eingeliefert werden, wo schweren Schlaganfall erhalten sofort Sauerstoff über eine Na-
diese Diagnostik an 24 h/Tag an allen 7 Wochentagen (24/7) sensonde (2–4 l/min).
durchgeführt werden kann.
Blutdruckbehandlung
Stroke Units In den ersten Stunden nach dem Schlaganfall haben ca. 70%
In den Kliniken ist eine spezielle Organisation für die Behand- der Patienten einen erhöhten arteriellen Blutdruck von
lung von Schlaganfällen notwendig. Sinnvoll sind Schlaganfall- 170/100 mmHg und mehr. Da der zerebrale Blutfluss direkt
spezialstationen (sog. Stroke Units), auf denen mit der Diag- vom arteriellen Mitteldruck abhängig ist, führt eine Senkung
nostik und Therapie von Schlaganfällen besonders vertraute des arteriellen Mitteldrucks zu einer Reduktion des lokalen
Neurologen, Internisten, Krankenschwestern, Logopäden und zerebralen Blutflusses im Infarktareal und in der Penumbra.

Leitlinien zur Schlaganfallversorgung*


4 Schlaganfallpatienten sollten in Schlaganfallstationen 4 Bei Auftreten eines Schlaganfalls ist unverzüglich der
behandelt werden, um Tod und Behinderung zu minimieren. medizinische Notfalldienst zu verständigen und eine Einwei-
Vermeintliche Schlaganfallpatienten sollen ohne Verzöge- sung in ein qualifiziertes Zentrum zu veranlassen (A).
rung in ein Zentrum transportiert werden, das eine Stroke 4 Das Schlaganfallrisiko nach einer TIA kann durch eine
Unit oder zumindest eine strukturierte Schlaganfallversor- strukturierte frühe Diagnostik und sofortige Einleitung einer
gung aufweist (A). sekundärgerechten Sekundärprävention signifikant gesenkt
4 Der Schlaganfall ist als medizinischer Notfall anzuse- werden (A).
hen und erfordert das für Notfälle erforderliche Versor-
gungs-und Behandlungsnetzwerk sowie öffentliche Aufklä-
rung (A). * Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)
5.7 · Therapie
205 5

. Tabelle 5.7. Charakteristika verschiedener Antihypertensiva in der Behandlung des akuten Schlaganfalls.
Dosis Wirkeintritt Wirkdauer Nebenwirkungen
Parenterale Substanzen
α1-Rezeptorenblocker 25-(50) mg 2–5 min HWZ: 3 h Bradykardie
Urapidil Perfusor: 9–30 mg/h Übelkeit
Beta-Blocker 1 mg/min (max 20 mg) 2–5 min HWZ: 3–6 h Bradykardie, AV-Block, Bronchospasmus
Metoprolol Kombination Perfusor:
Dihydralazin
(1,5–7,5 mg/h)
Clonidin 0,15–0,3 mg 5–10 min HWZ: 6–10 h Initiale Hypertension,
Perfusor: 9–45 μg/h Sedierung,
Bradykardie
Vasodilatatoren 0,25–10 μg/min × kg KG sofort 2 min Hirndruckerhöhung
Nitroprussid Zyanidvergiftung Thiocyanatvergiftung
(Kombi: Nathiosulfat)
Alpha-/Betablocker 20–80 mg i.v.-Bolus 5–10 min 3–5 h Erbrechen, Hypotension, Übelkeit, Schwindel
Labetalol *
Orale Medikamente
ACE-Hemmer 6,5–50 mg sublingual 15–30 min 4–6 h Verminderter CBF, Sedierung, orthostatische
Captopril Hypotonie
Zentrale Sympatholytika 0,2 mg initial 0,5–2 h 6–8 h Erhebliche Hypotension, besonders zusam-
Clonidin men mit Diuretika, Bradykardie
* International in Richtlinien erste Wahl, in Deutschland nur über internationale Apotheke erhältlich

Dieser Effekt ist besonders ausgeprägt bei älteren Patienten mit Infektbehandlung und Fiebersenkung
vorbestehender Hypertonie. Erhöhte Hirntemperaturen machen das Nervengewebe beson-
4 Beim ischämischen Infarkt sollen erhöhte Blutdruckwerte ders empfindlich gegen ischämische Prozesse und vergrößern
nur dann gesenkt werden, wenn sie Werte von 220/110 mmHg den ischämischen Schaden. Dementsprechend ist eine konse-
bei wiederholten Messungen überschreiten oder eine Throm- quente Fiebersenkung durch physikalische Kühlung und Anti-
bolysetherapie durchgeführt werden soll. . Tabelle 5.7 stellt pyretika und schon beim Verdacht auf eine Infektion eine ge-
oral und parenteral zu gebende Antihypertensiva zusammen. zielte Antibiose indiziert. Viele Patienten mit zerebrovasku-
4 Kalziumantagonisten wie Nitrendipin (Bayotensin acut®) lären Krankheiten kommen mit einem vorbestehenden Infekt
können in der Akutphase bei dramatisch erhöhtem RR ein- zur Aufnahme oder haben in der Akutphase erbrochen und/
gesetzt werden. Der systolische Blutdruck sollte nicht unter oder aspiriert und sind dadurch infektgefährdet.
150–160 mmHg liegen.
> Vorsicht beim Senken des erhöhten Blutdrucks bei
4 Besonders kritisch ist die Blutdruckeinstellung bei hämo-
Schlaganfallpatienten! Nur bei Blutungen ist eine frü-
dynamisch induzierten Infarkten, bei denen man unter Um-
he RR-Senkung sinnvoll, bei Ischämien kann die Blut-
ständen auch eine Anhebung des Blutdrucks mit hyperonko-
drucksenkung gefährlich sein. Man kann initial RR-
tischen Infusionen oder Medikamenten vornehmen muss.
Werte von systolisch bis 220 mmHg tolerieren. Fieber
Blutzuckerkontrolle und erhöhte Blutglukosewerte müssen konsequent
gesenkt werden!
Sowohl Hypoglykämie als auch Hyperglykämie können un-
günstige Auswirkungen auf die Überlebensfähigkeit der Neu-
rone haben. Wir bevorzugen einen Blutglukosespiegel nicht Thromboseprophylaxe
über 150 mg/dl. Schlaganfallpatienten mit höhergradigen Lähmungen haben
4 Werte über 200 mg/dl werden mit subkutaner, seltener in- ein deutlich erhöhtes Thrombose- und Lungenembolierisiko.
travenöser Gabe von Alt-Insulin behandelt. 4 Die Gabe niedermolekularer Heparine (Certoparin oder
4 Bei Hypoglykämie (Glukose-stix bei der Erstuntersuchung) Enoxaparin) ist der subkutanen Heparingabe zur Thrombose-
sofort 10%ige Glukoseinfusion. Ansonsten werden keine glu- prophylaxe überlegen. Angewendet werden 2000-5000 IE Anti-
kosehaltigen Infusionen in den ersten Tagen nach Schlaganfall Xa-Aktivität s.c..
gegeben. 4 Zusätzlich wird eine frühe intensive Krankengymnastik
zur Thromboseprophylaxe angewandt.
206 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

5.7.3 Perfusionsverbessernde Therapie klinischen Erfolg der Lyse ist neben der Rekanalisierung
(Thrombolyse) die Qualität der Kollateralversorgung über leptomeningeale
Anastomosen. Mit Hilfe moderner MRT- und CT-Verfahren
Die Thrombolysebehandlung basiert auf der Vorstellung, können Patienten identifiziert werden, die auch später als 4,5 h
dass eine möglichst rasche Rekanalisierung verschlossener nach Symptombeginn möglicherweise von einer Rekanalisa-
Gefäße die Prognose des Patienten verbessert. Man unter- tion profitieren könnten, Allerdings ist die Wirksamkeit der
scheidet: Therapie am höchsten, wenn sie in den ersten 90 min einge-
4 systemische Thrombolyse mit einem Plasminogenaktiva- setzt wird. Je früher behandelt wird, desto größer ist für den
tor, meist mit rekombinantem Gewebsplasminogenaktivator Patienten der Behandlungseffekt. Deshalb bedeutet die Ver-
(rtPA: recombinant tissue plasminogen activator), längerung des Zeitfensters auf 4,5 h keineswegs, dass man sich
4 lokale Lyse mit Urokinase oder rtPA (s. Box). bei der Behandlung der Schlaganfallpatienten jetzt mehr Zeit
5 Systemische Thrombolyse
lassen kann.
4 Die Dosierung von 0,9 mg rtPA/kg KG ist in den ersten
3Zeitfenster. Es gibt bei der Lysetherapie ein enges Zeit- 4,5 h effektiv und sicher. Die Zahl der Patienten, die ihren
fenster. Zugelassen ist die Behandlung bislang (2010) nur in Schlaganfall ohne oder mit nur minimalen Restsymptomen
einem 3-h-Zeitfenster. Es gibt inzwischen sichere Hinweise auf überleben, steigt um etwa 15% an.
eine Wirksamkeit bis zu 4,5 h nach dem Beginn der Symp- 4 In den ersten 90 min nach Symptombeginn ist die Chance
tome. Eine Verlängerung des Zeitfensters für die Thrombolyse einer geringen Behinderung 2,8-mal höher als gegenüber Pla-
auf 4,5 Stunden darf erwartet werden und ist bereits in die zebo, in den zweiten 90 min noch 1,5-mal höher und zwischen
Europäischen Leitlinien eingeflossen. Entscheidend für den 180 und 270 min noch 1,4-mal höher.

Exkurs
Antikoagulation
Die Frühantikoagulation dient der Prophylaxe von Rezidivin- Vielerorts werden Patienten, die eine der in . Tabelle 5.8
sulten, wenn eine Emboliequelle gesichert oder wahrschein- aufgeführten Indikationen erfüllen, mit Heparin i.v. antikoa-
lich ist. Vermutet wurde, dass die frühe (s.c.- oder i.v.-)Anti- guliert:
koagulation auch eine Wirkung auf den Schlaganfall selbst 4 Nach einer Bolusinjektion von 5000 IE werden sie konti-
habe. Diese Erwartung konnte für die i.v.-Vollheparinisierung nuierlich mit 1000 IE/h behandelt. Die partielle Thromboplas-
nicht bestätigt werden. Die Datenlage für s.c.-Heparinisierung tinzeit (PTT) soll auf das 2- bis 2,5fache des Ausgangswertes
mit low-molecular-weight-Heparinen ist ebenfalls negativ. verlängert werden.
Das Risiko, ein Rezidiv eines kardioembolischen Hirninfarkts 4 Die individuelle Heparindosierung wird alle 12 h ange-
innerhalb von 14 Tagen nach dem ersten Schlaganfall zu passt. Um heparinassoziierte Thrombozytopenien zu erken-
erleiden, soll 2–5% betragen. Dieses Risiko schwankt sehr in nen, muss täglich die Thrombozytenzahl bestimmt werden.
Abhängigkeit von der zugrunde liegenden kardialen Erkran- Bei heparininduzierter Thrombozytopenie drohen zusätzliche
kung. Die wesentliche Nebenwirkung einer Heparinisierung Thrombosen. Heparin, auch subkutanes, muss dann abgesetzt
liegt in der sekundären hämorrhagischen Umwandlung des werden.
Infarkts, die aber meist ohne eine Verschlechterung des neu- 4 Ausweichmedikament ist Danaparoid-Na (Orgaran®).
rologischen Befunds abläuft.

Leitlinien Allgemeine Therapie des Schlaganfalls*


4 Neurologischer Status und die Vitalfunktionen sollen 4 Zu vermeiden ist der Einsatz von Nifedipin, Nimodipin und
überwacht werden (A). aller Maßnahmen, die zu einem drastischen RR-Abfall führen (B).
4 Bei Patienten mit schweren Schlaganfällen sind die 4 Eine arterielle Hypotonie sollte vermieden und durch die
Atemwege freizuhalten und eine zusätzliche Qxygenierung Gabe geeigneter Flüssigkeiten und/oder Katecholaminen
ist anzustreben (B). (außer Dopamin) behandelt werden (B).
4 Hypertensive Blutdruckwerte bei Patienten mit Schlag- 4 Regelmäßige Blutzuckerkontrollen sind zu empfehlen,
anfällen sollten in der Akutphase nicht behandelt werden, Serumglukosespiegel von z.B. > 200 mg/dl sollten mit Insulin-
solange keine kritischen Blutdruckgrenzen überschritten gaben behandelt werden (B).
werden (B). 4 Die Körpertemperatur sollte regelmäßig kontrolliert und
4 Der Blutdruck sollte in den ersten Tagen nach dem Erhöhungen über 37,5° sollten behandelt werden (C).
Schlaganfall im leicht hypertensiven Bereich gehalten wer- 4 Der Elektrolytstatus sollte regelmäßig kontrolliert und
den. In Abhängigkeit von der Schlaganfallursache kann mit ausgeglichen werden (C).
einer Blutdrucknormalisierung nach wenigen Tagen begon-
nen werden (B). * Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html) sowie
Guidelines der Europäischen Schlaganfall-Organisation (ESO) 2008
5.7 · Therapie
207 5
4 Die korrekte Interpretation der frühen CTs zur Vermei-
. Tabelle 5.8. Verbleibende mögliche Indikationen zur akuten
dung von Blutungskomplikationen spielt die entscheidende
Antikoagulation (nach ES0 2008)
Rolle.
– Schlaganfall durch gesicherte kardiale Embolie mit hohem 4 Häufig werden auch diffusions- und perfusionsgewich-
Re-Embolierisiko
tete MR-Untersuchungen, zusammen mit der MR-Angio-
– künstliche Herzklappen
– Vorhofflimmern
graphie, zur Auswahl von Patienten für eine Lysetherapie ein-
– Myokardinfarkt mit Wandthrombus gesetzt.
– Linksatrialer Thrombus
3Kontraindikationen. Die Lysetherapie ist selbstverständ-
– Koagulopathien
– Protein-C- und Protein-S-Mangel, lich kontraindiziert, wenn in der Bildgebung eine Blutung di-
– APC-Resistenz agnostiziert wurde. Ein schweres neurologisches Defizit mit
Bewusstseinstrübung, fixierter Kopf- und Blickwendung und
– Symptomatische Dissektion extrakranieller Arterien
Hemiplegie ist wie auch das Vorliegen ausgedehnter Infarkt-
– Sinusvenenthrombosen
frühzeichen in der CCT (7 Kap. 5.6.1) eine relative Kontraindi-
kation, da ein erhöhtes Risiko sekundärer Einblutungen be-
steht. Hingegen ist ein vermeintlich nur leichtes Defizit keine
4 Nach den aktuellen Studiendaten besteht für die CT-ba- Kontraindikation gegen die Lysetherapie. Viele Patienten die
sierte systemische Lyse mit rtPA nach mehr als 4,5 h kein nach- aus solchen Gründen nicht lysiert worden sind, verlassen mit
weisbarer Benefit mehr. einer lebenslangen Behinderung das Krankenhaus. Darüber
4 Patienten mit einem PWI/DWI-Mismatch können auch hinaus gelten alle anderen Kontraindikationen gegen eine Lyse,
jenseits dieses Zeitfensters in einem ähnlichen Ausmaß wie wie sie von der Behandlung des Herzinfarktes oder der Lun-
<4,5 h von einer Lysetherapie profitieren. genembolie bekannt sind.
4 Voraussetzung für die Durchführung einer Lyse ist ein
eingespieltes interdisziplinäres Team von Neurologen (Klinik, > Die Thrombolyse mit 0,9 mg/kg KG rtPA ist die zurzeit
Notfallambulanz, Doppler, Intensivstation) und Neuroradio- einzige gesichert wirksame Behandlungsmethode
logen (CT, CT-Angiographie, Katheterangiographie) in 24-h- des akuten Hirninfarkts. Sie muss innerhalb von 4,5 h
Bereitschaft. 6

Facharzt
Lokale, intraarterielle Thrombolyse und mechanische Rekanalisation
Die lokale, intraarterielle Thrombolyse von Verschlüssen der 4 Lokale Infusion von bis zu 30 mg rtPA über 30 min mit
proximalen A. cerebri media führt, wenn sie innerhalb von 6 h intermittierenden Angiokontrollen.
durchgeführt wird, zu einer signifikanten Verbesserung des
Behandlungsergebnisses. Die Substanz Pro-Urokinase, mit Alternativ benutzen wir auch mechanische Systeme, bei zu-
der dieses Ergebnis erzielt wurde, ist noch nicht im Handel grunde liegender arteriosklerotischer Stenose in der gleichen
erhältlich. Sitzung Stenting. Neuerdings werden auch clot-retriever-
Wir geben rtPA bis zu 60 mg i.a. über 1 h oder bis zur Systeme (s.u.) oder Stents zur Embolusentfernung eingesetzt.
Wiedereröffnung des Gefäßes. Eine lokale Thrombolyse bei Oft wird zuerst auch eine mechanische Rekanalisation mit
Verschlüssen in der vorderen Zirkulation wird von uns nur in dem Angiographie-Führungsdraht versucht. In manchen
Ausnahmefällen durchgeführt. Es ist unbekannt, ob die lokale Fällen wird nach erfolgreicher Lyse eine verbleibende Stenose
Lyse hier der systemischen überlegen ist. Darüber hinaus ste- in der Basilaris mit einem Stent gesichert (. Abb. 5.34). Ver-
hen heute zahlreiche Werkzeuge (sog. retriever) zur Verfügung, schiedene Studien zeigten Reperfusionraten von ca. 60% mit
mit denen Thromben aus Gefäßen entfernt werden können. deutlich besserer Prognose und geringerer Mortalität im Falle
Häufig sind weitere interventionelle Verfahren (Angioplastie, erfolgreicher Rekanalisierung.
Stenting) notwendig, um die Rekanalisation zu erhalten. 4 Weiterbehandlung auf der Intensivstation
Das Zeitfenster für die Thrombolyse eines Basilarisver- 4 Kombinationstherapie mit Aspirin® und Clopidogrel
schlusses ist wegen der oftmals fluktuierenden Symptomatik
nicht so eng wie in der vorderen Zirkulation. Ohne Wieder- Zurzeit werden verschiedene mechanische Rekanalisationssys-
eröffnung droht der komplette Infarkt des Hirnstamms teme entwickelt, mit deren Hilfe Thromben entfernt werden
(. Abb. 5.33). Die Lyse bei Basilaristhrombose wird auch mit sollen. Eines dieser Systeme, der »MERCI-Retriever«, der Ähn-
rtPA in der o.a. Dosierung durchgeführt. lichkeit mit einem Korkenzieher hat und sich wie ein solcher in
Unser augenblickliches Basilarisprotokoll besteht aus: den Thrombus hineingedreht, um ihn danach herauszuziehen,
4 systemische Lysetherapie mit 0,6 mg/kg KG (max. ist inzwischen als Medizinprodukt zugelassen. Kürzlich wurde
60 mg), 10% Bolus, Rest mit Perfusor über eine Stunde bis eine weitere transvaskuläre Behandlungsmethode, das
zum Beginn der intraarteriellen Lyse PENUMBRA-System, zugelassen. Aber auch für dieses System,
4 Tirofiban Bolus 0,4 μg/kg/min über 30 min (ebenfalls das eine hohe Rekanalisationsrate hat, gibt es keine verläss-
gleich zu Beginn), dann 0,1 μg/kg/min über 48 h lichen Outcome-Daten.
208 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

beginnen, und im CT müssen eine Blutung und ein 5.7.4 Spezielle intensivmedizinische
großer, früher Infarkt ausgeschlossen sein. Dies gilt Maßnahmen
zur Zeit noch nicht für Patienten mit sehr schweren
Infarkten (NIH-SS über 25 Punkten oder Patienten Einige Unterformen der schweren zerebrovaskulären Krank-
jenseits des 80sten Lebensjahres). Bei diesen ist eine heiten, wie beispielsweise der »maligne« Mediainfarkt bei Ver-
Lysebehandlung immer noch ein individueller Heil- schluss der distalen A. carotis interna, die Basilaristhrombose,
versuch. große spontane Hirnblutungen, die Ponsblutung oder die
Subarachnoidalblutung im Stadium V (7 Kap. 9) haben eine
Thrombozytenaggregationshemmer Mortalität von mehr als 80%. Eine der vorrangigen Aufgaben
4 Aspirin® (100–300 mg), in den ersten 48 h nach dem In- in der Akutbehandlung der Schlaganfallpatienten liegt in der
farkt gegeben, führt über eine Reduktion früher Rezidive zu Unterscheidung von Patienten, die rasche, intensivmedizi-
5 einer minimalen, aber statistisch signifikanten Verbesserung nische Behandlung benötigen, und solchen, die weniger ag-
des Behandlungsergebnisses nach Schlaganfall. Allerdings gressiv behandelt werden können. Faktoren wie vorbestehen-
müssen 100 Patienten behandelt werden, um einen Fall von des schweres neurologisches Defizit, bekannte lebenslimitie-
Tod oder Behinderung zu verhindern. rende Erkrankung, hohes Alter oder der Wille des Patienten

a b c

. Abb. 5.33a–c. Basilaristhrombose. a T1 MRT mit Thrombus in der hinter dem PICA-Abgang (Pfeil), c Ausgedehnte Diffusionsstörung im
Basilaris (Pfeil), b Angiographischer Befund mit fehlender Kontrastie- Hirnstamm
rung der Basilaris. Die Vertebralis links fehlt, rechts verdämmert sie

. Abb. 5.34a–c. Basilaris-


thrombose Therapie.
a Thrombose der mittleren
Basilaris mit umflossenen
Thrombus, b Zustand nach
erfolgreicher Lyse mit tPA und
zusätzlicher Gabe eines GP
IIb-IIIa Inhibitors (Abciximab).
Es verbleibt eine Stenose,
c Nach Anwendung eines intra-
kraniellen Stents ist die Steno-
se beseitigt

a b c
5.7 · Therapie
209 5

Leitlinien Thrombolyse*
4 Die intravenöse Behandlung mit rtPa wird innerhalb innerhalb eines 6 h-Zeitfensters zu einer signifikanten klini-
eines 3 h-Fensters zur Behandlung ischämischer Hirnin- schen Verbesserung und kann als individueller Heilversuch
farkte an in dieser Therapie erfahrenen Zentren empfohlen durchgeführt werden (B).
(0,9 mg/kg/KG; Maximum von 90 mg, 10% der Gesamtdosis 4 Akute Basilarisverschlüsse sollten in darauf spezialisierten
als Bolus, die restlichen 90% im Anschluss als Infusion über Zentren mit intraarterieller Applikation eines Thrombolytikums
60 Minuten) (A).** wie Urokinase oder rtPA, begleitet von einem GpIIb/IIIa-Anta-
4 Mit geringerem Behandlungseffekt ist die intravenöse gonisten oder mechanischer Rekanalisation behandelt wer-
Lysebehandlung wahrscheinlich auch jenseits des 4,5 h- den (B).
Zeitfensters wirksam. Eine Patientenauswahl mit multi-
modaler Bildgebung (Schlaganfall-MRT oder CT mit Perfu-
sions-CT und CT-A) kann die Entscheidung für eine Lyse * Leitlinien der DGN 2008
erleichtern.** ** die Europäischen Leitlinien haben bereits das Zeitfenster von
4 Die intraarterielle Behandlung proximaler Verschlüsse 3 auf 4,5 h verlängert. Das Verfahren zur Erweiterung der Zu-
der A. cerebri media mit einem Plasminogenaktivator führt lassung ist eingeleitet.

Facharzt
Konservative Behandlung des erhöhten Hirndrucks
Osmotherapie erfolgt mit niedermolekularen, hypertonen mung wegen ihrer potentiell hirndrucksteigernden Wirkung
Lösungen, wie Glycerol, Mannitol oder 7% NaCl. Unter der vermieden werden. Zu aggressive Hyperventilation senkt zwar
Voraussetzung einer intakten Blut-Hirn-Schranke entziehen den Hirndruck, führt aber zur Verstärkung der Ischämie! Hyper-
diese Substanzen dem Gehirn aufgrund eines osmotischen ventilation wird heute üblicherweise nur mit einem Ziel-PaCO2
Gradienten Wasser. Glycerol kann entweder intravenös von 35 mmHg kurzfristig eingesetzt.
(125 ml oder 250 ml einer 10%igen Lösung über 12 h 4-mal
täglich) oder oral (50 ml einer 80%-Lösung 4-mal täglich) Trispuffer: Tris-Hydroxy-Methyl-Aminomethan (THAM) ist eine
gegeben werden. Die Wirkung tritt rasch ein. Volumen- Pufferlösung, die den intrakraniellen Druck über eine alkalose-
überbelastung, Hämolyse und Elektrolytentgleisung sind induzierte Vasokonstriktion senkt. Sie muss über einen zentra-
häufige Nebenwirkungen der Glycerol-Therapie. Mannitol len Venenkatheter gegeben werden. Die Blutgase müssen
20% (125 ml alle 4–6 h) ist ein osmotisches Diuretikum mit stündlich kontrolliert werden, der Basenüberschuss sollte
rascherem Wirkungseintritt. Es ist die Therapie der Wahl bei +10 mmol nicht überschreiten.
Patienten mit raumfordernden Hemisphäreninfarkten. Elek-
trolytentgleisung, Niereninsuffizienz und Hypovolämie sind Barbiturate: Die intravenöse Gabe von Barbituraten, z.B.
bekannte Komplikationen. Wie Glycerol, verliert auch Manni- Thiopental bis zu einer Tagesmaximaldosis von 100 mg/kg KG,
tol seine Wirksamkeit nach wenigen Tagen. Als weiteres senkt ebenfalls den intrakraniellen Druck durch Verminderung
Mittel kann HyperHAES zum Einsatz kommen, man gibt 125 des intrakraniellen Blutvolumens, kann aber zur unerwünsch-
ml sofort oder fraktioniert und wiederholt je nach Erfolg. Die ten Senkung des systemischen Blutdrucks führen und ist
Tagesmaximaldosis liegt bei 500 ml. Man sollte die Osmolari- infektionsfördernd.
tät und die Elektrolyte regelmäßig überwachen. Kontraindi-
kationen für eine solche Therapie sind höhergradige Herz- Die Hypothermiebehandlung (33 °C Hirntemperatur) ist
insuffienz oder ein Lungenödem. experimentell und auf wenige Zentren beschränkt. Bei sehr
großen, raumfordernden Infarkten kann eine Senkung der
Hyperventilation: Senkung des arteriellen PaCO2 auf Hirntemperatur die Ödementwicklung begrenzen.
30 mmHg führt zur Abnahme des intrakraniellen Drucks um
25–30%. Aufgrund der Kompensation der Liquoralkalose Indometacin (50 mg) im Bolus senkt den Hirndruck zuver-
nimmt die Wirkung der Hyperventilation nach Stunden ab. lässig, aber nur kurz.
Hohe postexspiratorische Druckwerte sollten bei der Beat-

können im Einzelfall gegen eine maximale intensivmedizi- dierung und Schmerzfreiheit sind die Basis jeder Hirndruck-
nische Therapie sprechen. therapie.

Behandlung des erhöhten intrazerebralen Drucks Dekompressionsoperation


Bei großen Infarkten ist der erhöhte intrazerebrale Druck Der raumfordernde Hemisphäreninfarkt, der sog. maligne
das größte Problem. Wenn man den Hirndruck invasiv Mediainfarkt bei Verschluss der A. carotis interna oder der
überwacht (epidurale oder intraparenchymatöse Sonde), kann proximalen A. cerebri media, hat selbst unter maximaler kon-
man manchmal Druckwerte von über 30 mmHg messen. Se- servativer Therapie eine hohe Mortalität von über 80%. Die
210 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Exkurs
Hypothermie
Die Kühlung des Gehirns auf eine Temperatur von etwa 33 °C der Dekompressionsoperation beim malignen Mediainfarkt ist
hat einen erheblichen neuroprotektiven Effekt, der aus tier- der Effekt der Hypothermie auf die Überlebensrate geringer,
experimentellen Studien und aus 2 großen Studien bei was vor allem auf die erneute Steigerung des Hirndrucks nach
Patienten nach hypoxischem Herzstillstand bekannt ist. Die Wiedererwärmung zurückzuführen ist. Die Hypothermiebe-
Datenlage bei Hirninfarkten (und beim Neurotrauma) ist handlung (33 °C Hirntemperatur) ist experimentell und auf
noch nicht überzeugend. Zumindest weiß man, dass eine wenige Zentren beschränkt.
systemische Kühlung bei Infarktpatienten durchgeführt Ob die leichte Hypothermie (35 °C) ohne Intubation bei
werden kann, dies allerdings auch Risiken wie Entzündun- mittelschweren Infarkten oder Blutungen neuroprotektiv
gen, Sepsis und Gerinnungsstörungen birgt. Verglichen mit wirkt, ist Gegenstand aktueller Studien.
5
osteoklastische Hemikraniektomie ist eine lebensrettende rikelkatheter zum Ablassen des aufstauenden Liquors) über-
Maßnahme. Nach aktueller Studienlage wird bei der Behand- legen. Neben der engmaschigen klinischen Kontrolle und
lung von Patienten unter 60 Jahren entgegen früherer Befürch- wiederholten CT-Kontrollen liefert die Messung evozierter Po-
tungen die Anzahl schwerst Pflegebedürftiger nicht erhöht. Es tentiale wichtige Informationen über den richtigen Zeitpunkt
nimmt aber die Zahl der Patienten zu, die mit einem Rankin- der Entlastungsoperation (. Abb. 5.18).
Score von 4 oder besser (s.o.) überleben. Welche Hemisphäre
betroffen ist, spielt dabei keine Rolle. Die Therapie muss aller- Hypertensive Volumentherapie
dings früh, innerhalb der ersten 48 h und sicher vor dem Auf- Die hypervolämisch-hypertensive Hämodilution wurde für die
treten von Einklemmungszeichen (Herniation, Kap. 11) durch- Behandlung des Vasospasmus nach Subarachnoidalblutung
geführt werden. Die Therapie sollte vermutlich noch früher als entwickelt und wird jetzt auch bei ischämischen Infarkten, her-
48 h nach Beginn der Symptomatik, in der Regel in den ersten vorgerufen durch hämodynamisch relevante extra- oder intra-
24 Stunden durchgeführt werden. Warten, bis die Hirndruck- kranielle Stenosen, eingesetzt. Plasmaexpander werden bis zu
werte ansteigen, ist nicht sinnvoll. Auch wird man heute nicht einem zentralen Venendruck von 8 mmHg und einem systoli-
mehr warten, bis massive Raumforderungszeichen im CT schen Blutdruck von 180 mmHg infundiert. Zusätzlich kön-
nachweisbar sind. Wenn bereits irreversible Herniationszei- nen Vasokonstriktoren zur Erhöhung des arteriellen Mittel-
chen vorliegen, kommt diese Maßnahme immer zu spät. drucks angewandt werden. Eine invasive Überwachung der
Rechtzeitig durchgeführt, lässt sich die Mortalität von 80% auf kardialen Funktion kann notwendig werden (PICCO-Monito-
etwa 20% senken. Ob auch über 60 Jahre alte Patienten von ring).
dieser Maßnahme profitieren, wird zur Zeit untersucht.
. Abbildung 5.35 zeigt welchen immensen raumschaffen-
den Effekt eine großzügige Entlastungstrepanation hat. Es ist 5.7.5 Logopädie, Krankengymnastik
leicht vorstellbar, dass eine solche Schwellung der Hemisphäre und Rehabilitation
ohne Entlastungstrepanation unbeeinflussbar zur Herniation
und zum Hirntod geführt hätte. Die medizinische Therapie wäre weit weniger wirksam, wenn
Auch bei raumfordernden Kleinhirninfarkten kann eine sie nicht mit einer ständigen und kompetenten krankengym-
chirurgische Intervention indiziert sein, wenn das ischämische nastischen, ergotherapeutischen und logopädischen Behand-
Hirnödem zu einem Verschlusshydrozephalus oder zur Hirn- lung verbunden wäre.
stammkompression führt. Die Entlastungstrepanation der hin-
teren Schädelgrube ist der alleinigen Ventrikulostomie (Vent-

. Abb. 5.35. Maligner Mediainfarkt vor


und nach Trepanation. Der raumfordernde
Effekt richtet sich nicht auf die Mittellinien-
strukturen, sondern nach außen
5.7 · Therapie
211 5
Exkurs
Wie sich unser klinisches Wissen durch Studienergebnisse verändert
Einer der Gründe dafür, dass es Neuauflagen von klinischen und statt dessen das physiologische Zeitfenster durch Darstel-
Lehrbüchern gibt, ist neben Neuerungen in der Diagnostik lung rettbaren Gewebes zur Patientenauswahl benutzen
und Ätiologie die Tatsache, dass immer wieder neue Studien- könnten. Von Zeitfenstern bis zu 9 oder 12 h war hier die Rede.
ergebnisse publiziert werden, die Aussagen der letzten Leider hat die DIAS II-Studie diese Hoffnungen einstweilen
Auflage und die Leitlinien verändern. Das ist sehr deutlich in enttäuscht. Wie viele andere glaube ich immer noch an die
dem Kapitel zur Therapie des Hirninfarktes zu erkennen. Validität des Konzeptes, und in nächsten Studien müssen wir
In der letzten Auflage war die Empfehlung zur Thrombo- aus den Fehlern lernen.
lyse auf das 3 h-Zeitfenster beschränkt und es wurde von der Bewiesen ist inzwischen auch die Wirksamkeit und klinische
Möglichkeit, dieses auf 4,5 h zu verlängern, gesprochen. Dies Bedeutung der Dekompressionsoperation beim malignen Me-
ist nun Realität: ECASS 3, eine europäische Studie, hat das 4,5 diainfarkt. Die deutsche DESTINY-Studie und die gemeinsame
h-Zeitfenster zweifelsfrei bewiesen. Andererseits hatte ich Analyse mit 2 weiteren Studien aus Holland und Frankreich
große Hoffnungen gemacht, dass wir mit Hilfe der MR-ba- haben dies bewiesen. Das Resultat hat Eingang in die Euro-
sierten Patientenauswahl von der Uhr wegkommen könnten päischen Leitlinien (höchste Empfehlungsstärke) gefunden.

Krankengymnastik den, vielleicht den ersten 24 Stunden durchgeführt werden.


Sie ist in vielfacher Hinsicht wertvoll und wirksam: Kranken- Die medizinische Behandlung von Komplikationen ist meist
gymnastik hilft bei der Thrombose- und Pneumonieprophyla- nach der ersten Woche beendet. Schon in dieser Zeit ist es not-
xe (Atemtherapie) und erlaubt die frühe Aktivierung von Rest- wendig, mit kombinierter Krankengymnastik, logopädischer
funktionen. Nicht hoch genug bewertet werden kann die Mo- und medizinischer Behandlung den Rehabilitationsprozess
tivationshilfe durch frühes krankengymnastisches Training. einzuleiten.
Physiotherapeuten/-innen haben in der Regel ein besseres Wünschenswert ist, den Patienten, sobald es sein klinischer
Gefühl für die erhaltenen und wieder zu etablierenden neuro- Zustand zulässt, in eine Frührehabilitationseinrichtung zu ver-
logischen Funktionen als Ärzte, nicht zuletzt deshalb, weil sie legen. Dies kann unter Umständen schon wenige Tage nach
sich täglich und zeitlich viel intensiver um den funktionellen dem Schlaganfall möglich sein. Dort sollten krankengymnas-
Status der Schlaganfallpatienten bemühen. Sekundäre Schäden, tische, ergotherapeutische und logopädische Maßnahmen
wie Gelenkkontrakturen und Gliedmaßenfehlstellungen kön- noch stärker als in der Akutklinik eingesetzt werden.
nen verhindert werden. Bestimmte krankengymnastische Spezielle Rehabilitationsansätze zur neuropsychologischen
Techniken erlauben eine kurz- und mittelfristige Beeinflussung Rehabilitation bei kognitiven Störungen, zur neurolinguisti-
der Spastik. Spezielle Lagerungs- und Aktivierungstechniken schen Rehabilitation bei schweren aphasischen Sprachstörun-
beugen der Spastikentwicklung vor. Auf einer Schlaganfallstati- gen und zur gezielten Förderung der Beweglichkeit bei Hemi-
on sind Krankengymnastinnen und -gymnasten integraler Be- plegien oder Kleinhirnfunktionsstörungen werden noch zu
standteil des Teams und gleichberechtigte Partner. wenig angeboten. Schließlich sind auch Einleitung und Fort-
führung von Sekundärprophylaxe (7 Kap. 5.8.2) und Gesund-
Logopädie heitserziehung wesentliche Punkte, die in der Rehabilitation
Gleiches gilt für die Logopädie, deren Rolle in Aktivierung, berücksichtigt werden müssen.
Motivation und Wiedererlernen von Sprachinhalten derjeni- Die Rehabilitationsforschung beschäftigt sich darüber hi-
gen der Krankengymnastik vergleichbar ist. Therapie von naus auch mit der Entwicklung von Techniken und Substan-
Sprechstörungen ist ein weiterer wesentlicher Bestandteil der zen, die Regeneration und Plastizität des Gehirns (Übernahme
Logopädie. Auch Logopädinnen und Logopäden haben oft von Funktionen durch andere Hirnabschnitte) erleichtern sol-
eine bessere Einsicht in erhaltenes Sprachverständnis und wie- len sowie mit der Erprobung und Applikation von mechani-
der beginnende Sprachproduktion, da sie sich bei ihren täg- schen (Prothesen, Gehhilfen) und kybernetischen Hilfsmitteln
lichen Sitzungen um die Sprache weit intensiver kümmern (Kommunikationshilfen, Neuroprothesen). Mit funktionsan-
können als die Ärzte bei ihrer Visite. Ein wesentlicher Teil ihrer gepassten Trainingsrobotern wurden zuletzt gute Reha-Erfolge
Aufgaben in der Frühphase nach Schlaganfall ist die Diagnos- erzielt, dies ist jedoch noch Gegenstand intensiver Forschung.
tik und Therapie der häufig vorhandenen Schluckstörungen, Neuronale Wachstumsfaktoren könnten in Zukunft eine Rolle
die oft Ursache von Aspirationspneumonien sind. spielen.
Besonders bemerkenswert sind die Ergebnisse, die, manch-
Ergotherapie mal noch nach Jahren, mit der »forced-use«-motorischen
In Rehabilitationskliniken und auf Schlaganfallstationen man- Rehabilitation erreicht werden. Hierbei werden die Patienten
cher Akutkliniken kommt noch die Ergotherapie als dritte gewissermaßen gezwungen, den partiell gelähmten Arm kon-
Säule der Frührehabilitation hinzu. tinuierlich einzusetzen und zu trainieren, weil der gesunde
Arm durch Verbände zeitweise nicht brauchbar ist. Diese Me-
Rehabilitation thode zeigt übrigens auch im Tierexperiment eine erhebliche
Die Rehabilitation des Schlaganfallpatienten beginnt am Er- Trainingseffizienz und eine Veränderung der kortikalen Re-
krankungstag. Die Akuttherapie kann nur in den ersten Stun- präsentation der trainierten Funktion.
212 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

ä Der Fall: Fortsetzung Zigaretten pro Tag geraucht hat, nach etwa 5–7 Jahren Absti-
Die Patientin wird auf die Schlaganfallstation gebracht und nenz wieder das Infarktrisiko eines Nichtrauchers hat.
thrombolytisch behandelt. Der Blutdruck wird kontinuierlich
überwacht und auf Werte um 160 mmHg eingestellt. Im Verlaufs- Vorhofflimmern. Für das nichtrheumatische Vorhofflimmern
CT zeichnet sich ein kleinerer hinterer Basalganglieninfarkt ab. Im ist die prophylaktische Wirksamkeit der Antikoagulation sehr
transösophagealen Echo wurde ein Vorhofthrombus entdeckt. gut belegt. Unbehandelt beträgt das jährliche Hirninfarktrisiko
Die Patientin erholt sich sehr gut und wurde nach knapp einer bei Vorhofflimmern 3–15%.
Woche mit nur noch geringer Halbseitenschwäche in eine Reha- 4 Unter Dauerantikoagulation mit Marcumar® kann dieses
bilitationsklinik verlegt. Risiko um 60–80% gesenkt werden (Ziel-INR 2–3,5). Aller-
Aber wie soll die medikamentöse Weiterbehandlung aussehen? dings werden nur etwa 50% der Patienten, die unbedingt anti-
koaguliert werden müssten, wirklich behandelt, und wiederum
5 5.8 Prävention
nur die Hälfte erreicht dauerhaft die Ziel-INR. Es ist immer
wieder erschreckend, wie viele Patienten mit lange bekanntem,
idiopathischem Vorhofflimmern, die mit einem schweren
Da Patienten mit zerebrovaskulären Krankheiten oft auch in Schlaganfall in die Klinik kommen, keine prophylaktische Be-
anderen Regionen des Körpers arterielle Verschlusskrankhei- handlung hatten.
ten haben, beugen die meisten Maßnahmen auch dem Myo- 4 Wenn Marcumar® nicht gegeben werden kann, ist auch
kardinfarkt und der peripheren arteriellen Durchblutungs- Acetylsalicylsäure (ASS) in einer Dosierung um 300 mg pro-
störung vor. phylaktisch wirksam, aber deutlich weniger als Vitamin K-
4 Primärprävention: Sie hat zum Ziel, durch Behandlung Antagonisten.
der bekannten Risikofaktoren einen ischämischen Insult zu 4 Unterhalb einer INR von 2 steigt das Schlaganfallrisiko
verhindern. Die Primärprävention ist immer eine Dauerthera- massiv an.
pie. Sie zielt darauf ab, vaskuläre Risikofaktoren und potentielle 4 Orale Thrombininhibitoren (Dagibatran) und Faktor Xa-
kardiale Emboliequellen zu kontrollieren. Antagonisten (Rivaroxaban) könnten ähnlich wirksam wie
4 Sekundärprävention: Diese umfasst alle Maßnahmen zur Marcumar® sein und kein höheres Blutungsrisiko haben. Sie
Verhinderung eines Schlaganfalls, nachdem zuvor bereits ein können in Standarddosen ohne Gerinnungskontrolle gegeben
flüchtiger, leichter oder auch schwerer ischämischer Infarkt werden. Noch ist allerdings unklar, ob Nebenwirkungen (Le-
abgelaufen ist. berenzymerhöhung) und andere unklare Komplikationen
diesen Vorteil zunichte machen können. Zwei großen Präven-
> Primärprävention soll den Schlaganfall beim Gesun-
tionsstudien (RELY und ROCKET-AF) wurden in den letzten
den verhindern. Sekundärprävention soll einen wei-
Jahren durchgeführt. Die RELY-Ergebnisse sind bereits be-
teren Schlaganfall verhindern, nachdem der Patient
kannt (siehe Sekundärprävention), die ROCKET-Ergebnisse
schon eine zerebrale Ischämie erlitten hat.
werden im Herbst 2010 veröffentlicht.

5.8.1 Primärprävention Operative Primärpävention


Operation einer asymptomatischen Karotisstenose. Asymp-
Behandlung von Risikofaktoren und medikamentöse tomatische Karotisstenosen, die zufällig entdeckt werden, ha-
Primärprävention ben ein Infarktrisiko von etwa 1–3% pro Jahr. Deshalb haben
Hypertonie. Die arterielle Hypertonie stellt den bedeutends- Neurologen bisher bei diesem geringen Risiko und angesichts
ten Risikofaktor für einen ischämischen Schlaganfall dar. Eine der perioperativen Morbidität und Mortalität einer Karotis-
konsequente antihypertensive Behandlung führt zu einer Re- operation von 3% empfohlen, asymptomatische Stenosen nicht
duktion der Schlaganfallshäufigkeit um 40%. Selbst einfache zu operieren.
Maßnahmen, wie die Reduktion der Salzaufnahme mit der 4 Inzwischen ist durch zwei randomisierte Vergleichsstudien
Nahrung, verbunden mit Gewichtsabnahme, vermehrter kör- belegt, dass die Operation asymptomatischer Karotisstenosen
perlicher Bewegung, am besten Ausdauersport, und Alkohol- bei ausgewählten Patienten sinnvoll sein kann, vorausgesetzt,
reduktion, können den systolischen Blutdruck deutlich und sie wird an einem Zentrum durchgeführt, an dem nachweislich
nachhaltig senken und führen zu einer entsprechenden ein sehr geringes perioperatives Risiko bei Halsschlagaderope-
Schlaganfallreduktion. Antihypertensiva können das metabo- rationen besteht.
lische Profil nachteilig verändern, z.B. Betablocker oder Thi- 4 Männer mit besonders ausgeprägten Risikofaktoren profi-
azid-Diuretika. Dies sollte bei der Auswahl des Antihyperten- tieren hierbei deutlich mehr als Frauen.
sivums berücksichtigt werden und ggf. engmaschig kontrol- 4 Wenn das Risiko über 2,5% ansteigt, ist keine präventive
liert werden. Wirksamkeit des Eingriffs mehr zu erwarten.
4 Bei rascher Progredienz der Stenose, bei hämodynamisch
Blutfettspiegel. Die präventive Wirkung einer Senkung der relevanter Stenose, beim Nachweis stummer Infarkte im Com-
Blutfettspiegel ist inzwischen auch bewiesen. putertomogramm, bei Männern mit hohem Risikofaktorprofil
oder wenn die gegenseitige A. carotis interna schon verschlos-
Rauchen. Beim Zigarettenrauchen kann man davon ausgehen, sen ist, raten wir uns heute zu einer Operation asymptoma-
dass ein früherer Raucher, der beispielsweise 20 oder mehr tischer Stenosen.
5.8 · Prävention
213 5
Viele Fragen sind allerdings noch offen, z.B. ob eine moderne Annahme, dass diese Patienten tatsächlich ein hohes Operati-
konservative medikamentöse und Risikofaktoren-modifizie- onsrisiko hatten und eigentlich gar nicht an der Karotisstenose
rende Therapie heute nicht einer Intervention gleichwertig ist hätten behandelt werden sollen. Auf SPACE II wurde bereits
oder ob Katotis-Stenting ähnlich wirksam ist wie die Operation. hingewiesen: ethisch korrekt wäre es, wenn bis zum Vorliegen
Diese Fragen werden in einer auf fast 8 Jahre angelegten großen der Studienergebnisse alle Patienten mit asymptomatischen Ste-
Studie (SPACE II) gestellt und hoffentlich auch beantwortet. nosen nur im Rahmen dieser Studie behandelt würden.

Karotisstenting. Asymptomatische Karotisstenosen können


durch endovaskuläre Techniken (Ballondilatation und Stent- 5.8.2 Sekundärprävention
Implantation) beseitigt werden. Technisch machbar bedeutet
aber nicht immer sinnvoll. Die Wirksamkeit im Vergleich zur Modifikation von Risikofaktoren
Karotisdesobliteration muss zunächst bewiesen werden, bevor Die im Abschnitt »Primärprävention« beschriebene Notwen-
man eine Empfehlung für diese Methode ausspricht. Trotzdem digkeit der Optimierung von Risikofaktoren gelten erst recht
tummeln sich auf diesem Gebiet viele Ärzte, auch solche, die für die Sekundärprävention. Neben medikamentösen Behand-
ansonsten beruflich nicht viel mit dem Gehirn zu tun haben. lungsansätzen sind hierfür auch oft Verhaltensänderungen
Finanzielle Interessen und mangelnde Selbstkritik gereichen seitens der Patienten und deren Angehörigen nötig.
den Patienten nicht immer zum Vorteil. Darüber können auch
unkontrollierten Erfolgsstatistiken nicht hinwegtäuschen, Medikamentöse Sekundärprävention
auch die großen Register mancher Fachgesellschaften bringen Acetylsalicylsäure (ASS). Nach TIA oder Schlaganfall senkt der
keine Sicherheit. Thrombozytenaggregationshemmer Acetylsalicylsäure (ASS)
Leider werden Karotisstents schon jetzt kritiklos vielerorts das Re-Infarktrisiko um ca. 20% (relative Risikoreduktion,
eingesetzt, ohne dass Äquivalenz oder gar Überlegenheit gegen- oder in absoluten Zahlen zum Beispiel von 5 auf 4%). Lange
über der etablierten operativen Therapie bewiesen wäre. Dies Zeit war die optimale Dosis einer ASS-Therapie umstritten.
ist ein eklatantes Beispiel für unwissenschaftliches und verant- Während in Nordamerika Dosen über 900 mg favorisiert
wortungsloses, gewinnorientiertes Handeln in der Medizin. wurden, war in Europa in der Regel eine Dosis zwischen
Ähnliches gilt für die unbewiesene Aussage, dass Stenten mit 100–300 mg als ausreichend angesehen worden. Verschiedene
sogenannten Protektionssystemen dem einfachen Stenten Metaanalysen fanden keinen Unterschied zwischen den ver-
überlegen wäre. Der Verweis auf eine im Jahr 2004 veröffent- schiedenen Dosisbereichen.
lichte Vergleichsstudie von Stent und Operation bei überwie- 4 In verschiedenen Leitlinen wurde festgelegt, dass jegliche
gend asymptomatischen Patienten, die ein hohes kardiales Ri- Dosis zwischen 50 und 325 mg ASS empfohlen werden kann.
siko hatten (SAPPHIRE), hat nur sehr begrenzte Beweiskraft. Wichtig ist hierbei, dass die subjektiven gastrointestinalen Ne-
Stents waren nur überlegen, wenn auch der perioperative Tod benwirkungen (wie Übelkeit, Dyspepsie etc.) dosisabhängig
und das Auftreten perioperativer Herzinfarkte in die Beurteilung sind, während die schweren Nebenwirkungen, wie Blutungen
einbezogen wurde. Dies spricht weniger für den Nutzen des und Ulzera, über alle Dosisbereiche von ASS relativ ähnlich
Stents, Schlaganfälle zu verhindern, als für die Richtigkeit der sind.

Exkurs
Optimale konservative Therapie bei Patienten mit asymptomatischen Karotisstenose

Risikofaktor Ziel
Rauchen Beendigung

Nüchtern Gesamtcholesterin < 200 mg/dl

LDL-Cholesterin < 100 mg/dl; wenn Hochrisiko < 70 mg/dl

HDL-Cholesterin ≥ 40 mg/dl

Triglyceride < 150 mg/dl

Körperliche Inaktivität Mind. 30–45 Minuten körperliche Aktivität 3–5 mal pro Woche

Übergewicht BMI 25–27,5 Gewichtsabnahme bis BMI < 25

BMI > 27,5 10% Gewichtsabnahme

Blutdruck ohne Diabetes ≤ 130/85 mmHg

mit Diabetes ≤ 130/80 mmHg

Diabetes HbA1c < 7%


214 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Empfehlungen Primärprävention – Risikofaktoren*


4 Zur Primärprävention des Schlaganfalls gehört ein »ge- 4 Patienten mit persistierendem oder paroxysmalem Vorhof-
sunder Lebensstil« mit mindestens 30 min Sport dreimal pro flimmern und begleitenden vaskulären Risikofaktoren (Hyper-
Woche und einer obst- und gemüsereichen bzw. mediter- tonie, koronare Herzerkrankung, Herzinsuffizienz, Alter über
ranen Kost (A). Kardiovaskuläre Risikofaktoren (Blutdruck, 75 Jahre) sollen oral antikoaguliert werden mit einer Ziel-INR
Blutzucker, Fettstoffwechselstörung) sollten regelmäßig von 2,0–3,0 (A). Bei Patienten im Alter über 75 Jahren sollte
kontrolliert und dann behandelt werden (B). eine INR um 2,0 angestrebt werden. Bei der seltenen sog. lone
4 Patienten mit arterieller Hypertonie (RR systolisch atrial fibrillation, d. h. Vorhofflimmern, Alter unter 65 Jahren
>140 mm Hg, diastolisch >90 mm Hg; Diabetiker: RR systo- und fehlenden vaskulären Risikofaktoren ist keine Antikoagu-
lisch >130 mm Hg, diastolisch >85 mm Hg) sollten mit Diät lation oder Thrombozytenfunktionshemmung notwendig.
5 (DASH-Diät, kochsalzarme Kost), Ausdauersport und/oder Bei Patienten ohne vaskuläre Risikofaktoren im Alter über
Antihypertensiva behandelt werden (A). Hierbei ist der prä- 65 Jahren und Vorhofflimmern wird Acetylsalicylsäure (100–
ventive Effekt der Antihypertensiva umso ausgeprägter, je 300 mg) empfohlen. ASS wird ebenfalls eingesetzt bei Patien-
stärker der Blutdruck reduziert wird (A). Die einzelnen Anti- ten mit Kontraindikationen für orale Antikoagulanzien wie
hypertensiva unterscheiden sich nur geringfügig in ihrer zerebrale Mikroangiopathie, beginnender Demenz und er-
schlaganfallpräventiven Wirkung (A). Alphablocker sind höhter Sturzgefahr.
weniger wirksam als andere Antihypertensiva (B). 4 Die Kombination einer oralen Antikoagulation mit Throm-
4 Raucher sollen den Nikotinkonsum einstellen. In ihrer bozytenfunktionshemmern bei Patienten mit Vorhofflimmern
Wirksamkeit belegt sind pharmakologische (Nikotinpflaster, und stabiler koronarer Herzkrankheit sollte vermieden werden,
Nikotinkaugummi, selektive Serotoninwiederaufnahme- da es hierbei zu vermehrten Blutungskomplikationen ohne
Hemmer oder Buproprion) oder nicht pharmakologische Reduktion vaskulärer Ereignisse kommt (B).
Hilfen (Verhaltenstherapie, Gruppenarbeit) (B). 4 Ein asymptomatisches offenes Foramen ovale mit oder
4 Patienten mit einer koronaren Herzerkrankung oder ohne Vorhofseptumaneurysma (ASA) ist nicht behandlungs-
Zustand nach Herzinfarkt und einem LDL > 100 mg/dl sollen bedürftig (A).
mit einem Statin behandelt werden (A). Bei Personen ohne
KHK und keinem oder einem vaskulären Risikofaktor soll ein Thrombozytenfunktionshemmer*
Statin gegeben werden bei LDL-Werten > 160 mg/dl, bei 4 Acetylsalicylsäure ist in der Primärprävention des Schlag-
mittlerem Risiko und LDL > 130 mg/dl und > 100 mg/dl anfalls bei Männern nicht wirksam (A). Bei Frauen mit vasku-
und mehreren vaskulären Risikofaktoren. Die Datenlage ist lären Risikofaktoren im Alter > 45 Jahre werden Schlaganfälle,
am besten für Simvastatin, Pravastatin und Atorvastatin. aber nicht Myokardanfälle verhindert (B). Die Risikoreduktion
4 Diabetiker sollen mit Diät, regelmäßiger Bewegung, ist gering und Nutzen und Risiko müssen sorgfältig gegen-
Antidiabetika und bei Bedarf mit Insulin behandelt werden einander abgewogen werden.
(B). Normoglykämische Werte sollten angestrebt werden. 4 Die Operation einer asymptomatischen Karotisstenose mit
Bei Diabetikern ist die Bedeutung der antihypertensiven einem Stenosegrad von > 60% nach doppler- oder duplexso-
Behandlung mit ACE-Hemmern oder Sartanen und der Gabe nographischen Kriterien reduziert signifikant das Schlaganfall-
von Statinen bezüglich der Schlaganfallprävention von risiko. Dies gilt aber nur, wenn die kombinierte Mortalität und
besonderer Bedeutung (B). Morbidität des Eingriffs innerhalb von 30 Tagen unter 3%
4 Die Behandlung der Hyperhomozysteinämie mit Vitamin liegen (A). Die Lebenserwartung sollte > 5 Jahre sein. Männer
B6, B12 und Folsäure ist in der Sekundärprävention des profitieren von dem Eingriff mehr als Frauen.
Schlaganfalls nicht wirksam (B).
4 Eine Hormonsubstitution nach der Menopause ist in der
Sekundärprävention des Schlaganfalls nicht wirksam (B). * Nach den Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)

Exkurs
Kosten der medikamentösen Sekundärprävention
Die Tageskosten unterscheiden sich bei den unterschied- Wenn man dann noch die Kosten von Statinen und mo-
lichen Therapien zum Teil erheblich. ASS 100 kostet € 0,02 dernen Antihypertensiva, ggf. auch noch von oralen Antidia-
am Tag. Dipyridamol/ASS (Aggrenox®) kostet etwa € 1,67 am betika hinzurechnet, kommt man in der Sekundärprävention,
Tag und Clopidogrel (Plavix®, Iscover®) etwa 2,68 € am Tag, wenn sie nach den Ansätzen der evidenzbasierten Medizin
beide allerdings bei höherer Wirksamkeit gegenüber ASS. geht, auf beachtliche Behandlungskosten.
Auch Marcumar bzw. Warfarin ist mit € 0,20 pro Tag relativ Dennoch geht die Rechnung auf: Die Folgekosten der
günstig, allerdings muss man hier noch die notwendigen Schlaganfälle und Herzinfarkte, die verhindert werden, wiegen
Blutabnahmen zum INR-Monitoring bzw. die Selbsttestge- die Kosten sicher auf, allerdings werden diese anderen Bud-
räte hinzurechnen. Man darf gespannt sein, wie die Preisge- gets wie der Rentenversicherung, der Arbeitslosenversorgung
staltung für Dabigatran (RELY-Studie) und evtl. Rivaroxaban und den Steueraufkommen gutgeschrieben, und nicht denen,
(Rocket-AF-Studie) sein wird. die die Kosten aufbringern, nämlich den Krankenkassen.
5.8 · Prävention
215 5
4 Inzwischen hat sich in Deutschland – wie den meisten euro- 4 Inzwischen wissen wir auch aus der PROFESS-Studie, dass
päischen Ländern – eine Therapie mit 100 mg ASS pro Tag Clopidogrel und die Kombination von ASS und Dipyramidol
durchgesetzt. gleich prophylaktisch wirksam sind, allerdings mit einem ge-
ringen Sicherheitsvorteil für Clopidogrel (was die Einschrän-
Clopidogrel (z.B. Plavix®, Iscover®). Diese Substanz, die die kung der Verordnungsfähigkeit bei Kassenpatienten noch we-
Thrombozytenfunktion über eine Blockade des ADP-Rezeptors niger nachvollziehbar macht).
blockiert, ist prophylaktisch etwas besser wirksam als ASS.
Sie wird bei ASS-Unverträglichkeit und bei Hoch- Orale Antikoagulanzien. Vitamin-K-Antagonisten sind auch in
risikopatienten eingesetzt. Dosierung: 75 mg täglich. Die der Sekundärprävention nach Infarkten bei Vorhofflimmern
Vorgängersubstanz aus der gleichen Stoffklasse der Thieno- wirksam. Wie in der Primärprävention werden sie aber zu selten
pyridine war ebenfalls wirksamer als Aspirin, wird jedoch gegeben. Ob Marcumar bei anderen kardialen Emboliequellen
heute wegen höherer Nebenwirkungshäufigkeit nicht mehr prophylaktisch wirksam ist, ist nicht bewiesen. Bei Infarkten
gegeben. ohne Emboliequellennachweis ist die Antikoagulation mit
Clopidogrel senkte in der CAPRIE-Studie an fast 20.000 Marcumar® der Gabe von ASS oder der Kombination von ASS
Patienten einen kombinierten Endpunkt von Schlaganfall und Dipyridamol zur Rezidivvermeidung nicht überlegen, birgt
(Ischämie und Blutung), Herzinfarkt und vaskulärem Tod im aber ein höheres Blutungsrisiko. Antikoagulanzien sind bei in-
Vergleich zu 325 mg ASS relativ um 8,7%. Die drei Patien- trakraniellen Stenosen der Gabe von ASS nicht überlegen.
tenuntergruppen der Studie (Herzinfarkt, Schlaganfall und 4 Wir geben Antikoagulanzien für einige Monate nach Dis-
periphere Verschlusskrankheit) profitierten unterschiedlich. sektionen hirnversorgender Arterien. Gleiches gilt für Pati-
Clopidogrel-behandelte Patienten mit pAVK und nach ischä- enten mit offenem Foramen ovale und Septumaneurysma,
mischem Hirninfarkt haben eine stärkere Risikoreduktion ver- wenn keine Indikation zum interventionellen Verschluss eines
glichen mit der Herzinfarktgruppe. offenen Foramen ovale (»Schirmchen-Implantation«, s.u.) ge-
Allerdings handelt es sich hiebei um Analysen, die post-hoc stellt wird.
durchgeführt wurden und beispielsweise für eine Zulassung 4 Ob direkte Thrombinantagonisten oder orale Faktor VIII
nicht statthaft wären. Dennoch, diese Analysen sind der Antagonisten mit vergleichbaren Wirksamkeit, aber gerin-
Grund, warum Clopidogrel für gesetzlich Versicherte derzeit in gerer Blutungsrate die Vitamin-K-Antagonisten verdrängen
Deutschland nur bei gleichzeitiger symptomatischer pAVK werden, war lange unklar. Eine erste Substanz musste wegen
oder nachgewiesener ASS-Unverträglichkeit erstattungsfähig Lebertoxizität aus dem Markt genommen werden. Inzwischen
ist. Die Sicherheit von Clopidogrel ist gegenüber ASS sehr gut. ist aber eine große Studie mit über 20.000 Patienten veröffentlicht
Patienten mit erhöhtem Risiko für vaskuläre Ereignisse, z.B. mit worden, in der sich der direkte Thrombinantagonist Dagibatran
Diabetes mellitus oder gehäuften vaskulären Risikofaktoren, dem Marcumar gegenüber als überlegen in der Vermeidung
profitieren stärker von der Gabe von Clopidogrel als von ASS. von Schlaganfällen und systemischen Embolien gezeigt hat.
Blutungskomplikationen waren eher seltener, und die Substanz
Kombinationstherapien hat den Vorteil einer fixen Dosierung ohne die Notwendigkeit
4 Die Kombination von 50 mg ASS mit 400 mg Dipyridamol von laborchemischem Monitoring. Noch (Sommer 2010) be-
(Aggrenox®) ist der ASS-Monotherapie deutlich überlegen. steht keine Zulassung und es ist auch noch nicht klar, welche
Die relative Risikoreduktion gegenüber Plazebo beträgt fast Kosten mit ihr verbunden sein werden.
40%, gegenüber ASS 50 mg etwa 18%. Auch für eine zweite Substanz, den Faktor X-Antagonisten
4 Die Kombination von ASS mit Clopidogrel, die nach aku- Rivaroxaban dürften bei Erscheinen dieses Buches die Ergeb-
ten kardiovaskulären Erkrankungen der Monotherapie mit nisse einer weiteren, sehr aufwändigen Studie verfügbar sein,
ASS überlegen ist, hat bei Patienten nach stattgehabtem Hirn- so dass zu erwarten ist, dass die Behandlung des Vorhofflim-
infarkt keinen signifikanten Nutzen (MATCH-Studie) und merns nach vielen Dekaden von den Vitamin K-Antagonisten
sollte nur bei besonderen Risikokonstellationen (z.B. vorüber- wegdriften wird.
gehend bei endovaskulären Eingriffen) vorgenommen werden.
Subgruppenanalysen (Einschränkung s.o.) lassen annehmen, Chirurgische Sekundärprävention
dass bei ausgewählten Patienten eine kurzfristige (wenige Mo- Karotis-Thrombendarteriektomie (TEA)
nate) Einnahme sinnvoll sein kann. 4 Symptomatische Karotisstenosen von 70% (NASCET-De-
4 Die Ergebnisse einer weiteren großen Präventionsstudie, finition) oder mehr stellen eine sinnvolle Operationsindikation
in der die Kombination ASS-Clopidogrel gegen ASS alleine dar.
getestet wurde (CHARISMA), zeigten keine Überlegenheit der 4 Das perioperative Hirninfarkt- und Sterblichkeitsrisiko
Kombination. Patienten mit klinisch manifester Atherothrom- wird durch die Verringerung weiterer Schlaganfälle nach er-
bose scheinen von der Kombinationstherapie ein geringen, folgreicher Operation schon nach weniger als einem Jahr aus-
jedoch signifikanten Nutzen zu haben. Andererseits war die geglichen.
Sterblichkeit aufgrund kardiovaskulärer Ereignisse in der 4 Stenosen zwischen 50 und 70% sollten operiert werden,
Kombinationsgruppe signifikant erhöht gegenüber ASS allei- wenn weitere Risikofaktoren bestehen und wenn das Opera-
ne. Zusammengefasst scheint die Kombinationstherapie für tionsrisiko am Ort niedrig ist (unter 6% perioperativer Morbi-
ein ausgewähltes Patientenkollektiv sinnvoll zu sein, jedoch dität und Mortalität). Wahrscheinlich profitieren Männer
nicht für alle Patienten. mehr von der Operation als Frauen.
216 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Leitlinien Sekundärprävention des Schlaganfalls – Risikofaktoren (Auswahl)*


4 Die konsequente Behandlung einer arteriellen Hyperto- zwischen 100 und 190 mg/dl sind 80 mg Atorvastatin pro Tag
nie reduziert das Schlaganfallrisiko (A). Die Kombination von zur Reduktion eines Rezidivs und der kardiovaskulären Morbi-
Perindopril plus Indapamid (Diuretikum) ist signifikant wirk- dität wirksam (A). Wahrscheinlich ist aber die Senkung des
samer als Placebo, und Eprosartan ist signifikant wirksamer LDL-Cholesterins wichtiger als der Einsatz eines bestimmten
als der Kalzium-Antagonist Nitrendipin. Ramipril reduziert Statins (C). Es wird deshalb empfohlen, den LDL-Cholesterin-
bei Patienten nach Schlaganfall vaskuläre Endpunkte, aber Wert mit einem Statin auf unter 100 mg/dl zu senken. Der
nicht das Schlaganfallrisiko. Nutzen dieser Behandlung ist am deutlichsten, wenn eine
4 Die Behandlung des Diabetes mellitus reduziert das Reduktion des Ausgangs-LDL-Cholesterin-Werts von ≥ 50%
Schlaganfallrisiko (C), wobei dies aber in prospektiven Stu- erreicht wird. Bei Patienten mit hämorrhagischem Schlaganfall
5 dien bisher nicht gut untersucht ist. sollte eine Prophylaxe mit Atorvastatin nur in Ausnahmefällen
4 Bei Patienten mit fokaler zerebraler Ischämie und KHK (z. B. aus kardiovaskulärer Indikation) erfolgen (B).
sollten unabhängig vom Ausgangswert des LDL-Cholesterins 4 Bei Patienten mit fokaler zerebraler Ischämie ohne KHK
Statine eingesetzt werden (A). Zielwerte für das LDL-Choles- kann Simvastatin (40 mg) gegeben werden. Damit wird aber
terin sollten zwischen 70 und 100 mg/dl liegen. Bei Patien- überwiegend das allgemeine vaskuläre Risiko gemindert
ten mit ischämischen TIA/Schlaganfällen (mod. Rankin < 3) (B). Wahrscheinlich sind auch die anderen Statine wirksam (C)
ohne koronare Herzkrankheit mit LDL-Cholesterin-Werten

Leitlinien Sekundärprävention – Thrombozytenfunktionshemmer**


4 Bei Patienten mit fokaler Ischämie sind Thrombozyten- sich eine kardiale Emboliequelle, erfolgt eine orale Antikoagu-
funktionshemmer in der Sekundärprävention wirksam (A). lation. Wenn sich das Rezidivrisiko nicht verändert hat, kann
Dies gilt für ASS (50–100 mg), ASS (2x25 mg) plus Dipyrida- die Prophylaxe mit ASS fortgesetzt werden (C). Wenn sich das
mol (2x200 mg) und Clopidogrel (75 mg) (A). Rezidivrisiko erhöht hat, erfolgt eine Umstellung auf ASS in
4 Bei Patienten nach TIA und ischämischem Insult und Kombination mit retardiertem Dipyridamol oder auf Clopido-
geringem Rezidivrisiko wird die tägliche Gabe von ASS emp- grel (C).
fohlen (B). 4 ASS in Dosierungen > 150 mg führt zu einem erhöhten
4 Bei Patienten mit einem hohen Rezidivrisiko wird die Risiko von Blutungskomplikationen.
zweimal tägliche Gabe der fixen Kombination aus 25 mg 4 Die Kombination von Clopidogrel plus ASS hat keine
Acetylsalicylsäure plus 200 mg retardiertem Dipyridamol bessere Wirksamkeit als eine Clopidogrel Monotherapie, führt
oder Clopidogrel (75 mg) empfohlen (B). aber zu vermehrten Blutungskomplikationen.
4 Bei Patienten mit hohem Rezidivrisiko (≥4%/Jahr) wird 4 Patienten mit einer TIA oder einem Schlaganfall und aku-
Clopidogrel 75 mg empfohlen (C). tem Koronarsyndrom sollten mit der Kombination von 75 mg
4 Bei Patienten mit Kontraindikation gegen oder Unver- Clopidogrel und 75 mg ASS über eine Zeitraum von 3 Mona-
träglichkeit von ASS wird Clopidogrel empfohlen (A). Bei ten behandelt werden (C).
Patienten, die unter ASS-Prophylaxe ein Magen- oder Duo-
denalulkus entwickeln, wird nach einer Karenzzeit die Fort-
setzung der ASS-Gabe in Kombination mit einem Protonen- * Gekürzt und modifiziert nach den Leitlinien der DGN 2008
pumpenhemmer empfohlen (B). Kommt es unter ASS zu (www.dgn.org/leitlinien.html)
einem erneuten ischämischen Ereignis, sollten Pathophysio- ** Angelehnt an Leitlinie der Europäischen Schlaganfallorganisa-
logie und Rezidivrisiko erneut evaluiert werden (C). Ergibt tion (ESO) 2008

4 Besonders erfolgreich ist die TEA, wenn sie in den ersten Angioplasty versus Carotis-Endarerectomy), die in Deutsch-
1–2 Wochen nach der Ischämie durchgeführt wird, voraus- land und Österreich durchgeführt wurde, zeigten eine ähn-
gesetzt es hat keine sekundäre Einblutung gegeben und der liche, aber statistisch nicht identische Risiken für das Risiko
Infarkt ist nicht sehr ausgedehnt. periprozeduraler Schlaganfälle und Todesfälle. In der post-
4 Patienten mit niedriggradigen Stenosen (unter 50%) haben prozeduralen Beobachtungsphase ereigneten sich in beiden
keinen Vorteil von einer TEA und sollten nicht operiert wer- Behandlungsgruppen etwa 1% ipsilaterale Hirninfarkte pro
den. Jahr. Jedoch kam es in der endovaskulären Gruppe zu signifi-
kant mehr Restenosen. Subgruppenauswertungen zeigten fast
Interventionell neuroradiologische Maßnahmen. Die perku- identische Risiken für Männer und ein erhöhtes Risiko für
tane, transluminale Angioplastie (PTA) mit Einbringung von Patienten über 68 Jahre.
Stents in Stenosen der hirnversorgenden Gefäße wurde als
Alternative zum operativen Ansatz in mehreren großen Ver- 3Indikation zur Stentbehandlung
gleichsstudien geprüft (. Abb. 5.36a). 4 Inzwischen sind 3 weitere Vergleichsstudien Stent gegen
4 Die Ergebnisse der ersten unabhängigen großen Studie Operation bei (überwiegend) symptomatischen Patienten ver-
weltweit, der SPACE-Studie (Akronym für: Stent Protected öffentlicht worden: Zwei Studien zeigten eine signifikante und
5.8 · Prävention
217 5
massive Unterlegenheit von Stents (mit Protektionssystemen) Stenosen der vorderen oder hinteren Zirkulation ist eine Stent-
gegenüber der Operation (EVA 35 aus Frankreich und ICSS applikation dann sinnvoll, wenn trotz maximal konservativer
aus Großbritannien). Eine weitere Studie aus den USA (CREST) Therapie rezidivierende Ischämien auftreten oder wenn ein
wurde gerade veröffentlicht. Die Ergebnisse sind denen von akuter Verschluss interventionell behandelt wird und dabei eine
SPACE ähnlich, wurden aber von den Autoren etwas anders akute Thrombose bei zugrunde liegender höhergradiger Steno-
interpretiert. In der gemessenen Metaanalyse ist die Operation se entdeckt wird. Eine solche Behandlung sollte jedoch nur in
dem Stent hochsignifikant überlegen. Bei Patienten unter 70 Zentren mit entsprechender neuroradiologischer Expertise
Jahren ist Stenting der Operation äquivalent, über 70 Jahren durchgeführt werden (. Abb. 5.36b). Im Anschluss an eine
weit unterlegen und gefährlicher. Protektions-Devices bringen solche Behandlung erfolgt die Gabe von 75 mg Clopidogrel und
keinen Vorteil und sind mit mehr embolischen Läsionen im 100 mg ASS über einen Zeitraum von 1 bis 3 Monaten.
MRT verbunden.
4 Wir sehen die Indikation zur Stentangioplastie bei Pati- > Indikation zur Karotisoperation bei symptomatischen
enten mit erhöhtem Operationsrisiko (weit distale Stenosen, Karotisstenosen:
kontralaterale Okklusion, radiogene Stenose, postoperative 4 Der ischämische Hirninfarkt sollte nicht länger als ein
Restenose) oder chirurgisch nicht erreichbaren Stenosen. Bei halbes Jahr zurückliegen.
jüngeren Patienten bieten wir dieses Verfahren als gleichwer- 4 Karotisstenose muss als Ursache des Infakts hinrei-
tige Alternative an. chend sicher sein.
4 Andere Gefäßterritorien (distale Vertebralarterie, proxi- 4 Die Stenosegrad soll 70% oder mehr betragen.
male Vertebralarterie und Basilaris) werden in individuell be- 4 Das neurologische Defizit darf nicht zu ausgeprägt sein.
gründeten Fällen interventionell neuroradiologisch behandelt. 4 Die Operation darf nur in einem Zentrum mit hoher
Die größten Erfahrungen hat man mit der Dilatation von Sub- Operationsfrequenz und mit niedriger perioperativer
klaviastenosen (. Abb. 5.15) und proximalen Vertebralissteno- Komplikationsrate (höchstens perioperative Morbidi-
sen bei gegenseitigem Vertebralisverschluss. tät und Mortalität von 6%, da anderenfalls kein Vor-
4 Auch bei intrakraniellen Stenosen kann in Einzelfällen eine teil der TEA über die konservative Behandlung mehr
Stentversorgung erfolgen. Bei hochgradigen intrakraniellen besteht), durchgeführt werden.

. Abb. 5.36a,b. a Karotisstenose


(oben) und Mediastenose (unten)
vor (links) und nach (rechts)
vor und nach Stentversorgung.
b MCA-Stenose vor und nach
Stentversorgung

a1 a2
a

b1 b2
b
218 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

ä Der Fall: Fortsetzung 5.9.1 Vaskulitische Infarkte


Schon während der Rehabilitation wird die Patientin mit Marcu-
mar behandelt. Auch wenn nicht entschieden werden kann, ob Die diagnostischen Kriterien für zerebrale Vaskulitis sind in
die Symptomatik von einer Embolie bei Vorhofflimmern oder von . Tabelle 5.9 (nach den Definitionen der American College of
der Karotisstenose kam, ist die Marcumarbehandlung in jedem Rheumatology ACR) zusammengestellt.
Fall sinnvoll. Die Diabetesbehandlung wurde intensiviert, die
Patientin erhält jetzt Insulin. Der Blutdruck ist mit einer Kombi- Riesenzellarteriitis (Arteriitis cranialis)
nation aus einem ACE-Hemmer und einem Diuretikum gut ein- Die Arteriitis cranialis ist eine systemische, nektrotisierende
gestellt. Die erhöhten Blutfette wurden mit einem Statin normali- Vaskulitis, die v.a. Äste der A. carotis externa und die A. oph-
siert. Jetzt wird die Patientin nach erfolgreicher Rehabilitation thalmica betrifft. Sie ist im 7. und 8. Lebensjahrzehnt häufig und
mit der Frage, ob die Karotisstenose behandelt werden soll, oft mit einer Polymyalgie verbunden. Symptome sind Kopf-
5 wieder vorgestellt. schmerzen, allgemeine Ermüdung und hohe Blutsenkungsge-
Soll man oder soll man nicht? schwindigkeit. Ein- oder, sehr selten, doppelseitige Erblindung
Wir haben uns mit der Patientin für die Operation ent- tritt in 10–20% der unbehandelten Fälle auf. Selten sind hemis-
schieden. phärische Schlaganfälle im Posterior- oder Mediaterritorium.

3Diagnose. Sie kann mit einer Temporalarterienbiopsie


5.9 Seltene Schlaganfallursachen gesichert werden. Bei ausreichend großem Präparat ist die Bi-
und ihre Therapie opsie auch in den ersten Tagen nach Kortisonbehandlung noch
positiv, die Therapie muss also nicht wegen einer geplanten
Hier werden eine Reihe seltener Schlaganfallursachen und die Biopsie verzögert werden. Die Duplexsonographie der Tempo-
Ischämien bei Gefäßentzündungen (Vaskulitis) vorgestellt. Ih- ralarterie zeigt meist typische Veränderungen, die als Halo
nen ist gemeinsam, dass oft junge Patienten betroffen sind bezeichnet werden. Bei typischem Halo kann auf die Durch-
(Ausnahme: die Riesenzellarteriitis), dass sie insgesamt selten führung einer Biopsie im Regelfall verzichtet werden. Ein ne-
auftreten und in ihrer Bedeutung erst in den letzten Jahren gativer sonographischer Befund führt jedoch nicht zum Aus-
erkannt wurden. Allerdings besteht im Falle der Vaskulitiden schluss des Vorliegens einer Arteriitis, so dass eine Biopsie bei
die Gefahr, dass die Diagnose zu häufig gestellt wird: Die MRA bestehendem klinischem Verdacht weiterhin indiziert bleibt.
übertreibt oft das Ausmaß vermeintlicher Gefäßengstellungen
oder überzeichnet Strömungsunregelmäßigkeiten als Steno- 3Therapie. Man behandelt mit Methylprednisolon, zu-
sen. Die Diagnose einer Vaskulitis darf nicht nur auf der Basis nächst 80–100 mg i.v. über mehrere Tage, langsam oral aus-
der bildgebenden Diagnostik gestellt werden. schleichend unter BSG-Kontrolle bis zu einer Erhaltungsdosis
von ca. 8 mg jeden 2. Tag. Unter Therapie bilden sich alle
Symptome schnell zurück. Dies gilt ausdrücklich nicht für eine
fortgeschrittene, länger bestehende Sehstörung. Azathioprin
oder andere Immunsuppressiva sind nicht wirksam.

Empfehlungen Operation oder Stenting bei Karotisstenosen*


4 Bei hochgradigen symptomatischen Karotisstenosen plikationsrate des jeweiligen Therapeuten einfließen. Die Lang-
sollte eine Endarteriektomie durchgeführt werden (A). Der zeitergebnisse (2–4 Jahre) bezüglich Schlaganfall sind für beide
Nutzen der Operation nimmt mit dem Stenosegrad zwischen Verfahren vergleichbar. Die Restenoserate ist beim Stenting
70 und 95% zu. Der Nutzen der Operation ist geringer bei höher. Vor, während und nach Stenting erfolgt eine Prävention
einem Stenosegrad zwischen 50 und 70%, bei subtotalen mit Clopidogrel (75 mg) plus ASS (100 mg) für 1–3 Monate.
Stenosen, bei Frauen und wenn die Operation jenseits der 4 Bei Patienten mit hochgradigen intrakraniellen Stenosen
2. Woche nach dem Indexeereignis durchgeführt wird (B) oder Verschlüssen ist eine Antikoagulation mit einer INR von
4 Der Nutzen der Operation geht bei einer Komplikations- 3,0 nicht wirksamer als die Gabe von 1500 mg ASS, führt aber
rate von >6% verloren. zu vermehrten Blutungskomplikationen und kann daher nicht
4 Zur Diagnosesicherung der Karotisstenose sind neuro- empfohlen werden (A). Angesichts der schlechten Verträglich-
sonologische Verfahren, MR- oder CT- Angiographie ausrei- keit von 1500 mg ASS empfehlen wir eine Prävention mit 100–
chend (A). Eine DSA ist in der Regel nicht erforderlich (B). 300 mg ASS (C)
4 Die Karotisangioplastie mit Stenting ist noch kein Rou- Bei Rezidivereignissen kann eine Stentimplantation erwogen
tineverfahren. Die stentgeschützte Karotisangioplastie hat im werden (C). Anschließend erfolgt die Gabe von 75 mg Clopido-
Vergleich zur operativen Therapie in Bezug auf das periproze- grel und 100 mg ASS über einen Zeitraum von 1–3 Monaten (C)
durale Risiko bei der Behandlung symptomatischer Karotiss-
tenosen ein leicht erhöhtes Kurzzeitrisiko (30 Tage) (A). Die
Komplikationsraten sowohl der CAS als auch der CEA variie- * Angelehnt an die Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/
ren stark. Daher muss in die Therapieentscheidung die Kom- leitlinien.html)
5.9 · Seltene Schlaganfallursachen und ihre Therapie
219 5

. Tabelle 5.9. Diagnostische Kriterien bei zerebraler Vaskulitis

Vaskulitis-Typ Kriterien nach ACR Sensitivität (Se)


Spezifität (Sp)
Riesenzell- 5 Alter>50 Bei 3 von 5 Kriterien:
Arteriitis 5 neue Kopfschmerzen 5 Se: 93%
5 Abnorme Temporalarterien (Druckdolenz, abgeschwächter Puls) 5 Sp: 91%
5 BSG>50 in der 1. Stunde
5 Entzündliche Histologie in der Temporalisbiopsie
Takayashu- 5 Patient bei Erstmanifestation der Krankheit <50 Jahre Bei 3 von 6 Kriterien
Arteriitis 5 Claudicatio der Extremitäten 5 Se: 90%
5 Verminderter Brachialarterienpuls 5 Sp: 98%
5 Blutdruckdifferenz >10 mmHg zwischen beiden Armen
5 Geräusch über der A. subclavia oder Aorta
5 Auffälligkeiten in der Arteriographie
Polyarteriitis 5 Gewichtsverlust > 4 kg seit Krankheitsbeginn Bei 3 von 10 Kriterien
nodosa 5 Livedo reticularis 5 Se: 82%
5 Unerklärter Hodenschmerz oder Schwellung 5 Sp: 86%
5 Myalgie, Schweregefühl in den Beinen
5 Mononeuritis oder Polyneuropathie
5 Diastolische Blutdruckerhöhung >90 mmHg
5 Serum-Kreatininerhöhung >1,5 mg/dl
5 Hepatitis-Virusnachweis im Serum
5 Pathologisches Arteriogramm (Aneurysmata, Verschlüsse)
5 Typische Histologie
Wegener’sche 5 Entzündung in Nase oder Mund
Granulomatose 5 (ulzerierend/hämorrhagisch)
5 Infiltration der Lunge im Röntgen-Thorax (Rundherde, Kavernen, »fixe« Infiltrationen)
5 Nephritisches Urinsediment (Erythrozyturie (>5 Erythrozyten/Gesichtsfeld), Erythrozyten-
Zylinder)
5 Histologisch granulomatöse Entzündung (in der Gefäßwand,peri- und extravaskulär)
Churge-Strauss 5 Asthma bronchiale Bei 4 von 7 Kriterien
Syndrom 5 Eosinophilie (> 10% im Differenzialblutbild) 5 Se: 99%
5 Allergie 5 Sp: 88%
5 Mono-/Polyneuropathie
5 Lungeninfiltration
5 Paranasale Sinusauffälligkeit
5 Histologisch: Blutgefäß mit extravaskulärer Eosinophilie
Behcet- 5 Rezidierende orale Ulzerationen (3-mal in 12 Monaten plus 5 Se: 91%
Syndrom** 5 Zwei der folgenden Symptome 5 Sp: 96%
+ Rezidivierende genitale Ulzerationen
+ Augenläsionen (Uveitis, retinale Vaskulitis, Glaskörperinfiltration),
+ Positiver Pathergietest.
Isolierte Vaskuli- 5 Klinische Symptome einer multifokalen oder diffusen ZNS-Erkrankung mit rezidivie- 3 von 4 Kriterien
tis des ZNS*** rendem oder progredientem Verlauf sollen erfüllt sein.
5 Zerebrale Angiographie, Liquor und/oder MRT mit Befund,der die Diagnose einer Vasku- Wegen der Seltenheit
litis unterstützt keine Spezifitäts- und
5 Ausschluss einer zugrunde liegenden systemischen Infektion oder Entzündung Sensitivitätsangaben
5 Histologischer Nachweis einer leptomeningealen oder parenchymatösen Vaskulitis und
Ausschluss einer Infektion, Neoplasie oder anderen primären Gefäßerkrankung
Systemischer 5 Haut und Schleimhautveränderungen Keine Angabe
Lupus Erythe- 5 Arthritiden
mato-des 5 Nieren- und Lungen-Beteiligung
5 Selten: Karditis
5 Neurologische Symptome (Encephalitis, Vaskulitische Infarkte) und Polyneuropathie
Sjögren- 5 Sicca-Symptomatik Keine Angabe
Syndrom 5 PNP
5 Hirnnerven-beteiligung
5 Enzephalopathie
* modifiziert nach den Leitlinien der DGN, 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)
** Kriterien nach der International Study Group for Behçet‘s Disease 1990
*** Kriterien nach Moore 1989
220 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Takayasu-Arteriitis
Sie ist eine seltene Riesenzellarteriitis, die die Abgänge der
hirnversorgenden Gefäße am Aortenbogen betrifft. Es kommt
zu hämodynamisch und auch embolisch ausgelösten Symp-
tomen in verschiedenen Gefäßterritorien. Dabei entwickeln
sich erst verschiedene Kollateralen, die aber bei fortschreiten-
dem Prozess insuffizient werden. Frauen sind häufiger betrof-
fen. Die Therapie ist schwierig, Immunsuppression hilft in
Einzelfällen. Manchmal wird eine Aortenbogenplastik einge-
setzt, eine Operation mit hohem Risiko.

Isolierte Vaskulitis des ZNS


5
Die isolierte Vaskulitis des ZNS ist eine lokale, vermutlich im-
munologisch bedingte Entzündung der kleinen und mittel-
großen Gefäße des Gehirns. Chorioidale und leptomeningeale
Gefäße sind ebenfalls betroffen. Histologisch finden sich mo-
nonukleäre Infiltrate, eine endotheliale Proliferation und Ver-
änderungen der Gefäßwand bis hin zu Nekrosen.

3Symptomatik. Kopfschmerzen und enzephalopathische


Symptome mit Persönlichkeitsänderung, Verhaltensstörungen,
kognitiven Schwierigkeiten und Gedächtnisstörungen stehen . Abb. 5.37. Vaskulitis. Angiographie bei Vaskulitis. Kaliberun-
im Vordergrund. Daneben können multiple, meist leichtere regelmäßige Gefäße (Pfeil) lösen sich ab mit unregelmäßigen, z.T. ket-
neurologische Herdsymptome gefunden werden. Auch die tenförmig angeordneten Gefäßerweiterungen (Pfeil)
Hirnnerven können beteiligt sein.

3Diagnostik. Es finden sich keine systemischen Entzün- 3Symptome und Diagnostik


dungszeichen, alle Blutwerte und serologischen Bluttests sind Neurologisch treten Zeichen der Sinusthrombose mit er-
normal. Auch im Liquor findet sich oft ein Normalbefund, höhtem intrazerebralem Druck und meningoenzephalitische
manchmal eine leichte, unspezifische Pleozytose mit Eiweiß- Symptome auf. Das Spektrum der neurologischen Symptome
anstieg. CT und MRT können multiple ischämische Läsionen ist breit und schwankt von Somnolenz und kognitiven Auffäl-
in der weißen Substanz zeigen, die aber unspezifisch sind. ligkeiten bis zu Hirnnervenläsionen und fokalen zentralen
Die Angiographie ist häufig normal, im positiven Fall Symptomen (Hemiparese oder Hemianopsie). Der Liquor ist
sieht man segmentale Stenosen oder Erweiterungen in den in der Regel leicht entzündlich verändert (chronische, über-
kleineren Gefäßen. Selbst dann ist die Diagnose noch nicht wiegend lymphozytäre Pleozytose), im MRT findet man Be-
gesichert. funde wie bei zerebralen Venenthrombosen.
Die Diagnose kann endgültig nur durch leptomeningeale
Biopsie gesichert werden, und selbst diese bleibt leider oft ne- 3Therapie
gativ. Nicht selten bleibt die isolierte Vaskulitis des ZNS eine Die Behandlung besteht in Steroiden, initial 12 mg/kg KG i.v.,
Verdachtsdiagnose (. Abb. 5.37). langsam ausschleichend, kombiniert mit Azathioprin.

3Therapie. Man beginnt mit Methylprednisolon 12 mg/kg Sneddon-Syndrom


KG über 1 Woche, anschließend ausschleichend, und Cyclo- Das Sneddon-Syndrom ist charakterisiert durch das dermato-
phosphamid 1 g alle 4 Wochen i.v. Das Syndrom spricht oft gut logische Bild einer Livedo racemosa mit rezidivierenden
auf diese Therapie an, neigt jedoch zu Rückfällen. Hirninfarkten. Die fast immer weiblichen und meist jüngeren
Patienten haben oft ausgedehnte Infarkte. Die Pathogenese ist
M. Behçet unklar. Oft finden sich auch intrazerebrale Blutungen und
Diese in Mitteleuropa bisher seltene Krankheit betrifft in fast sogenannte »microbleeds«. Im weiteren können epileptische
der Hälfte der Fälle auch die Gehirngefäße, meist die Venen, Anfälle auftreten. Laborchemisch findet sich oft eine Throm-
und soll deshalb etwas detaillierter besprochen werden, weil bopenie oder eine Dysfibrinogenämie als Zeichen der Ent-
die Inzidenz unter Einwohnern, die aus dem östlichen Mittel- zündung. Die Pathogenese ist unklar, interessanterweise las-
meerraum stammen, deutlich höher ist als in Mitteleuropa. sen sich in einigen Fällen auch Cardiolipin-Antikörper nach-
Klinisch macht sich das typische Syndrom mit dermatolo- weisen. Hautgefäße zeigen eine Proliferation glatter Muskel-
gischen Erscheinungen wie aphthöser Stomatitis, genitalen zellen und thrombotische Gefäßverschlüsse ohne Entzün-
Ulzerationen und Augensymptomen (Iridozyklitis, Konjunk- dungszeichen. Man nimmt an, dass dies auch für die Hirnge-
tivitis, Augenvenenthrombose) bemerkbar. Arthralgien, peri- fäße gilt.
phere Venenthrombosen und ein Erythema nodosum werden Eine Therapie der Grunderkrankung steht im Vorder-
beobachtet. grund, so könnten TNF α-Antikörper erfolgsversprechend
5.9 · Seltene Schlaganfallursachen und ihre Therapie
221 5
sein. Bisher haben sich keine klaren Vorteile für eine der pro- Internistisch äußert sich die pulmonale Fettembolie in
phylaktischen Therapien gezeigt. Aufgrund der Seltenheit Dyspnoe, Beklemmungsgefühl mit stechenden Brustschmer-
der Erkrankung sollte über die Therapie individuell entschie- zen, in Husten, Hämoptoe und Zyanose, der renale Schock in
den werden. Oligurie bis Anurie. Die Körpertemperatur ist meist erhöht,
ebenso kompensatorisch die Pulsfrequenz.
Andere Vaskulitisformen Am Augenhintergrund findet man multiple kleine Blu-
Die Hirngefäße können bei verschiedenen idiopathischen Vas- tungsherde und weißlich glänzende, um die Makula angeord-
kulitiden (Panarteriitis nodosa PAN, (s. Kap. 32), Churg- nete Flecken infolge Fettembolie der Netzhautkapillaren. Nach
Strauss-Syndrom, Wegener-Granulomatose, Sarkoidose) und einigen Tagen treten subkonjunktivale Blutungen und Blutungen
bei sekundären Vaskulitiden infolge von Infektionen, z.B. in der Haut und den Weichteilen der oberen Körperhälfte auf.
durch Pilze, Viren, Bakterien (Lues, Borreliose, Tuberkulose),
betroffen sein. Verschiedene Toxine und Medikamente können 3Diagnose. Im Frühstadium kann die Diagnose schwierig
eine Hypersensitivitätsvaskulitis verursachen. Allen ist ge- sein. Wenn der Patient gleichzeitig ein Kopftrauma erlitten hat,
meinsam, dass das Zentralnervensystem einer von vielen und ist die Differentialdiagnose zur Kontusionspsychose oder zum
sicher nicht der häufigste Manifestationsort dieser Krankheiten traumatischen epi- oder frühen subduralen Hämatom zu stel-
ist, weshalb sie an dieser Stelle auch nicht gesondert bespro- len. Die Analgosedierung der häufig intubierten, polytrauma-
chen werden. tisierten Patienten erschwert die Diagnose weiter.
Die Diagnose erfolgt rheumatologisch/immunologisch Im CT findet man zunächst nur eine leichte Hirnschwel-
(Panarteriitis, Wegener-Granulomatose) oder durch Nachweis lung, erst später können sich multiple kleine ischämische Läsi-
der Grundkrankheit (Liquor). Mit zunehmender Verbreitung onen überwiegend subkortikal, abzeichnen. Die MR-Bildge-
seltenerer infektiöser Ursachen (Protozoen, Pilze) mit und bung hat in der frühzeitigen Diagnostik große Vorteile gegen-
ohne Immunsuppression und bei der erneuten Zunahme von über der CT, da sie auch kleine Läsionen frühzeitig, v.a. in der
Tuberkulose und Treponemeninfektionen muss man bei un- DWI, darstellt. Gleichzeitig können blutsensitive Sequenzen
klarer vaskulitischer Symptomatik auch an solche Ursachen Aufschluss über Mikroblutungen im Rahmen der Fettembolie
denken. geben. Es empfehlen sich serielle Untersuchungen, um den
Verlauf und das Ausmaß der Schädigung darzustellen.
Wichtige internistische Zusatzbefunde sind: fleckige Ver-
5.9.2 Fettembolie schattungen auf dem Thoraxröntgenbild und Zeichen der aku-
ten Rechtsherzbelastung im EKG. Im Blut, Urin und Liquor
3Pathophysiologie. Eine Fettembolie kann bei polytrau- lassen sich Fetttröpfchen nachweisen.
matisierten Patienten mit multiplen Frakturen sowie nach Ver-
sorgung von solchen Frakturen mit Marknagel auftreten. Die 3Therapie. Die intensivmedizinische Behandlung umfasst
Hauptursache der Fettembolie sieht man im traumatischen die Schockbekämpfung mit Volumenersatz und Verbesserung
Schock, der über verschiedene Mechanismen (Ersatz des ver- der Mikrozirkulation durch Infusion von Hydroxyethylstärke.
lorenen Blutvolumens durch fettreiche Lymphe aus dem Duc- Man gibt den Proteinasehemmer Trasylol (1 Mio. IE/Tag) und
tus thoracicus? Lipaseaktivierung durch Katecholamine?) zu Cholinphospholipide (z.B. Lipostabil). Kontrollierte Hypo-
einer Vermehrung der wasserunlöslichen Neutralfette im Blut thermie senkt den zerebralen Stoffwechsel, der durch den
führt. Das freie Fett entstammt also nicht nur aus dem verletz- schweren O2-Mangel besonders gefährdet ist.
ten Knochen, sondern auch aus dem Blutfett. Es resultiert eine
Verstopfung der Kapillaren in Lunge, Gehirn, Niere und vielen
anderen Organen durch grob disperse Fetttröpfchen. Dieser 5.9.3 Luftembolie
Vorgang wird durch die im Schock vorliegende Hypovolämie
und die verlangsamte Mikrozirkulation stark begünstigt. Im 3Pathophysiologie. Die zerebrale Luftembolie ist selten.
Gehirn findet man eine sog. Purpura cerebri, d.h., die Hemis- Sie kommt bei Operationen am offenen Herzen, im Thorax
phären sind von flohstichartigen Blutungen übersät. Die Blu- oder am Hals vor. Bei Abtreibungsversuchen dringt gelegent-
tungen sind von multiplen, kleinen Erweichungsherden um- lich Luft in die Venen des Uterus ein. Häufig geschieht dies erst
geben. dann, wenn die Frau nach dem Eingriff aufsteht. Auch ohne
offenes Foramen ovale gelangt Luft durch die Lunge in den
3Symptomatik und Verlauf. Die klinischen Erscheinungen Hirnkreislauf. Durch Verstopfung einer Vielzahl von kleinen
werden 4–6 h oder auch erst 12 Tage nach dem Trauma mani- Arterien kommt es zu multiplen ischämischen Erweichungen
fest. Sie können sich in den ersten Tagen wiederholen, sodass (. Abb. 5.38). Im Gegensatz zur Fettembolie ist die Luftembolie
die Symptomatik sich schubweise verstärkt. Akute psychische ein einmaliges Ereignis und wiederholt sich nicht in Schüben.
Störungen beherrschen oft das Bild. Meist besteht ein deli-
rantes Syndrom mit Bewusstseinsstörung bis zum Koma, Des- 3Symptomatik und Verlauf. Die Symptome können sich
orientiertheit und psychomotorischer Unruhe. Neurologisch auf akuten Schwindel, Tachykardie oder einen Zustand von
findet man häufig bilaterale pathologische Reflexe, Herdsymp- Verwirrtheit beschränken, der nach wenigen Minuten wieder
tome der Großhirnhemisphären, in schweren Fällen treten abklingt. In schweren Fällen tritt eine Bewusstseinstrübung
Streckkrämpfe auf. mit Krämpfen und bilateralen oder multiplen neurologischen
222 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

. Abb. 5.38a,b. Luftembolie. a akute,


multiple Luftembolien (nach Herzoperation),
die als kleine, runde Dichteminderungen an
der Mark-Rindengrenze zu sehen sind, b Nach
einigen Tagen Resorption der Luft und Ausbil-
dung eines überwiegend im rechten vorderen
Marklager erkennbaren ischämischen Ödems.
(S. Hähnel, Heidelberg)

a b

Herdsymptomen auf. Pupillenstörungen und Augenmuskel- zierte künstliche Herzklappen Quelle der septischen Embolien
lähmungen sind häufig. sein. Sie kommen bei drogenabhängigen und immunsuppri-
Der Verlauf ist nicht einheitlich. Foudroyante Luftembo- mierten Patienten, nach Zentralvenenkatether oder chro-
lien führen in Minuten unter Krämpfen zum Tode. Wird der nischen Infektionen vor.
erste Tag überlebt, ist die Prognose quoad vitam gut, nicht sel-
ten bleiben aber neurologische Herdsymptome und eine psy- 3Symptome. Ischämischen Infarkte sind häufige Symp-
choorganische Wesensänderung zurück. tome. Die Diagnose wird klinisch (Systolikum über Aorten-
oder Mitralklappe), echokardiographisch (TEE), durch ent-
3Therapie. Die Therapie besteht in rascher Rekompres- zündlichen Liquor und mit wiederholten Blutkulturen, die
sion, d h. künstlicher Herstellung der Druckverhältnisse in der aber negativ sein können, gestellt. Im CT und im MRT findet
Tiefe (Druckkammer). man multiple intrakranielle Läsionen, die als kleine Infarkte,
Mikroabszesse oder kleine sekundäre Blutungen erscheinen.
Caisson-Krankheit. Ein Sonderfall der Luftembolie ist die Mykotische Aneurysmen prädisponieren zur Subarachnoi-
Caisson-Krankheit. Wenn Taucher plötzlich aus großer Tiefe dalblutung.
an die Oberfläche geholt werden, aber auch wenn am Tag eines
Tauchgangs ein Flug angetreten wird, setzt die akute Herabset- 3Therapie. Bei Nativklappen sollte eine blinde Antibiose
zung des Luftdrucks Stickstoff in kleinen Bläschen frei. Wie bei mit Ampicillin 12–24 g/Tag i.v. verteilt auf 3 6 Einzeldosen
der Luftembolie kommt es zur akuten, diffusen Mangeldurch- (ED) pro Tag, Gentamicin 3 mg/kg/Tag i.v. in 3 ED sowie Ce-
blutung. Sie äußert sich als akute Atemnot und Zyanose. Der fotaxim 6 g/Tag i.v. in 3 ED oder Ceftriaxon 2 g/Tag i.v. in 1 ED
Patient kann im Schock zu Tode kommen. Wird der Schock erfolgen. Bei Kunstklappen sollte die Antibiose mit Vancomy-
überlebt, treten psychomotorische Unruhe, Bewusstseinstrü- cin 2 g/Tag in 2–3 ED, Gentamicin 3 mg/kg/Tag i.v. in 3 ED
bung und multiple neurologische Herdsymptome auf. Beson- sowie Rifampizin 900 g/Tag i.v. in 3 ED erfolgen. Einer kalku-
ders charakteristisch sind Rückenmarksymptome in allen Ab- lierten Antibiose sollte selbstverständlich nach Erregeridenti-
stufungen von der leichten Paraparese bis zur Querschnitts- fizierung der Vorzug gegeben werden.
lähmung, begleitet von Funktionsstörungen im N. vestibulo- Umstritten ist die Gabe von Heparin. Einerseits könnte
cochlearis. Heparin das Risiko weiterer Embolien verhindern, anderer-
In einer TCD/MRT-Studie konnte bei Tauchern, die ein seits aber bei einer Krankheit mit sehr hoher spontaner Blu-
offenes Foramen ovale hatten, eine erhöhte Zahl von (asymp- tungsneigung das Blutungsrisiko erhöhen. Wir entscheiden
tomatischen) vermutlich ischämischen Signalveränderungen uns inzwischen meist für eine Vollheparinisierung im unteren
im Hirnparenchym nachgewiesen werden. therapeutischen Bereich (PTT um 50–60 s). Ungeklärt ist die
Frage, ob und wann Patienten mit septischer Herdenzephalitis
kardiochirurgisch behandelt werden sollen. Während viele
5.9.4 Septisch-embolische Herdenzephalitis Kardiochirurgen je nach Klappenfunktion zurückhaltend sind,
sehen wir in den großen Risiken weiterer Embolien eine früh-
3Pathophysiologie. Die infektiöse Endokarditis wird zeitige Operationsindikation, wohl wissend, dass das Opera-
durch multiple, septische Embolien kompliziert. Die meisten tionsrisiko bei gleichzeitig bestehenden intrakraniellen In-
dieser Embolien gehen in das Gehirn und führen dort zu ischä- farkten erhöht ist. Die Mortalitätsrate bei Patienten, die sub-
mischen Infarkten, Mikroabszessen und sekundären Einblu- arachnoidal aus mykotischen Aneurysmen bluten oder eine
tungen. Streptokokken und Staphylokokken sind die wichtigs- Begleitmeningitis entwickeln mit ausgedehnten territorialen
ten Erreger. Neben der akuten Endokarditis können auch infi- Infarkten und Abszessbildung, liegt bei 80%.
5.9 · Seltene Schlaganfallursachen und ihre Therapie
223 5

a b
. Abb. 5.39a,b. Moya-Moya Erkrankung. a Mediastenose auf der lin- geschrittener Befund auf der rechten Seite mit Verschluss der A. cereb-
ken Seite mit beginnendem Kollateralnetz an der Schädelbasis. b Fort- ri media rechts sowie deutlich ausgeprägtem Kollateralnetzwerk

5.9.5 Moya-Moya-Syndrom kortikale Infarkte und im Verlauf auch eine deutliche Hirn-
atrophie, ohne dass die üblichen vaskulären Risikofaktoren
Dies ist eine in China und Japan häufige, in USA und Mittel- vorliegen (. Abb. 5.40). Besonders auffallend ist die Beteili-
europa seltene entzündliche, vermutlich immunologisch ver- gung der Temporallappen an der Pathologie. Manche Patienten
mittelte (Reaktion auf Leptospireninfektion?), z.T. auch gene- werden erst durch eine Demenz auffällig. Viele jüngere Patien-
tisch angelegte Krankheit, die durch fortschreitende Stenosie- ten haben eine Migräne mit Aura und die genannten CT-/
rungen und Verschlüsse der distalen Interna und des vorderen MRT-Veränderungen. Im Verlauf treten meist epileptische An-
Anteils des Circulus arteriosus Willisii gekennzeichnet ist. Es fälle, neuropsychologische und neuropsychiatrische Auffällig-
bildet sich ein Netzwerk von abnormen Kollateralen, die angio- keiten zu Tage.
graphisch ein »wolkenartiges« Aussehen haben (jap. Moya- In der Hautbiopsie lassen sich elektronenmikroskopisch
Moya, kleine Wolke; . Abb. 5.39). Klinisch haben die meist typische Veränderungen finden. Da es sich um eine generali-
jungen Patienten rezidivierende ischämische Symptome. Der sierte Erkrankung handelt, können viele Organsysteme (u.a.
Verlauf ist stark variabel und nicht vorhersehbar. Behandelt Nerven, Muskeln, Retina etc.) betroffen sein, u.a. zeigen sich
wird mit Thrombozytenaggregationshemmern, manchmal auch an der Retina CADASIL-typische Veränderungen.
auch Kortison. Operationen (extrakraniell-intrakranieller
(EC-IC)-Bypass, Omentum-Transplantation), von erfahrener
Hand ausgeführt, können eine effektive Infarktprophylaxe dar- 5.9.7 Migräne-assozierter Schlaganfall
stellen. Häufig sind sie beidseitig notwendig.
Patienten (meist Patientinnen) mit Migräne mit Aura erleiden
gelegentlich Schlaganfälle, besonders wenn gleichzeitig orale
5.9.6 CADASIL (zerebrale autosomal dominante Antikonzeptiva genommen werden und ein Nikotinabusus
Arteriopathie mit subkortikalen Infarkten vorliegt. Der Pathomechanismus hierfür ist nicht endgültig
und Leukenzephalopathie) geklärt. Auch im »normalen« Migräneanfall selbst kommt
es zu einer Verminderung des zerebralen Blutflusses, der bei
Diese autosomal dominant vererbte Erkrankung der kleinen Aurasymptomatik auch die Funktionsschwelle unterschrei-
Gefäße äußert sich mit rezidivierenden Schlaganfällen und ten kann. Er erreicht aber praktisch nie die Infarktschwelle.
kann bis zur Pseudobulbärparalyse oder Multiinfarktdemenz Im Migräneanfall sind hämostaseologische Veränderungen
voranschreiten. beschrieben worden (Erhöhung von thrombozytenaggrega-
tionsfördernden Substanzen wie Thromboxan, Plättchenfak-
3Klinik und Diagnostik tor 4).
Mutationen im Notch3-Gen sind für diese Krankheit cha-
rakteristisch und dieses Gen ist auf Chromosom 19 lokali-
siert. Eine Variante mit familiärer hemiplegischer Migräne 5.9.8 Hypertensive Krise
mit Lokalisation auf dem gleichen Gen wurde kürzlich be-
schrieben. Bei Blutdruckwerten über 120 mmHg diastolisch (systolisch
Die Patienten sind meist jünger und haben im CT oder dabei häufig um 240 mmHg oder darüber) können Störungen
MRT eine progrediente Leukenzephalopathie, multiple sub- der Gehirnfunktion auftreten, die einen Schlaganfall imitieren.
224 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

. Abb. 5.40. CADASIL. Ausgedehnte


subkortikale Läsionen mit temporopolarer
und paraventrikulärer Betonung

a b

c d

3Pathophysiologie. Die krisenhafte Blutdrucksteigerung 3Diagnostik. Im EEG besteht eine diffuse Verlangsamung
führt zum Versagen der Autoregulation der Hirngefäße mit der Aktivität. Im zerebralen Computertomogramm und im
verstärkter Durchlässigkeit der Basalmembran der Gefäßwän- MRT findet man weder die Zeichen der Massenblutung noch
de (englisch plastisch als »Breakthrough-Phänomen« bezeich- gefäßabhängige Bezirke verminderter Dichte, sondern Zei-
net), konsekutivem Hirnödem und perivaskulären, kleinen chen der Hirnschwellung und selten kleine Blutungen in um-
Blutungen. schriebenen Rindengebieten. Häufig sind bioccipitale sub-
kortikale Signalveränderungen (PRES, s. S. 518) zu finden, die
3Klinik. Die Patienten bekommen sehr heftige Kopf- folgenlos ausheilen können.
schmerzen, nicht selten fokale oder generalisierte epileptische
Anfälle und zerebrale Herdsymptome, die von Bewusstseins- 3Therapie. Man gibt sofort Nitrendipin sublingual, Cap-
trübung begleitet sein können. Typische Herdsymptome sind topril 25 mg sublingual oder Clonidin 0,15 mg langsam i.v.,
im Karotisterritorium Hemiparese und Aphasie, im vertebro- zudem eventuell Furosemid 20 mg i.v. und zusätzlich zur Se-
basilären Territorium kortikale Blindheit oder Hemianopsie. dierung Diazepam. Der Blutdruck wird in engen Abständen
Am Augenhintergrund erkennt man das Bild der sog. angio- gemessen und anschließend mit intravenösen Antihypertensi-
spastischen Retinopathie, gelegentlich auch ein Papillen- va, in Absprache mit dem Internisten, kontrolliert.
ödem.
5.9 · Seltene Schlaganfallursachen und ihre Therapie
225 5

In Kürze

Gefäßversorgung des Gehirns Einteilung der zerebralen Ischämien

Ischämische Infarkte werden begleitet von Reduktion des Nach Schweregrad. Völlige oder weitgehende Rückbildung
Blutflusses im Gehirn mit nachfolgendem Sauerstoffman- der Symptome (flüchtige Ischämie) oder bleibende neurolo-
gel. Unterschreiten der für Hirngewebsstrukturen variablen gische Ausfallerscheinungen (vollendeter Infarkt).
Schwelle stört Funktionsstoffwechsel der Neurone, Struk-
turstoffwechsel bleibt bestehen. Weiteres Absinken des Nach Infarktmorphologie. Durch Hypertonie bedingte Verän-
zerebralen Blutflusses führt zum Zusammenbruch des derung der kleinen, intrazerebralen Endarterienwand (Mikro-
Strukturstoffwechsels, zum Absterben der Zellen und zum angiographie) oder thrombembolisch bzw. hämodynamisch
Infarkt. verursacht (Makroangiographie).

Epidemiologie und Risikofaktoren Klinik und Gefäßsyndrome

Inzidenz. 150-200/100.000 Einwohner/Jahr; 80-85% ischä- Zerebrale Ischämien in der vorderen Zirkulation.
mische Infarkte, 15-20% Sinusthrombosen, intrazerebrale A. carotis interna: Hemisphärische Ischämien mit flüchtigen
und Subarachnoidalblutungen. 10–15% Mortalität. kontralateralen Halbseitensymptomen wie ausgedehnter
Visusverlust auf einem Auge.
Risikofaktoren. Nicht modifizierbare Risikofaktoren wie A. cerebri media: Sensible, motorische, kontralaterale Halb-
Alter, Geschlecht, genetische Disposition zu kardio- und seitensymptome, Störungen der Blick- und Sprechmotorik,
zerebrovaskulären Krankheiten; Modifizierbare Risiko- neuropsychologische Syndrome.
faktoren wie Hypertonie, Vorhofflimmern, Fettstoffwechsel- A. cerebri anterior: Parese des kontralateralen Beins, der
krankheiten, Diabetes, Rauchen, Alkohol. Hüfte und Schulter, Antriebs- und Orientierungsstörungen.

Ischämische Infarkte Zerebrale Ischämien in der hinteren Zirkulation.


A. vertebralis: Schwindel, Nystagmus, Doppelbilder, Tonus-
Arteriosklerose und Stenosen. Durch Störungen des Cho- verlust bei beidseitiger hochgradiger Stenosierung.
lesterinmetabolismus und endotheliale Schädigungen. A. cerebelli inferior posterior: Frühsymptome sind u.a.
Arteriosklerose führt zu Stenosen hirnversorgender Gefäße, Schluckauf, Erbrechen, Doppelbilder durch Abduzenslähmung.
die hämodynamisch bedingte Infarkte oder Embolien aus- A. basilaris: Symptomatik uncharakteristisch, u.a. Zeigeataxie,
lösen. horizontaler Nystagmus zur Gegenseite, ipsilaterales Horner-
Syndrom.
Lokale arterielle Thrombosen. Durch Arteriosklerose an Basilaristhrombose: Ausgedehnte, oft bilaterale Funktions-
den großen Hirnbasisgefäßen. störungen. Mortalität ohne Behandlung: 80%.
A. cerebri posterior: Apathie, Desorientiertheit, Aspontanei-
Embolien. Verschluss einer zerebralen Arterie; Ursache für tät, homonyme Hemianopsie zur Gegenseite, Hemineglect,
30% aller Hirninfarkte, stammen aus dem Herzen, den hirn- Hemiataxie, Gedächtnisstörungen.
zuführenden (Aorta, Karotis, Vertebralarterien) oder intrakra-
niellen Arterien (Karotissiphon, intrakranielle Vertebralis, Multiinfarktsyndrome. Intellektuelle, affektive Nivellierung
Basilaris). mit neuropsychologischen Störungen bei subkortikaler arte-
riosklerotischer Enzephalopathie. Dysarthrische Sprechstö-
Intrazerebrale Arteriolosklerose. Durch Alter, Hochdruck, rung, apraktische Gangstörung, Heiserkeit, pathologisches
Diabetes oder Hypercholesterinämie entsteht Verdickung Lachen und Weinen mit schubweisem Verlauf bei Status lacu-
der Gefäßwand, die durch arteriosklerotischen Verschluss naris.
oder zusätzliche Thrombose zu subkortikalen, kleinen Infark-
ten führt. Apparative Diagnostik

Lakunäre Infarkte. Motorische Halbseitensyndrome durch CT: Differenzierung zwischen intrazerebraler Blutung und
mikroangiopathische Veränderungen der perforierenden ischämischer Läsion, Aussagen über Ort, Art, Alter und Aus-
Arterien. dehnung des Infarkts.
MRT bei Hirnstamminfarkten; MRA bei Verdacht auf Sinus-
Dissektion. Einblutung in Gefäßwand (spontan oder trau- thrombose oder bei Suche nach größeren Aneurysmen; Per-
matisch) mit ipsilatealem Hornersyndrom und Schmerzen im fusions- und Diffusions-MRT: Erkennen früher ischämischer
vorderen Halsdreieck. Areale.

6
226 Kapitel 5 · Zerebrale Durchblutungsstörungen: Ischämische Infarkte

Ultraschall: Diagnostische Abklärung zerebrovaskulärer Spezielle intensivmedizinische Maßnahmen: Behandlung


Erkrankungen; Akutphase: Erkennen eines intrakraniellen des erhöhten intrazerebralen Druckes durch Osmotherapie,
Gefäßverschlusses; Postakutphase: Ätiologische Einordnung Hyperventilation, Barbiturate; Dekompressionsoperation bei
der Schlaganfallursache wie Emboliequelle, extrakranielle malignem Mediainfarkt und raumfordernden Kleinhirninfarkt.
Gefäßveränderungen. Weitere Maßnahmen: Logopädie, Rehabilitation, Kranken-
Angiographie: U.a. vor oder bei interventionellen Eingriffen, gymnastik
bei intrakraniellen Gefäßstenosen, bei Verdacht auf Pseudo-
aneurysma nach Dissektion oder Vaskulitis. Prävention
Kardiologische Diagnostik: Transthorakales Echokardio-
gramm (TTE) oder transösophageale Echokardiographie (TEE). Primärprävention. Verhinderung des Schlaganfalls beim
5 Labordiagnostik: Aufdeckung allgemeiner Risikofaktoren Gesunden durch Behandlung der Risikofaktoren. Operative
für Arteriosklerose, Überprüfung anderer Organfunktionen, Primärprävention z. B. bei höhergradiger Stenose oder rascher
Nachweis seltener Schlaganfallätiologien. Progredienz der Stenose.
Biopsien: Gefäß- und Muskelbiopsien bei Verdacht auf
Vaskulitis, Hautbiopsie bei Verdacht auf genetisch bedingte Sekundärprävention. Verhinderung eines weiteren Schlagan-
Mikroangiopathie. falls durch Verhaltensänderung und Medikation; Chirurgische
Sekundärprävention z. B. bei Karotisstenose.
Therapie
Seltene Schlaganfallursachen
Notfalltherapie: Stabilisierung und Normalisierung allge-
meiner Körperfunktionen wie Herz-Kreislauf, Lungenfunkti- Vaskulitische Infarkte (wie M. Behçet, Riesenzellarteriitis),
on, Flüssigkeitshaushalt, metabolische Parameter. seltene vaskuläre Krankheiten des ZNS (wie Fett- und Luftem-
Allgem. Therapie: Oxygenierung, Blutzucker- und Blut- bolie, CADASIL, Moya-Moya, Migräne-assoziierter Schlaganfall,
druckkontrolle, Infektbehandlung, Thromboseprophylaxe. hypertensive Krise) und andere.
Perfusionsverbessernde Therapie (Thrombolyse): Zurzeit
einzige gesichert wirksame Behandlungsmethode. Aus-
schluss: Blutung und großer, früher Infarkt.
6

6 Spontane intrazerebrale Blutungen


6.1 Ätiologie, Pathogenese und Pathophysiologie – 228

6.2 Symptome – 231


6.2.1 Lobärblutung – 231
6.2.2 Basalganglienblutung – 231
6.2.3 Thalamusblutung – 231
6.2.4 Kleinhirnblutung – 232
6.2.5 Hirnstammblutung (Brücken- und Mittelhirnblutung) – 232
6.2.6 Intraventrikuläre Blutung – 232
6.2.7 Multilokuläre Blutungen – 232

6.3 Diagnostik – 232


6.3.1 Computertomographie – 232
6.3.2 Magnetresonanztomographie – 233
6.3.3 Digitale Subtraktionsangiographie – 233
6.3.4 Labordiagnostik – 233

6.4 Therapie – 234


6.4.1 Konservative Therapie – 234
6.4.2 Chirurgische Therapie – 235
6.4.3 Rehabilitative Maßnahmen – 237
6.4.4 Prognose – 237
228 Kapitel 6 · Spontane intrazerebrale Blutungen

> > Einleitung

Die drei Herren in . Abbildung 6.1 sollten Sie noch aus Ihrem
Geschichtsunterricht kennen.
Richtig, es sind Churchill, Roosevelt und Stalin bei der Jalta-
Konferenz. Roosevelt und Stalin haben, abgesehen davon, dass
sie zu den Siegern des 2. Weltkriegs gehören, noch etwas ge-
meinsam: Sie starben beide kurze Zeit später an einer spontanen
intrazerebralen Blutung, d.h. einer nicht traumatisch bedingten
Blutung in das Hirnparenchym. (Übrigens, auch Churchill war zu
dieser Zeit schon durch viele kleine Schlaganfälle bei zerebraler
Mikroangiopathie (7 Kap. 5) gezeichnet.) Die drei Politiker, die
über die Zukunft der Welt entschieden, litten alle an einer fort-
geschrittenen vaskulären Krankheit des Gehirns. Man darf sich
6 fragen, inwieweit dies die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts geprägt hat. Und vielleicht wäre es auch interessant zu . Abb. 6.1. Roosevelt, Churchill und Stalin bei der Konferenz von
wissen, bei wie vielen unserer heutigen Entscheidungsträger Jalta. (Bildquelle: DHM Berlin, F60/13.11)
diese Konstellation vorliegt- oder: besser nicht.
Die häufigste Ursache der spontanen intrazerebralen Blu-
tung ist der Bluthochdruck. Die Symptomatik entwickelt sich, wie Patienten meist die Folge eine Amyloidangiopathie (s.u.), wäh-
bei zerebralen Durchblutungsstörungen, meist rasch (»Schlagan- rend sie bei jüngeren Patienten als »atypisch« gelegene Blu-
fall«). Spontane intrazerebrale Blutungen sind für etwa 10–15% tungen oft auf eine Gefäßmissbildung oder eine Tumorblutung
aller Schlaganfälle verantwortlich. Aus der Symptomatik lässt sich deuten.
nur selten darauf schließen, ob eine Blutung oder Durchblutungs-
störung zugrunde liegt. Dies ist jedoch für die Therapie von 3Epidemiologie. Spontane ICB sind bei 15% der Patienten
entscheidender Bedeutung. Zur Klärung sind bildgebende Ver- Ursache eines Schlaganfalls. Männer sind etwas häufiger be-
fahren (primär CT) erforderlich; diese geben oft auch Hinweise troffen. Die Häufigkeit spontaner ICB nimmt im höheren
auf die Ursache einer Blutung. Lebensalter zu. Es gibt deutliche ethnische Unterschiede der
Krankheitsinzidenz: Die jährliche Inzidenz beträgt 15–20 Fäl-
Vorbemerkungen le pro 100.000 Einwohner bei der weißen Bevölkerung in
3Definition. Als spontane intrazerebrale Blutungen (ICB) Europa und Nordamerika. Dagegen ist die Inzidenz bei Ost-
bezeichnet man Blutungen in das Hirnparenchym, die mit asiaten (Japan) 60/100.000, bei der afroamerikanischen und
einem Hypertonus assoziiert sind und für die sich keine Ursa- bei der hispanischen US-Bevölkerung 35/100.000.
che findet (. Tabelle 6.1). Die Einteilung der Blutungen kann
nach verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen, die Ätiologie,
Lage und Schweregrad berücksichtigen. In Abhängigkeit von 6.1 Ätiologie, Pathogenese
der Lage der spontanen intrazerebralen Blutung unterscheidet und Pathophysiologie
man Stammganglienblutungen, Lobärhämatome, Kleinhirn-
blutungen, Hirnstammblutungen, intraventrikuläre Blutungen Ätiologie
und Blutungsbeteiligung mit Ausdehnung in den Subarach- Hoher Blutdruck ist der wichtigste Risikofaktor für die spon-
noidalraum. Häufig gibt die Lage der Blutung schon einen Hin- tane ICB. Man findet ihn bei etwa 70% der Patienten. Weitere
weis auf die zugrunde liegende Ätiologie: So sind Stammgang- Risikofaktoren sind männliches Geschlecht, genetische Fak-
lienblutungen meist hypertensiv, Lappenhämatome bei älteren toren (Blutungen sind bei Asiaten und Menschen afrikanischer

. Tabelle 6.1. Andere, nicht hypertensive Ursachen der intrazerebralen Blutungen


Gefäßkrankheiten Amyloidangiopathie, Amyloidose, Arteriitis, Dissektion, Aneurysma, Arteriovenöse Gefäßmalfomationen
Blutkrankheiten und Antikoagulanzien, Aspirin und andere Thrombozytenfunktionshemmer, Thrombolytische Therapie, DIC,
Gerinnungsstörungen Hämophilie, Leukämie, Sichelzellanämie, Thrombozytopenie, Anti-Kardiolipinantikörper
Intoxikationen Alkohol, Amphetamine, Kohlenmonoxid, Kokain, Crack, Exstasy, Adrenalin, Monoaminooxidasehemmer,
Sympatikomimetika
Traumaa Schädelhirntrauma, epileptischer Anfall, Strangulation
Tumoren Melanom- und Karzinommetastasen, Ependymome, Meningeosis
Venenthrombose Hormonelle Schwankungen, Schwangerschaft, Eklampsie, Kontrazeptiva
a Gelten nicht als spontane Blutungen und sind hier nur der Vollständigkeit halber aufgeführt.

DIC disseminierte introvasale Gerinnung (C für coagulation).


6.1 · Ätiologie, Pathogenese und Pathophysiologie
229 6
Facharzt
Weitere Risikofaktoren und Ursachen für spontane intrazerebrale Blutungen
Erkrankungen des Herzens und des blutbildenden Sys- Drogen- und Medikamentennebenwirkungen. Crack, Ko-
tems, Gerinnungsstörungen. Bei infektiöser Endokarditis, kain und Amphetamine verursachen intrazerebrale Blutungen
Leukämie, Thrombozytopenien (z.B. thrombotisch-thrombo- durch hypertensive Krisen oder (Hypersensitivitäts-)Vaskulitis.
zytopenischer Purpura) und disseminierter intravasaler Dieser Mechanismus kann auch die Ursache von Blutungen
Gerinnung finden sich disseminierte kleine Blutungen. nach Einnahme von Schmerzmitteln oder Antibiotika sein.

Kardiale Krankheiten (außer solchen, die einer Antiko- Intoxikationen mit den oben genannten Substanzen sowie
agulation bedürfen, s.o.) und ihre Risikofaktoren Diabetes, mit MAO-Hemmern, Sympathikomimetika, Alkoholintoxikation
Hypercholesterinämie und Zigarettenrauchen sind keine oder Kohlenmonoxid können ICB auslösen.
wesentlichen Risikofaktoren der ICB. Dagegen werden sehr
niedrige Cholesterinwerte (unter 150 Gesamtcholesterin) als Tumorblutungen. Metastasen von Melanomen und hyper-
Risikofaktor für ICB angesehen, die das Blutungsrisiko in nephroiden Nierenkarzinomen sowie hochmaligne primäre
etwa verdoppeln. Hirntumoren (apoplektisches Gliom) bluten relativ häufig. Bei
atypischer Blutungslage sind daher mehrere MRT-Kontrollun-
Sinusthrombosen. Diese können durch venöse Stauung tersuchungen (z.B. nach 3 und nach 8 Wochen) erforderlich.
eine ICB auslösen (7 Kap. 7).
Eklampsie. Intrazerebrale Blutungen unter Eklampsie führen
Alkoholkonsum. Ausgeprägter Alkoholkonsum erhöht das in einem Drittel der Fälle zum Tode der Mutter und zu
Risiko, eine ICB zu erleiden um das 5- bis 6fache. Behinderungen beim Kind.

Herkunft häufiger), Alkoholexzesses, Drogenkonsum und Blutung bei Amyloidangiopathie. Die Amyloid- oder kongo-
Rauchen. Zu weiteren Risikofaktoren und Ursachen spontaner phile Angiopathie ist Folge der Ablagerung von Amyloid in der
ICB 7 Facharzt-Box und . Tabelle 6.1. Media und Adventitia mittelgroßer Arterien im Kortex. Die
Andere wesentliche Ursachen sind die Amyloidangiopa- Wandveränderungen disponieren zu rezidivierenden Lappen-
thie und Gefäßmissbildungen. Es lassen sich anhand der wich- hämatomen. Amyloidablagerungen nehmen mit steigendem
tigsten Risikofaktoren und Ursachen folgende Formen spon- Lebensalter zu (7 Kap. 25.1). Lobärhämatome bei Patienten
taner ICB unterscheiden: über 75 Jahre sind praktisch immer Folge einer Amyloidangi-
4 hypertensive (Massen-, d.h. massive) Blutung, opathie. Bei manchen Patienten mit Lobärhämatomen wird
4 Blutung bei Amyloidangiopathie, über ein vorangegangenes leichteres Kopftrauma berichtet.
4 Blutung bei Gefäßmissbildungen (7 Kap. 8),
4 Blutung bei Antikoagulanzien oder thrombolytischer Blutung bei Gefäßmissbildungen. Folgende Gefäßmissbildun-
Therapie. gen können einer intrazerebralen Blutung zugrunde liegen:
4 arteriovenöse Missbildung (AVM, 7 Kap. 8.1),
Pathogenese und Pathophysiologie 4 arterielles Aneurysma (meist Nachblutung),
Hypertensive (Massen-)Blutung. Die hypertensiven Blutungen 4 Durafistel,
finden bevorzugt in Hirnabschnitten statt, die von perforieren- 4 Kavernom.
den Hirnarterien versorgt werden. Die Wand der lentikulostri-
ären und paramedianen Arterien ist dünner als die Wand von Gefäßmissbildungen bluten mit einer Häufigkeit von 2% pro
kortikalen Arterien gleichen Durchmessers. Der Druck in den Jahr. Die Blutungshäufigkeit hängt von der Größe der AVM,
perforierenden Arterien ist durch ihren direkten Abgang von ihrer Lage und der venösen Drainage ab. Intrazerebrale Blu-
den großen Piaarterien im Verhältnis zu ihrem Durchmesser tungen aus Aneurysmen sind praktisch immer Rezidivblu-
relativ hoch. Chronischer Hypertonus führt zu Veränderungen tungen, denen eine typische Subarachnoidalblutung (7 Kap. 9)
der Wand der dünnen, perforierenden Arterien in Form der vorausgegangen ist. Die Blutung liegt meist etwas atypisch ba-
fibrinoiden Nekrose. Degenerative Veränderungen der Gefäß- sal, in der Nähe der großen Piaarterien.
wand führen zur Lipohyalinose, bei der es subintimal zur Fett-
ablagerung kommt, und zur Ausbildung von Mikroaneurys- Antikoagulanzien und Thrombolytika. Zwischen 5 und 10%
men. Zusätzliche Anstiege des systolischen Blutdrucks, die aller ICB treten unter Heparin- oder Marcumar-Therapie auf.
bei eingeschränkter Vasoreaktivität nicht mehr kompensiert Antikoagulation mit Marcumar begründet ein 0,5–1%iges ze-
werden können, führen dann zur Rhexisblutung. Diese patho- rebrales Blutungsrisiko pro Jahr; nur bei etwa der Hälfte der
genetischen Faktoren begründen auch die typische Lokalisa- Patienten ist Marcumar überdosiert. Patienten, die wegen kar-
tion hypertensiver Blutungen in den Basalganglien (ca. 40%; dialer Embolien mit Marcumar® behandelt wurden, erleiden
. Abb. 6.2a,b), dem subkortikalen Marklager (25%; . Abb. 6.2e), häufiger einen embolischen ischämischen Infarkt als eine Hirn-
dem Thalamus (20%; . Abb. 6.2c), dem Zerebellum (10%; blutung. Antikoagulation nach akutem ischämischem Infarkt
. Abb. 6.2g,h) und der Brücke (5%; . Abb. 6.2i). hat ein etwa 4%iges Risiko einer spontanen ICB pro Jahr.
230 Kapitel 6 · Spontane intrazerebrale Blutungen

a b c

d e f

g h i

. Abb. 6.2a–i. Verschiedene Typen spontaner intrakranieller f Große, raumfordernde, inhomogene Lobärblutung rechts fronto-
Blutungen in CT und MRT. a Kleine, laterale Stammganglienblutung parietal mit umgebendem Randödem. Zusätzlich noch eine kleinere,
rechts ohne raumfordernde Wirkung, b Außerordentlich große Stamm- subkortikale Blutung rechts frontal. Dieser Befund ist charakteristisch
ganglienmassenblutung mit Ventrikeleinbruch, Kompression des für das Vorliegen einer kongophilen Angiopathie (MRT), g,h Compu-
Foramen Monroi und massiver, raumfordernder Läsion, c Mäßig große tertomographische und kernspintomographische Darstellung einer
Thalamusblutung links bei Mikroangiopathie, d Intraventrikuläre Blu- Kavernomblutung. Im MRT zeigen sich deutlich die unterschiedlichen
tung links, möglicherweise aus einer kleinen Kaudatuskopfblutung Signalcharakteristika, die durch die verschiedenen Abbaustufen
hervorgegangen, e Mittelgroße Lobärblutung rechts parietookzipital, des Hämoglobin bedingt sind, i ausgedehnte Mittelhirnblutung
6.2 · Symptome
231 6
Die thrombolytische Therapie und die interventionelle The- schrieben und können im Einzelfall einen Myokardinfarkt mit
rapie (PCI) mit multiplen Eingriffen in das Gerinnungssystem ST-Senkung, CK-Anstieg und Arrhythmien imitieren. Bei spe-
beim Herzinfarkt ist mit einem Risiko einer symptomatischen ziellen Blutungstypen können weitere charakteristische Symp-
ICB von 0,5–2% (je nach Dosis und Substanz) verbunden. Die tome hinzutreten.
thrombolytische Therapie bei zerebralen Ischämien führt in
Abhängigkeit von Dosis, Zeit und Infarktgröße in bis zu 6% der
Fälle zu einer symptomatischen ICB. 6.2.1 Lobärblutung
Die ICB unter Antikoagulation und Thrombolyse wird ein-
geteilt in die harmlose hämorrhagische Infarzierung, die nach Hochgradige Hemiparese, Aphasie, Hemianopsie, Sensibili-
embolischen Hirninfarkten auch spontan (in ca. 50–70% der tätsstörungen, fokale Anfälle und unruhige Verwirrtheit sind
Fälle) auftritt (. Abb. 6.3 links und die ausgedehnte, fast immer häufig. Patienten mit Lobärblutungen sind meist älter als
mit klinischer Verschlechterung verbundene parenchymatöse 65 Jahre; fast immer liegt dann eine Amyloidangiopathie zu-
Hämorrhagie (symptomatische ICB, . Abb. 6.3 rechts). grunde (. Abb. 6.2f). Bei jüngeren Patienten liegen den Lobär-
blutungen häufig eine AVM, eine Durafistel, eine Sinusthrom-
> Hypertonus und Amyloidangiopathie sind die häu-
bose, eine Gerinnungsstörung oder ein Tumor zugrunde.
figsten Ursachen spontaner ICB. Bei jüngeren Pa-
tienten spielen Gefäßmissbildungen eine wichtige
Rolle. 6.2.2 Basalganglienblutung

6.2 Symptome Bei dieser meist hypertensiven Blutung sind Kopfschmerzen


und Erbrechen typische Initialsymptome. Progressive Hemi-
Die klinischen Symptome bei spontaner ICB sind denen der parese, Blickwendung zur Seite der betroffenen Hemisphäre
zerebralen Ischämie sehr ähnlich. Sie hängen von Lokalisation und homonyme Gesichtsfeldausfälle sind häufig. Blutungen in
und Ausdehnung der Blutung ab. Noch häufiger als bei ischä- der dominanten Hemisphäre verursachen trotz der subkorti-
mischen Infarkten beginnen die klinischen Symptome bei ICB kalen Lage initial eine globale Aphasie. Basalganglienblutungen
abrupt oder entwickeln sich über wenige Minuten. Kopf- können medial, in direktem Bezug zur inneren Kapsel, lateral
schmerz, Erbrechen, Halbseitenlähmung, fokale Anfälle und (Capsula externa) oder sehr weit lateral (Capsula extrema) lie-
frühe Bewusstseinsstörung sind bei großen Blutungen typisch. gen. Auch die Größe kann stark variieren. Es kommen kleine
Blutungen, die eine flüchtige Symptomatik haben oder inner- Blutungen von nur wenigen Kubikmillimetern Volumen vor,
halb von Stunden asymptomatisch werden, sind eine Rarität. die flüchtige, TIA-ähnliche Symptome verursachen, mittel-
Auch Prodromi sind sehr selten. große (<50 cm3, . Abb. 6.2a) und große Blutungen (>50 cm3,
Bei vielen ICB findet man die folgenden Symptome: . Abb. 6.2b) vor. Tiefliegende und große Blutungen neigen
4 fokale Ausfälle (typisch für die jeweilige Blutungsstelle und dazu, in die Ventrikel einzubrechen. Große Basalganglienblu-
-größe), z.B. Hemiplegie mit Kopf und Blickwendung bei gro- tungen führen zu Koma, Herniation und Hirntod (7 Kap. 11).
ßer Stammganglienblutung oder okulomotorische Störungen
mit skew deviation bei mesenzephaler ICB,
4 Symptome des erhöhten intrakraniellen Druckes z.B. 6.2.3 Thalamusblutung
Kopfschmerzen, Übelkeit, Schluckauf, Erbrechen,
4 Bewusstseinsstörungen als Ausdruck der schweren intra- Alle Patienten haben kontralaterale Sensibilitätsstörungen,
kraniellen Drucksteigerung (Somnolenz-Sopor-Koma). viele sind bewusstseinsgestört, hemiparetisch und weisen bila-
terale Pyramidenbahnzeichen auf. Die meist hypertensiven
Vegetative Störungen wie EKG-Veränderungen, Katecholami- Blutungen (Mikroangiopathie, . Abb. 6.2c) führen zur vertika-
nausschüttung und Herz-Kreislauf-Störungen sind häufig be- len Blickparese, oft mit Blickdeviation nach unten bei kleinen,

. Abb. 6.3. Hämorrhagische Infarzie-


rung (HI links) und sekundäre parenchy-
matöse Hämorrhagie (PH rechts). Die HI
zeigt lediglich eine diskontinuierliche Hy-
perdensität in Teilen des Infarktbezirks und
führt zu keiner klinischen Verschlechterung.
Dagegen nimmt die PH gut die Hälfte des
Infarktbezirks ein und hat einen raumfor-
dernden Effekt
232 Kapitel 6 · Spontane intrazerebrale Blutungen

aber reaktiven Pupillen. Die vertikale Blickparese entsteht 6.2.6 Intraventrikuläre Blutung
durch Läsion der Kerne in der Nachbarschaft der hinteren
Kommissur und der Periaquäduktregion (Nucleus interstitia- Die Seitenventrikel und der 3. und 4. Ventrikel können bei Tha-
lis). Ventrikeleinbruch ist bei größeren Thalamusblutungen lamusblutung, medial gelegenen Basalganglienblutungen und
häufig. Die miotischen, auf Licht reagierenden Pupillen sind Hirnstammblutungen Blut enthalten (. Abb. 6.2d). Bei Hirn-
Folge einer Sympathikusläsion. stammblutungen findet die Blutung primär Anschluss an den
4. Ventrikel und kann dann in den 3. Ventrikel aufsteigen. Ganz
selten (bei juvenilem Diabetes, Koagulopathien oder kleinen,
6.2.4 Kleinhirnblutung subependymalen Gefäßmissbildungen) kommt es auch zu
reinen intraventrikulären Blutungen, bei denen die Patienten
Sie ist meist Folge eines Hypertonus, seltener eines Kaver- keine fokalen Störungen haben und lediglich über Kopfschmer-
noms, und entsteht meist im Nucleus dentatus. Von hier er- zen, Benommenheit sowie Nackensteifigkeit klagen. Die Gefahr
streckt sie sich in die Kleinhirnhemisphäre und nach ventral dieser ventrikulären Blutung liegt im Verstopfen des Aquädukts
über den mittleren Kleinhirnstiel zum Hirnstamm (. Abb. 6.2g und der Entwicklung eines Stauungshydrozephalus.
6 und h). Sie beginnt mit Ataxie, Schwindel und Nystagmus. Je
größer das Hämatom, desto stärker die Kompression von
Hirnstamm und 4. Ventrikel mit nachfolgender Bewusstlosig- 6.2.7 Multilokuläre Blutungen
keit. Die Beteiligung des Hirnstamms zeigt sich durch Pupil-
lenstörung, Blicklähmung, Hemiparese und doppelseitige Multiple ICB werden vor allem bei der Amyloidangiopathie,
Pyramidenbahnzeichen. Sinusvenenthrombosen, Gerinnungsstörungen, mykotischen
Aneurysmen und Vaskulitis gefunden.

6.2.5 Hirnstammblutung (Brücken-


und Mittelhirnblutung) 6.3 Diagnostik

Diese meist durch Hypertonus oder, besonders bei jungen Pa- Klinisch sind spontane ICB nicht sicher von ischämischen In-
tienten, Gefäßmissbildung bedingte Blutung manifestiert sich farkten zu unterscheiden. Eine ICB kann nur mit CT oder
durch tiefes Koma, Streck- und Beugesynergismen, Pupillen- MRT sicher diagnostiziert werden.
störungen und gestörten okulozephalen Reflex, Atemstörung
und Tetraplegie. Ausgedehnte Hirnstammblutungen haben
eine sehr schlechte Prognose (. Abb. 6.2i). Kleinere Blutungen 6.3.1 Computertomographie
können klinisch wie Hirnstamminfarkte imponieren und ha-
ben eine gute Prognose. Bei im Vergleich zum Blutungsausmaß Die CT ist die noch am weitesten verbreitete Methode für die
geringem neurologischem Defizit liegt meist ein Kavernom des schnelle Beurteilung einer ICB. Sie erfasst Lage und Ausdeh-
Hirnstamms zugrunde. nung der Blutung, die sich als Zone erhöhter Dichte, entspre-

. Abb. 6.4. Blutung im CT und MR. Atypisch gelegene links parieto- prägte begleitende Mikroangiopathie (Thalamuslakune rechts). Man
okzipitale intrazerebrale Blutung bei einem 74-jährigen Mann ohne beachte die unterschiedliche Darstellung der verschiedenen Blutab-
wesentliche Risikofaktoren. Dargestellt sind das initiale CT und die bauprodukte (7 Text) im MRT
MRT vom nächsten Tag in T2- und T1-Sequenzen. Nur gering ausge-
6.3 · Diagnostik
233 6
. Abb. 6.5a,b. Blutungsausdehnung.
Linksseitige, ausgedehnte Stammgang-
lienblutung 3 h (a) und 24 h (b) nach Symp-
tombeginn. Klinisch machte sich die
massive Blutungszunahme mit Ventrikel-
einbruch, Aufstau und Verlagerung der Mit-
tellinie (Pfeil) durch eine Zunahme der Be-
wusstseinstörung bemerkbar

a b

chend dem Hämoglobingehalt des ausgetretenen Blutes, dar- zu tolerieren, dagegen. In vielen Schlaganfallzentren werden
stellt. Sehr früh untersuchte Blutungen können noch isodens allerdings auch heute schon bei einer großen Zahl von Pati-
wirken, machen sich dann aber schon durch die raumfor- enten MRT-Untersuchungen in Ergänzung zum CT durchge-
dernde Wirkung bemerkbar. Oft erkennt man bei sehr frischen führt. Bei Verdacht auf eine tumorassoziierte Blutung sind
Blutungen innerhalb des Blutclots Regionen unterschiedlicher MRT-Verlaufsuntersuchungen im Abstand von einigen Wo-
Dichte, was auf unterschiedlich alte Blutanteile in verschiede- chen und Monaten indiziert. Die MRT mit entsprechenden
nen Phasen der Gerinnung hindeutet. sensitiven Sequenzen kann mittlerweile als gleichwertig zur
Etwa 40% der großen spontanen ICB dehnen sich in den CT in der Frühdiagnostik der ICB angesehen werden.
ersten 12–24 Stunden noch weiter aus; dies kann durch Nach- Die MR-Angiographie kann, wie die CTA, einen ersten
blutung oder kontinuierliches Weiterbluten bedingt sein. Da- Eindruck über zugrunde liegende Gefäßanomalien geben.
her ist am Folgetag eine CT-Kontrolluntersuchung erforder-
lich. Die Größenzunahme zwischen Erst- und Kontrollunter-
suchung kann bis zu 30% betragen (. Abb. 6.5). Die verblei- 6.3.3 Digitale Subtraktionsangiographie
benden Defekte nach einer Blutung sind oft überraschend
klein. Sie sind in der Regel schlitzförmig. Wird die Untersu- Die selektive, intraarterielle DSA ist im akuten Stadium nur
chung mit Kontrastmittel durchgeführt, kann man weitere indiziert, wenn ausgedehnte subarachnoidale Blutanteile oder
wichtige Informationen erhalten. Innerhalb der Blutung kann eine atypische Lage der Blutung an ein früh operables Aneu-
in manchen Fällen ein umschriebener Kontrastmittelaustritt rysma oder eine arteriovenöse Gefäßmissbildung denken las-
gefunden werden. Dies wird als »Spot-sign« bezeichnet. Es be- sen. Auch bei jüngeren Patienten und Patienten ohne wesent-
deutet, dass es in dieser Region weiterhin aktiv blutet und mit liche Bluthochdruckanamnese zum Ausschluss seltener Ursa-
einer Ausweitung der Blutung zu rechnen ist. Die CT-Angio- chen der ICB und beim Verdacht auf eine Durafistel ist die
graphie andererseits kann schon Hinweise auf eine mögliche DSA sinnvoll.
Blutungsquelle geben.

6.3.4 Labordiagnostik
6.3.2 Magnetresonanztomographie
Sie umfasst routinemäßig Gerinnungsanalyse, rotes und weißes
Die MRT ist sehr empfindlich in der Aufdeckung von Blu- Blutbild. Bei jungen Patienten sollte ein Drogen-Screening
tungen. Eigentlich wäre sie die Methode der Wahl, allerdings durchgeführt werden. Eine Liquorpunktion ist nicht indiziert,
sprechen Preis, Verfügbarkeit und die Tatsache, dass manche außer bei atypischen Blutungen mit Verdacht auf eine Menin-
der Patienten zu krank sind, um eine MRT in der Akutphase geose (Melanom). Dopplersonographie, elektrophysiologische

Infobox
Berechnung des Blutungsvolumens
Entscheidungen für oder gegen eine Operation und auch c/2, bei der a die größte Ausdehnung frontal nach occipital,
Aussagen zur Prognose einer ICB hängen neben Alter und b die größte Ausdehnung lateral nach medial und c die Aus-
Multimorbidität auch vom Blutungsvolumen ab. dehnung caudal nach rostral ist, wird das Volumen errechnet.
Eine einfache Rechnung gibt eine ungefähre und ver- Eine Blutung, die eine Ausdehnung von 5 x 3 x 3 hat, würde
lässliche Einschätzung des Volumens. Mit der Formel a × b × mit 22,5 ml berechnet.
234 Kapitel 6 · Spontane intrazerebrale Blutungen

Facharzt
Darstellung von Blutungen im MRT
In Abhängigkeit von den Umbauprozessen im Blutextravasat tungsnarben erkennen. Solche oft asymptomatisch gebliebe-
entsteht eine charakteristische zeitliche Abfolge von Signal- nen Mikroblutungen (. Abb. 6.6) sind prognostisch wichtige
veränderungen im MRT (. Abb. 6.4), die hier im Detail nicht Zeichen bei Patienten mit fortgeschrittener Mikroangiopathie,
besprochen werden sollen, aber eine Einschätzung des da sie ein erhöhtes Blutungsrisiko anzeigen. Der Nachweis
Alters der Blutung möglich macht. Mit besonders empfind- von Mikroblutungen wird bei atypisch (=lobär) liegenden
lichen MR-Sequenzen (sog. T2*-Sequenzen) lassen eisenhal- Blutungen als weiterer Hinweis auf Amyloidangiopathie ge-
tige Blutabbauprodukte nach langer Zeit selbst kleine Blu- sehen.

oder nuklearmedizinische Untersuchungen sind in der Akut- sprechenden Patientenverfügung dem Willen des Patienten,
phase nicht hilfreich. nicht in einer aussichtslosen Situation behandelt zu werden,
6 folgt.

6.4 Therapie Behandlung der Blutungsausdehnung


Fast 40% der Patienten mit einer ICB erleben eine Nachblutung
6.4.1 Konservative Therapie innerhalb von 24 h nach Auftreten der ersten Symptome. In
einer multizentrischen Studie konnte die Rate der Nachblu-
Viele Patienten mit Hirnblutung müssen intensivmedizinisch tungen durch die intravenöse Gabe von rekombinantem Fak-
behandelt werden. Bei manchen Patienten sind Ausmaß und tor VIIa (rFVIIa) signifikant um 50% gesenkt werden. Durch
Lage der Blutung oder die medizinische Ausgangsposition die Therapie wurde auch das funktionelle Ergebnis positiv be-
jedoch so infaust, dass man den Angehörigen vorschlägt, auf einflusst. Die Nachfolgestudie bestätigte den hämostatischen
eine Therapie zu verzichten oder bei Vorliegen einer ent- Effekt auf die Nachblutung. Allerdings führte dies nicht zu ei-

. Abb. 6.6. Mikroblutungen (Micro-


bleeds). Mikroblutungen als schwarze
Signalauslöschungen im T2*-gewichteten
MRT bei einem Patienten mit ausgeprägter
Mikroangiopathie
6.4 · Therapie
235 6
. Abb. 6.7a,b. Intraventrikuläre Lyse.
Ausgedehnte rein intraventikuläre Blutung
vor (a) und 36 h nach Instillation von 4 mg
rtPA (b). Das ventrikuläre Blut ist nahezu
vollständig verschwunden. Spontan sieht
man diese Besserung frühestens nach
5–7 Tagen

a b

ner Verbesserung des klinischen Befundes. Deshalb ist das hoher Blutdruck führt zur Blutungsausdehnung. Am häufigsten
Medikament für diese Indikation nicht zugelassen. werden Urapidil und Betablocker eingesetzt (. Tabelle 5.7).

Ventikeldrainage und intraventrikuläre Lyse Therapie epileptischer Anfälle. Bei großen lobären Blutungen
Bei zunehmender Ventrikelerweiterung oder ausgedehnter schlagen manche Autoren eine prophylaktische Gabe von
intraventrikulärer Blutung wird eine Ventrikeldrainage ge- Phenytoin vor. Manifeste epileptische Anfälle werden mit Phe-
legt. Hierbei kann auch ein Thrombolytikum (rt-PA) intra- nytoin-Schnellaufsättigung (750 mg Kurzinfusion, danach 3-
ventrikulär appliziert werden (. Abb. 6.7). Neue Methoden, mal 250 mg pro Tag, gesteuert nach Serumspiegel) behandelt.
wie die endoskopische oder stereotaktische Entfernung der Wir vermeiden sedierende Medikamente wie Clonazepam
Blutgerinnsels, u.U. verbunden mit lokaler intraparenchy- oder Diazepam bei wachen, nicht intensivstationspflichtigen
matöser Applikation von Thrombolytika zur Verflüssigung der Patienten.
geronnenen Blutmassen, lassen erwarten, dass sich neue Stra-
tegien bei der Indikationsstellung zur operativen Entfernung Weitere Maßnahmen. Hyperglykämien sollen vermieden wer-
von ICB entwickeln werden. den. Zur Therapie von Gerinnungsstörungen 7 folgende Box.
Patienten mit großen Blutungen neigen zu Hypermetabolis-
Allgemeine intensivmedizinische Therapie mus und brauchen eine adäquate enterale oder parenterale
Künstliche Beatmung Ernährung. Zur Stressulkusprophylaxe dienen Analgosedie-
4 Stark bewusstseinsgestörte und komatöse Patienten mit rung, gemischt parenteral-enterale Ernährung und Proto-
Verlust der Schutzreflexe und respiratorischer Insuffizienz nenpumpenhemmer. Wir geben niedermolekulare Heparine
werden intubiert und beatmet. (7 Kap. 5) zur Thromboseprophylaxe.
4 Bei der Intubation muss eine reflektorische Blutdrucker-
höhung vermieden werden, da sie eine Nachblutung oder Blu-
tungsausdehnung verursachen kann. Man gibt daher kurz 6.4.2 Chirurgische Therapie
wirksame Sedativa oder Barbiturate, gelegentlich Muskelrela-
xanzien. Offene Evakuation
Die chirurgische Entfernung intrazerebraler Blutmassen
Behandlung des erhöhten intrazerebralen Drucks scheint eine logische Therapie zu sein. Das morphologische
4 Beatmung (s.o.), Analgesie, Hochlagerung des Kopfes und Ergebnis ist oft beeindruckend (. Abb. 6.8).
Osmotherapie stellen die Basistherapie dar. Länger dauernde 4 Es gibt bis heute keine klaren Richtlinien, wann ein Patient
Osmotherapie kann zu einer Anreicherung der osmotischen mit einer intrakraniellen Blutung eine Hämatomevakuation
Substanz in der Blutung und so zur Wasseraufnahme und wei- erhalten soll.
teren Ausdehnung des geschädigten Bezirks führen. 4 Sicher ist, dass Patienten mit kleinen Hämatomen (<10 ml)
4 Mannitol sollte daher nur kurzzeitig eingesetzt werden. Es meist ohne Operation eine gute Prognose haben.
wird empfohlen, die Osmotherapie mit Diuretika (Furosemid) 4 Bei Patienten, die schon bei Aufnahme komatös sind, wird
zu kombinieren. Barbiturate, Tris-Puffer und hypertone Koch- in der Regel von einer Hämatomausräumung abgesehen.
salzlösungen werden ebenfalls eingesetzt (zur Dosierung 4 Dasselbe gilt vielerorts für Patienten mit großen linkshir-
7 Kap. 5). nigen Blutungen.
4 Steroide sollten bei Blutungen nicht eingesetzt werden. 4 Patienten mit Kleinhirnblutung, die zu einer Hirnstamm-
kompression führen, sollten operiert werden.
Blutdrucksenkende Therapie. Im Gegensatz zum ischämischen 4 Patienten mit mittelgroßen Hämatomen und mittel-
Infarkt (7 Kap. 5) müssen bei einer spontanen ICB deutlich er- schwerer klinischer Symptomatik profitieren möglicherweise
höhte Blutdruckwerte gesenkt werden, denn fortbestehender von einer Operation, vor allem wenn sie eine zunehmende Be-
236 Kapitel 6 · Spontane intrazerebrale Blutungen

. Abb. 6.8. Große, frische Lobärblutung


vor (a) und (b) neurochirurgischer Blu-
tungsentfernung. Man sieht einige kleine
Lufteinschlüsse im OP-Gebiet, die Blutung
ist weitgehend entfernt. (A. Unterberg,
Heidelberg)

6
a b

Exkurs
Behandlung von Gerinnungsstörungen
4 Marcumar®, Heparin oder Thrombolytika ab- 4 Ob die Gabe von ε-Aminocapronsäure und Kryopräzipi-
setzen! taten bei thrombolyseassoziierten Blutungen sinnvoll ist, ist
4 Bei Marcumarblutungen gibt man Prothrombin- unklar.
komplexkonzentrat (PPSB) oder Fresh-frozen-Plasma und 4 Blutungen bei Hämophilie werden durch Substitution des
Vitamin K (30 mg/d). Welche der beiden Optionen die fehlenden Gerinnungsfaktors behandelt.
bessere ist, um schnell eine Normalisierung der INR zu er- 4 Plättchendysfunktion bei Leukämie oder aplastischer
zielen, wird zur Zeit in einer klinischen Studie (INCH) unter- Anämie wird durch Plättchentransfusion behandelt.
sucht. 4 Bei thrombotisch-thrombozytopenischer Purpura
4 Patienten mit heparinbedingten Blutungen erhalten behandelt man mit Fresh-frozen-Plasma, Immunsuppressiva
Protaminsulfat. 1 bis 1,5 ml Protaminsulfat inaktivieren und Kortison, manchmal auch mit Plasmaaustausch. Die The-
1.000 Einheiten des Heparins, das innerhalb der vergangen rapie ist besonders schwierig, da Thrombosen und Blutungen
4 h gegeben wurde. gemeinsam vorkommen.

wusstseinstrübung entwickeln und/oder im CT eine zuneh- Studie (STICH), zeigte erneut keine Überlegenheit der opera-
mende raumfordernde Wirkung mit Mittellinienverschiebung tiven Therapie bei unselektionierten Blutungspatienten. Aller-
nachzuweisen ist. dings beruhte die Studie auf dem umstrittenen sog. uncertain-
4 Die ultrafrühe Operation führt allerdings zu inakzeptablen ty principle, d.h. Patienten wurden nur dann eingeschlossen,
Raten an Nachblutungen. wenn sich die behandelnden Ärzte über die weitere Versor-
4 Solitäre Hirnstamm- und Thalamusblutungen werden in gung (OP oder nicht) unsicher waren.
der Regel nicht operiert. Die Entscheidung über operative oder konservative Thera-
pie treffen daher weiterhin Neurochirurgen und Neurologen
Obwohl ICB häufig sind, gibt es leider keine gesicherten pros- gemeinsam. Entscheidungshilfen sind Alter, Bewusstseinslage
pektiven Daten, die eine Überlegenheit der operativen Evaku- (keine Operation bei tiefem Koma) und Begleiterkrankungen
ation gegenüber der konservativen Behandlung beweisen. Die des Patienten, Größe und Lage der Blutung (7 Box) und der
bislang größte zu dieser Fragestellung veröffentlichte klinische mutmaßliche Wille des Patienten.

Exkurs
Operationsindikationen bei spontaner ICB
4 Hirnstamm- und Thalamusblutungen werden nur > 10). Ob unter ähnlichen (klinischen) Gesichtspunkten auch
operativ entfernt, wenn sie durch Kavernome bedingt sind. die Indikation zur OP einer Basalganglienblutung gestellt
4 Basalganglienblutungen. Eine Operation (Hämatom- werden sollten, bleibt eine individuelle Therapieentscheidung.
evakuation) sollte dann bei Patienten mit oberflächlich 4 Kleinhirnblutungen mit einem Durchmesser von mehr
gelegener (< 1 cm subkortikal) Lappenblutung, bisher ohne als 3–4 cm werden operativ entfernt. Kleinere Hämatome
begleitende Ventrikelblutung, in Erwägung gezogen werden, werden operiert, wenn Zeichen der Hirnstammbeeinträchti-
wenn eine klinische Verschlechterung beobachtet wird gung auftreten.
(ausgehend von einem GCS vor der Verschlechterung von
6.4 · Therapie
237 6

Leitlinien Behandlung intrazerebraler Blutungen*


4 Das primäre Ziel bei Verdacht auf eine ICB ist – nach dass der biologische Effekt auch zu einer Verbesserung des
Stabilisierung des Patienten – die Sicherung der Diagnose klinisch-funktionellen Ergebnisses führt. Die Therapie mit
durch zerebrale Computertomographie (CT) oder zerebrale rFVIIa führt zu einer Erhöhung arterieller thromboembolischer
Magnetresonanztomographie (MRT) (A). Ereignisse. Derzeit kann eine Therapie mit rFVIIa nicht empfoh-
4 Die CT und die multimodale MRT sind gleichwertige len werden (B).
Methoden zur Sicherung der Diagnose einer akuten ICB (A). 4 Bei ICBs, die im Zusammenhang mit der Einnahme von
4 Patienten, die komatös sind oder/und an einer Schluck- oralen Antikoagulanzien auftreten, sollte eine Normalisierung
störung mit Aspirationsgefahr leiden, sollen intubiert und der Gerinnung mittels PCC (Prothrombin-Komplex-Konzentrat)
maschinell beatmet werden (A). oder bei Vorliegen von Gegenanzeigenmit Gefrierfrischplasma
4 Eine Blutdrucksenkung sollte erfolgen, wenn im Ab- erfolgen (B).
stand von 15 min zwei Blutdruckmessungen Werte über 4 Bei erhöhtem intrakraniellem Druck soll die Therapie nach
180/105 mmHg (bei bekanntem Hypertonus) oder über den Richtlinien zur Behandlung des intrakraniellen Drucks
160/95 mmHg (bei nicht bekannter Hypertonie) ergeben beim akuten Schlaganfall erfolgen (B).
haben (B). 4 Bei intraventrikulärer Ausdehnung der Blutung und Zei-
4 Die Hämatomausräumung ist keine gesicherte Therapie. chen einer Liquorabflussstörung sollte eine Ventrikeldrainage
Sie kann im individuellen Fall bei oberflächlich gelegenen angelegt werden (B).
Lappenblutungen ohne Ventrikeleinbruch in Erwägung 4 Bisher keine klaren Richtlinien, wann ein Patient mit einer
gezogen werden, wenn sich der klinische Zustand von initial intrakraniellen Blutung eine Hämatomevakuation erhalten soll.
nicht komatösen Patienten verschlechtert. Dabei sollte die 4 Prognostische Faktoren sind Größe der Blutung, ventriku-
Teilnahme an der STICHII-Studie erwogen werden. läre Blutungsbeteiligung, initialer GCS und hohes Alter (A).
4 Der hämostaseologische Effekt von rFVIIa bei spontanen
ICBs wurde in zwei randomisierten kontrollierten Studien * Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)
bestätigt. Allerdings konnte bisher nicht gezeigt werden,

Stereotaktische und endoskopische Blutungs- Die Langzeitprognose ist insgesamt als ungünstig anzuse-
entfernung hen. So leben nach 3 Jahren nur noch 35% der Patienten und
Manche Neurochirurgen sind überzeugt, dass der weniger von diesen nur die Hälfte ohne Behinderungen des täglichen
traumatische endoskopische Eingriff bei der Entfernung der Lebens, d.h. nur ca. 15–20% aller Blutungspatienten überleben
Blutung Vorteile hat, andere sind sicher, dass der dekompres- ohne wesentliche bleibende Behinderung.
sive Effekt einer Kraniotomie wichtig ist. Es gibt keine verläss-
lichen Studien, die den Vorteil der minimal invasiven Thera- ä Der Fall
pie belegen würden. Eine 85 Jahre alte Patientin wird aus dem Altenheim in die Klinik
gebracht. Ihre Betreuerin berichtet, dass die Patientin schon
mehrere Schlaganfälle gehabt habe, aber immer noch einigerma-
6.4.3 Rehabilitative Maßnahmen ßen selbständig gewesen sei. Am frühen Nachmittag habe man
sie bewusstlos auf dem Boden liegend aufgefunden. In der
Wesentlich sind Krankengymnastik, Logopädie, Ergotherapie nächsten halben Stunde sei sie etwas wacher geworden, habe
(7 Kap. 5.7.5) und die Behandlung der Risikofaktoren. Sie unter- 6
scheiden sich nicht von denen nach ischämischen Infarkten.

6.4.4 Prognose

Verglichen mit dem Hirninfarkt ist die Prognose der intraze-


rebralen Blutung schlechter. Die durchschnittliche Mortalität
der ICB liegt bei 30–50%, ist aber stark abhängig von Ausdeh-
nung und Lokalisation der Blutung und dem Alter des Patien-
ten. Je größer das Blutvolumen, desto schlechter ist die Prog-
nose (Grenzwerte bei supratentoriellen Hämatomen >50 ml
Volumen, bei infratentoriellen Hämatomen >20 ml Volumen).
Überschreitet die Blutmenge 100 ml, liegt die Mortalität bei
über 90%. Frühes Koma, zentral gelegene Blutungen
(Hirnstamm, Thalamus) und der Einbruch von Blut in das
Ventrikelsystem oder in den Subarachnoidalraum zeigen . Abb. 6.9. Computertomogramm einer typischen hypertensi-
ebenfalls eine ungünstige Prognose an. ven Basalganglienmassenblutung links
238 Kapitel 6 · Spontane intrazerebrale Blutungen

aber nicht sprechen können. Sie habe die rechte Körperhälfte der Puls ist arrhythmisch. Das EKG zeigt eine absolute Arrhyth-
deutlich weniger bewegt als die linke. Bei der neurologischen mie. Das CT (. Abb. 6.9) zeigt eine mittelgroße Basalganglien-
Untersuchung finden sich eine mittelgradige, am Arm hochgra- blutung links; außerdem finden sich multiple Lakunen und eine
dige Hemiparese rechts, eine Hemianopsie nach rechts und ein Demyelinisierung des Marklagers, d.h. Zeichen einer Mikroangio-
Status fokaler Anfälle mit ständigen Zuckungen des rechten pathie. Aufgrund des Alters und der zerebralen Vorschädigung
Arms. Die Patientin ist global aphasisch, nimmt keinen Kontakt wurde auf eine Operation verzichtet. Die Parese bildete sich nur
auf, wirkt dabei aber wach. Der Blutdruck beträgt 210/115 mmHg, wenig, die Aphasie deutlich zurück.

In Kürze

Spontane intrazerebrale Blutungen (ICB) Tetraplegie, Pupillenstörungen; Intraventrikuläre Blutung:


Gefahr des Stauungshydrozephalus; Multilokuläre Blutung:
Nicht traumatisch bedingte Blutungen in das Hirnparenchym. Bei Gerinnungsstörung, Sinusvenenthrombose.
6 Inzidenz: 15-20/100.000 Einwohner/Jahr, Ursache für 15%
aller Schlaganfälle. Diagnostik
Risikofaktoren: Hypertonie, Amyloidangiopathie und Ge-
fäßmissbildungen. CT: Darstellung der Blutungslage und -ausdehnung als Zone
Formen: Hypertensive (Massen-)Blutung in von perforieren- erhöhter Dichte. Größenzunahme innerhalb 24h: bis 40%;
den Hirnarterien versorgten Hirnabschnitten; Blutung bei MRT: Aufdeckung von Blutungen; Angiographie: Bei Verdacht
Amyloidangiopathie: durch Ablagerung von Amyloid in der auf früh operables Aneurysma, arteriovenöse Gefäßmissbil-
Media und Adventitia mittelgroßer Arterien im Kortex; Blu- dung, jüngeren Patienten, Patienten ohne Hochdruckanam-
tungen bei Gefäßmissbildungen: Blutungshäufigkeit abhän- nese; Labordiagnostik: Gerinnungsanalyse.
gig von Größe, Lage und Drainage der arteriovenösen Miss-
bildung; Antikoagulanzien und Thrombolytika: harmlose Therapie
hämorrhagische Infarzierung oder ausgedehnte parenchy-
matöse Hämorrhagie. Konservative Therapie: Behandlung der Blutungsausdeh-
nung: Senkung der Nachblutungsrate; Ventikeldrainage und
Symptome der intrazerebralen Blutungen intraventrikuläre Lyse; Allgemeine Intensivtherapie wie künst-
liche Beatmung, Behandlung des erhöhten intrazerebralen
Abhängig von Blutungslokalisation und -ausdehnung, ab- Druckes, Senkung des Blutdruckes.
rupter oder langsamer Beginn. Lobärblutung: Hochgradige Chirurgische Therapie: Entfernung intrazerebraler Blutmasse
Hemiparese, Aphasie, Sensibilitätsstörungen, fokale Anfälle durch offene Evakuation oder stereotaktische und endosko-
bei Patienten > 65 J.; Basalganglienblutung: Kopfschmerz, pische Blutungsentfernung. Abhängig u.a. von Bewusstseins-
Erbrechen als Initialsymptome, Koma, Herniation, Hirntod lage, Blutungsgröße und -lage, Alter.
bei großen Blutungen; Thalamusblutung: Hemiparese, Rehabilitative Maßnahmen: Krankengymnastik, Logopädie,
kontralaterale Sensibilitäts- und Bewusstseinsstörung; Klein- Ergotherapie.
hirnblutung: Ataxie, Schwindel, Nystagmus, Bewusstlosig- Prognose: Mortalität: 30-50%, abhängig von Alter, Blutungs-
keit; Hirnstammblutung: Koma, Streck-, Beugesynergien, ausdehnung, -lokalisation
7

7 Hirnvenen- und -sinusthrombosen


7.1 Epidemiologie und Prognose – 240

7.2 Anatomie und Pathophysiologie – 241

7.3 Ätiologie – 241


7.3.1 Aseptische Sinusthrombosen – 241
7.3.2 Septische Sinusthrombosen – 242

7.4 Diagnostik – 242


7.4.1 CT-Diagnostik – 242
7.4.2 MRT-Diagnostik – 242
7.4.3 Digitale Subtraktionsangiographie – 244
7.4.4 Andere diagnostische Maßnahmen – 244

7.5 Symptome – 244


7.5.1 Sinus-sagittalis-superior-Thrombose – 244
7.5.2 Sinus-transversus-Thrombose – 245
7.5.3 Sinus-cavernosus-Thrombose – 245
7.5.4 Thrombose der inneren Hirnvenen – 245
7.5.5 Thrombose einzelner Brückenvenen – 245

7.6 Therapie – 245


7.6.1 Konservative Therapie – 245
7.6.2 Operative Therapie – 246

7.7 Pseudotumor cerebri (unspezifische intrazerebrale Druckerhöhung) – 246


240 Kapitel 7 · Hirnvenen- und -sinusthrombosen

ä Der Fall
. Tabelle 7.1. Ätiologie der Sinus- und Hirnvenenthrombosen
Eine etwa 30-jährige Frau wird in die Notaufnahme gebracht,
weil sie seit einigen Tagen unter zunehmenden Kopfschmerzen Septische Aseptische
leidet. Die Kopfschmerzen hätten über die letzten Tage massiv Sinusthrombosen Sinusthrombosen
zugenommen. Sie sei müde, antriebsarm und phlegmatisch Lokale HNO-Infektionen Hormonell:
geworden. In der vergangenen Nacht haben sich dann unwillkür- – peripartal (20% der Frauen mit
liche, zuckende Bewegungen im linken Arm eingestellt, der SVT)
seither nicht mehr richtig bewegt werden könne. Bei der neuro- – Orale Kontrazeptiva
– Gestagentherapie, Steroide
logischen Untersuchung ist die Patientin apathisch, deutlich
schmerzgeplagt und hat eine mittelgradige schlaff wirkende Lokale, intrakraniale Maligne Tumoren
Parese des linken Arms. Die Pyramidenbahnzeichen sind beid- Abszesse oder Empyeme
seits positiv, es liegen Stauungspapillen vor. Die Patientin wurde Meningitis Bluterkrankungen
vor zwei Wochen von einem gesunden Kind entbunden.
Sepsis Polyzythämie
Posttraumatisch Thrombozythämie
> > Einleitung Postoperativ Leukämie

7 Eine hoch gefährliche neurologische Komplikation am Ende der


Endokarditis Koagulopathien
– AT3-Mangel
Schwangerschaft und im Wochenbett ist die aseptische Hirn- – APC-Resistenz/F.-V-Mangel
sinus- und Hirnvenenthrombose. Hierbei kommt es zum Ver- – Prothrombin-Genmutation
schluss einzelner zerebraler Venen oder zerebraler Sinus. In (G20210A)
besonders schweren und prognostisch ungünstigen Fällen – Antiphospholpid-Antikörpersyn-
können sämtliche Sinus thrombosiert sein. Bei den Venen- drom
– Protein-C-Mangel
thrombosen ist der Abfluss des Blutes aus dem Gehirn behindert:
– Protein-S-Mangel
Kopfschmerzen, Verlangsamung und Bewusstseinstrübung
durch zunehmenden Hirndruck sowie neurologische Herd- Disseminierte, intravasale Gerinnung
symptome und epileptische Anfälle durch fokales Hirnödem (DIC)
oder Stauungsblutungen sind die Folge. Fokal beginnende, Heparininduzierte Thrombozyto-
generalisierte Anfälle sind besonders häufig. Zu spät behandelt, penie
kann der Hirndruck unkontrollierbar hoch werden, sodass die Behandlung mit Erythropoetin
Patienten versterben.
Dehydratation
Die Sinus- und Hirnvenenthrombose (SVT) betrifft entweder
die intrazerebralen Venen, die großen venösen Blutleiter in den Marasmus
Hirnhäuten (Sinus) oder beide Gefäßabschnitte. Thrombosen der Lokale Thrombose der V. jugularis
duralen Sinus und der zerebralen (Brücken-)Venen treten häufig interna
gemeinsam auf. Medikamente (Steroide, Anabolika,
Chemotherapeutika)

7.1 Epidemiologie und Prognose M.Behcet, Sarkoidose

Aus ätiologischen Gründen ist es sinnvoll, zwischen septischen


und aseptischen Sinusthrombosen (. Tabelle 7.1) zu unter- cavernosus in ca 3%. Unsicher ist, wie häufig isolierte korti-
scheiden. Die exakte Häufigkeit von SVT ist unbekannt. Früher kale Venen thrombosieren. Man hat den Eindruck, das diese
nahm man an, dass solche venösen Thrombosen sehr selten Fälle deutlich zunehmen, wahrscheinlich aber im wesentlichen
seien. Heute schätzt man, dass etwa 1–2% aller Schlaganfall- wegen der verbesserten Diagnostik. Die Mortalität liegt unbe-
patienten unter venösen Durchblutungsstörungen leiden. handelt zwischen 5 und 10%, behandelt bei etwa 5%. Über drei
Man schätzt, dass pro Jahr etwa 3–5 Neuerkrankungen/1 Mio. Viertel der Patienten erholen sich vollständig. An bleibenden
Einwohner auftreten. Diese Zahl ist allerdings unsicher, da Symptomen leiden etwa 10% unter persistierenden Kopf-
sie vermutlich nur die sehr schweren Sinusthrombosen er- schmerzen, 5% behalten eine symptomatische Epilepsie und in
fasst. Frauen sind im Verhältnis 3:1 häufiger als Männer von unter 2% der Fälle kommt es zu einem Rezidiv. Etwa 20% der
Sinus- und Hirnvenenthrombosen betroffen. Das mittlere Patienten müssen intensivmedizinisch behandelt werden. Die
Erkrankungsalter ist geringer als bei arteriellen Ischämien, Prognose ist relativ günstig: Etwa 80% der Patienten überleben
zwischen 35–40 Jahren, vermutlich durch den höheren Anteil mit wenigen oder keinen Folgen. Die Prognose ist weniger
von Frauen im gebärfähigen Alter. Am häufigsten thrombo- günstig:
sieren der Sinus sagittalis superiror und ein Sinus transversus, 4 bei älteren Patienten,
die jeweils in drei Vierteln der Fälle mitbetroffen und in etwa 4 Männern,
10–15% isoliert verschlossen sind. Sinus rectus und die inneren 4 bei der Thrombose der inneren Hirnvenen und
Hirnvenen sind in etwa 10% thrombosiert, und der Sinus 4 wenn es zu Stauungsblutungen gekommen ist.
7.3 · Ätiologie
241 7
. Abb. 7.1. Sinusthrombose. (a) MRA T1 mit
Kontrastmittel zeigt ausgedehnte thrombo-
tische Veränderungen im Sinus sagitalis superi-
or, im Confluence sinuum und im Sinus rectus.
(b) ausgedehnte bilaterale Stauungsinfarkte im
MRT (flair)

a b

7.2 Anatomie und Pathophysiologie 7.3 Ätiologie

3Anatomie. Die Anatomie der duralen Sinus und der Hirn- Sinusthrombosen haben ein breites ätiologisches Spektrum. Aus
venen ist in . Abbildung 7.1 dargestellt. Die zerebralen Venen grundsätzlichen Erwägungen ist es sinnvoll zwischen sep-
drainieren in die duralen Sinus. Man unterscheidet oberfläch- tischen und aseptischen Sinusthrombosen zu unterscheiden.
liche und tiefe zerebrale Venen. Die zerebralen Venen haben Aseptische Sinusthrombosen sind viel häufiger aufgeführt.
keine Venenklappen und bilden ausgedehnte Anastomosen- Nicht selten findet man keine spezielle Ursache. Von besonde-
netze. Die Blockade in einem oder mehreren Gefäßen kann rer Bedeutung sind hormonelle Faktoren bei Frauen. Etwa 75%
durch Kollateralen kompensiert werden. Dabei kommt es zum aller Frauen mit SVT bekommen diese während oder nach der
retrograden Fluss in anderen Gefäßen und zur Drainage des Schwangerschaft, unter Einnahme von oralen Kontrazeptiva
venösen Blutes über frontobasale venöse Kanäle (Emissarien). oder bei Gestagentherapie.
Die venösen Territorien sind aufgrund der ausgiebigen Kolla- Septische Sinusthrombosen sind heute selten. Sie entste-
teralisierung viel variabler als die Territorien im arteriellen hen meist durch Übergreifen eitriger Prozesse der Nebenhöh-
System. len, der Siebbeinzellen, des Gesichts oder bei Otitis und Mas-
toiditis auf die Venen- oder Sinuswand. Die Erreger gelangen
3Pathophysiologie. Die Blockade des venösen Abflusses entweder über die zuleitenden kleinen Venen in die Sinus oder
durch die Thrombose führt zu einer umschriebenen Ver- die Eiterung bricht durch die Knochenwand in den benachbar-
mehrung des lokalen Blutvolumens, Behinderung des Blut- ten Sinus ein. Dabei entsteht auch eine umschriebene oder
abflusses und einer Erhöhung des intrakapillären Drucks mit generalisierte Meningitis (7 Kap. 18). In den betroffenen Sinus
lokalem Austritt von Blut in das Hirngewebe. Solche Stauungs- kommt es zunächst zu einer wandständigen, später zu einer
blutungen finden sich v.a. in den Territorien der Brücken- obliterierenden Thrombose.
venen. Letztendlich resultiert trotz Vermehrung des Blutvo-
lumens eine Ischämie. Am häufigsten ist der Sinus sagittalis
superior von einer Thrombose betroffen. Es kann rasch eine 7.3.1 Aseptische Sinusthrombosen
generalisierte Hirndrucksteigerung entstehen, bei der fokale
neurologische Syndrome oft fehlen; mit generalisierter, glo- Die häufigsten Ursachen sind in . Tabelle 7.1 aufgeführt. Nicht
baler, ischämischer Schädigung und schließlich Einklemmung selten findet man keine spezielle Ursache. Auch die Schwan-
des Hirnstamms im Tentoriumschlitz führen. gerschafts- und Wochenbett-SVT gehören hierzu.
Während die ischämischen Mechanismen auf zellulärer Unter rekombinantem Erythropoetin, das bei chroni-
Ebene vermutlich denen bei der arteriellen zerebralen Ischä- scher Dialyse gegeben wird, sind Sinusthrombosen beschrieben
mie vergleichbar sind – wenn auch die Infarktschwelle erst viel worden. Anders als bei arteriellen Schlaganfällen findet sich bei
später unterschritten wird – ist die Ödementwicklung bei Ve- mindestens 30% der Fälle eine genetische Thrombophilie: am
nenthrombosen anders als bei arteriellen Ischämien. Das Prob- häufigsten sind die APC-Resistenz durch FV-Leiden und die
lem ist hier nicht die zytotoxische Ödementwicklung in einem Prothrombin-Genmutation G20210A; seltener, aber besonders
minderperfundierten Areal, sondern die vasogene Ödement- schwerwiegend ist ein hereditärer Mangel an ATIII oder der
wicklung in einem hyperämisch abflussgestörten Areal. antikoagulatorischen Proteine C und S. Auch bei Malignomen,
Exsikkose oder Polyzythämie und Thrombozytose treten
Sinusthrombosen gehäuft auf. Bei türkischstämmigen Patien-
ten soll der Morbus Behçet, eine ätiologisch unklare Autoim-
munerkrankung mit charakteristischen oralen und genitalen
Aphthen, die häufigste Ursache von SVT sein.
242 Kapitel 7 · Hirnvenen- und -sinusthrombosen

Facharzt
Faktor-V (Leiden)-Mangel/APC-Resistenz
Dies ist bei Weißen die häufigste angeborene thrombophile 4 homozygote, auch noch asymptomatische Menschen:
Diathese. Sie kommt bei geschätzt 4–15% der Bevölkerung orale Antikoagulation lebenslang, INR 2–3.
vor. Die Mutation verzögert die Inaktivierung von Gerinnungs-
faktor V (Leiden). Im Klinikjargon wird dann gerne vom »Fak- Ebenfalls relativ häufig ist die Prothrombingen-Mutation. Eine
tor V-Leiden« gesprochen (als wäre damit die Faktor V Krank- Punktmutation erhöht die Aktivität von Prothrombin. Sie
heit gemeint, »Leiden« heißt aber der Faktor nach dem Ort kommt in Mitteleuropa bei etwa 2, in Südeuropa bei etwa
seiner Entdeckung). Etwa 20% der Patienten mit Thrombosen 5% der Bevölkerung vor. Das Thromboserisiko ist etwa verdrei-
sind entweder hetero- oder homozygot für diese Mutante. facht. Nach thrombotischen Ereignissen auch hier Antikoagu-
Bei Heterozygotie gibt es ein etwa 5-fach erhöhtes Thrombo- lation für 6–12 Monate.
se-Risiko, bei Homozygotie ist das Thromboserisiko 80-fach Die Frage, ob auch die Hyperhomocysteinämie für er-
erhöht. Entsprechend sieht die Prophylaxe wie folgt aus: höhte Thromboseneigung verantwortlich ist, ist nicht befriedi-
4 heterozygote Patienten nach thrombotischem Ereignis: gend beantwortet.
Orale Antikoagulation für 6–12 Monate,

7
7.3.2 Septische Sinusthrombosen 7.4.1 CT-Diagnostik

3Septische Thrombose des Sinus transversus Die CT-Angiographie erlaubt eine sichere Darstellung der
Am häufigsten ist die septische Thrombose des Sinus trans- großen venösen Blutleiter und wird von uns noch oft vor der
versus, der im okzipitalen Ansatz des Tentorium cerebelli ver- MR-Angiographie (s.u.) durchgeführt; es sei denn, es liegt eine
läuft und sich von der Kante der Felsenbeinpyramide als Sinus Schwangerschaft vor. Fehlende Flussartefakte und kürzere
sigmoideus zum Foramen jugulare und in die V. jugularis fort- Messzeiten sowie die breitere Verfügbarkeit und bei modernen
setzt. Diese Thrombosen gehen vom Mastoid und der Pauken- Geräten die bessere Auflösung kleiner Gefäße sprechen für die
höhle aus. CTA. Ein normales natives Computertomogramm schließt
eine SVT nicht aus (man findet in etwa 20% Normalbefunde!).
3Septische Thrombose des Sinus cavernosus Es gibt keine »beweisenden« computertomographischen Be-
Der Sinus cavernosus nimmt die Venen der Augenhöhlen auf, funde. Die Untersuchung sollte immer nativ und anschließend
die mit den Gesichtsvenen über die V. angularis in Verbindung mit Kontrastmittel durchgeführt werden. Wenn der Verdacht
stehen. Nach hinten kommuniziert er mit den Sinus petrosus auf eine septische Sinusthrombose besteht, müssen die Nasen-
superficialis und inferior, die auf dem oberen und unteren nebenhöhlen und die Felsenbeine in Knochentechnik mit dar-
Rand des Felsenbeins verlaufen. Die anatomischen Bezie- gestellt werden.
hungen erklären die häufige Beteiligung des Sinus cavernosus Oft findet man im CT Zeichen einer fokalen oder globalen
bei Eiterungen in den Nasennebenhöhlen, der Orbita und im Hirnschwellung. Allerdings ist dies bei der großen Variations-
Gesicht (Oberlippenfurunkel). Sehr charakteristisch ist eine breite der Rindenfurchenzeichnung bei Patienten im mittleren
einseitige Protrusio bulbi mit Bewegungseinschränkung des Lebensalter schwierig nachzuweisen.. Die Diagnose wird leich-
Auges. Meist sind die Netzhautvenen gestaut. Eine Ausbrei- ter, wenn einzelne oder multiple intrazerebrale und intrakra-
tung in das Schädelinnere mit nachfolgender Abszessbildung nielle Blutungen, eine diffuse oder lokalisierte Hirnschwellung
ist über vordere Hirnvenen möglich. Das Erregerspektrum mit Ödem der weißen Substanz, Hypodensitäten im Gebiet
umfasst die üblichen Erreger von Infektionen auf HNO-ärzt- venöser Territorien oder ein Thrombosesignal im Sinus sagit-
lichem Gebiet. Das diese septische Thrombose bei banalen talis superior oder Confluens sinuum gesehen werden.
»Pickeln« an der Nase oder der Oberlippe und deren Manipu- Das »Delta-Zeichen« nach Kontrastmittelgabe im Sinus
lation (»Ausdrücken«) häufig sei, ist eher ein Gerücht. Sie sagittalis superior oder im Confluens sinuum gilt als relativ
kommt vor, aber dann sind auch andere Faktoren (Immun- typisch, ist aber nicht konstant nachweisbar (hohe Spezifität,
schwäche, Diabetes, atypische Keime, ausgedehnte Furunkel) niedrige Sensitivität): Der Sinus ist nicht mit kontrastmittelhal-
erforderlich. tigem Blut gefüllt, statt dessen sieht man gelegentlich eine Kon-
trastmittelanreicherung am Rand des Sinus (. Abb. 7.2), die
dem griechischen Δ ähnelt. Das Cord-Zeichen ist der Nach-
7.4 Diagnostik weis thrombosierter kortikaler Venen.

Methode der der Wahl ist die CT mit CT-Angiographie oder


– insbesondere bei Schwangeren – die MRT mit MR-Angio- 7.4.2 MRT-Diagnostik
graphie.
Die MRT mit T1- und T2-gewichteten Bildern und eine MR-
Angiographie ist eine relativ schnelle und sichere Methode des
7.4 · Diagnostik
243 7

a b

. Abb. 7.2. a Ausgedehnte Thrombose des Sinus sagittalis supe- Thrombusmaterial, das infolge der Kontrastverstärkung der Sinuswän-
rior. a Sinusthormbose im Nativ-CT: Stark hyperdenser Sinus sagittalis de wie kontrastmittelumflossen wirkt (Pfeil). Aufgrund der charakteris-
superior sowie innere Hirnvenen (über 70 Hounsfield-Einheiten) als tischen Form wird dieser Befund auch als »Delta-Zeichen« bezeichnet,
Ausdruck eines frischen Thrombus in den venösen Blutleitern, b Der er kommt in ähnlicher Weise auch im CT vor (koronare MRT, T1-ge-
Sinus sagittalis superior und der linke Sinus transversus enthalten wichtete Darstellung mit paramagnetischer Kontrastverstärkung)

. Abb. 7.3. Ausgedehnte Sinusthrom-


bose. Thrombose des S. sigmoideus li. mit
fehlender Kontrastmittelfüllung des li. S. sig-
moideus (a) sowie fehlendem Flusssignal in
der venösen MR-Angiographie (b). Ausge-
dehnte Thrombose des S. sagittalis superior
mit umflossenem Thrombus (c), sog. Empty-
Triangle-Zeichen. Im T2-gew. sagittalen Bild
(d) stellt sich der frische Thrombus hyperin-
tens dar

a b

c d
244 Kapitel 7 · Hirnvenen- und -sinusthrombosen

SVT-Nachweises. Die MR-Darstellung bietet den anatomi- 7.5 Symptome


schen Nachweis der beim CT beschriebenen Veränderungen
mit noch größerer Detailtreue und Auflösung, zusätzlich er- Wir besprechen die Symptome der aseptischen Sinusthrombo-
laubt sie den Nachweis eines hyperintensen Thrombosesignals sen in Abhängigkeit von ihrer Lokalisation.
im T1-gewichteten Bild (. Abb. 7.3).
Eine MR-Angiographie bietet gleich gute Informationen
wie die CTA und die digitale Subtraktionsangiographie (DSA). 7.5.1 Sinus-sagittalis-superior-Thrombose
Die Darstellung der Sinus und der Hirnvenen in der MRA ist
exzellent (. Abb. 7.1). Nur die Auflösung für die kleinen Ge- 3Symptomatik
fäße ist noch nicht so genau wie in der DSA. 4 Kopfschmerzen: Kopfschmerzen sind das führende Symp-
tom bei etwa 90% der Patienten.
4 Epileptische Anfälle: Da die venöse Abflussbehinderung
7.4.3 Digitale Subtraktionsangiographie mehr die Rinde als das Mark betrifft, sind fokale oder genera-
lisierte Anfälle bei einem Drittel der Patienten das erste Symp-
Die digitale Subtraktionsangiographie (DSA) mit langen Se- tom. Die fokalen Anfälle sind häufig von einer langandau-
rien zur Darstellung des Phlebogramms zeigt den Ausfall der ernden postiktalen Parese (Todd-Parese; 7 Kap. 14) gefolgt.
Füllung von Venen oder Sinus, korkenzieherartige Umge- 4 Neurologische Herdsymptome: Fokale neurologische
7 hungskreisläufe bei Verschlüssen oberflächlicher zerebraler Symptome sind meist die Folge einer lokalen Abflussbehinde-
Venen und eine verzögerte venöse Drainage. Die DSA wird rung mit umschriebenem Ödem oder Einblutung. Unter diesen
heute seltener durchgeführt, da mit CTA und MRT die Diag- stehen Lähmungen an erster Stelle, die oft als kortikale Mono-
nose praktisch immer möglich ist. parese beginnen und sich erst im weiteren Verlauf zur Hemipa-
Schwierigkeiten ergeben sich bei allen angiographischen rese ausweiten. Nahezu alle neurologischen Herdsymptome,
Methoden in der Beurteilung des vorderen Anteils des Sinus auch Hemihypästhesie, Aphasie, Apraxie, Hemianopsie oder
sagittalis superior, der oft nicht vollständig angelegt ist, und bei Ataxie, und auch psychoorganische Störungen, wie Apathie,
angeborenen Asymmetrien der Sinus transversus. Manchmal Antriebsmangel, Wesensänderung, Verwirrtheit und zuneh-
ist nur ein Sinus transversus angelegt. Dies lässt sich aber auf mende Bewusstseinsstörung, können auftreten. Meist kommt
konventionellen Röntgenaufnahmen des Schädels erkennen, es zur Stauungspapille. Auch Nackensteifigkeit ist nicht selten.
in denen dann die knöcherne Impression des Sinus transversus 4 Bewusstseinsstörung: Allgemeinsymptome, wie Verwirrt-
fehlt. Auch die hohe Aufteilung des Sinus sagittalis superior heit, Verlangsamung, Schläfrigkeit und Antriebsmangel Aus-
oder große Pacchionische Granulationen können diagnosti- druck der diffusen Hirnschwellung sind. Neurologische Herd-
sche Fehleinschätzungen begründen. symptome entwickeln sich innerhalb von Stunden bis Tagen.

3Verlauf und Prognose. Nur etwa ein Drittel der Patienten


7.4.4 Andere diagnostische Maßnahmen berichtet über einen schlagartigen Beginn der Symptome,
meist mit Kopfschmerzen oder einem fokalen Anfall. Häufiger
Das EEG ist oft verlangsamt und kann fokale Krampfaktivität ist ein schleichender Beginn mit gradueller Zunahme der Be-
zeigen. Ultraschalldiagnostik führt zur Zeit noch nicht weiter. schwerden. Die Möglichkeit der Restitution der Symptome ist
Labordiagnostisch erstellt man einen Gerinnungsstatus besser als bei zerebralen, arteriellen Ischämien. Selbst sehr
(PTT, Quick, Thombinzeit, Fibrinogen, Thrombozyten, Fak- schwere neurologische Defizite können sich erstaunlich gut
tor-V-Leiden-Mutation, Anti-Phospholipid-Antikörper, Pro- zurückbilden. Der Schweregrad der klinischen Symptome
thrombinmutation G 20210A, Antithrombin 3, Protein C und kann von mäßigen Kopfschmerzen mit leichten Sehstörun-
S, Faktor VIII) und sucht nach Hinweisen auf eine Polyglobu- gen und minimalen neurologischen Herdsymptomen über
lie, eine Thrombozytose oder eine Leukose. D-Dimere können schwerste Kopfschmerzen, erhebliche Beeinträchtigung von
bei ausgedehnten Sinusthrombosen erhöht sein. Wenn neuro- Antrieb und Konzentration, uni- und bilateralen neurologi-
logische Herdsymptome vorliegen, ist in über 90% mit einer schen Herdsymptomen, epileptischen Anfällen, Bewusstseins-
Erhöhung der D-Dimere auf Werte über 500 ng/ml zu rechnen. störungen bis hin zum Koma reichen.
Bei monosymptomatischen (Kopfschmerzen) SVTs sind die
> Eine relativ typische Kombination von Symptomen,
D-Dimere dagegen häufig nicht erhöht.
die unbedingt den Verdacht auf eine
Bei einem Vaskulitisverdacht untersucht man CRP, ANA,
Sinusvenenthrombose richten sollte, ist:
ds-DNA, Lupusantikoagulanz, zirkulierende Immunkom-
4 zunehmende Kopfschmerzen,
plexe, p- und c-ANCA, Kryoglobuline, Komplement C 3
4 fokale epileptische Anfälle und
und 4, SSA und SSB. Der Liquor ist wenig hilfreich: Der Li-
4 neurologische Allgemeinsymptome, wie An-
quor kann normal und das Eiweiß erhöht sein, manchmal
triebsarmut, Schläfrigkeit und Apathie.
findet man auch eine leichte Blutbeimengung im Liquor. Bei
septischer Sinusthrombose ist der Liquor entzündlich ver-
ändert.
7.6 · Therapie
245 7
7.5.2 Sinus-transversus-Thrombose fohlen. Ob Heparin bei der Behandlung der septischen Sinus-
venenthrombose sinnvoll ist, kann nicht mit Sicherheit gesagt
Diese kann mit Hirnstamm- und Kleinhirnsymptomen begin- werden. Wir setzen Heparin jedoch ein. So rasch wie möglich
nen, ist aber meist von der Thrombose des Sinus sagittalis su- soll der septische Herd saniert werden.
perior nicht zu unterscheiden. Manchmal entsteht sie retro-
grad nach Thrombose einer Vena jugularis externa oder durch Aseptische SVT
Ausbreitung einer Sinus sagittalis superior – oder einer Sinus 3Antikoagulation. Therapie der Wahl bei SVT ist die so-
rectus – mit Confluens-sinuum-Thrombose (s.u.). Bei Kin- fortige Antikoagulation mit Heparin i.v., das auch dann ge-
dern kommt eine aseptische Thrombose des Sinus transversus geben werden kann, wenn intrazerebrale Blutungen vorliegen.
in der Nachbarschaft eines entzündeten Felsenbeins vor. Hier- Man beginnt mit einem Bolus von 5000–7500 IE Heparin, ge-
bei handelt es sich also nicht um den Einbruch der Entzündung folgt von iv-Heparin dosisadjustiert mit Ziel PTT 60–80 s bzw.
in den Sinus, sondern um eine aseptische Begleitthrombose das Doppelte der Ausgangs-PTT. Bei AT-III-Mangel kann eine
ohne direkten Kontakt. sehr hohe Heparindosis notwendig werden, AT-III muss dann
substituiert werden. Diese Empfehlung basiert allerdings auf
einer nur sehr kleinen (2×10 Patienten) Studie, die insgesamt
7.5.3 Sinus-cavernosus-Thrombose methodisch sehr angegriffen wurde.
Bei milden Verlaufsformen kann auch eine Therapie mit
Sie ist nur selten aseptisch. Ein besonders starker, retroorbitaler niedermolekularen Heparinen erwogen werden. Eine prospek-
Kopfschmerz mit Ausfällen der durch den Sinus cavernosus tive, plazebokontrollierte Studie mit Nadroparin (90 anti-Xa
führenden okulomotorischen Hirnnerven und Schmerzen im U/kg 2-mal tgl.) zeigte einen günstigen Effekt auf den kli-
ersten Ast des N. trigeminus stehen klinisch im Vordergrund. nischen Verlauf.
Das Auge steht vor (Protrusio), und die Konjunktiven sind Letztendlich ist aber nicht endgültig bewiesen, dass die
massiv injiziert. Diese Symptome finden sich nicht selten dop- Heparinisierung im Einzelfall wirklich nötig ist. Meist wird
pelseitig. Bei nicht-septischer Cavernosusthrombose müssen man nach klinischer Besserung für eine gewisse Zeit, zum Bei-
eine arterio-venöse Fistel und eine retro-orbitale Raumforde- spiel ein halbes Jahr (arbiträre Zeitspanne, nicht durch Studien
rung ausgeschlossen werden. belegt, aber vielerorts so gehandhabt), auf eine orale Antiko-
agulation übergehen. Bei Gerinnungsstörungen kann eine le-
benslange Antikoagulation erforderlich werden.
7.5.4 Thrombose der inneren Hirnvenen
3Thrombolyse. In seltenen Fällen ist auch die lokale oder
Die Thrombose der inneren Hirnvenen (V. cerebri magna, systemische Thrombolyse versucht worden. Indikationen für
Vv. cerebri basales, Vv. cerebri internae) ist selten. Kopfschmer- die Lyse können Thromboserezidive, sehr ausgedehnte Pan-
zen, Apathie, Verwirrtheit, starke mnestische Störungen und, sinusthrombosen und Thrombosen der inneren Hirnvenen
bei Kompression des Aquädukts, Hydrozephalus mit zuneh- sei. Mit Lyse lassen sich die Thromben schneller rekanalisieren,
mender Bewusstseinstrübung sind die unspezifischen kli- aber auch die Blutungsgefahr ist höher. Als individueller Heil-
nischen Zeichen. Sie können das Bild eines Zwischenhirntu- versuch in verzweifelten Situationen ist die Lyse vertretbar.
mors oder einer Thalamusblutung imitieren. Die Prognose ist
viel ungünstiger als bei anderen Lokalisationen. 3Hirnödemtherapie. Das Ödem ist, anders als bei ischämi-
Die Thrombose der inneren Hirnvenen kann sich in den schen Infarkten, vasogen. Osmotherapie ist nicht wirksam,
Sinus rectus, den Confluens sinuum und die Sinus transversi und aus pathophysiologischen Überlegungen nicht sinnvoll, da
erstrecken. hierbei Flüssigkeit aus dem Gewebe mobilisiert werden und
über den venösen Abfluss aus dem Schädelinneren geschafft
werden soll. Dieser Schritt ist aber bei der Venenthrombose
7.5.5 Thrombose einzelner Brückenvenen behindert. Es kann daher zwar zur Mobilisierung von Flüssig-
keit aus dem Gewebe, aber nicht zum Abtransport kommen.
Die Symptome gleichen denen eines subakuten arteriellen In- Insofern kann eine Osmotherapie nicht wirksam sein. Eine
farkts. Alle denkbaren kortikalen Herdsymptome können vor- hypervolämische Therapie ist ebenfalls nicht erforderlich. Die
kommen. Anhebung des arteriellen Drucks ist weniger wichtig als die
Senkung des venösen Abflussdrucks.
Die anderen allgemeinen Maßnamen bei erhöhtem intra-
7.6 Therapie kraniellem Druck (7 Kap. 11.2) haben allerdings Gültigkeit.
Vermutlich sind Antikoagulation oder Thrombolyse der beste
7.6.1 Konservative Therapie hirndrucksenkende Ansatz, da er dafür sorgt, dass die venösen
Abflüsse frei werden und wichtige venöse Kollateralen offen
Septische SVT bleiben. Barbiturate können gegeben werden, da sie das zere-
Bei unbekanntem Erreger wird eine Kombinationstherapie brale Blutvolumen vermindern. Bei drohender Einklemmung
von einem Cephalosporin der 2. oder 3. Generation (z.B. 3- versucht man Dexamethason, 80–100 mg i.v., obwohl Steroide
mal 2 g Claforan®), mit einem Staphylokokkenpenicillin emp- prothrombotisch wirken.
246 Kapitel 7 · Hirnvenen- und -sinusthrombosen

Kopfschmerzen werden mit Paracetamol, Ibuprofen oder Frauen im jüngeren und mittleren Lebensalter oder in der
Opioiden behandelt. Patientinnen, die in der Schwangerschaft, Schwangerschaft auf. Die Patienten klagen über Kopfschmerzen,
im Wochenbett oder unter Einnahme von oralen Kontrazep- Brechreiz, Schwindel und verschwommenes Sehen. Man findet
tiva eine SVT hatten, sollten keine Hormontherapie mehr be- eine beidseitige Stauungspapille (bis zu 6 Dioptrien Prominenz),
kommen. Antiepileptische Therapie 7 Kap. 14. Symptoma- seltener eine Abduzenslähmung und keine weiteren neurolo-
tische Anfälle werden initial mit Valproinsäure oder Phenytoin gischen Symptome. Das Bewusstsein ist klar. Typisch ist eine
iv behandelt und anschließend auf eine orale Behandlung um- Hypophyseninsuffizienz mit mangelhafter Reaktion auf Hypo-
gestellt. Bei Anfallfreiheit kann die Behandlung nach 3–6 Mo- physenstimulation.
naten wieder eingestellt werden.
3Diagnostik. In CT und MRT erkennt man häufig erwei-
terte Optikusscheiden und eine leere Sella infolge einer lokalen
7.6.2 Operative Therapie Druckerhöhung (. Abb. 7.4). Die Ventrikel sind allerdings
meist nicht komprimiert, und auch die apikalen Liquorräume
Die operative Desobliteration des Sinus sagittalis superior ist in sind fast immer gut sichtbar. Das Gehirn wirkt demnach nicht
Einzelfällen beschrieben worden. In letzter Zeit wurde auch die geschwollen. Der Liquordruck ist auf Werte über 300 mm H2O
transvenöse Katheterisierung des Sinus transversus und des erhöht. Wenn man zum Ausschluss einer Sinusthrombose eine
Sinus sagittalis anterior mit lokaler Thrombolyse durchgeführt. Angiographie durchführt, ist der Befund meist normal. Manch-
7 Bei verbleibenden Stenosen sind auch schon Stents in den mal findet man umschriebene Stenosen in Blutleiter, speziell in
Sinus sagittalis sup. oder den Sinus transversus eingesetzt wor- den Sinus transversus. Daher wird das Syndrom in manchen
den. Bei jungen Patienten mit ganz ausgedehnter bilateraler Fällen als Minimalvariante einer venösen Abflussstörung ge-
Schwellung kann auch eine (bilaterale) Dekompressionsopera- sehen und deshalb hier besprochen. Allerdings muss man ein-
tion versucht werden. räumen, das die Pathophysiologie dieses Syndroms nicht gut
verstanden ist.
ä Der Fall: Fortsetzung Eine andere Ursache für die Hirndrucksteigerung kann
Nach Klinik und CT bestand bei der Patientin der dringende gesteigerte Liquorproduktion oder mangelhafte Resorption
Verdacht auf eine postpartale Sinusthrombose. Dieser Verdacht sein. Alle Patienten sollen endokrinologisch untersucht wer-
wurde mit MRT und MRA bestätigt. Die Patientin wurde auf die den. Regelmäßige Visuskontrollen sind angezeigt, da die Opti-
Intensivstation gebracht und sofort antikoaguliert. Die Kopf- kusschädigung zur Blindheit führen kann, besonders bei den
schmerzen besserten sich schnell, die Parese bildete sich rasch sehr selten betroffenen männlichen Patienten.
zurück. Die Patientin konnte auf die Normalstation verlegt wer-
den und verließ die Klinik beschwerdefrei nach 14 Tagen. Sie 3Therapie und Prognose. Allgemeine Prinzipien: Eine
wurde mit Marcumar nach Hause entlassen. Die Suche nach einer engmaschige opthalmologische Verlaufskontrolle ist wichtig,
Koagulopathie blieb negativ. da sonst irreversible Visusverluste drohen können. Für die
langfristige Prognose scheinen eher eine Normalisierung des
Körpergewichts als medikamentöse Maßnahmen erforderlich
7.7 Pseudotumor cerebri (unspezifische zu sein. Eingehende Patienteninformation und Diätberatung
intrazerebrale Druckerhöhung) sind daher essentiell.
Therapie der Kopfschmerzen bei Pseudotumor:
3Epidemiologie und Symptome. Es ist umstritten, ob der 4 Gewichtsabnahme,
Pseudotumor cerebri wirklich eine prognostisch günstige Vari- 4 Azetazolamid (Inhibition der Carboanhydrase mit ver-
ante der Sinusthrombosen ist. Er tritt meist bei übergewichtigen minderter Liquorproduktion),

Leitlinien Diagnostik und Therapie der Sinusthrombosen*


4 Die Diagnostik der Hirnvenen- und Sinusthrombose 4 Alternativ können auch niedermolekulare Heparine gege-
(SVT) erfolgt mit einem Schnittbildverfahren (Magnetreso- ben werden, wobei die Wirksamkeit aber wahrscheinlich gerin-
nanztomographie mit MR-Angiographie oder Computerto- ger ist (B).
mographie mit CT-Angiographie) (A). 4 Eine lokale Thrombolyse ist nur in Ausnahmefällen bei
4 Nach der Diagnosestellung muss eine detaillierte Suche Progredienz der klinischen Symptomatik unter ausreichender
nach der Ursache erfolgen (A). Antikoagulation indiziert (C).
4 In der Akutphase wird die SVT mit intravenös verab- 4 Eine dauerhafte orale Antikoagulation ist selten indiziert,
reichtem unfraktioniertem Heparin behandelt. Ziel: PTT 60– z.B. beim Vorliegen einer genetisch bedingten Thrombophilie
80 s, mindestens das Zweifache des Ausgangswertes für 10– (A).
14 Tage (A).
4 Nach der Akutbehandlung erfolgt für 3–6 Monate eine
orale Antikoagulation mit einem Ziel-INR von 2,5 (Bereich * Nach den Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.
2–3) (A). html)
7.7 · Pseudotumor cerebri (unspezifische intrazerebrale Druckerhöhung)
247 7

a b

. Abb. 7.4. MR-tomographische Zeichen des Pseudotumors a) sowie mit Liquor gefüllte weite Sella, in der die Hypophyse ausge-
cerebri. Erweiterte perioptische Liquorscheiden (koronares T2-w Bild, walzt am Hypophysenboden liegt (sagittales T1-w Bild, b)

4 Alternativ zu Diamox wird Topiramat (mit dem Nebenef- Die früher propagierte ophthalmologische Operation mit
fekt der Gewichtsreduktion) diskutiert. Schlitzung der Optikusscheiden wird heute bei uns nicht mehr
durchgeführt.
Therapie bei Visusminderung:
4 Diamox, > Der Pseudotumor cerebri ist eine häufig verkannte,
4 Regelmäßige LPs (<180 mmH2O Liquordruck anstreben, chronische und ätiologisch weitgehend unklare Er-
es besteht beim Pseudotumor keine Einklemmgefahr), krankung, bei der Kopfschmerzen und Sehstörungen
4 Bei schwerer, rasch progredienter Visusminderung: ggf. im Vordergrund stehen. Übergewichtige Frauen sind
lumboperitonealer Shunt. am häufigsten betroffen. Eine hormonelle Ursache
wird vermutet. Die gutartige Hirndrucksteigerung
Bei umschriebenen Stenosen einzelner Sinus kann auch eine kann durch Optikusschädigung zur Blindheit führen.
selektive transvenöse Platzierung eines Stents überlegt wer- Eine Verwandschaft mit Sinusthrombosen wird immer
den. wieder diskutiert.

In Kürze

Anatomie und Pathophysiologie Diagnostik

Sinus- und Hirnvenenthrombose (SVT) betrifft intrazerebrale CT: Darstellung der Nasennebenhöhlen und Felsenbeine, bei
Venen, große venöse Blutleiter in Hirnhäuten (Sinus) oder Verdacht auf septische Sinusthrombose; CTA: Darstellung
beide Gefäßabschnitte. Allgemein erhöhter intrakranieller großer venöser Bauleiter; MRT: Anatomischer Nachweis foka-
Druck bewirkt generalisierte, globale, ischämische Schädi- ler und globaler Hirnschwellung und hyperintensiven Throm-
gung und kritisch erhöhten intrakraniellen Druck. Mortalität: bosesignals; MRA: Darstellung von Sinus und Hirnvenen; DSA:
unbehandelt 5–10%. Insgesamt gute Prognose. Darstellung u.a. vom Füllungsausfall bei Venen und Sinus, von
verzögerter Drainage. D-Dimere bei ausgedehnten Thrombo-
Ätiologie sen erhöht.

Aseptische Sinusthrombosen bei hormonellen Verände- Symptome


rungen (Pille, Schwangerschaft)und bei Koagulopathien.
Septische Thrombosen (selten) bei lokalen bakteriellen Ent- Sinus-sagittalis-superior-Thrombose: Schleichende Abfolge
zündungen der Nebenhöhlen oder der Haut. U.a. Übergrei- von Kopfschmerzen, epileptischen Anfällen und neurolo-
fen eitriger Prozesse der Nebenhöhlen, des Gesichts, bei gischen Allgemeinsymptomen wie Antriebsarmut, Schläfrig-
Otitis und Mastoiditis auf Venen- oder Sinuswand. keit, Apathie; Sinus-transversus-Thrombose: Beginnt mit
6
248 Kapitel 7 · Hirnvenen- und -sinusthrombosen

Hirnstamm- und Kleinhirnsymptomen; Sinus-cavernosus- Pseudotumor cerebri


Thrombose: Starker, retroorbitaler Kopfschmerz mit Ausfäl-
len; Thrombose der inneren Hirnvenen: Kopfschmerzen, Gutartige, chronische intrazerebrale Druckerhöhung.
Apathie, Verwirrtheit, starke mnestische Störungen; Throm- Symptome: Kopfschmerzen, Brechreiz, Schwindel, ver-
bose einzelner Brückenvenen: Alle kortikalen Herdsymp- schwommenes Sehen, doppelseitige Stauungspapille, klares
tome möglich. Bewusstsein.
Diagnostik: CT und MRT: Darstellung der erweiterten Optikus-
Therapie scheiden und leeren Sella durch lokale Druckerhöhung.
Therapie: Wiederholte Lumbalpunktion, Diamox, subkutanes
Konservativ u.a. durch Antikoagulation mit Heparin, Throm- Heparin.
bolyse.

7
8

8 Gefäßfehlbildungen
8.1 Arteriovenöse Fehlbildungen – 250

8.2 Kavernome – 252

8.3 Arteriovenöse Fisteln – 255


8.3.1 Durale, arteriovenöse Fisteln – 255
8.3.2 Karotis-Sinus-cavernosus-Fistel – 256
250 Kapitel 8 · Gefäßfehlbildungen

ä Der Fall oder mehrere Zentralgefäße in den Gefäßnidus und drainieren


Ein 28 Jahre alter Mann hat seit dem Jugendalter immer wieder in die erweiterten Venen. Im Nidus sind Wandunregelmäßig-
sekundär generalisierte epileptische Anfälle, die mit rhythmi- keiten, Gefäßerweiterungen und -stenosen, thrombosierte An-
schen Zuckungen in der linken Hand beginnen. Diese sind mit teile mit Kalkeinlagerung und Fibrosen zu finden. Bei starkem
antiepileptischer Behandlung zwar weniger häufig geworden, arteriellen Shuntvolumen kann es zur Minderdurchblutung
haben jedoch nicht völlig aufgehört. In den letzten Monaten ist der benachbarten Hirnsubstanz kommen. Ausgedehnte Hirn-
ihm eine leichte Schwäche in der linken Hand aufgefallen, die ihn anteile können chronisch unterversorgt sein (Steal-Effekt). Es
etwas beim Arbeiten behindert. Er leidet unter häufigen, rechts- kommt zur (Rinden-) Atrophie und zu chronisch-progredien-
seitigen, migräneartigen Kopfschmerzen. Da man immer an- ten neurologischen Symptomen. Die Venen stehen unter ho-
genommen hat, dass die Anfälle auf eine perinatale Hirnschädi- hem Druck und führen arterielles Blut. Oft sind Venenerwei-
gung zurückzuführen seien, ist bislang noch kein Computer- terungen, venöse Aneurysmen und Stenosen zu finden.
tomogramm oder Magnetresonanztomogramm durchgeführt
worden. Auf Nachfragen berichtet der Patient, dass er schon seit 3Einteilung. Die Einteilung der Angiome erfolgt nach Lage,
vielen Jahren, ein leichtes pulssynchrones Geräusch im Schädel Größe und Zahl der versorgenden Arterien und nach der Art
höre. Er habe sich aber daran so gut gewöhnt, dass es ihn nicht der venösen Drainage. Details hierzu finden sich in Lehr-
mehr störe. Bei der neurologischen Untersuchung findet man büchern der Neuroradiologie und der Neurochirurgie. Die
eine ganz leichte, spastische Hemiparese auf der linken Seite. Einteilung hat Einfluss auf die Therapiemöglichkeiten. Etwa
80–90% aller Angiome liegen supratentoriell. AVM sind sehr
Vorbemerkung häufig in den Hirnlappen lokalisiert. Auch im Kleinhirn, der
8 In diesem Kapitel werden nicht nur die Gefäßfehlbildungen Insel und den Basalganglien können AVM vorkommen. Am
im engeren Sinne besprochen – nämlich die arteriovenösen häufigsten sind Äste der A. cerebri media an der Versorgung
Fehlbildungen, die Kavernome, die venösen Angiome und die beteiligt.
kapillären Teleangiektasien. Auch die arteriovenösen Fisteln, AVM können wenige Millimeter messen, in Extremfällen
die neurokutanen Phakomatosen mit Gefäßfehlbildungen und aber die ganze Hemisphäre durchsetzen (. Abb. 8.1a,b). Entspre-
Gefäßtumoren werden in diesem Kapitel behandelt. . Tabel- chend kann die Zahl der zuführenden Arterien von solitären,
le 8.1 gibt eine Übersicht über die Häufigkeit der zerebralen großen Mediaästen bis hin zu multiplen, zum Teil büschelartig
Gefäßfehlbildungen. aus einem Hauptgefäß entspringenden Zuflüssen variieren.
Die Blutungsneigung ist bei verschiedenen Angiomtypen
unterschiedlich: Generell haben AVM ein Blutungsrisiko von
8.1 Arteriovenöse Fehlbildungen 2–3% pro Jahr. Nach einer ersten Blutung verdoppelt sich das
jährliche Blutungsrisiko, falls keine Therapie erfolgt. Das Blu-
3Epidemiologie. Arteriovenöse Missbildungen (AVM) tungsrisiko ist unterschiedlich in Abhängigkeit von Angiom-
sind wichtige Formen der Gefäßfehlbildungen. AVM sind ins- größe und venöser Drainage: Kleine Angiome bluten etwas
gesamt selten (Inzidenz ca. 2 pro 100.000 Einwohner). Sie kön- häufiger, Angiome mit geringem Shuntvolumen, möglicher-
nen in jedem Lebensalter symptomatisch werden. Männer sind weise bedingt durch venöse Stenosen, bluten ebenfalls häufiger
etwas häufiger betroffen als Frauen. als solche mit einem hohen Shuntvolumen. Auch venöse An-
eurysmen prädisponieren zur Blutung.
3Pathologische Anatomie. Charakteristisch ist die direkte
Kommunikation zwischen Arterien und Venen ohne ein regu- 3Symptome
lär angelegtes Kapillarbett, die auf eine fetale Entwicklungsstö- 4 Blutungen verursachen bei der Mehrzahl der Patienten
rung innerhalb der ersten drei Gestationswochen zurückzu- (> 50%) die ersten Symptome eines Angioms. Die Blutungen
führen ist. Die erweiterten, zuführenden Arterien, im Englischen können in den Basalganglien und in den Hirnlappen liegen.
und im Klinikjargon als Feeder bezeichnet, münden über ein Meist liegen sie in Hirnregionen, die seltener von hyperten-
siven Blutungen betroffen werden. Erhöhter Blutdruck kann
zwar Angiome wachsen lassen, ist aber kein Risikofaktor für
. Tabelle 8.1. Häufigkeit von zerebralen Gefäßfehlbildungen eine akute Blutung.
4 Anfälle. Einfache und komplex partielle epileptische An-
Art Häufig- Blu- An- Ce- fälle, z.T. mit sekundärer Generalisierung, sind häufige Symp-
keit [%] tungen fälle phalgie
tome eines AVM.
Venöse Angiome ca. 60 (+) (+) ? 4 Kopfschmerzen sind häufig, besonders als migräneartige
Kapilläre ca. 15 (+) – – Kopfschmerzen, manchmal mit einer Aura.
Teleangiektasien
4 Fokale neurologische Ausfälle treten in Abhängigkeit von
Arteriovenöse ca. 15 +++ ++ +
der betroffenen Region auf.
Fehlbildungen
Kavernomea ca. 10 ++ + –
> Hirnblutungen, Kopfschmerzen und partielle Anfälle
a Seit Einführung der MRT werden asymptomatische Kavernome
sind die häufigsten Erstsymptome von AVMs. Hirn-
immer häufiger diagnostiziert. Die Schätzung von 10% ist vermut-
blutungen bei jüngeren Patienten müssen an AVM
lich zu niedrig.
denken lassen.
8.1 · Arteriovenöse Fehlbildungen
251 8
. Abb. 8.1a,b. a Kleines, arteriovenöses
Angiom mit unregelmäßig geformten,
zum Teil seenartig ausgeweiteten Gefäß-
anteilen. b arteriovenöses Angiom der
Stammganglien mit zentraler venöser
Drainage (T2-Sequenz)

a b

3Diagnostik gestellt werden: Man findet eine Zunahme des Blutflusses über
4 CT: Kleinere Angiome sind schon im Nativ-CT erkennbar, der Karotis oder der MCA, gegebenenfalls auch über anderen
wenn Verkalkung, fokale Atrophie oder kaliberstarke, leicht Arterien.
hyperdense, atypisch gelegene Gefäßstrukturen gefunden wer-
den. Nach Kontrastmittelgabe kommen die erweiterten Blut- 3Therapie. Therapeutisch sind die mikrochirurgische
gefäße als band- oder girlandenförmige hyperdense Strukturen Angiomexstirpation, die transvaskuläre Embolisierung und
zur Darstellung. Das CT ist besonders empfindlich für den die stereotaktische Bestrahlung der AVM möglich. Diese Me-
Nachweis von Verkalkungen in der Umgebung des Angioms. thoden können auch in Kombination eingesetzt werden.
4 MRT: In der MRT stellt sich die AVM als Areal überwie- 4 Mikrochirurgische Operationen: Für die Operationen
gend signalleerer, punktförmiger oder tubulärer Strukturen geben die Größe, Lage, Anzahl der Feeder, Shuntvolumen,
dar. Mit der MRT ist noch besser als mit der CT die exakte venöse Drainage und Funktionalität des umgebenden Hirn-
Lagebeziehung der Gefäßkonvolute zum Hirnparenchym und parenchyms (Eloquenz) eine sehr differenzierte Indikations-
zu den umgebenden Liquorräumen erkennbar. Neben der lo- stellung. In mikrochirurgischer Operationstechnik werden
kalen Atrophie können kernspintomographisch auch eine Gli- alle zuführenden Gefäße unterbunden, und die Gefäßfehlbil-
ose im umgebenden Hirnparenchym sowie die Folgen voran- dung wird entfernt. Zu Operationsindikationen und -limita-
gegangener Einblutungen durch entsprechende Signalabwei- tionen s. Lehrbücher der Neurochirurgie. Da das Behand-
chungen zuverlässig nachgewiesen werden. lungsrisiko der operativen Behandlung wesentlich von dem
4 Angiographie: Die MR- und die CT-Angiographie geben Nidusdurchmesser und der Art der Venendrainage bestimmt
eine erste Orientierung über den Aufbau der AVM. Die digi- wird, ist das Einteilungsverfahren nach Spetzler und Martin
tale Subtraktionsangiographie zeigt die zuführenden Gefäße, (chirurgischer Prognoseindex) hilfreich (. Tab. 8.2). Große
den Angiomnidus und die Anatomie der abführenden Gefäße AVM und solche mit tiefer Venendrainage haben ein hohes
(. Abb. 8.2). Sie ermöglicht auch eine Abschätzung des Shunt- operatives Risiko. Je höher die Punktezahl (1–5), desto höher
volumens. das Operationsrisiko.
4 Dopplersonographie: Mit transkranieller und extrakrani- 4 Embolisierung: Größere, ernährende Gefäße können
eller Dopplersonographie kann der Verdacht auf eine AVM durch präoperative Embolisierung neuroradiologisch ver-

Exkurs
Bestrahlung von AVM
Die Bestrahlung führt zu einer Schädigung des Gefäßendo- Stereotaktische Bestrahlung. Inoperable, tief oder in der
thels und einer konsekutiven, über Monate bis Jahre erfol- Mittellinie sitzende arteriovenöse Fehlbildungen werden
genden Obliterierung und Thrombose der Gefäße. Kleinere, heute an ausgewählten Zentren entweder nur embolisiert
tief gelegene Angiome können hierdurch gut behandelt und/oder stereotaktisch bestrahlt.
werden. Die Bestrahlungsintensität ist unterschiedlich. Zwi- Das Blutungsrisiko besteht in den ersten 2 Jahren nach
schen 30 Gy und 120 Gy werden auf das Angiom und den Bestrahlung bis zur völligen Obliteration weiter. Eine Kompli-
Angiomnidus appliziert. Die Bestrahlung kann mit γ-Strahlen kation ist die Radionekrose mit manchmal ausgeprägtem
(Gamma-Knife), schweren Partikeln (Proton-beam) oder raumfordernden Ödem, vermutlich durch venöse Abfluss-
fokussierten Linearbeschleunigern erfolgen. störung bedingt. Sie kann zu progredienter fokaler Sympto-
matik und Anfällen führen. Man behandelt sie mit Steroiden,
Antiepileptika und Heparin.
252 Kapitel 8 · Gefäßfehlbildungen

a b

8 . Abb. 8.2a,b. DSA bei insulärem High-flow-Angiom. Arterielle (a) und venöse Phase (b). Arterielle Versorgung aus Mediaästen, venöse
Drainage über innere Hirnvenen zum Sinus rectus

ä Der Fall: Fortsetzung


. Tabelle 8.2. Einteilung nach Spetzler
Alle klinischen Symptome, die von dem Patienten berichtet
Größe < 3cm 1 und erfragt wurden, werden durch die Diagnose einer zerebralen
3–6cm 2 AV-Fehlbildung erklärt, die sich im MRT bestätigt hat. Angiogra-
> 6cm 3 phisch zeigte sich, dass das Angiom von einer großen, solitären
Lage eloquent 1 Arterie versorgt wird. Die Embolisierung und anschließende
nicht eloquent 0 Operation ließ eine nahezu vollständige Entfernung des Angioms
Venöse Drainage tief 1 zu. Der Patient ist inzwischen unter antiepileptischer Medikation
oberflächlich 0 anfallsfrei. Die Halbseitensymptomatik hat nicht weiter zuge-
nommen.

schlossen werden (. Abb. 8.4). Kleine AVMs können durch


alleinige Embolisierung ausgeschaltet werden. 8.2 Kavernome

> Arteriovenöse Gefäßfehlbildungen werden, wenn 3Epidemiologie. Kavernome galten in der Vergangenheit
irgend möglich, embolisiert und danach operiert. Die als selten. Heute werden sie häufiger als asymptomatische Zu-
stereotaktische Bestrahlung ist eine weitere Behand- fallsbefunde im MRT beschrieben. Etwa 0,5–1% der Bevölke-
lungsmöglichkeit. rung sollen Kavernome haben. Familiäre Häufung und mul-

a b

. Abb. 8.3a,b. Kleine parietale AVM vor und nach Embolisation. Das Embolisat ist auf der unteren Abbildung in der Subtraktion als heller
Schatten erkennbar (Pfeil)
8.2 · Kavernome
253 8

a b c d

. Abb. 8.4a–d. Kavernomblutung im Hirnstamm. a CT, b MRT T1 ohne Kontrast, c MRT T1 mit Kontrast: leichte ringförmige Anreicherung um
die Blutung, d T2+: Blutabbau-Signal

tiple Kavernome lassen eine genetische Prädisposition anneh- 4 MRT: Im MRT erhebt man einen typischen Befund
men. Die Blutungsrate wird auf 2–5% pro Jahr geschätzt, diese (. Abb. 8.4, 8.6): Im T2-betonten Bild sieht man ein Zentrum
Schätzungen sind aber nicht verlässlich. von unregelmäßigen Strukturen mit signalintensiven Arealen,
umgeben von einem signalfreien Randsaum. Dieser entsteht
3Symptome und Verlauf. Viele Kavernome bleiben lebens- durch Hämosiderinablagerungen in der Umgebung der Ge-
lang asymptomatisch. Andere können zu fokalen oder genera- fäßfehlbildung, die aus früheren, klinisch oft unbemerkten
lisierten epileptischen Anfällen, Hirn- oder Rückenmarksblu- Blutungen stammen. Manchmal sind Kavernome multipel
tungen mit Lähmungen oder unvollständiger Querschnitts- (. Abb. 8.5).
symptomatik führen. Die intrazerebralen Blutungen sind meist 4 Angiographisch kommen Kavernome nur selten zur Dar-
relativ klein. Im Hirnstamm bewirken Kavernomblutungen oft stellung.
nur vergleichsweise geringe neurologische Symptome, so dass
die Kombination von mittelgroßer Hirnstammblutung mit nur 3Therapie. Asymptomatische Kavernome werden nicht
mäßigen Ausfallserscheinungen schon klinisch den Verdacht operiert. Nach symptomatischen Blutungen und wenn medi-
auf eine Kavernomblutung lenkt. Große Massenblutungen kamentös schlecht behandelbare Anfälle auftreten, werden die
durch Kavernome sind selten. Kavernome, wenn von der Lage her möglich, mikrochirur-
gisch operiert. Auch Hirnstammkavernome werden, wenn sie
3Diagnostik geblutet haben, operiert, sofern es die Lage erlaubt Rücken-
4 CT: Computertomographisch sind Kavernome, wenn sie markkavernome sind wegen ihrer zentralen Lage selten ohne
nicht akut geblutet haben, nur ausnahmsweise durch verkalkte sekundäre neurologische Ausfälle zu operieren.
Anteile nachweisbar. Sie erscheinen als Rundherde von 0,5–
3 cm Durchmesser mit inhomogener Dichte. Kontrastmittel > Kavernome werden operiert, wenn sie geblutet ha-
wird kaum aufgenommen, ein Randödem sieht man nur nach ben oder häufige epileptische Anfälle verursachen.
kurz zurückliegender Blutung. Eine spontane Blutung kann im
CT nicht von einer Kavernomblutung unterschieden werden
(. Abb. 8.4a).

. Abb. 8.5. Zwei Kavernome in der linken Hemisphäre. Das vor- . Abb. 8.6. Venöse Malformation (Pfeil) mit assoziiertem Kavernom
dere zeigt eine frische Blutung, das hintere das typische Signal eines
Kavernoms mit länger zurückliegenden Blutungen
254 Kapitel 8 · Gefäßfehlbildungen

Facharzt
Pathologische Anatomie der Kavernome
Kavernome treten oft mit anderen zerebralen oder extrazere- Rückenmark. In ihnen ist der Blutfluss sehr langsam. Ihre Wand
bralen, vaskulären Fehlbildungen gemeinsam auf. Sie beste- enthält keine Muskelfasern. Zwischen den Kanälen liegt kein
hen aus einem Konvolut erweiterter kavernöser, endotheliali- Hirngewebe. Die Größe der Kavernome variiert zwischen
sierter Gefäßkanäle, die durch dünne Bindegewebssepten einigen Millimetern und einigen Zentimetern. In 40% der Fälle
getrennt sind. Man findet sie bevorzugt in der weißen Subs- verkalken sie. Histologisch sind Mikroblutungen, Thrombosen,
tanz, nahe an Hirnfurchen und in Ventrikelnähe. Besonders bindegewebige Umwandlung der Septen und Hämoside-
häufig kommen sie im Temporallappen und Frontallappen rinablagerung typisch. Fast immer findet man mikroskopisch
vor, in Brücke und Mesenzephalon sowie, zentral gelegen, im oder makroskopisch Zeichen der Einblutung.

Facharzt
Andere intrazerebrale Gefäßmissbildungen
Kapilläre Teleangiektasien Patienten mit symptomatischen, venösen Angiomen
Hierbei handelt es sich um meist asymptomatisch bleibende, werden angiographiert, um sicher zu gehen, dass es sich
kleine Mikroangiome mit umschriebener Vermehrung erwei- nicht doch um eine arteriovenöse Fehlbildung mit kleinem
terter Kapillaren. Sie sollen bei M. Osler gehäuft auftreten. Die arteriellen und großem, möglicherweise aneurysmatisch
8 Blutungsneigung soll sehr gering sein. Der computertomo- erweiterten venösen Anteil handelt. Im Angiogramm findet
graphischen Diagnostik entziehen sich diese kapillären Tele- man nach normaler arterieller und kapillärer Phase das Medu-
angiektasien meist, magnetresonanztomographisch kann senhaupt und die große transzerebral abführende Vene, die
man kleine Läsionen erhöhter Signalintensität finden. Mögli- manchmal verzögert drainiert.
cherweise liegen solche kapillären Fehlbildungen auch einmal
intrazerebralen Blutungen zugrunde, dann werden sie jedoch 3Therapie. Venöse Angiome werden nur operiert, wenn
meist im Operationspräparat nicht gefunden. Vermutlich sind sie sicher neurologisch symptomatisch gewesen sind. Dies gilt
kapilläre Teleangiektasien ganz harmlose Zufallsbefunde. für raumfordernde Blutungen und manchmal für venöse Angi-
ome mit medikamentös nicht kontrollierbarer Epilepsie.
Venöse Fehlbildungen: Venöse Angiome
3Epidemiologie und Morphologie. Venöse Angiome Venöse Fehlbildungen: Aneurysma der V. cerebri magna
gehören zu den häufigsten Gefäßfehlbildungen. Sie beste- Galeni
hen aus dünnen Venen, die spinnennetzartig zusammenflie- An der V. cerebri magna Galeni kommen zwei Formen der
ßen und in eine oder mehrere größere Sammelvenen ein- Gefäßfehlbildungen vor: das arteriovenöse Angiom und das
münden (»Medusenhaupt«). Die Blutungshäufigkeit wird Aneurysma der V. Galeni. Beide sind sehr selten. Vermutlich
sehr unterschiedlich eingeschätzt. Prospektive Zahlen über liegt auch den solitär wirkenden Aneurysmen eine kleine,
die jährliche Blutungsrate liegen nicht vor. Nach unserer arteriovenöse Fistel zugrunde. Die angeborenen Angiome
Einschätzung bluten venöse Angiome sehr selten. werden meist schon im Kindesalter symptomatisch (Hydro-
zephalus, obere Hirnstammsymptomatik), bei Erwachsenen
3Symptome. Die meisten venösen Angiome bleiben kommt es nur sehr selten zur Erstdiagnose, wenn sich Kopf-
asymptomatisch. Epileptische Anfälle, Kopfschmerzen und schmerzen, Hydrozephalus und Einklemmungszeichen ent-
fokale neurologische Ausfälle können vorkommen. wickeln. Sie zeigen sich in CT, MRT und Angiogramm als
auf die V. cerebri magna zu beziehende Gefäßausweitung
3Diagnostik. In der CT sieht man primär hyperdense, (. Abb. 8.7).
streifenförmige Läsionen, die vom Marklager bis an die
Hirnoberfläche reichen. Kontrastmittel wird meist deutlich 3Therapie. Die operative Behandlung ist risikoreich und
aufgenommen. . Abbildung 8.6 zeigt den MR-Befund eines schwierig, die endovaskuläre Behandlung scheint dagegen
venösen Angioms. Manchmal kann das Medusenhaupt komplikationsärmer und effektiver zu sein.
erkennbar sein.
8.3 · Arteriovenöse Fisteln
255 8

. Abb. 8.7. Darstellung einer gebluteten Vena Galeni-Malformati-


on in der Nativ-CT. Die schalenförmig verkalkte (stark hyperdense)
vaskuläre Malformation ist obturiert mit einer Blutansammlung in den
Ventrikeln, welche komplett mit hyperdensem Material ausgefüllt sind

a
8.3 Arteriovenöse Fisteln

8.3.1 Durale, arteriovenöse Fisteln

3Definition und Pathogenese. Hierbei handelt es sich um


arteriovenöse Gefäßkurzschlüsse an und auf der Dura, bei de-
nen es zur arteriellen Drainage in die Sinus kommt. Diese Fis-
teln entwickeln sich sowohl supra- als auch infratentoriell,
meist in der Nähe der großen Sinus. Besonders häufig sind sie
am Sinus sagittalis superior und am Sinus transversus.
Rekanalisierte Sinusthrombosen werden als eine Entste-
hungsursache der erworbenen Durafisteln diskutiert. Auch
kongenital angelegte Durafisteln sind möglich. Meist werden
die Fisteln von einer ganzen Reihe kleiner Arterien versorgt.
Selten sind einzelne, zuführende Arterien. Auch Externagefäße
(meningeale Äste und, besonders häufig, die A. occipitalis ex-
terna) können sich an der Fistel beteiligen. Durale AV-Fisteln
haben ein jährliches Blutungsrisiko von 1–2%. Nach einer Blu-
tung besteht ein sehr hohes Rezidivblutungsrisiko innerhalb des
ersten halben Jahres. b

3Klinische Symptome und Komplikationen. Das führende . Abb. 8.8a,b. Durale Fistel vor und nach Embolisation. Seitliches
Symptom ist ein sehr störendes Kopf-/Ohrgeräusch. Neuro- Angiogramm der A. carotis externa, welches eine Füllung einer frühen
logische Herdsymptome sind selten. Die wichtigste und ge- Vene zeigt (b). Der Fistelpunkt wurde mit einem Gewebekleber trans-
fährlichste Komplikation ist die intrazerebrale Blutung (venöse arteriell verschlossen und somit ein kompletter Verschluss der arterio-
venösen Fistel erreicht
lobäre Stauungsblutung durch hohen, venösen Druck). Selten
sind direkte, arterielle Rhexisblutungen.
Blutversorgung, der Anzahl der zuführenden Arterien und der
3Diagnostik venösen Abflussstörung (. Abb. 8.8).
4 CT: Computertomographisch sind die Fisteln leicht fest-
stellbar, wenn sie zu einer Blutung geführt haben. In seltenen 3Therapie. Die transvaskuläre Embolisierung mit dem
Fällen können ausgedehnte, gestaute, kollaterale Venennetze Ziel, sowohl arterielle Zuflüsse als auch venöse Empfängerge-
einen Hinweis auf eine Abflussstörung geben. fäße zu verschließen, ist die heute am häufigsten eingesetzte
4 MRT: Besser ist die Situation im MRT zu beurteilen, wo Therapie. Bei multiplen Versorgungsgefäßen können nach
sowohl arterielle als auch venöse Anteile der Fistel dargestellt Verschluss einzelner Gefäße neue Zuflüsse rekrutiert werden,
werden können. so dass der operative oder transvaskuläre Verschluss einzelner
4 Angiographie. Die selektive Angiographie der intra- und Gefäße zu keiner wesentlichen Veränderung der Symptomatik
extrakraniellen Gefäße erlaubt eine genaue Beschreibung der führt. Trotzdem kann hierüber eine Verringerung der Blu-
256 Kapitel 8 · Gefäßfehlbildungen

tungsneigung erreicht werden, wenn ein wesentlicher Anteil


der Feeder verschlossen und der intravenöse Druck reduziert
wird. Behandelte Durafisteln können rezidivieren.

8.3.2 Karotis-Sinus-cavernosus-Fistel

3Pathogenese. Nach Kopftraumen, häufiger aber spon-


tan; kann die Wand der A. carotis interna im Sinus cavernosus
einreißen, so dass sich ein arteriovenöser Shunt bildet (Me-
chanismus wie bei der Durafistel). Sehr selten beruhen Ka-
rotis-Sinus-cavernosus-Fisteln auf Ruptur eines sackförmigen,
infraklinoidalen Karotisaneurysmas, eines arterioskleroti- . Abb. 8.9. Situs des Sinus cavernosus, axiale Darstellung. Die
schen Mikroaneurysmas oder einer Anlageanomalie. Hier Lage der Augenmuskelnerven sowie des 1. Trigeminusastes sind an-
fehlen häufig Stauungszeichen und Gefäßgeräusche. Das füh- gegeben. Blau A. carotis interna
rende Symptom ist dann eine einseitige Augenmuskel-
lähmung. Im Aspekt des Kranken fällt ein ein- oder doppelseitiger,
meist pulsierender, jedenfalls aber eindrückbarer Exophthalmus
3Symptomatik. Die neurologischen Symptome entwickeln auf. Er beruht auf venöser Stauung bei Abflussbehinderung in
8 sich subakut oder langsam progredient, oft im Verlauf von ei- der V. ophthalmica durch Zufluss arteriellen Blutes in den Sinus
nigen Wochen. Bei traumatischen Fisteln und bei Ruptur eines cavernosus. Die Stauung zeigt sich auch in Chemosis der Kon-
Karotisaneurysmas kann die Symptomatik aber auch akut auf- junktiven mit Erweiterung der Venen (. Abb. 8.10). Oft ist sie
treten. Die Symptome sind in den meisten Fällen so typisch, auch am Fundus zu erkennen. In schweren Fällen kommt es
dass die Diagnose leicht gestellt werden kann. zu Stauungsblutungen in die Netzhaut und den Glaskörper.
Die Patienten klagen über einseitige Stirnkopfschmerzen Augenmuskelparesen und eine Einschränkung der Bulbusmoti-
(N. ophthalmicus) und Doppelbilder (alle okulomotorischen lität bei Exophthalmus führen zu Doppelbildern. Doppelseitige
Hirnnerven verlaufen durch den Sinus cavernosus; . Abb. 8.9). Fisteln kommen vor. Oft ist das zweite Auge auch bei nur einsei-
Ein pulssynchrones Geräusch, das manchmal als rhythmisches tiger Fistel ebenfalls venös gestaut.
Brausen oder Zischen auszukultieren ist, beeinträchtigt die Pa-
tienten sehr. Wie beim Angiom, lässt es nach Kompression der 3Diagnostik. Die Angiographie lässt die Ausdehnung der
ipsilateralen A. carotis nach. Fistel oder des Aneurysmas sowie die Zu- und Abflussverhält-

. Abb. 8.10. Klinischer Aspekt einer Sinus-cavernosus-Fistel mit lisation der Karotis-Sinus-cavernosus-Fistel wieder. Das Auge ist zwar
Exophthalmus, Ptose, massiver Injektion der konjunktiven und noch gereizt, die Ptose ist rückläufig, die konjunktivale Injektion und
gestauten Venen. Die untere Bildreihe gibt den Befund nach Embo- Stauung der Venen nicht mehr zu erkennen
8.3 · Arteriovenöse Fisteln
257 8
Facharzt
Neurokutane Fehlbildungen mit Gefäßveränderungen
Sturge-Weber-Krankheit 3Therapie. Eine kausale Behandlung existiert nicht, man
3Definition. Die Krankheit wird auch als enzephalotrige- behandelt antikonvulsiv.
minale Angiomatose bezeichnet. Man rechnet sie mit der
Neurofibromatose, der Hippel-Lindau-Krankheit und der Hämangioblastom bei Hippel-Lindau-Krankheit
tuberösen Sklerose zu den Phakomatosen (7 Kap. 35). Das 3Definition. Der Lindau-Tumor, das Hämangioblastom des
sind neurokutane Krankheiten mit Nävi und Tumorbildung Kleinhirns, ist eine autosomal-dominant vererbte Krankheit, die
(Phakomata). Die Sturge-Weber-Krankheit ist, wie alle Phako- im mittleren Lebensalter beginnt. Männer sind weit häufiger
matosen, autosomal-dominant erblich. Der Genlokus ist als Frauen betroffen. Sporadische Fälle werden beobachtet.
noch nicht bekannt. Der Sitz der Angioblastome ist in einer Kleinhirnhemisphäre,
ausgehend vom Dach des 4. Ventrikels. Der solide Tumor, der
3Symptome. Bei voller Ausbildung findet man die fol- aus Netzen von Kapillaren oder kavernösen Gefäßen besteht,
gende Trias: ist relativ klein. Um diesen bildet sich meist ein Zyste, die mit
4 Naevus flammeus des Gesichts (. Abb. 8.12), gelblicher, stark eiweißreicher Flüssigkeit gefüllt ist. Über der
4 verkalktes Angiom der Leptomeninx, das zu umschrie- Zyste liegen die weichen Hirnhäute mit stark blutgefüllten
bener Hirnatrophie und Anfällen führt, und Gefäßen. Tumorzapfen können bis ins Halsmark hinabreichen.
4 Angiom der Aderhaut mit konsekutivem Glaukom. Wenn gleichzeitig eine Angiomatosis retinae vorliegt,
sprechen wir von der Hippel-Lindau-Krankheit. Dabei können
Der Nävus kann auf die Gegend der Stirn, der Nasenwurzel, sich auch in den Nieren und im Pankreas Zysten finden. Der
auf Wange oder Kinn beschränkt sein. Gelegentlich dehnt er Tumor metastasiert nicht.
sich auch bis zum Hals und selbst auf Rumpf und Extremi-
täten aus. Er betrifft auch die Schleimhaut der Mundhöhle. 3Symptomatik und Verlauf. Manche Patienten mit Lin-
In seltenen Fällen überschreitet er die Mittellinie. dau-Tumoren haben nur leichte Kopfschmerzen und geringen
Das Syndrom ist oft nicht vollständig. Am häufigsten Nystagmus. Häufig bleibt der Tumor klinisch stumm, bis
findet sich ein isolierter Nävus im Gesicht. Die Kombination plötzlich Einklemmungssymptome mit unerträglichen Kopf-
von Gesichtsnävus mit Angiom ist etwas seltener. Das Glau- schmerzen im Hinterkopf auftreten, die durch Bewegungen
kom fehlt oft. Die Zusammengehörigkeit dieser Fehlbil- ausgelöst werden und sich beim flachen Liegen bessern. Oft
dungen ist daran zu erkennen, dass die Haut des Gesichts besteht eine hochgradige, doppelseitige Stauungspapille.
und die weichen Hirnhäute vom N. trigeminus versorgt Verschiedene Hirnnerven können einseitig oder beidseitig
werden. gelähmt sein. Zerebelläre Ataxie betrifft die Beine stärker als
Der typische Augenbefund ist ein Angiom der Aderhaut, die Arme, ist aber oft nur wenig ausgeprägt. Der Verlauf ist
stets auf der Seite des Gesichtsnävus, mit Glaukom und oft intermittierend, was auf dem unterschiedlichen Füllungs-
verschiedenen anderen, pathologischen Symptomen, z. B. zustand der Zyste beruht.
Netzhautablösung.
Die neurologischen Symptome setzen in der Kindheit 3Diagnostik. Computertomographisch sind die Tumoren
ein. Meist leiden die Kranken unter generalisierten oder foka- durch den Nachweis von scharf begrenzten, homogenen
len epileptischen Anfällen. Viele klagen über Kopfschmerzen, Zysten niedriger Dichte gekennzeichnet. Der Gefäßanteil ist
die oft den Charakter einer Migräne haben. Frühzeitig bleibt auch nach Kontrastmittelgabe nur selten darzustellen. Im MRT
die Persönlichkeitsentwicklung zurück, und es entwickeln gelingt der Nachweis des Gefäßtumoranteils durch starke
sich Wesensänderung und Demenz. Oft findet sich eine Kontrastmittelaufnahme besser. Auch lässt sich die Beziehung
Hemianopsie, gelegentlich eine Hemiparese und Unterent- zum Hirnstamm besser darstellen.
wicklung der betroffenen Gliedmaßen. Bei der Vertebralisangiographie färbt sich der angioblasti-
sche Tumorteil oft an. Nicht selten sind aber auch nur die
3Diagnostik. Im CT fallen Rindenatrophie und die Verkal- Raumforderungszeichen der Zyste erkennbar.
kungsgirlanden ins Auge. Im MRT sieht man das Angiom als Internistisch haben manche Kranken eine Polyglobulie, die
Netzwerk von geschlängelten, kapillären und venösen Gefäßen auf Sekretion von Erythropoetin durch den Tumor beruht.
einseitig, nicht immer auf derselben Seite wie der Nävus, in den
weichen Häuten über dem Parietal- oder Okzipitallappen. 3Therapie. Die Behandlung der Wahl ist operativ, unter
Die Hirnrinde darunter ist durch Mangelernährung atrophisch Umständen ebenfalls nach vorangegangener Embolisierung
(. Abb. 8.13). größerer, zuführender Gefäße. Wird nur die Zyste entleert,
muss man mit einem Rezidiv rechnen. Bei kompletter Entfer-
nung des Tumors ist die Prognose gut.
258 Kapitel 8 · Gefäßfehlbildungen

. Abb. 8.11a–c. Embolisation einer Karotis-Sinus-cavernosus-


Fistel. 45jährige Patientin mit spontaner A. carotis interna – Sinus
cavernosus-Fistel links. DSA im frontalen Strahlengang nach Injektion
der A. carotis interna vor (a) und nach (b, c) transarterieller Embolisa-
tion der Fistel mit Platinspiralen.
Zeitlich verfrühte Kontrastierung des Sinus cavernosus links und über
den Sinus intercavernosus auch des Sinus cavernosus rechts (a). Die
Drainage erfolgt über die V. ophthalmica beidseits und den Plexus
pterygoideus (a). Nach Fistelverschluss normales Internaangiogramm.
Die eingebrachten Platinspiralen sind am besten auf dem unsubtra-
hierten Bild zu erkennen (c)

8
a

b c

nisse erkennen. Man stellt angiographisch den vorderen und eines Spezialkatheters. Es kann nötig werden, mehrere Ballons
hinteren Hirnkreislauf dar und führt auch Kompressionstests oder Spiralen in mehreren Eingriffen zu platzieren (. Abb. 8.11).
aus, um die Blutversorgung vollständig darzustellen. Dies ist Gelingt die selektive Ausschaltung der Fistel nicht, werden neu-
für das interventionelle Vorgehen entscheidend. rochirurgische Maßnahmen oder eine neuroradiologische
Bei der periorbitalen Doppleruntersuchung ist die Fluss- Okklusion der A. carotis interna notwendig.
geschwindigkeit in der V. orbitalis stark vermehrt.

3Therapie. Die Behandlung der Wahl ist die Okklusion der


Fistel durch ablösbare Ballons oder Platinspiralen mit Hilfe
8.3 · Arteriovenöse Fisteln
259 8

. Abb. 8.12. Naevus flammeus bei Sturge-Weber-Syndrom. Seit . Abb. 8.13. Kortikale Angiomatose Sturge-Weber (Pfeile)
Geburt vorhandener unilateraler Naevus flammeus im Bereich des
ersten und zweiten Trigeminusastes. Zusätzlich zwei tuberöse Häman-
giome über der linken Augenbraue. (D. Petzoldt, M. Richter, Heidelberg)

. Abb. 8.14a,b. Axiales T1(a)- und T2-


gew. Bild (b) bei einem Hämangioblas-
tom. In der re. Kleinhirnhemisphäre gele-
genes zystisches Hämangioblastom mit
im T1-gew. Bild nach Kontrastmittelgabe
typischem knotigen Enhancement

a b
260 Kapitel 8 · Gefäßfehlbildungen

In Kürze

Arteriovenöse Missbildungen (AVM) Therapie: Mikrochirurgische Operation nach Blutungen und


häufigen epileptischen Anfällen.
Inzidenz: 2/100.000 Einwohner/Jahr.
Einteilung: Erfolgt nach Lage, Größe, Zahl der versorgenden Arteriovenöse Fisteln
Arterien und Art der venösen Drainage.
Lokalisation: Hirnlappen, Kleinhirn, Insel und Basalganglien. Durale, arteriovenöse Fisteln. Arteriovenöse Gefäßkurz-
Blutungsrisiko ohne Therapie: 2-3%/Jahr. schlüsse an und auf der Dura mit arterieller Drainage in die
Symptome: Hirnblutungen, partielle epileptische Anfälle, Sinus.
Kopfschmerzen. Symptome: Störendes Kopf-/Ohrgeräusch, intrazerebrale
Diagnostik: CT: Darstellung erweiterter Blutgefäße als band- Blutung.
oder girlandenförmige hyperdense Strukturen; MRT: Lage- Diagnostik: CT: Fisteln bei Blutung leicht feststellbar; MRA:
beziehung der Gefäßkonvolute zu Hirnparenchym und um- Darstellung arterieller und venöser Fistelanteile; Angiogra-
gebenden Liquorräumen, Darstellung vorangegangener phie: Beschreibung der Blutversorgung, Anzahl zuführender
Blutung; CTA/MTA: Orientierung über Aufbau der AVM; Arterien und venöser Abflussstörung.
Dopplersonographie: Darstellung der Zunahme des Blut- Therapie: Transvaskuläre Embolisierung zum Verschließen der
flusses über Karotis oder Media. Gefäße.
Therapie: Embolisierung: neuroradiologisches Verschließen
8 der Gefäße; mikrochirurgische Operation: Unterbindung aller Karotis-Sinus-cavernosus Fisteln. Einreißen der Gefäßwand
zuführenden Gefäße, Entfernung der Gefäßfehlbildung. nach Kopftraumen oder spontan mit Bildung von arteriove-
nösem Shunt.
Kavernome Symptome: Einseitige Stirnkopfschmerzen, Doppelbilder,
pulssynchrones Geräusch.
Inzidenz: 0,5-1% der Bevölkerung. Diagnostik: Angiographie: Darstellung der Fistel- und Aneu-
Symptome: Fokale oder generalisierte epileptische Anfällen, rysmaausdehnung, der Zu- und Abflussverhältnisse; Doppler-
Hirn- oder Rückenmarksblutungen mit Lähmungen oder untersuchung: Vermehrte Flussgeschwindigkeit in der V. orbi-
unvollständiger Querschnittssymptomatik. talis.
Diagnostik: CT: Darstellung akuter Blutung, verkalkter An- Therapie: Okklusion der Fistel durch ablösbare Ballons oder
teile; MRT: Zentrum unregelmäßiger Strukturen mit signal- Platinspiralen mit Spezialkatheter.
intensiven Arealen, umgeben vom signalfreien Randsaum.
9

9 Intrakranielle arterielle Aneurysmen


und Subarachnoidalblutungen
9.1 Vorbemerkungen und Definitionen – 262

9.2 Warnblutung – 264

9.3 Akute Subarachnoidalblutung (SAB) – 264


9.3.1 Symptome – 265
9.3.2 Verlauf und Komplikationen – 265
9.3.3 Diagnostik – 268
9.3.4 Therapie – 270

9.4 Perimesenzephale und präpontine SAB – 273

9.5 Subarachnoidalblutung ohne Aneurysmanachweis – 273

9.6 Arterielle Aneurysmen ohne Subarachnoidalblutung – 274


9.6.1 Raumfordernde, symptomatische Aneurysmen – 274
9.6.2 Asymptomatische arterielle Aneurysmen – 275
262 Kapitel 9 · Intrakranielle arterielle Aneurysmen und Subarachnoidalblutung

> > Einleitung schrieben; die anderen geben eine zunehmende Kopfschmerz-
intensität über Minuten an.
Es war eine ganz normale Geschäftsbesprechung, mit nicht
weniger und nicht mehr Stress als üblich, als die 35-jährige Ge- 3Epidemiologie und Prognose. Etwa 5–10% aller Schlag-
schäftsfrau plötzlich einen sehr heftigen Schmerz im Nacken und anfälle werden durch Subarachnoidalblutungen verursacht.
Hinterkopf verspürte. Der Schmerz kam so unerwartet, dass sie Zuverlässige epidemiologische Zahlen für die Erkrankungs-
unwillkürlich aufschrie, das Gefühl hatte, bewusstlos zu werden, häufigkeit finden sich insbesondere für die Aneurysmablu-
sich festhalten musste, Herzklopfen und einen Schweißausbruch tungen. So wird die jährliche Rate von Neuerkrankungen bei
bekam. In den nächsten Minuten ließ der Schmerz zwar etwas an der aneurysmatisch verursachten Subarachnoidalblutung in
Intensität nach, blieb aber kaum erträglich. Die Nackenmuskula- Nordamerika mit 28.000 Patienten pro Jahr angegeben, dies
tur war verspannt, jede Bewegung des Kopfes unangenehm und entspricht etwa 6–10% aller an einem Schlaganfall erkrankten
schmerzhaft. Personen. Weltweit wird die jährliche Inzidenz für die Sub-
Die Frau suchte sofort einen Arzt auf, der sie beruhigte, über arachnoidalblutung auf dem Boden einer Aneurysmaruptur
Stress und die Halswirbelsäule räsonierte und Aspirin verschrieb. zwischen 7 und 15 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner
Die Schmerzen ließen nicht nach. Am nächsten Tag suchte die und Jahr geschätzt. Das Haupterkrankungsalter liegt zwischen
Patientin den Arzt erneut auf, und der überwies sie zum Neuro- 40 und 60 Jahren. Frauen haben häufiger SABs als Männer.
logen. Drei Tage später hatte sie dort einen Termin. Inzwischen Vor dem 40. Lebensjahr ist die SAB bei Männern häufiger,
waren die Kopfschmerzen weitgehend abgeflaut, der Nacken jenseits des 50. Lebensjahres bei Frauen (w:m = 1,5:1). Man
war immer noch schlecht beweglich, und die Schmerzen waren schätzt, dass zwischen 10 und 15 Personen pro 100.000 Ein-
bis in die Lendenwirbelsäule gezogen. Die neurologische Unter- wohner und Jahr eine spontane SAB erleiden. Es gibt eine
suchung soll unauffällig gewesen sein. Mit der Diagnose eines nicht zu unterschätzende Dunkelziffer, da etwa ein Drittel der
»Halswirbelsäulensyndroms«, der Verschreibung von Kranken- Patienten stirbt, bevor sie ins Krankenhaus gelangen. Am
9 gymnastik und Massage sowie dem Hinweis, wenn »so etwas« häufigsten tritt eine SAB in der 5. und 6. Lebensdekade auf.
wieder auftreten würde, wieder vorbei zu kommen, wurde die Risikofaktoren sind arterielle Hypertonie, Rauchen und Hy-
Patientin verabschiedet. percholesterinämie, Drogen und (fraglich) Kontrazeptiva.
»So etwas« kam wieder, genau eine Woche später, aber noch Mehrfache Aneurysmen sind in etwa 15% der Fälle festzu-
schlimmer. Jetzt wurde die tief bewusstlose Patientin vom Not- stellen. Deutliche Hinweise gibt es darauf, dass auch tages-
arzt in die Klinik gebracht, wo eine massive Subarachnoidalblu- und jahreszeitliche Einflüsse von Bedeutung sind. So gibt es
tung festgestellt wurde, an deren Folgen die junge Frau inner- einen morgendlichen Blutungsgipfel, auch zeigen Subarach-
halb weniger Tage verstarb. noidalblutungen zwei Häufigkeitsgipfel im Winter und im
Eine Warnblutung – und nichts anderes war das erste Ereig- Frühjahr.
nis – geht nicht selten einer schweren Subarachnoidalblutung Von den Überlebenden stirbt ein weiteres Drittel während
aus einem Aneurysma voraus. Wenn sie nicht erkannt wird, ver- des stationären Aufenthaltes, etwa ein Drittel bleibt dauerhaft
spielt man die Chance, den Patienten in einem frühen Stadium behindert. Nur ein Drittel der Überlebenden erreicht wieder
operieren zu lassen und damit die gefährliche, oft tödliche Blu- ihren prämorbiden Zustand.
tung zu verhindern. Bei Patienten, bei denen kein Aneurysma nachgewiesen
werden kann, ist die Prognose weitaus besser. Die Prävalenz
asymptomatischer Aneurysmen wird auf 2,5% geschätzt. Die
9.1 Vorbemerkungen und Definitionen Wahrscheinlichkeit der Ruptur eines solchen Aneurysmas liegt
bei 0–10%/Jahr, je nach Lage, Größe und Vorhandensein von
3Definition. Die Subarachnoidalblutung (SAB) ist eine Hypertonus.
akut auftretende, arterielle Blutung unterhalb der Arachnoi-
dea, der Spinngewebshaut des Gehirns. Die Beschaffenheit des 3Ätiologie und Pathogenese. Bei mehr als 80% der Pati-
liquorgefüllten Subarachnoidalraums ermöglicht eine rasche enten mit SAB ist ein Aneurysma die Blutungsursache. Die
Verbreitung des Blutes und führt zu typischen, perakut einset- Aneurysmen der intrakraniellen Gefäße sind in der Regel sack-
zenden meningealen Reizsymptomen. Neben der Verteilung förmig; fusiforme oder auch arteriosklerotische Aneurysmen
des Blutes innerhalb des – subarachnoidalen und intraventri- sind wesentlich seltener und dann vorwiegend im hinteren
kulären – Liquorraumes ist auch ein Einbrechen der Blutung Kreislauf lokalisiert. Sie sind oft nur stecknadelkopfgroß, kön-
in den Subduralraum und in das Hirnparenchym, in Form ei- nen aber die Größe eines Golfballs erreichen. Manche sitzen
ner intrazerebralen Blutung, möglich. gestielt, andere breitbasig an der Gefäßwand. Sie finden sich
Eine SAB ist meist die Folge der Ruptur eines intra- überwiegend am Circulus arteriosus Willisii, seltener in dista-
kraniellen Aneurysmas. Die Leitsymptome SAB sind akut len Abschnitten der Piaarterien.
einsetzende Kopf- und Nackenschmerzen oder eine akute Be-
wusstseinsstörung. Nackensteife, Übelkeit, Erbrechen, Licht- 3Risikofaktoren. Etwa 15–20% der Patienten haben multi-
scheu und Atemstörungen sind weitere häufige Symptome, die ple Aneurysmen. 5–20% der SAB-Patienten haben eine posi-
jedoch erst Stunden nach der Blutung auftreten können. Diese tive Familienanamnese. Die Suche nach genetischen Ursachen
typischen Symptome, v.a. der explosionsartige Kopfschmerz, von Aneurysmen wird intensiv geführt. SABs sind im höheren
werden jedoch nur von der Hälfte der SAB-Patienten be- Lebensalter zwar häufiger, aber nicht in dem Maße, wie dies für
9.1 · Vorbemerkungen und Definitionen
263 9
Exkurs
Arterielle Aneurysmen
In der Reihenfolge der Häufigkeit kommen folgende Lokalisa- Aneurysmen durch erworbene Gefäßveränderungen, z.B.
tionen vor (. Abb. 9.1): Arteriosklerose, entzündliche Arterienkrankheiten oder bakte-
4 A. communicans anterior und A. cerebri anterior, rielle Embolien in die Vasa vasorum, vor allem bei Endokarditis
4 A. cerebri media, (sog. mykotische Aneurysmen, selten auch bei Aspergillose).
4 A. carotis interna (meist supraklinoidal, d.h. intradural, Andere Gefäßmissbildungen (5%), Traumen, Dissektionen,
seltener im Sinus cavernosus und extradural) und intrakrani- Blutkrankheiten und Intoxikationen sind weitere Ursachen für
elle Karotisteilung (Karotis-T; . Abb. 9.2), eine Subarachnoidalblutung.
4 A. communicans posterior, A. basilaris und A. vertebralis.
Pseudoaneurysmen. Fusiforme Aneurysmen sind langstrecki-
In etwa 85% sitzen die Aneurysmen am vorderen, in 15% am ge Erweiterungen der intrakraniellen Gefäße, meist infolge
hinteren Teil des Circulus arteriosus. einer schweren Arteriosklerose vom dilatativen Typ. Bei jün-
Aus hämodynamischen Gründen bilden sich die Aneu- geren Patienten kann auch einmal eine Bindegewebserkran-
rysmen bevorzugt an den Gabelungsstellen der Arterien aus. kung (fibromuskuläre Dysplasie, Ehlers-Danlos-Syndrom)
In etwa 15% sind sie multipel (. Abb. 9.1). In der Mehrzahl zugrunde liegen. Fusiforme Aneurysmen können sehr groß
der Fälle beruhen die Aneurysmen auf embryonalen Fehl- werden (Megadolichobasilaris, von dolichos, gr. der Wein-
bildungen der Tunica media. Der Druck des arteriellen Blut- sack, . Abb. 9.3) und hierdurch erhebliche raumfordernde
stroms führt zum Untergang der elastischen Fasern und Wirkung auf Hirnstamm und Hirnnerven ausüben. Die A. basi-
schließlich zu einer umschriebenen Ausweitung der Arterien- laris kann so elongiert sein, dass die Basilarisspitze über die
wand. Dieser pathogenetische Mechanismus erklärt die Thalamusebene hinausreicht und manchmal zu einer Behinde-
Vorzugslokalisation an Gefäßabschnitten, die strömungsme- rung der Liquorzirkulation mit Verschlusshydrozephalus führt.
chanisch stärker beansprucht werden. Zum Zeitpunkt der Solche Erweiterungen gibt es auch an den Karotiden, manch-
Blutung sind etwa 70% der Aneurysmen kleiner als 10 mm mal bis in die proximale Media hinein.
im Durchmesser, 25% zwischen 10 und 25 mm messend und Diese Pseudoaneurysmen bluten äußerst selten, der Druck
nur 2–4% größer als 25 mm. 4–6% der Patienten mit sackför- und der Blutfluss in diesen Gefäßabschnitten sind eher redu-
migem Aneurysma haben Zystennieren, 17% der Patienten ziert. Nicht selten entstehen hier Thromben. In diesen Fällen
mit Zystennieren haben Aneurysmen des Circulus arteriosus wird man Thrombozytenaggregationshemmer oder niedrig
Willisii. Der Entwicklung und Ruptur von Aneurysmen liegen dosiertes Marcumar (INR um 2,5) einsetzen. Wenn diese Ge-
manchmal genetisch bedingte Gefäßwanderkrankungen fäße allerdings bei einer hypertensiven Entgleisung einmal
zugrunde (Typ-III-Kollagenstörung, Ehlers-Danlos-Syndrom). rupturieren, wird dies nicht überlebt.
15% der Aneurysmen treten familiär auf. Selten entstehen

. Abb. 9.1. Prädilektionsstellen für sakkuläre Aneurysmen am . Abb. 9.2. Zwillingsaneurysmen am Karotis-T. 3-D-Rekonstruk-
Circulus arteriosus Willisii und an den Aufzweigungsstellen der tion einer CT-Angiographie
großen pialen Arterien
264 Kapitel 9 · Intrakranielle arterielle Aneurysmen und Subarachnoidalblutung

a b c

. Abb. 9.3. CT- und CT-Angiographie bei fusiformen Basilaris- sene Anteil der aneurysmatischen Gefäßaufweitung. c In der koro-
aneurysma. a In der Nativ-CT zeigt sich eine Aufweitung der A. basila- naren Rekonstruktion lässt sich das gesamte Ausmaß der fusiformen
ris mit einem stark hyperdensen Anteil rechts, dies entspricht frischem Gefäßerweiterung der A. basilaris erkennen
Thrombus. b In der axialen CT-Angiographie zeigt sich der durchflos-

Hirnblutungen oder zerebrale ischämische Infarkte gilt. Wäh- > Etwa 25% der Patienten mit schwerer SAB hatten
rend der Schwangerschaft steigt das Risiko der SAB. Hoher »Warnblutungen«, die nicht erkannt wurden. Man
9 Blutdruck ist ein wesentlicher Risikofaktor für Aneurysmabil- muss deshalb bei perakuten Kopfschmerzen (»wie
dung und Aneurysmaruptur. Auch Rauchen ist ein starker, noch nie«) an diese Ursache denken, ein CT anferti-
unabhängiger Risikofaktor. Manche Autoren sprechen sogar gen lassen und den Liquor lieber einmal zu häufig als
von erworbenen Aneurysmen, führen als mögliche Risikofak- zu selten untersuchen.
toren Zigarettenrauchen, schweren Alkoholabusus und auch
den Gebrauch oraler Kontrazeptiva an.
9.3 Akute Subarachnoidalblutung (SAB)
9.2 Warnblutung Eine SAB tritt fast immer plötzlich, aus voller Gesundheit,
manchmal auch nach einer Warnblutung auf. Sie ereignet sich
3Symptomatik. Die Warnblutung wird leider in vielen Fäl- bisweilen nach körperlicher Anstrengung mit Erhöhung des
len nicht richtig gewertet. Die Patienten berichten über plötz- Blutdrucks, meist aber aus völliger Ruhe heraus. Hypertoniker
liche, starke Nackenkopfschmerzen (»wie noch nie«), die dann haben häufiger Subarachnoidalblutungen.
rasch in einen dumpfen, störenden, aber meist nicht mehr
alarmierenden Dauerkopf- und Nackenschmerz übergeht. Die 3Pathophysiologie der Aneurysmaruptur. Wenn ein Aneu-
Patienten haben eine geringe Nackensteifigkeit. Innerhalb der rysma rupturiert und das Blut mit arteriellem Blutdruck in den
nächsten Tage bis etwa 2 Wochen kann es dann zu einer Subarachnoidalraum austritt, kommt es zu einer akuten Erhö-
schweren (Rezidiv)-SAB kommen. Etwa bei einem Viertel der hung des intrakraniellen Druckes. Dieser kann bei schweren
SAB-Patienten können Zeichen einer Warnblutung erfragt Blutungen bis zur Höhe des diastolischen Blutdruckes steigen
werden: Oft sind die Patienten nicht zum Arzt gegangen, noch und eine plötzliche Reduktion des zerebralen Perfusionsdruckes,
häufiger aber hat der Arzt diese Kopfschmerzen auf die Wir- die oft zur initialen Bewusstlosigkeit führt, hervorrufen. Die Re-
belsäule, eine Migräne oder auf psychische Belastungen bezo- duktion der Perfusion hilft vermutlich, die Blutung durch Ge-
gen und den Patienten wieder nach Hause geschickt, manch- rinnungsvorgänge an dem rupturierten Aneurysma zu beenden.
mal mit Aspirin. Hauptrisiko nach eingetretener Warnblutung Nach der initialen Hirndruckerhöhung mit Verminderung
ist die mit großer Wahrscheinlichkeit eintretende Rezidivblu- der Hirndurchblutung steigt der Blutfluss wieder an (reaktive
tung, die mit einer hohen Mortalität von über 70% einhergeht. Hyperämie), und der Patient kann aus der Bewusstlosigkeit
Ursache ist in erster Linie die körpereigene Lyse des Thrombus erwachen. Je nach Menge und Lokalisation des Blutes kann
im Aneurysmainneren. Dabei liegt in den ersten 7 Tagen nach die schwere Bewusstseinsstörung auch bestehen bleiben.
der Erstblutung das tägliche Nachblutungsrisiko bei etwa 2%, Manche Patienten mit ganz schwerer SAB sterben in den ers-
kumulativ beträgt dieses 25% innerhalb der ersten 3 bis 4 Wo- ten Minuten nach dem Ereignis oder erreichen das Kranken-
chen nach dem initialen Ereignis. haus in einem instabilen, komatösen Zustand. Ausgedehnte
Blutansammlungen in den basalen Zisternen können früh
3Erforderliche Maßnahmen. Bis zum Beweis des Gegen- über eine Passage- oder Resorptionsstörung des Liquors einen
teils sollte diese Symptomatik als echte SAB aufgefasst werden, Hydrozephalus verursachen.
was eine neurologische Untersuchung, CT, ggf. MRT und auch Das im Subarachnoidalraum befindliche Blut und seine Ab-
eine Liquoruntersuchung verlangt. bauprodukte sind ein starker Reiz für eine Engstellung der Pia-
9.3 · Akute Subarachnoidalblutung (SAB)
265 9

. Tabelle 9.1. Einteilung des Schweregrads der SAB nach der Weltgesellschaft für Neurochirurgie (WFNS) und Hunt u. Hess
WFNS Hunt und Hess
Grad GCS Hemiparese, Aphasie Grad Kriterien
I 15 nein I Asymptomatisch, leichte Kopfschmerzen, leichter Meningismus
II 14–13 nein II Starke Kopfschmerzen, Meningismus, keine Fokalneurologie außer Hirn-
nervenstörungen
III 14–13 ja III Somnolenz, Verwirrtheit, leichte Fokalneurologie
IV 12–7 ja/nein IV Sopor, mäßige bis schwere Hemiparese, vegetative Störungen
V 6–3 ja/nein V Koma, Einklemmungszeichen
Die Graduierung des Schweregrades ist von prognostischer Bedeutung (je besser der initiale Schweregrad, desto höher die Überlebens- und
Heilungschancen) und dient zum Festlegen des Operationszeitpunktes.

arterien (Vasospasmus), die initial durch Kontraktion der aber oft durch zunehmenden Hirndruck verstärken. Gelegent-
Muskularis entsteht. Später kommt es zu morphologischen lich kommt es zu einer exogenen Psychose.
Veränderungen in der Gefäßwand mit chronischer Engstel-
lung. Viele Patienten haben nach der Subarachnoidalblutung Herdsymptome. Die Pupille kann auf der Seite der Blutung
einen erhöhten Blutdruck, der einerseits hilft, den Perfusions- erweitert sein und schlecht auf Licht reagieren (innere
druck zu stabilisieren, andererseits aber auch die Gefahr einer Okulomotoriuslähmung). Gelegentlich finden sich Lähmun-
erneuten Aneurysmaruptur mit sich bringt. Die körpereigene gen anderer Hirnnerven. Am Augenhintergrund zeigen
Lyse des Thrombus im Aneurysmainneren kann zur Nachblu- sich manchmal nach einigen Tagen papillennahe Blutungen
tung führen. (Morbus Terson). Die Papille ist gelegentlich gestaut. Bei
schweren Subarachnoidalblutungen treten zentrale neurolo-
gische Herddefizite wie Hemi- oder auch Tetraparesen hinzu.
9.3.1 Symptome Selten treten generalisierte oder fokale epileptische Anfälle
auf.
Die Symptome sind so charakteristisch, dass man sich immer
wieder wundert, wie oft die Diagnose verfehlt wird und die
Patienten wegen eines »grippalen Infekts«, einer »Nervenein- 9.3.2 Verlauf und Komplikationen
klemmung bei Bandscheibenschaden« oder einer Migräne
falsch oder mit gefährlichen, aktionistischen Maßnahmen Ein Patient mit SAB ist im Verlauf vor allem durch drei Kom-
(»Einrenkung«) behandelt werden. plikationen gefährdet:
Der Schweregrad der SAB wird nach einer Skala der Welt- 4 Rezidivblutung,
gesellschaft für Neurochirurgie in 5 Stufen eingeteilt (. Tabel- 4 verzögert auftretende zerebrale Ischämien mit/ohne Spas-
le 9.1). men
4 Hydrocephalus communicans.
Kopfschmerz, vegetative Symptome
und Meningismus Diese drei Komplikationen haben einen charakteristischen
Das erste Symptom ist der plötzliche, noch nie erlebte Kopf- zeitlichen Ablauf (. Abb. 9.4). Andere Komplikationen sind
schmerz, der sich rasch vom Nacken oder von der Stirn über epileptische Anfälle, Elektrolytstörungen und kardiale Dysre-
den ganzen Kopf und innerhalb weniger Stunden auch zum gulationen (. Tabelle 9.2).
Rücken ausbreitet. Häufig kommt es initial zu vegetativen
Symptomen: Erbrechen, Schweißausbruch, Anstieg oder Ab- Rezidivblutung
fall des Blutdrucks, Temperaturschwankungen und Verände- Hauptrisiko nach eingetretener aneurysmatischer Subarach-
rungen in der Frequenz von Pulsschlag und Atmung. Meist noidalblutung ist bei nicht versorgter Rupturstelle die mit ho-
bildet sich rasch Meningismus aus. Der Meningismus kann her Wahrscheinlichkeit eintretende Rezidivblutung, die mit
jedoch im tiefen Koma nicht mehr nachweisbar sein. einer hohen Letalität von über 70% einhergeht. Dabei liegt in
den ersten 7 Tagen nach der Erstblutung das tägliche Nachblu-
Neurologische Symptome tungsrisiko bei etwa 2%, kumulativ beträgt es 25% innerhalb
Bewusstseinslage. Manche Patienten stürzen bei der akuten der ersten 3 bis 4 Wochen und annähernd 50% für die ersten
Subarachnoidalblutung sofort bewusstlos zu Boden. Eine un- 6 Monate nach dem initialen Ereignis. Danach beträgt das Blu-
klare Zahl von dieser Patienten, man schätzt etwa 30%, sterben tungsrisiko erneut ungefähr 2% pro Jahr; dies liegt nur gering-
innerhalb von Minuten. In der Mehrzahl der Fälle ist das Be- fügig oberhalb der jährlichen Rupturrate bei nicht gebluteten
wusstsein initial nur leicht getrübt. In den ersten Stunden und Aneurysmen (UIAI-Studie, 1998). Nach früheren Blutungen
Tagen nach der Blutung kann sich die Bewusstseinsstörung ist ein basales Aneurysma oft durch leptomeningeale Verwach-
266 Kapitel 9 · Intrakranielle arterielle Aneurysmen und Subarachnoidalblutung

. Tabelle 9.2. Komplikationen nach SAB


Komplikation Zeitpunkt Besonders gefährdet Häufigkeit Therapie
Nachblutung 1. Woche Alle Patienten ca. 25% Frühzeitige Ausschaltung des Aneurysmas
Gefäßspasmen 4–14 (21) Tage Grad III–V ca. 30% Nimotop
HHH
Hydrozephalus 1–21 Tage Alle Patienten ca. 15–20% Akut: Ventrikeldrainage
Chronisch: VP-Shunt
Hyponatriämie (SIADH) 4–14 Tage Grad III–V Unklar i.v. Flüssigkeit (0,9%ige NaCl-Lösung)
Herzrhythmusstörungen 1–14 Tage Alle Patienten ca. 30% Kardiologisch, falls notwendig
Neurogenes Lungenödem Unklar, meist früh Grad III–V selten PEEP-Beatmung, Diuretika, Betablocker,
Epileptische Anfälle Bis zu 3 Wochen Alle Patienten 10% initial Phemytoin, Valproat i.v.
Selten Dauertherapie

Gefäßspasmen kommen durch Einwirkung verschiedener


Blutabbauprodukte auf die Hirngefäße zustande. Gefäßspasmen
setzen nach dem 4. Tag ein und dauern etwa 2–3 Wochen an.
Manche bleiben asymptomatisch, aber oft führen sie durch loka-
le oder globale Minderung der Hirndurchblutung zum Auftreten
9 oder einer Zunahme der Paresen oder der Bewusstseinsstörung.
Spasmen erhöhen das Risiko einer Operation so sehr, dass die
frühe Ausschaltung der Gefäßmissbildung vor der Spasmenphase
generell bevorzugt. In der Angiographie lassen sich die Spasmen
ebenfalls gut dokumentieren (. Abb. 9.5). Man spricht heute vom
delayed ischemic deficit, bei dem Ischämien nicht immer mit
. Abb. 9.4. Schematische Darstellung der Häufigkeit und des
Zeitpunkts von Komplikationen nach Subarachnoidalblutungen.
Spasmen verbunden sind. Andererseits bleiben auch bei nach-
Man erkennt, dass die Nachblutungsphase in den ersten 3–4 Tagen ihr weisbaren Spasmen manchmal ischämische Läsionen aus.
Maximum hat, der Vasospasmus um den 5.–6. Tag beginnt und sein Die transkranielle Dopplersonographie kann über eine Er-
Maximum nach 10 Tagen erreicht. Ein Hydrozephalus kann zu jedem höhung der Flussgeschwindigkeit in den verengten Gefäßen
Zeitpunkt nach Subarachnoidalblutung, bis hin zu 4 Wochen, auftreten Spasmen nachweisen, liefert aber keine Information über die
Perfusion in den abhängigen Hirnarealen. Die Methode dient
sungen gegen den Subarachnoidalraum abgedeckt, so dass die zur Verlaufskontrolle und Schweregradbestimmung des Va-
Rezidivblutung in die Hirnsubstanz einbrechen kann. Die sospasmus (. Abb. 9.6). Eine geeignete Methode zur Diagnose
Symptomatik entspricht dann einer hypertensiven intrazere- von Perfusionsdefiziten ist die CT-Perfusion, falls Gefäßterri-
bralen Massenblutung (7 Kap. 6.1). torien nicht beidseitig betroffen sind.
Oft bricht die Blutung auch ins Ventrikelsystem ein und
führt zur Ventrikeltamponade. Die Prognose ist dann schlecht: Hydrozephalus
Viele Kranke sterben innerhalb weniger Tage, wenn nicht Durch Blockierung der Arachnoidalzotten und der basalen
rechtzeitig eine Ventrikeldrainage gelegt wird (7 Kap. 6.4.1). Zisternen kann sich innerhalb weniger Tage ein Hydrocepha-

. Abb. 9.5. (a) Schwere Vasospamen der


terminalen A. carotis interna sowie der A.
cerebri media re. nach aneurysmatischer
SAB. Die vasospastischen Gefäßsegmente
wurden mit einem Ballonkatheter auf-
dilatiert (b), hierdurch deutliche Gefäß-
aufweitung und bessere Perfusion der
rechten Hirnhemisphäre

a b
9.3 · Akute Subarachnoidalblutung (SAB)
267 9
Erweiterung der Temporalhörner. Infolge der begleitenden
Hirnschwellung sind die im mittleren und höheren Lebensalter
normalerweise sichtbaren Rindenfurchen verstrichen. Der Hy-
drocephalus communicans kann spontan reversibel sein. Meist
ist aber für einige Tage eine externe Ventrikeldrainage notwen-
dig. Bei kommunizierendem Hydrozephalus kann für eine
gewisse Zeit (<10 Tage) der Liquor auch über eine lumbale
Drainage abgeleitet werden. Ist die Ableitung über längere Zeit
erforderlich, muss der Patient mit einem ventrikuloatrialen
oder ventrikuloperitonealen Shunt versorgt werden.
Seltener ist der Hydrocephalus occlusus, der durch Blut-
clots im Ventrikel, die zu einer Aquädukt- oder Foramen-Mon-
roi-Blockade führen, entsteht. Auch hier ist die frühe Liquorau-
ßenableitung entscheidend.

Intrakranielle Hämatome
Neben der Ausbreitung der Blutung im Subarachnoidalraum
kann es auch zu Parenchymblutungen oder auch subduralen
Blutungen kommen. Insbesondere Aneurysmen der MCA er-
zeugen nicht selten größere, raumfordernde Hämatome, die zu
den klinischen Zeichen der Einklemmung führen und eine so-
fortige Intervention herausfordern. Solche schweren Subarach-
noidalblutungen – meist Grad V – in der Verbindung mit einer
raumfordernden intrazerebralen Blutung haben jedoch eine
wesentlich bessere Prognose als Grad-IV/V-Blutungen ohne be-
gleitendes Hämatom.
. Abb. 9.6. Transkranielle Dopplersonographie mit Spasmen
im Karotissiphon, der Arteria cerebri media und der Arteria Andere Komplikationen
cerebri anterior, alle rechts. Bei diesem Patienten lag ein inzwischen Elektrolytstörungen. Bei den Veränderungen des Elektrolyt-
geclipptes Mediaaneurysma auf der rechten Seite vor. (R. Winter, haushaltes spielen insbesondere Hyponatriämien (<130 mval/l)
Heidelberg) eine entscheidende Rolle, die sich bei fast einem Drittel der
Patienten nachweisen lasen. Während in früheren Jahren als
lus communicans einstellen, bei dem sich Wachheit und mögliche Ursache eine inadäquate ADH-Sekretion (SIADH)
Antrieb verschlechtern. Er kann früh, innerhalb von Stunden vermutet wurde, wird aktuell doch eher eine verstärkte Natriu-
und spät, nach 1–2 Wochen entstehen. Ein Hydrozephalus rese diskutiert. Ursächlich könnte eine mechanische Irritation
kann durch eine Blockade der Liquorzirkulation durch Blut- des Hypothalamus verantwortlich sein. Klinische Symptome
clots (Okklusivhydrozephalus) und durch Behinderung der umfassen Bewusstseinsstörungen, Asterixis, Herdsymptome
Liquorabsorption (H. communicans) hervorgerufen werden. und epileptische Anfälle, die bei raschem Abfall der Natrium-
Die Diagnose ist mit Hilfe der CT gut möglich: Man erkennt spiegel auf Werte unter 125 mval/l auftreten (s.a. konservative
eine Größenzunahme der inneren Liquorräume, besonders die Therapie).

Exkurs
Gefäßspasmen
Zur Entstehung der zerebralen Gefäßspasmen sind verschie- zung spasmogener Metaboliten über lysierte Erythrozyten
dene pathophysiologische Vorstellungen entwickelt worden, wird seit Beginn aller Spasmendiskussionen als mögliche
die jedoch auch heute eine Klärung der molekularen Ursa- Erklärung herangezogen, die bekanntesten und umfassend
chen der Spasmengenese nicht ermöglichen. Bisherige untersuchten Substanzen kommen aus der Gruppe der Endo-
Überlegungen fokussieren auf zwei grundlegende Mechanis- theline, Polypeptide mit vasokonstriktorischen Effekten. Auch
men: zum einen auf die während der Erythrozytenlyse frei- Plasminen und Prostaglandinen werden gefäßverengende Wir-
werdenden vasoaktiven, potentiell spasmogenen Substan- kungen zugesprochen, während andere Untersuchungen auf
zen, die eine intakte Gefäßwand beeinflussen, zum anderen eine Blockierung vasodilatativer Peptide wie der Substanz P
werden entzündliche Veränderungen in den Gefäßwänden oder dem calcitonin-gene-related peptide (CGRP) durch ent-
verantwortlich gemacht. Für letztere Annahme sprechen sprechende Antagonisten hinweisen. In jüngerer Zeit wird die
nachgewiesene Spiegel aktivierter Komponenten des Kom- Spasmenhypothese durch das Konzept des delayed ischemic
plementsystems im Plasma und im Liquor der betroffenen deficit ergänzt, da sich bei etwa 50% der Ischämien keine
Patienten. Auch zeigen sich Komplementablagerungen in Spasmen nachweisen lassen und es bei etwa 50% der Spas-
den histologisch untersuchten Gefäßwänden. Die Freiset- men nicht zu Ischämien kommt.
268 Kapitel 9 · Intrakranielle arterielle Aneurysmen und Subarachnoidalblutung

Epileptische Anfälle. Ein Zehntel der Patienten hat epileptische 4 Blut mit Schwerpunkt in der Sylvischen Furche für ein Me-
Anfälle zu Beginn der SAB oder im Verlauf. Symptome und diaaneurysma (. Abb. 9.7d).
Behandlung unterscheiden sich nicht von anderen, symptoma- 4 Blutungen aus diesen Aneurysmen können auch einen
tischen Epilepsien. deutlichen Anteil an intrazerebralem Blut haben.
4 Massive Blutmengen im Subarachnoidalraum sprechen für
Kardiale Symptome. Sehr typisch sind kardiale Symptome und die Entwicklung von Vasospasmen und eines frühen Hydroze-
Komplikationen nach SAB. Spezifische Enzymerhöhung (CK- phalus.
MB), Troponinerhöhung, EKG-Veränderungen (bei 50–80% 4 Intraventrikuläres Blut kommt bei Communicans-anteri-
der Patienten), zum Teil lebensbedrohliche supra- und ventri- or-Aneurysmen vor,
kuläre Rhythmusstörungen sind meist, aber nicht immer, neu- 4 Blut im vierten Ventrikel folgt oft Blutungen aus PICA-
rogen verursacht. Bei manchen Patienten wurden aber auch Aneurysmen. Bei beiden ist ein Hydrozephalus häufig.
autoptisch mikroskopische Myokardblutungen und Ischämien 4 Ein unauffälliges CT kann bei kleinen (Warnungsblu-
beschrieben. Herzinfarkte in der perioperativen Phase sind tung) oder Tage zurückliegenden Aneurysmablutungen vor-
nicht ungewöhnlich. kommen.
4 Kleine Mengen von Blut in den perimesenzephalen
Zisternen sind oft nicht aneurysmatisch entstanden (. Abb.
9.3.3 Diagnostik 9.7a).

Computertomographie Heute wird praktisch immer eine CT-Angiographie ange-


Die Computertomographie mit CTA ist die erste diagnostische schlossen, die schon in vielen Fällen das Aneurysma sichtbar
Maßnahme bei Verdacht auf SAB. Wenn das CT erst einige machen kann. Die MRA wird bei der akuten SAB dagegen sel-
Tage nach der SAB gemacht wird, sinkt die Empfindlichkeit ten eingesetzt. Sie eignet sich viel besser zur weiterführenden
9 des CTs. Nach 7 Tagen ist das CT nur noch bei etwa 50% der Diagnostik bei Aneurysmen ohne SAB. Die CTA und die MRA
Patienten positiv. Ausmaß und Lokalisation des Schwerpunkts können Aneurysmen bis zu einer Größe von 3 mm im Durch-
der Blutung, möglicher Sitz des Aneurysmas und Ventrikel- messer nachweisen (. Abb. 9.2).
größe können sofort beurteilt werden (. Abb. 9.7).
4 Blut mit Schwerpunkt im vorderen Interhemisphärenspalt Magnetresonanztomographie
(. Abb. 9.7b) spricht für ein Aneurysma der A. communicans Die akute SAB stellt sich in Spin-Echo und FLAIR-Sequenz
anterior, sicher. Länger zurückliegende SABs lassen sich hingegen mit

. Abb. 9.7a–d. CT-Befunde bei Subarach-


noidalblutungen verschiedener Lokalisa-
tion. a Präpontine SAB. b Ausgedehnte SAB
in den gesamten basalen Zisternen mit Be-
tonung im frontalen Interhemisphärenspalt
(ACom aneurysma?). c SAB mit deutlichem
raumfordernden intraparenchymalem Blut-
anteil. d Umschriebene SAB in der rechten
Inselzisterne

a b

c d
9.3 · Akute Subarachnoidalblutung (SAB)
269 9
Exkurs
Wie ausführlich muss die Angiographie bei Suche nach einem Aneurysma sein?
Eine komplette Pan-Angiographie (beide Karotiden und Wenn eine perimesenzephale Blutung vorliegt und die
mindestens eine Vertebralarterie, Rückfluss in den intradu- erste Angiographie technisch in Ordnung war, braucht eine
ralen Teil der kontralateralen Vertebralarterie vorausgesetzt) Reangiographie nicht durchgeführt zu werden, da dann die
muss bei allen SAB-Patienten durchgeführt werden, um Wahrscheinlichkeit, doch noch ein Aneurysma zu finden,
multiple Aneurysmen nicht zu übersehen. Nichtselektive verschwindend gering ist (s.u.). Bei ubiquitär verteiltem
Angiographien (Aortenbogenangiographie oder Brachialis- subarachnoidalen Blut und negativer, erster Angiographie ist
angiographie) sind nicht ausreichend. eine Wiederholungsangiographie nach 2 bis 3 Wochen not-
Zeigen die Standardeinstellungen noch kein Aneurysma, wendig, die dann bei etwa 10% dieser Patienten ein Aneurys-
sind auch Schrägeinstellungen zur Freiprojektion von Gefäß- ma nachweisen kann. Diese Kontrollangiographie wird nicht in
aufteilungsstellen, auch mit Kompression der gegenseitigen der Spasmenphase durchgeführt.
Karotis, erforderlich.

dem MRT besser als im CT nachweisen, da Blutabbauprodukte ten Aneurysmen entgehen nicht der MR-Untersuchung. Bei
hohe Signale im T1- oder T2-Bild zeigen. etwa 15% der Patienten ist das initiale Angiogramm nach aku-
Wenn bei multiplen Aneurysmen die Quelle der akuten ter SAB negativ.
Blutung nicht klar ist, hilft die MR-Untersuchung durch die
Lokalisation von frischen Blutabbauprodukten. Thrombosier- Lumbalpunktion
te Riesenaneurysmen (. Abb. 8.10) werden mit der MRT in Der Liquor ist bei 95% der Patienten mit SAB frisch blutig. Im
Morphologie und Topographie gut dargestellt. Unterschied zur artefiziellen Blutbeimengung durch die Punk-
tion ist die rote Verfärbung gleichmäßig und nimmt mit dem
Angiographie Abtropfen des Liquors nicht ab (sog. 3-Gläserprobe). Später als
Auch wenn mit CT-Angiographie und MR-Angiographie An- 3 h nach der Blutung ist der Überstand nach Zentrifugieren bei
eurysmen nachgewiesen werden können, ist die DSA die Me- SAB durch Erythrozytenzerfall xanthochrom, bei frischer ar-
thode der Wahl für tefizieller Blutbeimengung dagegen klar. Vier Stunden nach
4 den Nachweis der Aneurysmalokalisation und Konfigura- einer Subarachnoidalblutung lassen sich zytologisch hämosi-
tion (. Abb. 9.8), derinspeichernde Erythrophagen nachweisen, die im artefiziell
4 für die Suche nach multiplen Aneurysmen (. Abb. 9.2), blutigen Liquor fehlen.
4 die Beurteilung der kollateralen Blutversorgung und Die Xanthochromie entsteht innerhalb von wenigen
4 die Beurteilung des Ausmaßes des Vasospasmus. Mit der Stunden und ist für bis zu 2 Wochen nach der SAB nach-
Angiographie kann auch die Flussdynamik innerhalb großer weisbar. Ferritin und Siderophagen im Liquor können eine
Aneurysmen gezeigt werden. SAB auch noch nach 3–4 Wochen nachweisen, es gibt jedoch
4 Nachweis einer Gefäßmalformation als Ursache der SAB, auch hierbei falsch-negative Befunde. Bei massivem Blut-
4 ggf. endovaskuläre Ausschaltung des Aneurysmas (. Abb. einbruch kann das Liquoreiweiß auf das Zehnfache der
9.9c). Norm ansteigen (Relation Blut- zu Liquoreiweiß normaler-
weise 200:1).
Die Aneurysmen stellen sich als Kontrastmittelaussackun-
gen dar. Manchmal ist das Aneurysma durch Thrombose > Eine Lumbalpunktion (LP) bei Verdacht auf SAB wird
kurzfristig verschlossen, und erst bei der Kontrollangiogra- nur dann durchgeführt, wenn im CT kein sicherer
phie zeigt sich das wieder offene Lumen. Solche thrombosier- Nachweis von subarachnoidalem Blut gelingt.

a b c

. Abb. 9.8a–c. Darstellung von drei sackförmigen Aneurysmen unterschiedlicher Lokalisation


270 Kapitel 9 · Intrakranielle arterielle Aneurysmen und Subarachnoidalblutung

a b c

. Abb. 9.9. Riesenaneurysma der ACI am Abgang der A. ophthal- A. carotis interna mit einem Stent geschützt wurde. c In der Abschluss-
mica. a Ansicht des Aneurysmas in der 3D-Angiographie. b Das Aneu- serie zeigt sich eine Ausschaltung des Aneurysmas von der Zirkulation
rysma wurde mit Coilspiralen ausgefüllt, nachdem das Lumen der

. Abb. 9.10. Perimesenzephale prä-


pontine SAB mit Blutungsschwerpunkt
vor der Brücke und in der perimesenze-
phalen Zisterne. In der Angiographie kein

9 Aneurysmanachweis

Transkranielle Dopplersonographie 9.3.4 Therapie


Die TCD wird zur Feststellung und zum Monitoring intrazere-
braler Gefäßspasmen eingesetzt. Wenn ein transkranielles Aneurysmaausschaltung
Schallfenster vorliegt, ist diese Methode verlässlich und prak- Nach angiographischer Darstellung eines oder mehrerer An-
tikabel einsetzbar. Dauer und Dosierung der Vasospasmus- eurysmen als Blutungsquelle für die SAB sollten diese so rasch
therapie können darüber gesteuert werden. Die TCD erlaubt wie möglich ausgeschalten werden. Dazu stehen mit dem en-
allerdings nur indirekte Hinweise auf die Hirndurchblutung, dovaskuläre Ausstopfen des Aneurysmas mit Platinspiralen
so dass eine quantitative Aussage nicht möglich ist. Die Abfol- (Coiling) durch einen Neuroradiologen und dem neurochirur-
ge der diagnostischen Schritte und der Einsatz der verschie- gischen Aneurysma-Clipping zwei Möglichkeiten zur Aus-
denen Methoden ist in . Tabelle 9.3 zusammengestellt. wahl. Eine hypertensive Volumentherapie (s.u.) kann nur

. Tabelle 9.3. Diagnostik nach SAB


Methode Zeitpunkt Aussagekraft
Computertomographie Sofort SAB-Nachweis, Differentialdiagnosen, Frühhydrozephalus
Im Verlauf Nachblutung, Hydrozephalus
Lumbalpunktion Wenn CT negativ Blutungsnachweis, auch bei länger zurückliegenden Blutungen
Angiographie Vor Operation Aneurysmanachweis
Magnetresonanztomographie Im Verlauf, subakut Aneurysmanachweis, andere Blutungsquellen, ischämische Läsionen, Spasmen
Transkranielle Dopplersonographie Im Verlauf Spasmennachweis/Monitoring
9.3 · Akute Subarachnoidalblutung (SAB)
271 9
durchgeführt werden, wenn das Aneurysma ausgeschaltet ist, klinischen Zustand (WFNS 1 und 2) und hatten Aneurysmen
da andernfalls ein hohes Nachblutungsrisiko bestehen würde. der vorderen Hirnzirkulation (97,3%). Im Langzeitverlauf ist
die Rate von erneuten SABs zwischen den beiden Methoden
Chirurgische Therapie. Das Prinzip der Aneurysmaoperation nicht unterschiedlich, allerdings müssen endovaskulär be-
besteht darin, den Aneurysmahals durch einen Gefäß-Clip zu handelte Patienten häufiger nachbehandelt werden, da die
komprimieren. Manchmal wird das Aneurysma auch rese- Coilpakete nicht selten kompaktieren und erneut Teile des
ziert. Die Umhüllung der Rupturstelle mittels Muskel oder Aneurysmas durchblutet werden.
Baumwollwatten, das Wrapping, ist weniger effizient, redu- Es wird empfohlen, eine individuelle Therapieentschei-
ziert zwar das Risiko einer Blutung, verhindert diese jedoch dung in interdisziplinärer Absprache zwischen Neuroradio-
nicht. Auch das sog. Trapping, die Ausschaltung des Gefäßes logen, Neurochirurgen und Neurologen, zu treffen. Das endo-
vor und nach der aneurysmatischen Aussackung, ist eine si- vaskuläre Coiling kann auch bei SAB-Patienten in den WFNS-
chere Methode, jedoch nur an manchen Lokalisationen, wie Graden IV und V, bei Patienten mit Vasospasmus und bei
etwa der ACom, durchführbar. Aneurysmen der posterioren Zirkulation durchgeführt wer-
Eine frühe Aneurysmaoperation kann Nachblutungen den. Da nach Coiling rekanalisierte Aneurysmen (10–15%)
effektiv verhindern, ist aber technisch aufgrund von Hirn- und inkomplett ausgeschaltete Aneurysmen häufiger sind als
schwellung und frischem Blut im Subarachnoidalraum schwie- nach der Operation, müssen gecoilte Aneurysmen nach 6 Mo-
riger. Die schlechteste Prognose haben Patienten, die zwischen naten kontrollangiographiert werden. Kombinierte neurora-
dem 7. und 10. Tag nach SAB operiert werden, vermutlich diologisch/neurochirurgische Operationen werden bei gro-
wegen der hohen Spasmenrate. Trotz immer wieder geführter ßen oder schwer zugänglichen Aneurysmen der Schädelbasis
Diskussionen über den besten Zeitpunkt der Aneurysmaope- durchgeführt.
ration hat sich zwischenzeitlich die Frühoperation innerhalb Die rasche Entwicklung neuer endovaskulärer Behand-
der ersten drei Tage nach Blutung durchgesetzt. Kritiker des lungsmethoden lassen noch große Fortschritte auch bei bislang
frühen Eingriffes konnten den Nachweis dadurch bedingter, schwer behandelbaren Patienten erwarten, genannt seien hier
zusätzlicher neurologischer Schädigungen nicht führen. Auch nur weiterentwickelte Coils, das stentgeschützte Coling von
haben spätere, separate Analysen aus der gleichen Datener- Aneurysmen ohne klar definierten Hals oder der Einsatz von
hebung gezeigt, dass doch eine günstigere Prognose mit einer Stents, die die Durchblutung des Aneurysmas wegen der engen
frühen Intervention einhergeht. In den meisten Zentren wer- Maschen reduzieren, aber nicht den Fluss in kleine Gefäße be-
den heute Patienten mit Hunt-und-Hess-Graden I bis III nach hindern (sog. flow diverter).
Möglichkeit früh, d.h. innerhalb von 1–2 Tagen nach der SAB
operiert. Die Operation ist besonders vielversprechend bei Konservative Therapie
Patienten Initialbehandlung vor Aneurysmaoperation. Die allgemeine
4 in gutem klinischen Zustand (WFNS I–III), Behandlung entspricht der beim ischämischen Infarkt. Aus-
4 deren Aneurysma frühzeitig (am 1. und 2. Tag nach den nahmen sind die initiale antihypertensive Therapie und die
Erstsymptomen der SAB) behandelbar ist und die frühe Behandlung des erhöhten intrakraniellen Drucks. Alle
4 keinen Hinweis auf einen schon beginnenden Vasospas- SAB-Patienten, auch im Grad I und II, werden intensivmedi-
mus (transkranieller Doppler) haben. zinisch behandelt.
In vielen Kliniken gilt dies auch für Grad-IV-Patienten.
Sedierung und Schmerzbehandlung. Die ersten Maßnahmen
Neuroradiologische Behandlungsmöglichkeiten. Inzwischen sind Sedierung und Schmerzbehandlung durch Bettruhe, An-
können viele Aneurysmen, einschließlich solcher, die chirur- algetika, wie Buprenorphin (z.B. Temgesic) 0,15 mg i.v. 4- bis
gisch nicht therapierbar sind, mit interventionell neuroradio- 6-stündlich, und zusätzlich Tranquilizer, z.B. Diazepam (z.B.
logischen Maßnahmen behandelt werden. Elektrolytisch los- Valium®) 5 mg, wiederholt nach Wirkung.
lösbare Platinspiralen (coils), die über dünne Katheter in das
Aneurysma eingebracht werden, füllen dieses aus und triggern Blutdruck. Sehr hohe initiale Blutdruckwerte, wie sie nach SAB
eine Thrombosierung im Aneurysma. Diese Prozedur wird als oft gefunden werden, erhöhen das Risiko der frühen Nachblu-
coiling bezeichnet (. Abb. 9.9). tung.
Inzwischen gibt es gut belegte Daten, die zeigen, dass die 4 Deshalb werden erhöhte systolische Blutdruckwerte auf
endovaskuläre Behandlung von Aneurysmen, die dieser The- etwa 140–160 mmHg gesenkt. Man setzt Urapidil 25 mg i.v.
rapie zugänglich sind, eine günstigere Prognose für Überleben oder Nifedipin (oral 10 mg oder i.v. über Perfusor) ein.
und Überlebensqualität haben. Nach der ISAT-Studie ist die 4 Betablocker sind auch günstig, da sie den stressinduzierten
kurzfristige Prognose (Mortalität und Behinderungsgrad nach hohen Druck gut modifizieren. ACE-Hemmer oder Clonidin
1 Jahr) nach endovaskulärem Coiling besser als nach Aneurys- können ebenfalls eingesetzt werden.
ma-Clipping (absolute Risikoreduktion 6,9%, relative Risiko- 4 Auch der blutdrucksenkende Effekt von Nimodipin kann
reduktion 22,6%). Seither wird von vielen das Coiling als Me- hilfreich sein.
thode der 1. Wahl angesehen. Die Studienergebnisse sind je-
doch nicht unumstritten: Nur ein Viertel der ursprünglich für Behandlung des Vasospasmus. Der Vasospasmus ist der we-
die Studie vorgesehen Patienten wurden letztendlich in der sentliche Grund für die Verschlechterung der Patienten zwi-
Studie behandelt. Viele dieser Patienten waren in einem guten schen dem 4. und 10. Tag nach SAB. Dies gilt für operierte und
272 Kapitel 9 · Intrakranielle arterielle Aneurysmen und Subarachnoidalblutung

für nichtoperierte Patienten. Da die meisten Patienten im Weitere Therapieansätze bei manifesten Spasmen
Grad I–III heute früh operiert werden, sehen wir mehr post- 4 Die intraarterielle Infusion von Papaverin, einem starken
operative Gefäßspasmen. Vasodilatator, wird wegen erheblicher Nebenwirkungen (Break-
Der Kalziumantagonist Nimodipin (Nimotop®) senkt sig- through-Mechanismen und Einblutungen) nur in Einzelfällen
nifikant das Risiko für Symptome durch einen Vasospasmus. durchgeführt.
Vermutlich spielt auch eine neuroprotektive Wirkung eine 4 Bei monosegmentalen Spasmen, z.B. an der A. carotis in-
Rolle. terna, ist manchmal eine interventionelle Ballondilatation in-
4 Wir geben allen Patienten i.v. Nimodipin in einer Dosie- diziert.
rung von 2 mg/h (halbe Dosis für 1–2 h bei manchen Patienten
mit deutlicher Blutdrucksenkung). Die orale Gabe ist aller- Hydrozephalus
dings ähnlich wirksam (Nimodipin 60 mg alle 4–6 h) und hat 4 Die Behandlung bei frühem oder subakutem Hydrozepha-
weniger Einfluss auf den Blutdruck. Die Metaanalyse der vor- lus besteht in der Ventrikeldrainage, die die Entfernung von
liegenden kontrollierten Studien spricht dafür, dass Nimodipin Liquor aus dem Ventrikelsystem und die Messung des intraze-
bei allen Schweregraden der SAB wirkt. Dies gilt auch, wenn rebralen Drucks ermöglichen.
kein Aneurysma vorliegt. Als Nebenwirkungen können Kopf- 4 Externe Ventrikeldrainagen können unter Antibiotikapro-
schmerzen, akuter Ileus, pulmonale Rechts-links-Shunts und phylaxe für 7–10 Tage liegen. Sollte nach Abklemmen dann
Leberenzymerhöhungen auftreten. immer noch ein erhöhter Druck festgestellt werden, wird ein
4 Wegen Gefäßreizung der alkoholischen Lösung muss ein definitiver Shunt angelegt (7 Kap. 35.2.1).
zentraler Venenkatheter gelegt werden. Nimodipin i.v. muss in
lichtundurchlässigen Infusionssystemen gegeben werden. Weitere intensivmedizinische Behandlung
nach SAB
Hypertensiv-hypervolämische Hämodilution. Bei klinisch 4 Elektrolytstörungen: Viele SAB-Patienten entwickeln
9 manifesten Gefäßspasmen und hierdurch bedingten ischä- Elektrolytstörungen, vor allem eine Hyponatriämie, vermut-
mischen Symptomen wird, wenn das Aneurysma ausge- lich als Folge eines SIADH und eines renalen Salzverlustes. Die
schaltet ist, heute eine hypertensiv-hypervolämische Hämo- Hyponatriämie beginnt meist am Ende der ersten Woche nach
dilution (HHH, Triple-H-Therapie) durchgeführt. Bei Ein- der Subarachnoidalblutung und kann 2 Wochen andauern.
satz innerhalb von Stunden nach Auftreten eines sympto- Die Behandlung besteht in isotonischen Salzlösungen und Vo-
matischen Vasospasmus kann sie ischämische Symptome zu- lumentherapie.
rückbilden. 4 Epileptische Anfälle: 15% der Patienten mit Subarach-
4 Sie besteht in einer hypertensive Therapie (bis zu 6 l/Tag noidalblutung entwickeln epileptische Anfälle, die nach den
oder mehr) mit Volumenexpandern (z.B. HAES steril® 500– üblichen Richtlinien behandelt werden. Eine prophylaktische
1000 ml/d oder Albumin 5% 4-mal 250 ml/Tag) und der Infu- Behandlung mit Antiepileptika ist nicht indiziert.
sion von adrenergen Substanzen, wie Dobutamin (2,5–10 μg/ 4 Hirndruck: Bei klinischen Zeichen des erhöhten Hirn-
kg KG/min), oder auch Noradrenalin (0,1 μg/kg KG/min). drucks (Erbrechen, Schluckauf, zunehmende Bewusstseinstrü-
Diese Behandlung kann nur auf Intensivstationen mit hämo- bung, Pupillenstörungen) behandelt man nach den in Kap. 5
dynamischem Monitoring durchgeführt werden. vorgestellten Prinzipien.
4 Da zum Teil systemische Blutdrucksteigerungen bis zu 5 Neben der allgemeinen Hirndrucksenkung durch Ober-
180–200 mmHg angestrebt werden, hat die Behandlung be- körperhochlagerung (10–30°), einer leichten Hyperventilation
trächtliche kardiale und pulmonale Risiken (hydrostatisches (pCO2 32–34 mmHg) und einer adäquaten Analgosedierung
Lungenödem, Myokardischämie, Hirnödem). mit Opiaten/Benzodiazepinen kann die Osmotherapie mit

Empfehlungen zur Therapie der aneurysmatischen SAB*


4 Die Diagnose einer aneurysmatischen Subarachnoidal- 4 Die Entscheidung zum Coiling oder Clipping setzt bis
blutung erfordert aufgrund des hohen frühen Reblutungs- dahin eine interdisziplinäre Absprache von Neurochirurgen,
risikos die möglichst rasche Ausschaltung des gebluteten Neuroradiologen und Neurologen voraus.
Aneurysmas (A). 4 Nimodipin verhindert die Komplikation des symptoma-
4 Das neurochirurgische Clipping (A) und das neuroradio- tischen Vasospasmus (A) und sollte bei allen Patienten mit
logische Coiling (A) des Aneurysmas sind Verfahren mit aneurysmatischer Subarachnoidalblutung gegeben werden,
ähnlicher Wirksamkeit. Das am besten geeignete Verfahren wenn die Aufrechterhaltung eines normalen Blutdrucks dies
muss individuell festgelegt werden. erlaubt (A).
4 Das Coiling von Aneurysmen über einen neuroradiolo- 4 Ischämische Symptome mit/ohne Vasospasmus können
gischen Zugang zeigt bei selektionierten Patienten bessere mit der hypertensiven hypervolämischen Hämodilution (B),
Einjahresdaten (Behinderungsgrad, Tod) als das Aneurysma- der transluminalen Ballonabgioplastie (B) oder intraarterieller
Clipping (A). Papaveringabe (B) behandelt werden.

* gekürzt nach Leitlinien der DGN 2008


9.5 · Subarachnoidalblutung ohne Aneurysmanachweis
273 9
Mannitol (z.B. 4- bis 6-mal 80 ml/Tag) oder Glycerol (2- bis holte Kontrollen mit der transkraniellen Dopplersonographie
3-mal 250 ml/) den Hirndruck erfolgreich senken. (TCD) erfolgen.
5 Oft genügt die ausreichende Liquordrainage durch den
Ventrikelkatheter zur Senkung des Hirndrucks. 3Therapie. Bei perimesenzephaler SAB ohne Aneurysma-
5 Dexamethason (20–40 mg initial, gefolgt von 6-mal 4 mg/ nachweis und bei Patienten ohne Blutungsquellennachweis
Tag) wird nur postoperativ gegeben. in der initialen Angiographie ist keine intensivmedizinische
5 Andere Maßnahmen sind in Kap. 5 beschrieben. Therapie mehr erforderlich. Häufigste Komplikation ist der
Hydrozephalus, der ggf. mit einer Außenableitung versorgt
Prognose werden muss. Bei Hinweisen auf einen sich entwickelnden Va-
Die wesentlichen prognostischen Faktoren sind das Alter, der sospasmus (Flussgeschwindigkeitsanstieg) kann auch hier ora-
Grad der initialen Bewusstseinsstörung (die Letalität steigt von les Nimodipin prophylaktisch (Nimotop® 60 mg alle 4–6 h)
20% bei wachen auf 80% bei initial komatösen Patienten), die verabreicht werden. Diese Patienten können nach Aufklärung
Menge des subarachnoidalen Blutes und die Lokalisation des über die gute Prognose der Krankheit schon bald nach Hause
Aneurysmas. Aneurysmen im hinteren Hirnversorgungsgebiet entlassen werden.
und viel subarachnoidales Blut in den Zisternen und Ventrikeln
haben eine schlechte Prognose. Insgesamt liegt die Letalität 3Prognose. Diese Blutungen haben eine weitaus bessere
innerhalb des ersten Monats mit über 40% sehr hoch, wobei be- Prognose als Patienten mit Aneurysmanachweis. Das Nachblu-
rücksichtigt werden muss, dass 15–20% der Patienten bereits vor tungsrisiko ist äußerst gering. Dennoch sind viele Patienten
Erreichen des Krankenhauses versterben. Etwa ein Drittel der anschließend verunsichert und werden in der Zukunft auf
überlebenden Patienten hat ein bleibendes neurologisches Defi- Kopfschmerzen sehr sensibel reagieren. Dies ist in Anbetracht
zit. Bleibende neuropsychologische Defizite sind noch häufiger. der initialen Schmerzsymptomatik gut nachzuvollziehen.
Bei Patienten, bei denen kein Aneurysma nachgewiesen Wenn sie mit erneuten Kopfschmerzen in die Notaufnahme
werden kann, ist die Prognose weitaus besser. Die Prävalenz kommen, soll ein CT durchgeführt werden, um die Angst vor
asymptomatischer Aneurysmen wird auf 2,5% geschätzt. Die einer Rezidivblutung zu nehmen.
Wahrscheinlichkeit der Ruptur eines solchen Aneurysmas liegt
bei 0–10%/Jahr in Abhängigkeit von Größe und Lage.
9.5 Subarachnoidalblutung
ohne Aneurysmanachweis
9.4 Perimesenzephale
und präpontine SAB Alle anderen SABs ohne Aneurysmanachweis bleiben ver-
dächtig auf eine Aneurysmablutung und erfordern wiederhol-
3Definition. Bei manchen Patienten mit Symptomen einer te angiographische Diagnostik. Bei ihnen liegt im Computer-
SAB findet man im CT eine umschriebene Blutung präpontin, tomogramm das Blut an Lokalisationen, die aneurysmatypisch
prämesenzephal oder perimesenzephal. Das Blut liegt in den sind, z.B. in der Sylvischen Fissur über der Inselrinde, in den
Zisternen um das Mittelhirn, jedoch nicht in der Sylvischen basalen Zisternen oder im frontalen Interhemisphärenspalt.
Fissur, im frontalen Interhemisphärenspalt oder in den Vent- Im Gegensatz zu den perimesenzephalen Blutungen besteht
rikeln. Bei ihnen gelingt der Nachweis eines Aneurysmas oft ein hohes Reblutungs- und Komplikationsrisiko. Mögliche
nicht. Sie entwickeln nur selten Gefäßspasmen und neigen Blutungsquellen sind nicht entdeckte kleine oder thrombosier-
nicht zur Nachblutung. Vermutlich handelt es sich hierbei um te Aneurysmen, arteriovenöse Malformationen, Sinus- und
eine venöse Blutung. Bei manchen dieser Patienten sind vor Venenthrombosen, Durafisteln, vaskuläre Malformationen
der Blutung Aktivitäten mit Erhöhung des intrathorakalen und Tumoren (z.B. Hämangioblastome) im Hals- und oberen
und intraabdominellen Drucks (schweres Heben, Abstützen, Brustwirbelsäulenbereich.
Valsalva-Mechanismen, sexuelle Betätigung) eruierbar.
3Diagnostik. Bei fehlendem Aneurysmanachweis in der
3Diagnostik. Die CT zeigt den Befund, der für diese Entität initialen Angiographie kann z.B. die fehlende Darstellung einer
namensgebend ist: Eine Ansammlung von subarachnoidalem typischen Aneurysmalokalisation (R. communicans anterior
Blut vor der Brücke, dem Mesenzephalon und in den peri- oder posterior), die Thrombose des Aneurysmas oder ein Va-
mesenzephalen Zisternen. Auf die initiale Angiographie kann sospasmus dafür verantwortlich sein. Eine Nachangiographie
bei diesem Blutungstyp nicht verzichtet werden, da in 2,5–5% nach Tagen oder Wochen, aber nicht bei Vasospasmus (Kon-
doch ein Aneurysma nachweisbar ist. Eine weitere Angio- trolle durch transkranielle Dopplersonographie), ist notwendig.
graphie nach einigen Wochen bei fehlendem Aneurysmanach- Die wiederholte Angiographie kann dann in bis zu 15% ein
weis und gut beurteilbarer Erstuntersuchung mit kompletter Aneurysma nachweisen. Wenn der Blutungsschwerpunkt in
Viergefäßdarstellung, auch in gedrehten Einstellungen und der hinteren Schädelgrube liegt, ist eine zervikale MRT und die
ohne Vasospasmus ist nur notwendig, wenn die Blutmenge spezielle Darstellung der Vertebralarterien auch im extradu-
sehr groß ist oder asymmetrisch verteilt ist. Allerdings reicht ralen Verlauf sinnvoll.
eine negative CT- oder MR-Angiographie nicht aus, um ein
Aneurysma auszuschalten. Obwohl ein symptomatischer Va- 3Therapie. Die üblichen Komplikationen nach SAB, Reblu-
sospasmus bei dieser SAB sehr selten ist, sollten initial wieder- tung, Hydrozephalus und Vasospasmus können auftreten und
274 Kapitel 9 · Intrakranielle arterielle Aneurysmen und Subarachnoidalblutung

werden wie oben beschrieben behandelt. Ein sekundär gefun- 4 Die zweite Form ist das raumfordernde, basale Aneurysma
denes Aneurysma oder vaskuläre Malformationen (Durafistel, mit druckbedingten, lokalen, neurologischen Symptomen.
Angiome) sollen so rasch wie möglich operiert oder endovas- Diese Aneurysmen sind in der Regel sehr groß und oft teil-
kulär verschlossen werden. Bei Blutnachweis in den basalen weise, manchmal überwiegend thrombosiert. Auch sie können
Zisternen wird eine Vasospasmusprophylaxe empfohlen. selten einmal bluten (Kombination von raumforderndem
Aneurysma und SAB).
ä Der Fall 4 Selten kommt es zur ischämischen Schädigung durch aus
Ein 40-jähriger Mann wird bewusstlos, intubiert und beatmet in dem Aneurysma ausgespültes embolisches Material.
die Notaufnahme gebracht. Die Ehefrau berichtet, dass ihr Mann
noch am Morgen wie immer zur Arbeit gegangen sei. Um Asymptomatische Aneurysmen, die als Zufallsbefunde bei der
17.00 Uhr sei er zurückgekommen und habe mit leichter Garten- bildgebenden Diagnostik gefunden werden, machen definiti-
arbeit begonnen. Dabei habe er ganz plötzlich über heftigste onsgemäß keine klinischen Symptome, können allerdings spä-
Kopfschmerzen geklagt, sei noch bis zum Haus gekommen, dort ter einmal durch eine SAB relevant werden
ohnmächtig geworden und hingestürzt. Der Notarzt habe eine
sehr flache Atmung festgestellt und ihn intubiert, Herz und
Kreislauf seien aber normal gewesen. Auf Nachfragen berichtet 9.6.1 Raumfordernde, symptomatische
die Frau, dass ihr Mann vor etwa einer Woche über plötzliche, Aneurysmen
erhebliche Kopfschmerzen geklagt und auch einen Arzt aufge-
sucht habe. Hinterher hätten die Schmerzen langsam nachgelas- 3Symptome. Die Symptome sind durch die Lage der An-
sen, seien aber nicht ganz verschwunden. Der Patient ist Nicht- eurysmen definiert. Viele Patienten haben über Jahre, in wech-
raucher und hat anamnestisch keinen erhöhten Blutdruck. selnden Zeitabschnitten, anfallsweise Kopfschmerzen. Oft sind
Bei der Aufnahmeuntersuchung ist der Patient intubiert und die Kopfschmerzen von neurologischen Symptomen begleitet,
9 beatmet. Vom Notarzt hat er sedierende Medikamente erhalten. unter denen die innere und/oder äußere Okulomotoriusläh-
Die Pupillen sind seitengleich und reagieren. Bei der ungezielten mung besonders häufig ist, weil der III. Hirnnerv Lagebezie-
Reaktion auf Schmerzreize sind grobe Paresen nicht feststellbar, hungen zur A. carotis interna, A. communicans posterior und
der Augenhintergrund ist unauffällig, Nackensteifigkeit kann A. cerebri posterior hat (ophthalmoplegisches Aneurysma).
nicht festgestellt werden. Fieber liegt nicht vor. Der Blutdruck Auch die Druckschädigung des N. opticus mit monoku-
beträgt 200/120 mmHg, die Pulsfrequenz liegt bei 100/min. lärem Visusverfall oder des Chiasmas bei Aneurysmen der
Nach Anlegen eines venösen Zugangs und wiederholtem Über- A. carotis und der vorderen Arterien des Circulus Willisii sind
prüfen des Blutdrucks (weiterhin Werte um 180–200 mmHg häufig. Für infraklinoidale Karotisaneurysmen ist ein Kaverno-
systolisch, der Blutdruck wird zunächst nicht gesenkt) wird sussyndrom (Ausfälle der Hirnnerven III, IV, VI, Schmerzen in
eine Computertomographie durchgeführt, deren Ergebnis in V1) charakteristisch.
. Abb. 9.7 wiedergegeben ist. Basilarisaneurysmen können doppelseitige Abduzensläh-
Der Patient wird auf die Intensivstation gebracht und erhält mungen hervorrufen. Andere Hirnnerven sind sehr viel sel-
Nimodipin i.v. Am nächsten Morgen erfolgt die Angiographie. tener betroffen. Die flüchtigen Funktionsstörungen beruhen
Die Neurochirurgen sind bereits informiert und operieren den auf einer vorübergehenden Ausdehnung des Aneurysmasacks
Patienten am gleichen Nachmittag. Postoperativ erholt sich der mit Gefäßschmerz und Druck auf den peripheren Verlauf der
Patient langsam. Am 5. postoperativen Tag entwickeln sich zu- betroffenen Hirnnerven ohne stärkere meningeale Symptoma-
nächst asymptomatische Gefäßspasmen, die durch die transkra- tik. Es sind auch Verläufe ohne Kopfschmerzen möglich.
nielle Dopplersonographie festgestellt werden. Als am Folgetag Extrakranielle Pseudoaneurysmen der A. carotis interna
eine leichte Lähmung des rechten Arms hinzukommt, wird eine nach Dissektionen führen zu Hypoglossusparese und peri-
hypervolämische Therapie durchgeführt. Nach zwei weiteren pherem Horner-Syndrom.
Tagen ist der Patient wieder asymptomatisch. In der Dopplerso-
nographie nehmen die Spasmenfrequenzen ab, und der Patient 3Diagnostik. Bei rezidivierenden Hirnnervenlähmungen
kann auf die Normalstation verlegt werden. Bei Entlassung aus mit Kopfschmerzen muss ein basales Aneurysma durch MRT
der Akutklinik ist er noch leicht verlangsamt, klagt über Kopf- und digitale Subtraktionsangiographie nachgewiesen oder
schmerzen und eine diffuse Leistungsschwäche. Nach vierwö- ausgeschlossen werden. Größere Aneurysmen stellen sich auch
chiger Rehabilitationsbehandlung hat sich der Patient gut erholt in der MR-Angiographie und der CT-Angiographie dar.
und kehrt an seinen Arbeitsplatz zurück.
3Therapie. Die beschriebenen rezidivierenden Symptome
können die einzige Manifestation eines basalen Aneurysmas
9.6 Arterielle Aneurysmen ohne bleiben. In manchen Fällen kommt es aber doch zu einer aku-
Subarachnoidalblutung ten Subarachnoidalblutung. Deshalb müssen die Aneurysmen
neurochirurgisch ausgeschaltet werden. Die Aneurysmen sind
Intrakranielle Aneurysmen können auf verschiedene Weise nicht selten sehr groß und manchmal durch ihre Lage im Ka-
klinisch relevant werden. rotiskanal operativ schwer zugänglich.
4 Am häufigsten ist die Subarachnoidalblutung, die in Kap. 9 Transvaskuläre interventionell-neuroradiologische Ein-
ausführlich besprochen wird. griffe schalten das Aneurysma mit Hilfe von Platinspiralen
9.6 · Arterielle Aneurysmen ohne Subarachnoidalblutung
275 9
(Coils) (. Abb. 9.9), ablösbaren Ballons, Flow-Diverter oder
im Einzelfall dem Verschluss der Trägerarterie aus.

9.6.2 Asymptomatische arterielle Aneurysmen

Mit zunehmendem Einsatz hochauflösender bildgebender Di-


agnostik (CT, MRT) findet man immer häufiger asymptomatische
Aneurysmen, da etwa 2–3% der Bevölkerung Träger asympto-
matischer Aneurysmen sind. Aneurysmen ab einer Größe von
etwa 0,8–1 cm bluten mit einer Wahrscheinlichkeit von 1% pro
Jahr. Hinzu kommt, dass Hypertonus eine Größenzunahme des
Aneurysmas und eine Erhöhung des Blutungsrisikos bewirkt
(. Abb. 8.9).

3Operationsindikation. Man operiert heute asymptoma-


tische Aneurysmen mit ab 0,7 cm Durchmesser prophylak-
tisch, wenn keine Kontraindikationen (Alter, Multimorbidität)
besteht und die Aneurysmen günstig, d.h. ohne großes opera-
tives Risiko, erreichbar sind. Alternativ kommt auch hier die
transvaskuläre neuroradiologische Ausschaltung des Aneurys-
. Abb. 9.11. Großes, asymptomatisches Aneurysma des Basilaris-
mas mit Coils in Frage (. Abb. 9.9).
kopfes mit breitem Hals

Facharzt
Differentialdiagnose basaler Aneurysmen
Die diabetische Ophthalmoplegie tritt bei Patienten im eine Dünnschicht-CT-Untersuchung der Orbita und der para-
mittleren und höheren Lebensalter, auch bei nur subkli- sellären Region mit Kontrastmittel ausgeführt werden.
nischem Diabetes, akut, einseitig und unter Kopfschmerzen Man behandelt mit Glukokortikoiden (60–100 mg/Tag
auf. Sie betrifft in erster Linie den N. oculomotorius, dabei Prednisolon für 1 Woche, danach ausschleichend). Nach weni-
aber nur die Augenmuskeln. Seltener ist der N. abducens gen Tagen tritt eine Rückbildung der Symptome ein. Rezidive
betroffen. Die Prognose ist meist gut. Die Lähmung bildet sind möglich. Wenn sich die Symptomatik nicht nach wenigen
sich über 3 oder 4 Monate wieder zurück. Tagen bessert, war die Diagnose falsch.
Das Tolosa-Hunt-Syndrom ist charakterisiert durch Weitere Differentialdiagnosen sind
einseitigen Schmerz hinter der Augenhöhle, gleichzeitig 4 ophthalmoplegische Migräne (7 Kap. 16),
oder anschließend einseitige Parese des III. und/oder IV. und 4 Cluster-Kopfschmerz (7 Kap. 16),
VI. Hirnnerven sowie Sensibilitätsstörungen im ersten Trige- 4 Augenmuskelmyositis (7 Kap. 34),
minusast. Hinzu kommen eine geringe Protrusio bulbi und 4 Thrombose oder Fistel im Sinus cavernosus (7 Kap. 7) und
konjunktivale Injektion. 4 Arteriitis cranialis (7 Kap. 16.8).
Die Ursache soll eine unspezifische, granulomatöse,
retroorbital gelegene Entzündung sein. Zur Diagnose muss

Leitlinien zur Behandlung nichtrupturierter kranialer Aneurysmen*


4 Asymptomatische intrakranielle Aneurysmen ≥ 7mm 4 Über die Behandlung großer symptomatischer intrakaver-
Maximaldurchmesser rechtfertigen eine Behandlung, bei der nöser Karotisaneurysmen sollte individuell unter Berücksichti-
das Alter, der neurologische Zustand und der Allgemeinzu- gung des Alters des Patienten, der Schwere und Progression
stand des Patienten sowie die Risiken der Therapieverfahren der Symptomatik entschieden werden. Die Behandlung sollte
berücksichtigt werden müssen (C). primär endovaskulär (Verschluss) oder kombiniert chirurgisch
4 Asymptomatische intrakranielle Aneurysmen der hin- (Bypass) und endovaskulär (Verschluss) erfolgen (C).
teren Zirkulation einschließlich der A. communicans posteri- 4 Bei nichtrupturierten, aber kompressiv symptomatischen
or rechtfertigen eine Behandlung, bei der das Alter, der intraduralen Aneurysmen jeder Größe sollte eine Behandlung
neurologische Zustand und der Allgemeinzustand des Pati- empfohlen werden. Hierbei bedürfen große oder Riesen-
enten sowie die Risiken der Therapieverfahren berücksichtigt aneurysmen aufgrund des höheren chirurgischen Risikos einer
werden müssen (C). besonders sorgfältigen Analyse (C).
6
276 Kapitel 9 · Intrakranielle arterielle Aneurysmen und Subarachnoidalblutung

4 Eine Empfehlung zur Beobachtung eines Aneurysmas 4 Eine Modifikation der Risikofaktoren Rauchen, arterielle
beinhaltet die Durchführung von Kontrolluntersuchungen, Hypertonie und Alkoholmissbrauch ist zu empfehlen (C).
wenn möglich mittels MR-Angiographie unter Berücksichti-
gung der notwendigen Qualitätsanforderungen. Ände-
rungen von Aneurysmagröße oder -konfiguration sollten zur * gekürzt nach den Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/
erneuten Prüfung einer Behandlungsindikation führen (C). leitlinien.html)

Facharzt
Differentialdiagnose
Spinale (zervikale) SAB. Diese ist oft von der kranialen SAB Symptomatik verschwendet, muss man sicher sein, dass man
nicht unterscheidbar. Die Schmerzen sind noch mehr im keine SAB übersieht.
Nacken lokalisiert. Intrakranielles subarachnoidales Blut mit Gravierende Krankheiten des zervikalen Spinalkanals und
dem Schwerpunkt hintere Schädelgrube kann nachgewiesen der zervikalen Wirbelsäule, die differentialdiagnostische Prob-
werden. Bei typischen SAB-Symptomen, schwerem Meningis- leme machen können, wie z.B. der epidurale spinale Abszess
mus und normalem CT: Liquoruntersuchung. Bei blutigem oder das epidurale Hämatom, sind selten: Sie werden mit MRT,
Liquor: spinales MRT (auch ein epidurales spinales Hämatom Liquor und gegebenenfalls Blutkulturen diagnostiziert.
muss ausgeschlossen werden) und Angiographie.
Die chronische rheumatische Polyarthritis betrifft die
Meningitis. Kopfschmerzen und Nackensteifigkeit sind für obere Halswirbelsäule, speziell Atlas und Axis. Diagnose aus
Meningitis und SAB typisch. Fieber, entzündlicher Liquor, Anamnese, neurologischem Befund (spinale Symptome),
9 Veränderungen an den Nasennebenhöhlen und weniger rheumatologischem Befund und zervikalem CT in Knochen-
akuter Beginn sprechen für Meningitis. Das CT ist bei Menin- technik.
gitis meist normal.
Migräne. Auch dies ist eine Differentialdiagnose, die nicht
Dissektion. Sie kann zu akutem Nackenschmerz und zu ernsthaft in Betracht gezogen werden sollte, aber immer
Nackensteifigkeit führen. Intrakranielle Vertebralisdissektio- wieder zu folgenschweren Fehldiagnosen geführt hat. Die
nen können auch eine SAB zur Folge haben. Die Differential- klassische Migräne und die Migräne mit Aura sollten nicht
diagnose ist oft schwierig, Anamnese, Liquor, Angiographie verwechselt werden. Die seltene Basilarismigräne (s. Kap. 16)
und CT helfen. ist ebenfalls von der Symptomatik so charakteristisch, dass
eine Verwechslung nicht möglich sein sollte. Eine Zervikalmig-
Mykotische Wandveränderungen. Mykotische oder infek- räne, wie von manchen Stellen postuliert, gibt es nicht.
tiöse Pseudoaneurysmen entstehen durch infektiöse Ablage-
rungen in der Gefäßwand, meist in den Ästen der A. cerebri Zerebrales Vasokonstriktionssyndrom. Hierbei handelt es
media, manchmal auch am proximalen Circulus Willisii. sich um ein schlecht definiertes, wahrscheinlich sehr hetero-
Neben einer SAB können auch intrazerebrale Blutungen genes Syndrom, das durch die Trias plötzlicher, schlagartiger
entstehen. Die Reblutungsrate unter konservativer Therapie (thunderclap-) Kopfschmerz, umschriebene intrazerebrale und
ist gering. Die mykotischen Aneurysmen werden antibiotisch subarachnoidale Eiblutungen mit neurologischem Herd und
behandelt, von einer interventionellen Therapie wird zurzeit Allgemeinsymptome und ausgeprägte angiographische Ver-
eher abgeraten. änderungen mit Gefäßeng- und weitstellungen, vor allem in
den Anterior- und Posteriorästen gekennzeichnet ist. Die
Erkrankung der Halswirbelsäule. Dies ist die häufigste Ätiologie ist unspezifisch. Oft werden vorher eingenommene
Fehldiagnose, weil heute von vielen Ärzten fast alle Symp- Medikamente ursächlich angenommen. Ob die Spasmen
tome der hinteren Schädelgrube auf die Halswirbelsäule durch die Blutungen oder umgekehrt entstehen ist unklar.
bezogen werden (so sollen z.B. Schwindel, Hörstörungen, Diese Diagnose ist im Augenblick sehr beliebt und wird gerne
Migräne, Nystagmus oder Fazialislähmungen von der HWS aufgrund geringer MRA-Veränderungen gestellt, obwohl
ausgelöst werden, was tatsächlich nicht möglich ist). Bevor eine ätiologische Eindeutigkeit nicht gegeben ist.
man überhaupt nur einen Gedanken an eine »zervikogene«
9.6 · Arterielle Aneurysmen ohne Subarachnoidalblutung
277 9

In Kürze

Subarachnoidalblutung (SAB) Prognosefaktoren: Alter, Grad der initialen Bewusstseins-


störung, Menge des subarachnoidalen Blutes, Lokalisation
Ursache: Akut auftretende, arterielle Blutung unterhalb der des Aneurysmas.
Arachnoidea.
Inzidenz: 7-15/100.000 Einwohner/Jahr; Mortalität: ca. 30%. Subarachnoidalblutung ohne Aneurysmanachweis
Risikofaktoren: Arterielle Hypertonie, Rauchen, Hyper-
cholesterinämie, Drogen, positive Familienanamnese. Perimesenzephale und präpontine SAB
Ursache: evtl. venöse Blutung durch Aktivität mit Erhöhung
Warnblutung des intrathorakalen und intraabdominellen Drucks (schweres
Heben, Abstützen).
Symptome: Perakute, anschließend dauernde Kopf- und Diagnostik: CT: Ansammlung subarachnoidalen Blutes vor
Nackenschmerzen. der Brücke, dem Mesenzephalon und den perimesenzephalen
Diagnostik: Neurologische Untersuchung; CT; bei Über- Zisternen.
sehen der Warnblutung: schwere, lebensbedrohliche Folge- Therapie: Keine intensivmedizinische Therapie nötig, da Nach-
blutung. blutungsrisiko äußerst gering.

Akute Subarachnoidalblutung Nichtperimesenzephale SAB ohne Aneurysmanachweis


Ursache: Nicht entdeckte kleine oder thrombosierte Aneurys-
Vegetative Symptome wie Kopfschmerzen, Erbrechen, men, arteriovenöse Malformationen, Sinus- und Venenthrom-
Schweißausbruch, Anstieg oder Abfall des Blutdrucks, bosen, Durafisteln.
Temperaturschwankungen. Neurologische Symptome wie Diagnostik: Nachangiographie nach Tagen oder Wochen
Bewusstlosigkeit, Bewusstseinsstörung. notwendig.
Komplikationen: Rezidivblutung: Letalität >70%, Nachblu- Therapie wie nach SAB.
tungsrisiko innerhalb der ersten 6 Monate: 50%; Gefäßspas-
men und fokale Ischämien: nach dem 4. Tag, Dauer: 2–3 Wo- SAB mit anderen Blutungsquellen
chen; Hydrozephalus: innerhalb von Stunden oder nach
1–2 Wochen; intrakranielle Hämatomie; weitere Komplika- Dissektion intraduraler Gefäße, mykotische Wandverände-
tionen: Elektrolytstörungen, epileptische Anfälle, kardiale rungen.
Symptome.
Diagnostik: CT: Ausmaß und Lokalisation vom Blutungs- Arterielle Aneurysmen ohne Subarachnoidalblutung
schwerpunkt, möglichen Sitz des Aneurysmas und von der Raumfordernde, symptomatische Aneurysmen
Ventrikelgröße; MRT: Nachweis kleiner, asymptomatischer
Aneurysmen; DSA: Nachweis der Aneurysmalokalisation, Symptome: Kopfschmerzen, neurologische Symptome wie
-konfiguration, multiple Aneurysmen, Beurteilung kollate- innere und/oder äußere Okulomotoriuslähmung, doppelsei-
raler Blutversorgung und Vasospasmusausmaß; Lumbal- tige Abduzenslähmungen.
punktion bei fehlendem CT-Nachweis von subarachnoi- Diagnostik: MRT, DSA, bei größeren Aneurysmen MRA/CTA.
dalem Blut; TCD: Feststellung intrakranieller Gefäßspasmen. Therapie: Neurochirurgische oder neuroradiologische Ein-
Therapie: konservative Therapie: Initialbehandlung vor griffe.
Operation, Sedierung und Schmerzbehandlung, Blutdruck-
senkung, Behandlung der Vasospasmen, hypertensiv-hyper- Asymptomatische arterielle Aneurysmen
volämische Hämodilution; neurochirurgische Therapie:
Aneurysmaausschaltung durch Clipping; neuroradiolo- Diagnostik: CT, MRT.
gische Therapie: Ausschaltung des Aneurysmas durch Therapie: Operation der transvaskuläre neuroradiologische
Ausstopfen mit Platinspiralen. Operation.
10

10 Spinale vaskuläre Syndrome


10.1 Klinik der spinalen Gefäßsyndrome – 280
10.1.1 Vorbemerkungen – 280
10.1.2 Spinalis-anterior-Syndrom – 280
10.1.3 Sulkokommissuralsyndrom – 283
10.1.4 Radicularis-magna-Syndrom – 283
10.1.5 Claudicatio spinalis (Syndrom des engen Spinalkanals) – 283
10.1.6 Progressive, vaskuläre Myelopathie – 284

10.2 Spinale Blutungen – 284


10.2.1 Hämatomyelie – 284
10.2.2 Andere spinale Blutungen – 285

10.3 Spinale Gefäßfehlbildungen – 285


10.3.1 Einteilung der Pathophysiologie – 285
10.3.2 Spinale AVMs und Durafisteln – 285
280 Kapitel 10 · Spinale vaskuläre Syndrome

ä Der Fall nose der Bauchaorta oder bei gefäßchirurgischen Eingriffen an


Eine 35 jährige Patientin stellt sich wegen stechender Schmerzen der Aorta) an der Wasserscheide zwischen den verschiedenen
zwischen den Schulterblättern vor. Bei der Untersuchung ergibt arteriellen Gefäßterritorien. Durchblutungsstörungen, die von
sich der Eindruck, dass die Muskeleigenreflexe abgeschwächt der Vasokorona, den hinteren Spinalarterien oder dem ve-
sind. Unter dem Verdacht auf ein Guillain-Barré-Syndrom (GBS) nösen System ausgehen, sind seltener.
wird eine Lumbalpunktion durchgeführt, die unauffällig ist. Die Schließlich findet man ischämische Nekrosen im dorsalen
Patientin entwickelt weiterhin, trotz der Gabe von Immunglobuli- Teil des Hinterhorns, in den Hintersträngen sowie dem dorsa-
nen, eine Blasenstörung und eine Paraplegie der Beine. Die Lage- len Teil des Pyramidenseitenstrangs, entsprechend dem Ver-
empfindung der Beine war weitgehend intakt, Schmerz- und sorgungsbereich der Aa. spinales posteriores. Chronische
Temperaturempfinden dagegen stark beeinträchtigt. Eine MRT Minderperfusion führt zur Myelomalazie (ischämische Erwei-
der HWS zeigt ein langstreckige Signalhyperintensität in T2- chung) und chronischem Parenchymschwund.
Sequenzen und man beginnt unter dem Verdacht auf eine Myeli-
tis eine Behandlung mit Kortison. Als sich auch darauf keine 3Risikofaktoren und Ätiologie. Die meisten Risikofaktoren
Besserung einstellt, wird die Patientin auf unsere Intensivstation für spinale Durchblutungsstörungen sind mit denen für ande-
verlegt. re vaskuläre Krankheiten identisch, haben aber z.T. eine unter-
schiedliche Gewichtung. Ätiologisch am häufigsten ist die
schwere Arteriosklerose der Aorta mit Aortenstenose oder
> > Einleitung Aortenaneurysma, Einengung des Abgangs oder Thrombose
der zum Rückenmark führenden Arterien. Kardiale Embolien
Operationen an der abdominalen Aorta sind heute ein Standard- und lokale Arteriosklerose der Rückenmarkarterien sind sel-
eingriff – ein Standardeingriff mit einem immanenten Risiko, an ten. Herzkrankheiten mit verminderter Auswurfleistung kön-
das man zu selten denkt. Die Rede ist von Infarkten im Rücken- nen spinale Ischämien auslösen.
mark, die meist thorakal, seltener auch zervikal entstehen können. Ein wesentliches Risiko besteht bei orthopädischen (Ky-
Rückenmarkinfarkte treten weitaus seltener auf als die In- phoskolioseoperation) und abdominellen, gefäßchirurgischen
10 farkte des Gehirns. Wenn sie allerdings auftreten, sind die Folgen Eingriffen (Aortenchirurgie) mit Abklemmung der Aorta.
oft katastrophal: Eine Querschnittslähmung kann eintreten und Hierbei kommt es so häufig zu ischämischen, spinalen Kom-
die Patienten können inkontinent werden. plikationen, dass intraoperativ die Überwachung der spinalen
Aufgrund der anatomischen Besonderheiten der Blutversor- Funktionen mit elektrophysiologischen Methoden notwendig
gung des Rückenmarks resultieren einige spezielle Syndrome, die ist (spinal cord monitoring).
wir in diesem Kapitel besprechen werden. Die Inhalte des Kapi- Die Kompression der Rückenmarkgefäße durch extrame-
tels sind auch eng verwandt mit denen des Kapitels über die dulläre Tumoren, bei Wirbelsäulentraumen (Frakturen, Luxa-
spinalen Gefäßmissbildungen, bei denen klinisch kaum unter- tionen) und das Übergreifen von meningealen Entzündungen
scheidbare Syndrome zustande kommen. auf die Rückenmarkgefäße sind weitere ätiologische Faktoren.
Primäre und parainfektiöse Vaskulitiden betreffen überdurch-
schnittlich oft die Rückenmarkarterien. Die Durchblutungs-
10.1 Klinik der spinalen Gefäßsyndrome störungen können auch einige Segmente vom Ort der Gefäß-
kompression entfernt Auswirkungen haben.
10.1.1 Vorbemerkungen

3Epidemiologie. Arterielle und venöse Durchblutungsstö- 10.1.2 Spinalis-anterior-Syndrom


rungen des Rückenmarks sind viel seltener als zerebrale Schlag-
anfälle (geschätzte Inzidenz 1–3 Neuerkrankungen/100.000 3Symptomatik. Das Spinalis-anterior-Syndrom ist die häu-
Einw. pro Jahr). Die intramedullären Rückenmarkgefäße sind figste Form der spinalen Durchblutungsstörung. Es tritt akut
auch von einer ausgedehnten, generalisierten Arteriosklerose bzw. subakut ohne Vorboten auf. Im Initialstadium verspüren
kaum betroffen. Spinale Durchblutungsstörungen betreffen die Patienten radikuläre Schmerzen oder Missempfindungen
Männer und Frauen gleichermaßen und treten bevorzugt im auf dem segmentalen Niveau der betroffenen Arterie. Inner-
mittleren bis höheren Lebensalter auf. halb von wenigen Stunden entwickelt sich eine Lähmung der
Beine und des Rumpfes. Der Muskeltonus ist zunächst meist
3Lokalisation von Durchblutungsstörungen. Die häufigs- schlaff, dabei sind aber bald positive Pyramidenzeichen auszu-
ten vaskulären spinalen Krankheiten sind das A. spinalis- lösen. Nur bei Schädigung des Lendenmarks kommt es durch
anterior-Syndrom, das Komissuralarteriensyndrom, die spi- Läsion der motorischen Vorderhornzellen zu einer peripheren
nale intramedulläre Blutung und spinale Gefäßfehlbildungen Lähmung. Gleichzeitig bildet sich eine dissoziierte Sensibili-
(7 Kap. 8.). Die Organisation der spinalen Blutversorgung tätsstörung aus, deren obere Begrenzung oft auf den beiden
bringt es mit sich, dass arterielle Durchblutungsstörungen des Körperseiten um ein Segment differiert. Die übrigen sensiblen
Rückenmarks vor allem im Versorgungsgebiet der vorderen Qualitäten sind kaum oder gar nicht betroffen. Immer besteht
Spinalarterie auftreten (Spinalis-anterior-Syndrom). eine Blasen- und Mastdarminkontinenz. Gelegentlich tritt Pri-
Eine zentrale Rückenmarkschädigung entsteht dagegen apismus auf. In den gelähmten Körperpartien ist die Haut
bei hämodynamischer Behinderung der Blutversorgung (Ste- schlecht durchblutet, und es kommt leicht zu Dekubitalge-
10.1 · Klinik der spinalen Gefäßsyndrome
281 10
Facharzt
Anatomie und Physiologie der Rückenmarksdurchblutung
Anatomie. Verlauf der Spinalarterien: Das Rückenmark wird die Unterschiede im Niveau der Sensibilitätsstörung auf bei-
durch ein Gefäßnetz mit Blut versorgt, dessen wichtigste den Körperseiten bei Rückenmarksinfarkten. Vom Lumbalmark
Komponenten drei längsverlaufende Arterien sind: Aus den ab sind diese zuführenden Arterien paarig. Von den hinteren
beiden Vertebralarterien bildet sich eine A. spinalis anterior, Spinalarterien und der Vasokorona geht eine große Zahl von
die im vorderen Sulkus des Rückenmarks nach kaudal ver- kleinen, dünneren Arterien aus, die die weiße Substanz des
läuft (. Abb. 10.1). Rückenmarks, besonders die Hinterstränge, und den großen
Dorsal verlaufen zwei Aa. spinales posteriores, die neben Teil der Hinterhörner versorgen. Alle radiären Gefäße und die
dem Eintritt der hinteren Wurzeln liegen. Diese drei Längs- Sulkokommissuralarterien sind funktionelle Endarterien. Im
arterien sind durch eine große Zahl von zirkulär verlau- Zentrum der grauen Substanz besteht eine Grenzzone, in der
fenden Arterien, die Vasokorona, miteinander verbunden. die Vaskularisation am schwächsten und die durch hämodyna-
Vom Brustmark ab entstammen die zuführenden Arterien mische Störungen stark gefährdet ist.
(Aa. intercostales, lumbales und sacrales) aus der Aorta und Venöser Abfluss: Dieser erfolgt über 2 große Längsanasto-
den Aa. iliacae. In der Fetalzeit wird noch jedes Rücken- mosen, von denen die dorsale stärker ausgebildet ist als die
markssegment von einer eigenen Arterie versorgt. Die Zahl ventrale Längsvene. Das venöse Blut wird im Halsgebiet über
der zuführenden Arterien vermindert sich später auf zwi- Vv. vertebrales in die V. cava superior geleitet, aus den mittle-
schen 3 bis etwa 8 arterielle Zuflüsse, die nicht auf alle Seg- ren und unteren Rückenmarksabschnitten über Vv. intercosta-
mente gleichmäßig verteilt sind. Vielmehr sind sie im un- les und lumbales sowie den Plexus sacralis in die V. cava infe-
teren Zervikalmark, im unteren Thorakalmark (Th9–10) und rior. Das Rückenmark ist von einem ausgedehnten Venenple-
in L1–L2 besonders dicht, im mittleren Hals- und Brustmark xus umgeben.
dagegen sehr spärlich ausgebildet. Fast immer ist die A. radi-
cularis magna (Adamkiewicz), ein thorakolumbaler Zufluss Physiologie. Regulation der Durchblutung. Die spinalen Arte-
(meist Th10) aus der Aorta, besonders kaliberstark. rien unterliegen nicht einer nervösen Regulation, und Pharma-
Die A. spinalis anterior versorgt das Vorder- und Seiten- ka wirken nur auf die vorgeschalteten Arterien. Der spinale
horn, die vordere und hintere Kommissur und die Basis des Kreislauf ist passiv vom Perfusionsdruck abhängig. Eine funkti-
Hinterhorns. In der weißen Substanz reichen ihre Verzwei- onierende Autoregulation besteht nicht. Kohlensäure- und
gungen in Teile des Vorderseiten- und Pyramidenseiten- Sauerstoffspannung haben wahrscheinlich nur untergeord-
strangs. Große Bedeutung haben die Sulkokommissuralarte- nete Bedeutung. Verstärkung der neuronalen Tätigkeit, z.B. in
rien, die von der vorderen Spinalarterie aus in den ventralen den motorischen Vorderhornzellen für den Armplexus, führt
Abschnitt des Rückenmarks eindringen. Im Hals- und Brust- zu einer Zunahme der regionalen Durchblutung in diesem
mark tritt nur jeweils eine Sulkokommissuralarterie abwech- Rückenmarksabschnitt.
selnd in das linke und das rechte Vorderhorn ein. Dies erklärt

schwüren. Das Spinalis-anterior-Syndrom betrifft häufig die 3Therapie. Ist die Ischämie durch lokale, mechanische Fak-
Höhe der A. radicularis magna (etwa Th10–L1). toren bedingt, muss, wenn möglich, sofort neurochirurgisch
die Frage einer Operation entschieden werden. In den übrigen
3Diagnostik. Das CT eignet sich nur für die Suche nach Fällen behandelt man mit Heparin, Volumentherapie und, im
lokalen Faktoren (Tumor, Bandscheibenvorfall, Wirbelsäulen- Gegensatz zu zerebralen Ischämien, Kortikosteroiden (100 mg
veränderungen). Methylprednisolon i.v.), nicht zuletzt deshalb, weil im An-
Der Nachweis der ischämischen Rückenmarkläsion ist fangsstadium immer die Differentialdiagnose einer Myelitis
nur im spinalen MRT möglich. Man sieht eine erhöhte besteht.
Signalintensität auf T2- oder protonengewichteten Bildern, Ein Blasenkatheter ist initial immer notwendig. Nach we-
entsprechend der vermehrten Wassereinlagerung im betrof- nigen Tagen beginnt man mit dem Blasentraining oder legt
fenen Territorium (. Abb. 10.2). Die Signalabnormität um- einen suprapubischen Katheter.
fasst weiße und graue Substanz und erstreckt sich über meh- Prophylaktische Maßnahmen gegen Pneumonie, Magen-
rere Segmente. Chronisch kommt es zur Ausbildung von T1- ulkus und Dekubitalulzera sind selbstverständlich. Die
hypointensen Defekten und zur fokalen Atrophie des Rücken- Kranken werden mehrmals am Tage, wenn möglich jede Stun-
marks. Frische Infarkte sind in der Diffusionssequenz gut de, umgelagert und sollten in ein spezielles Krankenbett gelegt
darstellbar (. Abb. 10.3). werden. Bei allen Querschnittslähmungen ist es wichtig, dass
Der Liquor ist meist normal oder enthält nur eine geringe man den Patienten stetig ermutigt und zur Mitarbeit anregt, da
Zell- und Eiweißvermehrung. Komplikationen (Zystitis, Dekubitus) gerade bei den Kranken
Elektrophysiologische Methoden (SEP und transkranielle eintreten, die die Hoffnung aufgeben und völlig passiv im Bett
Magnetstimulation) können bei unklaren Fällen und nega- liegen.
tivem MRT Ausmaß und Lokalisation der Funktionsstörung
objektivieren.
282 Kapitel 10 · Spinale vaskuläre Syndrome

. Abb. 10.1. Blutversorgung des Rückenmarks. Darstellung der arteriellen und venösen Blutversorgung im Rückenmarkquerschnitt. Die
10 Gefäße sind im Einzelnen bezeichnet. (Aus Hacke 1994)

a b c

. Abb. 10.2. Zervikothorakales spinales Anteriorsyndrom (a). Die scheint. Auf den kontrastmittelverstärkten T1-gew. Sequenzen (c)
sagittale T2-gew. Sequenz zeigt eine langstreckige medulläre Signal- zeigt sich ein Enhancement im Randbereich des Infarkts, welches für
anhebung zervikothorakal, welche auf den axialen T2-gew. Sequen- einen subakuten spinalen Infarkt typisch ist
zen (b) zentromedullär mit Betonung der hinteren Zirkumferenz er-
10.1 · Klinik der spinalen Gefäßsyndrome
283 10
10.1.4 Radicularis-magna-Syndrom

In wechselnder Höhe tritt aus der lumbothorakalen Aorta


(meist in Höhe Th10) eine kaliberstarke Arterie aus, die meh-
rere Segmente des Rückenmarks versorgt und als A. radikularis
magna (Adamkiewicz) bezeichnet wird. Ihr Verschluss führt
zu der »Maximalvariante« des Spinalis-anterior-Syndroms, bei
dem die Symptomatik im Verlauf nicht nur über mehrere Seg-
mente aufsteigen kann, sondern auch das Territorium der pos-
terioren Spinalarterien (durch Thrombose der Vasokorona)
betrifft. Eine komplette Querschnittsläsion mit spinalem
Schock und, bei hohen Verschlüssen, massiven vegetativen
Störungen kann die Folge sein.

10.1.5 Claudicatio spinalis


(Syndrom des engen Spinalkanals)

Die Claudicatio spinalis ist eine mechanisch bedingte, belas-


tungsabhängige Durchblutungsstörung der Cauda equina (da-
mit definitionsgemäß keine »spinale« Durchblutungsstörung),
bei der eine periphere Schwäche der Beine im Vordergrund
steht.

3Symptome. Nach langem Stehen, beim Gehen oder Jog-


gen setzen Parästhesien (Einschlafen, Kribbeln, Brennen) und
. Abb. 10.3. Thorakaler spinaler Infarkt. Wie beim zerebralen
Infarkt kann die Diffusionsgewichtung eine frische Infarzierung zwei-
Krämpfe ein, die sich von den Füßen nach proximal ausbreiten.
felsfrei identifizieren (B–D, Pfeil). Nebenbefund: Diskusprotrusion Wenn der Patient sich nicht hinsetzt oder legt, folgt eine Schwä-
Th7/8 che, die sich ebenfalls von den Füßen über die Unterschenkel
bis zu den Knien ausbreitet. Hinsetzen oder Legen mit Vermin-
derung der Lendenlordose lässt die Symptome verschwinden.
3Prognose. Die Prognose muss in den ersten Tagen offen Auch eine maximale Verspannung der Unterschenkelmusku-
bleiben. Wenn sich nach 2 bis 3 Wochen noch keine Rückbil- latur, speziell in der Tibialis-anterior-Loge kann auftreten, die
dung zeigt, ist ein bleibender Defekt zu befürchten. Wird die an ein Kompartmentsyndrom erinnert. Im Intervall ist der
Lähmung spastisch, kann man durch konsequente und über neurologische Befund normal oder man findet nur geringe
Monate ausgedehnte krankengymnastische Behandlung oft Zeichen eines leichten Kaudasyndroms.
noch bemerkenswerte Besserungen erreichen. Bleibt sie im Die Beschwerden treten vor allem bei Männern in der
zweiten Monat schlaff, ist die Prognose schlecht. 2. Lebenshälfte auf. Man nimmt eine Ischämie der Kaudawur-
zeln an, die durch lumbale Bandscheibenprotrusionen, Spon-
dylolisthesis oder abnorme Enge des lumbalen Spinalkanals
10.1.3 Sulkokommissuralsyndrom begünstigt wird.

Es ist dem Spinalis-anterior-Syndrom ähnlich, meist etwas ge- 3Diagnostik. Der Nachweis erfolgt durch spinales CT oder
ringer und oft nur halbseitig ausgeprägt. Die Blasenstörungen MRT. Die Diagnose »enger Spinalkanal« soll nicht rein radio-
sind vielfach reversibel und die Paresen meist nicht komplett. logisch ohne die typische, neurologische Symptomatik gestellt
Typisch sind segmentale, nukleäre (periphere) Lähmungen. werden. Inzwischen ist das MRT die Untersuchungsmethode
Da die Sulkokommissuralarterien jeweils nur eine Rücken- der Wahl. Weichteilstrukturen lassen sich besser darstellen.
markhälfte in ihrem vorderen Abschnitt versorgen, kann eine Die kraniokaudale Ausdehnung der Stenose ist leichter zu be-
Ischämie in der vorderen Spinalarterie auch als Brown-Sé- urteilen. Auch skoliotisch veränderte Wirbelsäulenabschnitte
quard-Halbseitensyndrom (7 Kap. 1.13.2) auftreten. lassen sich besser beurteilen.

Facharzt
Leriche-Syndrom
Hierbei handelt es sich um den akuten Verschluss der Aorten- Oft wird die spinale Symptomatik übersehen, da die
bifurkation mit bilateralem Beinarterienverschluss (kalte, Durchblutungsstörung der Beine im Vordergrund steht.
pulslose Beine). Auch spinale Äste können betroffen sein, bei
ausgedehnten Befunden selbst die A. radikularis magna.
284 Kapitel 10 · Spinale vaskuläre Syndrome

. Tabelle 10.1. Akute und chronische spinale vaskuläre Syndrome


Beginn Symptome Ätiologie
Claudicatio spinalis Akut kurzdauernd Schlaffe Paraparese, selten: Paraspastik Enger (lumbaler) Spinalkanal,
körperliche Anstrengung
Arteria-spinalis-anterior- Akut Paraplegie (-parese), diss. Empfindungs- Arteriosklerose, Embolie
Syndrom störung, Blasen-Mastdarm-Lähmung
Sulkokommissuralsyndrom Akut Halbseitiges Arteria-spinalis- anterior- Arteriosklerose, Embolie
Syndrom
Arteria-radicularis-magna- Perakut Spinaler Schock, kompletter Quer- Arteriosklerose, Embolie, Aorten-
Syndrom schnitt (thorakolumbal) aneurysma, Aortachirurgie
AVMs Langsam progredient Sensibilitätsstörung, Paresen, Durafisteln (durale AVM und extra-
Schmerzen durale AVM)
Intraparenchymale Blutung Akut progrediente Spinaler Schock, akute Querschnitts- Vaskuläre Missbildung akute Quer-
Symptomatik symptomatik schnittsgerinnungsstörung

3Therapie. In der Regel ist zunächst ein konservativer The- In den ersten Tagen kam es schon zu einer deutlichen Symp-
rapieversuch indiziert. Bei akut exazerbierten Schmerzen steht tomverbesserung und die Patientin erholte sich in der folgenden
die Schmerzreduktion im Vordergrund. Hierfür bieten sich Rehabilitationsbehandlung weiter. Trotz intensiver Suche konnte
insbesondere für die orale Therapie nicht steroidale Antiphlo- keine Infarktursache gefunden werden.
gistka (NSAID) an. Eine operative Vorgehensweise ist ange-
zeigt bei Patienten mit einer progredienten neurologischen
10 Symptomatik oder einer nicht akzeptablen Verschlechterung 10.2 Spinale Blutungen
der allgemeinen Lebensqualität. Des Weiteren stellen ander-
weitig nicht beherrschbare Schmerzen eine Operationsindika- 10.2.1 Hämatomyelie
tion, sofern sich durch konservative Therapiemethoden keine
befriedigende Besserung erzielen lässt. Eine Operation (Lami- 3Ätiologie. Die Hämatomyelie ist weit seltener als früher
nektomie) ist möglich, wenn die Enge auf ein bis zwei Seg- angenommen wurde. Blutungen in die Rückenmarksubstanz
mente beschränkt ist. kommen aus Angiomen der intraspinalen Gefäße (7 Kap. 10.3),
bei Gerinnungsstörungen und, seltener, bei Wirbelsäulentrau-
men und intraspinalen Tumoren vor.
10.1.6 Progressive, vaskuläre Myelopathie
3Symptome. Die Symptomatik gleicht dem Spinalis-ante-
Die Krankheit tritt im höheren Lebensalter auf. Langsam pro- rior-Syndrom: Das führende Symptom ist die Para- oder Tetra-
gredient, entwickelt sich eine paraspastische Bewegungsstö- parese mit dissoziierter Sensibilitätsstörung infolge Schädi-
rung der Beine, die in schweren Fällen von einer querschnitts- gung des zentralen Rückenmarkgrau. Die Hämatomyelie kann
förmigen, dissoziierten Gefühlsstörung begleitet ist. Wenn der aber auch zu vollständiger Querschnittslähmung führen. Spi-
Parenchymschwund bevorzugt das Hinterhorn betrifft, ist die naler Schock und vegetative Dysregulation sind häufig. Die
Empfindungsstörung strumpfförmig angeordnet. Manchmal Blutung ist durch Läsion schmerzleitender Fasern meist von
entsteht durch Läsion der Vorderhörner das Bild einer nukle- starken Schmerzen begleitet.
ären Atrophie.
Pathologisch-anatomisch findet man einen teilweisen Par- 3Diagnose. Die MRT ist die wichtigste Methode, mit deren
enchymschwund ohne umschriebene Nekrose und ohne be- Hilfe die Blutung und Differentialdiagnosen (epidurale, spina-
sondere Gliareaktion, vor allem im zentralen Rückenmark- le Blutung, subdurale Blutung, Abszess) erfasst werden kön-
grau. Im MRT ist dann eine Atrophie des Rückenmarks zu nen. Eine spinale Angiographie kann zum Nachweis einer
sehen, gliotische Veränderungen sind seltener. Die Diagnose spinalen Gefäßfehlbildung nötig werden. Im Liquor ist oft
ist nur per exclusionem zu stellen und muss immer wieder Blutbeimengung oder Xanthochromie nachweisbar.
überprüft werden.
3Prognose. Die Prognose ist ungünstig: Trotz intensiver
ä Der Fall Fortsetzung physikalischer Behandlung bleiben meist schwere Lähmungen
Aufgrund der initialen thorakalen Schmerzen und der dissoziier- und Sensibilitätsstörungen zurück, und die Patienten sind dem
ten Empfindungsstörung, Paraplegie und Blasenstörung wurde ganzen Risiko der Querschnittslähmung ausgesetzt.
an ein Spinalis anterior Syndrom gedacht und ein spinales MRT
veranlasst, dass einen ähnlichen Befund wie in . Abb. 10.3
zeigte.
6
10.3 · Spinale Gefäßfehlbildungen
285 10
3Einteilung. In Analogie zu den intrakraniellen Gefäßmiss-
bildung unterscheidet man folgende spinale Gefäßmissbil-
dungen:
4 arteriovenöse Durafisteln,
4 Kavernome,
4 arteriovenöse Fehlbildungen,
4 venöse Angiome und
4 die Varicosis spinalis.

Insgesamt sind sie sehr selten, stellen aber, wenn sie übersehen
werden, eine besonders schwerwiegende Fehldiagnose dar, da
oft eine vermeidbare Querschnittlähmung resultiert.

3Pathophysiologie. Mehrere Mechanismen, die Blutung


aus der Gefäßmissbildung, die Minderperfusion durch den
Abtransport arteriellen Blutes über den arteriovenösen
Kurzschluss (Steal-Effekt), die stauungsbedingte Drucker-
höhung bei Abflussbehinderung durch erhöhten venösen
Druck (Kongestionshyperämie und Ödem) und Überforde-
rung der Kapazität der abführenden Venenplexus können zu
neurologischen Symptomen führen. Durafisteln haben immer
einen erhöhten Venendruck, der die venöse Drainage be-
hindert.
Klinisch wichtig sind die akute, spinale Blutung und die
chronische Myelopathie durch Steal-Phänomen bei arteriove-
nösem Shunt oder venöser Kongestion. Andere, seltene Mani-
festationen sind der direkte raumfordernde Effekt der arterio-
venösen Fehlbildung und subarachnoidale oder epidurale
Blutungen ohne spinale Symptome.
Die Gefäßfehlbildungen liegen häufig im Thorakalmark.
. Abb. 10.4. Die wichtigsten arteriellen Zuflüsse zum Rücken- Der Nidus, d.h. der arteriovenöse Shunt bei Durafisteln und
mark. 1 Truncus brachio-cephalicus; 2 A. carotis; 3 A. vertebralis; AVMs, befindet sich meist in Höhe thorakaler oder lumbaler
4 Truncus thyreocervicalis; 5 Truncus costocervicalis; 6 A. radicularis Segmente. Kavernome liegen intramedullär. Sie stellen sich im
anterior C6–8; 7 A. radicularis anterior C4–5; 8 A. spinalis anterior; MRT gut dar, da sie von Blutabbauprodukten früherer kleiner
9 A. intercostalis posterior Th4–Th6; 10 A. intercostalis posterior Blutungen umgeben sind (. Abb. 10.5).
Th9–L1; 11 A. radicularis magna Adamkiewicz. (A. Thron, Aachen) Die Varicosis spinalis ist eine meist lumbal gelegene An-
sammlung von ausgeweiteten Venen, die raumfordernden
Charakter haben können und zu dem Syndrom der Claudica-
10.2.2 Andere spinale Blutungen tio der Cauda equina (7 Kap. 10.1.5) führen kann.

Subarachnoidalblutungen und epidurale Blutungen kommen


gelegentlich bei spinalen Gefäßmissbildungen, Traumen und 10.3.2 Spinale AVMs und Durafisteln
spontan (Antikoagulation) vor. Die Symptome unterscheiden
sich nicht von den intramedullären Blutungen: Schmerzen und 3Symptomatik und Verlauf. Meist werden die Angiome
akutes Querschnittsyndrom stehen im Vordergrund. Bei spi- jenseits des 40. Lebensjahres symptomatisch. Die neuro-
naler SAB kann Nackensteifigkeit vorliegen. Daher sollte bei logischen Störungen setzen subakut ein. Sehr charakteristisch
SAB in der hinteren Schädelgrube mit Rückenschmerz und sind fluktuierende Beschwerden und Symptome mit progre-
normalem zerebralen Angiogramm die spinale Angiographie dientem Verlauf. Die Kranken klagen zunächst über Parästhe-
eingesetzt werden (7 Kap 3.3.5). sien und Schwäche in den Beinen, auch über radikuläre
Schmerzen. Im weiteren Verlauf treten zentrale oder periphere
Paresen der Beine und Störungen der Blasen- und Darment-
10.3 Spinale Gefäßfehlbildungen leerung hinzu. Man findet eine paraspastische Gangstörung
oder die Zeichen der peripheren Paraparese. Erlöschen der Ei-
10.3.1 Einteilung der Pathophysiologie genreflexe an den Beinen nach länger dauernder Symptomatik
gilt als typisch. Blutungen setzten mit heftigsten, lokalen Rü-
Zum Verständnis der spinalen Fehlbildungen ist es wichtig, ckenschmerzen ein, die gürtelförmig oder nach kaudal in die
die Blutversorgung des Rückenmarks zu verstehen, die in der Beine ausstrahlen, während sich rasch ein Meningismus ent-
. Abb. 10.4 dargestellt ist. wickelt.
286 Kapitel 10 · Spinale vaskuläre Syndrome

a b c

. Abb. 10.5a–c. MRT und spinale Angiographie bei spinaler Du- stellt sich die Fistel dar (b, Pfeil). c Späte venöse Phase mit den ge-
rafistel. Schon im MRT (a) sieht man die korkenzieherartigen Signal- füllten ausgeweiteten Venen
10 auslöschungen durch die getauten Venen (Pfeile). In der Angiographie

3Diagnostik. Im Liquor findet man eine leichte Pleozytose Spinale AV-Angiome und Durafisteln werden über die se-
und geringe Eiweißvermehrung. lektive spinale DSA dargestellt.
Bei der Myelographie sind meist sehr charakteristische
Befunde zu erheben: korkenzieherartige, spiralförmige Aus- 3Therapie. Die Behandlung hängt von Lage, Art und arte-
sparungen, die sich über viele Segmente des Thorakal- und rieller Gefäßversorgung ab. In speziellen Zentren wird der en-
Lumbalmarks erstrecken. Diese erkennt man oft auch im MRT, dovaskuläre Verschluss des Nidus durch Embolisierung oder
allerdings gibt es dort durch Artefakte falsch-positive Be- Ballonokklusion ausgeführt oder es wird mit mikrochirur-
funde. gischer Technik operiert.

Exkurs
Differentialdiagnose der spinalen Durchblutungsstörungen und Gefäßfehlbildungen
Akute Myelitis: 7 Kap. 22. oder MRT gestellt werden. Der intermittierende, »schubför-
mige« Verlauf bei manchen spinalen Gefäßfehlbildungen
Intraspinaler oder epiduraler Abszess: 7 Kap. 21 erklärt die Verwechslung mit einer spinalen MS.

Funikuläre Spinalerkrankung (7 Kap. 28): Hier ist eine B12- Rückenmarktumor: Die Symptomatik kann ganz ähnlich sein.
Resorptionsstörung zu fordern, auch betrifft die Gefühlsstö- Liquorveränderungen können fehlen. Immer muss die MRT die
rung nicht Schmerz- und Temperaturempfindung, sondern Differentialdiagnose klären.
Berührung, Vibrationsempfindung und Lagewahrnehmung.
Beginnende amyotrophische Lateralsklerose Spinales Meningeom (7 Kap. 12): Meningeome müssen nicht
(7 Kap. 33): Objektivierbare Sensibilitätsstörungen kommen zu einem scharf abgegrenzten Querschnittssyndrom führen.
bei ALS nicht vor, auch findet man schon in einem Stadium, Der Liquor kann normal sein. Im Zweifel klärt die MRT-Unter-
in dem klinisch nur eine zentrale Lähmung besteht, im Elek- suchung die Diagnose.
tromyogramm in verschiedenen Muskeln die Zeichen einer
zusätzlichen Schädigung des peripheren, motorischen Neu- Zervikale Myelopathie durch Bandscheibenprotrusion: Die
rons. Abgrenzung gegenüber der vaskulären Myelopathie kann
Chronische »spinale« Verlaufsform der multiplen Skle- manchmal nach den betroffenen Segmenten erfolgen: Im
rose (7 Kap. 22): Diese Diagnose kann nur bei typischem Halsmark gibt es häufiger eine vertebragene als eine vaskuläre
Liquorbefund und dem Nachweis anderer Herde im CCT Rückenmarksschädigung. Im Brustmark gibt es keine Myelopa-
6
10.3 · Spinale Gefäßfehlbildungen
287 10

thie durch Bandscheibenprotrusion, dagegen häufiger eine Psychogene Querschnittslähmung: Diskrepante klinische
vaskuläre Rückenmarkschädigung. Bei der zervikalen Myelo- Befunde, normaler Reflexstatus, erhaltene unwillkürliche Be-
pathie sind bewegungsabhängige Nackenschmerzen häufig wegungen, normale Elektrophysiologie bei komplettem Funk-
und das Zeichen von Lhermitte kann positiv sein. Zur Dia- tionsausfall.
gnose muss nach den bildgebenden Verfahren einschließlich
MRT auch eine Myelographie durchgeführt werden.

In Kürze

Spinale Gefäßsyndrome Diagnostik: CT, MRT: Darstellung der Weichteilstrukturen,


kraniokardiale Stenosenausdehnung.
Inzidenz: 1–3/100.000 Einwohner/Jahr. Risikofaktoren: Wie Therapie: konservativ zur Schmerzreduktion; Operation bei
ischämischer Hirninfarkt. Orthopädische und abdominelle progredienter neurologischer Symptomatik oder inakzeptabler
gefäßchirurgische Eingriffe mit Abklemmung der Aorta Verschlechterung der allgemeinen Lebensqualität.
führen zu arteriellen und venösen Durchblutungsstörungen
des Rückenmarks. Progressive, vaskuläre Myelopathie

Spinalis-anterior-Syndrom Symptomatik: Paraspastische Beinbewegungsstörung mit


querschnittsförmiger, dissoziierter Gefühlsstörung.
Ursache: arterielle Durchblutungsstörungen des Rücken- Diagnostik nur per exclusionem möglich.
marks.
Symptomatik: akut und subakut auftretende radikuläre Spinale Blutungen
Schmerzen auf segmentalem Niveau der betroffenen Arterie,
schnelle Bein- und Rumpflähmung mit dissoziierter Sensibi- Ursache: Blutungen in Rückenmarksubstanz durch Angiome
litätsstörung, Blasen- und Mastdarminkontinenz. der intraspinalen Gefäße, Gerinnungsstörungen, Wirbelsäulen-
Diagnostik: CT: Suche nach lokalen Faktoren; MRT: erhöhte traumen und intraspinale Tumoren.
Signalintensität auf T2- oder protonengewichteten Bildern, Symptomatik: Para- oder Tetraparese mit dissoziierter Sensi-
vermehrte Wassereinlagerung im betroffenen Territorium; bilitätsstörung, teilweise vollständige Querschnittslähmung.
Liquor: geringe Zell- und Eiweißvermehrung. Diagnostik: MRT: Erfassung der Blutung und Differenzial-
Therapie: Volumentherapie, neurochirurgische, medikamen- diagnose; Angiographie: Nachweis einer spinalen Gefäßfehl-
töse, prophylaktische Maßnahmen. bildung.

Sulkokommissuralsyndrom Andere spinale Blutungen

Ursache: Arteriosklerose, Embolie. SAB und epidurale Blutungen bei spinalen Gefäßmissbildun-
Symptomatik: segmentale, periphere Lähmungen, rever- gen, Traumen und spontan.
sible Blasenstörungen, nicht komplette Paresen. Symptome: Schmerzen und akutes Querschnittssyndrom.

Radicularis-magna-Syndrom Spinale Arteriovenöse Missbildungen und Durafisteln

Ursache: Arteriosklerose, Embolie, Aortaaneurysma. Symptome: Parästhesien und zentrale, periphere Paresen der
Symptomatik: komplette Querschnittsläsion mit spinalem Beine, Blutungen mit heftigen Rückenschmerzen, Blasen- und
Schock, massive vegetative Störungen. Darmentleerungsstörungen.
Diagnostik: Liquor: Leichte Pleozytose, geringe Eiweißver-
Claudicatio spinalis mehrung; MRT, CT-Myelographie: Korkenzieherartige, spiral-
förmige Aussparungen über Segmente des Thorakal- und
Ursache: enger Spinalkanal, körperliche Anstrengung. Lumbalmarks; DSA: Darstellung spinaler AV-Angiome und
Symptomatik: Parästhesien, Krämpfe, periphere Schwäche Durafisteln. Therapie: Endovaskulärer Verschluss des Nidus
in Beinen. durch Embolisierung, Ballonokklusion oder mikrochirurgische
Operation.
III Tumorkrankheiten
des Nervensystems
11 Hirntumoren – 291

12 Spinale Tumoren – 343

13 Paraneoplastische Syndrome – 353


11

11 Hirntumoren

11.1 Klinik der Hirntumoren – 295


11.1.1 Allgemeinsymptome – 295
11.1.2 Fokale Symptome – 297

11.2 Hirnödem und intrakranielle Drucksteigerung – 297


11.2.1 Zeitlicher Ablauf von Hirnödem und Druckanstieg – 297
11.2.2 Symptome erhöhten Hirndrucks – 298
11.2.3 Einklemmung (Herniation) – 299

11.3 Diagnostik – 300


11.3.1 Neuroradiologische Diagnostik – 300
11.3.2 Hirnbiopsie und Histologie – 301
11.3.3 Laboruntersuchungen – 302

11.4 Therapieprinzipien – 303


11.4.1 Operative Therapie – 303
11.4.2 Strahlentherapie – 305
11.4.3 Chemotherapie – 306
11.4.4 Hirndrucktherapie – 309

11.5 Astrozytäre Tumoren (Gliome) – 310


11.5.1 Pilozytische Astrozytome (WHO-Grad I) – 310
11.5.2 Astrozytom (WHO-Grad II) – 310
11.5.3 Ponsgliome – 312
11.5.4 Anaplastisches Astrozytom (WHO-Grad III) – 312
11.5.5 Glioblastom (WHO-Grad IV) – 313

11.6 Oligodendrogliale Tumoren – 315


11.6.1 Oligodendrogliome (WHO-Grad II) und Mischgliome
(Oligoastrozytome, WHO-Grad II-III) – 315
11.6.2 Anaplastische Oligodendrogliome (WHO Grad III) – 316

11.7 Ependymale Tumoren: Ependymome (WHO-Grad II) – 316

11.8 Primitiv neuroektodermale Tumoren – 319

11.9 Mesenchymale Tumoren – 320


11.9.1 Meningeome – 320
11.9.2 Anaplastische Meningeome – 323

11.10 Nervenscheidentumoren – 323


11.10.1 Akustikusneurinom – 323
11.10.2 Andere Neurinome – 325

11.11 Hypophysentumoren – 325


11.11.1 Hormonproduzierende Tumoren – 325
11.11.2 Hormoninaktive Tumoren – 328
11.12 Kraniopharyngeome – 328

11.13 Metastasen und Meningeosen – 329


11.13.1 Solide Metastasen – 329
11.13.2 Meningeosis blastomatosa – 331
11.13.3 Meningeosis neoplastica (carcinomatosa) – 334

11.14 Primäre ZNS-Lymphome – 335


11 · Hirntumoren
293 11
> > Einleitung Fehlbildungstumoren) aus. Die biologische Herkunft der pri-
mären Hirntumoren ist noch nicht geklärt. Es ist klar, dass
Physikalisch kann das Schädelinnere als geschlossenes Kom- diese Tumore nicht durch Transformation reifer Gehirnzellen
partiment mit drei Hauptelementen – dem Hirngewebe, dem entstehen. Die Nomenklatur reflektiert lediglich die histopa-
Blutvolumen und dem Liquorraum – angesehen werden. Der thologische Phänomenologie.
knöcherne Schädel ist ein starres Behältnis mit einem Fassungs- Sekundäre Hirntumoren sind Metastasen anderer Tu-
vermögen von ca. 1500–1800 ml. Er ist gefüllt mit etwa 1200– moren und Tumoren, die von dem das Gehirn umgebenden
1300 ml Gehirngewebe, etwa 150 ml Liquor, etwa 200 ml Blut Knochen ausgehen. Sie werden durch verdrängendes oder in-
und ca. 20–50 ml anderer Gewebe, z.B. Hirnhäute, Plexus, Epen- filtratives Wachstum und Erhöhung des Schädelinnendrucks
dym). Wenn sich innerhalb des geschlossenen, starren Behält- symptomatisch.
nisses ein zusätzliches Kompartiment entwickelt, wird zunächst
der Liquor verdrängt, weil er mit dem Rückenmarkraum in Ver- 3Einteilung der intrakraniellen Tumoren. Die Tumoren
bindung steht. Danach wird das Blutvolumen in der Umgebung werden nach ihren histologischen Kennzeichen in benigne
des neuen Kompartiments reduziert, aber insgesamt ergibt dies und maligne Geschwülste eingeteilt. Die allgemein übliche
nicht viel Kompensationsmöglichkeit und geht mit einer Minder- Gradierung in gut- und bösartig ist im Gehirn nur sehr ein-
durchblutung des umgebenden Gewebes einher. Als nächstes geschränkt nützlich. Auch ein gutartiger Tumor mit sehr lang-
wird Hirngewebe verdrängt und gegen die starren Umgebungs- samer Wachstumstendenz kann, unbehandelt, zur Hirndruck-
strukturen gepresst. erhöhung und zur Einklemmung führen. Infiltratives Wachs-
Sobald eine raumfordernde Läsion in der Schädelhöhle akut tum eines benignen, aber inoperablen Tumors in lebenswich-
ein Volumen von mehr als 50 ml erreicht, wirkt sie komprimie- tige Hirnabschnitte führt zum Tode (Beispiel Ponsgliom).
rend auf das Hirngewebe und kann zu Funktionsstörungen, z.B. Daher geht die klinische Einschätzung der Malignität der
zu einer Lähmung führen. Wenn sie weiter an Volumen zunimmt Hirntumoren sowohl vom biologischen Verhalten des Tumors
und lebenswichtige Hirnanteile komprimiert werden, geben sie als auch vom histologischen Befund aus. Die Einteilung in be-
ihre Funktion auf, der Patient wird bewusstlos und kann an der nigne und maligne intrakranielle Tumoren erfolgt primär nach
raumfordernden Läsion sterben. Auch die Geschwindigkeit, mit histologischen Kriterien.
der sich die raumfordernde Läsion entwickelt, spielt eine Rolle. Malignitätsgrade (WHO-Klassifikation): Aufgrund der
Wenn ein Tumor langsam wächst, dann kann er innerhalb vieler histologischen Klassifikation werden die Hirntumoren nach
Jahre ein beträchtliches Volumen erreichen, bevor er symptoma- Empfehlungen der WHO in vier Malignitätsgrade einge-
tisch wird. Wächst er sehr schnell, entwickeln sich die Symptome teilt, die einen Anhalt für ihr biologisches Verhalten ange-
auch rasch und schon bei kleinerem Volumen. Beim Erwachse- ben, was hauptsächlich die klinische Überlebenszeit reflek-
nen kann die starre Schädelkapsel der Volumenvermehrung tiert und damit stark von den jeweils verfügbaren Therapien
durch die intrakranielle Geschwulst nicht nachgeben. Die Hüll- abhängt.
strukturen (Dura, Knochen) lassen keine wesentlichen Ausweich- 4 Grad I: gutartiges Wachstum mit einer postoperativen
möglichkeiten für einen raumfordernden Prozess zu, sieht man Überlebenszeit von 5 oder mehr Jahren bzw. guten Heilungs-
einmal von der Stauungspapille oder der Herniation im Foramen aussichten nach alleiniger Resektion.
magnum ab, die einen klinisch ungünstigen Versuch des Auswei- 4 Grad II: Tumoren mit einer mittleren Überlebenszeit von
chens von Gewebe darstellen. Dies gilt nicht für Tumoren im 3 bis 5 Jahren.
frühen Kindesalter, wenn die Knochennähte und Fontanellen 4 Grad III: Tumoren mit einer mittleren Überlebenszeit von
noch nicht geschlossen sind. 2 bis 3 Jahren.
4 Grad IV: Tumoren mit einer mittleren Überlebenszeit von
Vorbemerkungen 6 bis 15 Monaten.
Primäre Hirntumoren gehen vom Neuroepithel, Ganglienzel-
len, den Hirnhäuten, den Nervenscheiden, der Hirnanhangs- . Tabelle 11.1 fasst die WHO-Grade der im Folgenden bespro-
drüse oder ektopen, intrakraniellen Geweben (Keimzell- und chenen Hirntumoren zusammen.

Exkurs
Histologische Malignitätszeichen
Entdifferenzierung der Zellen: Kernatypien, regelrechte und die bei malignen Tumoren als des Ungleichgewichts zwischen
atypische Mitosen sowie Entwicklung pathologischer Gefäße, Tumorwachstum und Gefäßversorgung auftreten, zu den regres-
die paradoxerweise häufig eine insuffiziente Perfusion der siven Veränderungen.
Tumoren verursachen und aufgrund einer unzureichenden Tumorblutungen treten bei benignen und malignen Tu-
Ausbildung der Bluthirnschranke zu einer Reduktion der Perm- moren meist aufgrund von pathologischer Gefäßneubildung
selektivität und zu einer Steigerung des interstitiellen Gewebe auf. Spezielle Marker, wie das saure Gliafaserprotein (GFAP),
drucks beitragen. das S-100-Protein oder das Synaptophysin erlauben auch bei
Verkalkungen können als Charakteristikum oligo- sehr starker Entdifferenzierung des Gewebes ein Erkennen des
dendroglialer Tumore oder posttherapeutisch auftreten. Bei Ursprungsgewebes.
raschem Tumorwachstum zählen sie ebenso wie Nekrosen,
294 Kapitel 11 · Hirntumoren

. Tabelle 11.1. Histologische Kriterien der Hirntumoren (WHO)


WHO- Histologische Charakteristika Beispiele Überlebenszeit
Grad Zirka-Angaben)
I Gut differenzierte Gewebe, keine Metastasen Pilozytisches Astrozytom, Meningeom, Neurinom, ≥ 5(–50) J.
Hypophysenadenom
II Einzelne atypische Zellen, noch gut differenziertes Astrozytom II, Oligodendrogliom, Ependymom, 3–5 J.
Gewebe, Kernatypien, keine/kaum Metastasen Pineozytom
III Viele atypische Zellen, Mitosen, Ursprungsgewebe Anaplastisches Astrozytom, anaplastisches Oligo- 2–3 J
noch erkennbar, jedoch bereits entdifferenziert dendrogliom, Plexuskarzinom, anaplastisches Me-
ningeom
IV Entdifferenziertes Gewebe, viele Mitosen, Nekrosen, Astrozytom IV, Medulloblastom, Meningosarkom, 6 Monate
Endothelproliferation, Metastasen Glioblastom, primäres ZNS-Lymphom (bis 2 Jahre)
Folgende histologische Kriterien werden zur Beurteilung herangezogen: a) Kernatypien, b) Mitosen, c) Endothelproliferation, d) Nekrosen.
Läsionen erreichen den WHO-Grad I aufgrund reiner Zell- und Gewebsvermehrung gegenüber dem Normalgewebe.
Grad I 1 der obigen Kriterium erfüllt,
Grad II 2 Kriterien vorhanden,
Grad III 3 oder 4 Kriterien erfüllt, Grad IV.

3Metastasierung. Während diese bei anderen Tumor- in die hintere Schädelgrube oder in den Spinalkanal, sowie sehr
krankheiten ganz wesentlich zur Beurteilung der Malignität selten in Lunge oder Leber.
beiträgt, tritt sie bei Hirntumoren in den Hintergrund. Eine
Metastasierung von Hirntumoren nach außerhalb des Zentral- 3Epidemiologie. Über die Häufigkeit von Hirngeschwüls-
nervensystems ist extrem selten. Einige Tumoren, wie das Me- ten liegen keine verlässlichen Zahlen vor. Die allgemein, aber
dulloblastom, das Ependymom oder das Germinom, neigen besonders aufgrund der Häufigkeit von Metastasen zunehmen-
11 zur Metastasierung innerhalb des ZNS, zu Abtropfmetastasen de Inzidenz wird mit 15 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwoh-

Facharzt
Erkrankungsalter und genetische Ursachen
Das Erkrankungsalter unterscheidet sich für einzelne Grup- Die Rolle der genetischen Faktoren bei der Entstehung
pen von Hirntumoren: von Hirntumoren ist in den letzten Jahren immer mehr in
4 Im Kindes- und Jugendalter bis zum 20. Lebensjahr den Vordergrund getreten.
findet man Tumoren oft in der hinteren Schädelgrube: 4 Bei niedergradigen (WHO-Grad II) Astrozytomen sind
Besonders häufig sind Medulloblastome und pilozytische Veränderungen auf den Chromosomen 10 und 17, insbe-
Astrozytome des Kleinhirns, Tumoren des Hirnstamms und sondere im p53-Tumorsuppressorgen auf 17p, beschrieben
Zwischenhirns (Kraniopharyngeome, Gliome, Pinealome) worden.
und, in den Großhirnhemisphären, die Ependymome. Hemis- 4 Die bei WHO-Grad II und III-Gliomen häufige Mutation im
phärengliome sind dagegen selten, Meningeome, Neuri- Isocitratdehydrogenasegen (IDH)-1 ist mit einer günstigen
nome und Hypophysenadenome treten kaum auf. Bei Kin- Prognose assoziiert.
dern bis 14.Jahre sind Hirntumore nach Tumoren des blut- 4 Beim Glioblastom ist das Gen für den epidermalen Wachs-
bildenden Systems die zweithäufigsten Neoplasien. tumsfaktorrezeptor übermäßig exprimiert. Außerdem treten
4 Im mittleren Lebensalter überwiegen die Gliome Methylierungen im Promotor des Gens O6-Methyl-Guanyl-
der Großhirnhemisphären, die Meningeome, Hypophysen- Methyl-Transferase auf, die mit dem Ansprechen auf alkylie-
adenome, die Neurinome der Hirnnerven und unter den rende Therapie verbundenen sind.
Kleinhirntumoren das Hämangioblastom (Lindau-Tumor, 4 Bei Meningeomen ist ein partieller Verlust von Chromo-
7 Kap. 8.4.2). som 22 beschrieben. Bei atypischen oder malignen Menin-
4 Im höheren Alter treten die bösartigen Glioblastome geomen wurde eine Punktmutation auf Chromosom 14 fest-
und die Hirnmetastasen an die erste Stelle. In diesem Alter gestellt.
ist auch die absolute Zahl von Hirntumoren besonders hoch: 4 Bei Medulloblastomen werden häufig Veränderungen
20% aller Tumoren kommen im 6. Lebensjahrzehnt vor. auf Chromosomen 17q beschrieben. Auf diesem Chromosom
sitzt das p53-Tumorsuppressorgen. p53-Mutationen sind
Die Bindung bestimmter Geschwulstarten an unterschied- assoziiert mit der Progression von malignen Tumoren.
liche Altersklassen ist so streng, dass sich einzelne Tumor-
arten und Altersgruppen, z.B. pilozytische Astrozytome im
Erwachsenenalter, ausschließen.
11.1 · Klinik der Hirntumoren
295 11
ner im Jahr geschätzt. Die Prävalenz von Hirntumoren soll bei Auftreten einer Epilepsie zwischen dem 25. und 60. Lebensjahr
etwa 50 pro 100.000 Einwohner liegen. Alle Hirntumoren zu- (Spätepilepsie). Aber auch bei Kindern und Jugendlichen
sammen machen etwa 7–9% der Tumorkrankheiten aus, primä- können Anfälle das erste Symptom eines Großhirntumors sein.
re Hirntumoren etwa 5%. Bei Kindern stehen Hirntumoren Eine erbliche Belastung mit Epilepsie macht die Suche nach
nach Leukämien, Nierentumoren und Knochentumoren an einem Hirntumor nicht überflüssig. Oft treten Anfälle lange
vierter Stelle. Männer leiden häufiger als Frauen unter bösarti- vor anderen, lokalen oder allgemeinen, neurologischen Symp-
gen Hirntumoren und Metastasen. Die Häufigkeit von Hirnme- tomen des Tumors auf. Die Aussichten einer Operation wären
tastasen wird sehr unterschiedlich, meist zu niedrig angegeben. in diesem Stadium besonders günstig, zumal die gutartigen,
Man schätzt die Inzidenz von Metastasen auf 6–8/ 100.000 langsam wachsenden, operablen Geschwülste häufiger Anfälle
und Jahr. Unter den hirneigenen Tumoren sind die Gliome hervorrufen als die malignen Tumoren. Tumoren, die zu mo-
mit 4–5 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner und Jahr torischen Anfällen führen, liegen meist in der Umgebung der
(ca. 40%) am häufigsten, gefolgt von den Meningeomen (etwa Zentralregion. Andere Lokalisationen sind der Schläfenlap-
20%), den Neurinomen (8%) und den Hypophysenadenomen pen, das Stirnhirn und der Scheitellappen. Tumoren der Hirn-
(6%). In der Gruppe der Gliome stellen Glioblastome mit über basis und infratentorielle Geschwülste treten dahinter als Ur-
50% den Hauptanteil, gefolgt von Astrozytomen (20%), Oligo- sache der Tumorepilepsie ganz zurück.
dendrogliomen (3–8%) und Ependymomen (2–6%). Ob die Tumorepilepsie sich in generalisierten oder fokalen
Anfällen äußert, hängt von der Lokalisation ab: So wird ein
3Pathogenese, Genetik und Wachstumskinetik. Über die Neoplasma der Zentralregion eher zu einfach-partiellen, insbe-
Entstehung der primären Hirntumoren ist nicht viel bekannt. sondere zu Jackson-Anfällen, und ein Schläfenlappentumor zu
Viele Geschwulsttypen entstehen an bestimmten Orten im Ge- komplex-partiellen (psychomotorischen) Anfällen führen, wäh-
hirn. Bevorzugt ist die dorsale Schließungsrinne des Medullar- rend Stirnhirntumoren häufiger generalisierte Krampfanfälle
rohres, die entwicklungsgeschichtlich zu Fehlbildungen dispo- auslösen, besonders in Form des Status epilepticus, der das erste
niert ist. In den letzten Jahren werden zunehmend transformier- neurologische Symptom sein kann. Ein Wechsel des Anfallscha-
te adulte neuronale oder gliale Stammzellen als Ursprungsgewe- rakters ist bei bekannter Epilepsie sehr auf einen Hirntumor
be postuliert. Die meisten Hirntumoren sind nicht erblich. verdächtig.
Ausnahmen bieten die Hirntumoren, die bei der Neurofibroma-
> Epileptische Anfälle sind das wichtigste Frühsymptom
tose I und II (beidseitige Akustikusneurinome, Optikusgliom)
bei Tumoren der Großhemisphären. Nicht selten be-
auftreten und Tumoren bei Phakomatosen (tuberöse Hirn-
ginnt eine Tumorepilepsie mit einem Grand-mal-Status,
sklerose, Hippel-Lindau-Krankheit, Sturge-Weber-Krankheit,
besonders bei frontalen Tumoren. Oligosymptomati-
7 Kap. 8.4.2). Trotzdem ist eine familiäre Häufung von Tumor-
sche komplex-partielle Anfälle können bei temporalen
erkrankungen ebenso augenfällig wie die familiäre Häufung von
Tumoren über Jahre das einzige Tumorsymptom sein.
kardiovaskulären oder zerebrovaskulären Erkrankungen.
Exogene Faktoren haben für das Auftreten von Hirnge-
schwülsten keine nachweisbare Bedeutung. Dies gilt besonders Wesensänderung und Verhaltensstörungen
für den immer wieder diskutierten Zusammenhang mit Schä- Häufig tritt eine Veränderung im Wesen und Verhalten der
deltraumen. Immer wieder wird die Möglichkeit einer Entste- Kranken ein: Der spontane Antrieb lässt nach, die affektiven
hung von Meningeomen nach Bestrahlung diskutiert, hinrei- Regungen stumpfen ab, die Interessen engen sich ein, so dass
chend bewiesen ist der Zusammenhang nicht. die Patienten im Beruf, aber auch in den mitmenschlichen Be-
ziehungen viele Verhaltensweisen unterlassen, die ihnen frü-
her selbstverständlich waren. Die Persönlichkeit erscheint im
11.1 Klinik der Hirntumoren ganzen holzschnittartiger und weniger differenziert. Beim Er-
wachsenen sind dies meist Zeichen eines erhöhten intrazere-
11.1.1 Allgemeinsymptome bralen Drucks. Greifreflexe kommen bei jeder Lokalisation in
den Hemisphären vor.
Kopfschmerzen Verhaltensstörungen sind bei den Tumoren des Kindes-
Kopfschmerzen, die sich beim Aufrichten, Bücken oder Pressen, alters oft das einzige Frühsymptom. Kinder klagen nur selten
also bei Schwankungen des intrakraniellen Drucks verstärken, über umschriebene Schmerzen, und bei ihnen entwickeln sich,
werden von der Hälfte aller Tumorpatienten als erstes Symptom solange die Schädelnähte noch nicht geschlossen sind, Hirn-
angegeben. Tumoren, die zum Hydrocephalus occlusus führen, drucksymptome erst relativ spät. Dagegen ist das plötzliche
verursachen am häufigsten Kopfschmerzen. Auslöser der Kopf- Einsetzen von Verhaltensauffälligkeiten, wie Teilnahmslosig-
schmerzen ist eine Dehnung der Meningen, die sensibel vom keit, Unlust am Spiel, Leistungsabfall in der Schule, Reizbarkeit
N. trigeminus versorgt werden. Deshalb sind auch die Austritts- und affektive Labilität auf die Entwicklung eines Hirntumors
punkte dieses Nerven, oft einseitig, druckschmerzhaft. verdächtig, und die neurologische Untersuchung darf neben
der psychiatrisch-psychologischen nicht unterlassen werden.
Epileptische Anfälle
Diese sind das wichtigste Frühsymptom bei Tumoren der > Oft sind neuropsychologische Auffälligkeiten, wie
Großhirnhemisphären. Jeder dritte Tumorkranke erleidet Antriebsstörung, affektive Verflachung, Desinteresse
Anfälle, und ein Hirntumor ist die häufigste Ursache für das und Verlangsamung Frühsymptome eines Hirntumors.
296 Kapitel 11 · Hirntumoren

Exkurs
Zerebrale Herdsymptome bei Hirntumoren
Frontallappen (Stirnhirn): 4 Neurologische Symptome: homonyme obere Quadran-
4 Psychisch: Veränderung von Antrieb und Affektivität: tenanopsie oder Hemianopsie bei dorsal gelegenen Tumoren,
Die Kranken werden aspontan bis zu einem solchen Grade, armbetonte Hemiparese. Bei Läsion der dominanten Hemis-
dass sie keine eigene Initiative mehr entwickeln und stun- phäre: Wernicke- oder amnestische Aphasie.
denlang regungslos dasitzen, nicht mehr das Bett verlassen
und Speisen halbgekaut im Munde behalten. Auch die spon- Parietallappen:
tanen, sprachlichen Äußerungen versiegen. Die Patienten 4 Psychisch keine typischen Lokalsymptome.
sind nur noch ganz begrenzt zu zielgerichteten Handlungen 4 Neuropsychologische Störungen: Vernachlässigung
anregbar. Ihre Antworten sind lakonisch. Zu einem Gespräch (»Neglect«) der kontralateralen Körper- und/oder Raumhälfte,
sind sie nicht mehr imstande. Jede Umstellung ist erschwert: räumliche Orientierungsstörung, konstruktive Apraxie von
Wenn die Patienten sich einer Situation oder einem Objekt seiten der nicht sprachdominanten Hemisphäre. Bei Läsion der
zugewandt haben, sind sie so daran fixiert, dass sie nur dominanten Hemisphäre: amnestische Aphasie, auch andere
schwer wieder abgelenkt werden können. sprachabhängige Leistungsstörungen, Dyslexie, Apraxie für
4 Mit dem Verlust der eigenen Initiative tritt eine Aus- beide Hände. Anosognosie ist bei rechts-parietalen Tumoren
lieferung an die Umwelt ein, die sich in Echosymptomen möglich.
äußert: Echolalie (Wiederholung des Gehörten) und 4 Epileptische Anfälle: sensible Jackson-Anfälle.
Echopraxie (Wiederholungen von Bewegungen des Gegen- 4 Neurologische Symptome: sensomotorische oder vor-
über). Perseveration (Wiederholung von Handlungen und wiegend sensible Hemiparese, Hemianopsie, untere Quadran-
Wörtern) ist häufig. Die Stimmung ist indifferent, die affek- tenanopsie oder hemianopische Aufmerksamkeitsschwäche,
tiven Bewegungen sind nivelliert. Das Bewusstsein kann Abschwächung oder Aufhebung des optokinetischen Nystag-
lange ungestört sein. Bei Läsion der sprachdominanten mus zur Gegenseite.
Hemisphäre: Broca-Aphasie.
4 Epileptische Anfälle: Generalisierte Krampfanfälle kön- Okzipitallappen:
nen als Status epilepticus ablaufen. Bei Läsion der lateralen 4 Neuropsychologische Störungen: häufig Dyslexie und
Stirnhirnkonvexität treten Adversivanfälle mit Wendung von Störung der optisch-räumlichen Orientierung. Bei doppel-
11 Augen und Kopf zum kontralateral angehobenen Arm auf. seitiger Läsion schwere Störung des visuellen Erkennens,
Motorische Jackson-Anfälle zeigen eine Schädigung der kortikale Blindheit mit Anosognosie.
Präzentralregion an. 4 Epileptische Anfälle: Anfälle mit optischer Aura.
4 Neurologische Symptome: leichte, kontralaterale He- 4 Neurologische Symptome: homonyme, hemianopische
miparese, frontale Gangstörung (äußerst zögernde Schritte, Gesichtsfelddefekte, oft Aufhebung des optokinetischen Nys-
bei denen die Füße »am Boden kleben« bleiben, Unsicher- tagmus zur Gegenseite.
heit, die kaum oder gar nicht durch unwillkürliche, gleich-
gewichtserhaltende Körperbewegungen ausgeglichen Basalganglien:
werden kann). Bei frontobasaler Lokalisation Anosmie, auch 4 Psychisch: Antriebsmangel, affektive Nivellierung, Som-
Visusverlust durch Optikusatrophie. Bei frontaler Tumor- nolenz.
lokalisation werden die Symptome oft als psychiatrisch 4 Neurologisch: akinetisches Parkinson-Syndrom, auch
verkannt und die Patienten längere Zeit antidepressiv be- halbseitig, Gegenhalten, kontralaterale Hemiparese.
handelt, bis dann nach Auftreten von epileptischen Anfällen
oder neurologischen Herdsymptomen in einem »zur Sicher- Dienzephalon:
heit durchgeführten« Computertomogramm der Hirntumor 4 Psychisch: starke Verlangsamung, Erlöschen der Interes-
erkannt wird. sen, gesteigertes Schlafbedürfnis, affektive Nivellierung.
Balken: Tumoren, die vom Balken einseitig oder doppel- 4 Neurologisch: bei Gliomen, im Gegensatz zum Kranio-
seitig (»Schmetterlingsgliom«) ins Stirnhirn einwachsen, sind pharyngeom, meist keine endokrinen oder vegetativen
klinisch nicht von Geschwülsten des frontalen Marklagers Regulationsstörungen, auch kaum neurologische Herdsymp-
zu unterscheiden. Die Symptomatik umschriebener Balken- tome.
tumoren ist uncharakteristisch.
Kleinhirn:
Schläfenlappen: 4 Psychisch: manchmal Euphorie.
4 Psychisch: Die Patienten sind häufig reizbar, verstimm- 4 Neurologisch: Tumoren einer Kleinhirnhemisphäre
bar, ängstlich oder depressiv. Bei Tumoren des basalen Tem- verursachen eine ipsilaterale Ataxie der Extremitäten mit
porallappens kann das affektive und sexuelle Verhalten Muskelhypotonie, erst später Gang- und Standataxie und
enthemmt werden. skandierendes Sprechen. Tumoren des Kleinhirnwurms füh-
4 Epilepsie mit psychomotorischen und generalisierten ren frühzeitig zu Störungen des Körpergleichgewichts. Charak-
Anfällen kommt bei fast 50% der Patienten vor. teristisch ist die Neigung des Kopfes zur Herdseite (Ocular-tilt-
6
11.2 · Hirnödem und intrakranielle Drucksteigerung
297 11

Reaktion). Kleinhirntumoren verursachen frühzeitig Hirn- Hirnstamm:


druck mit Kopfschmerzen und Stauungspapille, fast immer 4 Psychisch: meist Verlangsamung und Nivellierung.
Nystagmus. Fernsymptome durch Druck auf den Hirnstamm 4 Neurologisch: frühzeitig Pupillenstörungen, Augenmus-
und/oder Liquorabflussbehinderung sind: doppelseitige, kellähmungen mit Doppelbildern, vertikale oder horizontale
pathologische Reflexe, Trigeminus-Sensibilitätsstörungen, Blickparese, Blickrichtungsnystagmus. Meist optokinetische
Blickparesen und optokinetische Störung. Störungen. Bei größerer Ausdehnung: Hirnnervenlähmungen,
spastische Tetraparese, Ataxie, Atemstörungen (symptoma-
tisches Schlaf-Apnoe-Syndrom).

11.1.2 Fokale Symptome Bald ergreift die Massenverlagerung aber auch unter der Falx
cerebri hindurch die gegenseitige Hemisphäre, deren innere
Im weiteren Verlauf entwickeln sich zerebrale Herdsymptome. und äußere Liquorräume ebenfalls eingeengt werden. Ältere
Diese sind in Kap. 1 und 2 im Einzelnen beschrieben. Hier Patienten mit Hirnatrophie entwickeln verhältnismäßig spät
werden sie für die Diagnose der Tumorlokalisation wichtig. Im Hirndruck, so dass der Tumor beim ersten Auftreten von
folgenden Exkurs sind die klinischen Symptome aufgeführt. Symptomen schon recht groß sein kann.
Etwa ab einem Tumorvolumen um 50 ml kommt es zu den
ersten Zeichen eines erhöhten Hirndrucks. Je größer der Tu-
11.2 Hirnödem und intrakranielle mor, desto größer ist der raumfordernde Effekt. Wächst der
Drucksteigerung Tumor jedoch langsam, kann sich der raumfordernde Effekt
weniger bemerkbar machen. Manchmal sind Begleitödem
In der Umgebung von Tumoren bildet sich ein mehr oder we- oder Hydrocephalus occlusus von größerer Bedeutung als das
niger ausgeprägtes Hirnödem. Man unterscheidet generell Volumen des Tumors: Ein kleiner Tumor, z.B. eine Metastase,
zwei Arten von Hirnödem, das zytotoxische und das vasogene die von einem ausgedehnten Ödem umgeben ist, kann einen
Ödem (. Abb. 11.1). Mischformen beider Arten können vor- beachtlichen raumfordernden Effekt auslösen. Hierbei darf
kommen. Zu einem vasogenen Ödem kommt es bei Hirntu- nicht vergessen werden, dass es nicht nur der Tumor selbst ist,
moren, zum zytotoxischen Ödem beim Gewebszerfall nach der raumfordernde Wirkung hat, sondern auch das begleiten-
Hypoxie, z.B. nach Schlaganfällen. Das zytotoxische Hirnödem de Hirnödem. Auch die direkte Behinderung der Liquorpassa-
entsteht durch eine intrazelluläre Wasseransammlung, beson-
ders in der Rinde, das vasogene Ödem durch die Ansammlung
von Flüssigkeit im Interzellulärraum v. a. des Marklagers. Das
Hirnödem um einen Hirntumor ist ein vasogenes Marklager-
ödem, das durch die Auspressung von Plasma durch die zu-
sammengebrochene Blut-Hirn-Schranke in den Extrazellulär-
raum entsteht. Dies führt zu der im CT und MRT typischen
fingerförmigen Ausbreitung des Ödems. Das Ödem kann sich
auch über den Balken, speziell über die hinteren Balkenanteile
auf die Gegenseite ausdehnen. Als Faustregel kann gelten: Je
maligner der Tumor und je stärker sein Produktion u.a. an
VEGF, desto größer seine Neigung, ein Begleitödem zu ent-
wickeln. Das ausgedehnte Hirnödem in der Umgebung von
Hirnmetastasen erklärt sich durch das völlige Fehlen einer
BHS sowie die intensive Produktion vasoaktiver Faktoren.
Das Hirnödem ergreift zunächst die gleichseitige Hemis-
phäre. Der Liquorraum, der normalerweise das Nervengewebe
vor Druck schützt, wird kompensatorisch ausgepresst.
. Abb. 11.1. Entwicklung von zytotoxischem und vasogenem
Ödem. Eine schematische Darstellung des normalen Kapillarbetts mit
11.2.1 Zeitlicher Ablauf von Hirnödem Erytrozyten, Endothelien (einschließlich tight junctions) und Astrozy-
und Druckanstieg tenfortsätzen findet sich im oberen linken Teil der Abbildung. In der
ersten Phase der Ödementwicklung (rechts) sind die tight junctions
ungeschädigt. Flüssigkeit wird über das Endothel in die Astrozyten
Der Druckanstieg erfolgt zunächst nur sehr langsam (solange
aufgenommen (zytotoxische Phase). Durch die Schwellung der Astro-
durch Liquorauspressung Raum gewonnen werden kann), er- zyten wird der Extrazellulärraum verringert. In der vasogenen Phase
reicht dann einen Umschlagpunkt und steigt danach pro- (links unten) öffnen sich die tight junctions bzw. werden diese nicht
portional unter Zunahme des Volumens an. Eine weitere Vo- mehr ausgebildet, und Wasser kann in den Extrazellulärraum einströ-
lumenzunahme hat dann eine gröbere Massenverschiebung, men (vasogene Phase). (Aus Hacke 1994; nach Hartmann u. Wassmann
zunächst ipsilateral, zur Folge. Es droht die Einklemmung. 1987)
298 Kapitel 11 · Hirntumoren

Facharzt
Intrakranielle Druckerhöhung und Blut-Hirn-Schranke
Die Reaktionen auf einen raumfordenden Prozess im Gehirn Blut-Hirn-Schranke (7 Kap. 4.3)
sind Das Gehirn ist durch die Blut-Hirn-Schranke (BHS) in sehr
4 Verdrängung und Auspressung von Liquorräumen, effektiver Weise vom sonstigen Organismus abgeschottet. Der
4 Kompression von Hirngewebe mit gleichzeitiger Vermin- Intravasalraum ist vom Hirnparenchym und vom Liquorraum
derung von lokalem, zerebralen Blutfluss und Volumen und durch die BHS getrennt. Die BHS wird von den Kapillarendo-
4 Anstieg des intrakraniellen Drucks. thelien gebildet, an deren Basalmembran sich die Fußfortsätze
der Astrozyten in einer lückenlosen zellulären Schicht anschlie-
Der Wachstumsdruck wirkt sich also auf innere Strukturen ßen. Die Endothelzellen sind durch Verbindungselemente, die
des ZNS aus (. Abb. 11.2). tight junctions, verknüpft, die nur Partikel mit einem Durch-
messer unter 2 Nanometer passieren lassen.
Hirndruckentwicklung und Compliance Die BHS lässt zwar den Transport von niedermolekularen
Die initiale Fähigkeit, eine raumfordernde Läsion ohne Druck- Substanzen (O2, Glukose, Transmitter, Albumin) zu, bildet aber
erhöhung durch Verschiebung der Kompartmentverhältnisse eine effektive Abschottung gegen höhermolekulare Substan-
zu tolerieren, wird als »Compliance« bezeichnet. Die Compli- zen und Organismen.
ance ist zeitabhängig, d.h., bei sehr langsam wachsenden Die BHS kann durch Traumen, Entzündungen und Tumo-
Tumoren oder raumfordernden Läsionen dauert es relativ ren geschädigt werden. Bei Schädigung der BHS werden die
lange, bis Zeichen eines erhöhten Hirndrucks auftreten. engen Verbindungen, die tight junctions, zwischen den Endo-
Anders ist dies bei sich sehr schnell ausdehnenden Läsionen, thelzellen aufgebrochen. Die Blut-Hirn-Schranke verliert ihre
wie z.B. extraduralen, intrakraniellen Hämatomen und intra- Schutzwirkung und größere Moleküle können passieren.
parenchymatösen Blutungen oder auch bei sehr schnell Pathologische Tumorgefäße bilden keine voll funktionsfähige
wachsenden, raumfordernden Läsionen, wie Abszessen oder BHS aus, da sie in den pathologischen, z.T. insuffizienten Ge-
hochmalignen Tumoren fäßen auch aufgrund des vom Tumor produzierten vascular
endothelial growth factor (VEGF, früher als vascular permeability
Zerebraler Perfusionsdruck. Ein Anstieg des intrakraniellen factor VPF, beschrieben) mehr oder weniger gestört ist. Die
11 Drucks vermindert den zerebralen Perfusionsdruck. Die Folge ist die Auspressung von eiweißreicher Flüssigkeit in das
zerebrale Autoregulation kann die Durchblutung nur in Hirnparenchym und in den Extrazellulärraum, das vasogene
engen Grenzen über einen Anstieg des arteriellen Blutdrucks Ödem.
verbessern. In der Umgebung des Tumors entsteht durch Die Schädigung der BHS ist von diagnostischer Bedeu-
Druck, lokale Behinderung des Blutabflusses in Venen und tung, da Kontrastmittel überall, wo die BHS intakt ist, intravasal
Sinus, lokale Drosselung der Blutzufuhr infolge Dehnung bleibt und abtransportiert wird. Dort, wo die Blut-Hirn-Schran-
oder Verlagerung von arteriellen Gefäßen und toxische ke geschädigt ist, kommt es zum Austreten des Kontrastmit-
Zerfallsprodukte aus dem Tumorgewebe ein relativer Sauer- tels in das Parenchym und damit konsequenterweise wegen
stoffmangel. des schlechten Abtransports zur Anreicherung.

ge kann zu einer besonders schnellen Hirndrucksymptomatik etwas Essbarem auf ihrem Nachttisch und stecken es in den
führen, wenn man bedenkt, dass die tägliche Liquorprodukti- Mund. Regelmäßig kann man Greifreflexe der Hand und des
on beim Erwachsenen zwischen 200 ml und 300 ml beträgt. Mundes (7 Kap. 1.5) auslösen, die zu den frühesten Symp-
Dies bedeutet, dass bei einem kompletten Verschluss des Aquä- tomen des Hirndrucks gehören.
dukts oder unilateral des Foramen Monroi durch einen Tumor Handlungsaufforderungen kommen die Patienten nur teil-
innerhalb von Stunden eine kritische Zunahme des Liquorvo- weise nach, dann bleiben ihre Bewegungen gleichsam »unter-
lumens in den Seitenventrikeln entstehen kann. Bei Blockade wegs stecken«. So behalten sie oft ungekaute Speisen für Stun-
des Abflusses aus einem Seitenventrikel kann Hirndruck durch den im Mund. Häufig lassen sie unter sich, ohne dies zu bemer-
Vermehrung des Liquorvolumens entstehen. ken. Das Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsfeld ist einge-
engt: An Vorgängen in der Umgebung nehmen sie kaum Anteil.
Oft sind sie über Ort und Zeit desorientiert und antworten auf
11.2.2 Symptome erhöhten Hirndrucks entsprechende Fragen gleichgültig und abweisend. Später sind
die Patienten schläfrig und nur mit Mühe erweckbar. Die
Psychische Symptome Symptomatik des erhöhten Hirndrucks hat Ähnlichkeit mit
Patienten mit Hirndruck sind zunächst psychisch verändert. der bei Stirnhirntumoren.
Sie liegen oft aspontan im Bett und sind nur noch begrenzt
anregbar. Sie antworten nur zögernd, langsam, oft unwillig Stauungspapille und weitere Symptome
und können sich mitten in der Exploration zur Wand wenden. In fortgeschritteneren Stadien besteht eine (oft einseitige) Stau-
Das Gesicht ist ausdrucksleer, die Affektivität ist nivelliert. Oft ungspapille. Sie ist bei Tumoren der hinteren Schädelgrube
greifen sie während der Untersuchung oder Exploration nach besonders häufig. Historisch zwar wichtig, hat die Suche nach
11.2 · Hirnödem und intrakranielle Drucksteigerung
299 11
tastasen, Tumoren der hinteren Schädelgrube oder Hydroce-
phalus occlusus. Visusminderung bei Stauungspapille tritt erst
auf, wenn diese durch ischämische Nervenfaserdegeneration
in Atrophie übergeht.
Erbrechen tritt anfangs nur morgens auf. Es verstärkt sich
mit zunehmendem Hirndruck so, dass es bei jedem Aufrich-
ten, aber auch schon bei Kopfbewegungen, ohne vorangehende
Übelkeit ausgelöst wird. Ursache ist eine Druckwirkung auf die
Vestibulariskerne in der Medulla oblongata. Ein weiteres Zei-
chen der Hirnstammschädigung ist der Singultus.
Kopfschmerzen werden oft nicht mehr spontan, sondern
wegen der erheblichen psychischen Veränderung erst auf Be-
fragen geklagt. Die NAP des N. trigeminus sind beiderseits
stark druckschmerzhaft.
> Morgendliche, lageabhängige Kopfschmerzen ohne
Übelkeit, aber schwallartigem Erbrechen sind ty-
pische Zeichen des erhöhten Hirndrucks, schon bevor
Stauungspapillen, Pupillenstörungen oder Einklem-
. Abb. 11.2. Schematische Darstellung der Massenverlagerun- mungszeichen auftreten.
gen bei supratentoriell, intrahemisphärisch und infratentoriell
raumfordernder Läsion mit Darstellung der drei Herniationstypen,
subfalzial, transtentoriell und foraminal
11.2.3 Einklemmung (Herniation)

einer Stauungspapille für die frühe Diagnose eines Hirntumors Sobald der Kompensationsraum aufgebraucht und die Com-
heute keine Bedeutung mehr. Ihr Fehlen schließt eine intra- pliance erschöpft ist, kommt es zu einer Verlagerung von Ge-
kranielle Drucksteigerung keineswegs aus. Andererseits kann webe und Ödem, die in der Einklemmung endet. Man unter-
auch bei hypertonischer Arteriosklerose, bei kardiopulmona- scheidet drei Formen der Herniation:
len Krankheiten, bei Allgemeinkrankheiten und Intoxikati- 4 die transtentorielle Herniation,
onen, bei Kortikoidtherapie und Einnahme von Kontrazeptiva 4 die tonsilläre Herniation von Kleinhirnanteilen im Fora-
eine Stauungspapille bestehen, die bis zwei oder drei Dioptrien men magnum und
prominent und asymmetrisch sein kann. Hochgradige Stau- 4 die subfalziale Herniation.
ungspapillen sind auch für Sinusthrombosen charakteristisch
(7 Tab. 1.2). Symptome der Einklemmung
Blutungen in der Netzhaut zeigen eine rasche Zunahme Ophthalmologische Symptome. Die Pupillen sind durch inne-
der Papillenprominenz an und sprechen für Glioblastom, Me- re Okulomotoriuslähmung (ipsilaterale Dehnung des Nerven

Exkurs
Formen der Herniation (. Abb. 11.2)
Die transtentorielle Herniation wurde früher als axiale Herni- Foramen magnum gepresst. Diese Herniation ist typisch für
ation aufgefasst. Heute weiß man, dass sie mehr auf einer eine infratentoriell raumfordernde Läsion. Die Medulla oblon-
horizontalen Dislokation des oberen Anteils des Hirnstamms gata kann dabei zwischen den hinabgedrückten Kleinhirn-
im Tentoriumschlitz beruht. Neben der lateralen Verschiebung tonsillen im Foramen occipitale magnum eingeklemmt wer-
des Hirnstamms kann auch der Uncus hippocampi in den den. Pathologisch-anatomisch findet sich hier später der
Tentoriumschlitz eintreten und hierdurch die Bedrängung des typische Kleinhirndruckkonus. Durch die Gefahr einer Läh-
Hirnstamms noch vergrößern. Der ipsilaterale N. oculomotori- mung des retikulären Aktivierungssystems und der Regula-
us wird gedehnt und der Hirnstamm gegen den kontralate- tionsstellen für Atmung und Kreislauf führt diese Einklem-
ralen Tentoriumrand gepresst. Diese Sequenz erklärt, warum mung rasch zum Tode.
bei erhöhtem Hirndruck und drohender Einklemmung initial Eine Massenverschiebung nach rostral, durch die der
oft eine reversible ipsilaterale (periphere) und später eine Kleinhirnwurm gegen das Mittelhirn und in den Tentorium-
kontralaterale (nukleäre) Okulomotoriusparese auftritt. Medi- schlitz gepresst wird kommt bei Tumoren der hinteren Schä-
ale Temporallappenteile können hierbei nach kaudal in die delgrube vor. Bei dieser Einklemmung wird der Aquädukt
ipsilaterale Cisterna ambiens gepresst und zwischen Mittel- verengt oder verschlossen, und es bildet sich ein Hydrocepha-
hirn und Schlitz des Tentorium cerebelli eingeklemmt werden lus occlusus aus.
(Unkusverquellung, temporaler Druckkonus). Bei der häufigen, allein aber nicht lebensbedrohlichen
Bei der tonsillären Herniation wird eine oder werden subfalzialen Herniation werden Teile des Gyrus cinguli unter
beide zerebellären Tonsillen und anderes Gewebe in das der Falx disloziert.
300 Kapitel 11 · Hirntumoren

Exkurs
Signalcharakteristika von Tumoren im MRT
4 Im MRT haben die meisten Hirntumoren in T1-gewich- 4 Dagegen sind suszeptibilitätsgewichtete MR-Sequenzen
teten Bildern eine hypointense Darstellung, während sie auf für die Darstellung frischer oder älterer Hämorrhagien beson-
T2- und Protonendichte-gewichteten Abbildungen leicht ders empfindlich.
hyperintens sind. 4 Abbauprodukte des Blutes in verschiedenen Stadien
4 Manche extraaxialen Tumoren weisen niedrige Signale haben charakteristische Signalcharakteristika im MRT, die es
in allen Sequenzen auf oder sind hirnisointens. dem Neuroradiologen mit hoher Sicherheit erlauben, Art
4 Das Hirnödem erscheint auf den T2-Bildern sehr stark und Alter des Blutungsereignisses zu identifizieren. Einzelnen
hyperintens. MRT-Sequenzen kommt eine spezielle Bedeutung bei der
4 Die Gabe von Kontrastmittel erlaubt es, durch Charakte- Diagnostik und der Verlaufsbeurteilung von Hirntumoren zu.
risierung der Störung der Blut-Hirn-Schranke solide Tumor- 4 Diffusionsgewichtete MRT-Sequenzen helfen Abszesse,
anteile von Ödemzonen zu unterscheiden. die diffusionseingeschränkt sind, von vitalen Tumoren zu
4 Zysten erscheinen auf T1-Bildern deutlich hypointens differenzieren.
und auf T2-Bildern stark hyperintens. 4 Ebenso sind die sehr zelldichten primären ZNS Lymphome
4 Kalk ist auf kernspintomographischen Bildern oft häufig diffusionseingeschränkt.
schlecht zu erkennen, er erscheint hypointens in T1 und T2. 4 Eine Veränderung der dynamischen Perfusion kann auch
Hier ist häufig eine zusätzliche computertomographische ohne Änderung des Tumorvolumens oder der KM-Affinität
Untersuchung notwendig. eine Progression (Perfusionsverminderung) bzw. ein Therapie-
ansprechen des Tumors (Perfusionsverstärkung) signalisieren.

im Tentoriumschlitz) einseitig, später (durch Pressen des Hirn- mogenität des Tumors und Störungen der Bluthirnschranke
stamms mit Okulomotoriuskern gegen die Klivuskante = Kli- (Kontrastmittelaufnahme). KM-angehobene CCT werden nur
vuskantensyndrom) doppelseitig erweitert. in Ausnahmefällen oder bei Kontraindikation gegenüber der
MRT (z.B. Metallimplantate oder Herzschrittmacher) angefer-
Weitere neurologische Symptome. Die Verlagerung des ge- tigt. Die Beteiligung knöcherner Strukturen und Verkalkungen
11 genseitigen Hirnschenkels gegen den Rand des Tentoriums innerhalb des Tumors sind mit der Computertomographie,
führt zu ipsilateralen (!) pathologischen Reflexen und zentraler besonders im Knochenfenster, gut erkennbar. Wir besprechen
Parese; ipsilateral zum Tumor deshalb, weil die motorischen allerdings die CT-Befunde der einzelnen Tumoren nicht, da
Bahnen auf diesem Niveau noch nicht gekreuzt haben. heute praktisch immer, außer in Situationen, die eine weitere
Diagnostik wegen fehlender therapeutischer Konsequenz nicht
Blutdruck. Später verändert sich der Blutdruck. Zunächst füh- erforderlich machen, eine MRT-Untersuchung erfolgen muss.
ren die Hypoxydose des Hirns und der Druck auf die Medulla
zu einem reaktiven Hypertonus (Cushing-Reflex), später fällt Magnetresonanztomographie
der Blutdruck ab, was die Blutversorgung des Gehirns weiter Die bessere Auflösungsfähigkeit und geringere Artefaktan-
verschlechtert. Der Puls wird langsam. fälligkeit speziell bei schädelbasisnahen Prozessen oder Hirn-
Im Endstadium sind die Patienten komatös. Ihre Pupillen stammtumoren, in der Sella oder im Sinus cavernosus machen
sind weit und lichtstarr, die Bulbi divergieren oder führen lang- die MRT der CT überlegen. Auch innerhalb des Tumors gelingt
same Pendelbewegungen aus. Die Extremitäten befinden sich eine bessere Einschätzung der Tumoranteile. Frühere oder fri-
in einer Dezerebrationshaltung. Doppelseitig sind patholo- sche Blutungen, die Abgrenzung von Tumor und Ödem und
gische Reflexe auslösbar. Der Blutdruck fällt weiter ab. Die At- die Einbeziehung anatomischer Strukturen in den Tumorpro-
mung wird schnarchend, periodisch, unregelmäßig, sistiert. zess lassen sich mit der MRT besser analysieren.
Der Hirntod tritt ein. Durch die Anwendung von paramagnetischen Kontrast-
mitteln wird die Differenzierung zwischen Tumor und Ödem,
die Beurteilung der Gefäßdichte innerhalb des Tumors und die
11.3 Diagnostik Störung der Blut-Hirn-Schranke, ggf. auch der Nachweis von
kleinen, im Nativ-MRT noch nicht erkennbaren Satellitentu-
11.3.1 Neuroradiologische Diagnostik moren möglich. Mit der MRT lässt sich auch die neurochirur-
gische Resektion oder die Lokalisation für ein sterotaktische
Computertomographie Biopsie planen.
Die CT, die ohne und mit Kontrastmittel durchgeführt werden Bei Verdacht auf Hirnmetastasen ist die MRT ebenfalls
kann, ist in der Notfallsituation häufig die erste bildgebende wichtig, um zwischen solitären und multiplen Hirnmetastasen
Diagnostik, die bei einem Patienten mit Verdacht auf einen zu unterscheiden. Viele kleine Metastasen machen sich erst im
raumfordernden, intrakraniellen Prozess durchgeführt wird. KM-MRT bemerkbar. Dies hat eine wesentliche therapeutische
Die CT erlaubt dann die erste Verdachtsdiagnose und gibt Bedeutung, da solitäre Metastasen operiert werden können,
schon einige Informationen über Lokalisation, Grad der Mas- während bei multiplen Metastasen im Allgemeinen von der
senverschiebung und Begleitödem, Homogenität oder Inho- Operation abgesehen wird.
11.3 · Diagnostik
301 11
. Abb. 11.3. Schmetterlingsglioblastom.
a Axiales T2-gewichtetes Bild. b T1-gewich-
tetes Bild nach Kontrastmittelapplikation.
c MR-Spektroskopie. Hyperintense Raumfor-
derung, welche sich über den Balken in beide
Frontallappen ausdehnt (a) und ein girlanden-
förmiges peripheres Kontrastmittel-Enhance-
ment aufweist (b). Die MR-Spektroskopie (c)
zeigt eine deutliche Erhöhung des Cholin-
Integrals (Pfeil) bei Erniedrigung des NAA-In-
tegrals (gepunkteter Pfeil) sowie Laktat (*) als
Ausdruck für anaeroben Stoffwechsel

a b

. Abbildung 11.3 stellt typische MRT-Befunde einschließ- den entscheidend. Wenn es Diskrepanzen zwischen MRT-Diag-
lich Spektroskopie bei einem Glioblastom dar, . Abb. 11.4 gibt nose und Histologie gibt, muss nicht selten der histologische
ein Beispiel für die massive KM-Aufnahme bei einem Lym- Befund nach nochmaliger Befundung revidiert werden. Ebenso
phom. Insgesamt lässt sich mit der MRT heute eine hohe Vor- werden Diagnosen wie bei der Gliomatosis cerebri gemeinsam
aussage der Tumorart und -dignität erreichen. gestellt und MRT-Verfahren histopathologisch validiert.

Histologie und MRT


Der Goldstandard für die Diagnose von Hirntumoren ist immer 11.3.2 Hirnbiopsie und Histologie
noch die Gewebeuntersuchung durch den Neuropathologen. In
den vergangenen Jahren wurde zunehmend ein Ersatz der Ge- Die endgültige Artdiagnose eines Tumors wird histologisch
webeprobe durch die MRT und andere Bildmodalitäten an- gestellt. Bei vielen nichtoperablen Tumoren ist vor Bestrahlung
gestrebt. Da aber neben der Bestimmung des Resektionsaus- eine histologische Sicherung der Tumorart erwünscht. Die
maßes durch die MRT für die Prognose auch die molekularer Hirnbiopsie wird offen (zusammen mit einer Tumorverkleine-
Gewebeparameter für die diagnostischen und therapeutischen rung) oder stereotaktisch in lokaler oder allgemeiner Anästhe-
Entscheidungen wichtig sind, ist das Zusammenspiel der Metho- sie durchgeführt.
302 Kapitel 11 · Hirntumoren

. Abb. 11.4. ZNS-Lymphom. a Axiale FLAIR-


Sequenz. b Axiale T1-gewichtete Sequenz
nach Kontrastmittelgabe. Raumforderung im
Genu sorporis callosum mit perifokalem
Ödem und intensiver, homogener Kontrast-
mittelaufnahme (b). Die ventrikelnahe Lokali-
sation sowie homogene Kontrastmittelauf-
nahme ist typisch für Lymphome

a b

Facharzt
Digitale Subtraktionsangiographie
Vor Einführung der Schnittbilddiagnostik (CT und MRT) war Die Angiographie ist heute nur noch in Einzelfällen zur
die Angiographie das wesentliche diagnostische Verfahren Operationsplanung oder prächirurgischen Intervention mittels
bei Verdacht auf Hirntumoren. Heute wird die Diagnose des Embolisierung indiziert (. Abb. 11.6), durch die die anschlie-
Hirntumors meist ohne Angiographie gestellt. Das Angio- ßende neurochirurgische Operation schonender und mit
gramm hat aber noch Bedeutung bei der Klärung der Lage- geringerer Blutsubstitution erfolgen kann.
beziehung zwischen Tumor und arteriellem sowie venösem
Gefäßsystem. Außerdem kann die Art der Gefäßversorgung Nuklearmedizinische Methoden
oder der Nachweis pathologischer Gefäße einen artdiagnos- Das Knochenszintigramm kann bei der Suche nach multiplen
11 tischen Hinweis geben. Die lokale Raumforderung und die Knochenmetastasen helfen. Einen Beitrag zur Differenzierung
Hirnschwellung sind an einer erheblichen Verlagerung der zwischen posttherapeutischen Veränderungen nach Radio-
Gefäße (. Abb. 11.5) und manchmal an der Verlangsamung und Chemotherapie, zur Zielvolumenplanung der Radiothera-
der Durchblutung mit Verspätung der venösen Phase zu pie sowie zur Verlaufskontrolle liefern mit radioaktiven Amino-
erkennen. säuren durchgeführte PET- und SPECT-Untersuchungen.

Wenn eine makroskopisch weitgehend komplette oder


klinisch indizierte teilweise Resektion bildgebend möglich er-
scheint, wird in den meisten Zentren keine vorhergehende
Biopsie durchgeführt. Die diagnostische Sicherheit während
der Operation wird durch das sog. Schnellschnittverfahren, bei
welchem der Neuropathologe während der laufenden Opera-
tion eine Einschätzung zum Befund gibt, erhöht.

11.3.3 Laboruntersuchungen

Liquor
Bevor eine Lumbalpunktion durchgeführt wird, sollte durch die
diagnostisch ohnehin erforderliche MRT eine direkte Einklem-
mungsgefahr ausgeschlossen werden. Diese besteht, wenn es
durch Tumordruck zu einem Hydrozephalus gekommen ist, bei
raumfordernden Läsionen in der hinteren Schädelgrube oder
bei lateralen, gegen das Seitenventrikelsystem drückenden Tu-
moren, die sich dann, nach der Reduzierung des Ventrikelvo-
lumens durch die Liquorpunktion, nach medial in Richtung
Tentoriumschlitz ausdehnen können. Diese bietet sich auch we- . Abb. 11.5. Angiogramm eines hochgradig malignen Hirntu-
gen der postpunktionellen MRT-Veränderungen an. Eine Lum- mors. Anfärbung des Tumorareals, pathologischen Gefäßen, die z.T.
balpunktion bei Tumorverdacht ohne vorhergehende zerebrale seenförmig erweitert sind und früher, venöser Drainage. Die Media-
Bildgebung ist nicht zu verantworten. äste sind nach unten gedrückt
11.4 · Therapieprinzipien
303 11
. Abb. 11.6a,b. Angiographische Dar-
stellung eines Meningeoms vor und
nach Embolisation der Tumorgefäße.
Man erkennt die massive Kontrastmittel-
aufnahme des Meningeoms (a), das über-
wiegend aus einem dilatierten Ast der Ex-
terna (A. meningea media) versorgt wird.
Nach Embolisation (b) der Tumorgefäße ist
das Meningeom angiographisch nicht
mehr kontrastiert. (K. Sartor, Heidelberg)

a b

Die Spiegelung des Augenhintergrunds ist nicht ausrei- 11.4 Therapieprinzipien


chend. Bei vielen Patienten mit großen raumfordernden intra-
kraniellen Läsionen kommt es nicht zur Ausprägung einer Zur Therapie der Hirntumoren stehen neurochirurgische
Stauungspapille. Darüber hinaus sind viele Untersucher auch Operation, Strahlentherapie und Chemotherapie zur Verfü-
zu ungeübt, um am nicht weitgetropften Auge eine Stauungs- gung. Meist werden diese Methoden gleichzeitig oder sequen-
papille diagnostizieren zu können. ziell miteinander kombiniert. Bei den hirneigenen Tumoren
Bei den meisten Hirntumoren ist der Liquor normal. Viele sind nur die WHO-Grad I-Tumore in etwa 85% durch eine
Tumoren führen zu einer unspezifischen Eiweißerhöhung Resektion kurabel. Alle anderen hirneigenen Tumore sind we-
durch Blut-Hirn-Schranken-Störung. Intrathekale Produktion gen des diffusen infiltrativen Wachstums prinzipiell nicht voll-
von Immunglobulinen kommt praktisch nicht vor. Eine Pleo- ständig resezierbar. Bei malignen Tumoren wird, wenn der
zytose ist möglich, aber nicht sehr ausgeprägt. Gesamtzustand des Patienten es erlaubt, eine chirurgische
Der Nachweis von Tumorzellen mit dem Ziel einer Artdi- Resektion der Tumormasse mit anschließender Radio- oder
agnose des primären Hirntumors oder der Metastase kann den Chemotherapie oder ggf. der Kombination beider Verfahren
Patienten speziell bei primären ZNS-Lymphomen oder klein- durchgeführt.
zelligen Bronchialkarzinomen eine Biopsie ersparen. Tumor-
zellen können auch ohne Pleozytose im Liquor nachweisbar
sein. Die Liquorzytologie ist bei Meningeosen und ventrikel- 11.4.1 Operative Therapie
nahen Tumoren – wie Ependymomen oder Pinealomen,
Keimzelltumoren und dem Medulloblastom – von besonderer Grundsätzlich gilt, dass jeder Hirntumor, wenn die Lokalisati-
Bedeutung, wenn aufgrund der bildgebenden Diagnostik noch on des Tumors und die Operationsfähigkeit des Patienten dies
keine sichere Artdiagnose möglich ist (. Abb. 11.7). erlauben, möglichst radikal reseziert werden soll (. Abb. 11.8).
Bei Eingriffen in der dominanten Hemisphäre oder in anderen,
Tumormarker funktionell wichtigen Hirnabschnitten kann aber das zu er-
Nur bei wenigen intrakraniellen Tumoren stehen Tumormar- wartende postoperative neurologische Defizit diese Aussage
ker in Liquor oder Serum zur Diagnostik zur Verfügung. Tu- relativieren.
moren der Pinealisloge können zum Teil über den Nachweis Operationen, die ein voraussehbar größeres neurolo-
von α-Fetoprotein, plazentare alkalische Phosphatase oder β- gisches Defizit implizieren, sind nicht sinnvoll. Eine Tumor-
HCG im Serum und Liquor festgestellt werden. Bei hormon- massenreduktion ist bei klinisch oder bildgebend relevan-
aktiven Hyposentumoren sind die entsprechend erhöhten ten Druckzeichen oder bei der Chance, >80% der sicht-
Hormonspiegel im Serum wichtig. baren Tumormasse ohne vorhersagbares Defizit zu entfernen,
Bei Verdacht auf Metastasen sind die in . Tabelle 11.2 auf- angezeigt (erweiterte, offene Biopsie mit Tumorverkleine-
gelisteten Tumormarker für die Suche nach dem Primärtumor rung).
hilfreich. Ist auch dies nicht möglich, sollte vor einer Strahlen- oder
Chemotherapie in den meisten Fällen versucht werden, über
eine stereotaktische Biopsie eine Artdiagnose zu erzielen. Hie-
rauf kann verzichtet werden, wenn die Liquorzytologie Tu-
304 Kapitel 11 · Hirntumoren

. Tabelle 11.2. Tumormarker für systemische Tumoren, auch mit zerebraler Beteiligung. (Für hirneigene Tumoren liegen keine validierten
Tumormarker vor.)
Marker-Bezeichnung Tumor Referenzbereich
SCC HNO-Tumoren 0–1,5/3 ng/ml
(squamous cell carcinoma antigen) Bronchialkarzinom (Plattenepithel)
Zervixkarzinom (Plattenepithel)
Ösophaguskarzinom
Analkarzinom
NSE (neuronenspezifische Enolase) Bronchialkarzinom (kleinzellig) Serum 0–10 ng/ml
Neuroblastom Liquor 0–20 ng/ml
medulläres Schilddrüsenkarzinom

CE (carcino-embryonic antigen) Kolorektales Karzinom 1,5–5 mg/l


medulläres Schilddrüsenkarzinom
hepatozelluläres Karzinom
HNO-Tumoren
Bronchialkarzinom
Mammakarzinom
Magenkarzinom
Pankreaskarzinom
Ovarialkarzinom
Zervixkarzinom
CA 19–9, GICA (gastrointestinal cancer antigen) Pankreaskarzinom 0–30 U/ml
Leberkarzinom (cholangiozellulär)
Gallenwegskarzinom
Magenkarzinom
kolorektales Karzinom (Zweitmarker nach CEA)
Ovarialkarzinom (Zweitmarker nach CA 125)
11 CA 15–3 (cancer antigen 15–3) Mammakarzinom 0–40 U/ml
CA 125 (cancer antigen 125) Ovarialkarzinom 0–35 U/ml
Pankreaskarzinom (Zweitmarker nach CA 19–9)
Uteruskarzinom
CA 72–4 (cancer antigen 72–4) Magenkarzinom 0–4 U/ml
Ovarialkarzinom (Zweitmarker nach CA 19–9)
CA 549 (cancer antigen 549) Mammakarzinom 0–11 U/ml
AFP (alpha-fetoprotein) Hepatozelluläres Karzinom bis 7 IU/ml
Keimzelltumoren (Hoden, Ovar, extragonadal)
MCA (mucin-like cancer associated antigen) Mammakarzinom 0–15 U/ml
BCM (breast cancer mucin) Mammakarzinom 0–31 U/ml
Beta-hCG (humanes Choriongonadotropin) Keimzelltumoren (Hoden, Ovar, extragonadal) 5 IU/l
PSA (Prostata-spezifisches Antigen) Prostatakarzinom 0–2,5 mg/l
PAP (Prostata-spezifische saure Phosphatase) Prostatakarzinom 1–2,3 mg/l
PP (Pankreatisches Polypeptid) Endokrine Tumoren im Gastrointestinaltrakt bis 150 pmol/l
TG (Thyreoglobulin) Differenziertes Schilddrüsenkarzinom (follikulär/papillär) bis 50 mg/l
hCT (humanes Calcitonin) Medulläres Schilddrüsenkarzinom (C-Zell-Karzinom) > 300 ng/l
TPA (tissue polypeptide antigen) Harnblasenkarzinom bis 60 U/l
Schilddrüsenkarzinom
Pankreaskarzinom
Prostatakarzinom
Hodenkarzinom
β2M (b2-Mikroglobulin) Plasmozytom
Lymphom
SCD 25 Lymphom
PLAP Germinom
CYFRA Plattenepithel-Ca der Lunge
11.4 · Therapieprinzipien
305 11

a b

c d

. Abb. 11.7a–d. Liquorzytozentrifugenpräparate. a May-Grün- leärer Zytoplasmaaufhellung, c May-Grünwald-Giemsa-Färbung.


wald-Giemsa-Färbung. Meningeosis carcinomatosa bei Mammakarzi- Meningeosis bei malignem Melanom. Zahlreiche, polymorphe Tumor-
nom. Fast ausschließlich hyperchromatische, polymorphe Tumorzel- zellen, z.T. mit Pigmentablagerungen. d May-Grünwald-Giemsa-
len mit pseudopodienähnlichen Plasmaausläufern, chromatinreichem Färbung. Meningeale Aussaat bei einem Ependymomrezidiv, Lockerer
Kern und mehreren Mitosen, b May-Grünwald-Giemsa-Färbung. Me- Tumorzellverband, polymorphe Tumorzellen mit bizarren, großen,
ningeosis blastomatosa bei B-Zell-Lymphom. Zahlreiche Lymphoblas- chromatinreichen Kernen. (B. Storch-Hagenlocher, B. Wildemann,
ten mit großen, bizarren Kernen, prominenten Nukleoli und perinuk- Heidelberg)

morzellen nachweist oder wenn bei Metastasen ein Primär- 11.4.2 Strahlentherapie
tumor gefunden wird. Ausnahmen in hochpalliativen Situa-
tionen müssen interdisziplinär von erfahrenen Behandlern Die Strahlentherapie intrakranieller Tumoren erfolgt als exter-
individiuell besprochen werden. ne (perkutane) oder v.a. bei Kindern in ausgewählten Fällen
Postoperativ werden heute praktisch alle Hirntumoren ab auch interstitielle Strahlentherapie. Moderne Bestrahlungsver-
einem WHO-Grad II nachbestrahlt oder mit einer Chemo- fahren ermöglichen einen optimalen Schutz benachbarter, be-
therapie behandelt. Ab dem WHO-Grad III erfolgt dies nach sonders strahlenempfindlicher Risikostrukturen und halten
der Wundheilung, bei WHO-Grad II Tumoren in Abhängig- Strahlenschäden (Ödem, Demyelinisierung, Nekrose) im um-
keit von den Risikofaktoren oft auch erst verzögert bei erneu- gebenden, gesunden Hirngewebe heute sehr niedrig.
tem Wachstum des Tumors oder persistierenden klinischen 4 Externe Strahlentherapie: Hier haben moderne Bestrah-
Zeichen und Symptomen. Dies gilt auch bei vermeintlich kom- lungsverfahren eine differenzierte Therapie intrakranieller Tu-
pletter Resektion. moren ermöglicht. Neben der konventionellen, fraktionierten
Shunt-Operationen (Außenableitung, definitiver Shunt) Bestrahlung des Kopfes (Teil- oder Ganzhirnbestrahlung) und
können lebensrettend sein, wenn ein Tumor durch loka- des Spinalkanals werden lokal begrenzte Bestrahlungen durch-
len Tumordruck zum Hydrocephalus occlusus geführt hat geführt, bei denen die zur Tumorkontrolle erforderliche Strahlen-
(. Abb. 11.9). dosis manchmal in einer einzigen Behandlung appliziert wird.
306 Kapitel 11 · Hirntumoren

a c e

11

b d f

. Abb. 11.8a-f. Prä- und postoperative Befunde bei intrazere- der rechten Kleinhirnhemisphäre mit perifokalem Ödem, d CT am ers-
bralen Tumoren (Die postoperative MRT-Bildgebung muss innerhalb ten Tag postoperativ nach Totalentfernung der Metastase, e MRT
von ≤72 h angefertigt werden, um möglichst wenige schlecht von (T1-Gewichtung mit paramagnetischer Kontrastverstärkung, koronare
vitalem Tumorgewebe abzugrenzende operationsbedingte Verände- Darstellung): rechts frontopräzentraler, im Rand stark kontrastmittel-
rungen zu erfassen.) a MRT (protonengewichtete, axiale Darstellung) aufnehmender, intraaxialer Tumor, histologisch Glioblastoma multi-
eines großen Tentoriummeningeoms, b T1-gewichtete Darstellung forme, mit deutlicher Verlagerung der Mittellinie und Kompression
mit paramagnetischer Kontrastverstärkung, axial. MRT am ersten post- des Seitenventrikels, f MRT (T1-Gewichtung mit paramagnetischer
operativen Tag. Das Meningeom ist weitgehend entfernt, lediglich im Kontrastverstärkung, koronare Darstellung) am ersten postoperativen
Bereich der V. magna Galeni findet sich noch ein kleiner Resttumor, Tag: große Tumorhöhle, keine paramagnetische Kontrastanhebung im
c MRT (T1-gewichtete Darstellung mit paramagnetischer Kontrastver- früheren Tumorbezirk. Makroskopisch komplette Tumorresektion
stärkung): Metastase eines bronchialen Plattenepithelkarzinoms in

4 Stereotaktische Einzeitbestrahlungen (. Abb. 11.10) und Regelfall so gewählt, dass der Seed (z.B. Jod 125) im Tumor
fraktionierte Hochpräzisionsbestrahlungen, durchgeführt mit verbleiben kann. Dennoch sind lokale Strahlenreaktionen re-
Linearbeschleunigern oder auch die Behandlung mit Protonen lativ häufig.
oder Schwerionen werden heute in Studien für verschiedene
Hirntumoren oder bei ausgewählten Krankheitsbildern, wie
z.B. Chordomen oder anderen schädelbasisnahen Tumoren 11.4.3 Chemotherapie
eingesetzt.
4 Interstitielle Strahlentherapie: Hier werden umhüllte Die Chemotherapie wird als Rezidivtherapie nach Versagen
Strahler mit kurzer Halbwertszeit, sog. Seeds, stereotaktisch in von Operation und Strahlentherapie, direkt postoperativ kom-
den Tumor eingebracht. Die Aktivität dieser Strahler wird im biniert als Radiochemotherapie oder als erste postoperative
11.4 · Therapieprinzipien
307 11

a b

. Abb. 11.9a,b. CT mit Ventrikelaufstau. Deutliche Erweiterung bei infratentorieller, raumfordernder Läsion (a). Nach Einlegung einer
der Temporalhörner und des dritten Ventrikels sowie der Vorderhörner Ventrikeldrainage (Pfeil) deutliche Rückbildung des Liquoraufstaus (b)

. Abb. 11.10. Beispiel einer Bestrahlungsplanung für eine stereo- strahlung einer Metastase (eines malignen Melanoms). (M. Wannen-
taktische Einzeitbestrahlung eines hemisphärischen Tumors. Es macher, Heidelberg)
handelt sich um die Berechnung der Dosisverteilung für die Einzeitbe-

Exkurs
Therapieempfindlichkeit bei Hirntumoren
Die Wirksamkeit einer Chemotherapie wie im übrigen auch hängt die Wirksamkeit der Chemotherapie auch von der Li-
die Wirksamkeit der Radiotherapie kann im Einzelfall nicht quorgängigkeit der Zytostatika ab, dem Ausmaß der Blut-Hirn-
vorhergesagt werden. Leider ist es bisher nicht gelungen, Schranken-Störung (bei malignen Tumoren praktisch immer
über eine In-vitro-Testung der Chemosensitivität des Tumor- vorhanden) und der Möglichkeit der Substanz, in das Tumor-
gewebes eine Vorhersage darüber zu machen, ob der Tumor gewebe in ausreichender Konzentration penetrieren zu kön-
auch intravital chemosensitiv sein wird. nen. Hier sind Methoden in der Entwicklung, die die zytosta-
Gerade bei den häufigsten und bislang am schlechtes- tische Aktivität durch eine an Antikörper gebundene Vermitt-
ten zu behandelnden malignen Hirntumoren, den Glioblasto- lung (monoklonale Antikörper, Liposomen) erhöhen sollen.
men, ist in der Vergangenheit der Chemotherapie zu wenig Die Kombination aus einer Radio- und einer Chemotherapie
Interesse gewidmet worden. Nachdem man mit Operation wird heute als sinnvolles Verfahren angesehen. Zum Beispiel
und Bestrahlung geringe, aber seit Jahren nicht mehr ver- wirken die sogenannten Signalweghemmstoffe, wie z.B. Tyro-
besserte Therapieerfolge erzielt hat, wendet man sich auch sinkinsaseinhibitoren, sehr wahrscheinlich bei Hirntumoren
der Chemotherapie der malignen Gliome zu. Neben der erst dann, wenn sie mit einer zytotoxischen Radio- oder Che-
Sensitivität der Tumorzellen auf die verwendete Substanz motherapie verbunden appliziert werden.
308 Kapitel 11 · Hirntumoren

Facharzt
Problematische Behandlungsindikationen
Behandlung von niedriggradigen Hemisphärentumoren. Hochgradig maligne Tumoren bei älteren oder starkbeein-
Nicht alle niedriggradig malignen Tumoren des Großhirns trächtigten Patienten. Auch bei ausgedehnten, bislang
müssen initial behandelt werden. Die gute Spontanprogno- asymptomatischen, hochmalignen Tumoren der Gliomreihe,
se, die bei manchen Patienten jahrzehntelange, beschwerde- besonders den bifrontal gelegenen Schmetterlingsgliomen,
freie Überlebenszeiten unter antikonvulsivem Schutz ermög- die sich über lange Zeit nur mit einer Wesensänderung, dem
licht, wird als Argument gegen eine frühzeitige, aggressive Auftreten von pathologischen Greifreflexen und einer Verlang-
chirurgische oder strahlentherapeutische Behandlung ge- samung bemerkbar machen, steht man bei älteren Patienten
nannt. Diese kann man für den Fall einer Malignisierung oder (>80 Jahre) oder >70 Jahre in einem schlechten Allgemeinzu-
einer Progression des Tumors in Reserve halten. Problema- stand (Karnofsky Performance Index <60%) vor der Frage:
tisch ist, dass bisher zumindest eine frühzeitige postopera- Therapieversuch oder nicht?
tive Radiotherapie zwar die Zeit bis zur ersten Progression, Die Patienten fühlen sich oft wohl, haben kein Krankheits-
nicht aber die Gesamtlebenszeit der Patienten positiv beein- gefühl und wirken in keiner Weise gequält. Ob man dann, bei
flusst hat. Manche Behandler plädieren allerdings für eine der bekannt schlechten Prognose (Überlebenszeit maximal
frühzeitige Operation, besonders wenn der Tumor noch gut 6 Monate) den Patienten noch eine maximale Therapie mit
demarkiert ist. Biopsie, Bestrahlung, ggf. Chemotherapie (und entsprechend
Anders ist es aber, wenn eine primär infiltrierend wach- langem Krankenhausaufenthalt) zumuten soll, muss man
sende Geschwulst (wie beim Astrozytom Grad II des Erwach- ebenfalls genau abwägen. Wir entscheiden uns in diesen
senenalters) vorliegt. Es kann also keine generelle Therapie- Fällen in Absprache mit den mit der Familie, den Neurochi-
empfehlung gegeben werden. Die Entscheidung muss indi- rurgen und den Radioonkologen oft gegen die spezifische
viduell für den einzelnen Patienten – und mit ihm und seiner Therapie und behandeln antikonvulsiv, wenn Anfälle, und
Familie – getroffen werden. antiödematös, wenn Kopfschmerzen auftreten.

Behandlung vor der Strahlentherapie eingesetzt. Die Bedeu- makologische Barriere. Diese Substanzpumpen, die auch auf
11 tung der Chemotherapie in der Behandlung oligodendroglialer Tumorzellen exprimiert werden, verhindern die intrazel-
Tumoren ist unbestritten. Zudem zeichnet sich Konsensus luläre Anreicherung verschiedener, nicht strukturverwand-
auch über die Wirkung von Chemotherapie in der Behandlung ter Medikamente, wie z.B. Vincristin, Doxorubicin oder Teni-
von Medulloblastomen, Germinomen und astrozytären Glio- posid.
men (einschließlich Glioblastom) ab. Chemotherapeutika werden einzeln oder kombiniert ver-
Die Effektivität der Chemotherapie hängt von den im Tu- abreicht. Rationalen für die Kombinationschemotherapie sind
mor erreichbaren Medikamentenspiegeln und vom Ausmaß Synergieerwartungen oder differenzielle Empfindlichkeit ver-
der Resistenz der Tumorzellen gegenüber dem Wirkstoff ab. schiedener Subklone des Tumors gegenüber einzelnen Subs-
Kritische Parameter bei systemischer Applikation sind vor tanzen. Proliferierende Zellen werden wegen der geringen pro-
allem liferativen Aktivität des gesunden Gehirns als spezifisches Ziel
4 die kapilläre Perfusion des Tumors einschließlich des inter- der Hirntumortherapie angesehen. Diese Modellvorstellungen
stitiellen Drucks, werden durch die selbst in Glioblastomen nicht über 20-40%
4 das Vorhandensein arteriovenöser Kurzschlüsse bzw. pa- und oft weit darunter liegende Proliferationsrate und die
thologischer ineffizienter Gefäße und Schwierigkeiten, relevante Medikamentenspiegel im Tumor-
4 die Strecke, die eine Substanz aus dem Gefäß bis zur Tu- bett zu erreichen, eingeschränkt. Konsequenterweise werden
morzelle durch Diffusion oder bulk flow zurücklegen muss. verstärkt Substanzen getestet, die unabhängig vom Zellzyklus
wirken und im Gegensatz zu höherdosierten Pulstherapien, die
Chemotherapie und Bluthirnschranke vor allem für chemosensible Entitäten wie die primären ZNS-
Morphologisches Korrelat der Bluthirnschranke sind tight Lymphome sinnvoll sind, über längere Zeit oral eingenommen
junctions zwischen den Kapillarendothelien des normalen Ge- werden.
hirns. Die Epithelzellen des Plexus choroideus bilden eine ähn- In den letzten Jahren werden für die Angiogenese oder
liche Schranke zwischen Blut und Liquor in den Ventrikeln. Invasivität bedeutsame deregulierte Pfadwege bei malignen
Lipophile Medikamente können besser als hydrophile, polare Gliomen mit spezifischen inhibitorischen Molekülen zunächst
Substanzen in die zerebralen extrazellulären Räume eindrin- im Rezidiv, zunehmend aber auch in der Primärtherapie adres-
gen und im Gehirn diffundieren. Daher ist die Funktion der siert. Eine besondere und aktuell intensiv diskutierte Rolle
Blut-Hirn-Schranke im oder in der Nähe des Tumors für die kommt hierbei dem monoklonalen Antikörper gegen den
Sensitivität des Tumors gegenüber der Chemotherapie wichtig. vacular endothelial growth factor (VEGF), Bevacizumab, zu,
Zusätzlich zu ihrer mechanischen Schrankenfunktion bildet der ebenso wie Inhibitoren der VEGF-Rezeptoren (VEGFR),
die Blut-Hirn-Schranke durch die endotheliale Expression wie z.B. Cediranib, durch ungewöhnlich hohe Ansprechraten,
von Substanzpumpen wie dem P-Glykoprotein oder dem einen weiteren Entwicklungsschritt in der Therapie maligner
multidrug resistance-assoziierten Protein, MRP-1, eine phar- Gliome einleiten könnte.
11.4 · Therapieprinzipien
309 11
Facharzt
Sensitivität von Tumorzellen
Zell- und molekularbiologische Faktoren bestimmen eben- Radio- oder Chemotherapie.
falls die Sensitivität von Tumorzellen gegenüber zytotoxi- 4 Der erste Erfolg bei der Etablierung molekularer Prädikto-
schen Stimuli. ren des Ansprechens auf Strahlentherapie und Chemotherapie
4 Der Verlust von p53-Aktivität, die gesteigerte Aktivität wurde mit den prognostisch günstigen Verlusten chromoso-
des Rezeptors für den epidermalen Wachstumsfaktor (EGFR) malen Materials auf den Armen 1p und 19q bei oligodendro-
oder die gesteigerte Expression von antiapoptotischen glialen Tumoren erzielt.
Proteinen der BCL-2-Familie oder der inhibitor-of-apoptosis- 4 Auch der Verlust der Expression des DNA-Reparaturen-
Proteine (IAP) sind zumindest experimentell für Resistenz zyms O-6-Methyl-Guanin-DNA-Methyltransferase (MGMT)
gegenüber Strahlentherapie oder Chemotherapie relevant. aufgrund einer Methylierung der Promoterregion des MGMT-
4 Andererseits ist z.B. die immunhistochemisch an Opera- Gens ist prognostisch relevant und scheint zudem das Anspre-
tionsmaterial bestimmte Expression von p53 oder Proteinen chen von Gliomen auf alkylierende Substanzen wie Nitroso-
der BCL-2-Familie nicht prädiktiv für das Ansprechen auf harnstoffe und Temozolomid vorherzusagen.

Die prä-strahlentherapeutische Chemotherapie oder der gangen werden. Die meisten Erfahrungen liegen für die in
Einsatz der Chemotherapie postoperativ und der Radiothera- Deutschland selten eingesetzten BCNU-Polymere in die Re-
pie erst im Rezidiv sind wegen mutmaßlich höherer Medika- sektionshöhle vor.
mentenspiegel bei noch nicht durch die Strahlentherapie ge- Mit Verbesserung der antibiotischen und hämatologischen
störtem Gefäßsystem und besserer Verträglichkeit attraktiv. Begleittherapie bei Chemotherapien werden neurologische
Diese Strategie ist bei primären ZNS-Lymphomen, oligo- Nebenwirkungen nicht nur bei hirneignenen Tumoren zuneh-
dendroglialen Tumoren und vermutlich allen anaplastischen mend limitierend.
Gliomen erfolgreich. Sie hat sich bei Medulloblastomen und
Keimzelltumoren bisher nicht bewährt.
11.4.4 Hirndrucktherapie
Arten der Chemotherapie
3Hochdosis-Chemotherapien mit autologer Stammzelltrans- Die Prinzipien der Hirndrucktherapie, die in 7 Kapitel 5 detail-
plantation sind bei malignen Hirntumoren des Erwachsenenal- liert besprochen wurden, gelten auch hier. Da es sich um ein
ters weiterhin experimentell und ohne definierte Indikation. vasogenes Ödem handelt, sind allerdings Steroide hochwirk-
sam.
3Die Chemotherapie mit Öffnung der Blut-Hirn-Schranke
ist ein weiterer Ansatz zur Verbesserung der Pharmakaspiegel Steroide
in malignen Hirntumoren. Ein klinischer Nutzen für diesen 3Beim vasogenen Ödem kann Dexamethason eine schnel-
therapeutischen Ansatz ist bislang nicht gesichert. le Ödemausschwemmung bewirken. Steroide stabilisieren
die Blut-Hirn-Schranke und vermindern hierdurch weitere
3Die intraarterielle Chemotherapie, vorwiegend mit BCNU Ödementstehung.
und Cisplatin, erwies sich als neuro- und okulotoxisch. Durch
die intraarterielle Lage der Applikationskatheter kommt es zu 3Dosierung: Initial bei akuten Beschwerden 40–100 mg
thromboembolischen Ereignissen. Der wichtigste Einwand ge- Dexamethason i.v., dann wegen der langen Halbwertzeit in
genüber der intraarteriellen Chemotherapie ergibt sich aus der 2 oder max. 3 Dosen pro Tag absteigend 6–8 mg, dazu Antazi-
Tatsache, dass das Wachstum von Hirntumoren nicht auf ein da oder Protonenpumpenhemmer.
arterielles Versorgungsgebiet beschränkt ist und der unmittel-
bare Effekt der bislang verwendeten Chemotherapeutika im 3Die weitere Dosierung erfolgt nach dem Grundsatz »so-
ZNS zu gering ist, um einen Vorteil gegenüber der intravenösen viel wie nötig und so wenig wie möglich«. Sehr rasches Abset-
Applikation zu erreichen. zen ist ebenso zu vermeiden wie langes unkritisches Behan-
deln. Probleme sind auch nach einer Behandlung über wenige
3Die intrathekale Chemotherapie ist bei soliden Hirntu- Tage (Elektrolytstörungen, Diabetes, Gewichtszunahme) oder
moren ineffektiv. Ihr Stellenwert liegt in der Behandlung sub- einige Wochen (opportunistische Infektionen, Osteoporose,
arachnoidaler Absiedlungen hirneigener oder metastatischer Hautveränderungen) vorhanden.
Hirntumoren. Sie wird meist mit Methotrexat, Thiotepa oder Unter Dexamethason tritt sehr schnell eine deutliche Bes-
Cytarabin durchgeführt. In Studien wird das für die Meninge- serung der Vigilanz, ein Rückgang der Kopfschmerzen und eine
osis lymphomatosa zugelassene liposomale Cytarabin auch bei Besserung der neurologischen Herdsymptome ein. Während
der Meningeosis carcinomatosa untersucht. der Bestrahlung wird die niedrig dosierte Dexamethason-Be-
handlung (4–8 m/Tag), wenn erforderlich beibehalten. Bei in-
3Durch lokale (interstitielle) Chemotherapie soll syste- operablen Tumoren des Hirnstamms und Kleinhirns kann zur
mische Toxizität unter Erhöhung der lokalen Wirkspiegel um- Behandlung des Hirndrucks eine Shuntoperation erfolgen.
310 Kapitel 11 · Hirntumoren

11.5 Astrozytäre Tumoren (Gliome) fen- und Scheitellappen. Sie kommen aber auch im Thalamus,
Mittelhirn und in der Brücke vor. Das Astrozytom Grad II
Astrozytäre Tumoren werden, wie auch die Oligodendrogli- wächst sehr langsam kontinuierlich mit etwa 4 mm pro Jahr
ome, die Ependymome und Plexustumoren, von neuroepithe- und überschreitet selten große Sulci. Bei den Verlaufskontrollen
lialen Strukturen gebildet. ist es daher wichtig nicht nur die jeweils unmittelbar benach-
barten Untersuchungen zu vergleichen, sondern das neueste
MRT mit dem Ausgangsbefund. Perifokale Ödembildung ist
11.5.1 Pilozytische Astrozytome (WHO-Grad I) selten. Astrozytome können gut abgegrenzt und homogen,
aber auch infiltrierend, mit zystischen Anteilen wachsen. Die
Dies sind langsam wachsende, gut abgegrenzte Tumoren ganz Astrozytome der Großhirnhemisphären wachsen oft diffus
überwiegend des Kindes- und Jugendalters, die hauptsächlich infiltrierend und können bis in die Basalganglien reichen. Blu-
in Strukturen der Mittellinie, im Kleinhirn, Hirnstamm, Tha- tungen kommen praktisch nicht vor. Verkalkungen sind sel-
lamus und im Sehnerven vorkommen. Obwohl sie patholo- tener als beim Oligodendrogliom.
gisch-anatomisch gutartig sind, können sie bei operativ unzu-
gänglicher Lage klinisch bösartig sein. Sie bestehen oft aus 3Symptomatik und Verlauf. Epileptische Anfälle können
einem soliden und einem zystischen Anteil. den neurologischen Herdsymptomen jahrelang vorangehen.
In einem sehr hohen Prozentsatz tritt im Verlauf eine Maligni-
ä Der Fall sierung des Tumors auf.
Ein inzwischen 23 Jahre alter Student leidet seit 5 Jahren unter
komplex-partiellen (psychomotorischen) Anfällen mit Amnesie, 3Diagnostik. Bildgebende Methode der Wahl ist die MRT.
Nesteln, Schmatzen und Depersonalisierungsgefühl. Generalisier- Im MRT erscheinen Astrozytome als überwiegend in der
te Anfälle sind in dieser Zeit zweimal aufgetreten, die psychomo- weißen Substanz lokalisierte Läsionen mit mäßigem raum-
torischen Anfälle sind mit Carbamazepin relativ gut eingestellt. fordernden Effekt. Sie sind im T1-gewichteten Bild leicht hypo-
Im EEG findet sich immer ein rechts-temporobasaler Verlangsa- intens (. Abb. 11.11) und im T2-Bild deutlich hyperintens und
mungsfokus, hin und wieder auch interiktale Spitzenaktivität. Ein in ihrer Struktur homogen. Bei infiltrativem Wachstum fehlt
Computertomogramm, das vor vier Jahren angefertigt wurde, oft ein raumfordernder Effekt, Kontrastmittelaufnahme ist,
war als normal befundet worden. Die neurologische Untersu- wenn überhaupt, nur in etwa 20% der Fälle schwach erkenn-
11 chung war immer regelrecht. Da der Patient immer noch 1- bis bar.
2-mal pro Monat psychomotorische Anfälle hatte, wurde jetzt
ein MRT durchgeführt. Das Kernspintomogramm zeigte den in 3Therapie und Prognose
. Abbildung 11.11 wiedergegebenen Befund. 4 Kleinere Tumoren können, zumal bei frontaler Lokalisati-
on, radikal entfernt werden. Die Gefäßarmut der Geschwülste
begünstigt die Operation. Bei neuroradiologischem Verdacht
11.5.2 Astrozytom (WHO-Grad II) auf ein diffuses Wachstum wird eine Biopsie durchgeführt.
Maxime des neurochirurgischen Eingriffs ist die Vermeidung
3Epidemiologie und Lokalisation. Astrozytome sind Tu- fokal neurologischer Defizite, auch zugunsten der Radikalität.
moren des mittleren Lebensalters. Sie finden sich in erster Li- 4 Hinsichtlich der postoperativen Strahlentherapie haben
nie in der Konvexität des Stirnhirns, etwas seltener im Schlä- Studien gezeigt, dass eine Bestrahlung zwar die lokale Tu-

a b c

. Abb. 11.11a–c. Astrozytom. T1-Sequenz ohne (a) und mit (b) und Kortexband. Keine Kontrastmittelaufnahme. Im T2-Bild (c) aus-
Kontrastmittel zeigen eine nicht homogene Hypointensität im rechten gedehnte Hyperintensität dieses Bereiches als Ausdruck eines vaso-
Temporallappen mit leicht raumfordernder Wirkung auf Inselrinde genen Ödems
11.5 · Astrozytäre Tumoren (Gliome)
311 11
morkontrolle verbessert, jedoch keinen Vorteil hinsicht- gesehen wird, sollte die Strahlentherapie oder, angesichts
lich des Fünf- und Zehnjahresüberlebens bietet. Daher der Seltenheit des Tumors, die Therapie innerhalb von kont-
wird zumindest bei asymptomatischen und jüngeren (<40 rollierten Studien erfolgen, da dann davon auszugehen ist,
Jahre) Patienten zunehmend ein abwartendes Verhalten favo- dass es zur malignen Entartung eines Teils des Tumors gekom-
risiert. men ist.
4 Kernspintomographische Verlaufskontrollen sollten alle 4 Bei klinischer Verschlechterung oder einer Änderung der
3–6 Monate erfolgen. Wenn beim Kontroll-MRT ein Rezidiv Kontrastmittelaufnahme kann eine erneute neurochirurgische

Facharzt
Andere Astrozytome
Pilozytisches Astrozytom des Kleinhirns 3Symptomatik und Verlauf. Die neurologischen Befunde
Dieser Tumor hat seine größte Häufigkeit zwischen dem sind oft nur spärlich, da die Tumoren das Nervengewebe lange
7. und 17. Lebensjahr. Er geht in der Regel vom Kleinhirn- Zeit intakt lassen. Da sie erst sehr spät zu Hirndruck führen,
wurm aus, wölbt sich aber oft mit großen Zysten in eine kann ihre Abgrenzung gegen eine Enzephalitis ohne MRT
Kleinhirnhemisphäre vor. Später kann der Tumor nach rostral schwierig sein. Wie auch bei allen anderen Tumoren im Gehirn
wachsen und zur Einklemmung des Mittelhirns im Tentori- ist eine MRT-Abklärung in jedem Fall anzustreben. Der Wert
umschlitz führen. von zusätzlicher metabolischer Bildgebung (PET) wird zur Zeit
in Studien entwickelt. Im Verlauf können sich, offenbar durch
3Symptomatik und Verlauf. Neurologische Symptome wechselnde Beeinträchtigung benachbarter Hirnanteile,
treten oft erst auf, wenn die Geschwulst schon eine beträcht- schubartige Verschlechterungen mit Remissionen abwechseln.
liche Größe erreicht hat und vorübergehende Einklemmungs-
erscheinungen verursacht. Die Patienten klagen über 3Spezielle Diagnostik und Neuroradiologie. Kleine
Schmerzen im Nacken, Hinterkopf und in der Stirn. Zere- Tumoren des Hirnstamms sind oft nur mit der MRT darstellbar.
brales Erbrechen ist häufig, da der Tumor auf die Medulla
oblongata drückt. Der Kopf wird häufig zur Seite des Tumors 3Therapie und Prognose. Die Tumoren werden mit mikro-
geneigt, wobei das Kinn etwas zur Gegenseite angehoben chirurgischen Methoden operiert. Eine komplette Entfernung
ist. Beim Gehen und Stehen tritt Fallneigung und Abweichen ist meist nicht möglich, Resttumorwachstum und Rezidive sind
zur Herdseite auf. Nystagmus und zerebelläre Ataxie fehlen daher die Regel. Die Tumoren sind nicht strahlensensibel. Die
fast nie. Der Nystagmus wird bei Blickwendung zur Seite des Prognose ist daher auf lange Sicht infaust.
Tumors langsamer und grober.
Optikusgliom (pilozytisches Astrozytom des N. opticus)
3Spezielle Diagnostik und Neuroradiologie. In der 3Symptomatik und Verlauf. Das sog. Optikusgliom geht
MRT zeigen diese Tumoren meist verminderte Dichte, zysti- vom Sehnerven oder vom Chiasma aus. Die Geschwulst führt
sche Anteile sowie Kontrastmittelanreicherung des soliden zu Kopfschmerzen und durch Behinderung des Blutabflusses
Tumorteils. aus dem Auge zum Exophthalmus. Gewöhnlich tritt primär
eine Optikusatrophie mit Visusverfall ein. Der Tumor kann über
3Therapie und Prognose. Die Tumoren sind meist gut das Chiasma auf den anderen Sehnerven übergreifen. Sitzt er
operabel. Nach dem Eingriff bessern sich die Symptome primär in der Sehnervenkreuzung, wächst er sofort in beide
rasch, und die Koordinationsstörungen werden kompensiert. Nn. optici ein. Dann sind doppelseitige Sehstörungen mit
Rezidive sind bei radikaler Entfernung nicht zu befürchten. hypothalamischen Symptomen kombiniert.
Die Heilungsraten liegen mit alleiniger Operation bei über
80%. Eine Zweitoperation ist möglich. Strahlentherapie oder 3Spezielle Diagnostik und Neuroradiologie. Der Tumor
Chemotherapie sind selten indiziert. stellt sich in der MRT mit Anschwellung des N. opticus und
deutlicher Kontrastmittelaufnahme gut dar (. Abb. 11.12).
Pilozytische Astrozytome der Basalganglien,
des Thalamus und des Hirnstamms 3Therapie und Prognose. Je nach Sitz und Ausdehnung
Dies sind die häufigsten Tumoren der Mittellinienregion. Sie ist eine orbitale oder intrakranielle Operation möglich, bei der
kommen, wie auch die unten besprochenen Optikusgliome, allerdings oft ein Auge geopfert werden muss. Bei etwa 1/3
gelegentlich bei der Neurofibromatose Typ 1 (NF1, 7 Kap. 35) der Patienten liegt eine Neurofibromatose I vor. Die Operation
vor. Bei den NF1-assoziierten pilozytischen Astrozytomen wird vor allem durchgeführt, um die Infiltration des Chiasma
scheinen zusätzliche Veränderungen des heterozygoten opticum und damit eine Sehstörung auf dem anderen Auge zu
NF1-Gens mit einer Astrozytenproliferation und Malignisie- verhindern. Eine Bestrahlung kann diskutiert werden, wenn-
rung des Tumors einherzugehen. gleich berücksichtigt werden muss, dass der N. opticus beson-
ders strahlenempfindlich ist. Bei Ausdehnung des Tumors in
die Hypophyse kann es zu endokrinologischen Störungen
kommen. Bilaterale Tumoren sind inoperabel.
312 Kapitel 11 · Hirntumoren

11.5.3 Ponsgliome

Ponsgliome bei Erwachsenen sind meist Astrozytome WHO-


Grad II oder III. Durch Infiltration in den unteren Hirnstamm
und durch Druck auf den IV. Ventrikel sowie den Aquädukt
werden sie symptomatisch und können zu lebensbedrohlichen
Hirndruckkrisen führen (. Abb. 11.13). Aufgrund ihrer Lage
sind Ponsgliome meist inoperabel, interstitielle Bestrahlung
oder stereotaktische Bestrahlung können versucht werden.
Ponsgliome des Kindes- und Jugendalters sind zumeist pilo-
zytische Astrozytome Grad I. Hier kann aufgrund des verdrän-
genden Wachstums dieser Tumoren und der relativ guten Ab-
grenzbarkeit eine Operation versucht werden. Bei Verschluss-
hydrozephalus wird ein Shunt angelegt.
> Astrozytome Grad II sind formal gutartige, aber un-
heilbare Tumoren der Großhirnhemisphären, meist
. Abb. 11.12. Opticusgliom. Axiale T1-gewichtete Sequenz nach frontal oder temporal gelegen. Diese Tumore zeich-
Kontrastmittelgabe. Massive Auftreibung im Verlauf der Sehbahn nen sich meist durch ausgeprägt infiltratives Wachs-
(Tractus opticus, Chiasma) mit homogener Kontrastmittelaufnahme tum aus. Die erste Therapie der Wahl ist die weitge-
bei einem Optikusgliom hende operative Resektion unter Vermeidung neuro-
logischer Defizite.

Intervention geprüft werden. Heute wird im Anschluss daran


die externe stereotaktische Konvergenzbestrahlung bevor-
zugt. 11.5.4 Anaplastisches Astrozytom
4 Die Chemotherapie hat bei Astrozytomen WHO II außer- (WHO-Grad III)
halb von kontrollierten Studien erst beim Rezidiv nach Strah-
11 lentherapie Bedeutung. Wir kennen jahrzehntelange Verläufe, Diese histologisch malignen Tumoren wachsen fast immer in-
bei denen keine weiteren Symptome außer den Anfällen einge- filtrierend und können multilokulär auftreten. Sie wachsen
treten sind. sehr rasch, sind gefäßreich, neigen zu Einblutungen und sind
von einem erheblichen Begleitödem umgeben. Erkrankungs-
ä Der Fall: Die Fortsetzung alter und Lokalisation sind dem Astrozytom Grad II vergleich-
Bei dem Patienten liegt ein links-temporofrontal gelegener, im bar, das nicht selten im Rezidiv anaplastisch wird.
T1-Bild hypointenser, im T2-Bild hyperintenser, leicht kontrastmit-
telaufnehmender Tumor vor, der nach Lage und MRT-Kriterien für 3Symptome und Verlauf. Anaplastische Astrozytome sind
ein Astrozytom Grad II–III gehalten wurde. Dieser Befund bestä- durch ein rascheres Auftreten von Hirndruck und gehäufte
tigte sich in der Operation, bei der es gelang, den Tumor makros- Anfälle gekennzeichnet. In der MRT findet man deutlich kont-
kopisch zu entfernen. Auf den Folge-MRTs bislang kein Tumor- rastmittelaufnehmende Tumoranteile, Zysten und ein ausge-
rezidiv. prägtes Ödem.

a b c

. Abb. 11.13. Ponsgliom. Ausgedehnte Raumforderung in Brücke, rung ist im Flair-Bild (a) hyperintens und in T1 (b) hypointens mit mar-
Hirnstamm und infiltrierend auch in der rechten Kleinhirnhemisphäre. ginaler, leichter KM-Aufnahme. Die sagittale Flair-Darstellung (c) zeigt
Massiver komprimierender Effekt auf den 4. Ventrikel. Die Raumforde- die große kraniokaudale Ausdehnung
11.5 · Astrozytäre Tumoren (Gliome)
313 11
Facharzt
Gliomatosis cerebri
3Lokalisation und Histologie. Die Gliomatose zeigt eine 3Symptomatik. Aufgrund des infiltrativen Wachstums sind
diffuse, manchmal symmetrische Einbeziehung beider He- die raumfordernden Effekte wie auch die klinischen Symp-
misphären mit Basalganglien und Mittellinienstrukturen in tome im Vergleich zur Ausdehnung des infiltrativ wachsenden
einen multilokulären Prozess. Histologisch findet man astro- Tumors oft erstaunlich gering. Allgemeinsymptome wie An-
zytäre Tumoranteile Grad II bis IV. Für die Diagnose einer triebsmangel, Konzentrationsverlust und Gedächtnisstörun-
Gliomatose ist diffuses Wachstum neoplastischer Astrozyten gen, epileptische Anfälle und gering ausgeprägte, fokale
in mehr als zwei Gehirnlappen Voraussetzung. neurologische Symptome können gefunden werden.

3Diagnostik. Das gesamte Ausmaß der Tumorinfiltration 3Therapie. Therapie der Wahl ist aktuell die Gabe von
ist nur im MRT festzustellen. Nur Teile der Gliomatose rei- Temozolomid. Eine neurochirurgische Tumorverkleinerung
chern Kontrastmittel an. Hier findet man dann in der Biopsie kommt aufgrund des diffusen Wachstums nicht in Frage. Die
auch histologische Veränderungen, die einem Grad III ent- Resultate der Strahlentherapie sind bei dem seltenen Krank-
sprechen. Das CT bleibt bei den häufig isodensen Tumor- heitsbild nicht überzeugend. Die Überlebenszeit beträgt im
anteilen ohne Kontrastmittelaufnahme unsicher. Der raum- Schnitt 1 Jahr.
fordernde Effekt ist oft sehr gering.

3Therapie und Prognose gische, elongierte und funktionseingeschränkte Gefäße mit


4 Standardtherapie ist die Tumorresektion oder -biopsie mit arteriovenösen Anastomosen. Diese Vaskularisierung führt zu
nachfolgender Strahlentherapie der erweiterten Tumorregion dem Phänomen von Gefäßreichtum und paralleler Perfusions-
(54–60 Gy in 1,8–2 Gy-Fraktionen). Inzwischen ist durch die störung, einem Widerspruch, der Basis für die modernen an-
NOA-4 Studie auch die primäre Chemotherapie mit Temozo- tiangiogenen/gefäßnormalisierenden Therapiekonzepte ist.
lomid als wirksam nachgewiesen. Die Glioblastome neigen zu Blutungen. Frühzeitig entwickelt
4 Aufgrund ihres infiltrierenden Wachstums ist eine kom- sich ein peritumoröses Ödem, das oft zu einer Schwellung der
plette Resektion der Tumoren praktisch nicht möglich. Rezi- ganzen Hemisphäre führt.
dive treten nahezu immer auf.
4 Bei Patienten mit günstigen prognostischen Faktoren (i.e. 3Symptomatik und Verlauf. Charakteristisch sind das frühe
junges Alter und hoher Karnofsky-Index, histologischer Nach- Einsetzen von Kopfschmerzen und globale Hirndruckzeichen
weis eines oligodendroglialen Tumoranteils) ist eine adjuvante mit Übelkeit bei etwa 60% der Patienten. Die übrigen werden
Chemotherapie nach dem PCV-Schema (7 Kap. 11.6.2) eine durch Anfälle (20–25%) und fokale neurologische Defizite (als
therapeutische Option. Folge von lokalem Hirndruck, Ödem und Gewebedestruktion)
4 Die Rezidivtherapie richtet sich nach der primären post- symptomatisch. Insultartige Verschlechterungen (apoplekti-
operativen Therapie. Sie besteht daher entweder aus eine sches Gliom) sind nicht selten.
Radio- oder einer Chemotherapie. Auch für diese Tumoren gilt
wegen ihrer Seltenheit und der limitierten Prognose das Primat 3Diagnostik
der Studienbehandlung. 4 Die CCT wird nur noch wegen ihrer Rolle als Akut-
diagnostikum und der Vollständigkeit halber erwähnt. Im CT
zeichnen sich Glioblastome durch eine unterschiedliche Dich-
11.5.5 Glioblastom (WHO-Grad IV) te, unscharfe Tumorbegrenzung sowie ein großes, begleitendes
Marklagerödem aus. Nach Kontrastmittelgabe kommt es zu
3Epidemiologie und Lokalisation. Das Glioblastom macht einer inhomogenen Anreicherung, vor allem in der Tumor-
ca. 25% aller hirneigenen Tumoren aus. Die malignen Glio- randzone, bei kleinen Tumoren als sog. Ringstruktur, bei
blastome sind die häufigsten Gliome. Sie treten bevorzugt nach größeren als Girlandenformation sichtbar. Vorteile sind die
dem 50. Lebensjahr auf. Männer sind fast doppelt so häufig Darstellung knöcherner Strukturen zur Erleichterung der
betroffen wie Frauen. Glioblastome wachsen vornehmlich in Operationsplanung und die rasche Datenerhebung für die Un-
den Großhirnhemisphären. Sie gehen vermutlich von neuro- tersuchung unruhiger, nicht kooperationsfähiger Patienten.
nalen oder glialen Stammzellen aus. Die Tumoren wachsen Die MRT ist danach immer erforderlich.
infiltrierend, meist subkortikal, können aber auch die Rinde 4 Im MRT sieht man ausgedehnte Tumorinfiltrationen, zum
ergreifen. Sie finden sich in allen Hirnlappen, aber auch im Teil über den Balken hinweg. Solide Tumoranteile reichern
Balken, von dessen Knie aus sie sich als Schmetterlingsgliome stark Kontrastmittel an, Zysten, Blutungsreste und ein ausge-
beiderseits in das frontale Marklager ausbreiten. Manchmal dehntes, fingerförmiges Ödem im T2-Bild machen das MRT-
wachsen sie entlang des Fornix, im Thalamus, selten im mitt- Muster der Glioblastome relativ typisch (. Abb. 11.14). Den-
leren Hirnstamm. noch ist die Abgrenzung von einer großen, nekrotischen Hirn-
Das rasche Wachstum der Glioblastome fördert den nekro- metastase schwierig. Auch Abszesse (in der MRT diffusions-
tischen Zerfall des Gewebes. Außerdem finden sich patholo- eingeschränkte Nekrosehöhle) und primäre ZNS-Lymphome
314 Kapitel 11 · Hirntumoren

. Abb. 11.14. Glioblastom: Ballongliom mit


unregelmäßiger Kontrastmittelaufnahme (a),
deutlich raumfordernder Effekt durch Tumor
und Ödem (b)

a b

(in der MRT ebenfalls scheinbar diffusionseingeschränkt, aber 4 Die Standardtherapie für Patienten bis zum 65. Lebensjahr
nur ganz selten nekrotisch) sind weitere wichtige Differen- besteht aus einer kombinierten Radiochemotherapie mit Te-
tialdiagnosen. mozolomid über 6 Wochen und einer Erhaltungstherapie mit
4 Die Angiographie lässt in 60–70% eine Kontrastmittelan- Temozolomid über weitere 6 Monate. Diese Therapie ist einer
reicherung mit pathologischen Gefäßen erkennen. Die aus alleinigen Radiotherapie in der mittleren Überlebenszeit, aber
dem Tumor ableitenden Venen stellen sich schon während der auch hinsichtlich der Chance sog. Langzeitüberlebens (>3 bzw.
arteriellen oder kapillaren Phase dar (»frühe Venen«). Die ze- >5 Jahre) deutlich überlegen.
rebrale Angiographie verliert für neuroonkologische Fragestel-
lungen zunehmend an Bedeutung. Sie dient vorwiegend der 3Prognose
11 Operationsplanung und der möglichen präoperativen Embo- Die mittlere Überlebenszeit bei Glioblastompatienten des
lisierung tumorversorgender Gefäße. Grads IV (Glioblastom) liegt, in Abhängigkeit von den genann-
4 Die Positronenemissionstomographie (PET), insbeson- ten prognostischen Faktoren, zwischen 6 und 20 Monaten. In
dere unter Einsatz von Aminosäure-Tracern, z.B. Methionin der EORTC-Studie zur begleitenden und erhaltenden Chemo-
oder Fluorethyltyrosin (FET), wird zur Identifizierung von therapie mit Temozolomid zusätzlich zur Strahlentherapie des
Arealen hoher metabolischer Aktivität für die Auswahl des Glioblastoms wurdet eine geringe Erhöhung der medianen
Biopsieortes, für die Verlaufsbeurteilung metabolischer Akti- Überlebenszeit von 12,1 auf 14,6 Monate und der 2-Jahresüber-
vität, die Differenzierung zwischen Tumorrezidiv und Strah- lebensrate von 10% auf 26% gezeigt. Diese Studie markiert aus
lennekrose und die Festlegung des Zielvolumens für die Strah- drei Gründen einen Wendepunkt in der modernen Neuroon-
lentherapie eingesetzt. kologie:
4 Bei Verdacht auf einen höhergradigen hirneigenen Tumor 4 Erstmals seit 30 Jahren wurde wieder ein signifikanter und
gehört die Liquorpunktion zum Ausschluss eines Abszesses, relevanter Fortschritt in der Behandlung dieser Patienten er-
zum Ausschluss einer Meningeosis gliomatosa und wegen der reicht.
(geringen) Möglichkeit, die Diagnose aus dem Liquor zu stel- 4 Ein molekularer Parameter zur Identifizierung profitie-
len, zur präoperativen Diagnostik dazu. render Patienten (MGMT) wurde etabliert und
4 erstmals konnte Langzeitüberleben einer relevanten An-
3Therapie zahl von Patienten (10% >5 Jahre) gezeigt werden.
4 Eine kurative Operation des Tumors ist nicht möglich. An-
gestrebt wird eine makroskopisch vollständige Resektion unter Die interstitielle Chemotherapie mit BCNU zusätzlich zur
Erhalt der neurologischen Funktion. Die postoperative MRT Strahlentherapie zeigte dagegen einen geringen Zugewinn an
(≤72 h) dient als Ausgangsbefund. Nur in dieser frühen Auf- medianer Überlebenszeit von 11,6 auf 13,9 Monate und beein-
nahme kann relativ sicher zwischen operativen Veränderungen flusst das mediane progressionsfreie Überleben nicht. Diese
und Resttumor differenziert werden. Mit Ausnahme von aus- Therapie hat sich daher trotz Zulassung im klinischen Alltag
gewählten Studien bei älteren Patienten wird postoperativ im- nicht durchgesetzt.
mer zumindest eine Radiotherapie angeschlossen.
4 Als wesentliche prognostische Faktoren gelten: Lebensal- > Glioblastome sind die häufigsten malignen Hirntumo-
ter, Ausmaß der klinischen Beeinträchtigung zu Beginn der ren des Erwachsenenalters. Mit subtotaler Resektion,
Therapie und der MGMT-Status (s. Facharzt-Box S. 309). Un- Bestrahlung, Zytostase und Kortikoiden kann man das
ter Bestrahlung und antiödematöser Therapie kann zunächst Leben der Kranken um einige Monate verlängern.
eine klinisch eindrucksvolle Besserung eintreten. Rezidive sind
aber unvermeidlich.
11.6 · Oligodendrogliale Tumoren
315 11
ä Der Fall 3Epidemiologie und Lokalisation. Oligoastrozytome ver-
Eine 68jährige Hochschuldozentin sucht wegen seit wenigen halten sich prognostisch wie Oligodendrogliome. Sie sind
Wochen bestehender Antriebs-, Konzentrations- und Gedächt- klonalen Ursprungs, d.h. aus einer transformierten Vorläufer-
nisstörungen und fremdanamnestisch berichteter Wesens- zelle entstehen zwei morphologisch distinkte Tumorzellpopu-
änderung ihren Hausarzt auf, der sie zur neurologischen Ab- lationen. Die große Mehrzahl der oligodendroglialen Tumoren
klärung in die Ambulanz überweist. Die MRT vom Aufnahme- ist supratentoriell lokalisiert. Mehr als 50% entstehen in den
tag zeigt einen großen bifrontalen, zentral nekrotischen Frontallappen, 20% wachsen bifrontal infiltrierend unter Ein-
und intensiv KM-affinen Tumor (Schmetterlingsgliom). beziehung des Marklagers. Auch Basalganglien und Corpus
Eine stereotaktisch geführte Biopsie erbrachte die Diagnose callosum sind häufig betroffen. Die häufigste klinische Mani-
eines Glioblastoms. Die Patientin wurde im Rahmen einer Studie festation sind Krampfanfälle. Ungefähr 90% der Oligodendro-
mit Temozolomid im Wochenwechsel behandelt und zeigte gliome zeigen Verkalkungen.
eine langsame, aber kontinuierliche Verbesserung der neuro- Die Überlebensraten für oligodendrogliale Tumoren sind
kognitiven Funktionen. In der MRT 8 Wochen nach Beginn der deutlich besser als für Astrozytome. Da einige Oligodendro-
Therapie zeigte sich eine eindrucksvolle partielle Remission der gliome auch ohne Therapie über Jahre nicht wachsen und da
KM-affinen und der T2- bzw. FLAIR-Veränderungen. Neuro- die histologischen Diagnosekriterien von Studie zu Studie
logische Herdsymptome bestanden ebenso wenig wie bei der variierten, müssen insbesondere retrospektiv erhobene Daten
Aufnahme. mit Vorsicht interpretiert werden. Prädiktoren für einen güns-
In den nächsten Monaten lebt die Patientin sehr selbststän- tigeren Krankheitsverlauf sind wie bei den Astrozytomen ge-
dig und neurologisch bis auf eine leichte und nachvollziehbare ringeres Alter, frontale Lokalisation, makroskopische Kom-
Stimmungsstörung vollständig intakt. plettresektion, hoher Karnofsky-Index und Fehlen von Kon-
10 Monate nach der Diagnosestellung kommt es zu einem trastmittelaufnahme in der Bildgebung.
ausgeprägten Rezidiv, das durch eine deutliche Verstärkung
der depressiven Symptomatik und neue Antriebsstörungen 3Symptomatik und Verlauf. Häufig sind fokale oder ge-
symptomatisch wird. Die Patientin wird daraufhin radiothera- neralisierte Anfälle das erste Symptom, was sich aus dem
piert. diffusen Einwachsen in die Hirnrinde erklärt. Später ent-
wickeln sich langsam die neurologischen Herdsymptome, die
der Lokalisation entsprechen. Tumoreinblutungen können
akute Verschlechterungen bedingen. Hirndruck tritt erst spät
11.6 Oligodendrogliale Tumoren ein.

11.6.1 Oligodendrogliome (WHO-Grad II) 3Spezielle Diagnostik und Neuroradiologie. Das CCT
und Mischgliome (Oligoastrozytome, zeigt kleinere Verkalkungen von Oligodendrogliomen.
WHO-Grad II-III) Im MRT sind die Tumoren im T1-Bild meist hypointens,
im T2-Bild hyperintens. Ihre Morphologie ist sehr uneinheit-
Oligodendrogliome und Oligoastrozytome (WHO-Grad II) lich, mit Zysten, Verkalkungen und solideren Tumoranteilen
sowie ihre anaplastischen Varianten (WHO-Grad III) werden (. Abb. 11.15). Die Dichte des Tumors zeigt wenig Abweichung
wegen des gleichartigen Vorgehens bei Diagnostik und Thera- von der des normalen Hirngewebes. Kontrastmittel wird in der
pie gemeinsam betrachtet. Regel erst bei höherem Malignitätsgrad aufgenommen. Zys-

a b c

. Abb. 11.15a–c. Oligodendrogliom. Links temporales Oligo- in T2- (a) und T1-Sequenzen (b) sowie fleckiger Kontrastaufnahme
dendrogliom mit hyperintensen und hypointensen Signalen im MRT (c, Pfeil)
316 Kapitel 11 · Hirntumoren

tische Tumoranteile kommen vor. Immer wieder findet man neurotoxischen Wirkung und fehlenden Bluthirnschranken-
frische Einblutungen. gängigkeit bei Gliomen nicht mehr empfohlen).
Man gibt: CCNU 110 mg/m2 KO oral am Tag 1 und Pro-
3Therapie und Prognose carbazin 60 mg/m2 KO täglich oral Tag 8 bis 21,
4 Auch Oligodendrogliome werden so vollständig wie mög- 4 Dieser Zyklus wird alle 8 Wochen 6 bis 8-mal wiederholt.
lich operiert. Die Lokalisation des Tumors setzt einem chirur- Ondansetron (Zofran®) wird als Antiemetikum gegeben.
gischen Eingriff oft, zumal bei Sitz in der dominanten Hemis- 4 In der RTOG- und auch der EORTC-Studie zeigte sich im
phäre, enge Grenzen. Vergleich zu alleiniger Strahlentherapie anaplastischer oligo-
4 Der Zeitpunkt und die Wahl der postoperativen Therapie dendroglialer Tumore eine Verlängerung der progressionsfreien
erfolgt risikoadaptiert und sollte innerhalb von Studien geprüft Überlebenszeit, nicht jedoch der Gesamtüberlebenszeit, wenn
werden. die PCV-Chemotherapie der Strahlentherapie direkt vorge-
4 Therapeutisch wird wie bei den Astrozytomen vorgegan- schaltet oder anschließend gegeben wird (sequentielle Chemo-
gen. Oligodendrogliome sprechen auf Strahlen- und Chemo- therapie).
therapie besser an als rein astrozytäre Tumoren. 4 Aktuell wird untersucht, ob eine kombinierte Radio-
4 Als Chemotherapie kommen Procarbazin und CCNU chemotherapie mit Temozolomid wie bei den Glioblastomen
(PC) in Frage. Wegen des günstigeren Nebenwirkungsprofils auch bei anaplastischen Gliomen erfolgreich ist.
fällt die Entscheidung jedoch häufig für Temozolomid. Aktuell
leben nach 5 Jahren noch >70% der Patienten mit Grad II und
>40% der Patienten mit Grad III oligodendroglialen Tu- 11.7 Ependymale Tumoren:
moren. Ependymome (WHO-Grad II)
> Oligodendrogliome sind histologisch gutartige, aber
3Epidemiologie und Lokalisation. Ependymome sind die
schlecht abgegrenzte Hemisphärentumoren, die
häufigsten Großhirngeschwulste des Kindes- und Jugendal-
nach operativer Behandlung zu Rezidiven neigen.
ters. Sie kommen auch bei Erwachsenen vor, sind dann aber
Beim Rezidiv von Grad II-Tumoren ist eine Chemothe-
weit mehr in der hinteren Schädelgrube und im Spinalkanal
rapie sinnvoll. Grad III-Tumore werden unmittelbar
lokalisiert. Ependymome wachsen langsam, entweder in die
postoperativ nach Abschluss der Wundheilung weiter
Ventrikel ein oder verdrängen von der Ventrikelwand aus das
11 radio- oder chemotherapiert.
benachbarte Hirngewebe. Sie sitzen bevorzugt im IV. Ventrikel
(. Abb. 11.16). An Häufigkeit folgen die Seitenventrikel vor
dem III. Ventrikel. Ein Hydrocephalus occlusus ist häufig.
11.6.2 Anaplastische Oligodendrogliome Histologisch sind sie semimaligne. Die Oberfläche der Tu-
(WHO Grad III) moren ist blumenkohlartig, was die Gefahr mit sich bringt,
dass bei der Operation Zotten abreißen und sich Abtropf-Me-
Beim anaplastischen Oligodendrogliom sind die histologischen
Kriterien der Malignität erfüllt. Es wächst infiltrierend und
kann multilokulär auftreten. Die mediane Lebenserwartung
nach Diagnosestellung beträgt 2–10 Jahre. Molekulare Verän-
derungen wie Verlust der Chromosomenabschnitte 19q und
1p im Tumorgewebe, die Methylierung von MGMT sowie die
Mutation der Isozitratdehydrogenase sind prognostisch rele-
vant.

3Diagnostik. Das Bild der Oligodendrogliome ist gekenn-


zeichnet durch hyperdense und hypodense Anteile im CT
(Kalk), variable Befunde mit hyperintensen und hypointensen
Signalen im MRT und eine fleckige Kontrastaufnahme in CT
und MRT (. Abb. 11.15)

3Therapie. Nach der Operation besteht die Indikation zu


einer weiteren Therapie. Diese besteht gemäß Leitlinien aus
einer Radio- oder Chemotherapie.
4 Wegen der besseren Verträglichkeit wird meist Temozolo-
mid 150 mg/m2 im 1. Zyklus und 200 mg/m2 ab dem 2.–8 (12.)
Zyklus an 5/28 Tagen eingesetzt. Als Antiemese werden 5HT3-
Antagonisten (Cave: Obstipationsgefahr!) oder Metoclopra-
mid eingesetzt.
4 Alternativ kommt das PC-Schema in Frage (Vincristin, das . Abb. 11.16. Ependymom des IV. Ventrikels. Starker Hydroce-
früher Teil des »PCV«-Schemas war, wird heute wegen der phalus occlusus. MRT mit Kontrastmittel in sagittaler Schichtführung
11.7 · Ependymale Tumoren: Ependymome (WHO-Grad II)
317 11
tastasen bilden. Im Innern der Ependymome finden sich häu- lich. Im MRT lassen sich die Beziehungen zum Hirnstamm
fig Zysten. Verkalkungen kommen besonders bei Sitz im Sei- und spinale Absiedlungen gut nachweisen.
tenventrikel vor. Anaplastische Ependymome sind aggressiver
und entsprechen einem WHO-Grad III. Sie wachsen destruie- Tumorzellen im Liquor sprechen für eine metastatische Ab-
rend und neigen zu Rezidiven. siedlung.

3Symptomatik und Verlauf. Lokalsymptome nach Lage des 3Therapie und Prognose
Tumors, Entsprechend der Primärlokalisation ist ein Hydroze- 4 Häufig muss wegen des Hydrozephalus zunächst ein Shunt
phalus mit Hirndruckzeichen häufig. Spinale Absiedlung kann gelegt werden.
Querschnittsymptome verursachen. 4 Totale Resektion ist nicht immer möglich, aber von hoher
prognostischer Bedeutung.
3Spezielle Diagnostik und Neuroradiologie 4 Es ist strittig, ob nach chirurgisch vollständiger Entfer-
4 Im MRT erkennt man die Tumoren nahe am Seitenventri- nung eines Ependymoms sofort eine Strahlenbehandlung
kel, oft intraventrikulär als zystische, kontrastmittelaufneh- durchgeführt werden soll. Dies richtet sich nach dem histo-
mende Läsion, die iso- oder hypointens in T1- und hyperintens logischen Befund und der Lage des Tumors (supra- oder
im T2-Bild ist. Nekrosen (niedriges Signal im T1) sind mög- infratentoriell, spinal/lumbal). Bei inkomplett resezierten

Leitlinien Diagnostik und Therapie Maligne Hirntumoren*


Allgemein 4 Oligoastrozytome des WHO-Grads II werden analog zu
4 Früherkennung und Prävention besitzen bei Gliomen den Strategien bei Oligodendrogliomen des WHO-Grads II
keinen relevanten Stellenwert (B). behandelt (C).
4 Diagnostische Methode der Wahl bei Verdacht auf ein 4 Sollte bei oligodendroglialen Tumoren des WHO-Grads II
Gliom ist die MRT ohne und mit Kontrastmittel (A). eine über operative Maßnahmen hinausgehende Therapie
4 Vor allem bei der ersten MRT- oder CT-Verlaufskontrolle indiziert sein, so sind Chemotherapie (am ehesten PC-Schema
nach der Strahlentherapie muss bei Vergrößerung der Raum- oder Temozolomid) und Strahlentherapie vermutlich als ähn-
forderung eine Pseudoprogression differenzialdiagnostisch lich wirksam einzuschätzen (C).
in Betracht gezogen werden (B).
4 Nur in sehr seltenen Ausnahmen sollte auf die histolo- Grad III-Tumoren
gische Diagnosesicherung verzichtet werden (A). 4 Standardtherapie des anaplastischen Astrozytoms sind
4 Histologische Diagnosen sollten sich an der aktuellen Resektion oder Biopsie, gefolgt von der Strahlentherapie der
WHO-Klassifikation orientieren (A). erweiterten Tumorregion (A).
4 Molekulare Marker sollten außerhalb klinischer Studien 4 Chemotherapie ist beim anaplastischen Astrozytom wirk-
(noch) nicht zur Entscheidung über Strahlen- und Chemo- sam, aber der optimale Zeitpunkt der Chemotherapie ist unge-
therapie herangezogen werden (B). wiss (Primärtherapie oder Rezidivtherapie) (B).
4 Die Vermeidung neuer permanenter neurologischer 4 Anaplastische Oligoastrozytome des WHO-Grads III wer-
Defizite hat bei der Operationsplanung Vorrang gegenüber den analog zu den Strategien bei anaplastischen Oligodendro-
der operativen Radikalität (B). gliomen des WHO-Grads III behandelt (C).
4 Standardtherapie der anaplastischen oligodendroglialen
Grad II-Tumoren Tumoren bleibt die alleinige Strahlentherapie, wenngleich die
4 Bioptisch/operativ gesicherte diffuse Astrozytome primäre Chemotherapie, am ehesten nach dem PC-Schema
(WHO-Grad II), die klinisch bis auf zerebralorganische Anfälle oder mit Temozolomid, vermutlich ähnlich wirksam ist. Die
asymptomatisch sind, können insbesondere bei jüngeren primäre Kombination von Strahlentherapie und Chemothera-
Patienten < 40 Jahre beobachtet werden (C). pie ist nicht indiziert (C).
4 Klinisch symptomatische, radiologisch zirkumskripte
WHO-Grad II-Astrozytome an operativ gut zugänglicher Glioblastom
Stelle sollten mikrochirurgisch reseziert werden (C). 4 Standardtherapie des Glioblastoms sind Resektion (wenn
4 Klinisch symptomatische oder progrediente WHO-Grad II- möglich) oder Biopsie, gefolgt von der Strahlentherapie der
Astrozytome werden bestrahlt, wenn chirurgische Optionen erweiterten Tumorregion und der begleitenden sowie erhal-
mit einem hohen Risiko neurologischer Morbidität verbunden tenden (adjuvanten) Chemotherapie mit Temozolomid mit
sind (B). 6 Zyklen (A).
4 Im Rezidiv eines WHO-Grad II-Astrozytoms sollte die 4 Im Rezidiv sollte auf individueller Basis die Indikation zu
Reoperation erwogen und in der Regel (falls noch nicht Reoperation, Chemotherapie oder erneuter Strahlentherapie
erfolgt) die Strahlentherapie angeschlossen werden (B). geprüft werden (B).
4 Im Rezidiv eines WHO-Grad II-Astrozytoms nach Strah-
lentherapie soll auf individueller Basis die Indikation zur * gekürzt nach den Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/
Chemotherapie geprüft werden (B). leitlinien.html)
318 Kapitel 11 · Hirntumoren

Facharzt
Plexustumoren
Plexuspapillome (WHO-Grad I) Glandula pinealis ausgehen. Das gutartige Pinealom (WHO-
3Epidemiologie und Lokalisation. Die Plexuspapillome Grad II) tritt überwiegend bei Erwachsenen auf. Das hoch-
treten bei Kindern im Seitenventrikel, bei Erwachsenen maligne Pineoblastom ist ein Tumor des Kindes- und Ju-
häufiger im 4. Ventrikel auf. Makroskopisch haben sie eine gendalters. Es wird aufgrund seiner histologischen Charak-
zottige Struktur, mikroskopisch zeigen sie einen regelmä- teristika auch den primitiv neuroektodermalen Tumoren
ßigen, papillären Aufbau wie der Plexus chorioideus. Verkal- zugeordnet. Die Tumoren können Mittelhirn und Aquädukt
kungen sind nicht selten. Die sehr langsam wachsenden komprimieren und zum Hydrozephalus führen. Nach rostral
Papillome sind histologisch gutartig. Auch ohne Verlegung können sie in den III. Ventrikel, nach kaudal bis unter das
der Liquorpassage kann es zu einem exsudativen Hydroze- Tentorium vordringen. Die Tumoren verkalken häufig. Abriss-
phalus vom hypersekretorischen Typ (7 Kap. 35) kommen. metastasen, sog. ektopische Pinealome, sind nicht selten.
Die Metastasierung geht bevorzugt ins Infundibulum des
3Symptomatik und Verlauf. Bei Sitz in den Seitenventri- III. Ventrikels und macht sich klinisch zuerst als Diabetes insi-
keln bleiben die Tumoren oft jahrelang klinisch stumm. Bei pidus bemerkbar.
Sitz im III. oder IV. Ventrikel kommt es vor allem zum inter-
mittierenden Hydrocephalus occlusus, der durch plötzliche 3Symptomatik und Verlauf. Durch Druck auf das Mittel-
Kopfbewegungen ausgelöst werden kann. Anfallsweise tre- hirndach entwickelt sich über ein Zwischenstadium mit verti-
ten sehr starke Stirn- und Hinterkopfschmerzen auf, die bis zu kalem, blickparetischen Nystagmus eine vertikale Blickparese.
den Schultern ausstrahlen und oft von Erbrechen, Atemstö- Selten, aber von großer lokalisatorischer Bedeutung ist der
rungen, Kreislaufkollaps und Urinabgang begleitet sind. Nystagmus retractorius. Jenseits des Aquädukts wird das
Tumoren auf dem Boden des IV. Ventrikels führen auch Kerngebiet des N. oculomotorius geschädigt: Dies zeigt sich
zu Lähmungen der kaudalen Hirnnerven, Myoklonien und durch Ptose, Konvergenzparese und paralytische Mydriasis.
zerebellärer Ataxie. Stauungspapillen entwickeln sich erst Doppelseitige, partielle Okulomotoriusparese ist im jüngeren
relativ spät. und im mittleren Alter auf ein Pinealom, im höheren Alter auf
Die Verdachtsdiagnose ergibt sich aus den intermittie- eine Metastase im Mittelhirn verdächtig.
11 renden Einklemmungssymptomen. Sie ist sehr schwierig, Charakteristisch ist das Parinaud-Syndrom (7 Kap. 1.3.2).
wenn ein Tumor des IV. Ventrikels sich nur durch Erbrechen Bei weiterem Wachstum kommt es zu Hirnstammsymptomen,
äußert. Man darf sich dann nicht mit der Annahme einer vor allem zu doppelseitigen Pyramidenbahnzeichen. Gelegent-
psychogenen Störung zufrieden geben, sondern muss durch lich treten Pubertas praecox, Hypogenitalismus oder Mager-
eine MRT diagnostische Klarheit schaffen. sucht durch Stauungsdruck des Liquors am Boden des III. Vent-
rikels und damit Störungen des hypothalamisch-hypophysä-
3Spezielle Diagnostik und Neuroradiologie. Im Liquor ren Systems auf. Psychisch sind die Patienten zunächst reizbar,
findet sich oft eine starke Eiweißvermehrung. In der MRT später, mit zunehmendem Hirndruck, gleichgültig und im
sind Plexuspapillome bereits an ihrer intraventrikulären Lage Antrieb vermindert. Die Behinderung des Liquorabflusses im
und dem räumlichen Zusammenhang mit dem physiolo- Aquädukt führt frühzeitig zu Kopfschmerzen und Stauungs-
gischen Plexussystem zu erkennen. Häufig sind verkalkte papillen.
Anteile nachweisbar, und es kommt zur Kontrastmittelauf-
nahme. In der Regel zeigt sich zusätzlich eine hydrozephale 3Spezielle Diagnostik und Neuroradiologie. Pinealome
Erweiterung des gesamten Ventrikelsystems. sind in der MRT als scharf begrenzte, typisch lokalisierte, hy-
perintense Bezirke zu erkennen, die gelegentlich verkalkt sind.
3Therapie und Prognose. Die Tumoren können meist Sie reichern Kontrastmittel an und sind entsprechend ihrer
durch einen okzipitalen Zugang in toto entfernt werden, die Lokalisation von den bildmorphologischen Zeichen eines
Prognose ist dann gut. Hydrocephalus occlusus begleitet. Pineoblastome stellen sich
im MRT sehr variabel dar. Sie haben solide Tumoranteile, die
Plexuskarzinome im T1-Bild hyperintens sind und die deutlich Gadolinium auf-
Die seltenen Plexuskarzinome sind den WHO-Graden III und nehmen, sowie Zysten und nekrotische Anteile (. Abb. 11.17).
IV zuzuordnen. Sie haben trotz Strahlenbehandlung eine
schlechte Prognose. 3Therapie und Prognose. Eine Radikaloperation ist oft
nicht möglich. Die Behandlung ist dann kombiniert: Shunt-
Pinealome und Pineoblastome Operation zur Beseitigung des Hirndrucks und Bestrahlung der
3Lokalisation. In der Pinealisloge kommen neben den gesamten Neuroachse.
Keimzelltumoren (s.u.) vor allem Tumoren vor, die von der
11.8 · Primitiv neuroektodermale Tumoren
319 11
. Abb. 11.17. MRT eines Pinealistumors.
T1-gewichtete Aufnahme nativ. Der hintere
Teil des dritten Ventrikels ist durch den
Tumor verlegt, die Seitenventrikel erwei-
tert, und an den Vorderhörnern lässt sich
transependymal abgepresstes Wasser im
Hirnparenchym erkennen. In der Pinealis-
region zeigt sich eine stark hyperintense,
etwas nach rechts ausladende, raumfor-
dernde Struktur, die von einem leichten
Ödem begleitet ist. (K. Sartor, Heidelberg)

Tumoren und bei Ependymomrezidiven (unabhängig vom zifischer Altersbindung lassen sich molekulargenetisch diffe-
Malignitätsgrad) erfolgt eine Bestrahlung. renzieren.
4 Bei Ependymomrezidiven erfolgt eine Bestrahlung von
Gehirn und Rückenmark oder eine Bestrahlung der Tumor- 3Symptomatik und Verlauf. Unbehandelt ist die Krank-
region mit Sicherheitssaum. heitsdauer nur kurz. Die Kinder erbrechen und bekommen
eine Rumpfataxie mit Fallneigung nach hinten, die sie durch
Insgesamt ist die Prognose bei Patienten mit Ependymom, in Abstützen mit den Händen und vorsichtiges, breitbeiniges Ste-
Abhängigkeit vom histologischen Befund, relativ günstig. Die hen und Gehen auszugleichen versuchen. Oft halten sie den
5-Jahresüberlebenszeit liegt bei über 50%. Nach einer Shunt- Kopf in einer leicht nach vorn geneigten Zwangshaltung.
Operation besteht das Risiko einer systemischen Metastasie- Die Behinderung der Liquorpassage führt beiderseits zu
rung. Stauungspapillen bis zu 6 oder 7 Dioptrien, die nicht selten erst
dann bemerkt werden, wenn sie in Atrophie übergehen und
der Visus verfällt. Da sich der kindliche Schädel in diesem Alter
11.8 Primitiv neuroektodermale noch erweitern kann, treten die Symptome des allgemeinen
Tumoren Hirndrucks erst relativ spät auf. Wenn hartnäckige Kopf-
schmerzen einsetzen, hat die Geschwulst meist schon eine
Unter diesem Begriff wird eine Gruppe hochmaligner, wenig große Ausdehnung erreicht. Medulloblastome können außer-
differenzierter, embryonaler Tumoren, darunter Medulloblas- halb des ZNS metastasieren.
tome und Pineoblastome (s.o.) zusammengefasst.
3Diagnostik.
Medulloblastome MRT: Medulloblastome sind im T1-Bild hypointens, im T2-
3Epidemiologie und Lokalisation. Medulloblastome sind Bild hyperintens, meist gut vom Kleinhirn abzugrenzen.
rasch wachsende, undifferenzierte (WHO-Grad IV) Ge- Hirnstamminfiltration und Zystenbildung ist auf sagittalen
schwülste des Kindes- und Jugendalters. Das Erkrankungsalter und koronaren Darstellungen gut erkennbar. Deutliche Kon-
hat sein Maximum zwischen dem 7. und 12. Lebensjahr. trastmittelaufnahme ist typisch (. Abb. 11.18). Mit dem MRT
Knaben sind 2- bis 3-mal so häufig betroffen wie Mädchen. lassen sich kleine Tochterabsiedlungen feststellen.
Etwa 1/4 der Medulloblastome tritt im jungen Erwachsenen- 4 Pathologische Liquorzytologie spricht für eine spinale
alter auf. Metastasierung. Die Diagnostik kann durch Vertebralisangio-
Die Tumoren sitzen hauptsächlich im Kleinhirnwurm. graphie ergänzt werden.
Nach unten wachsend, füllen sie den IV. Ventrikel zunehmend
aus und drücken auf die Medulla oblongata. Nach oben drän- 3Therapie und Prognose
gen sie den Kleinhirnwurm zusammen und pressen seinen 4 Der Tumor wird so radikal wie möglich operiert.
vorderen Anteil gegen das Tentorium. Medulloblastome im 4 Die Medulloblastome sind sehr strahlenempfindlich. Des-
(jungen) Erwachsenenalter zeigen häufiger ein Lokalisation in halb ist eine hochdosierte Strahlentherapie (40 Gy) mit lokaler
den Kleinhirnhemisphären und werden daher oft später und Aufsättigung über der hinteren Schädelgrube und dem Spinal-
durch eine Extremitätenataxie oder Schwindel symptomatisch. kanal angezeigt. Moderne Protokolle für Kinder, aber auch
Verschiedene Medulloblastomvarianten und Tumore mit spe- Studien für Erwachsene, sehen eine zusätzliche begleitende
320 Kapitel 11 · Hirntumoren

. Abb. 11.18. Medulloblastom der hin-


teren Schädelgrube. Axiale (a) und sagit-
tale (b) T1-Kontrastmittelgabe zeigt einen
partiell zystischen, partiell solide kontrast-
mittelaufnehmenden Tumor in der linken
Kleinhirnhemisphäre mit Kompression des
4. Ventrikels. Auf den sagittalen Bildern ist
die Raumforderung auf den Hirnstamm so-
wie die Kaudalverlagerung der Kleinhirn-
tonsillen sehr gut zu erkennen (b)

a b

(v.a. Vincristin) und auch erhaltende (postradiotherapeuti- 11.9 Mesenchymale Tumoren


sche) Chemotherapie (v.a. mit Alkylantien und Platinderiva-
ten) vor. 11.9.1 Meningeome
4 Bei Rezidiven wird eine Reoperation und eine Chemothe-
rapie mit CCNU, Vincristin und Cisplatin empfohlen. 3Epidemiologie und Lokalisation. Meningeome machen
etwa 15–20% aller intrakraniellen Tumoren aus. Frauen sind
Trotz der hohen histologischen Malignität haben Medulloblas- mehr als doppelt so häufig betroffen wie Männer. Etwa 2% der
tom-Patienten noch eine relativ günstige Prognose, obwohl Patienten haben multiple Meningeome.
Rezidive nicht selten sind. Fünfjahresheilungsraten liegen bei Alle Meningeome können lokal infiltrierend wachsen und
etwa 50%, und auch nach 10 Jahren ist noch etwa ein Drittel selten, mit dem WHO-Grad korrelierend, vor allem in Kno-
der Patienten rezidivfrei. chen, Lunge und Leber metastasieren. Obwohl die Metastasie-
11 rungswahrscheinlichkeit für anaplastische Meningeome am
> Medulloblastome sind maligne Tumoren, die bei
höchsten ist, gibt es Fallberichte über postoperativ metastasier-
Kindern vom Kleinhirnwurm ausgehen und in den
te WHO-Grad I-Tumoren.
Liquorraum metastasieren können. Operation und
Meningeome sind meist gut abgegrenzte Tumoren, die
anschließende Bestrahlung des gesamten ZNS führen
vom arachnoidalen Deckendothel der Pacchioni-Granulatio-
zu einer relativ günstigen Prognose. Medulloblasto-
nen ausgehen. Sie machen sich erst im mittleren und fortge-
me bei (jungen) Erwachsenen sind äußerst selten,
schrittenen Lebensalter bemerkbar (Häufigkeitsgipfel um
häufiger lateral lokalisiert und aggressiver.
50 Jahre). Meningeome wachsen meist gegen das Gehirn ver-
drängend, dagegen infiltrieren sie regelmäßig die Dura und
ä Der Fall zum Teil auch den Knochen, mit denen sie bei der Operation
Ein 8-jähriger Schüler wird wegen häufiger Kopfschmerzen, oft fest verbacken sind. Im Knochen der Schädelkalotte oder
morgendlichen Erbrechens und Sehstörung zum Hausarzt -basis rufen sie gelegentlich umschriebene Destruktionen oder
geschickt. Dieser verweist die Familie zunächst an einen Augen- reaktive Hyperostosen, auch in Form der sog. Spiculae, hervor.
arzt, der in Atrophie übergehende, hochgradige Stauungs- Sie werden vorwiegend von Ästen der A. carotis externa ver-
papillen feststellt. Ein Nervenarzt, der den ophthalmologischen sorgt.
Befund nicht kennt (und keine Augenspiegelung vornimmt) Ihr Wachstum ist äußerst langsam, so dass sich auch bei
interpretiert Kopfschmerzen und morgendliches Erbrechen als großer Ausdehnung des Tumors erst sehr spät Hirndruck ein-
Ausdruck einer Verhaltensstörung. Der Hausarzt, alarmiert durch stellt. Manche Meningeome werden mit ganz geringer Symp-
den augenärztlichen Befund, veranlasst eine MRT, in der eine tomatik überlebt oder finden sich als Zufallsbefund bei einer
raumfordernde Läsion des Kleinhirns mit erheblichem Hydro- aus anderen Gründen durchgeführten CT oder bei der Obduk-
zephalus festgestellt wird. Er weist den Patienten in die Neuro- tion. Nicht selten sind die Meningeome fleckförmig oder diffus
chirurgie ein. verkalkt. Fast immer sind sie sehr gefäßreich.
Der Patient wird sofort mit einer Liquoraußenableitung
versorgt und zwei Tage später operiert. Das histologische Präpa- 3Symptome. Für alle Meningeome ist das Auftreten einer
rat bestätigt die Verdachtsdiagnose eines Medulloblastoms. Trotz Spätepilepsie und die langsame Entwicklung von neurolo-
makroskopisch vollständiger Resektion wird eine Nachbestrah- gischen Herdsymptomen charakteristisch (7 Exkurs, S. 323).
lung von Gehirn und Rückenmark veranlasst. Der Junge ist jetzt
15 Jahre alt und noch immer rezidivfrei. 3Diagnostik
4 MRT: Meningeome sind auf T1-gewichteten Darstellun-
gen meist hirnisointens und können auch in T2-Sequenzen
isointens sein, häufiger aber leicht hyperintens. Ödeme sind
11.9 · Mesenchymale Tumoren
321 11
Facharzt
Keimzelltumoren: Germinome und Teratome
3Einteilung und Dignität. Germinome und Teratome mittel an. Differentialdiagnostisch muss auch die Metastasie-
sind die häufigsten Keimzelltumoren. Seltene, andere Tumo- rung eines Seminoms, das histologisch ähnlich sein kann,
ren sind das embryonales Karzinom, der Dottersacktumor ausgeschlossen werden.
und das Chorionkarzinom. Keimzelltumoren sitzen in der Mit dem Alpha-Fetoprotein (erhöht bei Dottersacktumor
Epiphysenregion oder im Infundibulum des Hypothalamus und embryonalem Karzinom), Beta-HCG (erhöht beim Chorion-
und dehnen sich von der Vierhügelregion, seltener auch vom karzinom) und Plazentare alkalische Phosphatase (PLAP, er-
Infundibulum der Hypophyse, paraventrikulär unter dem höht beim Germinom) stehen Tumormarker zur Verfügung. Im
Ependym aus, gelegentlich auch in den III. Ventrikel hinein. Gegensatz zu anderen ZNS-Tumoren kann die Diagnose bei
Es sind seltene, semi- bis hochmaligne Tumoren des Kindes- Keimzelltumoren oft durch Serum- und Liquoruntersuchungen
und Jugendalters. Die ätiologische Zuordnung erfolgt prak- gesichert werden. Eine histologische Bestätigung der Diagno-
tisch immer histologisch. se ist daher bei charakteristischen bildgebenden und serolo-
gischen Befunden nicht immer notwendig.
3Symptomatik und Verlauf. Die Patienten sind zunächst
reizbar, später, mit zunehmendem Hirndruck, gleichgültig 3Therapie und Prognose. Die Therapie ist kombiniert
und im Antrieb vermindert. Die Behinderung des Liquorab- chirurgisch/strahlentherapeutisch. Eine Radikaloperation ist
flusses im Aquädukt führt frühzeitig zu Kopfschmerzen und oft nicht möglich. Bei Germinomen wird – bei positivem Tu-
Stauungspapillen, die bald in Atrophie übergehen. Hypo- mormarkernachweis – eine Chemotherapie der Operation und
thalamische Symptome (Diabetes insipidus und Pubertas der Strahlentherapie mit gutem Erfolg vorangestellt. Germino-
praecox) können durch Druck (III. Ventrikel) oder durch loka- me sind hochgradig strahlensensibel (ZNS-Bestrahlung mit
les Tumorwachstum hinzutreten. 30 Gy, danach lokale Aufsättigung). Die Therapie führt zur
vollständigen Remission. Bei Hydrozephalus wird ein Shunt
3Spezielle Diagnostik und Neuroradiologie. In der angelegt. Die hochmalignen Dottersacktumoren werden mit
MRT stellen sie sich homogen kontrastmittelaufnehmend einer Chemotherapie aus Vincristin, Ifosfamid und Cisplatin
dar. Germinome können in der MRT die gleiche Signalge- nachbehandelt.
bung wie Hirngewebe haben, reichern aber massiv Kontrast-

selten. Sie nehmen massiv Kontrastmittel auf, außer im zysti- Vor allem die Meningeome der Region des Sinus cavernosus
schen oder verkalkten Tumoranteil. Die Signalheterogenität, sind nicht zu resezieren.
die man manchmal sieht, ist auf die Zysten und Verkalkungen 4 20% der Meningeome rezidivieren innerhalb von 10 Jah-
zurückzuführen (. Abb. 11.19, 11.20). ren nach einer vollständigen und 80% nach einer partiellen
4 In der Angiographie, bei der man auch den Kreislauf der Resektion. Rezidive sind häufiger bei schädelbasisnahen Me-
A. carotis externa darstellt, über die Teile des Tumors gewöhn- ningeomen.
lich versorgt werden, findet man dann eine homogene Anfär- 4 Die präoperative Embolisation größerer, zuführender Ge-
bung, einen »Gefäßnabel« (. Abb. 11.6a) und große, abführen- fäße mit einer partiellen Nekrose im Meningeom muss indivi-
de Venen. duell in Rücksprache mit Neurochirurgen und Neuroradiolo-
gen indiziert werden (. Abb. 11.6b).
3Therapie und Prognose 4 Unvollständig operierte (oder inoperable oder rezidivie-
4 Vor allem bei älteren Patienten mit asymptomatischen, rende) Meningeome werden häufig, besonders bei schädel-
bildgebend stabilen oder ungünstig lokalisierten Tumoren basisnaher Lage strahlentherapeutisch behandelt. Die Studien-
muss die Therapie sorgfältig abgewogen werden. Hirndruck- lage zu diesem Vorgehen ist noch nicht überzeugend.
zeichen, Tumorödem, neurologische Ausfälle, bildgebend do- 4 Radiochirurgie oder extern fraktionierte Strahlentherapie
kumentierter Progress oder Anfälle begründen eine Inter- werden zur lokalen Kontrolle inoperabler Läsionen eingesetzt,
vention. Bei Behandlungsbedarf ist die Operation Therapie der z.B. in der Region des Sinus cavernosus oder des Keilbein-
Wahl. flügels. Hier liegen die lokalen Kontrollraten nach zehn Jahren
4 Etwa 3/4 der Patienten mit Meningeom können chirurgisch bei 90% bzw. 69%. Zusammen mit der Radiochirurgie werden
radikal operiert werden. Ist der Sinus sagittalis superior im lokale Kontrollraten im Bereich von 90% nach fünf Jahren er-
vorderen Drittel verschlossen, kann er reseziert werden. zielt. Diese Behandlung könnte Therapie der Wahl für kleine,
4 Eine anatomisch schwierige Lage, Tumoradhäsion an progrediente, inoperable Schädelbasismeningeome werden.
wichtige Strukturen, Infiltration von Sinus oder Venen und 4 Wegen der irregulären Konformation und der teilweise
osteoplastisches Wachstum können eine kurative Operation kritischen Lage der Schädelbasismeningeome erscheint auch
verhindern. Während Konvexitätsmeningeome fast immer eine stereotaktische Konformationsbestrahlung mit dem Li-
komplett reseziert werden können, ist dies bei Keilbeinflügel- nearbeschleuniger sinnvoll. Es fehlen hierzu jedoch Langzeit-
oder Olfaktoriusmeningeomen nicht immer durchführbar. erfahrungen.
322 Kapitel 11 · Hirntumoren

. Abb. 11.19. Meningeomlokalisationen


(T1-gew. Sequenzen nach Kontrastmittel-
gabe). a Konvexitätsmeningeom rechts mit
breitem duralem Ansatz sowie Wachstum
nach intraossär (Pfeil). b Keilbeinflügelmenin-
geom rechts. c Falxmeningeom rechts. d In-
fratentorielles Meningeom mit Kompression
der re. Kleinhirnhemisphäre. Typisch für Me-
ningeome sind eine breitbasige durale An-
haftung, eine Kompression (nicht Infiltration)
des umgebenden Hirngewebes sowie ein
Kontrastmittel-Enhancement

a b

c d

11
. Abb. 11.20. a Axiales MRT, T1-gewichte-
te Darstellung nach paramagnetischer
Kontrastverstärkung. Es kommt zum homo-
genen Signalanstieg des Tumors, der zu einer
Verlagerung der Mittelstrukturen und des
dritten Ventrikels geführt hat, b MRT, T1-ge-
wichtete Aufnahmen nativ. Stark raumfor-
dernder fronto-temporaler, gegen das Hirn-
parenchym gut abgegrenzter Tumor, der das
Ventrikelsystem nach oben und hinten ver-
lagert. Das Tumorgewebe ist überwiegend
hirnisointens. Im Tumor und am Tumorrand
sind Gefäße zu erkennen. (K. Sartor, Heidel-
berg) c malignisiertes Konvexitätsmeninge-
om mit massiver KM-Aufnahme und erheb-
lichem, raumforderndem Hirnödem

a b

c
11.10 · Nervenscheidentumoren
323 11
11.9.2 Anaplastische Meningeome Bei Aufnahme beträgt der Blutdruck 220/100 mmHg, der
Puls ist arrhythmisch mit einer Frequenz um 100/min. Der Patient
Sehr selten sind maligne Meningeome, die histologisch als ana- ist komatös, reagiert aber gezielt auf Schmerzreize. Keine Stau-
plastische Meningeome oder als Meningosarkome vorkom- ungspapille. In der MRT sieht man den in . Abbildung 11.20a
men. Bei ihnen ist das Hirnödem oft ausgedehnter und das wiedergegebenen Befund.
Wachstum schneller (. Abb. 11.20c). Die Risikofaktoren hatten vorher den Verdacht auf eine
vaskuläre Demenz aufkommen lassen. Der Patient hatte sich der
> Meningeome sind die häufigsten mesenchymalen
weiterführenden Diagnostik entzogen, so dass ein behandel-
Tumoren. Sie sind fast immer gutartig und in der MRT
bares, inzwischen sehr groß gewordenes Meningeom über Jahre
leicht zu diagnostizieren. Die vollständige Operation
unentdeckt bleiben konnte. Der Patient wurde operiert und
ist oft möglich, manchmal nach präoperativer
erholte sich bemerkenswert gut. Antrieb und Interessenslage
Embolisation.
verbesserten sich, und der Patient konnte sich anschließend
wieder selbst versorgen.
ä Der Fall
Ein 68 Jahre alter Mann wird in die Klinik gebracht, nachdem er
bewusstlos zu Hause gefunden wurde. Angehörige und Nach- 11.10 Nervenscheidentumoren
barn berichten, dass er in den letzten 2 Jahren zunehmend inter-
essenlos und in sich gekehrt gewesen sei. Er sei sehr langsam 11.10.1 Akustikusneurinom
geworden und man habe erhebliche Gedächtnisstörungen be-
merkt. Aus der Vorgeschichte ist bekannt, dass der Patient einen 3Epidemiologie und Lokalisation. Neurinome (Schwan-
Herzinfarkt hatte und in den vergangenen Jahren mehrfach nome) bevorzugen das mittlere Lebensalter. Sie finden sich am
flüchtige Hirndurchblutungsstörungen gehabt haben soll. Eine häufigsten am VIII. Hirnnerven. Der Name »Akustikusneuri-
Überweisung zu einem Neurologen habe er stets abgelehnt. Seit nom« ist eigentlich falsch, denn die Neurinome gehen vom
2–3 Wochen habe sich sein Zustand weiter verschlechtert. vestibulären Anteil des VIII. Hirnnerven aus. In 2,5% sind sie
6 doppelseitig, besonders bei Neurofibromatose Typ 2. Die Neu-

Exkurs
Symptome von Meningeomen bei besonderen Lokali-
sationen N. oculomotorius, der N. trochlearis und der N. supraorbitalis
4 Parasagittale Meningeome: Ein Viertel aller Meninge- (V 1), werden beteiligt.
ome wächst parasagittal in der Nachbarschaft des Sinus
sagittalis superior. Die Geschwülste gehen von dem Winkel Die lateralen Keilbeinmeningeome wachsen häufig beet-
zwischen der Dura der Konvexität und dem Sinus aus und artig. Sie infiltrieren Dura und Schädelknochen und rufen da-
wachsen verdrängend vorwiegend nach unten. Falxmenin- durch reaktive Knochenverdichtungen im hinteren Anteil der
geome sitzen, der großen Duraduplikatur zwischen den Orbita, am äußeren Orbitalrand und in der Fossa temporalis
beiden Hemisphären breit anliegend, tief im rostralen Ab- hervor. Ihr erstes Symptom ist ein umschriebener Schläfen-
schnitt der Fissura interhemisphaerica. Sie sind meist noch kopfschmerz. Bald entwickelt sich in vielen Fällen eine An-
vom Hirnmantel überdeckt und haben keine unmittelbaren schwellung der Schläfenregion.
Beziehungen zur Schädelkalotte. 4 Meningeome der Olfaktoriusrinne sitzen der Lamina
4 Frontale Meningeome führen zum Stirnhirnsyndrom. cribriformis des Siebbeins auf. Diese Meningeome lädieren den
4 Konvexitätsmeningeome liegen bevorzugt vor der Tr. olfactorius und den N. opticus und drängen das Frontalhirn
Zentralfurche. Zunächst treten fokale Anfälle auf, später von basal nach oben. Zunächst kommt es zur Hyposmie, dann
Hemiparese. zur einseitigen Anosmie. Danach entsteht durch Kompression
4 Keilbeinflügelmeningeome des großen oder kleinen eine einseitige Optikusatrophie mit Amaurose und Pupillen-
Keilbeinflügels wachsen meist in die vordere, selten in die starre. Später wird die Anosmie doppelseitig. Schließlich tritt
mittlere Schädelgrube ein. Wir unterscheiden mediale und psychopathologisch ein Stirnhirnsyndrom auf, und es entwi-
laterale Keilbeinmeningeome. Die medialen wachsen halb- ckelt sich kontralateral eine Stauungspapille (Kennedy-Syn-
kugelförmig nach oben. Sie rufen früh Schmerzen in der drom, das aber äußerst selten ist).
Augenhöhle oder mittleren Stirn hervor. Durch Kompression 4 Meningeome des Tuberculum sellae sitzen, von der Wand
des Sehnerven im Canalis nervi optici führen sie zur primä- des Sinus cavernosus ausgehend, am Vorderrand der Sella turci-
ren Optikusatrophie mit Erblindung und amaurotischer ca. Sie drängen mit zunehmendem Wachstum gegen das Chias-
Pupillenstarre. Druck auf den Sinus cavernosus behindert ma (bitemporale Hemianopsie) und den basalen Frontallappen.
den venösen Abfluss aus der Orbita, so dass es zum einsei- 4 Kleinhirnbrückenwinkelmeningeome wachsen von der
tigen, nichtpulsierenden Exophthalmus kommt (Abgrenzung Pyramidenspitze aus in die mittlere Schädelgrube und haben
vom pulsierenden Exophthalmus bei Karotis-Sinus-caverno- eine ähnliche Lage und Symptomatik wie das Akustikusneuri-
sus-Fistel; 7 Kap. 8.3.2). Andere Hirnnerven, die durch die nom (s. u.).
Fissura orbitalis cerebralis ziehen, vor allem der äußere
324 Kapitel 11 · Hirntumoren

rinome des VIII. Hirnnerven wachsen in den Kleinhirnbrü-


ckenwinkel. Sie verdrängen die Brücke nach seitwärts, so dass
dort sekundäre, ischämische Erweichungen entstehen. Das
Kleinhirn wird nach oben und unten gedrückt, auch die be-
nachbarten Hirnnerven werden geschädigt.

3Symptomatik und Verlauf. Die Symptome des Akustikus-


neurinoms entwickeln sich oft über viele Jahre. Die Krankheit
beginnt mit Hörstörungen. Im Anfangsstadium klagen die Pa-
tienten über einseitige Hörverschlechterung besonders für
hohe Frequenzen, z.B. beim Telefonieren, und über Ohrge-
räusche. Auch eine akute Hörverschlechterung ist möglich.

3Diagnostik. Otologisch besteht im Anfangsstadium eine


vestibuläre Untererregbarkeit, später wird das Labyrinth uner-
regbar. Der Hörbefund ist durch pankochleäre Innenohrschwer-
hörigkeit mit meist fehlendem Lautheitsausgleich (Recruitment) a
gekennzeichnet. Wenn ausnahmsweise das Recruitment positiv
ist, beruht das auf sekundärer Haarzellschädigung infolge Stau-
ung oder Mangeldurchblutung. Durch die BAEP ist eine Unter-
scheidung zwischen kochleärer und retrokochleärer Hörstörung
möglich.
Im CT findet man eine einseitige Erweiterung des Porus
acusticus internus, manchmal auch Destruktion der Spitze des
Felsenbeins.
Das MRT zeigt zuverlässig die intrakanalikulären und Klein-
hirnbrückenwinkel-Portionen der Neurinome (. Abb. 11.21a).
11 Die Schwannome reichern homogen Kontrastmittel im CT und
MRT an. Auch kleine Akustikusneurinome sind zuverlässig im
MRT nachzuweisen. Nur noch selten findet man sehr große,
raumfordernde Neurionome wie in . Abbildung 11.21b dar-
gestellt.
Frühzeitig findet sich im EMG der mimischen Muskeln
Denervierungsaktivität sowie eine einseitige efferente Verän-
derung beim Blinkreflex.
Liquor. Bei großen Tumoren ist das Eiweiß im Liquor
stark erhöht.

3Therapie und Prognose. Patienten mit asymptomatischen b


oder oligosymptomatischen Akustikusneurinomen, die älter
. Abb. 11.21. a MRT eines Akustikusneurinoms (T1-gewichtete
als 65 Jahre sind, werden meist nur klinisch und mit der MRT
Aufnahme nach paramagnetischer Kontrastverstärkung). Man erkennt
kontrolliert.
im linken Kleinhirnbrückenwinkel die stark und homogen kontrast-
4 Die Operation bei großen Tumoren wird von subokzipital mittelaufnehmende, nach medial rundliche, nach lateral zapfenför-
her vorgenommen. mige Tumorformation (Pfeil), die dem Akustikusneurinom (Vestibula-
4 Nur durch Frühoperation können N. facialis und N. sta- risschwannom) im extrakanalikulären, medialen und im proximalen,
toacusticus erhalten werden. Der Erhalt der Hörfunktion hängt kanalikulären, lateralen Anteil entspricht. b Großes, raumforderndes
vom operativen Zugang, dem Hörvermögen zum Zeitpunkt Akustikusschwannom links mit massiver KM-Anreicherung. Man
der Operation und der Tumorgröße ab. beachte die Verdrängung von Hirnstamm und Kleinhirn. Klinisch:
4 Intrakanalikuläre Tumoren, die zu einem Hörverlust ge- Taubheit links, Vestibularisausfall links, Fazialisparese links. Keine
führt haben, werden meist durch das Innenohr HNO-chirur- Hirnstammsymptome
gisch operiert. Die im Kleinhirnbrückenwinkel gelegenen Tu-
moren werden transkraniell operiert. Das Erhalten des Rest-
gehörs ist ein Ziel dieser Operation. Dennoch kommt es bei 4 Radiochirurgie und fraktionierte stereotaktische Strah-
den meisten Patienten zu postoperativem Hörverlust. lentherapie haben sich als wirksame Behandlungsalternativen
4 Auch der N. facialis kann bei der Operation verletzt wer- erwiesen. Der Erfolg der Radiochirurgie hängt wesentlich von
den. Patienten mit bilateralen Akustikusschwannomen bei einer guten, am besten mittels hochauflösender MRT vorge-
Neurofibromatose Typ 2 werden auch dann operiert, wenn der nommenen, präinterventionellen Bestimmung des Zielvolu-
Hörverlust schon vollständig ist. mens ab.
11.11 · Hypophysentumoren
325 11
Exkurs
Weitere Symptome bei Akustikusneurinom
4 Vestibuläre Reizsymptome treten als unsystematischer neuralgie gehört nicht zum Syndrom. Die Lähmung des moto-
Schwindel, gelegentlich mit Abweichen oder Fallneigung zur rischen Trigeminus ist selten.
Seite des Herdes auf. Oft bleiben sie ganz aus (einseitiger, 4 Der N. facialis wird oft peripher gelähmt. Als peripheres
unbemerkter Vestibularisausfall). Im Anfangsstadium über- Reizsymptom kann auch ein Fazialisspasmus auftreten.
wiegt der periphere Vestibularisausfall mit gleichseitiger 4 Der N. abducens wird indirekt durch Zug oder durch Kom-
kalorischer Unter- oder Unerregbarkeit des Labyrinths und pression von Brückenästen der A. basilaris betroffen. Die kau-
nach kontralateral gerichtetem Spontannystagmus. In 95% dalen Hirnnerven sind nur in Ausnahmefällen gelähmt.
der Fälle findet sich ein pathologischer Nystagmus. Im fort- 4 Bei fortgeschrittenen Fällen, die man heute nur noch
geschrittenen Stadium, wenn die Brücke geschädigt ist, selten sieht, entsteht Druck auf die Brücke und den mittleren
treten Blickrichtungsnystagmus, optokinetische Störungen Kleinhirnstiel mit gleichseitiger Beinataxie.
und richtungswechselnder Lagenystagmus hinzu. 4 Kopfschmerzen sind anfangs im Hinterkopf lokalisiert,
4 Druck auf den N. trigeminus führt zu Missempfindungen später diffus. Mit zunehmender Behinderung der Liquorpassa-
im Versorgungsgebiet des 2. und 1. Astes, später zu Hypäs- ge entwickelt sich ein allgemeiner Hirndruck mit Stauungspa-
thesie. Der Kornealreflex erlischt frühzeitig. Eine Trigeminus- pille und Pyramidenbahnzeichen.

ä Der Fall nome, wenn ihr Durchmesser kleiner als 10 mm ist, und Ma-
Ein 50-jähriger Beamter klagt über einen fortschreitenden Hör- kroadenome, wenn sie einen größeren Durchmesser haben
verlust auf dem linken Ohr und gelegentlichen, nicht seitenbe- und aus der Sella turcica hinauswachsen (. Abb. 11.23).
tonten Schwindel. Trotz der langsam progredienten Symptomatik Hypophysenadenome können zur vermehrten Sekretion
nimmt der Hausarzt einen Hörsturz an. Da die Therapie ohne von Vorderlappenhormonen führen (hormonaktive Adenome).
Erfolg bleibt, sucht der Patient den Hals-Nasen-Ohrenarzt auf, der Wenn sie den Hypophysenvorderlappen komprimieren, kön-
einen pankochleären Hörverlust links und vestibuläre Unterer- nen sie zur verminderten Produktion von Hormonen führen
regbarkeit links feststellt. Der Neurologe wird eingeschaltet, weil (hormoninaktive Adenome). Bei allen Sellatumoren sollte ein
der Hals-Nasen-Ohrenarzt eine »zentrale Ursache« des pankoch- ophthalmologischer Befund erhoben und eine endokrinolo-
leären Hörverlustes ausgeschlossen haben möchte. Der Neuro- gische Untersuchung mit entsprechender Hormonsubstitution
loge stellt eine leichte Fazialisschwäche und pathologische aku- erfolgen.
stische Hirnstammpotentiale links fest und veranlasst ein MR, in Die supraselläre Ausdehnung kann über die Kompression
dem ein überwiegend extrakanalikuläres Akustikusneurinom, das des Chiasma opticum mit bitemporaler Hemianopsie klinisch
neurochirurgisch gehör- und fazialiserhaltend operiert werden auffällig werden. Bei noch weiterer suprasellärer Ausdehnung
konnte, gefunden wurde. wird der Hypothalamus komprimiert und der III. Ventrikel
verdrängt. Es kann ein Hydrozephalus entstehen. Paraselläre
Hypophysenadenome, die meist asymmetrisch zu einer Seite
11.10.2 Andere Neurinome hin wachsen, können die Hirnnerven III, V1 und VI lädieren
und die Karotis ummauern. Hypophysenadenome sind histo-
Neurinome an anderen Hirnnerven wie den Nn. trigeminus logisch immer gutartig.
und abducens sind selten. Relativ häufig sind Neurinome der
spinalen Nervenwurzeln.
11.11.1 Hormonproduzierende Tumoren
> Die Akustikusneurinome (besser Vestibularisschwan-
nome) sind gutartige Tumoren des Kleinhirnbrücken-
Hormonaktive Adenome können vermehrt Wachstumshor-
winkels, die zu einseitigem Hörverlust, peripherem
mon (GH), Prolaktin (PRL) und das adrenokortikotrope Hor-
Vestibularisausfall und zur Fazialislähmung führen
mon (ACTH) produzieren:
können. Mit bildgebenden Verfahren wird heute die
Diagnose meist so frühzeitig gestellt, dass eine scho-
3Einteilung
nende und radikale Entfernung oder eine Strahlenbe-
4 Wachstumshormon-produzierende Tumoren: Eine Er-
handlung möglich sind.
höhung des GH führt zu Riesenwuchs bei Erkrankung im Ju-
gendalter vor Schluss der Epiphysenfugen und zu Akromega-
lie bei Erkrankung im Erwachsenenalter. Die Vergrößerung
11.11 Hypophysentumoren der Akren hat bei etwa der Hälfte der Erkrankten ein Karpal-
tunnelsyndrom (7 Kap. 31.4.8) zur Folge. Es gibt auch eine
Diese Tumoren gehen vom Hypophysenvorderlappen aus. Viszeromegalie mit Struma diffusa und Herzvergrößerung.
Manche wachsen rein intrasellär mit asymmetrischer Auswei- Viele Patienten entwickeln Diabetes mellitus und sekundären
tung der Sella und Ausdünnung des Dorsum sellae, andere Hypogonadismus. Gesichtsfeldstörungen durch Chiasmalä-
wachsen nach supra- und parasellär. Man nennt sie Mikroade- sion treten erst spät auf, da die Geschwulst lange Zeit intrasellär
326 Kapitel 11 · Hirntumoren

läres Wachstum möglich. Bei Männern werden Prolaktinome


oft erst spät, nachdem Gesichtsfeldausfälle eingetreten sind,
diagnostiziert.
4 ACTH-produzierende Adenome: Diese führen zum Cush-
ing-Syndrom mit den Symptomen Stammfettsucht, arterielle
Hypertonie, Osteoporose und Myopathie. Der Tagesrhythmus
der Kortisonproduktion ist aufgehoben. Die Adenome sind
häufig sehr klein. Die Überproduktion der übrigen HVL-Hor-
mone (TSH, LH, FSH) spielt nur eine untergeordnete Rolle.
Hormonaktive Hypophysenadenome können auch mehr als
ein Hormon im Überschuss produzieren. Die häufigste Kom-
bination ist die von GH und Prolaktin.

3Spezielle Diagnostik und Neuroradiologie. Der Verdacht


auf ein Hypophysenadenom ergibt sich aus den geschilderten
endokrinen Symptomen. Eine Sellavergrößerung im konven-
tionellen Röntgenbild (Schädelübersicht und Sellaspezialauf-
nahme) findet sich nur bei Adenomen, die größer als 5–10 mm
im Durchmesser sind.
a Die Methode der Wahl ist die MRT, bei der kleine Ade-
nome im kontrastverstärkten T1-Bild als hypointense Bezirke
inmitten der stärker KM aufnehmenden Hypophyse zeigen
(. Abb. 11.23). Eine sorgfältige Gesichtsfeldbestimmung ist
notwendig.
Endokrinologische Untersuchung: Bestimmung der
Hormonbasalwerte. Patienten mit Akromegalie haben typi-
scherweise GH-Werte über 5 ng/ml. Normalerweise sind die
11 GH-Werte postprandial oder nach oralem Glukosetoleranztest
erniedrigt. Bei Akromegalie fehlt diese Suppression als Aus-
druck der unabhängigen GH-Produktion im Adenom. Pro-
laktinspiegel über 200 ng/ml sind beweisend für ein Prolakti-
nom (. Abb. 11.24).
b

. Abb. 11.22a,b. Klinisches Bild bei Akromegalie. Die Vergröße- 3Therapie und Prognose
rung der Nase und Ohren (a), und besonders eindrucksvoll der Hand 4 Operation:
(b), lassen die Verdachtsdiagnose eines wachstumshormonpro- 5 Wenn der Tumor noch keine starke, supraselläre Ausdeh-
duzierenden Tumors sehr wahrscheinlich werden. (C. Wüster, nung hat, wird er transsphenoidal durch die Nase operiert.
Bad Herrenalb) 5 Wächst der Tumor stark nach suprasellär oder parasellär,
muss er offen, d.h. über eine Schädeltrepanation operiert wer-
den.
wächst. Das klinische Bild der Akromegalie (. Abb. 11.22) ist 5 Paraselläres Wachstum und Eindringen in den Sinus ca-
so eindrucksvoll und unverwechselbar, dass man sich wundert, vernosus kann eine Operation unmöglich machen.
wie es geschehen kann, dass auch heute noch Patienten erst mit 4 Medikamentöse Therapie:
sehr fortgeschrittener Symptomatik diagnostiziert werden. 5 Prolaktinproduzierende Adenome können mit prolaktin-
Kopfschmerzen werden besonders von Patienten mit Akro- hemmenden Dopaminagonisten (Cabergolin, Bromocriptin,
megalie geklagt. Lisurid, Pergolid) konservativ behandelt werden. Bei großen
4 Prolaktin-produzierende Adenome: Sie sind die häufigs- Tumoren kommt es dadurch zur Reduktion der Tumormasse.
ten hormonaktiven Hypophysenadenome. Sie sind aber nicht Ein mit dem Neurochirurgen abgestimmtes Vorgehen ist dabei
die einzige, noch nicht einmal die häufigste Ursache der Hy- wichtig. Nur wenn Patienten die Dopaminagonisten nicht to-
perprolaktinämie bei Frauen. Anstieg von Prolaktin hat bei der lerieren oder es bei Makroadenomen zu sekundären Ausfällen
Frau Galaktorrhoe (in 2/3 der Fälle), Oligomenorrhoe und In- (Gesichtsfeld) kommt, wird operiert.
fertilität zur Folge. Beim Mann führt er zu Verminderung von 5 Große Prolaktinome werden erst mit Dopaminagonisten
Libido und Potenz, Galaktorrhoe ist sehr selten. Eine sekun- vorbehandelt und danach operiert. Rezidive kommen nach der
däre Hyperprolaktinämie, wie sie bei anderen Hypophysen- Operation und unter Dopaminagonisten vor.
prozessen oder als Nebenwirkung von Medikamenten (Psycho- 5 Wenn nach Reoperation erneut ein Rezidiv entsteht, ist
pharmaka) entstehen kann, weist nur eine leichte Erhöhung eine Strahlentherapie notwendig. Sonst ist Strahlentherapie
der Serumkonzentration von Prolaktin auf. Viele Tumoren nur bei invasivem Wachstum und inkompletter Operation an-
sind Mikroadenome, jedoch ist auch ein sehr großes, suprasel- gezeigt.
11.11 · Hypophysentumoren
327 11

b c

. Abb. 11.23a–c. Hypophysenadenom. a Intrasellär ist im CT eine vor und nach (c) KM. Massiv kontrastmittelaufnehmendes Hypophy-
nahezu kreisrunde, kontrastmittelanreichernde Formation zu erken- senadenom mit ausgedehntem suprasellarem Wachstum. Verdrän-
nen, an deren hinterer Zirkumferenz noch ein Anschnitt des Dorsum gung des Chiasma opticum nach oben (Pfeil) und Stauchung der Sei-
sellae zu erkennen ist. b,c Hypophysenadenom im MRT, T1-Sequenz tenventrikel von unten. (B. Kress, Frankfurt)

5 Bei kleineren GH-produzierenden Tumoren wird zunächst len einen Pass über die für sie lebensnotwendigen Medika-
ein Behandlungsversuch mit Bromocriptin unternommen. mente bei sich führen.
Kommt es hierunter nicht zu einer deutlichen Tumorregressi-
on, ist die Behandlung der Wahl chirurgisch. ä Der Fall
5 Nach radikaler Operation ist eine Hormonsubstitution Ein etwa 45 Jahre alter Bauarbeiter kommt zum Arzt, weil er seit
(Schilddrüsenhormone, Gonadotropine, (Hydro-)Kortison) Monaten nächtliche Schmerzen in beiden Händen, vor allem in
notwendig. Patienten mit ausgeprägter Akromegalie haben Daumen und Zeigefingern hat. Er meint, auch nicht mehr so kräftig
eine deutlich verkürzte Lebenserwartung. zugreifen zu können wie früher. Elektrophysiologisch zeigt sich ein
5 Ein andauernder Diabetes insipidus wird mit Minirin®- ausgeprägtes doppelseitiges Karpaltunnelsyndrom. Dem Neurolo-
Nasenspray behandelt. gen fällt auf, dass der Patient ausgesprochen große, plumpe Hände,
große Füße, eine große Nase, ein vorstehendes Kinn und ausge-
Nach 3–6 Monaten muss die Hormonproduktion des hypotha- sprochen wulstige Augenbrauen hat. Insgesamt wirkt der Patient
lamisch-hypophysären Systems noch einmal untersucht wer- sehr muskulös und untersetzt. Darauf angesprochen, berichtet er,
den, um die Dauersubstitution festzulegen. Die Patienten sol- 6
328 Kapitel 11 · Hirntumoren

11.11.2 Hormoninaktive Tumoren

3Symptome. Diese Adenome sind meist größer als die hor-


monproduzierenden Adenome, weil sie länger wachsen kön-
nen, bevor sie Symptome verursachen. Sie führen durch ihr
verdrängendes Wachstum innerhalb der Sella zur Minderfunk-
tion des HVL mit endokrinen Mangelsymptomen, wie dem
sekundären Hypogonadismus. Sehr charakteristisch ist eine
blasse Hautfarbe (Anämie) und eine zarte, von feinen Furchen
durchzogene Haut um den Mund bei Männern. TSH-Mangel
führt zur Müdigkeit, Antriebsarmut und Verstopfung. Insge-
samt liegt in fortgeschrittenen Fällen das charakteristische Syn-
drom der Hypophyseninsuffizienz vor, bei der sich die genann-
ten Symptome kombinieren.
Hormoninaktive Adenome sind oft Makroadenome. Sup-
ra- und paraselläres Wachstum führt durch Läsion des Chiasma
opticum zu Gesichtsfelddefekten. Sie kommen als Quadranten-
anopsie oder Hemianopsie, symmetrisch oder asymmetrisch,
und auch als Skotom vor. Wächst der Tumor nach parasellär,
wird zunächst der N. oculomotorius betroffen. In Extremfällen
erstreckt sich das Adenom bis zum basalen Temporallappen
und kann die Ursache von komplex partiellen epileptischen
Anfällen sein.
. Abb. 11.24. MRT (T1-gewichtete sagittale Aufnahme) eines
Hypophysenvorderlappentumors. Die Sella ist von einem stark und 3Diagnostik. Auch bei den hormoninaktiven Adenomen
homogen kontrastmittelaufnehmenden Tumor, der nach suprasellär ist die Gesichtsfeldbestimmung sehr wichtig. Oft sind Visus-
reicht und das Chiasma opticum (bandförmige Struktur am Oberrand störungen die frühesten Symptome. Die neuroradiologische
11 des Tumors) anhebt und komprimiert. Es handelt sich um einen pro- Diagnostik folgt den gleichen Regeln wie bei den hormonakti-
laktinproduzierenden Tumor ven Adenomen. Basiswerte von T3, T4 und TSH sowie das Kor-
tisoltagesprofil dienen der Aufdeckung von sekundärer
dass er schon immer relativ kräftig gewesen sei, aber in letzter Zeit Hypophyseninsuffizienz.
an Gewicht zugenommen habe. Der Ehering habe ihm nicht mehr
gepasst, er habe jetzt eine größere Schuhgröße und die Hemden 3Therapie. Indikation und Methode der Operation sind
seien ihm am Kragen allesamt zu eng geworden. Dazu habe man wie bei den hormonaktiven Tumoren. Bei Hypophyseninsuffi-
vor einem Jahr einen Diabetes mellitus festgestellt. zienz ebenfalls Hormonsubstitution.
Dieser Patient stellte sich mit dem Vollbild einer Akromegalie
vor. Ein doppelseitiges Karpaltunnelsyndrom ist beim GH-produ-
zierenden Hypophysenadenom häufig. Der Patient wurde trans- 11.12 Kraniopharyngeome
phenoidal operiert. Ein weiteres akromegales Wachstum ist nicht
festzustellen, die diabetische Stoffwechsellage hat sich gebes- 3Epidemiologie und Lokalisation. Kraniopharyngeome
sert. Aufgrund des fortgeschrittenen Karpaltunnelsyndroms sind Tumoren des Kindes-, Jugend- und jüngeren Erwachse-
wurde auch die Indikation zur Neurolyse des N. medianus im nenalters. Histologisch sind sie benigne oder semimaligne,
Karpaltunnel gestellt. wachsen aber destruierend und verdrängend.

Facharzt
Kraniopharyngeom
Kraniopharyngeome sind histologisch WHO-Grad I-Tumoren, sen. Die suprasellären Tumoren lädieren das Chiasma früh-
die sich aus epithelialen Resten des Ductus craniopharyngicus zeitig und füllen den III. Ventrikel aus. Das weitere Wachstum
(Rathkesche Tasche) herleiten. Sie machen 2,5% aller zere- erstreckt sich in Richtung auf Thalamus und Brücke, in
bralen Tumoren und 20% aller suprasellären Tumoren aus. seltenen Fällen dehnen sich die Tumoren bis zum Okzipital-
Kraniopharyngeome liegen entweder intrasellär oder lappen aus.
suprasellär, selten sanduhrförmig innerhalb und über der Kraniopharyngeome haben eine feste Kapsel. Sie sind
Sella. Die intrasellären Kraniopharyngeome komprimieren meist gekammert. Die Zysten sind mit cholesterinhaltiger
zunächst die Hypophyse und arrodieren die hintere Sellabe- Flüssigkeit gefüllt. Sehr charakteristisch ist die Kalkeinlagerung
grenzung, bevor sie das Diaphragma sellae durchbrechen in dem soliden Teil der Geschwulst. Metastasen kommen nicht
und gegen das Chiasma opticum und den III. Ventrikel wach- vor. Die Wachstumsgeschwindigkeit ist gering.
11.13 · Metastasen und Meningeosen
329 11
3Symptomatik und Verlauf. Die Symptome entwickeln Die soliden Tumoranteile nehmen häufig Kontrastmittel auf.
sich bei Kindern und jungen Erwachsenen unterschiedlich: Das MRT stellt die Nachbarschaftsbeziehungen (Chiasma, pa-
4 Kinder klagen frühzeitig über Kopfschmerzen und Erbre- raselläre Region, intraselläre Anteile, Bedrängung der Karotis)
chen. Sie sind im Wachstum zurückgeblieben und oft zu dick. durch multiplanare Darstellung weit besser dar.
Die verzögerte Körperentwicklung zeigt die Hypophysen-
vorderlappen-Insuffizienz an. Der Schädel ist hydrozephal 3Therapie und Prognose
vergrößert, die Nähte klaffen, und es besteht eine Stauungs- 4 Die Behandlung der Wahl ist die Operation mit Zystenent-
papille. leerung.
4 Während und nach der Pubertät stehen hypothalamische 4 Eine vollständige Resektion ist oft nicht möglich. Bestrah-
Störungen, vor allem der Diabetes insipidus im Vordergrund. lung soll die Überlebenszeit verlängern. Dennoch ist Abwarten
Hypogenitalismus (Amenorrhoe, Impotenz, mangelhafte Aus- und Kontrollieren eine Alternative.
bildung der sekundären Geschlechtsmerkmale), Fettsucht und 4 Rezidivierende, zystische Prozesse können stereotaktisch
Hypothyreose sind seltener. Andere Zwischenhirnstörungen entleert oder lokal, auch interstitiell bestrahlt werden.
zeigen sich erst bei den genaueren endokrinologischen Unter- 4 Hormonsubstitution (s. Hypophysenadenome) ist bei Hy-
suchungen. pophyseninsuffizienz erforderlich.
4 Später kommt es zu Stirnkopfschmerzen und zu den für
alle Altersgruppen sehr charakteristischen bizarren Gesichts- Die Rezidivrate ist hoch.
felddefekten in Form unregelmäßig geformter Skotome oder
Quadrantenanopsien. Streng bitemporale Hemianopsien wer-
den kaum gefunden. Durch weiteren Druck auf das Chiasma 11.13 Metastasen und Meningeosen
tritt bilaterale Optikusatrophie mit Amblyopie und entspre-
chender Pupillenstarre ein. Wächst die Geschwulst nach dor- 11.13.1 Solide Metastasen
sal, entwickeln sich Mittelhirn- und Brückensyndrome.
4 Das Endstadium mit Hirndruck, spastischer Tetraplegie 3Epidemiologie. Metastasen machen etwa 20% aller Hirn-
und anderen Zeichen der Enthirnungsstarre tritt aber dank der tumoren aus. Metastasen sind die häufigsten intrakranialen
frühzeitigen Diagnose mit bildgebenden Verfahren meist nicht Tumoren. Systematische Autopsiestudien belegen, dass die
mehr auf. Der Verlauf ist, wie oft bei zystischen Tumoren, in- Zahl der ZNS-Metastasen deutlich höher ist als die klinisch
termittierend und variabel. symptomatischen Metastasen. Etwa 30% der Patienten, die an
einem Tumorleiden sterben, weisen autoptisch intrakraniale
3Diagnostik. Die CT zeigt hyper- und hypodense Bereiche, Metastasen auf. Man rechnet mit einer Inzidenz von 6–8 pro
entsprechend den verkalkten und zystischen Tumoranteilen. 100 000 Einwohner. Die Patienten haben in der Regel das mitt-

Facharzt
(Epi-)Dermoide und Lipome
Epidermoide
3Epidemiologie und Lokalisation. Die seltenen, histolo- 3Therapie und Prognose. Die operative Entfernung führt
gisch gutartigen Epidermoide und Dermoide können in zur Heilung, Rezidive kommen nach vollständiger Resektion
jedem Lebensalter manifest werden, meist jedoch im Ju- nicht vor.
gend- und jüngeren Erwachsenenalter.
Sie wachsen außerordentlich langsam und liegen bevor- Lipome
zugt im Brückenwinkel, in Nähe des Chiasma, in der Gegend Intrakranielle Lipome sind mittelliniennah, oft in der Balkenre-
der Epiphyse und am rostralen Balken. Ihre Herkunft aus gion lokalisiert. Sie sind histologisch gutartig und werden
versprengten Keimzellen macht die Häufung in der Mittelli- häufig als asymptomatischer Zufallsbefund in CT oder MRT
nie verständlich. gesehen. Sie sind im CT durch starke Dichteminderung ge-
kennzeichnet.
3Symptomatik und Verlauf. Bei Rupturen kann der
Inhalt der Kapsel in der Umgebung Entzündungen hervorru- Kolloidzyste des III. Ventrikels
fen. Es liegt dann außer den Lokalsymptomen (Hydrozepha- Hierbei handelt es sich um Fehlbildungen, die mit Ependym
lus, selten epileptische Anfälle, hypothalamisch-hypophysäre ausgekleidet und mit einer kolloidartigen Flüssigkeit gefüllt
Störungen, Kleinhirnbrückenwinkelsyndrom) eine hartnäcki- sind. Ihr Sitz ist am Dach des III. Ventrikels zwischen den Fora-
ge, rezidivierende und diagnostisch sehr schwer zu klärende mina Monroi. Wenn sie eine ausreichende Größe erreicht
Meningoenzephalitis vor. haben und beweglich sind, können sie wiederholt akut den
Liquorabfluss aus dem Seitenventrikel blockieren.
Neuroradiologie. Epidermoide und Dermoide zeigen, ent- Im CT sind Kolloidzysten in den meisten Fällen primär
sprechend dem hohen Anteil an Cholesterinkristallen und hyperdens und nehmen kein Kontrastmittel auf (. Abb. 11.25).
ihrer zystischen Struktur, bei scharfer Begrenzung eine sehr Therapie: Operative Entfernung.
variable Morphologie in CT und MRT.
330 Kapitel 11 · Hirntumoren

. Tabelle 11.3. Hirnmetastasen


Häufigste Primärtumoren für Hirnmetastasen (in absteigen-
der Häufigkeit)
1. a) Adenokarzinom der Lunge
b) Kleinzelliges Bronchialkarzinom
2. Mammakarzinom
3. Melanom
4. Hypernephrom
5. Gastrointestinale Tumoren sowie
Schilddrüsenkarzinom
Uteruskarzinom, Ovarialkarzinom
Prostatakarzinom
Kopf-Hals-Karzinome
Keimzelltumoren
. Abb. 11.25. Signalreiche Kolloidzyste des III. Ventrikels (T1 axial Tumoren mit höchster ZNS-Metastasierungsrate
mit KM). Man erkennt eine rundliche, signalhyperintense Formation in
Projektion auf den hinteren Anteil des Foramen Monroi 1. Melanom
2. Keimzelltumoren (Hodenteratome)
3. Lymphom
4. Kleinzelliges Bronchialkarzinom
lere Lebensalter überschritten, Männer sind häufiger befallen 5. Mammakarzinom
als Frauen. Lange zeitliche Abstände (4–5 Jahre) seit Entde-
Wahrscheinlichstes Ursprungsgewebe von Metastasen vorher
ckung und Behandlung des Primärtumors kommen zwar vor,
unbekannter Primärtumoren
sind aber selten.
Hirnmetastasen sind eine schwerwiegende Komplikation 1. Adenokarzinome der Lunge
2. Gastrointestinale Tumoren
eines Tumorleidens. Sie können nicht nur die ersten Metasta-
3. Blasenkarzinome
sen eines bis dahin nicht metastasierenden, bekannten Primär-
4. Schilddrüsenkarzinome
tumors, sondern auch die erste Manifestation eines bis dahin
11 unbekannten Primärtumors sein. Hirnmetastasen sind nicht
5.
6.
Melanome
Lymphome
selten multipel.
Die Inzidenz von Hirnmetastasen nimmt zu. Dies liegt
z.T. an den verbesserten diagnostischen Möglichkeiten, der
verbesserten Therapie des Primärtumors, aber möglicherweise sind. Die Bestimmung von Tumormarkern (. Tabelle 11.2) ist
auch am Schutz der Tumorzellen hinter der Blut-Hirn-Schran- nützlich.
ke, z.B. gegenüber Antikörpertherapien. Vor dem Primär-
tumor, synchron oder im Mittel nur 2 Monate nach dem Pri- 3Lokalisation. Die Lokalisation ist entsprechend der hä-
märtumor werden Metastasen von Bronchialkarzinomen, matogenen Entstehung meist im Versorgungsgebiet der
metachron eher Melanom-, Brust - oder Dickdarmmetastasen A. cerebri media, und häufig in der gut durchbluteten Hirn-
symptomatisch. rinde. Auch der Hirnstamm wird, wenn auch selten, betrof-
Metastasen sind zu 80% supratentoriell und zu 20% infra- fen. Grundsätzlich können sich Metastasen in allen Teilen
tentoriell lokalisiert. Sie finden sich meist an der Rindenmark- des ZNS und seiner Anhangsstrukturen (z.B. Hypophyse)
grenze. Initial sind sie meist noch gut vom Hirngewebe abge- absiedeln. Schädelbasismetastasen führen zu den Syndro-
grenzt und von einem deutlichen Ödem umgeben, später men, die in 7 Kap. 1 beschrieben sind. Hat ein Patient ein
wachsen sie auch infiltrierend. bekanntes Karzinom, so muss man beim Auftreten einer
Hirnnervenlähmung eine Schädelbasismetastase befürchten,
3Primärtumore. . Tabelle 11.3 gibt eine Übersicht über wenn eine Meningeosis carcinomatosa nach dem Liquorbe-
die häufigsten Primärtumoren, die zerebralen Metastasen zu- fund unwahrscheinlich ist.
grunde liegen können, und über die Primärtumoren, die be-
sonders häufig Metastasen entwickeln. In 25% der Fälle gehen 3Symptomatik und Verlauf. Die Symptome entwickeln
Hirnmetastasen von einem Bronchialkarzinom aus. Dieses sich in wenigen Tagen oder Wochen. Die Krankheitsgeschich-
ist oft zum Zeitpunkt der Metastasierung noch so klein, dass es te dauert meist nicht länger als 5–6 Monate. Metastasen führen
selbst im Thorax-CT nicht nachzuweisen ist. Andere Ur- schon bei geringer Größe zu einem deutlichen Hirnödem.
sprungsgewebe sind: Mammakarzinom, gastrointestinales Deshalb entstehen neben den Lokalsymptomen rasch allge-
Karzinom, Melanom, Genitalkarzinom und Schilddrüsen- meine psychische Störungen: Bewusstseinstrübung und Ver-
karzinom. Beim Nierenkarzinom kann es selbst mehr als ein wirrtheit. Die allgemeinen Befunde wie Gewichtsabnahme,
Jahrzehnt nach der Operation zu Hirnmetastasen kommen. Husten, Verdauungsstörungen, Ausfluss, beschleunigte BSG
Chorionepitheliome setzen regelmäßig zerebrale Absiedlun- und Anämie, die sonst den Verdacht auf einen fortgeschritte-
gen. Das Kolonkarzinom metastasiert äußerst selten ins Ge- nen malignen Tumor erwecken, brauchen zum Zeitpunkt der
hirn, weil im Kreislauf Leber- und Lungenfilter vorgeschaltet Hirnmetastasierung noch nicht vorzuliegen.
11.13 · Metastasen und Meningeosen
331 11

a b c

. Abb. 11.26a–c. Zerebrale Metastasen. a Dural basierte Metasta- Metastasierung mit kontrastmittelaufnehmenden Metastasen rechts
se. Diese lassen sich mitunter sehr schwierig nur von Meningeomen okzipital, kleineren Läsionen links okzipital (Pfeil) sowie Metastasen
abgrenzen. b Rechte parietale Metastase mit peripherer Kontrastmit- periaquäduktal (Pfeil) sowie im linken Crus cerebri
telaufnahme und deutlichem Umgebungsödem. c Disseminierte

3Diagnostik. Bei klinischem oder bildgebendem (CCT) rapie zugänglich ist, wird diese auch bei Metastasen im Zen-
Verdacht sollten eine MRT und eine Liquorpunktion durch- tralnervensystem versucht.
geführt werden. Metastasen von mehr als 2 cm Durchmes-
ser sind fast immer zentral nekrotisch und zeigen nach Medikamentöse Therapie: Vor der Operation oder Strahlen-
Gabe von Kontrastmittel eine mehr oder minder breite therapie ist meist eine supportive Therapie zur Behandlung des
Ringformation. Mehrere solcher Läsionen bei bekanntem Tumor-Ödems mit Steroiden notwendig und erfolgreich. Ins-
Primärtumor machen eine intrazerebrale Metastasierung gesamt ist die Prognose von Hirnmetastasen nicht gut: Nur
wahrscheinlich (. Abb. 11.26). Eine sichere organspezifische etwa 20% der Patienten überleben die Diagnose der Hirnme-
Zuordnung aufgrund bildmorphologischer Kriterien ist nicht tastasen länger als 1 Jahr. Der Therapieansatz ist immer pallia-
möglich. tiv. Wichtige prognostische Faktoren sollten beachtet werden.
Als wesentliche Prognosefaktoren gelten das Stadium und die
3Therapie und Prognose Art der Grunderkrankung, der Karnofsky-Index und das Alter
Operation: Wesentliche Kriterien für die Therapieentschei- des Patienten. Gelingt eine lokale Tumorkontrolle sind media-
dung ist die Anzahl der Hirnmetastasen und die Kontrolle des ne Überlebenszeiten von bis zu einem Jahr beschrieben.
Primärtumors. Epileptische Anfälle werden nach den in Kap. 14.5 be-
4 Die Operation ist meist nur sinnvoll, wenn eine einzelne schriebenen Prinzipien behandelt. Eine prophylaktische Be-
Metastase vorliegt. Allerdings wird auch immer wieder einmal handlung mit Antikonvulsiva erfolgt nicht.
die Indikation zur Operation gestellt wenn zwei oder drei ope-
rativ gut zugängliche Metastasen vorliegen, beispielsweise im ä Der Fall
Kleinhirn. Ein 35 Jahre alter Straßenbauarbeiter wird nach einem ersten
4 In vielen Fällen schließt sich eine Strahlentherapie an, auch generalisierten Anfall in die Klinik gebracht. In der MRT sieht man
lokale einzeitige oder fraktionierte radiotherapeutische Ver- dem in . Abbildung 11.27 wiedergegebenen Befund. Vor 1 Jahr
fahren sind möglich. Das optimale Vorgehen wird im Konsens ist der Patient an einem Hypernephrom operiert worden und war
der beteiligten Disziplinen vereinbart. seither beschwerdefrei.
4 Die Operation und die Bestrahlung dienen vor allem der Ursache des generalisierten, epileptischen Anfalls ist eine
Verlängerung des neurologisch intakten Überlebens, ein Ein- eingeblutete Metastase. Im MRT zeigt sich, dass es sich um eine
fluss auf die Überlebenszeit ist nicht gesichert. solitäre Metastase handelt. Die Metastase wird reseziert und eine
4 Wenn eine Operation nicht möglich ist, wird primär strah- Bestrahlung des Herdes (30 Gy) und des Gesamthirns (30 Gy)
lentherapiert (vergleiche Leitlinien). Zur Indikationsstellung durchgeführt. Bei regelmäßigen MRT-Kontrollen über 2 Jahre hat
genügt meist der Nachweis des Primärtumors und der neurora- sich bislang kein Rezidiv gezeigt.
diologisch zweifelsfreie Befund.

Bei unbekanntem Primärtumor ist eine histologische oder li- 11.13.2 Meningeosis blastomatosa
quorzytologische Diagnosesicherung vor Einleitung der Strah-
lentherapie notwendig. Bei 15–30% systemischer Lymphome und Leukämien tritt im
Bemerkenswerterweise sprechen auch manche Metastasen Krankheitsverlauf eine ZNS-Beteiligung auf. Auch beim Non-
auf die palliative Strahlentherapie an, deren Primärtumor Hodgkin-Lymphom wird eine Meningeose bei etwa 10% der
strahlenresistent ist. Wenn der Primärtumor einer Chemothe- Patienten gefunden.
332 Kapitel 11 · Hirntumoren

Facharzt
Spezielle Aspekte besonders häufiger Metastasen
Bronchialkarzinome. Adenokarzinome der Lunge sind die Hirnmetastase(n). Die Metastasen wachsen sehr schnell und
häufigsten Primärtumoren bei Hirnmetastasen. Bei ca. 25% werden mit Anfällen, Lähmungen und Verlangsamung symp-
liegt ein kleinzelliges Bronchialkarzinom zugrunde. Bei klein- tomatisch. Melanommetastasen neigen zu Einblutungen, zu
zelligen Brochialkarzinomen ist die prophylaktische Ganz- multipler Lokalisation und zur Beteiligung der Hirnhäute.
hirnbestrahlung bei kompletter Remission nach Erstbe- Besonders wenn eine frühe Operation der Metastase möglich
handlung inzwischen etabliert, da sie die Hirnmetastasie- war, gibt es immer wieder einmal erstaunlich gute Langzeiter-
rung vermindert und zu einem statistisch signifikanten gebnisse. Solitäre Melanommetastasen werden operiert und
Überlebensvorteil führt. Bei Adenokarzinomen besteht eine nachbestrahlt. Die Bestrahlung allein zeigt keine besondere
deutlich bessere Therapieaussicht als bei Patienten mit Wirksamkeit. Neue, systemische Chemotherapieverfahren, die
einem kleinzelligen Karzinom. Adenokarzinommetastasen auch Interferon-Behandlung einschließen, werden erprobt,
sind häufig gut strahlenempfindlich. Remissionen lassen sich sind aber noch nicht gesichert.
bei der Mehrzahl der Patienten erzielen, Rezidive sind jedoch
sehr häufig. Gastrointestinale Tumoren. Hier findet man seltener eine
In einem Viertel der Fälle liegen kleinzellige Karzinome frühe ZNS-Metastasierung, da die Tumoren meist zuerst in
vor. Auch Patienten mit Metastasen von kleinzelligen Bron- Lunge und Leber metastasieren. Rektum- und Mastdarmtu-
chialkarzinomen werden meist bestrahlt. Diese Metastasen moren metastasieren selten in das Gehirn. Je nach dem Allge-
sind häufig multipel und entziehen sich damit der chirur- meinzustand des Patienten und dem Tumor-Staging wird eine
gischen Behandlung. Die Prognose ist deutlich schlechter. solitäre Metastase operiert und nachbestrahlt.

Mammakarzinome. Mammakarzinome metastasieren sehr Andere Primärtumoren


häufig und multipel in das Gehirn und in das Rückenmark. Prostatakarzinome machen viel häufiger spinale (extradu-
Sie neigen zur Meningeose. Leider macht es für die Behand- rale) Metastasen als eine ZNS-Metastasierung. Seminome sind
lung der Hirnmetastasen noch keinen Unterschied, ob Pri- sehr selten, hochmaligne und neigen zur Hirnmetastasierung.
märtumore hormonaktiv oder hormoninaktiv gewesen sind. Hypernephrommetastasen sind oft solitär, stark kontrastauf-
11 Operation (selten, da oft multiple Metastasen) und Ganzhirn- nehmend und können nach Operation und Bestrahlung lang-
bestrahlung sind die therapeutischen Optionen. Die syste- jährige freie Intervalle haben. Bei manchen Schilddrüsen-
mische Chemotherapie führt zu keiner Verbesserung der metastasen, die ebenfalls recht häufig Einblutungen zeigen,
Prognose. Dies ist anders bei der Meningeosis carcinomatosa ist eine Radiojodtherapie möglich. Nasen-Rachen-Tumoren
(s.u.), die, auch wenn sie rezidiviert, oft gut auf intrathekale wachsen lokal infiltrierend und können so ZNS-Symptome
Zytostase anspricht. machen. Findet man bei solchen Patienten Hirnmetastasen,
muss man nach einem Zweittumor suchen, der meist, bei
Melanome. Oft liegen Jahre zwischen der Operation des ähnlichen Risikofaktoren (Raucher), in der Lunge gefunden
(manchmal sehr kleinen) Melanoms und dem Auftreten der wird.

Leitlinien Diagnostik und Therapie von Hirnmetastasen*


4 Singuläre oder solitäre Hirnmetastasen solider Tumoren 4 Bei der Auswahl der spezifischen Therapie (Operation,
(mit Ausnahme kleinzelliger Bronchialkarzinome und Germi- Radiochirurgie, fraktionierte Strahlentherapie, Chemotherapie)
nome) sollten bei günstiger prognostischer Konstellation müssen die wichtigsten prognostischen Faktoren (Alter, Kar-
reseziert werden (B). nofsky-Index, extrazerebrale Tumormanifestationen) berück-
4 Die Radiochirurgie ist für viele Patienten eine sinnvolle sichtigt werden (A).
Alternative zur Operation (B).
4 Für die meisten Patienten mit multiplen Hirnmetastasen
ist die Ganzhirnbestrahlung eine wirksame palliative Thera-
piemaßnahme (B) * Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)
11.13 · Metastasen und Meningeosen
333 11

a b c

. Abb. 11.27a–c. Eingeblutete Hypernephrommetastase in CT ständige KM-Aufnahme mit kleinem knotigen Kerntumor (Pfeil, c).
(a) und MRT (b,c). Geringgradiges Ödem um die Metastase und rand- (B. Kress, Frankfurt)

Exkurs
Suche nach dem Primärtumor
Nicht selten findet man als Ursache einer akuten neurolo- 4 Die Haut sollte dermatologisch inspiziert werden.
gischen Symptomatik in CT oder MRT eine Läsion im Gehirn, 4 Frauen werden gynäkologisch (mit Mammographie)
die auf eine Metastase verdächtig ist. Diese Konstellation – untersucht.
metastasenverdächtiger CT- oder MRT-Befund und bislang
nicht bekanntes Tumorleiden – stellt ein diagnostisches 2. Stufe. Wenn in diesem Untersuchungen kein Tumor ge-
Problem dar, da jetzt in kurzer Zeit eine umfassende Tumor- funden wurde, sollte man zur Vermeidung von Zeitverlust,
suche durchgeführt werden muss. Hierbei darf man nicht insbesondere bei einzelnen Metastasen und guter Operations-
außer Acht lassen, dass Metastasen häufig schnell wachsen, fähigkeit des Patienten, den Neurochirurgen bitten, die Metas-
dass man also nicht zu lange mit der Operation einer soli- tase zu entfernen, um hierüber zu einer Gewebediagnose zu
tären Metastase warten sollte, wenn diese operativ zugäng- kommen.
lich ist. Andererseits sind Neurochirurgen bei der Operation
solitärer Hirnmetastasen, besonderes wenn ein nicht-klein- 3. Stufe. Wenn dies nicht möglich ist, wird in der nächsten
zelliges Lungenkarzinom (NSCLC), das nicht operiert werden Stufe eine Untersuchung von oberem und unterem GI-Trakt
sollte, differentialdiagnostisch erwogen wird, verständlicher- mittels Endoskopie angeschlossen. Eine Bronchoskopie,
weise zurückhaltend, wenn noch nicht bekannt ist, wo der Schilddrüsenszintigramm, Knochenmarkpunktion, dermato-
Primärtumor sitzt, wie ausgedehnt dieser schon ist und logische oder urologische Untersuchung werden je nach
welche anderen Organe schon befallen sind. Ergebnissen der Basisdiagnostik durchgeführt.

1. Stufe. Die Anmeldung für eine MRT des Schädels, falls dies 4. Stufe. Wenn auch diese Stufe noch nicht zu einer Diagnose
nicht die initiale Diagnostik gewesen ist, sollte umgehend geführt hat, wird man bei solitärer Metastase und allgemeiner
erfolgen. Operationsfähigkeit des Patienten die Neurochirurgen bitten,
4 Parallel erfolgt die Aufklärung über eine Lumbalpunk- die Metastase zu entfernen und hierüber zu einer möglichen
tion zur Liquorentnahme. Die notwendigen Untersuchun- Gewebezuordnung zu kommen. Jetzt ist nicht mehr damit zu
gen bei ZNS-Metastasen eines unbekannten Primärtumors rechnen, dass man ein weit fortgeschrittenes Tumorleiden
richten sich nach Tumor- und Metastasenhäufigkeit (. Ta- übersehen hätte. Wo verfügbar, kann ein Ganzkörper-Glukose-
belle 11.3). PET die Suche nach einem Primärtumor abkürzen.
4 Praktisch wird man am ersten Tag das Blut neben der Findet man ein schon weit fortgeschrittenes, auch in
Laborroutine auf Tumormarker einschließlich der neuron- andere Organe metastasiertes Tumorleiden, wird sich auch die
spezifischen Enolase (NSE) (wegen der Assoziation zu NSCLC) Therapie der ZNS-Metastase(n) nach den Therapieoptionen für
untersuchen und Computertomographie des Thorax durch- die Grundkrankheit richten, d.h., wenn von Seiten der Internis-
führen. ten, Gynäkologen oder Chirurgen keine Therapiemöglich-
4 Konsequenterweise folgt jetzt auch die CT von Abdo- keiten bestehen, wird auch die neurologische Behandlung
men und Becken, die in vielen Häusern mit dem Thorax palliativ sein.
als Ganzkörper-CT etabliert ist.
334 Kapitel 11 · Hirntumoren

a b c

. Abb. 11.28. Zerebrale und spinale Meningeosis carcinomatosa. gew. Bild nach Kontrastmittelgabe (c) zeigt sich spinal, typisch für die
Im kontrastmittelverstärkten axialen T1-gewichteten Bild (a, b) zeigt Meningeose, eine saumartige Kontrastmittelaufnahme um das Mye-
sich ein Ausguss der basalen Zisternen sowie der Kleinhirnfoliae (a), lon sowie eine knotige Meningeoseformation um das Myelon bzw.
sowie eine Ausbreitung der leptomeningealen Kontrastmittelaufnah- den Conus
me in den Leptomeningen (b) über der Konvexität. Im sagittalen T1-

3Diagnostik. In der MRT lässt sich oft eine starke 11.13.3 Meningeosis neoplastica
meningeale Anreicherung von Kontrastmittel nachweisen (carcinomatosa)
(. Abb. 11.28). Da dies auch nach LP, wenn auch in geringerem
Maße, vorkommen kann, sollte das MRT vor der LP erfolgen. Unter einer Meningeosis neoplastica versteht man die metas-
Im Liquor finden sich Blasten. Eine Durchflusszytometrie ver- tatische Ausbreitung von Tumorzellen im Subarachnoidal-
11 bessert die diagnostische Aussagekraft der Liquorzytologie bei raum als solide leptomeningeale Metastasen oder als Aussaat
hämatologischen Systemerkrankungen. nicht adhärenter Zellen. Ist die Grunderkrankung ein Karzi-
nom, spricht man von einer Meningeosis karzinomatosa bei
3Therapie. Bei den akuten lymphatischen Leukämien ist einer Leukämie von einer Meningeosis leukaemica.
eine ZNS-Prophylaxe mit hoch dosierter systemischer Zytosta-
tikagabe und intrathekaler Chemotherapie oder zusätzlicher 3Symptomatik und Verlauf. Je nach Lokalisation und Aus-
ZNS-Bestrahlung Bestandteil der Induktionstherapie. dehnung kommt es zu Kopfschmerzen, Hirnnervenausfällen

Facharzt
Intrathekale Chemotherapie bei Meningeose
Für die intrathekale Chemotherapie sind in Deutschland über 14 Tage retardiert freigesetzt, dadurch nur 14-tägige
Methotrexat (MTX), Ara-C, liposomales Cytarabin und Thiotri- Behandlungszyklen.
ethylenephosphoramid (Thiotepa) zugelassen. Die Therapie ARA-C ist zwar nur für die Meningeosis blastomatosa
sollte über ein intraventrikuläres Reservoir zweimal wöchent- zugelassen, wird in einigen Studien auch bei der karzinoma-
lich durchgeführt werden. Die Dosierungen betragen tösen Meningeose eingesetzt. Die Therapie wird bei Abnahme
4 12–15 mg für MTX, des Tumorzellanteils bis zur Liquorsanierung (kein Nachweis
4 40 mg für Ara-C von Tumorzellen in 2–3 Liquoruntersuchungen) fortgeführt.
4 10 mg für Thiotepa. 4 Ist wegen solider Metastasen eine zusätzliche Strahlen-
therapie oder eine systemische Chemotherapie vorgesehen,
MTX gilt als Mittel derWahl. Zur Prävention systemischer wird die intrathekale Chemotherapie i.R. wegen zu hoher
Wirkungen von MTX wird oral Folinsäure, 15 mg, alle 6 h für Neurotoxizität pausiert.
48 h, erstmals 6 h nach der MTX-Injektion, verabreicht (Leu- 4 Bei der Meningeosis neoplastica gibt es neue klinische
kovorin rescue). Erfahrungen mit der intrathekalen Applikation von Mafos-
Die Depotform von Ara-C (DepoCyt® 50 mg, 14tägig), famid, Topotecan und Etoposid. Eine Zulassung besteht im
die in kontrollierten Studien Vorteile gegenüber konventio- deutschen Sprachraum nicht.
neller Ara-C-Therapie gezeigt hat und gegenüber MTX zu-
mindest gleichwertig war, ist in Deutschland für die Behand- Kortison sollte hinzugegeben werden um eine Arachnitis zu
lung der Meningeosis lymphomatosa zugelassen. Ara-C wird vermeiden.
11.14 · Primäre ZNS-Lymphome
335 11
und Liquorstauung. Der Befall der Meningen kann aber auch Jahren war die Patientin wegen eines Mammakarzinoms T2 N1
klinisch asymptomatisch bleiben. Die Infiltration der Menin- M0 brusterhaltend operiert worden.
gen ist besonders ausgeprägt an der Schädelbasis. Dies erklärt Die Diagnose einer Meningeosis carcinomatosa bei Mamma-
die frühen Hirnnervenläsionen (Doppelbilder durch Befall der karzinom führte zur sofortigen Chemotherapie mit Methotrexat
verschiedenen okulomotorischen Hirnnerven, Hypoglossus- und anschließender Bestrahlung von Gehirn- und Rückenmark.
und Fazialisparese). Die häufigsten Primärtumoren sind Mam- Inzwischen ist es einmal zum Rezidiv gekommen, das erneut mit
makarzinome, Bronchialkarzinome, maligne Melanome sowie Methotrexat-Gabe gut beherrscht werden konnte.
Lymphome und Leukämien. Eine Meningeosis kann auch bei
primären Hirntumoren insbesondere bei Germinomen, Me-
dulloblastomen u.a. auftreten. 11.14 Primäre ZNS-Lymphome
Die Meningeosis neoplastica tritt im Verlauf einer malig-
nen Erkrankung in ca 10% auf und ist Ausdruck einer dissemi- 3Epidemiologie. Lymphome des Zentralnervensystems
nierten Erkrankung mit infauster Prognose. machten früher etwa 0,5–2% der intrakraniellen Tumoren aus.
Sie nehmen aber in den letzten Jahren an Häufigkeit deutlich zu
3Diagnostik. MRT: siehe oben. (6–7%). In manchen Serien wird schon eine Häufigkeit von 15%
Liquor: Bei klinischem oder radiologischem Verdacht auf angegeben. Dies ist nicht nur auf die Inzidenz von Lymphomen
eine Meningeosis sind zum Nachweis von Tumorzellen im Li- bei AIDS-Patienten zurückzuführen oder auf die verbesserte
quor nicht selten mehrfache Liquorpunktionen notwendig, Diagnostik, sondern zeigt wohl eine tatsächliche Zunahme von
welche die diagnostische Sensitivität von etwa 70–80 auf >90% Lymphomen in der Bevölkerung, auch ohne Immunsuppres-
(3. Punktion) erhöhen. Der Nachweis von Tumorzellen setzt sion, an.
keine erhöhte Zellzahl voraus. Lymphome betreffen alle Altersgruppen mit einem Gipfel
in der 6. Lebensdekade. Das Auftreten in höherem Lebensalter
3Therapie und Prognose. Die Meningeose bei Mamma- könnte – aufgrund der höheren Lebenserwartung – auch einer
karzinom spricht oft gut auf die Therapie an (Details siehe der Gründe für die relative Zunahme der Lymphome sein. Wir
Facharzt-Box). Auch Rezidive können nochmals erfolgreich unterscheiden
behandelt und Überlebenszeiten von mehreren Jahren können 4 die primären Lymphome des ZNS von
erreicht werden. Dagegen ist die Prognose bei Meningeosen 4 den ZNS-Absiedelungen systemischer Lymphome, meist
durch Bronchialkarzinome oder Melanome sehr schlecht. Die bei Non-Hodgkin Lymphomen.
Patienten überleben meist nur einige Monate. Zu den Lymphome des ZNS bei AIDS 7 Kap. 19.
4 Die intrathekale Chemotherapie kann besser über ein in-
traventrikuläres Reservoir als über wiederholte Lumbalpunk- 3Diagnostik. Die Verdachtsdiagnose eines primären ZNS-
tionen erfolgen. Lymphoms wird mit MRT – ggf. ergänzt durch eine Spektros-
kopie-gestellt. Die Diagnosesicherung erfolgt durch eine Bi-
ä Der Fall opsie oder die Liquorzytologie.
Mit Kopfschmerzen, Übelkeit und Doppelbildern wird eine Bei immunkompetenten Patienten sind ventrikel- und
35-jährige Frau in die Klinik überwiesen. Bei der Aufnahmeunter- mittelliniennahe, ausgedehnte, in 50% der Fälle multipel loka-
suchung findet man eine endgradige Nackensteifigkeit und lisierte, homogen kontrastmittelaufnehmende Läsionen cha-
Abduzensparese links. Die Patientin klagt weiterhin über erheb- rakteristisch (. Abb. 11.29). Histologisch handelt es sich meist
liche Kopfschmerzen und lageabhängiges Übelkeitsgefühl. Das um B-Zell-Lymphome hohen Malignitätsgrades. Das Bild
kraniale Computertomogramm mit und ohne Kontrastmittel kann bei immunsupprimierten Patienten auch atypisch sein
wird als unauffällig befundet. Die Liquoruntersuchung zeigt mit inhomogener Tumordichte und fleckiger, girlandenähn-
eine leichte Eiweißerhöhung (80 mg/dl) und eine Pleozytose licher Kontrastmittelaufnahme, wie beim Glioblastom.
von 20 Zellen. Liquorzytologisch liegen über 80% entdifferen- Als charakteristisch gilt, dass die Lymphommassen unter
zierte Tumorzellen mit reichlich Mitosen vor (. Abb. 11.6). Das Kortisontherapie deutlich zurückgehen. Dies ist einerseits dia-
Kernspintomogramm mit Kontrastmittel zeigt eine deutliche gnostisch hilfreich, andererseits wird unter Kortisontherapie
Anreicherung über den Meningen (. Abb. 11.28). Vor zwei schon nach kurzer Zeit die Aussagekraft einer Biopsie reduziert,
6 so dass man, wenn nicht eine vitale Indikation zur Kortison-

Empfehlungen zur Behandlung der Menigeosis neoplastica*


4 Bei der Meningeosis neoplastica sollte vor der Einleitung intrathekale Chemotherapie – müssen das Ausbreitungsmus-
einer Strahlen- oder Chemotherapie der Versuch einer zyto- ter der Tumormanifestationen sowie der Nachweis gleichzei-
logischen oder histologischen Diagnosesicherung, in der tiger Hirnparenchymmetastasen und extrazerebraler Tumor-
Regel über die Liquorzytologie mit immunzytochemischer manifestationen berücksichtigt werden (B)
Charakterisierung, unternommen werden.
4 Bei der Auswahl der spezifischen Therapie der Menin-
geosis neoplastica – Strahlentherapie, systemische oder * gekürzt nach den Leitlinien der DGN 2008
336 Kapitel 11 · Hirntumoren

a b

11

c d

. Abb. 11.29a–d. Charakteristischer Befund eines primären ZNS- tookzipital, die das Hinterhorn kompimiert. Ödem und Tumor werden
Lymphom in CT (a) und MRT (b-c). Im CT sieht man eine leicht hy- im T2 (b) und T1 (c) MRT noch deutlicher. Die Läsion nimmt massiv
perdense raumfordernde Läsion (Pfeil) mit Begleitödem rechts parie- Kontrastmittel auf (Pfeil)

behandlung besteht, beim Verdacht auf ein Lymphom die Korti- 4 Die alleinige Strahlentherapie, bis vor einigen Jahren
sonbehandlung so lange aussetzen soll, bis eine bioptische Siche- Therapie der ersten Wahl, wurde unter der Zielsetzung einer
rung erfolgt ist. Andererseits macht sichtbare Tumormasse auch Verbesserung der Therapieergebnisse mit einer systemischen
nach einer Steroidtherapie eine positive Biopsie wahrscheinlich. und intraventrikulären Chemotherapie kombiniert. Hiermit
Liquor: Im Liquor können Lymphomzellen gefunden wer- konnte zwar eine deutliche Verlängerung der Überlebenszeit
den. Nur dann kann der Liquor die Biopsie ersetzen. erreicht werden, jedoch wurde, insbesondere bei den über
Auch die Absiedlungen der systemischen Lymphome hal- 60-jährigen Patienten, nahezu ausnahmslos eine Spätneuro-
ten sich meist an die ventrikelnahe Lokalisation. Sie nehmen toxizität mit dementieller Entwicklung beobachtet, so dass die
ebenfalls stark Kontrastmittel auf. Non-Hodgkin-Lymphome Kombinationsbehandlung in der Primärtherapie außerhalb
sind meist die Primärtumoren. Beim M. Hodgkin kommen von Studien wieder verlassen wurde.
auch Metastasen vor, die an Absiedlungen solider Tumoren er- 4 Zwischenzeitlich konnte die Wirksamkeit einer alleinigen
innern. Chemotherapie bei primären Lymphomen des ZNS gezeigt
werden. Neben Cortison sind insbesondere Methotrexat und
3Therapie und Prognose. Die neurochirurgische Resek- Cytosinarabinosid, aber auch Alkylantien und möglicherweise
tion von Lymphomen des ZNS führt wegen häufig diffusen Rituximab, eine intrathekale Behandlung oder eine Hochdo-
Wachstums statistisch nicht zur Verbesserung der Prognose sistherapie wirksam.
und ist nicht indiziert. 4 Unbehandelt oder mit alleiniger Kortisontherapie beträgt
Lymphome des ZNS sind strahlen- und chemosensibel. die mittlere Überlebenszeit wenige Monate, mit alleiniger
11.14 · Primäre ZNS-Lymphome
337 11
Strahlentherapie 12–18 Monate und mit einer Methotrexat ba- Bei Rezidiven nach Chemotherapie bestehen dann mit
sierten Polychemotherapie ist eine mittlere Überlebenszeit von einer erneuten Chemotherapie, Bestrahlung und Steroiden
50 Monaten beschrieben. Vor allem jüngere Patienten (<60 eine weitere Therapieoptionen.
Jahre) haben eine realistische Heilungschance.

Leitlinien Diagnose und Therapie der ZNS-Lymphome*


4 Die Diagnosesicherung erfolgt in der Regel durch eine ziertem Methotrexat in einer Einzeldosis von mindestens 1,5
stereotaktische Biopsie; eine operative Resektion ist nicht g/m2 KOF über 6 Zyklen in den Therapieplan sinnvoll, wobei
sinnvoll (B). während des 1. Zyklus über 10 Tage 3-mal 8 mg Dexametha-
4 Die Diagnostik muss eine augenärztliche Untersuchung son pro Tag gegeben werden sollten (B).
inklusive Spaltlampenuntersuchung, ein Staging zum Aus- 4 Eine Hochdosis-Chemotherapie mit BCNU und Thiotepa,
schluss eines okkulten systemischen Lymphoms und einen gefolgt von einer autologen Stammzelltransplantation und
HIV-Test umfassen (B). einer Ganzhirnbestrahlung, führte bei Patienten bis zum 65.
4 Chemotherapie allein oder Chemotherapie mit Strahlen- Lebensjahr zu einem 5-JahresÜberleben von 69%
therapie ist die Behandlung der Wahl (B). Welche Therapie
bei primärem ZNS-Lymphom am wirksamsten und gleichzei-
tig am wenigsten toxisch ist, wird in Deutschland derzeit in
klinischen Studien untersucht. Daher wird der Einschluss von
Patienten in diese Therapiestudien empfohlen (s. u.).
4 Können oder wollen Patienten nicht in Studien einge- * Gekürzt nach den Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/
schlossen werden, ist der Einschluss von systemisch appli- leitlinien.html)

Facharzt
Therapiefolgen
Bestrahlungsfolgen Strahlenleukenzephalopathie. Eine diffuse, homogene
Heute sind Strahlenschäden des zentralen und peripheren Demyelinisierung der weißen Substanz der Hemisphären ist
Nervensystems aufgrund der großen technischen und metho- für die Strahlenleukenzephalopathie charakteristisch. Im CT
dischen Fortschritte in der Strahlentherapie selten geworden. erscheinen die subkortikalen Strukturen stark hypodens. Kli-
Plexusschäden nach Bestrahlung der Axilla bei Mammakarzi- nisch ist eine psychomotorische Verlangsamung mit möglicher
nom oder Cauda-equina-Läsionen nach Bestrahlung von dementieller Entwicklung auffällig. Die Strahlenleukenzepha-
Prostata oder Enddarmtumoren sieht man kaum noch. Selbst lopathie tritt vor allem nach Ganzhirnbestrahlung (60 Gy) mit
in unmittelbarer Nachbarschaft zu Hirnnerven, z.B. bei Hypo- intrathekaler Chemotherapie auf.
physenmetastasen, kann die Bestrahlung ohne Schädigung
gesunden Gewebes durchgeführt werden. Chemotherapiefolgen
Viele der heute gängigen Zytostatika sind neurotoxisch und
Strahlennekrose. Nach stereotaktischer Einzeitbestrahlung führen zu Funktionsstörungen peripherer Nerven (Polyneuro-
und bei Implantation von interstitiellen Strahlenquellen pathie, 7 Kap. 32) und zu zentralen Symptomen, die Anfälle,
kommt es in einem geringen Prozentsatz zur Strahlennekro- psychotische Episoden, Verwirrtheit und Bewusstseinsstörun-
se, einer zystischen Nekrose mit deutlichem Randödem. Der gen umfassen. Diese Symptome treten sowohl bei der syste-
Nekroserand kann Kontrastmittel aufnehmen, die Läsion mischen Chemotherapie von extrakraniellen Primärtumoren
kann raumfordernd werden und ist in CT und MRT oft nicht als auch bei der Behandlung von ZNS-Malignomen auf. Tabel-
von einem Tumorezidiv zu unterscheiden (. Abb. 11.30). le 11.4 gibt eine Übersicht der häufigsten systemischen, neu-
Vermutlich liegt neben der direkten Parenchymstörung rotoxischen Nebenwirkungen gängiger Chemotherapeutika.
auch noch eine venöse Abflussstörung durch Obliteration Pseudoregression ist eine klinisch oft relevante Reduk-
von benachbarten Venen zugrunde. Manchmal ist eine tion der T1-affinen Tumoranteile, die als Konsequenz der
Nekrosenexstirpation notwendig. Sonst gibt man Dexame- Wiederherstellung der Bluthirnschrankenintegrität sowie der
thason und subkutan Heparin. Gefäßnormalisierung durch angiogenesenormalisierende
Pseudoprogression ist eine klinisch oft inapparente Substanzen und nicht als Reduktion der vitalen Tumormasse
bildgebende Progression, die als Konsequenz der Therapie eingeschätzt wird.
und nicht als Konsequenz eines Tumorwachstums einge-
schätzt wird und ohne Wechsel der Maßnahmen, möglicher- Opportunistische Infektionen
weise mit niedrig dosiertem Dexamethason, reversibel ist. Bei aggressiver, systemischer Chemotherapie (und bei AIDS)
Die Strahlenvaskulitis in benachbarten Gefäßen kann kommt es zu opportunistischen Infektionen, wie der progre-
auch zu arteriellen Gefäßokklusionen führen, besonders ssiven, multifokalen Leukenzephalopathie, die durch das
nach Schädelbasisbestrahlung. JC-Virus, ein Papova-Virus, verursacht wird.
338 Kapitel 11 · Hirntumoren

a b

11

. Abb. 11.30. Strahlennekrose. Im axialen T2-gewichteten Bild (a)


sowie im axialen T1-gewichteten Bild nach Kontrastmittelgabe (b)
zeigen sich eine Raumforderung links temporal mit Umgebungsödem
(a) sowie girlandenförmiger Kontrastmittelaufnahme (b), welche sich
bildmorphologisch nur schwer von einem Glioblastomrezidiv differen-
zieren lässt. In der MR-Spektroskopie (c) zeigt sich dann keine Erhö-
hung des Proliferationsmarkers Cholin (Pfeil), sondern Lipidsignale
c
und Laktat als Ausdruck für Nekrose (gepunkteter Pfeil)
11.14 · Primäre ZNS-Lymphome
339 11

. Tabelle 11.4. Neurotoxische Nebenwirkungen von Chemotherapeutika


Stoffklasse Neurotoxische Symptome Ausprägung
Mitosehemmstoffe
Vinca-Alkaloide
Vincristin, Vinblastin Sensomotorische Polyneuropathie, +++
Hirnnervenausfall, Enzephalopathie, vegetative Störungen ++
Taxane
Taxol Sensomotorische Polyneuropathie +
Alkylanzien
Platinkomplexe
Cisplatin, Carboplatin Sensomotorische Polyneuropathie ++
Ototoxizität +
Stickstoff-Lost-Derivate
Ifosfamid Psychose, Enzephalopathie, Hirnnervenausfall, zerebelläre Funktionsstörung +
Cyclophosphamid Hochdosis: Enzephalopathie +
Nitrosoharnstoffe
Nimustin ACNU Enzephalopathie, Verwirrtheit +
Carmustin BCNU Enzephalopathie, Verwirrtheit +
Lomustin CCNU Enzephalopathie, Verwirrtheit +
Andere Alkylanzien
Procarbazin Enzephalopathie, Koma, zerebelläre Funktionsstörung, +
sensomotorische Polyneuropathie +
Hexamethylmelamin (HMM) Enzephalopathie, Halluzinationen, +++
Tremor, Spastik, ++
sensible Polyneuropathie ++
Folsäureantagonisten
Methotrexat (MTX) Arachnopathie, +
(intrathekal) epileptische Anfälle, Leukenzephalopathie +
Pyrimidinanaloga
Cytosinarabinosid (ARA-C, Alexan) Enzephalopathie, Somnolenz, +
Halluzinationen, epileptische Anfälle, Ataxie ++
Fluorouracil (5-FU) Enzephalopathie, Somnolenz, Ataxie +

In Kürze

Klinik der Hirntumoren Ödem. Symptome des erhöhten Hirndrucks: Psychische


Symptome; Stauungspapille, Blutungen in Netzhaut, Erbre-
Prävalenz: 50/100.000 Einwohner/Jahr chen. Ophthalmologische und neurologische Symptome bei
WHO-Malignitätsgrade: Grad I: postoperative Überlebens- Herniation sowie Abfall des Blutdruckes, Koma, Hirntod.
zeit: >5 Jahre; II: 3–5 J.; III: Astrozytom, 2–3 J; Oligodendrogli-
ome 3–6 J.; Grad IV: hochmaligne T., 6–15 Monate. Diagnostik
Symptome: Kopfschmerzen durch Meningendehnung; Neuroradiologische Diagnostik. MRT: Lokalisation, Stö-
Epileptische Anfälle als Frühsymptom bei Tumoren der rungen der Bluthirnschranke, Voraussage über Tumorhomoge-
Großhirnhemisphäre; Neuropsychologische Auffälligkeiten nität/-inhomogenität, Grad der Massenverschiebung, Begleit-
als Frühsymptom eines Hirntumors; fokale Symptome. ödem. Darstellung früherer oder frischer Blutungen, Tumorart,
-dignität, Abgrenzung Tumor und Ödem, solitäre und multiple
Hirnödem und intrakranielle Drucksteigung Hirnmetastasen.
Hirnödem in Umgebung von Tumoren, zunächst gleichsei-
tige Hemisphäre, wird kompensatorisch ausgepresst, mit Hirnbiopsie. Offen (inkl. Tumorverkleinerung) oder stereotak-
Hirngewebe gefüllt. Weiterer Verlauf: Druckanstieg, Einklem- tisch in Lokalanästhesie.
mung (Herniation) durch Verlagerung von Gewebe und
6
340 Kapitel 11 · Hirntumoren

Labor. Normaler Liquor, unspezifische Eiweißerhöhung Anfälle als Frühsymptome, neurologische Herdsymptome.
durch Blut-Hirn-Schrankenstörung. Diagnostik: CT, MRT. Therapie: Totale Resektion, postopera-
tive Rezidive häufig, Strahlen-, Chemotherapie.
Therapie
Operative Therapie. Radikale Resektion zur Verringerung Anaplastische Oligodendrogliome (WHO-Grad III). Infil-
der Tumormasse, bei Hirntumoren ab WHO-Grad II postope- trierend wachsende, multilokulär auftretende Tumoren.
rative Bestrahlung. Diagnostik: MRT. Therapie: Resektion, anschließend Chemo-
therapie.
Strahlentherapie. Schutz benachbarter, strahlenempfind-
licher Risikostrukturen möglich, niedrige Strahlenschäden im Ependymale Tumoren (WHO-Grad II)
umgebenden, gesunden Hirngewebe.
Ependyme. Langsam wachsende Großhirngeschwülste des
Chemotherapie. Verschiedene Therapieschemata abhängig Kindes- und Jugendalters. Symptome: Hydrozephalus mit
vom Tumorsubtyp. Hirndruckzeichen, Querschnittsymptome. Diagnostik: MRT,
Liquor. Therapie: Shuntlegung, totale Resektion, Strahlen-
Hirndrucktherapie. Besserung von Kopfschmerzen, Vigilanz, therapie.
neurologischen Herdsymptomen.
Primitiv neuroektodermale Tumoren (WHO-Grad IV)
Astrozytäre Tumoren (Gliome)
Medulloblastome. Rasch wachsende, undifferenzierte Ge-
Pilozytische Astrozytome (WHO-Grad I). Langsam wach- schwülste des Kindes- und Jugendalters im Kleinhirnwurm.
sende, gut abgegrenzte Tumoren des Kindes- und Jugend- Symptome: Erbrechen, Rumpfataxie mit Fallneigung, Stau-
alters, in Strukturen der Mittellinie, in Kleinhirn, Hirnstamm, ungspapillen. Diagnostik: MRT. Therapie: Totale Resektion,
Thalamus. Strahlen-, Chemotherapie.

Astrozytome (WHO-Grad II). Sehr langsam, gut abgegrenzt Mesenchymale Tumoren (WHO-Grad I)
11 und homogen wachsende Tumoren des mittleren Lebens-
alters. Symptome: Epileptische Anfälle, Malignisierung des Meningeome. Langsam gegen das Gehirn wachsende, gut
Tumors. Diagnostik: MRT. Therapie: Radikale Resektion abgegrenzte Tumoren des mittleren und fortgeschrittenen
bei kleineren Tumoren, postoperative Strahlen-, Chemothe- Alters. Symptome: Spätepilepsie, Entwicklung neurologischer
rapie. Herdsymptome. Diagnostik: CT, MRT, Angiographie. Thera-
pie: Präoperative Embolisation, totale Resektion, Strahlenthe-
Ponsgliome (WHO-Grad II oder III). Tumoren des Erwach- rapie.
senenalters in Großhirnhemisphäre, frontal oder temporal,
mit lebensbedrohlichen Hirndruckkrisen. Diagnostik: MRT, Nervenscheidentumoren (WHO-Grad I)
Liquor. Therapie: Falls möglich, Resektion.
Vestibularis-Schwannome. Gutartige Tumoren des Kleinhirn-
Anaplastische Astrozytome (WHO-Grad III). Rasch wach- brückenwinkels. Symptome: Einseitiger Hörverlust, peripherer
sende Tumoren, neigen zu Einblutungen, Begleitödem. Vestibularisausfall, Fazialislähmung. Diagnostik: BAEP, MRT,
Symptome: Hirndruck, gehäufte Anfälle. Diagnostik: MRT, EMG, Liquor. Therapie: HNO-chirurgische, transkranielle Ope-
Liquor. Therapie: Resektion oder Biopsie mit Strahlenthera- ration oder Radiotherapie.
pie, Chemotherapie bei Rezidiven.
Hypophysentumoren (WHO-Grad I)
Glioblastome (WHO-Grad IV). Infiltrierend, subkortikal
wachsende Tumoren in Großhirnhemisphäre mit Blutungs- Intrasellär wachsende Tumoren mit asymmetrischer Auswei-
neigung. Symptome: Kopfschmerzen, Übelkeit, Lähmungen. tung der Sella, Ausdünnung des Dorsum sellae, supra- und
Diagnostik: MRT, Liquor. Therapie: Subtotale Resektion, paraselläres Wachsen. Symptome hormonproduzierender
kombinierte Radiochemotherapie mit Temozolomid, Thera- Tumoren: Riesenwuchs bei Erkrankung in Jugend, Akromega-
pie in klinischen Studien, Strahlen-, Chemotherapie, Rezidive. lie bei Erwachsenen, Diabetes mellitus, Infertilität, Oligome-
norrhoe, Stammfettsucht, Libido-, Potenzverminderung. Endo-
Oligodendrogliale Tumoren krine Mangelsymptome, Anämie, Müdigkeit, Gesichtsfeldde-
fekte bei hormoninaktiven Tumoren. Diagnostik: MRT, Ge-
Oligodendrogliome (WHO-Grad II). Histologisch gutartige, sichtsfeldbestimmung. Therapie: Transsphenoidale Operation
aber schlecht abgegrenzte Hemisphärentumoren des mittle- durch Nase, medikamentöse Therapie, bei Rezidiv Strahlenthe-
ren Lebensalters. Symptome: Fokale oder generalisierte rapie, nach Totaloperation Hormonsubstitution.
6
11.14 · Primäre ZNS-Lymphome
341 11

Kraniopharyngeome (WHO-Grad I) Meningeosis blastomatosa. Häufig ZNS-Beteiligung.


Diagnostik: MRT, Liquor. Therapie: Hoch dosierte syste-
Benigne oder semimaligne, destruierend und verdrängend mische Zytostatikagabe, intrathekale Chemotherapie, ZNS-
wachsende Tumoren des Kindes-, Jugend- und jüngeren Bestrahlung.
Erwachsenenalters. Symptome: Kopfschmerzen, Erbrechen,
im Wachstum zurückgeblieben, hypothalamische Störungen, Meningeosis neoplastica. Metastatische Ausbreitung
Stauungspapille, Gesichtsfelddefekte. Diagnostik: MRT. von Tumorzellen im Subarachnoidalraum. Symptome:
Therapie: Operation, Zystenentleerung, Strahlentherapie, Kopfschmerzen, Hirnnervenausfälle. Diagnostik: MRT,
Hormonsubstitution. Liquor. Therapie: Intrathekale Chemotherapie, Strahlen-
therapie.
Metastasen und Meningeosen (WHO-Grad IV)
Intrakranielle maligne Lymphome (WHO-Grad IV)
Solide Metastasen. Komplikation eines Tumorleidens.
Symptome: Allgemeine psychische Störungen, Gewichtsab- Lymphome des Zentralnervensystems aller Altersgruppen.
nahme, Husten, Verdauungsstörungen, beschleunigte BSG, Diagnostik: MRT, Liquorserologie, -zytologie, FACS oder
Anämie. Diagnostik: MRT, Liquor. Therapie: Medikamentöse PCR auf Ig-Rearrangements. Therapie: Chemo-, Strahlen-
Therapie, Operation bei einzelnen Metastasen, Strahlenthe- therapie.
rapie.
12

12 Spinale Tumoren
12.1 Epidemiologie, Ätiologie und klinische Leitsymptome – 344
12.1.1 Epidemiologie – 344
12.1.2 Ätiologische Einteilung – 344
12.1.3 Lokalisation und klinische Symptome – 344
12.1.4 Querschnittssyndrom – 344

12.2 Diagnostik spinaler Tumoren – 344


12.2.1 Neuroradiologische Diagnostik – 345
12.2.2 Liquordiagnostik – 346
12.2.3 Elektrophysiologie – 346

12.3 Therapieprinzipien – 346


12.3.1 Chirurgisch – 346
12.3.2 Strahlentherapie – 347
12.3.3 Chemotherapie – 347
12.3.4 Schmerztherapie und Palliativmedizin – 347

12.4 Spezielle Aspekte einzelner spinaler Tumorformen – 347


12.4.1 Extradurale Tumoren – 347
12.4.2 Extramedulläre, intradurale Tumoren – 348
12.4.3 Intramedulläre Prozesse – 349
344 Kapitel 12 · Spinale Tumoren

> > Einleitung Zahlenmäßig an erster Stelle stehen die Neurinome, dann
folgen die Meningeome vor den Gefäßfehlbildungen, den
Das Leitsymptom spinaler raumfordernder Läsionen ist die Quer- Ependymomen, den eigentlichen Gliomen (pilozytisches As-
schnittssymptomatik. Spinale Tumoren sind seltener als intrakrani- trozytom, Astrozytom) und den bösartigen Wirbelprozessen.
elle und histologisch häufig gutartig. Raumfordernde, spinale
Entzündungen, Gefäßfehlbildungen des Rückenmarks und Band-
scheibenkrankheiten sind in anderen Kapiteln behandelt. Ätiolo- 12.1.3 Lokalisation und klinische Symptome
gisch so unterschiedliche Krankheitsprozesse, wie primäre Tumo-
ren des Rückenmarks, seiner Wurzeln und Häute, Metastasen in Die klinischen Symptome spinal raumfordernder Läsionen las-
Rückenmark und Wirbeln und Granulome der Wirbel, verursa- sen sich durch die Höhenlokalisation der Läsion im zervikalen,
chen sehr ähnliche neurologische Symptome, so dass klinisch die thorakalen, lumbalen und sakralen Spinalkanal oder, in Höhe
ätiologische Differentialdiagnose in vielen Fällen nur durch die der Läsion, durch ihre Beziehung zum Rückemark beschreiben
Zusatzdiagnostik gelingt. Die Einförmigkeit der Symptomatik und erklären. Im Durchmesser unterscheiden wir intramedul-
beruht darauf, dass das Rückenmark in seinen Kerngebieten und läre (intraaxiale) von extramedullären (extraaxialen) Tumoren,
Bahnsystemen verhältnismäßig einfach gebaut ist und nur einen die wiederum intradural oder extradural sitzen können.
geringen Durchmesser hat. Bleiben raumfordernde spinale Pro- 4 Etwa ein Drittel aller Rückenmarkstumoren sitzt extra-
zesse unerkannt, führen sie auch bei histologischer Gutartigkeit medullär und intradural. Es handelt sich vor allem um Neuri-
zur Querschnittslähmung. nome und um Meningeome. Sie sind in der Regel gut operabel.
4 Mehr als ein Drittel der Tumoren wächst primär extradu-
ral. Unter diesen überwiegen die bösartigen Wirbelprozesse:
12.1 Epidemiologie, Ätiologie Metastasen, Sarkome und Plasmozytome.
und klinische Leitsymptome 4 Am seltensten sind intramedulläre Geschwülste, vorrangig
Ependymome, pilozytische Astrozytome und andere Gliome.
12.1.1 Epidemiologie Bei diesen sind der chirurgischen Behandlung auch dann enge
Grenzen gesetzt, wenn die Tumoren histologisch gutartig
Spinale Tumoren sind seltener als Hirntumoren. Im Spinal- sind.
kanal überwiegen mit etwas über 60% die gutartigen Ge- 4 Extramedulläre Tumoren werden oft erst sekundär, nach
schwülste. Diese Tumoren können jedoch nur dann erfolgreich Einengung des Subarachnoidalraums und Kompression der
operiert werden, wenn die Diagnose rechtzeitig gestellt wird, Rückenmarkstrukturen von außen symptomatisch.
12 d.h. bevor es zu einer irreparablen Kompression des Rücken-
marks oder zu einer gefäßabhängigen Markerweichung ge-
kommen ist. 12.1.4 Querschnittssyndrom

3Altersverteilung. Die Kurve hat einen flachen Verlauf mit Die spinalen Syndrome, wie sie in 7 Kap. 1.13 ausführlich be-
einem Plateau zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr. 10–15% schrieben sind, sind auch für spinale raumfordernde Läsionen
aller Rückenmarktumoren werden im Kindes- und Jugendalter charakteristisch. Im fortgeschrittenen Stadium führen alle un-
manifest. Dabei handelt es sich vorwiegend um bösartige Tu- behandelten spinalen Tumoren, sofern sie oberhalb des Conus
more und um Gliome. Für das mittlere Lebensalter (30–50 medullaris sitzen, zur kompletten Querschnittslähmung. Diese
Jahre) sind Ependymome, Neurinome und Gefäßtumoren kann sich in Stunden, Tagen, manchmal aber auch langsam
7 Kap. 11) charakteristisch. Jenseits des 50. Lebensjahres über- fortschreitend über Wochen, Monate und selbst Jahre entwi-
wiegen die Meningeome. In diesem Alter sind auch die Metas- ckeln. Durch Beeinträchtigung der spinalen Zirkulation kön-
tasen und Plasmozytome häufig. nen vorübergehend Verschlechterungen und Remissionen
eintreten, die Verwechslungen mit spinalen Durchblutungsstö-
rungen oder spinalen Entzündungen entstehen lassen.
12.1.2 Ätiologische Einteilung Eine Querschnittslähmung kann schon sehr früh, wenn der
spinale Tumor noch nicht weit fortgeschritten ist, innerhalb von
3Tumorarten. Obwohl sich Rückenmark und Gehirn ent- wenigen Stunden einsetzen, wenn der Tumor die Blutzufuhr
wicklungsgeschichtlich aus den gleichen Bauelementen zu- zum Rückenmark gedrosselt oder unterbrochen hat, so dass
sammensetzen, unterscheidet sich die relative Häufigkeit der eine sekundäre Rückenmarkischämie eintritt. Diese sekundäre
einzelnen Geschwulstarten in den beiden Abschnitten des ZNS Markerweichung, die vor allem bei extramedullären Tumoren
beträchtlich. So sind im Rückenmark die Gliome in der Min- eintritt, begrenzt die Aussichten des Kranken auf eine erfolg-
derzahl, Oligodendrogliome und Glioblastome werden nur reiche Operation, selbst bei einem gutartigen Tumor.
selten beobachtet. Auch Metastasen in die Rückenmarksubs-
tanz kommen nur ganz vereinzelt vor, während sie als sekundär
raumfordernde, extradurale Metastasen in das Achsenskelett 12.2 Diagnostik spinaler Tumoren
häufig sind. Blutungen in den Tumor, die im Gehirn eine
wichtige Komplikation sind, treten bei Rückenmarktumoren Anders als bei den Hirntumoren, kann man aus dem neuro-
kaum auf. logischen Untersuchungsbefund allein immer nur ungefähr
12.2 · Diagnostik spinaler Tumoren
345 12
die Lokalisation des vermuteten Tumors festlegen. Oft ver- und der Myelographie überlegen. Größere Gefäßmissbildun-
mutet man klinisch den Sitz der Geschwulst aufgrund der gen stellen sich in der MRT gut dar, jedoch bleibt deren exakte
topischen Gliederung der spinalen Bahnsysteme zu tief. Die Diagnose eine Domäne der spinalen Angiographie. Andere
exakte Höhenlokalisation und vor allem die Feststellung, extramedulläre Tumoren sind in der MRT so gut nachweisbar,
welche Längsausdehnung der Tumor hat, d.h. über wie viele dass eine Myelographie oft entbehrlich ist.
Segmente er sich erstreckt, ist nur durch Zusatzuntersuchungen Im Zusammenspiel mit der CT (Myelo-CT) erhält man
möglich. bei extraduralen Läsionen oft wertvolle Zusatzinformationen,
wenn eine akute Querschnittsläsion unklarer Ursache vorliegt
und eine MRT nicht sofort zu erhalten ist, dem Patienten keine
12.2.1 Neuroradiologische Diagnostik MRT zugemutet werden kann oder die Höhenlokalisation kli-
nisch nicht möglich ist. Die Myelo-CT erlaubt die Feststellung
3MRT und Myelo-CT. Die genaue, topographische Zuord- der Höhe eines Stops mit der initialen Myelographie, macht
nung (Höhe, Lage im Querschnitt, Längenausdehnung) muss danach die CT mit intraspinalem Kontrastmittel möglich und
durch bildgebende Verfahren gesichert werden. Für die intra- liefert noch den Liquor. Auch abnorme Gefäße heben sich in
medullären Prozesse ist die MRT der Computertomographie dem kontrastmittelgefüllten Liquorraum ab.

Exkurs
Raumfordernde Entzündungen und Bandscheibenvorfälle als spinal raumfordernde Läsionen
Die oben gegebene Einteilung und Lokalisation gilt auch für 4 Die raumfordernde Myelitis ist ein primär intramedullärer,
die Entzündungen mit raumforderndem Charakter: entzündlicher Tumor, während die Arachnitis, wie schon der
4 Abszesse können extradural (Spondylitis oder Diszitis), Name sagt, intradural extramedullär liegt.
intradural – extramedullär (Subduralempyem) und intra- 4 Bandscheibenprozesse sind primär extradural, Sequester
medullär liegen. können nach intradural vordringen (7 Kap. 3.1)
4 Intramedulläre Abszesse kommen hämatogen und bei
Parasiten vor.

Facharzt
Symptome spinaler Tumoren
Frühsymptome hyperästhetische Zone oder ein konstanter Sensibilitätsausfall
Intramedulläre Tumoren. Die ersten Symptome setzen nachweisen. Oft ist das Nackenbeugezeichen nach Lhermitte
häufig schleichend ein. Die zentrale Lähmung beginnt meist (7 Kap. 1.11.2) positiv. Die Dauer der Anamnese ist oft länger
als Spannungsgefühl und Steifigkeit in den Beinen oder als als beim intramedullären Tumor, weil die Patienten wegen
Schwäche in den Armen. An der oberen Begrenzung der ihrer Schmerzen lange Zeit unter anderen Diagnosen konser-
Geschwulst besteht nicht selten eine periphere Lähmung, vativ behandelt werden.
die durch Läsion der Vorderhörner zustande kommt. Sensib-
le Strangsymptome, die als unscharf abgegrenzte Missemp- Spätsymptome
findungen in den distalen Gliedabschnitten empfunden Intramedulläre Tumoren führen zu einem fortschreitenden
werden, haben eine dumpfe, brennende Qualität und wel- Syndrom der zentralen Rückenmarkschädigung (7 Kap.
lenförmigen Verlauf. Sie werden oft schon durch leichte 1.13.3), die letztendlich in einem kompletten, das heißt senso-
Berührung ausgelöst und verstärken sich nicht oder kaum motorischen und vegetativen Querschnittsyndrom endet. Die
bei Erhöhung des spinalen Drucks. Eine Läsion der Pyrami- Lähmung ist dann in der Regel spastisch.
denvorder- und -seitenstränge kann schon früh zu spinalen Wächst ein extramedullärer Tumor weiter, zerstört er die
Automatismen führen. Diese zeigen sich als unwillkürlich Wurzel und dehnt sich im Querschnitt des Spinalkanals aus.
eintretende, spontan oder durch sensible Reize ausgelöste Dann lassen die Wurzelsymptome nach, und es stellen sich
Bewegungen eines oder beider Beine oder einer intermittie- Rückenmarksymptome ein, die von der Lokalisation der Ge-
renden spastischen Tonuserhöhung. Blasen- und Mastdarm- schwulst an der Zirkumferenz des Marks bestimmt werden.
störungen sind nur selten Frühsymptome. Druck von ventral führt zur langsamen Entwicklung eines
Spinalis-anterior-Syndroms mit frühzeitigen Blasenstörungen,
Extramedulläre Tumore. Die Symptome sind für intra- Druck von lateral zum Brown-Séquard-Syndrom und Druck
und extradurale Lokalisation vergleichbar Radikuläre, d.h. von dorsal zu Parästhesien und zur Beeinträchtigung der
segmentale Schmerzen oder Sensibilitätsstörungen, die sich Berührungs- und Lageempfindung (sensible Ataxie) durch
bei Erhöhung des spinalen Drucks durch Husten, Pressen Läsion der Hinterstrangbahnen. Bei den extramedullären
oder Niesen verstärken, sind charakteristisch. Diese Schmer- Tumoren kann man auch jetzt rein neurologisch nicht zwi-
zen und sensiblen Störungen können den Lähmungen schen extra- und intraduralem Sitz unterscheiden. Letztendlich
mehrere Jahre vorangehen. Sobald mehr als eine Wurzel entsteht auch hier unbehandelt ein komplettes Querschnitt-
betroffen ist, lässt sich in den betroffenen Segmenten eine syndrom.
346 Kapitel 12 · Spinale Tumoren

. Abb. 12.1. Spinaler Befall bei multi-


plem Myelom. Sagittale T2-gewichtete
Sequenz (a) sowie sagittale, fettgesättigte
T1-gewichtete Sequenz nach Kontrastmit-
telgabe (b) zeigen eine hyperintense Wir-
belkörperinfiltration in multiplen lumbalen
und sakralen Wirbelkörpern mit einer Wir-
belkörperfraktur von LWK 1 (Pfeile), welche
von ventral den Epikonus komprimiert

a b

Auch bei spinaler Meningeosis carcinomatosa ist die kon- geben. Das EMG hilft bei der Aufdeckung peripherer Nerven-
trastmittelverstärkte MRT, zusammen mit der Liquoruntersu- läsionen. Transkranielle Magnetstimulation und sensibel evo-
chung (s.u.) entscheidend. zierte Potentiale sind bei den nicht so seltenen psychogenen
Ein lumbales CT oder MRT bei einer zervikalen oder tho- Querschnittsyndromen hilfreich. Urologische Methoden hel-
rakalen Läsion führt zwangsläufig zur Fehldiagnose und fen bei der Quantifizierung von Blasenstörungen.
falschen Sicherheit. Verdacht auf Knochenmetastasen kann
> Spinale Tumoren sind oft erst durch die Auswertung
durch Knochenszintigraphie erhärtet werden.
einer großen Zahl von Befunden aus der neurolo-
Es ist ein unverzeihlicher Fehler, bei einer spastischen Läh-
gischen Untersuchung und den technischen Hilfsme-
mung der Beine mit Hilfe der CT oder MRT nach einer raum-
thoden zu diagnostizieren.
fordernden Läsion im Lumbalkanal zu suchen. Die Läsion
12 muss aus anatomischen Gründen höher liegen. In einzelnen
Fällen kann die CT-gesteuerte Feinnadelpunktion eines extra- ä Der Fall
duralen Tumors die histologische Diagnose sichern. Ein 78 Jahre alter Rentner wird notfallmäßig in die Klinik ge-
bracht, nachdem in den letzten zwei Tagen eine zunehmende
Schwäche beider Beine und Rückenschmerzen aufgetreten sind.
12.2.2 Liquordiagnostik Bei der Aufnahmeuntersuchung findet sich eine schlaffe, nahezu
vollständige Paraparese und eine Überlaufblase. Ein sensibles
Bei der Lumbalpunktion findet man oft eine Eiweißvermeh- Niveau ist bei etwa Th8–9 festzustellen. Die MRT zeigt den in
rung bei normaler Zellzahl. Eine besonders starke Eiweißerhö- . Abbildung 12.1 wiedergegebenen Befund. Es handelt sich um
hung findet sich bei kompletten Querschnittsläsionen, wenn einen akuten Querschnitt bei Einbruch eines Plasmozytoms in
keine Liquorzirkulation mehr möglich ist (»Stop-Liquor«). Bei dem Spinalkanal (extradurale, raumfordernde Läsion). Da compu-
spinaler Karzinose können allerdings auch Tumorzellen nach- tertomographisch nur ein Wirbelkörper massiv befallen war und
gewiesen werden. Mit der Liquoruntersuchung können die anderen in ihrer Form und Höhe erhalten waren, war eine
4 der Befall des Liquors mit Tumorzellen nachgewiesen, sofortige orthopädische Operation indiziert, und der Patient
4 eine prognostisch wichtige Staging-Information erhalten wurde anschließend bestrahlt. Die Querschnittssymptomatik
sowie bildete sich bis auf eine mittelgradige 3/5 Paraparese zurück, der
4 einige Differentialdiagnosen überprüft werden. Patient musste mit einem suprapubischen Katheter versorgt
werden. Beim weiteren Staging zeigte sich ein Befall multipler
Dazu gehören entzündliche Ursachen (7 Kap. 21), bei denen Knochen durch das Plasmozytom.
spezifische Untersuchungen (Tuberkulose-PCR, Liquorserolo-
gie bei Parasiten, immunologische Untersuchungen bei Myelitis
und direkter Keimnachweis bei Empyemen) erforderlich sind. 12.3 Therapieprinzipien
12.3.1 Chirurgie
12.2.3 Elektrophysiologie
Wenn nach Lage, Ausdehnung und Schweregrad der Symp-
Die vergleichende Untersuchung der SEP (somatosensorisch tome möglich, sollte die neurochirurgische Operation an-
evozierte Potentiale) nach Stimulation des N. tibialis und des gestrebt werden. Daneben kommen in Einzelfällen auch stabi-
N. medianus kann Anhaltspunkte für eine Brustmarkläsion lisierende orthopädische Operationen in Frage.
12.4 · Spezielle Aspekte einzelner spinaler Tumorformen
347 12
12.3.2 Strahlentherapie ausgehen, d.h. von ventral her gegen das Rückenmark vordrin-
gen, kommt es lumbal bald durch Läsion der vorderen Wurzeln
Viele maligne Tumoren sprechen auf eine Strahlentherapie an, zu schlaffen, thorakal dagegen zu zentralen Paresen.
die bei Metastasen und Wirbelbefall bei Lyphomen oder Plas-
mozytom und schnell fortschreitender Symptomatik auch not- 3Diagnose. Neben der üblichen und entscheidenden bild-
fallmäßig, auch zum Beherrschen der mit den Tumoren ver- gebenden Diagnostik mit der MRT (. Abb. 12.1) und CT findet
bunden Schmerzen, erfolgen muss. man in den Laborbefunden häufig eine erhöhte Aktivität der
alkalischen Phosphatase, bei Primärkarzinom in der Prostata
auch der PSA. Bei der Tumorsuche (7 Kap. 11) werden auch die
12.3.3 Chemotherapie Tumormarker bestimmt. Der Liquor bringt selten entschei-
dende, zytologische Befunde.
Chemotherapie kommt leider nur selten zur Anwendung, zum
Beispiel bei der Meningeosis carcinomatosa oder leucaemica. 3Therapie und Prognose. Die Prognose ist auf längere
Sicht infaust: Viele Kranke sterben innerhalb eines Jahres. Eine
Operation kommt selten in Frage. Die Behandlung mit Zyto-
12.3.4 Schmerztherapie und Palliativmedizin statika, lokaler Röntgenbestrahlung, Hormontherapie bei
Mammakarzinom und Prostatakarzinom sowie Behandlung
In manchen, oft spät diagnostizierten Fällen ist nur die mit radioaktivem Jod bei jodspeicherndem Schilddrüsenkar-
Schmerztherapie, die antispastische Therapie, die Rehabilitati- zinom kann den Verlauf aufhalten und sogar eine gewisse
on mit Rollstuhltraining (meist bei gutartigen Tumoren) und Rückbildung der Querschnittssymptomatik bewirken.
eine umfassende Palliativmedizin möglich.
Bösartige, primäre Wirbelprozesse
3Ätiologie. Am häufigsten ist das Plasmozytom. Es kann in
12.4 Spezielle Aspekte einzelner den Wirbeln als solitärer Herd auftreten. Häufiger ist multipler
spinaler Tumorformen Befall von Wirbeln (und anderen Knochen, z.B. Schädel, Be-
cken) oder ausgedehnte Osteoporose, auch mit Spontanfrak-
12.4.1 Extradurale Tumoren turen.
Die Symptome sind denen von Metastasen vergleichbar.
Extradurale Metastasen
3Ätiologie. Bei den Metastasen handelt es sich in erster 3Diagnostik. Oft sind die sonst typischen Laborbefunde
Linie um Karzinommetastasen. In der Reihenfolge der Häufig- (BSG in der ersten Stunde über 100, Elektrophorese, Immun-
keit aufgeführt, gehen diese von Primärtumoren in der Lunge, elektrophorese, Nachweis von Plasmazellen im Differential-
der Mamma, der Prostata, im Uterus, Magen, in der Niere und blutbild und in der Beckenstanze) noch unverdächtig.
in der Schilddrüse aus. Die Metastasierung erfolgt meist häma-
togen, nur selten liegt direktes lokales Tumorwachstum vor. 3Therapie. Hier ist nur zytostatischeTherapie und die Be-
Die Symptome der spinalen Metastasen können auftreten, be- strahlung, bei starken Schmerzen in Kombination mit Opiaten
vor ein Primärtumor nachzuweisen ist. Betroffen sind vor und Biphosphonaten, sinnvoll. Für alle bösartigen Wirbelpro-
allem thorakale und lumbosakrale Wirbel. zesse gilt, dass bei sehr starken Schmerzen eine palliative Ver-
steifung der betroffenen Wirbelabschnitte mit schnell här-
3Symptome. Am Anfang stehen hartnäckige, therapiere- tenden Kunststoffen vorübergehend eindrucksvolle Linderung
sistente Schmerzen. Da die Prozesse meist vom Wirbelkörper bringen kann.

Facharzt
Pancoast-Tumor
3Lokalisation. Der Pancoast-Tumor sollte an seinen nose. Später zerstört der Tumor die Querfortsätze der unteren
charakteristischen peripheren neurologischen Symptomen Halswirbelkörper, wächst in den Spinalkanal ein und führt
diagnostiziert werden, bevor er den Epiduralraum erreicht über eine zentrale Parese der Beine zur Querschnittslähmung.
hat. Diese Tumoren wachsen, wenn sie aus der Lungenspitze 3Therapie. Wenn ein Horner-Syndrom vorliegt, hat der
ausbrechen, zunächst in den unteren Armplexus ein und Tumor die Lungenspitze bereits verlassen. Auch diese Tumo-
erreichen bald das Ggl. stellatum. ren können noch operiert werden, jedoch besser nach einer
3Symptome. Pathognomonisch ist folgende Symptom- Vorbestrahlung von 20–25 Gy, bei der sich eine Schwiele bil-
kombination: heftige Armschmerzen, untere Plexuslähmung det, unter deren Schutz die Operation leichter möglich ist. In
mit Schwellung der Hand (infolge Lymphstauung oder Ab- der Regel ist aber nur eine Palliativoperation möglich, wenn
flussbehinderung in der V. subclavia), Horner-Syndrom und Rippen, Plexus und Muskeln befallen sind. Röntgenbestrah-
Verminderung oder Verlust der Schweißsekretion im entspre- lung kann bei Befall des Plexus brachialis die Schmerzen lin-
chenden oberen Körperquadranten. Bildgebende Verfahren dern, zytostatische Therapie ist bestenfalls beim kleinzelligen
in Weichteil- oder Knochentechnik eignen sich zur Frühdiag- Bronchialkarzinom indiziert.
348 Kapitel 12 · Spinale Tumoren

Meningeale Tumoren
Sarkome, die von den Leptomeningen oder der Adventitia der
Gefäße ausgehen, leukämische Durainfiltrate oder lokale Ma-
nifestationen von Lymphomen können rasch zur Querschnitts-
lähmung führen. Sie reagieren manchmal gut auf Strahlenbe-
handlung und auf intrathekale und/oder systemische Gabe von
Zytostatika. Bei vorangegangener, lokaler Bestrahlung stellt
sich die Differentialdiagnose zur Strahlenmyelopathie.

Differentialdiagnose der extramedullären, extradu-


ralen Tumoren
Die wichtigsten Differentialdiagnosen dieser Tumoren sind
4 der Bandscheibenvorfall (7 Kap. 31.7),
4 orthopädische Krankheiten der Wirbelsäule a b

> Die Mehrzahl der extraduralen Tumoren sind bös- . Abb. 12.2. Spinales Meningeom. Sagittale T2-gewichtete Se-
artige Wirbelprozesse, die in den Spinalkanal einbre- quenz (a) sowie sagittale T1-gewichtete Sequenz nach Kontrastmittel-
chen gabe (b) zeigen eine extramedulläre scharf begrenzte Raumforderung
mit Kontrastmittelaufnahme in Höhe von BW 10/11

12.4.2 Extramedulläre, intradurale Tumoren 3Therapie und Prognose. Neurinome sind im Allgemei-
nen gut operabel. Nach erfolgreicher Operation rezidivieren
Neurinome sie nicht. Lähmungen und Blasenstörungen bilden sich gut,
3Epidemiologie und Lokalisation. Die spinalen Neuri- Sensibilitätsstörungen teilweise wieder zurück. Die meisten
nome sind die häufigsten spinalen Tumoren. Männer und Patienten können wieder ihrem Beruf oder einer verwandten
Frauen sind gleich häufig betroffen. Neurinome gehen von den Arbeit nachgehen. Die Prognose ist schlechter, wenn der Tu-
hinteren Wurzeln aus. Sie können sich auf jeder segmentalen mor zu spät erkannt wurde und eine Rückenmarkkompression
Höhe bilden. Besonders häufig findet man sie aber im oberen bereits längere Zeit bestanden hat. Eine maligne Variante sind
und mittleren Halsmark und im oberen Brustmark. Nicht sel- die Neuroblastome.
12 ten, besonders wenn sie bei einer Neurofibromatose Typ 2 vor-
kommen, sind sie multipel. In ihrer Längsausdehnung erstre- Meningeome
cken sie sich oft über mehrere Segmente. Im Querschnitt des 3Epidemiologie und Lokalisation. Die Meningeome sitzen
Spinalkanals sitzen sie entweder innerhalb des Duralraums mit einer festen Haftstelle an der Dura, meist an der dorsola-
oder aber teils intra-, teils extradural. Die Neurinome können teralen Zirkumferenz des Rückenmarks, und werden in der
auch durch ein Foramen intervertebrale aus dem Spinalkanal Regel etwa bohnengroß (. Abb. 12.2). Gelegentlich erstrecken
herauswachsen. Das Zwischenwirbelloch wird dabei durch Ar- sie sich fingerförmig über mehrere Segmente. Auch die spi-
rosion des Knochens erweitert, dennoch ist der Tumor in die- nalen Meningeome sind bei Frauen häufiger als bei Männern.
ser Region weniger ausgedehnt und zeigt die charakteristische Ihr bevorzugter Sitz ist das Hals- und das obere und mittlere
Form einer extraspinalen und intraspinalen Raumforderung, Brustmark.
die von einer schlanken Brücke verbunden wird (Sanduhrge-
schwulst). 3Symptome. Entsprechend beginnt die Symptomatik
meist mit einer langsam fortschreitenden Paraspastik mit Ge-
3Symptome. Die Tumoren wachsen äußerst langsam, das fühlsstörungen in den Händen und Fingern. Radikuläre
Nervengewebe verdrängend. Die klinische Symptomatik be- Schmerzen sind weit seltener als bei Neurinomen, während der
ginnt stets mit einseitigen, radikulären Schmerzen, die sich bei weitere Verlauf ähnlich ist.
Erhöhung des spinalen Drucks verstärken. Im weiteren Verlauf
können die Schmerzen wieder geringer werden und, wenn die 3Diagnose. MRT und Myelo-CT sichern die Diagnose,
Wurzel zerstört ist, ganz aussetzen. Später entwickelt sich lang- SEP können bei der Höhenlokalisation helfen.
sam, oder durch Abklemmung der A. spinalis anterior auch
akut, eine asymmetrische Querschnittslähmung. 3Therapie. Auch Meningeome werden operativ entfernt.
Allerdings ist die Prognose für die Rückbildung der Symptome
3Diagnose. Neurinome stellen sich in der MRT gut dar. Sie weniger günstig als bei den Neurinomen.
führen fast immer durch Stauungstranssudation aus Wurzel-
gefäßen zu einer deutlichen Erhöhung des Eiweißgehalts im Lipome
Liquor. Die seltenen Lipome sitzen dorsal, vorwiegend in Höhe der
thorakalen und lumbosakralen Segmente. Sie erstrecken sich
über mehrere Segmente. Symptomatik und Verlauf sind ähn-
lich wie bei den Meningeomen. Die Operationsprognose ist
12.4 · Spezielle Aspekte einzelner spinaler Tumorformen
349 12
trotz der histologischen Gutartigkeit schlechter, weil sich das
Lipom oft nicht gut vom Rückenmark abtrennen lässt, sondern
infiltrierend entlang der Septen einwächst.

Kaudatumoren
Die Kaudatumoren werden hier besprochen, weil sie formal
intradurale, extramedulläre Tumoren sind.

3Epidemiologie. Unter den Kaudatumoren steht das Epen-


dymom an erster Stelle. Es ist in dieser Lokalisation eine weich-
glasige Geschwulst, die an den Kaudafasern oder in einer
Längsausdehnung bis zu 10 cm am Filum terminale sitzt. Wei-
ter kommen Neurinome der Wurzeln, Metastasen und ganz
selten Meningeome vor.

3Symptome. Die Symptomatik setzt meist erst in der zwei-


ten Hälfte des Lebens ein. Unter Schmerzen entwickeln sich
langsam, über Jahre hin fortschreitend, eine schlaffe Lähmung
der Beine, Reithosenhypästhesie und Blasenstörungen. Der
Verlauf kann auch Remissionen zeigen, die auf wechselnder
Behinderung der Blutzirkulation beruhen.

3Diagnose. Der Liquor enthält in der Regel, obwohl er


. Abb. 12.3. Spinales Ependymom im MRT. Zwei ausgedehnte
oberhalb des Tumors entnommen wird, eine leichte Eiweiß-
zystische Läsionen im zervikalen Rückenmark (Pfeile). Unterhalb der
vermehrung bis zu 0,5–0,7 g/l. Tumorzellen können zytolo- kaudalen Tumormasse sieht man ein ausgedehntes Ödem. (B. Kress,
gisch nachgewiesen werden. MRT und Myelo-CT sichern die Frankfurt)
Diagnose.

3Therapie und Prognose. Die Operationsprognose ist gut,


allerdings hängt die postoperative Restitution davon ab, in wel- 4 Durch EMG und NLG kann eine Polyneuritis der Cauda
chem Maße die Geschwulst mit den Kaudafasern direkt oder equina (Elsberg-Syndrom, 7 Kap. 32.6) ausgeschlossen wer-
über eine lokale Arachnopathie verbacken war. Nachbestrah- den.
lung ist sinnvoll, Rezidive sind häufig. In vielen Fällen muss 4 Auch das Syndrom des engen lumbalen Spinalkanals hat
man mit neurologischen Restsymptomen rechnen. Gemeinsamkeiten mit dem Kaudasyndrom.

Differentialdiagnose der extramedullären,


intraduralen Tumoren 12.4.3 Intramedulläre Prozesse
Die wichtigsten Differentialdiagnosen intraduraler extraaxi-
aler Tumoren sind Ependymome
4 die funikuläre Spinalerkrankung (7 Kap. 28.1), 3Epidemiologie und Ätiologie. Mehr als die Hälfte der in-
4 die chronische, zervikale (7 Kap. 31.8.3) oder vaskuläre tramedullären Tumoren sind Ependymome (. Abb. 12.3). Sie
Myelopathie, wachsen zystisch oder solide im Hinterstrangfeld des Rücken-
4 spinale Angiome (7 Kap. 10) und marks (dorsale Schließungsrinne) in einer Längsausdehnung
4 die chronische spinale Verlaufsform der Multiplen Sklero- von mehreren Segmenten. Auch die pilozytischen oder WHO-
se (7 Kap. 22). Grad II-Astrozytome können ein ähnliches Wachstum haben.

Facharzt
Andere Kaudaprozesse
Dieselbe Prognose haben auch die stets solitären Dermoide Dieser Befund erleichtert, im Zusammenhang mit der
und Epidermoide der Kauda, die in einem langsamen Krank- langen Vorgeschichte, die Diagnose. Ein Kaudasyndrom
heitsverlauf zu einer ähnlichen Symptomatik (unvollständi- kommt in chronischer Entwicklung auch beim M. Bechterew
ges Kaudasyndrom) führen. Durch Austreten von Cholesterin vor und beruht auf Wurzelschädigung durch Arachnopathia
und Fettsäuren kommt es bei diesen Missbildungstumoren cystica.
zu einer chronischen aseptischen Entzündung mit Zellver-
mehrung im Liquor.
350 Kapitel 12 · Spinale Tumoren

Wir sprechen in diesen Fällen vom »Stiftgliom«. Die übrigen dymome können nach Spaltung des Rückenmarks in der Me-
Gliome, z.B. Astrozytom oder Glioblastom, sind im Rücken- dianebene oft entfernt werden. Gelingt das nicht vollständig
mark sehr selten. Die intramedullären Gliome und Paragliome oder tritt später ein Rezidiv ein, ist Strahlentherapie angezeigt.
finden sich vor allem in den zervikalen und thorakalen Seg- Myxopapilläre Ependymome an den lumbalen Fasern werden
menten. immer nachbestrahlt. Weiter fortgeschrittenen Erkrankungen
werden chemotherapeutisch mit Carboplatin und Etoposid
3Symptome, Diagnostik und Therapie. Die Symptome oder Temozolomid behandelt.
setzen meist im frühen Erwachsenenalter ein. Da die Tumore
sich horizontal und vertikal im Rückenmark ausdehnen, ergibt 3Differentialdiagnose der intramedullären Tumoren. Die
sich neurologisch kein einheitliches Bild. Die Diagnose wird wichtigsten Differentialdiagnosen intraduraler extraaxialer
durch MRT oder Myelo-CT gestellt. Die Liquoruntersuchung Tumoren sind vergleichbar den o.g. bei den intraduralen Tu-
ist unergiebig. Intramedulläre Tumoren sollen, wenn nach Lo- moren.
kalisation und Ausdehnung möglich, operiert werden. Epen-

Empfehlungen zur Behandlung spinaler Tumore und Metastasen*


Bei spinalen Metastasen wurde die Überlegenheit der kom- keit keinen Unterschied zwischen je 8 Gy an 2 Tagen und
binierten Behandlung aus Resektion, gefolgt von der Strah- einem protrahierten Regime von 3°—5 Gy, gefolgt von 5°—3
lentherapie, gegenüber alleiniger Strahlentherapie bezüglich Gy. Bei drohender Gehunfähigkeit infolge spinaler Metastasen
der Gehfähigkeit nach Abschluss der Therapie als primärem muss unverzüglich die Indikation zur operativen Therapie
Endpunkt in einer randomisierten Studie belegt (84% vs. geprüft werden (A)
52%) (Patchell et al. 2005). Auch die Dauer des Erhalts der
Gehfähigkeit wurde signifikant verlängert.
Eine randomisierte Studie zur Strahlentherapie spinaler * nach den Empfehlungen der DGN 2008
Metastasen ergab bezüglich Gehfähigkeit und Verträglich- (www.dgn.org/leitlinien.html)

In Kürze
12
Diagnostik spinaler Tumoren

Klinisch: Komplette Querschnittslähmung durch Unterbre- Bösartige, primäre Wirbelprozesse: Solitärer Herd in Wir-
chung oder Drosselung der Blutzufuhr zum Rückenmark beln, multipler Befall von Wirbeln oder ausgedehnte Osteo-
durch Tumor. Diagnostik durch neurologische Untersuchung porose. Diagnostik: Laborbefunde noch unverdächtig.
und technische Hilfsmitteln. Therapie: Zytostatika, Strahlen-, Schmerztherapie.
MRT: Darstellung größerer Gefäßfehlbildungen, genaue, Meningeale Tumoren führen rasch zur Querschnittslähmung.
topographische Zuordnung; Spinale Angiographie: Exakte Therapie: Strahlentherapie, Zytostatika.
Diagnose der Gefäßmissbildungen; Myelo-CT: Darstellung Differentialdiagnose: Bandscheibenvorfall, orthopädische
extraduraler Läsionen; Liquor: Eiweißvermehrung bei nor- Krankheiten der Wirbelsäule.
maler Zellzahl, stärke Eiweißerhöhung bei kompletter Quer-
schnittsläsion; EMG: Aufdeckung peripherer Nervenläsionen. Extramedulläre, intradurale Tumoren. Neurinome: Lang-
sames, Nervengewebe verdrängendes Wachstum von hinteren
Therapie Wurzeln aus, im oberen, mittleren Halsmark und oberen Brust-
Chirurgische, Strahlen-, Chemo-, bei Spätdiagnose Schmerz-, mark. Symptome: Einseitige, radikuläre Schmerzen, asymmet-
antispastische Therapie. rische Querschnittslähmung. Diagnostik: MRT, Liquor. Thera-
pie: Gut operabel.
Spinale Tumorformen Meningeome: Spinale Meningeome am Hals-, oberen und
mittleren Brustmark. Symptome: Langsam fortschreitende
Extradurale Tumoren. Extradurale Metastasen gehen von Paraspastik mit Gefühlsstörungen in Händen und Fingern.
Primärtumoren in Lunge, Mamma, Prostata, Uterus, Magen, Diagnostik: MRT, Myelo-CT, SEP. Therapie: Operabel mit
Niere und Schilddrüse aus. Metastasierung hämatogen. schlechterer Prognose.
Symptome: Hartnäckige, therapieresistente Schmerzen, Lipome sitzen dorsal, meist in Höhe thorakaler, lumbosakraler
Paresen. Diagnostik: CT, MRT, Liquor. Therapie: Zytostatika, Segemente. Symptome: Langsam fortschreitende Paraspastik.
Strahlen-, Hormontherapie, Behandlung mit radioaktivem Jod. Therapie: Operabel mit schlechterer Prognose.
6
12.4 · Spezielle Aspekte einzelner spinaler Tumorformen
351 12

Kaudatumoren: Weich-glasige Geschwulst an Kaudafasern Ependymome. Zystisches oder solides Wachsen im Hinter-
oder Filum terminale. Symptome: Schmerzen, schlaffe Bein- strangfeld des Rückenmarks. Symptome: Durch horizontales
lähmung, Reithosenhypästhenie, Blasenstörungen. Diagnos- und vertikales Ausbreiten der Geschwülste kein einheitliches
tik: MRT, Myelo-CT, Liquor. Therapie: Gut operabel, bei Bild. Diagnostik: MRT, Myelo-CT. Therapie: Operation, Be-
Rezidiven Nachbestrahlung. strahlung bei Rezidiv oder nicht vollständiger Entfernung.
Differentialdiagnose: u.a. funikuläre Spinalerkrankung, Differentialdiagnose: Chronische, zervikale oder vaskuläre
chronische, zervikale oder vaskuläre Myelopathie, spinale Myelopathie, spinale Angiome, chronische spinale Verlaufs-
Angiome, chronischer, spinaler Verlauf der MS. form der MS, spinale Durchblutungsstörung.
13

13 Paraneoplastische Syndrome
13.1 Paraneoplastische zerebelläre Degeneration (PCD) – 355

13.2 Lambert-Eaton-myasthenes-Syndrom (LEMS) – 355

13.3 Paraneoplastische Enzephalomyelitiden – 357


13.3.1 Limbische Enzephalitis (LE) – 357
13.3.2 NMDA-Rezeptor-antikörperpositive Enzephalitis – 357
13.3.3 Bulbäre Enzephalitis (Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom, POM) – 358
13.3.4 Paraneoplastische Myelitis – 358
13.3.5 Paraneoplastische, amyotrophische Lateralsklerose (ALS) – 358
13.3.6 Paraneoplastisches Stiff-person-Syndrom – 358

13.4 Subakute, sensorische Neuropathie (SSN) – 359

13.5 Myopathie, Polymyositis und Dermatomyositis – 359


354 Kapitel 13 · Paraneoplastische Syndrome

> > Einleitung eine primär gegen den Tumor gerichtete Antikörperantwort
durch Kreuzreaktion mit neuronalen Antigenen eine Dysfunk-
Die Fortschritte in der Behandlung maligner Tumoren erfolgen tion des Nervensystems. Paraneoplastische Funktionsstörun-
zwar langsam, aber stetig. Heute werden wir auch in der Neurolo- gen am Nervensystem können lange vor dem auslösenden
gie mit Tumorfolgekrankheiten konfrontiert, die man früher nicht Neoplasma manifest werden.
kannte, da die Patienten bislang die Tumorkrankheit selbst nicht
überlebten. 3Diagnose. Die Diagnose eines paraneoplastischen Syn-
In diesem Kapitel werden Krankheiten beschrieben, die als droms wird durch den Nachweis distinkter Autoantikörper im
Folgeerscheinungen von systemischen Malignomen am Nerven- Serum (. Tabelle 13.1) erleichtert. Zur Tumorsuche bei anti-
system manifest werden. In vielen Fällen ist der Primärtumor körperpositiven Patienten ist die Ganzkörper-Fluordesoxyglu-
bekannt und wird behandelt und dann tritt die – vermutlich cose (FDG)-PET sinnvoll. Während früher die Diagnose eines
immunologisch bedingte – Beteiligung des Nervensystems ein. PNS eine Ausschlussdiagnose darstellte, wenn keine andere
In anderen Fällen kommt es vor, dass sich ein neurologisches Differenzialdiagnose gestellt werden konnte, ist ein PNS heute
Syndrom entwickelt und beim Versuch der Aufklärung der Krank- nach den Diagnosekriterien des europäischen Netzwerks (PNS
heit ein maligner Tumor bzw. Antikörper aufgedeckt werden, die Euronetwork) eine nach klaren Kriterien zu stellende Diagno-
typisch für eine malignomassoziierte, immunologisch vermit- se. Hierbei kann zwischen einem definitiven und einem mög-
telte, paraneoplastische Krankheit sind. lichen paraneoplastischen Syndrom unterschieden werden.
Diese Krankheiten werden häufiger und vielfältiger. Einige Die für die Diagnosestellung relevanten klinischen Fragen
davon, die man heute schon gut kennt und charakterisiert hat, sind:
werden in diesem Kapitel besprochen. 4 Liegen andere Differenzialdiagnosen vor?
4 Ist das neurologische Syndrom »klassisch« paraneoplas-
Vorbemerkungen tisch, d.h. also relativ häufig mit einem Tumor assoziiert?
3Definition. Paraneoplastische Syndrome (PNS) sind defi- 4 Liegen gut charakterisierte und an einer ausreichenden
niert als erworbene Autoimmunerkrankungen. Sie entstehen Anzahl von Patienten und Kontrollen getestete Antikörper
infolge einer gegen sog. »onkoneurale« oder antineurale Anti- vor, die bestimmte Antigene in Neuronen und Tumoren er-
gene gerichteten humoralen Immunreaktion. Hierbei erzeugt kennen?

. Tabelle 13.1. Paraneoplastische Syndrome: serologische Tests


Antikörper Klinischer Bezug* und typischer Tumor Gerichtet gegen
1. VGCC-AK LEMS Spannungsgesteuerter Ca2+-Kanal
Kleinzelliges Bronchialkarzinom (SCLC)
13 2. Anti-Yo AK (PCA1) PCD Purkinje-Zellen
Ovarialkarzinom, Mammakarzinom
3. Anti-Hu AK (ANNA1) PEM, limbische Enzephalitis, SSN Neuronale Nuklei
SCLC
4. Anti-Ri AK (ANNA2) POM, PCD Neuronale Nuklei
Mammakarzinom, SCLC
5. Anti-Ma2 AK (Ta) Limbische Enzephalitis, Hirnstammenzephalitis, PCD ZNS/Testis-spezifisches Protein
Seminom, Bronchialkarzinom
6. Anti-CV2 AK (CRMP5) PEM, SSN, limbische Enzephalitis, PCD Oligodendrozytenprotein
Mammkarzinom, SCLC, Thymom
7. Anti-Amphiphysin AK Stiff-person-Syndrom Synapsenprotein
Mammakarzinom, SCLC
8. Anti Tr-AK PCD Unbekannt
M. Hodgkin
9. Anti-Jo1 AK Polymyositis, Dermatomyositis Histidyl-transfer RNA-Synthetase
Verschiedene Tumoren
10. Anti VGKC-AK Limbische Enzephalitis, stiff-person-Syndrom Spannungsgesteuerter Kaliumkanal
11. Anti-NMDA-AK NMDA-AK-positive Enzephalitis NMDA-Rezeptoren
Ovarialteratom
12. GAD-Antikörper Limbische Enzephalitis
Bronchialkarzinom, Hodentumoren
VGCC, voltage-gated calcium channel; ANNA, antineuronale nukleäre Antikörper.
* Abkürzungen siehe Text
13.2 · Lambert-Eaton-myasthenes-Syndrom (LEMS)
355 13
13.1 Paraneoplastische zerebelläre handlung des Syndroms gezeigt. Neben unterstützenden Maß-
Degeneration (PCD) nahmen und der Behandlung der zugrunde liegenden Tumor-
erkrankung kann aber ein Steroidpuls in Analogie zur MS (ggf.
3Epidemiologie. Die mit diesem Syndrom assoziierten nach 6–8 Wochen wiederholen) sowie eine Therapie mit i.v.
Malignome sind bei Frauen, die insgesamt etwas häufiger be- IG (2 g/kg KG) verteilt über 5 Tage gegeben werden. Bleibt der
troffen sind, überwiegend gynäkologische Tumoren, während Erfolg mindestens 10–14 Tagen aus, kann eine Plasmapherese,
bei Männern Lungenkarzinome, kolorektale Karzinome und ein Immunadsorption oder eine Behandlung mit Cyclophos-
Lymphome im Vordergrund stehen. phamid (ab 750 mg/m2 i.v. alle 4 Wochen) angeschlossen
werden. Auch Rituximab wird immer wieder versucht. Die Er-
3Pathologie und Pathophysiologie. Pathologisch-anato- folge sind zweifelhaft und Nebenwirkungen nicht selten. Bei
misch findet man: Verlust der Purkinje-Zellen, Atrophie des Erfolglosigkeit der Therapie werden keine immunologischen
Nucl. dentatus und Gliaproliferation. Der Prozess kann das Dauerbehandlungen empfohlen.
Kleinhirn zur Brücke und zum Rückenmark hin überschreiten. In Assoziation mit Lymphomen ist die Gesamtprognose
Pathophysiologisch liegt ein Autoimmunprozess gegen die etwas besser, insgesamt ist die Prognose jedoch sehr schlecht
Purkinje-Zellen des Kleinhirns zugrunde, der zu einem nahe- und die therapeutische Beeinflussbarkeit gering.
zu vollständigen Verlust dieser Zellen führt.

3Symptome und Verlauf. Die Patienten entwickeln im 13.2 Lambert-Eaton-myasthenes-Syndrom


mittleren Lebensalter akut oder subakut ein Kleinhirn-Syn- (LEMS)
drom, das dem in Kap. 24 für die sporadische Spätatrophie der
Kleinhirnrinde beschriebenen sehr ähnlich ist: 3Epidemiologie. Das Lambert-Eaton-Syndrom ist meist
4 Extremitätenataxie, an den Beinen mehr als an den Armen (50–80%) mit kleinzelligen Bronchialkarzinom assoziiert.
ausgeprägt, Andererseits entwickeln nur etwa 3–5% der Patienten mit
4 Rumpfataxie mit Vorwärts- und Rückwärtsschwanken, kleinzelligen Bronchialkarzinomen (small cell lung cazinoma
4 Gangataxie und Standataxie, SCLC) Symptome eines Lambert-Eaton-Syndroms. Die Pa-
4 Nystagmus, okuläre Dysmetrie und Störungen der oku- tienten haben häufig noch andere Autoimmunkrankheiten.
lären Folgebewegungen, Die Assoziation an andere Karzinome ist weitaus seltener.
4 Dysarthrie. Das Lambert-Eaton-Syndrom kann in jedem Lebensalter
auftreten, findet sich aber bevorzugt im mittleren Lebens-
Zusätzliche klinische Symptome wie Spastik, Motoneuronde- alter. Äußerst selten ist das idiopathische, nicht paraneo-
generation, Demenz und Polyneuropathie können hinzutre- plastische LMS. Bevor man dies diagnostiziert, sollte man die
ten. paraneoplastische Genese mehrfach ausgeschlossen haben,
und danach immer noch die Diagnose regelmäßig hinter-
3Diagnose. Diagnostisch ist der Nachweis von Purkinje- fragen.
Zell-Antikörpern (Anti-Yo) charakteristisch. Anti-Yo-Anti-
körper sind nahezu immer mit gynäkologischen Tumoren 3Pathophysiologie. LEMS-Patienten haben, anders als Pa-
assoziiert. Andere mit einem definitiven PNS assoziierte Anti- tienten mit Myasthenia gravis, keine Antikörper gegen Acetyl-
körper/Tumorerkrankungspärchen sind: Anti-Hu (SCLC, cholinrezeptoren. Acetylcholin wird normal gespeichert. Die
Prostata-Ca, Neuroblastom), Anti-Ta (Seminom), CV2/Anti- Aktivität des synthetisierenden Enzyms Acetylcholinesterase
CRMP5 (SCLC, Thymom), Anti-Amphipysin (SCLC) oder und die Zahl der postsynaptischen Acetylcholinrezeptoren
ANNA-3 (. Tab. 13.1) Im Liquor sind Eiweiß und oft Zellen sind normal. Dem Syndrom liegen, insbesondere bei einer As-
leicht vermehrt. Oligoklonale Banden und Zeichen autochtho- soziation mit SCLC, Antikörper gegen spannungsgesteuerte
ner IgG-Produktion sind möglich, da die antineuronalen An- Kalziumkanäle am präsynaptischen motorischen Terminal zu-
tikörper häufig intrathekal produziert werden. grunde. Es kommt zur verminderten Freisetzung von Acetyl-
cholin und zur damit verbundenen Muskelschwäche. Häufig
3Differentialdiagnose. Das Zusammenspiel von Demenz ist auch die vegetative, cholinerge Übertragung gestört. Ande-
und Polyneuropathie können die Unterscheidung von einer re ein definitives paraneoplastisches LEMS definierende Anti-
Alkoholschädigung schwierig machen. Zusätzliche Hirn- körper sind Hu-Antikörper in Verbindung mit SCLC, Prosta-
stammsymptome lenken den Verdacht auf eine Heredoataxie. ta-Karzinom sowie Neuroblastom.
Bei entzündlich verändertem Liquor muss man auch an infek-
tionsassoziierte (Epstein-Barr-Virus) subakute Kleinhirndege- 3Symptome. Das LEMS beginnt mit myasthener Ermüd-
nerationen denken. Eine Verwechslung mit einem Kleinhirn- barkeit der Beckengürtelmuskulatur, während Ptose, Dop-
tumor ist kaum möglich (keine Kopfschmerzen, keine Stau- peltsehen und Schluckstörung, wenn überhaupt, erst später
ungspapille). Im Zweifelsfall schließt das MRT diese Differen- auftreten. Hierdurch lässt sich meist bereits klinisch eine Ab-
tialdiagnose aus. grenzung gegen die Myasthenia gravis pseudoparalytica
(7 Kap. 34) treffen. Die Muskelschwäche bleibt auch später
3Therapie und Prognose. Immunsuppressive Maßnahmen überwiegend proximal an den Extremitäten lokalisiert. Bul-
haben bislang keine überzeugende Wirksamkeit in der Be- bäre Symptome sind möglich. Die Augenmuskeln sind prak-
356 Kapitel 13 · Paraneoplastische Syndrome

Facharzt
Anmerkungen zu den Antikörpertests*
Ziel der Autoantikörperdiagnostik ist eine optimale diagnos- verfügbar (z.B. für Ma-1). Jedes Testergebnis sollte mit einem
tische Spezifität und Sensitivität unter ökonomischen Ge- zweiten Test anderer Methodik bestätigt werden.
sichtspunkten. Daher sollte bei der Diagnostik antineuro- Die Verwendung unterschiedlicher Testsysteme erschwert
naler Autoantikörper Folgendes berücksichtigt werden: die Vergleichbarkeit der Ergebnisse.
Jedes Serum sollte mittels Immunhistochemie sowie mit Nach den neuen Diagnosekriterien genügt der Nachweis
Western Blot untersucht werden. In der Immunhistochemie einer »klassischen« Antikörperreaktion (Anti-Hu, Yo, Ri, Ma, Ta,
sollten Schnitte aus z.B. Rattenkleinhirn, Hirnstamm (beides CV2, Amphiphysin) zur Diagnose eines »definitiven« paraneo-
mit zentralen Neuronen), Plexus myentericus (mit peripheren plastischen Syndroms, auch wenn bisher kein Tumor diagnos-
Neuronen, z.B. zur Differenzierung von anti-Hu und anti-Ri) tiziert wurde (B).
verwendet werden. Im Western Blot sollten ein Neuronenex- Die Antikörperbestimmungen sollten auf zwei unabhän-
trakt aus Kleinhirn oder die einzelnen verfügbaren rekombi- gigen Labormethoden (Blot und Histochemie) beruhen, eine
nanten Proteine verwendet werden. Ein Screening mittels Methode genügt nicht (B).
Immunhistochemie allein wird aufgrund des teils sehr Die Antikörper-Spezifität hilft bei einer gezielten Tumor-
schwierig zu interpretierenden Färbeverhaltens z.B. die anti- suche; eine breite Tumordiagnostik sollte ein FDG-PET beinhal-
Ma und anti-Ta Reaktivität übersehen, umgekehrt zeigt ten (B).
beispielsweise die anti-Tr Reaktivität keine Bande im Routi-
ne-Western-Blot.
Viele der auf ihre klinische Relevanz hin gut charakteri-
sierten Antikörperreaktivitäten sind erst seit kurzem be- * Gekürzt, nach den Leitlinien der DGN, 2005 und 2008
schrieben. Daher sind die Tests oft noch nicht kommerziell (www.dgn.org/leitlinien.html)

tisch nie beteiligt. Auffällig ist, dass die Muskelschwäche bei Labor: An erster Stelle steht der Nachweis von charakteristi-
kurzdauernder Übung deutlich besser wird, bei längerer schen, das LEMS definierenden Antikörpern gegen die span-
Belastung jedoch wieder abnimmt. Vegetative Symptome nungsgesteuerten Kalziumkanäle (siehe Pathophysiologie,
schließen Mundtrockenheit und Potenzstörungen, vermin- Facharzt und Exkurs).
dertes Schwitzen, Verstopfung, Harnverhalt ein. Eigenreflexe Internistische Diagnostik: CT-Thorax, Bronchoskopie
sind meist verschwunden, können aber nach leichter Be- mit Histologie, beides bei negativen Ergebnissen auch wieder-
lastung kurzzeitig wiederkehren. Parästhesien können vor- holt, dann auch Ganzkörper-FDG-PET.
13 kommen. 4 Tensilontest. Der Tensilon-Test ist, wenn überhaupt, nur
Die myasthenen Symptome gehen in der Regel der Mani- leicht positiv. Serologisch kann die Diagnose durch den Nach-
festation des zugrunde liegenden Tumors voraus. Die Diagno- weis von Antikörpern gegen den spannungsgesteuerten Kal-
se eines LEMS macht die Suche nach einer zugrunde liegenden ziumkanal nachgewiesen werden. Bei sehr vielen Patienten
Tumorkrankheit erforderlich. Das LEMS kommt aber auch als lässt sich HLA-B 8 nachweisen.
nichtparaneoplastische Autoimmunerkrankung vor.
3Therapie. Neben der kausalen Therapie, der Behandlung
3Diagnose. EMG: Charakteristisch ist der Befund im der zugrunde liegenden Tumorkrankheit, ist eine symptoma-
Stimulations-EMG: Bei niedrigen Stimulationsfrequenzen tische Besserung möglich:
nehmen die schon ohnehin niedrigen Muskelantwortpotenti- 4 Steigerung der neuromuskulären Überleitung: Die
ale an Amplitude weiter ab (Dekrement), während sie bei Kraft kann mit 3,4-Diaminopyridin (bis zu 60–80 mg täg-
hochfrequenter Stimulation (40–50 Reize je Sekunde) nach lich, auf mehrere Dosen von 10–20 mg verteilt) durch ver-
kurzem, initialen Dekrement wieder deutlich an Amplitude stärkte Acetylcholinfreisetzung aus den präsynaptischen
zunehmen (Fazilitierung, . Abb. 13.1). Diese Untersuchung Vesikeln verstärkt werden. Da diese Substanz toxisch ist,
ist sehr unangenehm, daher wird häufig eine maximale Vor- müssen Leber-, Nieren- und Knochenmarkfunktionen über-
spannung als Übung vor der elektromyographischen Untersu- wacht werden. Die Behandlung muss bei den Kassen separat
chung eingesetzt. zur Kostenübernahme angemeldet werden. Es besteht eine

Exkurs
Weitere Antikörper bei LEMS
Kürzlich wurden Antikörper gegen den Transkriptionsfaktor pathischer Genese. Anders als Antikörper mit Affinität für
SOX1, früher AGNA (anti-glial nuclear antibody), ein in klein- spannungsabhängige Calciumkanäle (VGCC), finden sich
zelligen Bronchialkarzinomen (SCLC) exprimiertes Tumor- αSOX1-Antikörper nur bei Patienten, die ein LEMS in Verbin-
antigen identifiziert. Der Nachweis ermöglicht beim LEMS dung mit einem SCLC entwickeln, aber nicht bei Patienten
die Differenzierung zwischen paraneoplastischer bzw. idio- mit idiopathischem LEMS.
13.3 · Paraneoplastische Enzephalomyelitiden
357 13
. Abb. 13.1a–c. Repetitive, supramaxi-
male Reizung des N. ulnaris mit niedriger
(links) und hoher (rechts) Frequenz.
a Normal, b Myasthenia gravis, c Lambert-
Eaton-myasthenes-Syndrom. (Aus Ludin
1987)

hohe Empfindlichkeit gegen Curare, jedoch bessern Neostig- auf Immuntherapien an als paraneoplastische LE-Varianten,
min und Edrophonium-Hydrochlorid das Syndrom nicht. die durch Serumantikörper gegen intrazelluläre neurale Epito-
Pyridostigmin (Mestinon® als reversibler Cholinesterase- pe gekennzeichnet sind.
hemmer, bis 600 mg täglich) hilft, wenn überhaupt, nur
wenig. 3Symptome. Starkes Nachlassen der Merkfähigkeit, rasch
4 Immunsuppression: Hier kommen die gleichen Prin- progrediente Demenz, Verhaltensstörungen: Angst, Aggressi-
zipien zur Anwendung, die bei der paraneoplastischen Klein- vität, sexuelle Enthemmung, auch depressive Verstimmung
hirndegeneration genannt wurden. bzw. paranoid-halluzinatorische Psychose. Vereinzelt wurden
auch Krampfanfälle beobachtet.

13.3 Paraneoplastische 3Diagnose. Liquor: leichte Pleozytose. EEG: Allgemein-


Enzephalomyelitiden veränderung, fakultativ temporaler Herdbefund. MRT: Im
MRT variable Befunde. Nicht selten findet man Signalauffäl-
Die paraneoplastische Enzephalomyelitis (PEM) erzeugt in ligkeiten in den Hippocampi oder an anderen Stellen des lim-
unterschiedlichen Regionen des Gehirns und Rückenmarks bischen Systems, in der akuten Phase auch mit Kontrastauf-
eine neuronale Dysfunktion und geht in unterschiedlicher nahme, in der chronischen Phase wird manchmal eine deut-
Ausprägung mit limbischen, rhombenzephalen, zerebellären liche Atrophie der befallenen Regionen gefunden.
und spinalen Symptomen einher.
3Therapie. Es gibt keine gezielte Therapie. Neben der The-
rapie des Primärtumors können verschiedene Immuntherapien
13.3.1 Limbische Enzephalitis (LE) versucht werden, darunter Steroide, Immunglobuline, Plasma-
pherese oder Immunadsorption bei positivem AK-Nachweis
Die limbische Enzephalitis kommt bei Bronchialkarzinom, und als Dauertherapie Cyclophosphamid oder Rituximab, wie
M. Hodgkin und Hodenkarzinom vor. Die limbische Enzepha- in dem Einschub »Leitlinien der Behandlung paraneoplasti-
litis (LE) wird zunehmend auch als nichtparaneoplastische scher Syndrome«, S. 359 vorgestellt. Eine überzeugende Wirk-
Erkrankung beobachtet. Auch hier, wie bei vielen anderen Pa- samkeit ist bei der paraneoplastische LE, von Kasuistiken ab-
raneoplasien geht die Enzephalitis der Diagnose des Tumors gesehen, nicht beschrieben. Symptomatisch wird mit Antikon-
um Jahre voraus. Oft wird der Tumor erst bei der Abklärung vulsiva sowie Antidepressiva behandelt.
einer unklaren Enzephalitis entdeckt.

3Pathophysiologie und Auftreten. Bei tumorassoziierter 13.3.2 NMDA-Rezeptor-antikörperpositive


LE könne Anti-Ma2- oder Anti-Hu-Antikörper nachgewiesen Enzephalitis
werden. Bei idiopathischer, nichttumorassoziierter LE findet
man dagegen Autoantikörper gegen spannungsabhängige Ka- Diese erst vor wenigen Jahren erstmals beschriebene Entität
liumkanäle (VKGC-Antikörper). Männer und Frauen sind in wird immer häufiger diagnostiziert.
etwa gleich häufig betroffen. Die limbische Enzephalitis kann
in jedem Lebensalter bei Erwachsenen auftreten, ist aber zwi- 3Vorkommen und Phathophysiologie. Typischerweise er-
schen dem 4. und 6. Jahrzehnt am häufigsten. Die mit VGKC- kranken junge Frauen, bei denen dann in der Diagnostik oft
Antikörpern assoziierte idiopatische LE spricht deutlich besser ein Ovarialtumor (Teratom) gefunden wird. Bleibt die Tumor-
358 Kapitel 13 · Paraneoplastische Syndrome

suche initial negativ, sind häufige Kontrolluntersuchungen und Störung der Bewegungskoordination, und Aktionsmyo-
erforderlich. klonien stehen im Vordergrund. Hochfrequente, spontane,
konjugierte Augenbewegungen (Opsoklonus) sind bei Kin-
3Symptome. Sehr typisch ist die Konstellation von affek- dern mit Neuroblastom charakteristisch.
tiver und intellektueller Nivellierung, exogen-psychotischen Kortison und Therapie des Primärtumors können das Syn-
Symptomen und oralen oder fazialen Dyskinesien, die zuerst drom zum Stillstand bringen. Symptomatisch werden Clona-
an eine Nebenwirkung von Antiemetika denken lassen. Die zepam (3× 0,5–2 mg/Tag) und Propranolol (3× 40–80 mg/Tag)
Symptome entwickeln sich aus völliger Gesundheit schlei- eingesetzt.
chend über einige Tage und Wochen. Es gibt auch Fälle, in
denen sich nach einem kurzen Prodromalstadium das Bild
einer leichten Virusmeningoenzephalitis entwickelt, das dann 13.3.4 Paraneoplastische Myelitis
innerhalb weniger Tage in einen nicht kontrollierbaren Status
epilepticus übergeht. Bei diesem paraneoplastischen Syndrom kommt es zu einer
subakuten Vorderhorndegeneration, besonders im Zervikal-
3Diagnostik mark, mit vorwiegend distalen Muskelatrophien und Reflex-
4 Labor: Namensgebend ist der Nachweis von Anti-NMDA- verlust. Das Krankheitsbild (nicht Erkrankungsalter und Ver-
AK, die bisher nur an wenigen Stellen untersucht werden. Das lauf!) ist der progressiven, spinalen Muskelatrophie vom Typ
Zielepitop ist innerhalb der extrazellulären N-terminalen Do- Duchenne-Aran ähnlich (7 Kap. 33.2). Es gibt auch eine
mäne der NR1-Untereinheit des NMDA-R lokalisiert und die paraneoplastische akute Querschnittsmyelitis, die unter dem
Inkubation von Patientenseren mit hippokampalen Schnitt- Bild einer rasch aufsteigenden sensiblen und motorischen
kulturen induziert eine reversible Verringerung postsynap- Lähmung mit Blasenstörungen in Tagen bis Wochen zum
tischer NMDA-R-Cluster. Tode führt. Schließlich kommt eine kombinierte spinale
4 Liquor: Der Liquor ist oft pathologisch, aber meist unspe- Strangdegeneration vor, die dem Bild der funikulären Spinal-
zifisch oder gar irreführend, wenn oligoklonale Banden oder erkrankung, aber ohne B12-Resorptionsstörung, entspricht.
eine entzündliche Pleozytose mit einigen Hundert Zellen ge- Differentialdiagnosen sind infektiöse und parainfektiöse
funden werden. Eine autochthone IgG-Produktion ist häufig Myelitiden. Ein definitives PNS wird bei Vorliegen von Hu-
zu finden. Antikörpern (SCLC, Prostatakarzinom, Neuroblastom) diag-
4 MRT: Ebenso wenig spezifisch ist das MRT. Es kann selbst nostiziert.
bei wochenlanger, schwerster Symptomatik normal bleiben,
ansonsten findet man multiple, asymmetrische Hyperinten-
sitäten in FLAIR oder T2-Darstellungen, die manchmal leicht 13.3.5 Paraneoplastische, amyotrophische
Kontrastmittelaufnehmen können. Sind es solitäre Herde, Lateralsklerose (ALS)
13 ist die Differenzierung von enzephalomyelitischen Herden
schwer (wenngleich die klinische Symptomatik diese Diffe- Eine symptomatische ALS mit Beteiligung der bulbären Hirn-
rentialdiagnose unwahrscheinlich macht). MR-Veränderun- nervenkerne und ihrer supranukleären Bahnen soll bei Neo-
gen finden sich häufig in Regionen mit vielen NMDA-Rezep- plasmen der verschiedensten Art vorkommen. Die definitive
toren, dem limbischen System und dem Hirnstamm. Diagnose kann bei Vorliegen von Hu-Antikörpern (SCLC,
4 CT-Abdomen und gynäkologische Untersuchung: Beide Prostatakarzinom, Neuroblastom) und CV2/anti-CRMP5
sollten bei unklaren enzephalitischen Syndromen oder einem (SCLC, Thymom) gestellt werden. Diese Form soll einen mil-
therapierefraktären Status epilepticus ohne erkennbare Ur- deren Verlauf haben als die essentielle Form der Krankheit
sache bei jungen Frauen mit der gezielten Frage nach Verände- (7 Kap. 33.4). Im Liquor findet man häufig eine Eiweißerhö-
rungen der Ovarien angefordert werden. hung bei Schrankenstörung. Immunsuppressiva werden einge-
setzt, ohne dass es einen Beweis für ihre Wirksamkeit gibt.
3Therapie. Das Therapiespektrum deckt sich mit den An-
sätzen, die bei der limbischen Enzephalitis beschrieben wur-
den. 13.3.6 Paraneoplastisches Stiff-person-Syndrom

Das ist die symptomatische, tumorassoziierte Variante des


13.3.3 Bulbäre Enzephalitis (Opsoklonus- Stiff-person-Syndroms (SPS) (7 Kap. 23; vgl. auch Fallbeschrei-
Myoklonus-Syndrom, POM) bung am Ende dieses Kapitels). Ein assoziierter Antikörper ist
Anti-Amphiphysin (Mammakarzinom). Als symptomatische
Bei Erwachsenen sind Mamma- und Bronchialkarzinom die Therapie werden neben den üblichen Immuntherapien 20–100
häufigsten assoziierten Tumoren, der typische Indextumor im mg Diazepam/Tag oder 5–10 mg Rivotril/Tag eingesetzt.
Kindesalter ist das Neuroblastom. Bei Patienten mit zugrunde
liegendem Mammakarzinom finden sich oft anti-Ri-Antikör-
per (ANNA2, . Tabelle 13.1).
Das Syndrom ist bei Erwachsenen selten. Lähmungen der
kaudalen Hirnnerven, bei Befall der Brücke auch Blickparese,
13.5 · Myopathie, Polymyositis und Dermatomyositis
359 13
13.4 Subakute, sensorische Neuropathie 13.5 Myopathie, Polymyositis und
(SSN) Dermatomyositis

3Pathophysiologie. Diesem Syndrom liegen anti-Hu- Das Vollbild der Dermatomyositis und der remittierend ver-
(ANNA1) oder CV2/anti-CRMP5-Antikörper (SCLC, Thy- laufenden Polymyositis ist bei Männern über 50 Jahren in 60%
mom) zugrunde, die speziell die Spinalganglien, möglicher- der Fälle durch ein Malignom ausgelöst. Symptomatik und
weise auch die autonomen Ganglienzellen angreifen. Auslöser Therapie sind in . Kap. 34.9.1 ausführlich beschrieben. Sichere
sind meist kleinzellige Bronchialkarzinome. Pathologisch-ana- Antikörper gibt es keine. Häufig assoziierte Tumoren sind für
tomisch findet man in den peripheren Nerven die sensiblen die Polymyositis (NHL, Bronchialkarzinom und Blasenkarzi-
Axone und Markscheiden degeneriert, jedoch sind regelmäßig nom) und für die Dermatomyositis (Ovarialkarzinom, Bron-
auch Spinalganglien, Hinterstränge und Tractus spinocerebel- chialkarzinom, Pankreas, Kolon- und Magenkarzinom).
laris betroffen.
ä Der Fall
3Symptome. Die SSN ist eine häufige paraneoplastische Die Patientin wurde uns zugewiesen, um die Diagnose eines
Komplikation. Sie befällt die Beine mehr als die Arme und »Stiff-person«-Syndroms zu bestätigen und eine entsprechende
äußert sich vor allem in Parästhesien, Gangunsicherheit infol- Behandlung einzuleiten. Die Symptome waren ungewöhnlich:
ge sensibler Ataxie und Reflexabschwächung. Lähmungen sind Zwar hatte diese Patientin eine spontane und bewegungsabhän-
möglich, treten aber im Krankheitsbild zurück. Die progre- gige, massive Tonuserhöhung der Muskulatur, aber weniger an
diente, sensible Symptomatik, die oft asymmetrisch verläuft, den Beinen als an den Armen. Die Arme waren adduziert, vor
wird durch autonome Symptome (Anhidrose, orthostatische dem Brustkorb übereinandergeschlagen, und die Kraft, die diese
Hypotonie, Impotenz) und auch zentrale Symptome (Persön- nahezu kontinuierliche Muskelspannung auf den Rumpf ausübte,
lichkeitsveränderungen, Demenz) verstärkt. war so stark, dass mehrere Rippen auf beiden Seiten frakturiert
waren. Auch reagierte sie nicht, wie andere Patienten mit Stiff-
3Diagnose. Die Diagnose erfolgt durch serologischen person-Syndrom, auf hochdosierte Tranquilizer vom Diazepam-
Nachweis von Anti-Hu. Der Liquor zeigt eine Eiweißvermeh- typ. Der Liquor war leicht entzündlich verändert und zeigte eine
rung in der Größenordnung von 0,50–1,00 g/l. Eine intrathe- deutliche, autochthone Immunglobulinproduktion. Wie immer in
kale IgG-Synthese und/oder OKB können vorhanden sein. solchen Fällen, begannen wir mit einer ausführlichen Tumor-
Differentialdiagnostisch kommen eine CIDP oder eine anti- suche und wurden fündig: Ein hormonaktives Mammakarzinom
MAG-Neuropathie in Frage. wurde gefunden und entsprechend behandelt; die Symptomatik
bildete sich, wenn auch nicht vollständig, zurück. Die Patientin
3Therapie. In den meisten Fällen ist die Krankheit einer war wieder in der Lage, ihre Hände und Arme sinnvoll einzuset-
Therapie nicht zugängig. Die oben skizzierten immunsuppres- zen, und der massive Druck auf den Brustkorb ließ nach. Es ge-
siven Methoden können getestet werden. Auch eine Behandlung lang nicht, im Serum spezifische Antikörper zu isolieren, aber der
des zugrunde liegenden Tumors führt nur sehr selten zu einer Verdacht liegt sehr nahe, dass es sich um ein paraneoplastisches
Stabilisierung. Symptomatisch sind Gabapentin (100–3600 mg), Syndrom gehandelt hat.
Pregabalin (75–600 mg) oder Amitriptylin (bis 75 mg) v.a. gegen
die Missempfindungen und Schmerzen wichtig.

Leitlinien Paraneoplastische Syndrome*


Der Stellenwert des Ganzkörper-FDG-PET zur Tumorsuche aufgrund der Hinweise für eine Autoimmunpathogenese indi-
bei einem Antikörper-positiven Patienten ist belegt und ziert. Für das Stiff-person-Syndrom ist eine Behandlung mit ivIg
kann gegenüber Kostenträgern wissenschaftlich begründet indiziert. Leider zeigen die bisher verfügbaren Therapieopti-
werden (B). onen nur wenige Effekte bei der Mehrheit der Patienten. Deut-
liche Erfolge bei einzelnen Patienten sind jedoch möglich (C).
Immuntherapien 4 Prinzipiell gilt: Je früher die immuntherapeutischen Maß-
4 Sensible Neuropathie oder limbische Enzephalitis reagie- nahmen begonnen werden, desto eher haben sie Aussicht auf
ren eher auf eine Behandlung (Tumortherapie und/oder Erfolg. Ein Argument gegen immunsuppressive Therapie ist
Immunmodulation) als z.B. die Kleinhirndegeneration (C). der mögliche negative Effekt auf das Tumorwachstum. Eine
Tumorprogression unter Immuntherapie wird jedoch bei der
4 Die Immunmodulation oder -suppression bei Erkran- Mehrzahl der Patienten nicht beobachtet (C).
kungen der Peripherie (z. B. LEMS, MG, Myositis, Neuromyo- 4 Eine Vielzahl von Immuntherapien ist bisher versucht
tonie) erfolgt nach etablierten Kriterien wie bei nichtparane- worden: Steroide, Immunadsorption mit Protein A-Säulen, i.v.-
oplastischer Ätiologie dieser Syndrome. Immunglobuline, Cyclophosphamid, Plasmapherese.
4 Auch bei den Erkrankungen des ZNS erscheint eine Aufgrund des Mangels an guten evidenzbasierten Daten
immunmodulatorische oder immunsuppressive Behandlung kann ein Zyklus Steroidtherapie wie bei der Multiplen Sklerose
6
360 Kapitel 13 · Paraneoplastische Syndrome

(3-mal 1000 mg Methylprednisolon i.v.) durchgeführt wer- erwogen werden. Als Erfolg ist bereits eine Stabilisierung der
den. Sollte sich hierunter eine Stabilisierung oder gar Besse- Progression anzusehen (C).
rung der neurologischen Symptome ergeben, kann diese
Behandlung alle 6–8 Wochen wiederholt werden.
Bei fehlendem Erfolg kann dann im Einzelfall eine Plas-
mapherese, die Immunadsorption oder eine Behandlung mit * modifiziert nach Leitlinien der DGN 2005 und 2008
Cyclophosphamid (z.B. 750 mg i.v./m2 KOF alle 4 Wochen) (www.dgn.org/leitlinien.html)

In Kürze

Paraneoplastische Syndrome

Mit Tumoren assoziierte Funktionsstörungen des zentralen Paraneoplastische Enzephalomyelitiden. Erzeugen in unter-
und peripheren Nervensystems, der neuromuskulären Über- schiedlichen Regionen des Gehirns und Rückenmarks neuro-
leitung und Muskulatur, nicht metastatisch oder durch nale Dysfunktion. Limbische Enzephalitis bei Bronchialkarzi-
direkte Tumorinvasion entstanden. Diagnostisch steht der nom, M. Hodgkin und Hodenkarzinom. Symptome: Nachlas-
Nachweis eines Primärtumors und der Nachweis von para- sen der Merkfähigkeit, rasch progrediente Demenz, Verhaltens-
neoplastischen Autoantikörpern im Vordergrund. Thera- störungen. Diagnostik: Liquor, EEG. Therapie: Primärtumor-
peutisch stehen neben der Tumorbehandlung verschiedene therapie.
Immuntherapien wie Plasmapherese, Immunadsorption, Bulbäre Enzephalitis: Bei Erwachsenen Mamma- und Bron-
Steroide oder andere Immunsupressiva zur Verfügung. Die chialkarzinom, bei Kindern Neuroblastom. Symptome: Blick-
Prognose ist im Allgemeinen nicht gut. parese, Bewegungskoordinationsstörungen, Aktionsmyoklo-
nien, spontane, kunjugierte Augenbewegungen bei Kindern.
Paraneoplastische zerebelläre Degeneration (PCD). Therapie: Primär- und medikamentöse Tumortherapie.
Epidemiologie: Bei Frauen als gynäkologische Tumoren, bei Weitere Formen: Paraneoplastische Myelitis mit distalen
Männern als Lymphome, Lungen- und kolorektale Karzi- Muskelatrophien und Reflexverlust; Paraneoplastische,
nome. Symptome: Extremitäten-, Rumpf-, Gang-, Standata- amytrophische Lateralsklerose (ALS) mit Beteiligung der
xie, Nystagmus, okuläre Dysmetrie, Dysarthrie, Spastik, bulbären Hirnnervenkerne und supranukleären Bahnen;
Motoneurondegeneration, Demenz, Polyneuropathien. Paraneoplastisches Stiff-person-Syndrom.
13 Diagnostik: Liquor: Eiweiß- und Zellvermehrung.
Therapie: Sehr schlechte Prognose, geringe therapeutische Subakute, sensorische Neuropathie (SSN). Meist durch
Beeinflussbarkeit. Differentialdiagnose: Alkoholschädi- kleinzellige Bronchialkarzinome, sensible Axone und Mark-
gung, Heredoataxie. scheiden in peripheren Nerven degeneriert. Symptome:
Parästhesien, Gangunsicherheit durch sensible Ataxie und
Lambert-Eaton-myasthenes-Syndrom (LEMS). Epidemio- Reflexabschwächung, autonome Symptome wie Anhidrose,
logie: Beim kleinzelligen Brochialkarzinom, häufig weitere Impotenz, zentrale Symptome wie Demenz. Diagnostik:
Autoimmunerkrankungen vorhanden, mittleres Alter be- Liquor. Therapie: Krankheit ist Therapie meist nicht zugängig.
vorzugt. Symptome: Myasthene Ermüdbarkeit der Becken-
gürtelmuskulatur, Schluckstörungen, Ptose, Doppeltsehen, Weitere Syndrome. Myopathie, Polymyositis, Dermatomyo-
fehlende Eigenreflexe, vegetative Störungen wie vermin- sitis.
dertes Schwitzen. Diagnostik: Stimulations-EMG.
Therapie: Durch Primärtumortherapie symptomatische
Besserung.
IV Krankheiten mit
anfallsartigen
Symptomen
14 Epilepsien – 363

15 Synkopale Anfälle und andere anfallsartige


Störungen – 393

16 Kopfschmerzen und Gesichts-


neuralgien – 405

17 Schwindel – 425
14

14 Epilepsien
14.1 Definition, Epidemiologie und Pathogenese – 364
14.1.1 Definition – 364
14.1.2 Ätiologie – 364
14.1.3 Epidemiologie – 365
14.1.4 Pathophysiolgie – 365

14.2 Klassifikation der Epilepsien – 366

14.3 Diagnostik – 366


14.3.1 Elektroenzephalographie – 366
14.3.2 Computertomographie und Magnet-resonanztomographie – 367
14.3.3 Prächirurgische Epilepsiediagnostik – 368

14.4 Charakteristika einzelner Epilepsieformen (Anfallssemiologie) – 368


14.4.1 Partielle (fokale) Anfälle – 368
14.4.2 Generalisierte Anfälle – 371
14.4.3 Tonisch-klonischer Grand-mal-Anfall – 373
14.4.4 Status epilepticus – 376

14.5 Therapie – 377


14.5.1 Notfalltherapie – 377
14.5.2 Allgemeine Lebensführung – 378
14.5.3 Antiepileptische Medikamente – 378
14.5.4 Antiepileptische Dauerbehandlung – 380
14.5.5 Therapieresistenz – 383
14.5.6 Therapie des Status epilepticus – 385

14.6 Aspekte der antiepileptischen Therapie in der Schwangerschaft – 386


14.6.1 Anfallshäufigkeit in der Schwangerschaft – 386
14.6.2 Dosisreduktion – 386
14.6.3 Missbildungsrisiko – 386
14.6.4 Verlauf der Schwangerschaft und Geburt – 387
14.6.5 Post partum – 387
14.6.6 Antiepileptika und orale Verhütungsmittel – 387
14.6.7 Chirurgische Therapie – 388

14.7 Psychiatrische und neuropsychologische Aspekte der Epilepsien – 389


14.7.1 »Epileptische Wesensänderung« und Demenz – 389
14.7.2 Verstimmungszustände – 389
14.7.3 Postparoxysmaler Dämmerzustand – 390
14.7.4 Epileptische Psychose – 390
14.7.5 Psychogene Anfälle – 390
14.7.6 Therapie der psychischen Störungen – 390

14.8 Sozialmedizinische Aspekte – 390


14.8.1 Berufseignung – 390
14.8.2 Fahrtauglichkeit – 390
364 Kapitel 14 · Epilepsien

> > Einleitung Krampfbereitschaft, die durch zusätzliche Gehirnschädigung


manifest wird (symptomatische Epilepsie), bis zur einmaligen
In diesem Kapitel werden wir uns mit der Epilepsie, früher als oder seltenen epileptischen Entgleisung unter der Wirkung
Morbus sacer, die heilige Krankheit bezeichnet, beschäftigen. Sie besonderer funktioneller Belastung (Gelegenheitskrämpfe)
gehört zu den am längsten bekannten Krankheiten der Mensch- und schließlich solchen Patienten, die trotz schwerer Hirn-
heitsgeschichte. Sie betraf Propheten und Heilige, die Wahrsage- krankheiten fast keine Anfälle oder toxischen Schäden bekom-
rin von Delphi, Personen, die als Besessene verbrannt wurden men. Die Internationale Liga gegen Epilepsie hat vorgeschla-
und bedeutende Herrscher, wie Alexander der Große, Gajus gen, dass für die Diagnose einer Epilepsie nur noch ein Anfall
Julius Cäsar und Napoleon Bonaparte. Die Römer setzten bereits nötig ist, wenn zusätzlich epilepsietypische EEG-Befunde (z. B.
Provokationsmethoden für die Diagnose ein: Bei der Musterung 3/s Spike-Waves) oder eine Hippocampussklerose im MRT
mussten die Rekruten durch ein sich drehendes Wagenrad in die eine erhöhte Epilepsiegefahr anzeigen.
Sonne blicken. Wer dabei einen epileptischen Anfall erlitt, wurde
ausgemustert. In der Literatur wurden die rätselhaften Phäno- Gelegenheitsanfälle
mene der Epilepsie wiederholt beschrieben. Ein bekanntes litera- Gelegenheitsanfälle treten z.B. als Fieberkrämpfe bei Infek-
risches Beispiel ist Dostojewskijs »Idiot«. tionskrankheiten im Kindesalter auf. Bei Jugendlichen und
Grundsätzlich ist jedes Gehirn krampffähig, wenn es einem Erwachsenen sind die auslösenden Ursachen meist übermä-
genügend starken physikalischen (Elektrokrampf ) oder pharma- ßiger Alkoholgenuss und Alkoholentzug, Schlafentzug, exzes-
kologischen Reiz ausgesetzt wird. Die Krampffähigkeit ist keine sive körperliche Anstrengungen mit Dehydratation, metabo-
spezifische Reaktionsweise des menschlichen Gehirns, sondern lische Entgleisungen (Hypoglykämie, Thyreotoxikose, Hypo-
ist schon früh in der phylogenetischen Entwicklung zu finden. natriämie), Drogen (Kokain, Crack, Ecstasy, Amphetamine),
Die Semiologie der Anfälle ist vielfältig, wenn auch der große seltener auch bestimmte Psychopharmaka, z.B. Amitriptylin
epileptische Anfall in seiner Ausprägung unverwechselbar und und Antibiotika. Im höheren Alter kommen einzelne epilep-
einzigartig ist. Viele andere Anfallsformen sind dagegen oft tische Anfälle bei vaskulärer Enzephalopathie und degenera-
subtil, manchmal auch bizarr in ihrem Erscheinungsbild, so dass tiven Hirnkrankheiten vor.
der Gedanke an einen epileptischen Anfall manchmal nicht nahe Die Prognose der Gelegenheitskrämpfe bei Kindern wurde
liegt. Der Arzt wird die Anfälle meist nicht selbst beobachten früher für durchweg gut gehalten. Tatsächlich bekommen aber
können, sondern darauf angewiesen sein, sie aus der Schilderung etwa 15% dieser Kinder später eine Epilepsie. Die Gefahr ist
des Patienten und seiner Angehörigen zu diagnostizieren. Hier- besonders groß bei erblicher Belastung mit Anfällen oder or-
für muss er eine genaue Kenntnis der verschiedenen Anfallsarten ganischer Hirnschädigung, z.B. durch Geburtstrauma oder
haben. Enzephalitis. Die Entwicklung einer Epilepsie ist auch dann zu
Auch heute noch hat die Diagnose »Epilepsie« gravierende befürchten, wenn ein Kind mit Fieberkrämpfen im EEG epi-
psychologische und soziale Konsequenzen für Berufswahl und leptische Aktivität aufweist oder wenn gehäufte und länger
Fahrtauglichkeit, obwohl die Behandlungsmöglichkeiten immer dauernde Fieberkrämpfe zu einer Hirnschädigung führen. Die
besser werden. Entscheidung, ob sich nur ein Gelegenheitskrampf ereignet hat
oder ob sich eine chronische Epilepsie entwickelt, hat große
14 praktische Konsequenzen, denn nur im zweiten Fall wird man
14.1 Definition, Epidemiologie eine antiepileptische Behandlung einleiten.
und Pathogenese

14.1.1 Definition 14.1.2 Ätiologie

Epileptische Anfälle sind kurzdauernde (in der Regel <2 min), Ätiologisch sind symptomatische (Epilepsie als Ausdruck einer
plötzlich auftretende abnorme Entladungen von kortikalen identifizierbaren strukturellen Grunderkrankung), krypto-
Neuronengruppen. Dabei kommt es zu synchronisierten Ent- gene (mutmaßlich symptomatische Epilepsie ohne Nachweis
ladungsfolgen unterschiedlich großer Gruppen von Nerven- der Grunderkrankung) und idiopathische (Epilepsie aus ver-
zellen. Je nach Lokation und Größe des Areals variieren die muteter oder nachgewiesener genetischer Disposition, z.B.
klinischen Phänomene stark. Keineswegs sind nur motorische Mutationen des Gens für einen Ionenkanal) Epilepsien zu un-
Phänomene epileptisch. Die Entladungen sind in der überwie- terscheiden. Mit Verbesserung der Diagnostik durch die bild-
genden Mehrzahl selbstlimitierend. gebenden Verfahren, vor allem die Magnetresonanztomogra-
Die Symptome reichen von kurz dauernden Absencen phie (MRT), werden vormals kryptogene Epilepsien zuneh-
über umschriebene Zuckungen eines Arms bis zu komplexen mend als symptomatische erkannt. Häufige Ursachen sympto-
Bewegungsabläufen, Bewusstseinsveränderungen und dem matischer Epilepsien sind kortikale Entwicklungsstörungen,
tonisch-klonischen Grand-mal Anfall. Tumoren, Enzephalitiden, Schädelhirntraumen, zerebrovas-
Wir unterscheiden Gelegenheitsanfälle von Anfällen als kuläre Prozesse, metabolische Erkrankungen, perinatale Schä-
Ausdruck einer Epilepsie. Grundsätzlich kann jedes Gehirn den und immunologische Erkrankungen; seltener sind Vasku-
mit epileptischen Anfällen reagieren. Es besteht ein Spektrum litiden sowie Intoxikationen.
von dem Extrem einer spontanen Manifestation von Anfällen Bei der idiopathischen Epilepsie lassen Anamnese und Be-
(zum Beispiel bei einer genuinen Epilepsie) über eine latente fund keine organische oder metabolische Hirnkrankheit er-
14.1 · Definitionen, Eoidemiologie und Pathogenese
365 14
kennen, die man zur Auslösung der Anfälle in Beziehung set- tersuchungen an eineiigen Zwillingen haben gezeigt, dass die
zen könnte. Konkordanz für die Art der Anfälle bei genuiner Epilepsie nur
bei 60% liegt. Auch bei genuiner Epilepsie haben äußere Fak-
> Bei epileptischen Anfällen und Epilepsien mit Beginn
toren eine große Bedeutung. Diese Befunde zeigen, dass wir
nach dem 25. Lebensjahr muss zunächst immer eine
keinen prinzipiellen Unterschied zwischen der sog. genuinen
symptomatische Ursache ausgeschlossen werden.
und der symptomatischen Epilepsie sehen dürfen. Als einfache
Faustregel kann man sich merken: Wenn ein Elternteil eine Epi-
lepsie hat ist, besteht eine 5%ige Wahrscheinlichkeit, dass auch
14.1.3 Epidemiologie die Kinder betroffen sind. Handelt es sich um eine idiopathische
Epilepsie, verdoppelt sich die Wahrscheinlichkeit auf 10%. Sind
Epilepsien sind häufige Krankheiten: In Deutschland gibt es beide Elternteile betroffen, steigt die Wahrscheinlichkeit auf
rund 400.000 Anfallskranke (0,5%). Man rechnet mit Neu- 20% oder mehr.
erkrankungen von etwa 50 Menschen pro 100.000 Einwohner
und Jahr, besonders hoch ist die Rate bei Kindern und Jugend- Genetische Beratung. Die Frage, ob ein Anfallskranker Kinder
lichen. Bei etwa 10% aller Menschen besteht eine erhöhte haben kann und soll, ist nicht einheitlich zu beantworten. In
Krampfbereitschaft, die sich z.B. in EEG-Veränderungen oder den seltenen Fällen, in denen beide Partner eine genuine Epi-
in einer abnorm leichten Ansprechbarkeit auf zentrale lepsie haben, wird man von Nachkommen abraten. Sonst muss
Krampfgifte äußert. Vermutlich 10% aller Menschen erlei- das Urteil der Schwere des Krankheitsfalles und der sozialen
den einmal im Leben einen epileptische Gelegenheitsanfall. Situation der Patienten angepasst werden. Zur Häufigkeit von
Weltweit leiden geschätzte 3–5% aller Menschen an wieder- kindlichen Fehlbildungen unter Behandlung mit Antiepilepti-
holten, epileptischen Anfällen. ka s.u. Allerdings haben auch ohne antiepileptische Behand-
lung Kinder epilepsiekranker Frauen (und Männer) ein 1,2- bis
Genetische Faktoren. Bei Kindern von Patienten mit genuiner 2fach erhöhtes Fehlbildungsrisiko.
Epilepsie müssen wir (bei Krankheit eines Elternteils) mit
einer Erkrankungswahrscheinlichkeit von 4% rechnen. Das
Risiko ist demnach gegenüber der allgemeinen Population 14.1.4 Pathophysiolgie
auf das Achtfache erhöht. Aber auch bei symptomatischer
Epilepsie liegt oft neben der Hirnschädigung noch eine an- Für die Pathophysiologie der epileptischen Aktivität des Ge-
lagebedingte, erhöhte Krampfbereitschaft vor, damit sich ein hirns sind zwei Mechanismen entscheidend, die
Anfallsleiden manifestiert. Deshalb ist auch unter den Nach- 4 pathologische Erregung in Gruppen von Nervenzellen und
kommen und Geschwistern von Patienten mit sympto- die
matischer Epilepsie die Epilepsiehäufigkeit höher als in der 4 fehlende Erregungsbegrenzung, die eine Ausbreitung der
Durchschnittsbevölkerung. Kinder und Erwachsene mit Ge- pathologischen Entladungen ermöglicht.
legenheitskrämpfen haben in 20% der Fälle eine familiäre Be-
lastung. Die epileptische Erregung kann in der Rinde oder in subkorti-
Der Erbgang ist nicht einheitlich. In der Mehrzahl der Fälle kalen Strukturen entstehen. Neurophysiologisch setzt die epi-
nimmt man eine additive Wirkung mehrerer genetischer Fak- leptische Erregung der Nervenzellen mit einer Labilisierung
toren an. Ungeklärt ist noch, welcher Art die Funktionsstörung der Membranen und partiellen Depolarisation ein. Die patho-
ist, die vererbt wird. Diese Unsicherheit beruht darauf, dass die logische Erregungsproduktion kann viele Ursachen haben. Für
biochemischen und molekularen Ursachen der epileptischen die genuine Epilepsie wird eine genetisch determinierte Stö-
Krampfbereitschaft noch nicht hinreichend bekannt sind. Un- rung des Zellstoffwechsels vermutet.

Exkurs
Pathophysiologie im Detail
Auf molekularer Ebene sind Veränderungen in Membran- Biochemisch lässt sich im epileptischen Fokus eine Reihe
eigenschaften einzelner Neurone zu beobachten, die auf- von Veränderungen nachweisen: Die paroxysmale Depolarisa-
grund spontaner Depolarisation zu Entladungsserien fortge- tion ist durch vermehrten Kalzium- und Natriumeinstrom in
leiteter Nervenimpulse führen. Oft sind die physiologischen das Zellinnere charakterisiert. Eine spätere Hyperpolarisation
GABA-ergen Hemmungsvorgänge zwischen den Zellen entsteht durch Kaliumausstrom. Die Ionenkanäle für Kalzium
abgeschwächt, oder exzitatorische Transmittersubstanzen sind aktiviert, zum Teil als Folge der erhöhten extrazellulären
(Glutamat) werden vermehrt freigesetzt. Die spontane Depo- Glutamat- und Aspartatkonzentration. Der durch Glutamat
larisation einer Zelle breitet sich aufgrund der mangelnden aktivierte NMDA-Rezeptor, der einer der Transporter für Kal-
Inhibition zu weiteren Zellen in der Nachbarschaft, später zium in das Zellinnere ist, soll stärker exprimiert sein. Glutamat
auch über größere Distanzen, aus. Wenn genügend Neurone wird verzögert abgebaut. Das GABA-erge inhibitorische Sys-
in die synchrone Übererregung einbezogen sind, kommt es tem ist weniger aktiv. Das Anfallsende wird nicht durch Sauer-
zu epileptischen Symptomen, und im EEG können dann stoffmangel, sondern durch inhibitorische Mechanismen ein-
epileptische Potentiale abgeleitet werden. geleitet.
366 Kapitel 14 · Epilepsien

Nicht weniger wichtig für die Entstehung von epilepti- oder musikogene Epilepsie: epileptische Anfälle nach be-
schen Anfällen ist ein Mangel an Hemmungsfähigkeit, durch stimmten akustischen oder musikalischen Reizen, die Leseepi-
den die pathologische Aktivität sich auf benachbarte Hirn- lepsie, die wahrscheinlich nicht durch Afferenzen aus den Au-
abschnitte oder auf das ganze Gehirn ausbreiten kann. Die gen- oder Sprechmuskeln, sondern durch neuronale Vorgänge
physiologische Erregungsbegrenzung garantiert, dass ver- im rückwärtigen Anteil des Sprachzentrums ausgelöst wird
schiedene Hirnabschnitte voneinander unabhängig in diffe- und die Anfallsprovokation durch sensible Hautreize.
renzierter Weise tätig sein können.
Bei der Ausbreitung der epileptischen Entladungen kommt
es zu einer abnormen Synchronisation der Aktivität von Neu- 14.2 Klassifikation der Epilepsien
ronen, die normalerweise asynchron tätig sind. Diese Synchro-
nisation, die wir klinisch im rhythmischen Ablauf des tonisch- Primär generalisierte Anfälle. Diese Gruppe von Anfällen be-
klonischen Krampfanfalls beobachten können, ist ein wichtiges treffen immer die Hirnrinde beider Großhirnhemisphären.
Charakteristikum der epileptischen Aktivität im EEG. Ihre Phänomenologie variiert stark und reicht von typischen
Bei vielen Menschen kann man eine Synchronisierung der Absencen über tonische, klonische, myoklonische Anfälle bis
EEG-Grundaktivität mit der Frequenz von Lichtblitzen finden, hin zum großen tonisch-klonische Anfall, dem Grand mal.
die von Unwohlsein und Übelkeit während der Stimulation
begleitet sein kann. Dies ist nicht krankhaft, zeigt aber eine Lokalisationsbezogene (fokale oder partielle) Anfälle. Diese
erhöhte Synchronisationsbereitschaft an. entstehen in bestimmten Hirnabschnitten, die dann auch für
die Ausgestaltung der Symptome verantwortlich sind. Partielle
Fokale und generalisierte Entladungen. Geht diese Aktivität Anfälle, die mit einer Bewusstseinsstörung einhergehen, wer-
von einem umschriebenen, lateralisierten Fokus aus, ist auch den komplexe partielle Anfälle genannt. Oft entstehen sie in
die epileptische Aktivität im EEG fokal, und die neurologischen den Temporallappen. Partielle Anfälle ohne Bewusstseinsstö-
Symptome, die der Krampfaktivität entsprechen, sind laterali- rung nennt man einfach partielle oder fokale Anfälle. Sie äu-
siert. ßern sich mit motorischen Symptomen in einer Körperregion,
Wenn die epileptische Aktivität in tiefen, mittelliniennahen iktalen Sensibilitätsstörungen oder Lichtblitzen und apha-
Strukturen beginnt und sich nach bilateral ausbreitet, finden sischen Symptomen.
wir im EEG bilaterale, synchrone Krampfaktivität. Die Anfälle
sind generalisiert und mit Bewusstseinsstörung verbunden. Sekundär-generalisierte (fokal eingeleitete) Anfälle. Sie ent-
Für die hoch synchronisierten, bilateralen, rhythmischen stehen durch die Ausbreitung fokal eingeleiteter Anfälle auf die
epileptischen Entladungen, die man z.B. bei der Absencenepi- andere Hirnhälfte. Alle fokalen Epilepsien können sekundär
lepsie sieht, nimmt man an, dass der Schrittmacher im aktivie- generalisieren, müssen es aber nicht. Bei einzelnen Patienten
renden Teil der Formatio reticularis liegt und bilateral kortikale kann es geschehen, dass die partiellen Anfälle in der überwie-
Neurone synchron aktiviert werden. Die sekundäre Generalisie- genden Mehrzahl fokal bleiben, aber in unregelmäßigen Ab-
rung von fokaler epileptischer Aktivität entsteht durch Ausbrei- ständen einmal generalisieren.
tung über die Balkenfasern zur anderen Hemisphäre oder durch
14 sekundäre Erregung von mittelliniennahen Hirnabschnitten.
14.3 Diagnostik
Auslöser von Anfällen. In seltenen Fällen geben sensible oder
sensorische Reize regelmäßig den Anstoß zum epileptischen 14.3.1 Elektroenzephalographie
Anfall: Bei der photogenen Epilepsie werden durch intermit-
tierende Lichtreize vor dem Fernsehschirm, in der Diskothek Das EEG ist das wichtigste Hilfsmittel in der Diagnostik der
oder beim Befahren baumbestandener Alleen bei tiefstehender Epilepsie. Technik der Ableitung und normale Wellenformen
Sonne Anfälle ausgelöst. Andere Formen sind die audiogene 7 Kap. 3.2.6.

Exkurs
Internationale Klassifikation der Epilepsien
Die Einteilung der epileptischen Anfälle ist ein verwirrendes lichen Klassifikation, die die Liga 1981 vorgeschlagen hat. In
Thema. . Tabelle 14.1 sind diese Klassifikation und die revidierte
Aufgrund der Häufigkeit, der Vielzahl von Ursachen und Klassifikation aus dem Jahr 1989 nebeneinander gestellt. Bei
der großen Bandbreite der epileptischen Symptome gibt es einzelnen Anfallstypen benutzen wir gerne noch die klassische
eine Reihe von Einteilungsmöglichkeiten. Je neuer die Eintei- Terminologie, wenn diese die Charakterisierung der Anfalls-
lungen sind, desto weniger anschaulich werden sie, vor form besonders gut wiedergibt (z.B. »psychomotorische Anfäl-
allem seit die Internationale Liga gegen Epilepsie uns in le«, »Impulsiv-petit-mal«), auf eine tageszeitliche Bindung
regelmäßigen Abständen mit neuen Klassifikationen ver- (»Aufwach«-Grand-mal) oder ein typisches Erkrankungsalter
wöhnt. (»altersgebundene, epileptische Anfälle«) eingeht.
Die Besprechung der einzelnen Anfallsformen richtet
sich in unserer Darstellung nach einer älteren, aber anschau-
14.3 · Diagnostik
367 14

. Tabelle 14.1. Internationale Klassifikation der Epilepsiena


Einteilung 1981 (gekürzt) Einteilung 1989 (deutlich gekürzt)
I. Partielle (fokale) Anfälle 1. Lokalisationsbezogene fokale Epilepsien und Syndrome
A. Einfach partielle Anfälle (»mit elementarer Symptomatik«) 1.1. Idiopathische Anfälle (mit speziellem Erkrankungsalter)
1. mit motorischen Symptomen (Sonderform: Jackson-Anfall) Benigne Epilepsie des Kindesalters (Rolando)
2. mit sensiblen Symptomen (Sonderform: Jackson-Anfall) Lese-Epilepsie
3. mit vegetativen Symptomen 1.2. Symptomatische Anfälle
4. mit anderen Symptomen Temporallappenepilepsie
B. Komplex partielle Anfälle (Synonym: Psychomotorische Anfälle) Frontallappenepilepsie
C. Partielle (fokale) Anfälle mit sekundärer Generalisierung Okzipitallappenepilepsie
1. bei einfach partiellen Anfällen Parietallappenepilepsie
2. bei komplex partiellen Anfällen Supplementär-motorische Epilepsie
1.3. Kryptogene fokale Epilepsie
II. Generalisierte Anfälle 2. Generalisierte Epilepsien und Syndrome
A. Absencen 2.1. Idiopathische Anfälle (mit speziellem Erkrankungsalter)
B. Myoklonische Anfälle Benigne, myoklonische Epilepsie des Kindesalters
C. Klonische Anfälle Absencen des Kindes- und Jugendalters
D. Tonisch-klonische Anfälle (Grand mal) Myoklonische Epilepsie des Jugendalters
E. Atonische Anfälle Epilepsie mit Grand-mal-Anfällen
2.2. Kryptogene oder symptomatisch
West-Syndrom (infantile Spasmen)
Lennox-Gastaut-Syndro
Myoklonisch-astatische Anfälle
2.3. Symptomatische Anfälle (Fieberkrämpfe?)
III. Nicht klassifizierbare Epilepsien 3. Unklassifizierbare Epilepsien
4. Spezielle Syndrome
4.1. Situationsabhängige Anfälle
Fieberkrämpfe
Gelegenheitsanfälle
Anfälle bei Intoxikationen oder metabolischen Störungen
a In Anlehnung an die Vorschläge der Kommission für Klassifikation und Nomenklatur der Internationalen Liga gegen Epilepsie (1981 und
1989).

Häufig ist, bei Erwachsenen mehr als bei Kindern, das EEG > Ein normales oder nur unspezifisch verändertes EEG
bei einer Ableitung unter Standardbedingungen normal oder schließt eine Epilepsie nicht aus. Andererseits sind
nur unspezifisch verändert. Epilepsiespezifische Potentiale fin- selbst »epilepsietypische« Potentiale kein Beweis für
det man oft erst bei wiederholter EEG-Untersuchung. eine Epilepsie.
Besonders ergiebig ist die EEG-Untersuchung während
oder unmittelbar nach einem Anfall, nach Provokation durch
Hyperventilation, Photostimulation oder Schlafentzug (s.u.), 14.3.2 Computertomographie und Magnet-
bei der 24 h mobilen Langzeitableitung oder zusammen mit resonanztomographie
Videoaufzeichnung, besonders wenn hierunter ein Anfall kli-
nisch und elektrophysiologisch dokumentiert werden kann. Bei den meisten fokalen Epilepsien, am seltesten bei der psy-
Wir unterscheiden epilepsietypische Potentiale (Spitzenpo- chomotorischen Epilepsie, finden sich morphologische Hirn-
tentiale, Spitze-Wellen-Komplexe, scharfe Wellen, abnorm veränderungen.
rhythmisierte Potentiale) und andere abnorme EEG-Elemente, In der Akutsituation, nach dem ersten (sekundär) genera-
wie fokale oder intermittierende dysrhythmische Gruppen, oder lisierten Anfall und bei ersten fokalen Anfällen reicht zunächst
andere Herdbefunde, die bei entsprechender Anamnese den ein CT, auch zum Ausschluss einer direkten Verletzung als
Verdacht auf eine Epilepsie nahe legen. Wichtig ist auch die Un- Folge des Anfalls. Ist der Befund im CT negativ, ist eine MRT-
terscheidung zwischen iktalen, also während eines Anfalls auf- Untersuchung angezeigt. Eine MRT-Kontrolle nach 3–6 Mo-
tretenden, und interiktalen, im Intervall auftretenden patholo- naten ist sinnvoll, wenn das erste MRT negativ war.
gischen Potentialen. Anders ist die Situation bei Patienten mit bekannter Epi-
Bis zu 40% der gesunden Verwandten von Epilepsiekran- lepsie. Wenn die Ursache früher schon gründlich abgeklärt
ken haben »epilepsietypische« EEG-Veränderungen. wurde, muss nicht jedes Mal wieder ein CT oder MRT angefer-
tigt werden. Man soll aber darauf bestehen, die alten Aufnah-
men selbst zu sehen, um deren Qualität (spezielle Temporal-
lappendarstellung, Kontrastmittelgabe?) zu prüfen. Wenn der
368 Kapitel 14 · Epilepsien

Facharzt
Provokationsverfahren im EEG
Wenn beim klinischen Verdacht auf eine Epilepsie das EEG nisch-astatischen Anfällen. Bei fokalen Anfällen dagegen sind
im Intervall unauffällig ist, bedient man sich verschiedener durch Photostimulation nur selten steile Potentiale zu provo-
Provokationsverfahren: zieren. Das so genannte photic driving ist eine Aneinanderrei-
hung von visuell evozierten Potentialen und zeigt eine gestei-
Hyperventilation. Hierbei kommt es durch Abatmen saurer gerte zerebrale Synchronisationsbereitschaft an.
Valenzen zur Alkalose. Die Hyperventilation hilft bei primär
generalisierten Anfällen, insbesondere vom Aufwachtyp und Schlaf-EEG. Besonders aussagekräftig ist die Ableitung im
bei Absencen. Sie ist wenig ergiebig beim Schlaf-GM, bei Schlaf nach vorangegangenem Schlafentzug (Schlaf- und
Herdanfällen und psychomotorischen Anfällen. Schlafentzugs-EEG). Der Informationszuwachs beträgt etwa
50%, wobei der Schlafentzug beim Aufwach-Grand-mal und
Photostimulation. Hier verwendet man die Stimulation beim Impulsiv-Petit-mal anfallsfördernd ist, während der
durch intermittierende Lichtreize. Die Photostimulation Schlaf bei BNS-Krämpfen, bei psychomotorischen Anfällen
provoziert epilepsietypische Potentiale bei primär generali- und beim Schlaf-Grand-mal provozierend wirkt. Medika-
sierten Epilepsien, insbesondere bei Absencen, beim Auf- mentöse Provokationsverfahren werden im EEG nicht mehr
wach-Grand-mal und bei primär generalisierten, myoklo- angewandt.

Exkurs
Magnetenzephalogramm (MEG)
Das Ganzkopf-MEG (7 Kap. 3.2.7) mit 64–148 Kanälen kann, nung der MEG-Dipollokalisation mit dem MRT projiziert den
wie auch das Vielkanal-EEG mit 32–64 Kanälen, interiktale Ort der funktionellen Störung in die morphologische Dar-
epileptische Hirnaktivität räumlich umfassend ableiten. stellung des Gehirns (. Abb. 14.4) und ermöglicht so eine
Durch Quellenberechnung werden Hirnregionen, in denen bessere nichtinvasive Diagnostik, z.B. zur genaueren Planung
epileptische Aktivität entsteht, lokalisiert und die Region von evtl. notwendigen Tiefenableitungen und operativen
mit der frühesten Spike-Aktivität bestimmt. Die Verrech- Eingriffen.

Patient sich beim Anfall verletzt hat oder wenn eine wesent- den Mehrfachelektroden stereotaktisch in die Tiefe des Ge-
liche Änderung des Anfallscharakters eingetreten ist, wird hirns oder während der Operation Elektrodengitter mit multi-
man ein neues MRT veranlassen: Auch Patienten mit einer plen Elektroden auf dem Kortex platziert.
genuinen Epilepsie können einen Tumor, einen Abszess, eine Die MEG hat in der präoperativen Epilepsiediagnostik
subdurale Blutung (häufig nach Stürzen) oder eine Meningo- eine erste praktische Anwendung gefunden.
14 enzephalitis entwickeln. Für die Abklärung einer Temporal-
lappenepilepsie ist immer eine MRT mit Gadolinium und be-
sonderer, koronarer Darstellung des Temporallappens erfor- 14.4 Charakteristika einzelner
derlich (. Abb. 14.5, S. 388). Epilepsieformen (Anfallssemiologie)

14.4.1 Partielle (fokale) Anfälle


14.3.3 Prächirurgische Epilepsiediagnostik
3Definition. Fokale (partielle) Anfälle treten ohne Be-
Für die operative Behandlung der Epilepsie (7 Kap. 14.6) wusstseinsstörung (einfach-partielle Anfälle) oder mit Be-
kommen in Deutschland einige Tausend Anfallskranke in Fra- wusstseinsstörung (komplex-partielle Anfälle) auf. Fokale An-
ge, die therapieresistent sind. fälle sind in der Mehrzahl symptomatisch, d.h. Ausdruck einer
Zur Vorbereitung der Operation muss der Herd, von dem lokalisierbaren organischen Hirnschädigung. Tumoren, Trau-
die epileptische Aktivität ausgeht, elektrophysiologisch loka- men, Gefäßmissbildungen, Fehlbildungen und Entzündungen
lisiert werden, besonders wenn im MRT mit spezieller Dar- sind die häufigsten Ursachen symptomatischer Anfälle.
stellung des Temporallappens keine morphologische Ursache In etwa 80-90% der Fälle lässt sich eine entsprechende Lä-
für die Anfälle gefunden wurde. Dies ist nur selten mit der sion im CT oder MRT nachweisen. Die Ursache kann aber
konventionellen EEG-Untersuchung mit Oberflächenelektro- auch morphologisch-makroskopisch nicht erkennbar sein,
den möglich. Nützlich ist die Video-Doppelbildaufzeichnung, wie dies bei manchen komplex-partiellen Anfällen der Fall ist.
die gleichzeitig den Anfallsablauf und die bioelektrische Hirn- Bei den meisten Herdanfällen ist das Bewusstsein erhalten
tätigkeit dokumentiert. oder nur wenig getrübt, weil die epileptische Erregung auf ein
Semi-invasive Ableitungen mit Nasopharyngeal-, Sphe- rindennahes Areal begrenzt bleibt. Generalisieren sich die
noidal- und Foramen-ovale-Elektroden erfassen die Aktivität epileptischen Entladungen durch Absteigen zur Formatio re-
mediobasaler, limbischer Strukturen. An einigen Zentren wer- ticularis von Hirnstamm und Thalamus mit anschließender
14.4 · Charakteristika einzelner Epilepsieformen (Anfallssemiologie)
369 14
symmetrischer Ausbreitung über beide Hemisphären, so dem Gefühl von Steifigkeit und Kälte. Auch Schmerzen kön-
kommt es zur Bewusstlosigkeit und sekundären Generalisie- nen auftreten. Die Fehlwahrnehmung einer Eigenbewegung
rung (symptomatischer Grand-mal-Anfall). oder eine Drehbewegung der Umgebung (vertiginöse Epilep-
sie) kommt bei Parietallappenanfällen vor.
> Partielle Anfälle sind durch folgende Elemente cha-
An visuellen Symptomen treten Skotome, Hemianopsien,
rakterisiert:
Flackern, Blitze oder Farbwahrnehmungen auf. Auch visuelle
4 In der Regel besteht keine Bewusstlosigkeit und
Halluzinationen können im kontralateralen Gesichtsfeld auf-
nur selten Amnesie für den Anfall.
treten. Objekte können verzerrt erscheinen, doppelt wirken,
4 Motorische Symptome sind unilateral und meist
sich in ihrer Größe verändern oder ihre Form verändern (Me-
auf nur einzelne Körperregionen beschränkt.
tamorphopsie). Szenische Halluzinationen sind selten.
4 EEG-Veränderungen sind herdförmig und nicht
über beiden Hemisphären abzuleiten.
3Jackson-Anfälle. Jackson-Anfälle sind fokale Anfälle, bei
denen sich tonische bzw. klonische Zuckungen (motorische
Einfach partielle (fokale) Anfälle Jackson-Anfälle) oder Missempfindungen (sensible Jackson-
Je nach Lokalisation des epileptischen Fokus können einfach Anfälle) von einer Körperregion auf benachbarte Bezirke aus-
fokale Anfälle motorische Symptome (Zuckungen einer Extre- breiten.
mität oder des Gesichtes), sensible Symptome (anfallsartige, Die Zuckungen oder Missempfindungen breiten sich an
auf einzelne Körperregionen bezogene Missempfindungen), den Armen oder Beinen meist in Richtung von distal nach
vegetative Symptome (Schwitzen, Rötung einer Extremität, proximal aus. Sie können auch im Gesicht beginnen und dann
Tachykardie), optische Symptome (Lichtblitze, Skotome) und auf Hand und Arm überspringen. Die Rumpfmuskeln werden
aphasische Symptome (Sprachhemmung, speech arrest) verur- kaum ergriffen. Selten gehen die Zuckungen auch auf die an-
sachen. Am leichtesten werden die Anfälle diagnostiziert, dere Körperhälfte über, wo sie sich dann spiegelbildlich aus-
wenn sie mit motorischen Symptomen verbunden sind. Das breiten. Dies geschieht aber erst, nachdem sie auf der zuerst
Bewusstsein ist praktisch immer erhalten. ergriffenen Seite ihren Höhepunkt erreicht haben. Jackson-
Anfälle können auch in Extremitäten auftreten, die für Will-
3Einfach partielle (fokale) Anfälle mit motorischer Symp- kürbewegungen komplett gelähmt sind. Das Bewusstsein
tomatik. Diese Anfälle entstehen im motorischen Kortex. Sie bleibt erhalten, sofern der Jackson-Anfall nicht in einen gene-
können, je nach Lage des Fokus, durch Unfähigkeit zu Spre- ralisierten Krampfanfall mündet.
chen (speech arrest), durch Vokalisation von einzelnen Silben, In den betroffenen Extremitäten kann nach dem Ende des
klonische oder tonische Krämpfe einer Gesichtshälfte, einer Anfalls eine postparoxysmale Parese bestehen. Diese beruht
Hand, eines Arms oder eines Beins gekennzeichnet sein. Der nicht auf Erschöpfung der Nervenzellen, da sie auch nach sen-
Mastikatoriusanfall ist ein fokaler Anfall der kontralateralen siblen Jackson-Anfällen und selbst dann auftritt, wenn man
Kaumuskulatur. Eine forcierte Blickwendung vom epilepti- den Anfall im Beginn durch sensible Stimuli unterbricht. Sie
schen Fokus weg (Differenzierung zur Blickwendung bei zen- muss also Ausdruck eines aktiven Hemmungsmechanismus
traler Lähmung: »Der Patient blickt den Herd an«) kommt bei mit Hyperpolarisation der Zellmembranen sein.
fokalen, motorischen Anfällen, die das Gesicht und den Arm Zugrunde liegt immer eine umschriebene Hirnschädigung
betreffen, häufig vor. Nach dem Anfall können Lähmungen der Zentralregion. In erster Linie muss man an einen Hirntu-
(Todd-Parese) der zuvor krampfenden Extremität gefunden mor (Meningeom, Gliom) oder an ein arteriovenöses Angiom
werden. denken, weiter kommen Hirnverletzungen, frühere Infarkte
oder Blutungen und perinatale Hirnschädigung in Frage.
3Adversivanfälle. Die fokalen Anfälle des Frontallappens
> Nicht jeder partielle (fokale) oder gar jeder trauma-
sind nicht so leicht zu erkennen. Die Symptomatik ist ausge-
tisch epileptische Anfall darf als Jackson-Anfall be-
sprochen variationsreich, Störungen des Antriebs, komplexe
zeichnet werden: entscheidend ist die Ausbreitung
Bewegungsmuster mit Wende-(Versiv-)bewegungen und
der Krämpfe oder Missempfindungen (march of con-
posturalen Elementen (Fechterstellung) sind typisch. Bei den
vulsion).
Adversivanfällen führt der Patient für Sekunden eine schnelle
Seitwärtsbewegung der Augen und tonische Drehung des
Kopfes aus, selten auch einmal eine leichte Drehbewegung des 3Einfach partielle Anfälle mit aphasischer Symptomatik.
Rumpfes. Manchmal hebt er dabei den Arm, den er anblickt. Diese Anfälle können sich mit Unterbrechung der Sprache
Das Bewusstsein bleibt in der Regel erhalten. Ursache ist eine (speech arrest) und mit repetitiven, kurzen, meist gleichför-
lokale Irritation der Hirnrinde in der lateralen oder medialen migen Silben oder Wortfragmenten äußern. Nach Beendigung
Frontalregion der Seite, von der sich Kopf und Augen ab- des Anfalls kann eine Aphasie weiterbestehen, analog zu einer
wenden (frontales Adversivfeld und supplementär-motorische postparoxysmalen Lähmung. Nur das EEG erlaubt die Diffe-
Region). renzierung von einem Anfall mit aphasischen Symptomen von
der postparoxysmalen Aphasie.
3Einfach partielle (fokale) Anfälle mit sensibler oder visu-
eller Symptomatik. Fokale sensible Anfälle äußern sich mit
Kribbelparästhesien, Elektrisierungsgefühl, manchmal auch
370 Kapitel 14 · Epilepsien

Facharzt
»Temporale« Epilepsien
Psychomotorischen (komplex-partiellen) Anfällen liegen Handlungsabläufe und Gesten sind typische Automatismen
epileptische Entladungen zugrunde, die von Strukturen des des medialen Temporallappens. Neben Tumoren oder Gefäß-
Temporallappens ausgehen. Dieser Anfallstyp wird deshalb missbildungen des medialen Temporallappens sind Entwick-
auch als temporale Epilepsie bezeichnet. lungsstörungen des Hippocampus und die »mesiale Sklerose
Im Temporallappen unterscheiden wir die entwicklungs- oder Gliose« nach Geburtstraumen häufige Ursachen dieser
geschichtlich ältere mediale (engl. auch mesial) Region, zu Anfallsform. Das alte Synonym Unzinatusanfälle wurde be-
denen auch Hippocampus und Amygdala gehören (lim- nutzt, weil sich die epileptische Erregung oft vom basalen
bischen System), sowie die laterale, neokortikale Region. Die Temporallappen (Gyrus uncinatus) ausbreitet. Reine Unzinatu-
Epilepsien der beiden Regionen unterscheiden sich in ihren sanfälle, d.h. solche Anfälle, die nur in einer Geruchs- oder
Symptomen: Geschmacksaura bestehen, zeigen meist einen Schläfenlap-
pentumor an. Die mesialen Temporallappenanfälle tendieren
Mediale Temporallappenepilepsie. Typisch sind epigas- zur Generalisierung.
trische oder gustatorisch-olfaktorische Auren (Riechhirn) und
vegetative Symptome, verbunden mit Ängstlichkeit und Laterale Temporallappenepilepsie. Bei den Epilepsien des
Erregung. Initial ist die Bewusstseinsstörung gering, oft wirkt lateralen Temporallappens (neokortikale Anfälle) ist eine audi-
das Bewusstsein nur verändert. Eine Amnesie für den Anfall tive oder visuelle Aura häufiger. Vegetative Symptome treten
liegt praktisch immer vor. Die Aura wird hingegen gut erin- v. a. dann auf, wenn die Inselrinde betroffen ist. Orale Automa-
nert. Schmatzen und Schlucken, aber auch komplexere tismen sind seltener, motorische Anfallssymptome häufiger.

Komplex partielle (psychomotorische) Anfälle gleichem Inhalt ablaufen, kein Risiko für das Entstehen einer
Bei diesen Anfällen ist das Bewusstsein verändert. Die Pati- Epilepsie mit psychomotorischen Anfällen darstellen.
enten sind zwar nicht bewusstlos, wirken aber verhangen und Manchmal empfinden die Patienten eine Dehnung oder
abwesend. Für den Anfall besteht anschließend eine Amnesie. Raffung des Zeiterlebens oder eine Stimmungsveränderung,
Motorische Symptome (stereotype Bewegungen, szenische Angst oder ängstliche Erregung. Es kommt auch zu Verände-
Handlungen, Versivbewegungen), Geruchs- und Geschmacks- rungen der Sinneswahrnehmung: die Umgebung erscheint
missempfindungen und vegetative Symptome (Blässe, Speichel- entfernt, abgeblasst oder verkleinert. In anderen Fällen wirkt
fluss, Tachykardie) gehören zu diesen Anfällen. Oft erscheint sie näher, leuchtender oder vergrößert. Geräusche werden
den Patienten die Umwelt verändert, entfernt oder verzerrt. Das überlaut, leise oder qualitativ verändert wahrgenommen.
alte Synonym Unzinatusanfälle wurde benutzt, weil sich die Manche Patienten erleben eine Szene aus ihrer Vergangenheit
epileptische Erregung oft vom basalen Temporallappen (Gyrus anschaulich, während sie gleichzeitig die Umgebung real wahr-
uncinatus) ausbreitet. nehmen (mental diplopia). Auffälligerweise haben die Auraer-
14 lebnisse meist unangenehmen Charakter. Wohltuende Sinnes-
3Ablauf des komplex partiellen Anfalls. Die psychomoto- wahrnehmungen oder Glücksgefühle werden fast nie erlebt.
rischen Anfälle haben einen komplexen Ablauf. Im typischen Isolierte Furcht kann ein Symptom der psychomotorischen
Fall lassen sich 3 Stadien erkennen: Epilepsie sein, wenn die Erregung auf die vordere Temporal-
4 Der Anfall wird meist durch eine Aura eingeleitet (Aura = region beschränkt bleibt.
Hauch, Anfangsstadium eines epileptischen Anfalls). Für alle Sehr charakteristisch ist der Crescendocharakter der Er-
Auren gilt, dass der Patient sie oft nur unscharf beschreiben lebnisse. Strenggenommen sind Auren einfach partielle Anfäl-
kann, obwohl die Empfindung für ihn so charakteristisch ist, le, da sie ohne Bewusstseinsverlust bleiben. Da aber häufig
dass er das Nahen eines epileptischen Anfalls sofort daran Bewusstseinsverlust und psychomotorischer Anfall folgen,
erkennt. Sehr häufig ist die epigastrische Aura: ein Wärme- wurden sie hier besprochen.
oder Beklemmungsgefühl, das aus der Magengegend zum 4 Im zweiten Stadium kommt es zur Bewusstseinstrübung.
Hals aufsteigt. Seltener sind halluzinatorische Wahrnehmun- Diese ist weniger tief als bei Absencen, so dass die Patienten eine
gen von unangenehmem Geruch oder Geschmack (gustato- gewisse Reaktionsfähigkeit behalten. Sie dauert aber länger, über
rische und olfaktorische Auren). Optische Auren beginnen Minuten. Die zeitliche Ausdehnung ist ein differentialdiagnos-
mit Farb- und Bildwahrnehmungen. Auch psychische Erleb- tisches Kriterium gegenüber Absenzen mit Automatismen (s.o.).
nisse können als Aura auftreten (dreamy state): ein Gefühl der Der Patient führt währenddessen stereotyp bestimmte Bewegun-
Entfremdung (jamais-vu) oder unbestimmten Vertrautheit gen oder objektbezogene Handlungsabläufe aus. Am häufigsten
(déjà-vu) gegenüber der Umgebung. Das Gefühl, schon einmal sind orale Automatismen: Bewegungen des Kauens, Schluckens,
an einem Ort gewesen zu sein, eine bestimmte Situation schon Schmatzens, Lecken der Lippen, auch von Grunzen, Rülpsen
einmal erlebt und wahrgenommen zu haben, sind charakte- und Brummen begleitet. Oft nestelt der Patient auch an sich oder
ristisch. auf dem Tisch herum, knöpft seine Jacke auf und zu, räumt Ge-
Auch viele Gesunde haben hin und wieder Déjà-vu-Erleb- genstände hin und her, trommelt rhythmisch mit den Fingern
nisse, die, wenn sie nicht immer in der gleichen Form und mit oder mit beliebigen Gegenständen auf einer Unterlage.
14.4 · Charakteristika einzelner Epilepsieformen (Anfallssemiologie)
371 14

. Abb. 14.1a,b. Epilepsie mit psychomotorischen Anfällen. EEG regelmäßigen Abständen intermittierend synchrone, steile Wellen auf.
im Anfallsintervall. Ableitung von beiden Hemisphären jeweils gegen Der Pfeil markiert einen Lidschlag
das gleichseitige Ohr (a). In allen linksseitigen Ableitungen treten in

Dieses Stadium ist von vegetativen Symptomen begleitet: tisch Ausdruck einer schweren, pränatalen oder frühkindlichen
Pupillenerweiterung, Blässe oder Rötung des Gesichtes, Spei- Hirnschädigung sein (Blitz-Nick-Salaam-Krämpfe, Lennox-
chelfluss, Veränderung der Frequenz von Atmung und Herz- Gastaut-Syndrom). Letztere sind Krankheiten, die in der Kinder-
schlag, Harndrang. neurologie behandelt werden.
Die Patienten werden nicht bewusstlos und stürzen nicht zu
> Generalisierte Anfälle sind durch folgende Elemente
Boden, sondern bleiben stehen, treten von einem Fuß auf den
definiert:
anderen, laufen ziellos im Zimmer hin und her und finden sich
4 Sie sind immer von Bewusstseinsverlust beglei-
hinterher an Orten, ohne zu wissen, wie sie dahin gelangt sind.
tet. Es besteht Amnesie für das Anfallsereignis.
4 Am Ende des Anfalls hellt sich das Bewusstsein langsam
4 Motorische Symptome sind immer bilateral und
auf. Die motorischen Automatismen lassen nach, setzen ganz
4 EEG-Veränderungen sind ebenfalls über beiden
aus, und der Patient nimmt wieder eine geordnete Beziehung
Hemisphären abzuleiten.
zur Umwelt auf. Dabei muss er sich erst mühsam wieder reori-
entieren. Für den Anfall besteht Amnesie.
Altersgebundene kleine Anfälle
3Diagnostik. EEG: Im Intervall ist eine paroxysmale Dys- 3Absencenepilepsie des Kindes- und Jugendalters. Der
rhythmie oder ein Herd träger, scharfer bzw. steiler Wellen, ein- Krankheitsbeginn liegt zwischen 4 und 14 Jahren mit einem
seitig oder doppelseitig über der Temporalregion (. Abb. 14.1). Gipfel zwischen 6 und 10 Jahren. Die Anfälle treten, meist in
Bei Erstmanifestation: immer MRT. großer Häufigkeit, unbehandelt bis zu hundert Male am Tage
auf und werden leicht durch seelische Erregung und Hyper-
ventilation provoziert.
14.4.2 Generalisierte Anfälle
Symptome. Der Anfall dauert wenige Sekunden. Der Ablauf
Die Symptomatik der verschiedenen generalisierten Anfälle ist der Anfälle entspricht nicht selten der indifferenten Absence:
sehr vielfältig. Sie reicht vom tonisch-klonischen Grand-mal- Das Kind wird etwas blass, bekommt einen starren Blick, hält
Anfall bis zu kurz dauernden Störungen des Bewusstseins ohne in seiner Tätigkeit inne, ohne hinzustürzen und reagiert nicht
irgendwelche motorischen Entäußerungen. auf Anruf (»seelische Pause«).
Eine Reihe generalisierter Anfälle tritt typischerweise in Häufig enthält die Absence auch gewisse rhythmische, mo-
einem bestimmten Lebensalter erstmalig auf. Sie werden als al- torische Elemente: Lidmyoklonien, nystaktische Augenbewe-
tersgebundene kleine Anfälle (Petit-mal) bezeichnet. Generali- gungen nach oben, ruckartiges Rückwärtsneigen des Kopfes,
sierte Anfälle können genuin sein (Absencen, Impulsiv-Petit- leichtes Zucken mit den Armen im Rhythmus der Krampfwel-
mal, primär generalisiertes Grand-mal), aber auch symptoma- len im EEG. Selten führen die Kinder orale und andere Auto-
372 Kapitel 14 · Epilepsien

matismen, ähnlich denen beim psychomotorischen Anfall (s. ä Der Fall


o.) aus. Absencen mit Automatismen sind aber von psychomo- Ein 10-jähriges Mädchen wird von der Schule zum schulpsycho-
torischen Anfällen dadurch gut zu unterscheiden, dass sie logischen Dienst geschickt, da es durch zunehmende Unauf-
plötzlich, ohne Aura, einsetzen und ebenso plötzlich wieder merksamkeit und Abfall der früher guten schulischen Leistung
aufhören. aufgefallen ist. Die Eltern berichten der Psychologin, dass ihre
Psychisch sind die Kinder lebhaft, aufgeweckt und nicht Tochter die meiste Zeit des Tages sehr interessiert, lebhaft und
intellektuell beeinträchtigt. Die Absencenepilepsie gehört zu den aufgeweckt sei, dass es dann aber kurze Phasen von Unaufmerk-
genetisch bedingten Epilepsien. Die Kombination mit Grand- samkeit und Abwesenheit gäbe. Zum Beweis bringen sie ein
mal ist häufig. Schulheft mit, in dem ein Diktat mit über 30 Fehlern zu finden ist.
Im gleichen Heft, einige Monate vorher, ist ein ähnlich schweres
Diagnostik. Das EEG zeigt im Anfall immer und im Intervall Diktat fast ohne Fehler geschrieben worden. Bei dem Gespräch
sehr häufig typische 3/s-spikes und waves (. Abb. 14.2a). Bei ist das Kind interessiert, aktiv, bestätigt, was die Eltern erzählen,
typischem Erkrankungsmuster und diesem EEG-Muster ist und wirkt gar nicht auffällig. Die Psychologin beschäftigt sich
keine bildgebende Diagnostik notwendig. 6

14

. Abb. 14.2. a EEG-Ableitung einer Absence bei Pyknolepsie. b Status myoklonischer Anfälle. Fast kontinuierliches, generalisier-
Kleiner Anfall von 7 s Dauer, 3/s-spikes und waves von 500 μV über tes Polyspike-Wave-Muster
allen Hirnregionen (7-jähriges Kind, bis zu 15 Anfälle am Tag),
14.4 · Charakteristika einzelner Epilepsieformen (Anfallssemiologie)
373 14
etwas genauer mit dem Diktatheft und stellt fest, dass die Mehr- die Schultern und Arme betreffen und jeweils nur 2–3 s dau-
zahl der Fehler keine Rechtschreibfehler, sondern Auslassfehler ern. Die Jugendlichen stürzen dabei nicht hin. Das Bewusst-
sind, manchmal fehlen ganze Wörter, manchmal Teile von Worten sein ist nur leicht getrübt. Die IPM-Anfälle treten besonders
und Satzverbindungsstücke. Die schwierigeren Wörter in dem morgens kurz nach dem Erwachen auf. Sie sind genetisch be-
Diktat sind, wenn sie ausgeschrieben sind, fehlerfrei. Ob das Kind dingt. Da sie von vielen Patienten und ihren Angehörigen
schon bei einem Arzt, vielleicht bei einem Kinderneurologen, nicht als Anfälle gewertet werden, muss man speziell danach
gewesen sei, fragt sie. Nein, man sei auf Empfehlung der Schule fragen, ob der Kranke etwa häufig unwillkürlich die Zahn-
sofort zum schulpsychologischen Dienst gegangen. Die Psycho- bürste oder den Kamm wegschleudert oder ob ihm beim
login empfiehlt die Vorstellung bei einer Neurologin. Aufgrund Frühstück die Kaffeetasse aus der Hand fällt. Die IPM können
des Berichts der Psychologin wird ein EEG angefertigt. vor generalisierten Krampfanfällen vom Typ des Aufwach-
Wie von Psychologin und Ärztin vermutet, ist das EEG patho- Grand-mal auftreten. Wie diese, werden die IPM durch vor-
logisch: Kurze Gruppen von 3/s Spike-wave-Komplexen, die angegangenen Alkoholgenuss und Schlafentzug provoziert.
synchron auftreten, dominieren das Hirnstrombild. Die Diagnose Eine intellektuelle Beeinträchtigung tritt nicht ein.
einer Absencen-Epilepsie, in diesem Fall noch nicht durch große,
generalisierte Anfälle kompliziert, wird gestellt, und eine Behand- Diagnostik. Das EEG zeigt häufig, wenn auch nicht so regel-
lung mit Valproinsäure eingeleitet. Nach wenigen Tagen sistieren mäßig wie bei den Absencen, ein typisches Bild mit Polyspike-
die Absencen, und die Schülerin kehrt auf ihren vorherigen wave-Abläufen (. Abb. 14.2b).
Leistungsstand zurück.

3Myoklonische Epilepsie des Jugendalters (Impulsiv-Pe- 14.4.3 Tonisch-klonischer Grand-mal-Anfall


tit-mal). In die Pubertät, meist zwischen dem 14. und 17. Le-
bensjahr, fällt die erste Manifestation der kleinen Anfälle vom Generalisierte tonisch-klonische Grand-mal-(GM-)Anfälle
Typ des Impulsiv-Petit-mal (IPM; Synonyme: myoklonisches können isoliert, als Komplikation einer anderen, generalisier-
Petit-mal, bilateral massiver Myoklonus, Janz-Syndrom). ten Epilepsie mit kleinen Anfällen, oder sekundär generalisiert
mit partiellen Epilepsien kombiniert sein. Auch Gelegenheits-
Symptome. Die Anfälle äußern sich in einzelnen oder salven- anfälle äußern sich meist als GM. Eine GM-Epilepsie kann
artigen, bilateralen, myoklonischen Stößen, die hauptsächlich grundsätzlich in jedem Lebensalter einsetzen. Das Prädilek-

Exkurs
Andere generalisierte Anfälle des Kindesalters
Neugeborenenkrämpfe. Diese sind zu 90% Ausdruck einer setzen die BNS-Krämpfe aus. Später bekommen die Kinder
sehr schweren Hirnschädigung des Neugeborenen. Ursachen fokale und generalisierte Anfälle. Sie treten hin und wieder
sind hypoxische Hirnschädigungen, intrakranielle Blutungen auch ohne schwere Hirnschädigung auf und haben dann eine
und metabolische Störungen. Die Prognose ist schlecht. deutlich bessere Prognose.
Fieberkrämpfe sind Gelegenheitsanfälle und wurden bereits
zu Beginn des Kapitels besprochen. Myoklonisch astatische Epilepsie (Lennox-Gastaut-Syn-
drom). Mit den BNS-Krämpfen verwandt sind die myoklo-
Blitz-Nick-Salaam-Krämpfe (infantile Spasmen, West- nisch-astatischen Anfälle. Das Lennox-Gastaut-Syndrom ent-
Syndrom). Im ersten Lebensjahr, meist um den 6. Monat, steht in etwa der Hälfte der Fälle symptomatisch als Folge
treten die Blitz-Nick-Salaam-(BNS-) Krämpfe auf. einer schweren prä- und perinatalen Hirnschädigung. Manch-
Der Anfallsablauf ist durch eine brüske Vorwärtsbewe- mal entwickelt es sich aus BNS-Krämpfen. Die Anfälle treten
gung charakterisiert (»Blitz«), die Kopf(»Nick«) und Rumpf meist um das 4. Lebensjahr auf. Eine genetische Vorbelastung
betrifft oder von einem Anheben der Beine und des Rumpfes findet sich bei etwa einem Viertel der Patienten. Das idiopa-
und Einschlagen der Arme (»Salaam« in Anlehnung an die thische Lennox-Gastaut-Syndrom hat eine bessere Prognose
arabische Grußgeste) begleitet ist. Der einzelne Anfall dauert als das symptomatische.
nur wenige Sekunden. Währenddessen besteht eine Be- Tonische Anfälle überwiegen, Arme und Beine werden
wusstseinstrübung. Typischerweise treten diese BNS-Krämp- plötzlich gebeugt oder tonisch angehoben. Durch einen
fe in Serien bis zu 50 Anfällen auf. Sie können auch mit plötzlichen Tonusverlust stürzen die Kinder wie vom Blitz
Grand-mal-Anfällen kombiniert sein. getroffen zu Boden. Häufig kommt es davor zu Beugemyoklo-
Das EEG zeigt ein sehr charakteristisches Bild, das die nien der Arme, Zuckungen der Gesichtsmuskulatur oder
Diagnose meist auch ohne Kenntnis des klinischen Befundes oralen Automatismen. Die Anfälle treten bevorzugt nach dem
erlaubt (»diffuse, gemischte Krampfpotentiale« oder »Hyp- Erwachen aus dem Nacht- oder Mittagsschlaf auf. Sie können
sarrhythmie«). Sie werden mit Vigabatrin behandelt, einem sich statusartig häufen. Daneben haben die Kinder tonische,
Antiepileptikum, das sonst kaum noch eingesetzt wird. große Krampfanfälle. Im EEG finden sich ähnliche Verände-
Prognose: Ohne Behandlung entwickelt sich im weiteren rungen wie bei BNS-Krämpfen, manchmal auch 2/s-Krampf-
Verlauf eine schwere geistige und körperliche Entwicklungs- wellen-Varianten.
hemmung und später auch Demenz. Um das 5. Lebensjahr
374 Kapitel 14 · Epilepsien

Facharzt
Epilepsien mit Myoklonien
Epilepsien, bei denen Myoklonien im Vordergrund stehen, andere Symptome wie Ataxie, Neuropathie und metabolische
sind das Impulsiv-Petit-mal (juvenile Myoklonusepilep- Störungen hinzu.
sie), fokale motorische Anfälle und einige generalisierte Genannt, aber nicht näher besprochen, seien die progre-
Anfälle des Kindesalters. diente Myoklonusepilepsie vom Typ Unverricht-Lundborg, die
Eine Sonderform der Epilepsien sind die progressiven Zeroidlipofuszinose und Sialidose, die MERRF (Myoklonusepi-
Myoklonusepilepsien, die meist im Kindes- und Jugendal- lepsie mit ragged-red fibers, s. Kap. 28.7.3) in der Muskelbiopsie,
ter auftreten. Hier kommt es neben der Epilepsie mit Myo- die Lafora-Einschlusskörperchen-Krankheit und die progre-
klonien fast immer zu einer erheblichen Demenz. Oft sind diente Myoklonusataxie, das Ramsey-Hunt-Syndrom. Dieses
Stoffwechselkrankheiten oder Mitochondriopathien die Syndrom hat eine bessere Prognose, eine Demenz ist oft nicht
Ursache für diese seltenen Syndrome. Allen gemeinsam ist vorhanden, epileptische Anfälle sind selten, dagegen steht die
die durch nichts zu verhindernde Progredienz der meist Ataxie im Vordergrund.
genetisch bedingten Abnormität. Fast immer treten auch

tionsalter liegt bei der genuinen Epilepsie zwischen dem Schul- Nach wenigen Sekunden setzen rhythmische klonische Zu-
alter und dem 25. Lebensjahr. Vor dieser Zeit beginnende ckungen ein. Diese dauern für etwa 1–5 min ununterbrochen
Grand-mal-Epilepsien beruhen meist auf perinataler oder früh an. Danach werden sie seltener, können noch ein- bis zweimal
erworbener Hirnschädigung (Residualepilepsie). Nach dem für Sekunden aufflammen und setzen dann ganz aus.
25. Lebensjahr muss immer ein Tumor oder eine andere Hirn- Im Krampf beißt sich der Patient häufig seitlich auf die
oder Hirngefäßkrankheit ausgeschlossen werden. Psychomoto- Zunge, so dass der Schaum, der vor den Mund tritt, blutig ge-
rische Anfälle können bei längerem Bestehen einer GM-Epilep- färbt ist. Oft, aber keineswegs immer, kommt es zur Enuresis,
sie manifest werden und zeigen dann die sekundäre Krampf- viel seltener auch zu Stuhlabgang. Während des Krampfstadi-
schädigung des Temporallappens an. ums sind als Folge der schweren Funktionsstörung im Zentral-
Etwa ein Drittel aller GM-Anfälle treten in den ersten nervensystem pathologische Reflexe der Babinski-Gruppe
Stunden nach dem Aufwachen, unabhängig von der Tageszeit auszulösen, jedoch hat man in der Praxis nur selten Gelegen-
auf. Nicht selten sind diese Aufwach-GM-Anfälle mit anderen heit, sich davon zu überzeugen. Der Blutdruck ist vorüberge-
primär generalisierten Anfällen, Absencen oder Impulsiv-Pe- hend stark erhöht. Die Atmung sistiert in der tonischen Phase,
tit-mal verbunden. Das Aufwach-GM beginnt typischerweise die Pupillen reagieren nicht.
im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter. Die Anfälle werden 4 Nach dem Anfall: Der Kranke liegt mit röchelnder,
durch Schlafentzug provoziert. Etwa 10% der Patienten sind schwerer Atmung schlaff da und verfällt in einen Terminal-
genetisch mit Epilepsie belastet. Beim Schlaf-Grand-mal und schlaf, der Minuten bis Stunden dauert. Beim Erwachen fühlt
diffusem Grand-mal ist die genetische Prädisposition deut- sich der Patient, entsprechend der überstandenen schweren
14 lich niedriger. Schlaf-GM und diffus über den Tag verteilte GM körperlichen Anstrengung, müde und zerschlagen. Eine post-
können in jedem Lebensalter erstmalig auftreten. Sie sind häu- paroxysmale Verwirrtheit kann Stunden, manchmal Tage
fig symptomatisch und können fokal beginnen. dauern.
Differentialdiagnostisch ist, auch zur Abgrenzung gegen
3Ablauf des Anfalls. psychogene Anfälle, der Anstieg der CPK sowie, wenn man die
4 Aura: Der große epileptische Krampfanfall kann von einer Möglichkeit des Nachweises hat, von Plasmakortisol und Pro-
Aura eingeleitet werden oder den Patienten plötzlich, ohne laktin auf das 10- bis 20fache der Norm von Bedeutung.
Vorboten, als elementares Ereignis überfallen. Die Qualität der
Aura hat diagnostische Bedeutung, da man daran gelegentlich 3Komplikationen. Durch die plötzliche, gewaltige Muskel-
erkennen kann, aus welcher Hirnregion die epileptische Entla- kontraktion der langen Rückenstrecker kann es zu Deckplat-
dung stammt: In manchen Fällen lässt sich der Ausgangsherd teneinbrüchen, Vorderkantenabsprengung, selten auch
an einer postparoxysmalen Parese erkennen. Kompressionsfrakturen in Höhe der unteren BWS und oberen
4 Anfallsbeginn: Häufig stößt der Patient zu Beginn des An- LWS kommen (Röntgenaufnahme bei schmerzhafter Bewe-
falls einen Initialschrei aus. Dieser kommt mechanisch durch gungseinschränkung!). Auch Schulterluxationen und Unter-
Kontraktion der Atemmuskeln bei fast geschlossener Stimm- kieferfrakturen werden beobachtet.
ritze zustande. Der Patient stürzt dann zu Boden. Dabei ver-
letzt er sich gelegentlich. Die Augen bleiben meist geöffnet. Die 3Diagnostik. Im EEG tritt unmittelbar vor einem großen
Bulbi sind nach oben oder zur Seite verdreht, die Pupillen rea- Anfall erst eine Abflachung ein, gefolgt von Spike-Potentialen
gieren nicht auf Licht. und Muskelartefakten. Der tonischen Phase entspricht eine
4 Tonisch-klonisches Stadium: Der Körper des Kranken Serie hochfrequenter Spitzenpotentiale. Während der klo-
streckt sich jetzt im tonischen Krampfstadium, in dem die Bei- nischen Phase sind die steilen Potentiale von langsameren
ne überstreckt und die Arme gestreckt oder gebeugt sind. Das Nachschwankungen gefolgt (. Abb. 14.3). Nach einem Grand-
Gesicht wird durch Apnoe zyanotisch. mal ist das EEG für variable Perioden von langsamen Wellen
14.4 · Charakteristika einzelner Epilepsieformen (Anfallssemiologie)
375 14

. Abb. 14.3. Grand mal (fortlaufende Registrierung). (Aus Christian 1982) doppelte Registriergeschwindigkeit
376 Kapitel 14 · Epilepsien

beherrscht oder jedenfalls im Grundrhythmus verlangsamt. und Drogen und Entzug von Alkohol, Tranquilizern oder Bar-
Wenn unmittelbar nach einem Anfall das EEG normal ist, bituraten sein.
spricht dies gegen Epilepsie. Nach einem synkopalen Anfall ist Auch bei genuiner Epilepsie liegen fast immer besondere
das EEG innerhalb von 2–3 min normal. Nach dem ersten Umstände vor, die zur Auslösung des Status führen, z.B. unzu-
Grand-mal ist immer eine neuroradiologische Abklärung an- reichende Behandlung oder plötzliches Absetzen der Medika-
gezeigt. Dies gilt auch bei Kopplung mit anderen generalisier- mente. Der pathophysiologische Mechanismus ist hier ähnlich
ten Anfallsformen. wie bei den Entziehungsdelirien nach längerem Alkoholabusus
oder den Entziehungskrämpfen nach abruptem Absetzen von
chronisch eingenommenen Barbituraten.
14.4.4 Status epilepticus
3Diagnostik. Bei jedem SE, besonders aber wenn der Status
3Definition. Ein Status epilepticus (SE) ist ein epileptischer epilepticus bei einem Patienten auftritt, bei dem noch keine
Anfall, dessen Dauer 5 min bei generalisiert tonisch-klonischen Epilepsie bekannt ist, sind neben der Therapie (s.u.) auch un-
Anfällen und 20–30 min bei fokalen Anfällen oder Absencen verzüglich diagnostische Maßnahmen einzuleiten. Dazu ge-
überschreitet, oder das aufeinander Folgen von Anfällen mit hören:
gleicher Mindestdauer in kurzen Abständen, zwischen denen 4 Blutentnahme zur Routine-Labordiagnostik (Glukose,
klinisch oder elektroenzephalographisch keine vollständige BSG, Blutbild, CRP, Elektrolyte, Leberenzyme, CK; Schilddrü-
Restitution erfolgt. senhormone, Blutgasen; Toxikologie-Screening und Ethanol-
Beim Status generalisierter Anfälle wird zwischen den An- Bestimmung)
fällen das Bewusstsein nicht wiedererlangt. Der Status fokaler 4 Notfall-CCT; falls dies unauffällig, MRT zum Ausschluss
Anfälle kann ohne Bewusstseinsverlust ablaufen. Auch ein psy- akuter symptomatischer Ursachen
chogener Status ist nicht ungewöhnlich, aber gut vom epilep- 4 EEG bei Therapieversagen zur Differentialdiagnose (psy-
tischen Status zu unterscheiden. chogener Status )
Wir trennen zwischen: 4 Lumbalpunktion
4 dem Status generalisierter tonisch-klonischer Anfälle 4 internistische Diagnostik
(SGTKA)
4 dem konvulsiven oder nicht-konvulsiven Status einfach Im EEG sind kontinuierliche, epileptische Entladungen festzu-
oder komplex-fokaler Anfälle stellen, die im tiefen Koma von periodischen, rhythmischen
4 dem Absence-Status (nonkonvulsiver generalisierter SE) Entladungen mit Kurvenabflachung (Burst-suppression-Mus-
4 dem sog. subtilen Status epilepticus. ter) gefolgt werden.
Selbstverständlich ist, dass alle Patienten, besonders mit bis
Grand-mal-Status dahin unbekannter Epilepsie, auch im CT oder MRT unter-
Die Bezeichnung Grand-mal-Status ist nur gerechtfertigt, sucht werden, sobald die akute Phase des Status epilepticus
wenn tonisch-klonische GM-Anfälle so dicht aufeinanderfol- überwunden ist. Medikamentenspiegel und Drogenscreening
gen, dass der Patient dazwischen nicht mehr das Bewusstsein sowie Alkoholspiegel werden im Blut bestimmt.
14 erlangt. Reagiert der Kranke zwischen zwei Anfällen wieder
auf Ansprache, liegt kein Status vor, sondern eine Häufung von 3Pathophysiologie. Beim Status epilepticus versagt der
Krampfanfällen, auch Grand-mal-Serie genannt. Der Grand- Hemmmechanismus, der üblicherweise einen einzelnen Anfall
mal-Status ist lebensbedrohlich, je nach Grundkrankheit kann beendet. Es kommt zur kontinuierlichen Freisetzung von exzita-
die Letalität bei 20% liegen. torischen Aminosäuren und zur Steigerung des Gehirnmetabo-
lismus um 200–300%. Die Hirngefäße erweitern sich, es ent-
3Ursachen. Ein Status epilepticus tritt bei 3–8% aller wickelt sich eine systemische Hypertension, und ein Ungleichge-
Anfallskranken auf. In 2/3 der Fälle handelt es sich um symp- wicht zwischen dem metabolischen Verbrauch des Gehirns und
tomatische Epilepsien. Unter diesen wird der Status am der Substratzufuhr entsteht. Früher war man der Meinung, dass
häufigsten bei Gehirntumoren beobachtet, in erster Linie bei eine zunehmende Hypoxie zur Beendigung des Status epilepticus
Astrozytomen, etwas seltener bei Glioblastomen, dagegen führe und damit günstig sei. Dies geschieht aber nur auf Kosten
kaum bei Meningeomen. An zweiter Stelle stehen offene Hirn- eines wahrscheinlich irreversiblen Neuronenuntergangs. Die Pa-
verletzungen, die weit mehr als gedeckte zum Status dispo- tienten sind durch Aspiration, Azidose, Hypoxie, Rhabdomyoly-
nieren. Seltenere Ursachen sind akute Enzephalitis, Schlag- se, Hypothermie, Frakturen und Lungenödem gefährdet.
anfall, degenerative Hirnprozesse, interkurrente Infekte, Alko-
holdelir. Manchmal ist der Status die Erstmanifestation einer 3Verlauf und Prognose. Gelingt es nicht, den Status zu un-
Epilepsie, häufiger ist aber vorher schon eine Epilepsie be- terbrechen, entwickelt sich innerhalb von Stunden ein Hirn-
kannt. Bei vorbestehender Epilepsie sind unregelmäßige Me- ödem. Die Körpertemperatur steigt an, und der Patient stirbt am
dikamenteneinnahme, Änderung der Medikation oder gleich- zentralen Herz- und Kreislaufversagen. Diese Entwicklung wird
zeitiger Alkoholentzug oft die Ursache eines Status. Weitere verständlich, wenn man die energetischen Vorgänge berücksich-
Ursachen für die Erstmanifestation einer Epilepsie als Status tigt, die schon den einzelnen Krampfanfall begleiten. Wir behan-
können metabolische Störungen wie Hypoglykämie oder deln alle Patienten mit einem Grand-mal-Status auf der
Hyponatriämie und Intoxikationen, Drogen (Kokain, Ecstasy) Intensivstation.
14.5 · Therapie
377 14
Die Patienten werden kardiovaskulär überwacht, viele Pa- 14.5 Therapie
tienten werden intubiert und beatmet. Auch heute noch hat der
Grand-mal-Status eine Mortalität von um die 10%, bei man- 14.5.1 Notfalltherapie
chen zugrunde liegenden Krankheiten auch höher. Leider sind
Rückfälle häufig, da manche Patienten die gleichen Fehler ä Der Fall
immer wieder begehen. Nach lange dauernden, therapieresis- Ein etwa 30-jähriger Mann stürzt in einem Kaufhaus plötzlich zu
tenten Grand-mal-Anfällen und auch nach häufigen epilep- Boden. Beim Sturz stößt er einen Schrei aus und schlägt mit dem
tischen Status kommt es zur kortikalen neuronalen Schädigung Kopf auf einen Verkaufstisch. Auf dem Boden liegend, verkrampft
durch Exzitotoxizität. er, die Augen sind offen, er atmet nicht und ist am ganzen Körper
steif. Nach etwa 30 s beginnt der Patient an Armen und Beinen
Absencenstatus rhythmisch zu zucken. Speichel, der blutig gefärbt ist, tritt aus
Der Absencenstatus ist viel seltener als der GM-Status und weit dem Mund. Die Umstehenden sprechen den Mann an, aber er
weniger gefährlich. Kinder und manchmal Erwachsene um das reagiert nicht. Eine Angestellte ruft den Notarzt.
50. Lebensjahr sind plötzlich nicht mehr ansprechbar, nesteln, Nach 1–2 min enden die Zuckungen. Der Patient beginnt
wirken abwesend. Im EEG zeigt sich eine 3/s-Spike-wave-Ak- tief zu atmen, er ist bewusstlos, die Augen sind jetzt geschlossen.
tivität. Dies ist eine wesentliche Unterscheidung zum klinisch Mit der Zeit wird er unruhig, bewegt sich, öffnet die Augen und
ähnlichen Status psychomotorischer Anfälle, bei dem kein ge- reagiert unwirsch auf Ansprache. Einige Minuten später kommt
neralisiertes Spike-wave-Muster, sondern meist lateralisierte, der Notarzt. Er lässt sich das Ereignis schildern, greift in seine
rhythmische, hoch gespannte Wellen temporal gefunden wer- Tasche und zieht nacheinander 2 Ampullen mit Medikamenten
den. Bei älteren Erwachsenen kann der Absencenstatus nach auf. Der Patient, noch immer müde, verhangen und desorientiert
20 oder 30 Jahren Anfallsfreiheit ohne Medikation auftreten. wirkend, wehrt sich gegen die Injektion in die Vene, woraufhin
der Notarzt ein weiteres Medikament hervorzaubert und schnell
Status psychomotoricus injiziert. Der Patient wird sichtlich ruhiger, schlaffer, und die
Dies ist ein andauernder komplex-fokaler Anfall – mit oder Atmung wird flach. Der Notarzt greift zum Intubationsbesteck
ohne fokale Myoklonien. Im Vordergrund stehen die fluktuie- und »zieht« das Laryngoskop.
render psychomotorische Verlangsamung, Desorientiertheit In der Klinik muss der Patient zunächst auf die Intensivstati-
und motorische Automatismen. Die Symptome sind vielfältig. on, um aus dem iatrogenen Koma herauszukommen. Am nächs-
Man unterscheidet den kontinuierlichen vom diskontinuier- ten Morgen kann er nach Hause gehen. Er hat Glück gehabt –
lichen Status psychomotoricus. Die Patienten können abwe- manche Patienten haben schon diese völlig unnütze notärztliche
send wirken, nesteln und schmatzen, aber auch komplexe, Intervention teuer bezahlt.
zielgerichtet wirkende Aktionen ausführen, ohne dass sie sich
dessen bewusst sind. Es gibt (allerdings seltene) Fälle, in denen Behandlung des epileptischen Einzelanfalls?
Patienten Hunderte von Kilometern mit dem Auto fahren (un- Für den Beobachter ist der große Anfall ein beängstigendes,
fallfrei, wohlgemerkt), dann irgendwo aufgegriffen und in die elementares Erlebnis, und es wird praktisch immer sofort der
Psychiatrie eingewiesen werden, wo man im EEG den Status Notarzt gerufen. Wenn dieser erscheint, ist der Anfall in der
psychomotorischer Anfälle diagnostiziert. Dass es in einem Regel zu Ende. Der Patient ist im Terminalschlaf oder wacht
psychomotorischen Status zu kriminellen Handlungen kommt, gerade auf. Hierbei kann er noch verwirrt und desorientiert
wie manchmal postuliert wird, soll jedoch extrem selten sein. sein. Obwohl der Anfall beendet ist, glauben viele Ärzte, dass
Hier handelt es sich meist um eine Schutzbehauptung. sie noch behandeln sollen, aber sie tun genau das Falsche: Sie
geben hohe Dosen Valium, manchmal zusammen mit Barbitu-
Subtiler Status epilepticus raten oder Dephenylhydantoin. Weil der Patient so schwer at-
Dies ist ein prognostisch sehr ungünstiger, meist generalisier- met, meinen sie, den Patienten intubieren zu müssen. Sehr oft
ter Status epilepticus, der bei schwersten Hirnschädigungen muss dieser Patient anschließend stationär aufgenommen wer-
auftritt. Klinisch zeigen sich nur wenige oder gar keine moto- den – nicht wegen seines Grand-mal-Anfalls, sondern wegen
rischen Entäußerungen (weitgehend erschöpfte), während im der iatrogenen Intoxikation.
EEG kontinuierliche Krampfaktivität abzuleiten ist. Die Pati- Der Anfall beendet sich selbst und ist praktisch immer
enten sind komatös. Nicht selten ist dies der terminale Zustand beim Eintreffen des Arztes beendet. Viel wichtiger wäre es jetzt,
nach einem lange dauernden, therapieresistenten Status gene- wenn möglich, eine vernünftige Anfallsbeschreibung (fokaler
ralisierter Anfälle. Es bestehen wahrscheinlich fließende Über- Beginn, hat der Patient eine Aura berichtet?) oder eine Fremd-
gänge zu nonkonvulsiven SE bei akuten schweren Hirnerkran- anamnese (vorbestehende Epilepsie, Operationen in der letz-
kungen. ten Zeit, andere neurologische Krankheiten?) zu erhalten.
Sinnvoll ist es auch, sofort einen venösen Zugang zu legen
und Blut zu asservieren, aus dem dann die Serumspiegel der
gängigen Antiepileptika bestimmt werden können, sowie eine
Kochsalz- oder Ringerlösungs-Infusion zu geben. Die Gewin-
nung von Blut für Serumspiegel der Antiepileptika (s.u.), Blut-
zuckerbestimmung und Alkoholspiegel ist wichtig. Die Mehr-
zahl der Patienten mit einem Grand-mal-Anfall hat eine be-
378 Kapitel 14 · Epilepsien

kannte Epilepsie, und häufig liegt ein zu niedriger Serumspie- le, sportliche Belastungen oder eine normale Berufstätigkeit
gel der verordneten Medikamente vor. Da es manchmal gemeint) sollen vermieden werden. Normale, vitaminreiche
schwierig ist, herauszufinden, wie die Patienten bisher behan- Ernährung und das Vermeiden von individuell anfallspro-
delt wurden, ist es günstig, über den Nachweis von Restsubs- vozierenden Reizen (Stroboskop) sollten selbstverständlich
tanzen im Blut herauszufinden, welches Medikament man zur sein.
Weiterbehandlung einsetzt.
Tritt ein weiterer Grand-mal-Anfall auf, ist es völlig be-
rechtigt, Valium® 10–20 mg i.v. zu geben, ggf. den Patienten zu 14.5.3 Antiepileptische Medikamente
intubieren und sofort in ein Krankenhaus mit Intensivstation
zu transportieren. Man sollte nicht versuchen, den Patienten Allgemeines
beim Anfall zu fixieren oder festzuhalten. Die Kraft, die im Nicht in jedem Fall von Epilepsie wird man eine medika-
Anfall produziert wird, ist enthemmt, und Luxationen sind die mentöse Behandlung einleiten. Bekommt ein Kranker im jün-
Folge. Auch sollte man nicht versuchen, mit Gewalt irgendwel- geren oder mittleren Lebensalter 1- bis 2-mal im Jahr einen
che Dinge zwischen die Zähne zu pressen. Besonders Gummi- Anfall aus dem Schlaf heraus, ist das EEG auch nach Provoka-
keile sind hier gefährlich, da bei dem massiven Druck, den die tionsmaßnahmen normal, der psychische Befund unauffällig
Kaumuskulatur ausübt, der unterschiedliche Winkel zu Frak- und besteht keine hereditäre Belastung, so kann man ohne
turen der Mandibula führen kann. Nur wenn die Zunge so weit Therapie die weitere Entwicklung beobachten (Ausnahme:
vorsteht, dass bei einem Zungenbiss ein Drittel der Zunge traumatische Epilepsie). Auch dysrhythmische Abläufe im
durch den Zungenbiss amputiert würde, muss versucht wer- EEG, selbst Spike-Potentiale allein, sind kein Grund zur anti-
den, die Zähne auseinander zu bekommen. Hierzu kann eine epileptischen Behandlung. Bestimmte pathologische Wellen-
kurzzeitige Muskelrelaxation notwendig werden. Im Übrigen formen im EEG sind ein eigenes genetisches Merkmal, das
ist es unmöglich, einen Patienten zu intubieren, während er zwar hoch, aber keineswegs absolut mit dem Merkmal »Anfäl-
krampft. Auch im Status epilepticus muss man eine Phase ab- le« korreliert ist. »Kurvenkosmetik« ist deshalb nicht zu ver-
warten, in der die klonische Krampfaktivität weniger hoch ist. antworten.
Der einzelne epileptische Anfall bedarf keiner Therapie. Entschließt man sich zur medikamentösen Behandlung,
Wenn es in Anwesenheit des Notarztes zu einem weiteren An- soll die Dosierung ausreichend hoch sein: Der häufigste Fehler
fall kommt, muss von einem beginnenden Status epilepticus in der Behandlung der Epilepsie ist die zu niedrige Dosie-
(7 Kap. 14.4) ausgegangen werden. rung.
Man soll versuchen, wenn irgend möglich, nur mit einem
Medikament zu behandeln (Monotherapie). Mehrere Medika-
14.5.2 Allgemeine Lebensführung mente sollen nur dann kombiniert werden, wenn auch bei ho-
hem Serumspiegel (s.u.) durch ein Medikament allein keine
Grundlage jeder antiepileptischen Therapie ist das Befolgen Anfallsfreiheit oder entscheidende Verminderung zu erreichen
allgemeiner Lebensregeln, die bestimmte anfallsauslösende ist. Sekundär generalisierte Anfälle sind schwerer als primär
Mechanismen verhindern sollen. Viele Epilepsien sind an den generalisierte zu behandeln. Die erste Gruppe ist durch Auren,
14 Schlaf- oder Wachrhythmus gebunden. Deshalb ist es wichtig, fokalen Beginn, Seitenbetonung der Krämpfe, Herdbefund im
dass die Anfallskranken auf einen regelmäßigen Nachtschlaf EEG und/oder eine CT-Läsion abzugrenzen.
achten und Schlafentzug vermeiden. Akuter Alkoholentzug
wirkt anfallssteigernd. Man sollte davon ausgehen, dass die Einteilung der Antiepileptika
Mehrzahl der Anfallspatienten weiter Alkohol trinkt, und es Es gibt sehr viele antiepileptische Medikamente und noch
ist daher besser, ihnen geringe Mengen zu gestatten, als sie mehr Handelsnamen. Wir benutzen im Folgenden überwie-
zu einer, wahrscheinlich nicht durchhaltbaren, völligen Absti- gend die internationalen Freinamen und nennen eine subjek-
nenz zu drängen. Regelmäßige Medikamenteneinnahme ist tive Auswahl von Handelsnamen (Übersicht: . Tabelle 14.2).
entscheidend. Extrembelastungen (hiermit sind nicht norma- Details sind auch den Exkursen zu entnehmen.

Facharzt
Status partieller motorischer Anfälle (Epilepsia partialis continua)
Dieses Syndrom ist mit dem Eigennamen Kojevnikow ver- immer bei Bewusstsein und erleben die kontinuierliche, epi-
bunden. leptische Aktivität in der betroffenen Extremität oder im Ge-
Symptome sind klonische Zuckungen, die auf einen sicht als ausgesprochen quälend, manchmal auch schmerz-
umschriebenen Körperbezirk, etwa die Mundregion oder haft. Die Myoklonien können bei jeder Ätiologie selbst im
einen Finger, beschränkt bleiben (»partialis«) und stunden- Schlaf bestehen bleiben.
oder tagelang ununterbrochen ablaufen (»continua«). Die Diagnose ist einfach zu stellen, hierzu braucht man
Ursache ist meist eine kortikale Läsion (z.B. Tumor, Enze- nicht einmal ein EEG. Das EEG kann bei diesem Typ fokaler
phalitis, Infarktnarbe). Eine weitere, wichtige Ursache ist die epileptischer Anfälle ausnahmsweise normal sein, wenn über
nichtketotische, hyperosmolare Hyperglykämie (»entwäs- dem Ort der Erregungsproduktion keine Elektrode sitzt. Im
sernde« Infusionen kontraindiziert!). Die Patienten sind fast MEG lässt sich dieser Befund leichter nachweisen (s. Abb. 14.4).
14.5 · Therapie
379 14
4 Zu den klassischen Antiepileptika gehören Carbamaze- Epilepsien gibt es keine wesentlichen Unterschiede in ihrer
pin (CBZ), Valproinsäure (VPA), Phenytoin, Diphenylhydan- Wirksamkeit, nur Gabapentin scheint etwas weniger wirk-
toin (DPH), Phenobarbital (PHB) und Primidone (PRI), Etho- sam zu sein. Bei den generaliserten Epilepsien sind Valproin-
suximid (ETX) und Benzodiazepine säure und Topiramat etwa gleich effektiv und wirksamer als
4 Zu den neueren Medikamenten gehören Lamotrigin Lamotrigin.
(LMT), Topiramat (TOP), Gabapentin (GBP), Oxcarbazepin Schon von den klassischen Antiepileptika war bekannt,
(OCZ), Levetiracetam (LVP), Pregabalin (PGA) und Tiagabin dass in Kombination die Serumspiegel der Medikamente ver-
(TGB). änderte. Dies gilt auch für einige der neuen Medikamente, hier
ganz besonders für das Felbamat. Die wesentlichen Interakti-
Die Medikamente der ersten und zweiten Wahl bei verschie- onen sind in Tabelle 14.3 wiedergegeben.
denen Anfallsformen sind in den . Tabellen 14.2 und 14.3 Welches Medikament im Einzelfall eingesetzt wird, muss
zusammengefasst. Der folgende Exkurs gibt detaillierte In- individuell entschieden werden. Hier spielen Sicherheit, Ver-
formationen zu den einzelnen Medikamentengruppen. Aus träglichkeit, Begleitmedikation (Enzyminduktion), Preis, aber
der Gruppe der sog. neueren Antiepileptika stehen zur Mo- auch individuelle Patientenwünsche (Gewicht) eine Rolle.
notherapie bzw. Erstbehandlung inzwischen Gabapentin, Bei generalisierten Epilepsien gebe ich in der Regel Valpro-
Lamotrigin, Oxcarbazepin, Levetiracetam und Topiramat insäure als Mittel der ersten Wahl (aber nicht bei jungen Frau-
zur Verfügung. Lamotrigin und Topiramat können auch en wegen der Gefahr der Gewichtszunahme und Haarverän-
zur Behandlung generalisierter Epilepsien empfohlen wer- derungen, dann kann man Topiramat nehmen). Bei fokalen
den. Die neueren Antiepileptika sind mindestens zur Be- Epilepsien gebe ich Oxcarbazepin als erste Wahl, auch weil es
handlung fokaler Epilepsien gleich wirksam wie die klas- schnell höher dosiert werden kann (Hyponaträmie beachten).
sischen Wirkstoffe Carbamazepin, Valproinsäure, Phenytoin Manche Kollegen empfehlen auch Levetiracetam bei fokalen
und Phenobarbital bei vermutlich besserer Verträglichkeit Epilepsien. Patienten, die seid vielen Jahren erfolgreich auf
und damit besserer Effektivität, , jedoch höheren Kosten. Un- Carbamazepin eingestellt sind, stelle ich nicht auf ein moder-
ter den neuen Medikamenten zur Behandlung der fokalen neres Medikament um.

. Tabelle 14.2. Antiepileptisch wirksame Medikamente


Name Darreichungsform, Handelsname Übliche Dosierung Wirksam bei
HWZ- (z.B.)
Carbamazepin (CBZ) per os; HWZ 20 h Tegretal, CBZgen 600–2400 mg, auch Monotherapie fokale Anfälle,
retardiert auch bei generalisierten Anfällen
wirksam
Diphenylhydantoin per os; i.v.; HWZ 20 h Phenhydan, DPH 300–500 mg Monotherapie fokale Anfälle,
(DPH) Kurzinfusion gen Zur Schnellsättigung Status epilepticus
2- bis 3-mal750 mg
Valproinsäure (VPA) per os, i.v.; HWZ 10 h Ergenyl, VPA gen 600–2000 mg auch retardiert 1. Wahl: Monotherapie generali-
Zur Schnellsättigung i.v., sierte Anfälle, auch bei fokalen
3-mal 400 mg/30 min Anfällen
Phenobarbital (PHB) per os; HWZ 100 h Luminal 50–200 mg Monotherapie fokale und gene-
Auch i.v. zur Status- ralisierte Anfälle
behandlung (7 Text)
Primidon per os; HWZ 10 h Mylepsinum 500–1500 mg Monotherapie generalisierte
Anfälle (Janz-Syndrom)
Ethosuximid (ETX) per os, HWZ 30 h Petnidan 500–1500 mg nur Absencen
Lamotrigin (LMT) per os, HWZ 30 h Lamictal 100–800 mg fokale und generalisierte Anfälle
Gabapentin (GBP) per os, HWZ 6 h Neurontin 1200–2400 mg Monotherapie fokale Anfälle
Pregabalin (PGB) per os, HWZxx Lyrica 150–600 mg Add on fokale Anfälle
Tiagabin (TGB) per os, HWZ 8 h Gabitril 15–60 mg Add-on fokale
Oxcarbazepin (OCB) per os, HWZ 12 h Trileptal 600–2400 mg 1. Wahl: Monotherapie fokale
Anfälle
Topiramat (TPM) per os, HWZ 20 h Topamax 100–800 mg Monotherapie fokale und gene-
ralisierte Anfälle
Levetiracetam (LVP) per os, HWZ 8 h Keppra 1000–3000 mg Monotherapie fokale Anfälle,
add-on generalisierte Anfälle

Zonisamid (ZON) per os Zonedran 200 500 mg add-on fokale Epilepsien


380 Kapitel 14 · Epilepsien

42 averagd spikes . Tabelle 14.3. Interaktionen zwischen einigen wichtigen


a c Antiepileptika
Substanz Interaktion Effekt auf
mit Serumspiegel
Diphenyl- CBZ CBZ höher, DPH niedriger
hydantoin (DPH) PB niedriges PHB: DPH niedriger
VPA hohes PHB: DPH höher
DPH niedriger
Valproinsäure PHB PHB stark erhöht
(VPA) CBZ CBZ niedriger
DPH DPH niedriger
Carbamazepin VPA CBZ stark erhöht
b d (CBZ) DPH CBZ höher, DPH niedriger
PB CBZ niedriger, PB höher
Phenobarbital CBZ CBZ niedriger, PB höher
(PHB) DPH niedriges PB: DPH niedriger
VPA hohes PB: DPH höher
PB stark erhöht
Lamotrigin LTG CBZ, DPH, Alle etwas niedriger
PB LTG stark erhöht
VPA
Vigabatrin (VGB) DPH DPH deutlich niedriger
PHB PHB niedriger
Gabapentin Sehr geringe Interaktionen
(GBP) mit anderen Antiepileptika
Bei Gabe von Felbamat (FBM): Dosierung der anderen Substanzen
um 20–30% senken!
. Abb. 14.4. Interiktales MEG bei fokaler Epilepsie. a Rekonstru-
ierte Magnetfeldlinien zum Zeitpunkt maximaler interiktalen Spike-
Aktivität. Die hellen Flächen stellen den Magnetfeldaustritt aus dem
Die Erfolgsraten sind bei einzelnen Anfallsformen ganz
Kopf dar, die dunklen den Eintritt. Die Kreise über dem Skalp zeigen
die Sensorpositionen des MEG-Systems. b–d Lage und Orientierung
unterschiedlich: Symptomatische, generalisierte Anfälle des
des Stromdipols in den anatomischen Schnittbildern. Der äquivalente Kindesalters, bei denen häufig eine Mehrfachbehinderung vor-
liegt, sind oft therapieresistent, und man muss 4 oder 5 Medi-
14 Stromdipol liegt innerhalb der im MRT erkennbaren Läsion im fronta-
len Bereich der linken Hemisphäre kamente zusammen geben. Trotzdem krampfen die Patienten
weiterhin mehrfach täglich. Auch bei manchen Erwachsenen
mit partiellen, sekundär generalisierten Anfällen ist die medi-
14.5.4 Antiepileptische Dauerbehandlung kamentöse Behandlung alleine nicht befriedigend. Hinzu
kommt, dass Kombinationstherapien aufgrund von Medika-
Wie bei der Besprechung der einzelnen Antiepileptika ausge- menteninteraktionen und aufgrund des erweiterten Neben-
führt, sind manche Substanzen bei bestimmten Anfallsformen wirkungsspektrums oft nicht gut toleriert werden. In solchen
sehr wirksam, bei anderen unwirksam, manchmal sogar an- Fällen soll eine operative Behandlung erwogen werden.
fallsfrequenzverstärkend. . Tabelle 14.2 gibt eine Empfehlung
zur Wahl der Medikamente bei bestimmten Anfallstypen. Grundregeln bei der Einstellung auf Antikonvulsiva
Alles in allem ist die medikamentöse Behandlung der Epi- Man sollte es sich zur Regel machen, das gewählte Medika-
lepsien heute sehr zufriedenstellend: Etwa 60% aller Patienten ment bis zur oberen Grenze des therapeutischen Bereichs,
können mit einer Monotherapie eine »befriedigende« Reduk- manchmal sogar darüber hinaus (bis Nebenwirkungen auftre-
tion, manchmal das Verschwinden der Anfälle erreichen. Von ten) zu dosieren, bevor man es als unwirksam klassifiziert und
den verbleibenden 40% spricht die Hälfte dann auf das erste zum nächsten greift. Dies wird oft anders gehandhabt. Man ist
alternativ gegebene Medikament an. Wiederum die Hälfte der ungeduldig und wechselt schon nach wenigen Behandlungs-
dann noch verbleibenden Patienten spricht auf eine Kombina- tagen bei vermeintlicher Ineffektivität zum nächsten Medika-
tionstherapie an. Insgesamt bleibt bei 10% der Patienten die ment. Die Patienten haben dann schon alle gängigen Medika-
medikamentöse Einstellung unbefriedigend. Diese Aussage mente, meist auch in Kombination, erhalten und sagen bei der
setzt natürlich voraus, dass für den jeweiligen Anfallstyp auch Anamnese, dass bislang nichts geholfen habe. Es kostet in die-
das richtige Medikament gewählt und eingenommen wurde. sen Fällen sehr viel Geduld und Überzeugungskraft, bis die
Wer Oxcarbazepin bei Absencen verordnet, wird keinen Be- Patienten bereit sind, erneut einen Versuch mit einem Medi-
handlungserfolg erzielen. kament zu wagen, das schon einmal als unwirksam klassifi-
14.5 · Therapie
381 14
Exkurs
Klassische Antiepileptika
Carbamazepin (CBZ) (Tegretal®, Timonil® und andere). Die Möglichkeit, Phenytoin intravenös schnell aufzusätti-
Carbamazepin (CBZ) hat ein breites Indikationsspektrum. Der gen, macht es zu einem wichtigen Medikament bei der Akut-
Wirkmechanismus ist nicht im Detail bekannt, vermutlich behandlung von Anfallserien, wo es zusammen mit oder an-
werden repetitive Entladungen an Neuronen verhindert. Bei stelle von Benzodiazepinen gegeben wird. DPH ist, wie CBZ, ein
fokalen Anfällen, sowohl bei einfach als auch bei komplex starker Enzyminduktor und hat erhebliche Interaktionen mit
partiellen Anfällen, bei sekundär generalisierten Anfällen anderen Medikamenten (. Tabelle 14.3). In der Regel ist keine
und bei primär generalisierten tonisch-klonischen Anfällen einschleichende Dosierung nötig. Man beginnt oral mit 3-mal
(dort neben Valproinsäure), ist CBZ wirksam, gilt aber heute 100 mg/Tag, i.v. Schnellaufsättigung mit Infusionskonzentrat.
wegen der Nebenwirkungen nicht mehr als erste Wahl. Es ist
unwirksam bei primär generalisierten idiopathischen Epilep- Phenobarbital (PHB) (Maliasin®, Luminal® und andere) und
sien, wie Absencen oder Impulsiv-Petit-mal. Primidon (Mylepsinum® und andere). Phenobarbital greift
Als Nebenwirkungen treten auf: Hautallergien bis zum ebenfalls in den GABA-ergen Transmitterstoffwechsel ein und ist
Lyell-Syndrom, Anämien, Hepatotoxizität. Überdosierungssymp- ein indirekter GABA-Agonist. Es wird bei fokalen und generali-
tome: Schwindel, Nystagmus, Ataxie. CBZ ist ein starker Enzym- sierten tonisch-klonischen Anfällen als Mittel der zweiten bis
induktor und hat viele Wechselwirkungen mir anderen Medika- dritten Wahl eingesetzt. Gut wirksam ist es bei Anfällen vom
menten, besonders anderen Antikonvulsiva (. Tabelle 14.3). Impulsiv-Petit-mal-Typ. Zwei häufig benutzte Substanzen,
In der Regel langsame Aufdosierung, stationär innerhalb Barbexaclon (Maliasin®) und Primidon werden zu 50–70% zu
von 3–4 Tagen auf 600–800 mg/Tag, ambulant über 14 Tage Phenobarbital umgewandelt. Die Behandlung mit diesen Medi-
(initiale Müdigkeit, Schwindel, Benommenheit, Doppelbil- kamenten muss also über Serumspiegelbestimmung von PHB
der). Erhaltungsdosierung zwischen 600–1200 mg pro Tag, überwacht werden. Primidon selbst hat auch eine eigene antie-
Retardpräparate und Generika stehen zur Verfügung. pileptische Wirksamkeit.
Zu den Nebenwirkungen gehören Müdigkeit, Depression,
Valproinsäure (VPA) (z.B. Ergenyl®, Orfiril® und andere). Leistungsschwäche und Gedächtnisstörungen, Lebertoxizität,
Valproinsäure wirkt durch Erhöhung der Konzentration des Allergien und als Langzeiteffekt Weichteilveränderungen,
inhibitorischen Transmitters GABA (Gamma-Aminobuttersäu- Interaktionen mit anderen Antiepileptika (. Tabelle 14.3).
re). Er antagonisiert die Wirkung exzitatorischer Neurotrans- Barbexaclon, das wir zuerst geben, wird schnell aufdosiert,
mitter. Valproinsäure ist das Medikament erster Wahl bei beginnend mit 2-mal 100 mg/Tag, Zieldosierung 3- bis 4-mal
primär generalisierten idiopathischen Epilepsien, insbesonde- 100 mg/Tag. Bei Mylepsinum® zunächst 2-mal 250 mg/Tag,
re bei Absencen, Impulsiv-Petit-mal und Aufwach-Grand-mal. Zieldosierung 3-mal 250 mg, initiale Müdigkeit möglich.
Selbst bei fokalen Anfällen, besonders bei sekundärer Gene-
ralisierung, ist VPA dem CBZ in der Wirksamkeit vergleichbar. Ethosuximid (Petnidan®, Suxinutin® und andere). Ethosuxi-
Als Nebenwirkung treten auf: vor allem Gewichtszunahme, mid ist ein Kalziumantagonist, der nur bei Absencen wirksam
Tremor, Veränderung der Haare. Gravierend sind Pankreatitis ist. Hier ist es das Medikament der zweiten Wahl nach Valpro-
und bei Kinder Hepatopathie und hepatische Enzephalopathie. insäure. Es wird im Allgemeinen im Kindesalter gegeben,
VPA ist teratogen, deshalb sind in der Schwangerschaft besonders wenn bei Vorschädigung unter VPA Lebertoxizität
Dosierungen unter 1 g anzustreben. befürchtet wird.
Einschleichende Dosierung mit Steigerung um 300 mg Es ist relativ nebenwirkungsarm und hat keine wesent-
jeden zweiten Tag (ambulant) oder in der Klinik, beginnend lichen Interaktionen. Dosierung: Zunächst 250–500 mg, lang-
mit 3-mal 300 mg, innerhalb weniger Tage auf 1200– sam steigern.
1500 mg/Tag steigern. Valproinsäure steht auch zur i.v.-Gabe
zur Verfügung. Benzodiazepine. Benzodiazepine werden heute kaum noch
für die Dauerbehandlung eingesetzt. Ganz selten einmal fin-
Phenytoin (DPH, Diphenylhydantoin) (Phenhydan®, det Clonazepam (Rivotril®) noch Anwendung als orales Zusatz-
Zentropil® und andere). Wirkungsmechanismus über medikament bei fokal und primär generalisierten Epilepsien.
Membranstabilisierung und Verringerung spontaner, repeti- Die Stärke der Benzodiazepin-Abkömmlinge liegt in der Be-
tiver Entladungen. DPH ist hochwirksam bei fokalen und handlung von Anfallsserien und Anfallsstatus. Bei gehäuften,
sekundär generalisierten Epilepsien, ist aber wegen seines primär generalisierten Grand-mal-Anfällen beginnt man im-
Nebenwirkungsprofils ebenfalls nicht mehr ein Medikament mer mit Benzodiazepinen i.v., entweder Diazepam (Valium®),
der ersten Wahl. Clonazepam (Rivotril®) oder Midazolam (Dormicum®).
Phenytoin macht zwar weniger müde, hat aber eine Die Nebenwirkungen sind Müdigkeit, Atemdepressionen
Reihe von Langzeitnebenwirkungen wie Gingivahyperplasie, und Übersekretion von Speichel. Wir geben Benzodiazepine
Akneentwicklung, Knochenmarkveränderungen; es ist hepa- zusammen mit Phenytoin und versuchen, die Gabe von Diaze-
totoxisch und bei Überdosierung neurotoxisch. Symptome: pam-Abkömmlingen so kurz wie möglich zu halten. Diaze-
Schwindel, Nystagmus, Doppelbilder, Benommenheit. Lang- pam-Rektiolen sind sinnvoll bei Kindern und Jugendlichen mit
zeitfolgen sind Polyneuropathie und Kleinhirnatrophie. Neigung zu Anfallsserien. Interaktionen mit anderen Medika-
Allergien kommen vor. Systematisch sind noch Osteomala- menten sind nicht bekannt.
zien und Blutbildveränderungen zu erwähnen.
382 Kapitel 14 · Epilepsien

Exkurs
Neuere Antiepileptika
Lamotrigin (LTG, Lamictal®). Lamotrigin wirkt über die Aufgrund der hohen Nebenwirkungsrate sollte der Gebrauch
Blockierung von Natriumkanälen in der präsynaptischen auf spezialisierte Zentren beschränkt werden. Besonders groß
Membran und reduziert hierdurch die Ausschüttung der ist die Gefahr der aplastischen Anämie und das Risiko auch
exzitatorischen Transmitter Glutamat und Aspartat. tödlicher Leberfunktionsstörungen.
Das Medikament ist wirksam bei therapieresistenten Übelkeit, Appetitabnahme und Schlaflosigkeit sind wei-
einfachen und komplex fokalen Anfällen. LTG hat auch tere Nebenwirkungen. Ein zusätzliches Problem ist die sehr
eine gute Wirkung bei primär generalisierten Epilepsien. starke Interaktion von Felbamat mit anderen Antiepileptika
Ein Viertel der Patienten mit bis dahin therapierefraktären (. Tabelle 14.3).
fokalen Epilepsien zeigt unter zusätzlicher Behandlung eine Man beginnt mit 600–1200 mg pro Tag, steigert um
Anfallsreduktion von 50%. 600 mg pro Woche bis zu einer maximalen Dosierung zwi-
Als Nebenwirkungen sind Hautexantheme, Schwindel, schen 2400 mg und 3600 mg. Plasmaspiegelbestimmungen
Doppelbilder und Ataxien zu nennen. Das Hautexanthem sind nicht notwendig.
tritt in der Regel in den ersten drei Wochen auf und kann
sehr gefährlich werden (Stevens-Johnson-Syndrom). Gabapentin (GBP, Neurontin®). Der Wirkmechanismus von
Interaktionen bestehen mit CBZ, DPH und PHB, die alle Gabapentin ist, obwohl seine chemische Struktur der Gamma-
einen schnelleren Abbau vom LTG bewirken, was eine Dosis- Aminobuttersäure sehr ähnlich ist, noch unbekannt. Es wirkt
anpassung nach oben erfordert. Bei Valproat muss dagegen nicht über eine Steigerung der GABA-Wirkung.
die Dosis reduziert werden. Indiziert ist Gabapentin bei komplex fokalen Anfällen mit
Man beginnt mit einer sehr niedrigen Dosierung und ohne sekundäre Generalisierung.
von 25 mg täglich mit langsamer Steigerung auf maximal Unter den Nebenwirkungen, die meist wenig ausgeprägt
300 mg/Tag. Plasmaspiegelbestimmungen sind nicht not- sind, stehen Übelkeit, Ataxie, Müdigkeit und Schwindel im
wendig. Vordergrund. Der Nachteil ist die relativ kurze Halbwertzeit,
die eine sehr regelmäßige Einnahme, verteilt auf 3–4 Einzel-
Vigabatrin (VGB, Sabril®). Vigabatrin ist ein indirekter gaben erforderlich macht. Interaktionen mit anderen Subs-
GABA-Agonist, der die enzymatische Inaktivierung von GABA tanzen sind nicht nennenswert.
hemmt und so die Konzentration von GABA am Rezeptor Beginn mit 300–400 mg pro Tag, tägliche Steigerung um
erhöht. 300 mg bis auf 1200 mg. Höchstdosierung 2400 mg. Plasma-
VGB ist als Zusatzmedikament bei einfachen und kom- spiegelbestimmungen sind nicht notwendig.
plex partiellen Anfällen mit und ohne sekundäre Generalisie-
rung einsetzbar. Etwa 50% der bis dahin schlecht behandel- Tiagabin (TGB, Gabitril®). TGB ist ein GABA-Wiederaufnah-
ten Patienten haben unter Zusatzbehandlung mit Vigabatrin mehemmer und erhöht so die Konzentration der erregungs-
eine 50%ige Anfallsreduktion. Dagegen kann VGB primär hemmenden Transmittersubstanz. Die Substanz ist als Zusatz-
generalisierte Anfälle verstärken. therapie bei therapieresistenten fokalen Anfällen zugelassen
14 Gesichtsfeldeinschränkung, Benommenheit und Müdig- und führt zu einer Halbierung der Anfallsfrequenz bei etwa
keit, Schwindel, Kopfschmerzen, Nervosität und Depres- einem Viertel der Patienten.
sionen sowie Gewichtszunahme stehen als Nebenwirkungen Es sind keine wesentlichen Interaktionen bekannt.
im Vordergrund. Reversible Psychosen werden bei etwa 5% Dosierung: Langsam einschleichend, mit 5 mg pro Tag
der Patienten beobachtet. Sie sind besonders häufig, wenn beginnend und langsam aufdosieren (etwa 10 mg/Woche).
eine psychiatrische Vorgeschichte besteht oder die Patienten Höchstdosis etwa 3-mal 15 mg bis 3-mal 20 mg. Plasmaspiegel-
eine geistige Behinderung haben. kontrollen sind nicht erforderlich.
Wesentliche Interaktionen sind nicht bekannt.
Man beginnt mit einer Dosierung von 2 g pro Tag, Stei- Topiramat (TPM, Topamax®). Topiramat ist eine Substanz,
gerung nur bis 4 g möglich. Plasmaspiegelbestimmungen deren entscheidender Wirkmechanismus nicht sicher identifi-
sind nicht notwendig. ziert ist. Es wirkt auf verschiedenen molekularen Ebenen:
4 Hemmung spannungsabhängiger Na und Ca-Kanäle
Felbamat (FBM, Taloxa®). Felbamat hat keinen einheit- 4 Hemmung von glutamaterger Aktivierung
lichen Wirkmechanismus. Es hemmt die Freisetzung von 4 Aktivierung von GABA-erger Transmission.
Glutamat durch Blockade präsynaptischer Natriumkanäle
und die Glyzinbindungsstelle des NMDA-Rezeptors und Es wirkt bei vielen fokalen und generalisierten Epilepsien
dadurch exzitatorische Transmitter. Zusätzlich soll es die und ist sowohl als Monotherapie und als Add-on-Therapie
Empfindlichkeit des GABA-Rezeptors steigern und damit einsetzbar.
inhibitorisch wirken. Nebenwirkungen: Diese Substanz hat eine Reihe von
Felbamat ist besonders wirksam beim Lennox-Gastaut- Nebenwirkungen, die eine breitere Anwendung begrenzen.
Syndrom (LGS), für das Felbamat auch nur zugelassen ist. Die wichtigsten sind: Müdigkeit, kognitive Einschränkungen,
6
14.5 · Therapie
383 14

Ataxie, Tremor, Nierensteine und gastrointestinale Stö- und bei generalisierten Anfällen als als Add-on-Therapie
rungen. gegeben. Nebenwirkungen sind sehr selten.
Interaktionen: Die DPH-Konzentration im Blut kann Die Dosierung kann relativ zügig erfolgen. Man beginnt
erhöht werden. mit 2-mal 500 mg und kann bis auf 2-mal 2 g steigern. Interak-
Die langsame Aufdosierung beginnt mit 2-mal 25 mg, tionen sind nicht bekannt. Plasmaspiegelkontrollen sind nicht
die dann pro Woche um 25 mg gesteigert werden bis zu erforderlich.
einer individuellen Enddosis von 3-mal 50 mg bis 3-mal
100 mg. Plasmaspiegelkontrollen sind nicht erforderlich. Pregabalin (PGB Lyrica®). Pregabalin ist chemisch mit Neu-
rontin verwandt und verfügt über ähnliche Eigenschaften. Es
Oxcarbazepin (OCB, Trileptal®). OCB ist chemisch eng mit bindet an spannungsabhängige Kalziumkanäle und verhindert
CBZ verwandt und hat eine ähnliche Wirkung bei geringeren so die Freisetzung erregender Neurotransmitter. Es ist zur
Nebenwirkungen. Es wirkt in Monotherapie bei sekundär Add-on-Therapie fokaler Epilepsien zugelassen (Add-on meist
generalisierten und fokalen Anfällen Es muss etwa 1,5fach zu CBZ oder OCB, seltener zu LMT) und führt in Studien zu
höher als CBZ dosiert werden einer Response-Rate von 40% gegen 6% Plazebo in Bezug auf
Wegen der geringeren Nebenwirkungen (allerdings: eine mindestens 50%ige Anfallsreduktion. Hierbei handelt es
Elektrolytstörungen) kann es deutlich schneller als CBZ sich um schwer einstellbare Patienten, also eher eine Gruppe,
aufdosiert werden, was ebenfalls dazu beiträgt, dass OCB bei der weniger mit Effekten gerechnet werden kann. Die
in der Klinik das CBZ zunehmend ablöst. Auch die Interak- Ähnlichkeit mit GBP kommt auch in der guten Wirksamkeit auf
tionen sind geringer ausgeprägt als bei CBZ. neuropathischen Schmerz zum Ausdruck.
Man beginnt mit 2-mal 300 mg und kann innerhalb Ab 300 mg treten die typischen Nebenwirkungen dieser
weniger Tage in 600-mg-Schritten die individuelle Ziel- Substanzgruppe, Benommenheit und Schläfrigkeit, auf. Ande-
dosis erreichen. Plasmaspiegelkontrollen sind nicht erfor- re unerwünschte Effekte sind zerebelläre Störungen, Gewichts-
derlich. zunahme, Potenzstörungen und Sehstörungen.
Vorteilhaft ist, das PGB relativ schnell in eine wirksame
Levetiracetam (LVT, Keppra®). LVT ist chemisch mit Pirace- Dosierung aufdosiert werden kann. Man beginnt mit 150 mg/
tam verwandt, einer Substanz die lange in der Behandlung Tag und steigert innerhalb einer Woche auf 300 mg. Dosen bis
kognitiver Defizite eingesetzt wurde. Der Wirkmechanismus 600 mg/Tag werden aber oft gut toleriert. Plasmaspiegelbe-
ist unbekannt. Es wird bei fokalen Anfällen als Monotherapie stimmungen sind nicht notwendig.

ziert wurde. Der Therapieerfolg kann nur dann kontrolliert Nebenwirkungen der Antiepileptika
werden, wenn die Patienten einen Anfallskalender führen und Die speziellen Nebenwirkungen sind bei der Vorstellung der
regelmäßig zur Untersuchung kommen. einzelnen Medikamente (s.o.) genannt worden.
Anlässlich von Operationen in Allgemeinnarkose kann die Viele Antiepileptika können Osteomalazie verursachen,
gewohnte antiepileptische Behandlung nicht eingehalten wer- weil sie die Resorption von Vitamin D in den Darmepithelien
den, weil der Patient nüchtern bleibt und viele Infusionen den vermindern und den Vitamin-D-Umsatz beschleunigen. Des-
Serumspiegel rasch senken. Phenobarbital kann in gewohnter halb sollte alle 3 Monate die alkalische Phosphatase untersucht
Dosierung i.m., Phenytoin i.v., Valprot i.v. und Diazepam als werden. Unter Umständen ist eine Vitamin-D-Behandlung mit
Rectiole (Diazepam rektal zu 5 und 10 mg) gegeben werden 1000 IE pro Tag notwendig. Einen leichten Anstieg der »Leber-
(Cave: Atemdepression). enzyme« kann man tolerieren, solange die Syntheseleistungen
der Leber gut sind (Cholinesterase, PTZ, Fibrinogen, Elektro-
phorese). Elektrolytstörungen, besonders Hyponatriämien,
werden bei Carbamazepin und Oxcabazepin beobachtet.
. Tabelle 14.4. Serumspiegel wichtiger Antiepileptika
Beendigung der antiepileptischen Therapie
Medikament μmol/l μg/ml
Nach 3-jähriger Anfallsfreiheit kann die Dosierung über einen
Carbamazepin 15–20 4–12 Zeitraum von 6 Monaten bis zur Einstellung der Behandlung
Gabapentin 70–120 12–20 reduziert werden. Tritt ein Rückfall ein, muss die alte Therapie
Lamotrigin 20–60 5–15 wieder einsetzen und führt gewöhnlich wiederum zur Anfalls-
freiheit.
Levetiracetam 35–120 6–20
Oxcarbazepin 50–120 7–25
Phenobarbita 40–130 10–30 14.5.5 Therapieresistenz
Phenytoin 20–80 5–20
Toprimat 15–60 5–20
Etwa 10% der Epilepsiepatienten können trotz Mehrfachkom-
binationen und Ausdosierung nicht befriedigend eingestellt
Valproat 200–850 30–120
werden (s.o.). Die meisten leiden unter komplex partiellen An-
384 Kapitel 14 · Epilepsien

fällen. Bei Jugendlichen und Kindern, die eine symptomatische Serumspiegelbestimmung


generalisierte Epilepsie oder eine Residualepilepsie mit fokalen Wichtig für eine gute medikamentöse Einstellung ist die Be-
Anfällen haben, ist die Chance, eine befriedigende medika- stimmung des Serumspiegels des Medikaments. Der Serum-
mentöse Einstellung zu erzielen, oft gering. spiegel gibt einen Bereich vor, in dem eine Wirksamkeit des
Wenn ein Patient auf das Medikament der ersten Wahl für Medikaments erwartet werden kann, nicht aber erwartet wer-
eine bestimmte Anfallsform nicht reagiert, ist er für diese Subs- den muss.
tanz therapieresistent. Wenn das erste Medikament nicht wirkt, Für die meisten antiepileptisch wirksamen Pharmaka ist es
gibt man ein zweites Medikament hinzu, wobei man auf Inter- möglich, den Serumspiegel zu bestimmen. Die Kontrolle des
aktionen zwischen beiden achten muss. Manchmal, z.B. bei Serumspiegels lässt eine Unterdosierung (die häufigste Ursa-
fokalen Epilepsien, schleicht man auch das zuerst gegebene che der Therapieresistenz) leicht erkennen. Auch können Into-
Medikament aus und versucht eine zweite Monotherapie. Auf xikationen vermieden werden (bei hohem Serumspiegel kann
die Notwendigkeit, die Medikamente, solange sie vertragen schon eine geringfügige weitere Erhöhung der Dosis zur Into-
werden, aufzudosieren, wurde bereits hingewiesen. Bei der xikation führen). Schließlich lässt sich die wechselseitige Be-
echten Therapieresistenz wirkt das Medikament bei diesem einflussung der Antiepileptika bei einer Kombinationstherapie
Patienten einfach nicht. sowie zwischen Antiepileptika und anderen Medikamenten
Häufiger ist aber eine andere, vermeintliche Therapieresis- (etwa durch Verdrängung aus der Proteinbindung oder Enzym-
tenz: induktion) leichter erkennen, wenn der Serumspiegel der
4 Die Substanz ist zu niedrig dosiert, Antiepileptika bestimmt ist. Durch routinemäßige Untersu-
4 der Patient nimmt das Medikament nicht in der verschrie- chungen des Serumspiegels hat sich die Zahl der erfolgreich
benen Dosierung ein (Überprüfung über Serumspiegel) oder behandelbaren Patienten beträchtlich erhöht. Darüber hinaus
4 die Klassifikation der Anfallsart war falsch und das gewähl- können mehr Patienten als früher bei einer Monotherapie blei-
te Medikament nicht geeignet. ben, weil man deren therapeutischen Bereich voll ausschöpfen
kann.

Leitlinien Behandlung der Epilepsien*


4 Bei erhöhter Epileptogenität (bewiesen durch spezi- Bei erfolgloser Erstbehandlung kann eine alternative Mono-
fische EEG-Muster oder MRT-Nachweis von Hippocampusver- therapie oder – wahrscheinlich gleichwertig – eine Kombinati-
änderungen) kann bereits der erste Anfall der Beginn einer onstherapie angestrebt werden. Die Wirkstoffauswahl erfolgt
Epilepsie sein, der zu einer medikamentösen Behandlungs- wiederum individuell unter zusätzlicher Berücksichtigung der
empfehlung führen kann (A). mutmaßlichen Interaktionen zwischen den Wirkstoffen. Zur
4 Da zwei Drittel aller Epilepsiepatienten lebenslang thera- Kombinationstherapie sind zusätzlich zu den o.g. Wirkstoffen
piert werden, sollten statt Enzyminduktoren und Enzymhem- zu erwägen: Levetiracetam, Pregabalin, Tiagabin, in fernerer
mern (klassische Antikonvulsiva) moderne Medikamente Wahl Benzodiazepine (B).
ohne Interaktionspotenzial vorgezogen werden (A). Aus der 4 Die Grundlage für eine epilepsiechirurgische Maßnahme
14 Gruppe der sog. neueren Antiepileptika stehen zur Mono- ist unter anderem die Pharmakoresistenz. Obwohl auch noch
therapie bzw. Erstbehandlung inzwischen Gabapentin, La- nach langjähriger Pharmakoresistenz Anfallsfreiheit durch
motrigin, Oxcarbazepin und Topiramat zur Verfügung (⇑⇑). »neue« Antikonvulsiva erreicht werden kann, sollte die Resis-
Lamotrigin und Topiramat können auch zur Behandlung tenzprüfung von der Eignung des Patienten für einen epilep-
generalisierter Epilepsien empfohlen werden (⇑). Die neue- siechirurgischen Eingriff abhängen. Bei geeigneten Kandi-
ren Antiepileptika sind zur Behandlung fokaler Epilepsien daten beträgt sie weniger als 5 Jahre (A).
mindestens gleich wirksam wie die klassischen Wirkstoffe 4 Die Vagus-Nerv-Stimulation ist eine bei über 100.000
Carbamazepin, Valproinsäure, Phenytoin und Phenobarbital Patienten durchgeführte Therapiemaßnahme. Sie führt zwar
bei vermutlich besserer Verträglichkeit und damit besserer nur selten zur Anfallsfreiheit, aber von der Anfallsreduktion
Effektivität (⇑), jedoch geringerer Erfahrung und Arzneimit- und dem antidepressiven Effekt profitieren zahlreiche Patien-
telsicherheit. Daher sollten nach individueller Abwägung ten (A).
bezüglich Epilepsiesyndrom und spezifischem Nebenwir- 4 Das Ende einer antiepileptischen Therapie sollte nicht
kungsprofil bei manchen Patienten zur Ersteinstellung nach der Zahl der anfallsfreien Jahre bestimmt werden. Viel-
durchaus neuere Antiepileptika eingesetzt werden. mehr sollte geprüft werden, ob die epilepsieauslösende Ursa-
4 Bei fokalen Epilepsien werden Lamotrigin und ggf. auch che wirklich weggefallen ist (z.B. keine Änderung der gene-
Levetiracetam als bevorzugte Mittel der ersten Wahl empfoh- tischen Disposition bei vielen idiopathisch generalisierten
len (A). Daneben kommen weiterhin Carbamazepin, Gaba- Epilepsien, strukturelle Veränderungen persistieren etc.). Nur
pentin, Lamotrigin, Oxcarbazepin, Phenobarbital, Phenytoin, Patienten, die dieses Kriterium erfüllen, haben nach Ende der
Topiramat und Valproinsäure zur Anwendung (A). Therapie ein geringes Rückfallrisiko (B).
4 Bei generalisierten oder unklassifizierbaren Epilepsien
wird weiterhin Valproat als bevorzugtes Mittel der ersten * Modifiziert nach den Leitlinien der DGN 2005 und 2008
Wahl empfohlen (A). (www.dgn.org/leitlinien.html)
14.5 · Therapie
385 14
Die Serumspiegel wichtiger, klassischer Antiepileptika 10% müssen durch Dauernarkose behandelt werden. Patho-
zeigt . Tabelle 14.4, S. 380. Für viele der neuen Medikamente physiologisch ist der Status epilepticus auf das Versagen der
sind Serumspiegelbestimmungen nicht erforderlich. GABA-Inhibition zurückzuführen. Deshalb sind Medika-
mente, die GABA-agonistisch wirken, wie Valproinsäure,
> Epilepsien werden, je nach Anfallstyp, differenziert
Felbamat und indirekt Benzodiazepine sinnvoll.
medikamentös behandelt. Muss man mehr als ein
Medikament geben, sind die Interaktionen durch Behandlung anderer Statusformen
Bestimmung der Serumspiegel zu kontrollieren.
4 Die Behandlung des Absencenstatus mit Clonazepam (Ri-
votril®) i.v. oder Valproinsäure i.v., am besten unter EEG-Kon-
trolle, führt fast immer zu einer sehr schnellen Unterbrechung
14.5.6 Therapie des Status epilepticus des Status. Die weitere Behandlung erfolgt dann mit Valproin-
säure. Der Absencenstatus kann in einen Status großer Anfälle
Grand-Mal-Status übergehen.
Die Therapie muss frühzeitig und energisch durchgeführt wer- 4 Die Behandlung des psychomotorischen Status und des
den. Verzettelte, kleine Dosen der Medikamente können den Status einfach-fokaler Anfälle erfolgt nach ähnlichen Prin-
Verlauf nicht beeinflussen. Wurde der Patient bisher anti- zipien wie der Status generalisierter tonisch-klonischer Anfäl-
epileptisch behandelt, so bestimmen wir notfallmäßig den le. Man beginnt mit Diazepam oder Derivaten wie
Serumspiegel, um ein eventuelles Defizit in der Medikamen- 5 Lorazepam 2 mg i.v. oder 2,5 mg bukkal (Expidet-Form)
tenmenge auszugleichen. Gleichzeitig wird ein venöser Zugang oder oral oder
gelegt. 5 Diazepam 10–20 mg i.v. oder rektal oder
5 Clonazepam 1–2 mg i.v. oder oral oder
Behandlungsschemata 5 Clobazam 10 mg oral oder
Fast jede Klinik hat ein eigenes, in manchen Punkten etwas 5 Midazolam i.m. 0,2 mg/kg
unterschiedliches Behandlungsprotokoll für den Status epilep- Bei Versagen der Initialtherapie
ticus. Die Behandlungsschemata variieren noch stärker von 5 Phenytoin i.v., bei ausbleibendem Erfolg oder alternativ
Land zu Land. In der . Tab. 14.5 ist das Behandlungsschema 5 Valproat i.v.
dargestellt, das wir zur Zeit einsetzen.
4 Während die Gabe von Sauerstoff, gegebenenfalls Intuba- 4 Manchmal ist es besonders schwierig, den Status einfach-
tion und Beatmung unstrittig ist, ist unklar, ob und wie viel partieller Anfälle zu behandeln. Meist sind die Patienten schon
Glukose gegeben werden soll. mit einem oder zwei Medikamenten der ersten Wahl vorbe-
4 Wir geben Glukose nur, wenn eine Hypoglykämie vorliegt. handelt, und trotz Dosiserhöhung, Zugabe von Tranquilizern
Ansonsten wird die Flüssigkeitszufuhr mit isotoner Kochsalz- etc. gelingt es nicht, den fokalen Status zu unterbrechen. Wir
lösung oder Ringerlösung vorgenommen. haben mit Barbituraten in einzelnen Fällen gute Erfolge erzielt,
4 Thiamin (100 mg i. v.) erhalten alle Patienten, bei denen in anderen bleiben diese jedoch wirkungslos.
die Möglichkeit einer alkoholassoziierten Statusform besteht. Manche Patienten haben wir auf der Intensivstation wie
einen generalisierten Status epilepticus behandelt, doch nach
Bei ca. 75% der Patienten wird der Status mit den Medikamen- Aufwachen der Patienten, kamen die Anfälle zurück. Mögli-
ten der ersten Stufe, bei weiteren 15% durch die Substanzen der cherweise helfen einige der neuen Medikamente besser bei
zweiten und dritten Stufe unterbrochen. Die verbleibenden diesen seltenen, therapieresistenten Statusformen.

. Tabelle 14.5. Stufenbehandlung des Status epilepticus

1. Benzodiazepine als Bolus 1–2 mg Clonazepam (Rivotril®) oder 10 mg Diazepam (Valium®) langsam i.v.,
falls kein venöser Zugang möglich, Diazepam 10 mg als Rectiole,
alternativ (in USA bevorzugt) Midazolam (Dormicum®) 0,2 mg/kg Initialdosis

2. Nach fehlendem Erfolg der Bolus- a) Phenytoin (Phenhydan®) initial 250 mg als Bolus über 5–10 min unter EKG-Überwachung, danach
gabe von Benzodiazepinen 10 mg/kg KG Infusionskonzentrat über 6 h als Dauerinfusion über separaten Zugang hinzu oder
b) Clonazepam 4–16 mg/24 h als Dauerinfusion nach Bolusgabe von 1–2 mg oder
Midazolam 0,1–0,4 mg/kg/Stunde oder
c) Valproat initial 5–10 mg/kg über
3–5 min, anschließend Dauerinfusion bis zu einer Tagesdosis von 2400 mg

3. Bei Misserfolg von Phenytoin, Clo- a) Intubation, Beatmung, ggf. Relaxierung, zentral-venöser Zugang, Fiebersenkung
nazepam, Midazolam oder Valproat b) Thiopental initial 250 mg als Bolus, anschließend Dauerinfusion 6–10 g/Tag oder Phenobarbital
(Nachteil: längere Halbwertszeit, Kumulationsgefahr) initial 200 mg langsam i.v., anschließend
Dauerinfusion bis zu einer Tagesdosis 1400 mg/Tag

4. Bei Misserfolg der Schritte 1–3 Propofol, Lidocain, Clomethiazol, Isoflurane-Inhalation


386 Kapitel 14 · Epilepsien

Empfehlungen zur Behandlung des Status generalisierter tonisch-klonischer Anfälle (SGTKA)*


SGTKA Andere Status
4 Der SGTKA ist ein lebensbedrohlicher akuter neurolo- 4 Fokaler Status und Absencen-Status sind primär meist
gischer Notfall und verlangt neben den Allgemeinmaßnah- nicht lebensbedrohlich, die Unterbrechung des Status erfolgt
men eine sofort einsetzende i.v. Therapie, vor Eintreffen des hier mit den Zielen der Wiederherstellung der Handlungs-
Arztes ist eine rektale Benzodiazepingabe durch Laien sinn- kontrolle und dem Vermeiden von möglichen chronischen
voll (A). Folgeschäden. Zu letzterer Motivation liegt keine hochwertige
4 In den ersten Minuten, sowohl bei der prähospitalen als Evidenz vor.
auch intrahospitalen Erstversorgung, werden i.v. Benzodiaze- 4 Auch zur Behandlung fokaler Status sind Benzodiazepine
pine (Lorazepam, in zweiter Wahl Diazepam) eingesetzt, bei i.v. (A) oder (bei Nichtverfügbarkeit eines i.v.-Zugangs und/
ausbleibendem unmittelbarem Erfolg (bzw. bei Nichtver- oder individuell geringerem Zeitdruck) bukkal oder oral als
wenden von Lorazepam obligatorisch nach ca. 10 min) wird Medikamente der ersten Wahl anzusehen (B). Midazolam kann
zusätzlich Phenytoin i.v. appliziert (A), alternativ Valproat erfolgreich i.m. gegeben werden (C).
oder Phenobarbital. 4 Bei ausbleibendem Erfolg kommen je nach Art des Status
4 Beim therapieresistenten SGTKA sollten möglichst rasch i.v.-Gaben von Phenytoin, Valproat oder Phenobarbital zur
ohne weiteren Zeitverlust Narkotika (off-label) zum Einsatz Anwendung (C).
kommen: i.v. Gaben von Thiopental, Midazolam oder Propo-
fol (B), schließlich noch Wirkstoffe der ferneren Wahl wie
Lidocain, Isofluran, Ketamin, Clomethiazol (C). * Nach den Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)

Exkurs
Risiken der hochdosierten Statusbehandlung
Beim Einsatz der zum Teil sehr hoch- und überdosierten Anwenden dieser Substanzen und oraler Weiterbehandlung
Medikamente, die häufig auch in schneller Folge hinterei- kann es zu Rezidiven wegen des relativ schnellen Abfalls zu-
nander angewandt werden und zu Interaktionen führen nächst sehr hoher Serumspiegel kommen. Die Kombination
können, muss man sich klar sein, das man sich mit manchen Barbiturat und Valproat führt nicht nur bei Kindern zu Intoxika-
empfohlenen Substanzen im off-label-Bereich befindet. Bei tionen und manchmal tödlichen Leberausfall. Das Propofol-
länger andauernden Staten, die durch 2 oder 3 Wirkstoffe Infusions-Syndrom mit Bradyarrhythmie, metabolischer Azido-
nicht unterbrochen werden konnten, werden hochdosierte se, Rhabdomyolyse und Nierenversagen kann auch bei Er-
i.v.-Gaben von Thiopental oder Pentobarbital, Midazolam wachsenen vorkommen
oder Propofol oder Isofluran eingesetzt. Nach erfolgreichem

14
14.6 Aspekte der antiepileptischen schaft zu versuchen, das Medikament auf die niedrigste, effek-
Therapie in der Schwangerschaft tive Dosierung einzustellen oder, wenn möglich, eine Um-
stellung auf ein Medikament mit einer geringeren Teratogeni-
14.6.1 Anfallshäufigkeit in der Schwangerschaft tät vorzunehmen. Generalisierte Anfälle in der Schwanger-
schaft stellen ein nicht unbeträchtliches Hypoxierisiko für den
In der Schwangerschaft nimmt bei höchstens einem Viertel Feten dar. Sie sollten daher mit allen Möglichkeiten verhindert
der Patientinnen die Zahl der Anfälle zu, bei einem weiteren werden.
Viertel nimmt die Zahl der Anfälle ab. Die Verschlechterung Bei allem Verständnis für die berechtigte Angst vor Anti-
bei einem Teil der Patientinnen hängt mit Veränderungen konvulsiva-assoziierten Fehlbildungen, sollte die Dosierung
der Pharmakokinetik der Antiepileptika zusammen. So sinkt nicht soweit reduziert werden, dass Grand-mal-Anfälle auftre-
die Plasmakonzentration verschiedener Antiepileptika in der ten. Einzelne fokale Anfälle oder Absencen können dagegen
Schwangerschaft häufig ab, nicht zuletzt wegen der Erhöhung toleriert werden. Wenn diese aber früher schon mit Grand-mal
des Körpergewichts. Nicht selten werden die Medikamente verbunden waren, verbietet sich eine drastische Dosis-
auch nicht mehr regelmäßig oder nicht mehr in der verordne- reduktion.
ten Menge eingenommen.

14.6.3 Missbildungsrisiko
14.6.2 Dosisreduktion
Wenn eine Mutter, die unter Antiepileptika steht, ein Kind aus-
Grundsätzlich ist eine Epilepsie keine Kontraindikation gegen trägt, besteht ein etwa 4%iges Risiko für eine kindliche Miss-
eine Schwangerschaft. Viele antiepileptische Substanzen sind bildung, also etwa doppelt so häufig als bei Kindern gesunder
aber teratogen. Es ist sinnvoll, vor einer geplanten Schwanger- Mütter. Eine moderate Monotherapie ist sicher nicht schäd-
14.6 · Aspekte der antiepileptischen Therapie in der Schwangerschaft
387 14
licher als Anfälle während der Schwangerschaft bei unbehan- tive Entbindung ist deshalb nicht grundsätzlich notwendig.
delten Patientinnen. Man beobachtet Herzfehlbildungen, Kie- Die perinatale Mortalität ist bei anfallskranken Frauen höher
fer-, Lippen- und Gaumenspalten, Mikrozephalie, Anenzepha- als in der Durchschnittsbevölkerung.
lie, Spina bifida und Meningomyelozelen sowie Fehlbildungen
des gastrointestinalen und urogenitalen Trakts. Neben solchen
gravierenden Fehlbildungen findet man aber auch das fetale 14.6.5 Post partum
Antiepileptikasyndrom mit verringertem Kopfumfang und
geringen Dysmorphien im Gesicht (Epikanthus, Ptose, auf- Nach der Geburt haben gesunde Kinder von Müttern, die unter
fällig geformte Ohren) sowie an den Endgliedern von Fingern Antiepileptika entbunden haben, einige reversible Störungen:
und Zehen. Viele dieser Kinder haben ein leicht reduziertes Da manche Antiepileptika Vitamin-K-Antagonisten sind,
Intelligenzniveau. können Gerinnungsstörungen vorkommen. Die Kinder sind
Besonders ausgeprägt sind die teratogenen Effekte bei manchmal sediert und haben ein erhöhten Asphyxierisiko. Die
Phenytoin (Spaltbildung) und Valproinsäure (Störungen der Morbidität der Neugeborenen ist etwas erhöht. Das mittlere
Entwicklung des Neuralrohrs mit Spina bifida, Meningomyelo- Geburtsgewicht und der mittlere Kopfumfang sind geringer als
zele, Hydrozephalus, Anenzephalie). Diese Effekte können normal. Ob eine mit Antiepileptika behandelte Mutter stillen
möglicherweise durch Gabe von Folsäure verhindert werden. darf, wird kontrovers diskutiert. Will eine Mutter unter anti-
Zur frühzeitigen Erkennung werden Ultraschalluntersuchun- epileptischer Behandlung stillen, muss sie wissen, dass alle
gen sowie die Bestimmung von Alphafetoprotein im Serum und Antiepileptika in die Muttermilch übergehen.
eventuell im Fruchtwasser empfohlen. Auch bei Carbamazepin
sind solche Missbildungen beschrieben worden. Unter Diaze-
pam sind Missbildungen vermutlich seltener, deshalb kann eine 14.6.6 Antiepileptika und orale Verhütungsmittel
Umstellung auf solche Substanzen diskutiert werden.
Die Substitution von Folsäure, 1 mg/Tag, wird empfohlen, Die Behandlung mit Carbamazepin, Phenytoin und Phenobar-
speziell bei Kombinationsbehandlung mit Antiepileptika. bital kann über Enzyminduktion den Abbau der Kontrazeptiva
beschleunigen und so zu einem unvollständigen Schutz füh-
ren. Auch direkte Interaktionen an der Eiweißbindung sind
14.6.4 Verlauf der Schwangerschaft und Geburt möglich. Unter Valproinsäure ist diese Gefahr deutlich gerin-
ger. Umgekehrt beeinflussen orale Kontrazeptiva kaum die
Der Geburtsverlauf ist bei behandelten Anfallskranken nicht Plasmakonzentration der Antiepileptika oder die Anfalls-
häufiger kompliziert als bei anderen Patientinnen. Eine opera- häufigkeit.

Facharzt
Epileptische Anfälle am Ende der Schwangerschaft und im Wochenbett
Wenn eine Frau am Ende der Schwangerschaft oder in den HELLP-Syndrom. Dies ist eine Komplikation in der Schwanger-
ersten Tagen nach der Geburt einen (fokal beginnenden) schaft, die eng mit der thrombotisch thrombozytopenischen
generalisierten Anfall erleidet, muss an folgende Komplika- Purpura (TTP) verwandt ist. Das Akronym HELLP steht für H –
tionen gedacht werden: Hämolyse, EL – elevated liver enzymes und LP – low platelet
count. Das HELLP-Syndrom tritt etwas früher als die Eklampsie
Hirnvenensinusthrombosen. Diese treten im Wochenbett auf, etwa um die 32. Schwangerschaftswoche. Bei einem Drittel
gehäuft auf und sind neben epileptischen Anfällen durch der Patientinnen kann es sich auch postpartal manifestieren.
Kopfschmerzen, Antriebsminderung, Verlangsamung, später Das Syndrom ist durch Mikrothrombosen charakterisiert. Epi-
auch neurologische Herdsymptome gekennzeichnet leptische Anfälle können komplizierend hinzutreten und
(7 Kap. 7). manchmal einem noch mild ausgeprägten, beginnendem
Auch die postpartalen Sinusthrombosen werden mit i.v.- HELLP-Syndrom vorangehen. Labordiagnostisch können, wie
Vollheparinisierung behandelt. Bei jedem epileptischen bei der TTP, Fragmentozyten gefunden werden. In seiner
Anfall in der Wochenbettperiode ist eine MR-Tomographie schwer verlaufenden Variante ist das HELLP-Syndrom unbe-
mit MR-Angiographie (ersatzweise auch CT-Angiographie) handelt oft tödlich. Mit intensivmedizinischen Maßnahmen
oder konventionelle DSA) durchzuführen. kann die Letalität auf 10–30% gesenkt werden.
Therapeutisch werden Prednisolon und in schweren Fällen
EPH-Gestose (Eklampsie). Diese kann auch monosympto- die Plasmapharese eingesetzt. Zur Behandlung der epilep-
matisch, d.h. nur mit Hypertonus oder nur mit Ödembil- tischen Anfälle bei Präeklampsie und im HELLP-Syndrom ist
dungen auftreten. Epileptische Anfälle sind die wesentliche die Gabe von Magnesium sicher wirksam.
Komplikation. Viele Anästhesisten und Geburtshelfer beschränken sich
daher auf die Behandlung mit Magnesium. Die meisten Neurolo-
gen ergänzen diese durch die übliche antiepileptische Therapie.
388 Kapitel 14 · Epilepsien

14.6.7 Chirurgische Therapie

Wenn Anfälle auf medikamentöse Therapie mit Standardmedi-


kamenten allein oder in Kombination und nach Zugabe neuer
Substanzen nicht kontrollierbar sind, kann eine epilepsiechi-
rurgische Behandlung sinnvoll sein. Durch verbesserte, präope-
rative Diagnostik, bessere neuroradiologische Verfahren und
Fortschritte der Mikrochirurgie wird diese Behandlungsmög-
lichkeit bei immer mehr Patienten vorgeschlagen. Man sollte
sich aber klar darüber sein, dass die operative Behandlung eines
Hirntumors oder einer Gefäßmissbildung, die neben einer Blu-
tung oder Lähmung auch Anfälle verursacht haben, keine epi-
lepsiechirurgische Maßnahme ist. Weil diese Indikationen aber
oft mitgezählt werden, gibt es sehr unterschiedliche Angaben
zur Häufigkeit von Patienten, die als Kandidaten für eine epilep-
siechirurgische Behandlung angesehen werden.
In den USA rechnete man 1990 mit 2000–5000 Patienten
pro Jahr, davon wurden 500 Patienten operiert. In Deutsch-
land werden zurzeit etwa 500 Patienten/Jahr in 5 epilepsie- . Abb. 14.5. Hippokampussklerose rechts. FLAIR-Sequenz mit
chirurgischen Zentren operiert, etwa die Hälfte hiervon an hyperintensem Signal im medialen Temporallappen bei einem Patien-
größten Zentren in Bonn, Erlangen und Bielefeld. Die Aus- ten mit typischer Temporallappenepilepsie. Beachte die Asymmetrie
der Temporalhörner
wahl der Patienten und die Operation sollen in darauf spezia-
lisierten Zentren erfolgen.

3Indikationen. Voraussetzungen für einen epilepsiechirur- 4 Bei Temporallappenepilepsien wird etwa die Hälfte der
gischen Eingriff sind Patienten nach Temporallappenresektion anfallsfrei, und ein
4 die sichere Diagnose einer Epilepsie, weiteres Viertel der Patienten hat eine deutliche Anfallsreduk-
4 echte Therapieresistenz nach Behandlung mit Medi- tion.
kamenten der ersten Wahl in Monotherapie und Kombina- 4 Besonders günstig sind die Erfolge, wenn kleine, lokale Ur-
tion, sachen der Epilepsie, wie Hamartome, mediale Sklerose (. Abb.
4 eine inakzeptabel hohe Anfallsfrequenz, 14.5) oder Kavernome als Ursache der Anfälle gefunden wer-
4 ein eingrenzbarer Epilepsiefokus, den.
4 keine zu schwere allgemeine Hirnschädigung (Ausnahme: 4 Wenn eine komplette Resektion nicht möglich ist, ist
Kallosotomie) und manchmal auch die nur teilweise Resektion nützlich, obwohl
4 eine zu erwartende Verbesserung der Lebensqualität nach die Resultate nicht so gut sind. Am besten sind die Resultate
14 dem chirurgischem Eingriff. bei Patienten mit medialen Temporallappenepilepsien
(7 Kap. 14.4.1).
Was versteht man unter »inakzeptabel hohe Anfallsfrequenz«? 4 Sie profitieren sehr von der vorderen Temporallappenre-
Kein Zweifel, dass tägliche Anfälle mit Bewusstseinsverlust sektion oder der selektiven Entfernung von Amygdala und
und Verletzungsgefahr durch sekundäre Generalisierung inak- Hippokampus, wenn der Fokus im dominanten Temporallap-
zeptabel sind. Aber was ist die noch akzeptable Frequenz von pen liegt: Etwa 2/3 der Patienten sind anschließend anfalls-
kurzen psychomotorischen Anfällen oder von partiell fokalen frei.
Anfällen? Hier spielt auch die Frage der Einschränkung von 4 Wenn es sich um neokortikale (laterale) Temporallappen-
Berufstätigkeit und Fahrtauglichkeit eine Rolle. epilepsien handelt oder wenn andere kortikale Foki ent-
fernt werden, sind die Ergebnisse etwas schlechter (45% An-
3Methoden fallsfreiheit, erhebliche Anfallsfrequenzreduktion bei weite-
4 Heute wird bei Temporallappenepilepsien meist die Resek- ren 40%).
tion des vorderen Temporalpols oder die selektive Amygdala-
Hippokampektomie angestrebt (. Abb. 14.5). 3Risiken. Man sollte nicht vergessen, dass epilepsiechirur-
4 Entscheidend für die Wahl der Methode und die Größe des gische Eingriffe auch ein Risiko haben. Die postoperative Mor-
Resektats ist die Eingrenzung des epileptischen Fokus durch bidität liegt bei Temporallappenresektionen um 5%, bei
prächirurgische Epilepsiediagnostik (s.o.). Die Evaluation von Kallosotomien bei 10% und bei Hemisphärektomien um 15%.
Patienten, die einem epilepsiechirurgischen Eingriff unterzo- Die Mortalität schwankt zwischen 0,5 und 3,6%.
gen werden sollen, muss in hierfür speziell geeigneten Zentren
mit entsprechend großer Erfahrung durchgeführt werden. Vagus-Nerv-Stimulation. Die Vagus-Nerv-Stimulation ist in
4 Die Resektion des Fokus muss möglich sein, ohne wesent- der Epilepsietherapie palliativ. In randomisierten Studien wird
liche (sprach- und gedächtnisrelevante) Funktionen des Tem- nur selten Anfallsfreiheit erreicht , allerdings wird eine Reduk-
porallappens zu schädigen. tion der Anfälle um 50% bei 20–30% berichtet. In offenen Re-
14.7 · Psychiatrische und neuropsychologische Aspekte der Epilepsien
389 14
Facharzt
Seltenere Operationsverfahren
Bei generalisierten Epilepsien mit schwersten Verläufen und geringeres neurologisches Defizit haben, speziell was sprach-
häufigen generalisierten Anfällen (Lennox-Gastaut-Syndrom) liche Funktionen angeht. Die Operation wird auch bei Läsi-
kann eine Kallosotomie (Durchtrennung der vorderen zwei onen der dominanten Hemisphäre durchgeführt, da bei den
Drittel des Balkens), die Anfallsfrequenz reduzieren. Anfalls- Patienten vorher schon eine Verlagerung ihrer Sprachzentren
frei werden nur wenige Prozent. Zu einer Anfallsreduktion nach kontralateral erfolgt ist.
kommt es bei fast 2/3 der Patienten, die meist eine schwere Bei neokortikalen fokalen Epilepsien, deren Foki in der
zusätzliche Hirnschädigung haben. Nähe von sprachrelevanten oder primären motorischen Zen-
Eine Hemisphärektomie wird bei Patienten mit tren liegen, kann die horizontale Ausbreitung epileptischer
schwerer, einseitiger Hemisphärenläsion und medikamentös Aktivität durch parallele Unterschneidungen der grauen Subs-
unbehandelbaren fokalen Anfällen mit sekundärer Generali- tanz an einem Gyrus (subpiale Transsektion) verhindert
sierung diskutiert. Diese meist jugendlichen Patienten haben werden. Dieses Verfahren ist noch in der Erprobung.
praktisch immer eine vorbestehende, hochgradige Halbsei- Ob in Zukunft stereotaktische Verfahren die offenen Resek-
tenlähmung. Zwar ist es nicht erstaunlich, dass nach Hemis- tionen ersetzen können, ist noch nicht klar. Zurzeit wird die
phärektomie die fokalen Anfälle, die in dieser Hemisphäre selektive Amygdala-Hippokampektomie meist offen, oft unter
ihren Ursprung hatten, bei 2/3 der Patienten völlig sistieren. gleichzeitiger Wegnahme eines kleinen Teils des medialen
Überraschend ist aber, dass die Kinder hinterher oft ein Temporallappens durchgeführt (. Abb. 14.6).

gistern wird, wie so oft, über weitaus bessere Ergebnisse berich- Gar nicht selten führt Überdosierung der Antiepileptika zu
tet. Die tiefe Hirnstimulation in thalamischen und subthala- einer chronischen Wesensänderung. Das EEG ist dann meist
mischen Kernen hat zurzeit nur experimentellen Charakter. diffus verlangsamt. Psychopathologisch wirken die Kranken
langsamer und haftend. Die Behandlung besteht in einer Re-
duzierung der Dosis, wenn möglich.
14.7 Psychiatrische und neuropsycho-
logische Aspekte der Epilepsien
14.7.2 Verstimmungszustände
14.7.1 »Epileptische Wesensänderung«
und Demenz Anfallskranke neigen nicht nur zu akuten, überschießenden,
affektiven Reaktionen, sondern auch zu stunden- oder tagelan-
Manche Epilepsiepatienten wirken auffällig langsam und um- gen Verstimmungszuständen, in denen sie mürrisch, reizbar
ständlich im Denken und Handeln und können sich nur oder depressiv sind. In dieser Zeit sind sie einem Zuspruch
schwer von einem geistigen Inhalt oder einer praktischen Tä- kaum oder gar nicht zugängig. Diese Verstimmungszustände
tigkeit auf eine andere umstellen. Im Gespräch sind sie weit- können gelegentlich forensische Bedeutung haben. Die Dyna-
schweifig. Affektiv wirken sie monoton. Aus dieser Einför- mik ihres Zusammenhanges mit dem epileptischen Prozess ist
migkeit können sie aber bei realen oder vermeintlichen Krän- noch nicht genügend bekannt. Man behandelt sie mit Neuro-
kungen plötzlich außerordentlich gereizt werden. leptika oder Antidepressiva.
Die Wesensänderung korreliert mit der Häufigkeit und
Schwere der Anfälle. Später kann dann auch, als Ausdruck der
hirnorganischen Schädigung, eine Demenz hinzu treten.

. Abb. 14.6a–c. Schematische Darstellung der drei häufigsten ohne Hippokampus (Mitte), c Ausmaß einer sog. großen Standard-
Operationsmethoden bei pharmakoresistenter Temporallappen- resektion lateraler und medialer Temporallappenanteile einschließlich
epilepsie. a Selektive Amygdalo-Hippokampektomie (links), b Resek- Hippocampus (rechts). (Nach Stefan u. Buchfelder 1995)
tion des vorderen und medialen Anteils des Temporallappens mit und
390 Kapitel 14 · Epilepsien

14.7.3 Postparoxysmaler Dämmerzustand 14.7.5 Psychogene Anfälle

Das Leitsymptom ist, wie bei fast allen akuten, exogenen Psy- Nicht selten ist die Frage, ob die Anfälle psychogen oder epi-
chosen, die Bewusstseinstrübung oder Bewusstseinseinen- leptisch sind, nach der Anfallsbeschreibung nicht zu entschei-
gung. Entsprechend sind die Kranken im Verhalten und in den den. Zudem bekommen manche Anfallskranke zusätzlich zu
Denkabläufen verlangsamt und in ihren Wahrnehmungen ein- den epileptischen psychogene Anfälle, die natürlich auf Verän-
geschränkt. Häufig verkennen sie den Aufforderungscharakter derungen in der medikamentösen Behandlung nicht reagieren.
einer Situation oder die Bedeutung von wahrgenommenen Für solche Fälle ist das mobile Langzeit-EEG über 24 h sehr
Objekten und zeigen überschießende Reaktionen auf einfache, nützlich, dessen Auswertung allerdings sehr aufwändig ist.
grobe Reize, z.B. auf Berührung oder Bewegungen anderer
Menschen. Sie erleben diese als bedrohlich und reagieren mit
ängstlicher Flucht oder aggressiver Abwehr, die sich bis zum 14.7.6 Therapie der psychischen Störungen
Amoklaufen steigern kann. Alleingelassen, zeigen die Pati-
enten eine Ruhe und Rastlosigkeit, die sie sehr unangenehm Die Behandlung aller episodischen psychischen Störungen bei
erleben. Die Motorik ist im Dämmerzustand auffällig unge- Epilepsie setzt eine genaue Analyse des psychopathologischen
schickt und undifferenziert. Befundes und des Zeitpunkts im Verlauf der Krankheit voraus,
Der postparoxysmale Dämmerzustand kann nach einem an dem die psychische Veränderung eingetreten ist. Hirnelekt-
einzelnen Krampfanfall oder einem psychomotorischen Anfall rische Kontrolluntersuchungen sind unerlässlich, auch muss
auftreten. Häufiger schließt er sich an Serien von Anfällen an. die zurzeit gegebene Therapie berücksichtigt werden. Die Zu-
Er kann Stunden, Tage und in seltenen Fällen auch Wochen ordnung zu einer der genannten Formen wird oft schwierig
andauern. Nach seinem Abklingen besteht eine vollständige sein und sollte nur in Zusammenarbeit mit den psychiatrischen
oder wenigstens partielle Amnesie (Erinnerungslücke). Im Kollegen getroffen werden.
EEG zeigt sich während des Dämmerzustandes eine mittlere
oder schwere Allgemeinveränderung mit diffusem Auftreten
von Zwischen- und Deltawellen über beiden Hemisphären. 14.8 Sozialmedizinische Aspekte
Periodisch können Krampfpotentiale auftreten. Mit der Auf-
hellung des Bewusstseins nimmt die Allgemeinveränderung ab 14.8.1 Berufseignung
und das EEG normalisiert sich.
Anfallskranke sollen im Beruf nicht an ungeschützten Maschi-
nen, nicht auf Gerüsten und nicht an Stellen arbeiten, die mit
14.7.4 Epileptische Psychose einem größeren Unfallrisiko verbunden sind.
Von diesen Beschränkungen aus Sicherheitsgründen abge-
Von großer praktischer und theoretischer Bedeutung sind die sehen, bedeutet eine Epilepsie prinzipiell keine schwere Beein-
bewusstseinsklaren epileptischen Psychosen, die oft als »schi- trächtigung der Arbeitsfähigkeit, es sei denn, der Beruf setzt
zophrenieartig« charakterisiert werden. Die Kranken sind Fahrtauglichkeit (s.u.) voraus. Die Krankheit wird durch Ruhe
14 gespannt, ruhelos, ideenflüchtig, gelegentlich maniform er- nicht gebessert und durch körperliche Arbeit nicht verschlech-
regt. Sie sind desorientiert, verkennen ihre Umgebung oft il- tert. Es ist aber psychologisch von großer Bedeutung, dass die
lusionär und haben akustische oder optische Halluzinationen Patienten sozial eingegliedert bleiben und, wenn irgend mög-
und Wahneinfälle, d.h. produktive psychotische Symptome. lich, ihre Familie ernähren können. Auch nach vorüberge-
Subjektiv fühlen sie sich besonders klar und wach: Verglichen hender Arbeitsunfähigkeit sollte man immer wieder versu-
mit der Bewusstseinstrübung im Dämmerzustand, befinden chen, den Kranken medikamentös besser als zuvor einzustellen
sie sich also am äußersten Gegenpol der Skala unterschied- und ihn dann einer für ihn geeigneten Tätigkeit oder einer
licher Bewusstseinshelligkeiten. Diese produktiven, luziden Umschulung auf einen modernen Beruf zuzuführen.
Psychosen können Tage bis Wochen andauern. Nach ihrem Sportliche Aktivität ist sinnvoll. Abgesehen von einigen
Abklingen besteht keine vollständige Amnesie. Extremsportarten und solchen mit erhöhtem Unfallrisiko,
Bei diesen Psychosen wird das EEG, wenn es vorher allge- wenn ein Anfall auftritt, gibt es keine sportlichen Einschrän-
mein oder spezifisch epileptisch verändert war, vorübergehend kungen. Auch Schwimmen (in Begleitung) ist den meisten
normal oder jedenfalls weit weniger pathologisch als sonst. Patienten möglich.
Man spricht von einer forcierten Normalisierung des EEG und
stellt sich vor, dass diesen Psychosen ein abnormes Überwie-
gen der Hemmungsvorgänge zugrunde liegt, die von der For- 14.8.2 Fahrtauglichkeit
matio reticularis des Hirnstamms gesteuert werden. Für diese
Auffassung spricht, dass die produktiven epileptischen Psycho- Die verbindliche juristische Regelung besagt, dass Anfallskran-
sen gerade dann manifest werden, wenn eine antiepileptische ke nicht tauglich zum Führen von Kraftfahrzeugen sind, solan-
Behandlung zu rasch und zu energisch aufgebaut wird. Redu- ge sie an Anfällen oder Auren leiden. Dies hat heute natürlich
ziert man die antiepileptischen Medikamente und gibt Neuro- erhebliche Konsequenzen für die beruflichen Möglichkeiten.
leptika, so klingt die Psychose wieder ab. Dabei ist die Zahl der Unfälle, die durch einen epileptischen
Anfall am Steuer verursacht werden, viel geringer als man er-
14.8 · Sozialmedizinische Aspekte
391 14
warten würde. Man schätzt, dass von 10.000 Verkehrsunfällen mentöse Behandlung notwendig ist, ist die Fahrerlaubnis an die
höchstens 10 durch einen epileptischen Anfall, dagegen wenigs- Auflage regelmäßiger fachärztlicher Kontrollen geknüpft. Meist
tens 1000 durch Trunkenheit am Steuer verursacht wurden. wird hierbei ein EEG abgeleitet, obwohl epilepsietypische Po-
Obwohl sich die Regelungen zur Fahruntauglichkeit aus- tentiale im EEG kein Argument gegen Fahrtauglichkeit sind,
drücklich auch auf andere Krankheiten mit erhöhtem Risiko wenn der Patient anfallsfrei ist. Bei nur im Schlaf auftretenden
beziehen (man denke an Diabetiker mit häufiger Unterzucke- Anfällen und bei operativ geheilten Anfallskranken kann im
rung, Adams-Stokes-Anfälle, Narkolepsie, Attackenschwindel, Einzelfall eine kürzere Zeit angesetzt werden. In solchen Aus-
Lähmungen nach Schlaganfällen oder Parkinson-Syndrom mit nahmefällen kann der Arzt die Fahrtauglichkeit früher beschei-
On-off-Phänomenen), werden sie nur bei Epilepsiekranken so nigen, übernimmt dann aber auch die Verantwortung.
strikt angewendet. Folgende Voraussetzungen müssen in der Re- Fährt ein Epilepsiekranker ohne Fahrtauglichkeit und ist
gel erfüllt sein, bevor Fahrtauglichkeit bescheinigt werden kann: (auch unschuldig und ohne Anfall) in einen Unfall verwickelt,
4 Der Patient soll ein Jahre anfallsfrei sein (mit oder ohne entstehen gravierende straf- und zivilrechtliche Konsequenzen.
Therapie) und Hat ein Patient aber noch keinen Unfall verursacht und ist er
4 aufgrund des bisherigen Behandlungsverlaufes und des noch im Besitz seines Führerscheins, sind die Möglichkeiten,
derzeitigen Befundes muss mit hoher Wahrscheinlichkeit da- ihn zum Ausscheiden aus dem Straßenverkehr zu zwingen,
von ausgegangen werden können, dass auch in Zukunft keine gering. Epilepsie ist keine meldepflichtige Krankheit und sollte
Anfälle mehr auftreten werden. es aus psychologischen Gründen auch nicht sein, weil die Pati-
4 Bei Einzelanfällen mit normalem MRT und EEG kann enten ihre Krankheit sonst verheimlichen würden und sich
auch eine Frist von 3 Monaten diskutiert werden. damit der Behandlung entzögen. Der Kranke ist durch das
Arztgeheimnis vor einer unbefugten Meldung durch den be-
Natürlich darf man sich nicht der Illusion hingeben, dass der handelnden oder untersuchenden Arzt geschützt, sofern nicht
Patient, wenn die Fahrerlaubnis auf dem Spiel steht, immer ob- ein höheres Rechtsgut, etwa bei einem uneinsichtigen anfalls-
jektiv über Anfallsfreiheit berichtet. Solange noch eine medika- kranken Busfahrer, die Meldung gebietet.

In Kürze

Epileptische Anfälle und Epilepsien

Funktionsstörungen des Gehirns mit anfallsweisen Muskel- Fokale (partielle) Anfälle


krämpfen durch plötzlich entstehende elektrische Entla- Ausdruck lokalisierbarer organischer Hirnschädigung mit oder
dungen von Nervenzellengruppen und fehlender Erregungs- ohne Bewusstseinsstörung durch Tumoren, Gefäßmissbil-
begrenzung. dungen, Entzündungen, Traumen.
Inzidenz: 20–50/100.000 Einwohner/Jahr.
Gelegenheitsanfälle: Durch Fieberkrämpfe bei Infektionen, Einfach fokale (partielle) Anfälle. Einfach fokale Anfälle
übermäßigen Alkoholkonsum, Schlafentzug, exzessive kör- mit motorischer Symptomatik: Unfähigkeit zu sprechen und
perliche Anstrengung mit Dehydration, vaskuläre Enzephalo- einzelne Silbe zu vokalisieren, klonische oder tonische Krämp-
pathie. fe einer Gesichtshälfte oder Extremität, nach Anfall Lähmung
Symptomatische Epilepsien: Durch identifizierbare struktu- der krampfenden Extremität.
relle Grunderkrankung wie kortikale Entwicklungsstörungen, Adversivanfälle: Schnelle Seitwärtsbewegung der Augen,
Tumoren, Schädelhirntrauma, metabolische und immunolo- tonische Drehung des Kopfes.
gische Erkrankungen. Kryptogene Epilepsien: Mutmaßlich Einfach fokale Anfälle mit sensibler oder visueller Sympto-
symptomatische Epilepsie ohne Nachweis der Grunderkran- matik wie Kribbelparästhesien, Elektrisierungsgefühl, Schmer-
kung. Idiopathische Epilepsien: Aus vermuteter oder nach- zen, oder Skotome, Hemianopsien, Blitze.
gewiesener genetischer Disposition, keine organische oder Jackson-Anfälle: Ausbreitung tonischer bzw. klonischer Zu-
metabolische Hirnkrankheit als Auslöser. ckungen oder Missempfindungen von einer Körperregion auf
benachbarte Bezirke evtl. mit postparoxysmaler Parese.
Diagnostik Einfach partielle Anfälle mit aphasischer Symptomatik:
Unterbrechung der Sprache.
EEG: Ergiebig während oder unmittelbar nach Anfall, sonst
oft normal oder nur unspezifisch verändert. CT/MRT: In Komplex partielle (psychomotorische) Anfälle. Stadien:
Akutsituation, nach ersten generalisierten und fokalen Aura mit Wärme- oder Beklemmungsgefühl, Farb-, Bild-,
Anfällen, für Ausschluss einer Verletzung als Anfallsfolge. unangenehmen Geruchs- und Geschmackswahrnehmungen.
Prächirurgische Epilepsiediagnostik: Elektrophysiolo- Bewusstseinstrübung: Stereotype Bewegungsabläufe, vege-
gische Lokalisation des Epilepsieherdes als Vorbereitung tative Symptome wie Speichelfluss, Pupillenerweiterung, Blässe
zur Operation. oder Rötung. Anfallsende mit Bewusstseinsaufhellung, Nachlas-
sen motorischer Automatismen. Amnesie für den Anfall.
6
392 Kapitel 14 · Epilepsien

Generalisierte Anfälle Status partieller motorischer Anfälle. Stunden- oder tage-


Bewusstseinsverlust mit Amnesie für Anfall, bilaterale moto- lang ablaufende klonische Zuckungen eines umschriebenen
rische Symptome, EEG-Veränderungen über beiden Hemis- Körperbezirkes, klares Bewusstsein; durch kortikale Läsion,
phären abzuleiten. nichtketotische, hyperosmolare Hyperglykämie. EEG nicht
notwendig, da Diagnose offensichtlich.
Altersgebundene kleine Anfälle. Absencenepilepsie des
Kindes- und Jugendalters: Genetisch bedingt. Symptome: Konservative Therapie
Dauer wenige Sekunden; Blässe, starrer Blick, Lidmyoklonien,
nystaktische Augenbewegungen nach oben, ruckartiges Einzelner epileptischer Anfall bedarf keiner Notfalltherapie,
Rückwärtsneigen des Kopfes bis 100-mal/Tag, infolge seeli- da er sich selbst beendet. Wichtig ist allgemeine Lebens-
scher Erregung und Hyperventilation. EEG: Im Anfall und führung wie regelmäßiger Nachtschlaf, kein Schlafentzug.
Intervall 3/s-spikes und waves. Antiepileptische Medikamente als (möglichst hochdosier-
Myoklonische Epilepsie des Jugendalters (Impulsiv-Petit- te) Monotherapie nur bei manifesten Anfallsleiden. Bei
mal): Symptome: Einzelne oder salvenartige, bilaterale, antiepileptischer Dauerbehandlung Medikament bis zur
myoklonische 2–3 s dauernde Stöße, leichte Bewusstseins- oberen Grenze des therapeutischen Bereichs oder darüber
trübung, infolge Alkoholgenuss, Schlafentzug. EEG: Häufig hinaus (bis zu Nebenwirkungen) dosieren, bevor als unwirk-
Polyspike-wave-Abläufe sam klassifiziert und Medikamentenwechsel. Nach 3-jähriger
Anfallsfreiheit: Reduzierung der Dosierung über Zeitraum
Tonisch-klonischer Grand-mal-Anfall (GM). Isoliert, als von 6 Monaten bis zur Einstellung der Behandlung. Therapie-
Komplikation anderer, generalisierter Epilepsie mit kleinen resistenz bei Jugendlichen mit symptomatischer gene-
Anfällen, oder sekundär generalisiert mit partiellen Epilep- ralisierter Epilepsie oder Residualepilepsie mit fokalen An-
sien. Oft nach dem Aufwachen. Stadien: Krampfanfall mit fällen, bei zu niedriger Dosierung oder falscher Einnahme, bei
Aura oder plötzlichem Anfallsbeginn: Initialschrei durch falscher Klassifikation der Anfallsart, dadurch ungeeignetes
Atemmuskelkontraktion bei fast geschlossener Stimmritze, Medikament. Serumspiegelbestimmung zur optimalen
geöffnete Augen, verdrehter Bulbi nach oben oder zur Seite. medikamentösen Einstellung, gibt Bereich vor, in der Wirksam-
Tonisch-klonisches Stadium: Beine und Arme überstreckt, keit erwartet wird.
danach rhythmische klonische Zuckungen, vorübergehend
erhöhter Blutdruck, Atmung sistiert in tonischer Phase, keine Chirurgische Therapie
Pupillenreaktion. Anfallsende: Röchelnde, schwere Atmung,
schlaffer Tonus, minuten- bis stundenlanger Terminalschlaf. Voraussetzung: Sichere Epilepsiediagnose, echte Therapie-
EEG: Abflachung, Spike-Potentiale, Muskelartefakte vor GM- resistenz, inakzeptabel hohe Anfallsfrequenz, eingrenzbarer
Anfall, dann Perioden langsamer Wellen. Epilepsiefokus, keine zu schwere allgemeine Hirnschädigung,
dient der Verbesserung der Lebensqualität nach Operation.
Status epilepticus Methoden: Resektion des vorderen Temporalpols oder selek-
14 Ein Status epilepticus (SE) ist ein epileptischer Anfall, dessen tive Amygdala-Hippokampektomie. Entscheidend ist Eingren-
Dauer 5 min bei generalisiert tonisch-klonischen Anfällen zung des epileptischen Fokus durch prächirurgische Epilepsie-
und 20–30 min bei fokalen Anfällen oder Absencen über- diagnostik.
schreitet.
Psychiatrische und neuropsychologische Symptome
Grand-mal Status. Symptome: Abfolge tonisch-klonischer bei Epilepsien
GM-Anfälle mit Bewusstseinsverlust durch fehlenden, den
einzelnen Anfall beendenden Mechanismus. Ohne Unterbre- Epileptische Wesensänderung durch Überdosierung der
chung binnen Stunden Hirnödem, steigende Körpertempe- Antiepileptika korreliert mit Anfallshäufigkeit und -schwere;
ratur, Tod durch Herz-Kreislaufversagen. Ursache: u.a. Ge- Demenz durch hirnorganische Schädigung; Postparoxysma-
hirntumoren, offene Hirnverletzungen, unregelmäßige Medi- ler Dämmerzustand mit Bewusstseinstrübung oder -einen-
kamenteneinnahme. EEG: Kontinuierliche, epileptische, im gung; Verstimmungszustände; Epileptische Psychosen mit
Koma periodische, rhythmische Entladungen mit Kurvenab- Desorientiertheit, Ruhelosigkeit, akustischen oder optischen
flachung. Halluzinationen bei klarem Bewusstsein; Psychogene Anfälle.

Absencenstatus. Plötzlich fehlende Ansprechbarkeit, Nesteln. Sozialmedizinische Aspekte


EEG: 3/s Spike-wave-Aktivität. Berufseignung beschränkt durch Sicherheitsgründe wie
Arbeiten an ungeschützten Maschinen oder auf Gerüsten.
Status psychomotoricus. Abwesend wirken, Nesteln; Voraussetzungen für Fahrtauglichkeit: ein Jahr anfallsfrei
komplexe, zielgerichtet wirkende Aktionen wie Auto fahren (mit oder ohne Therapie) und positive Prognose für zukünftige
möglich. Anfallsfreiheit.
15

15 Synkopale Anfälle und andere


anfallsartige Störungen
15.1 Synkopen – 394
15.1.1 Vegetative und kardiale Synkopen – 394
15.1.2 Reflexsynkopen – 395
15.1.3 Synkopen bei neurologischen Krankheiten – 396
15.1.4 Andere Ursachen von Synkopen – 396

15.2 Schlafstörungen – 397


15.2.1 Narkolepsie und affektiver Tonusverlust – 397
15.2.2 Schlafapnoesyndrom – 399

15.3 Amnestische Episoden (»transient global amnesia«, TGA) – 401

15.4 Tetanie – 402


394 Kapitel 15 · Synkopale Anfälle und andere anfallsartige Störungen

> > Einleitung Beides äußert sich in einer Bewusstseinsstörung, einem Ver-
lust des Muskeltonus, der zum Sturz führen kann, und gele-
Madame, Ihr Fläschchen … gentlich auch in flüchtigen, neurologischen Reiz- und Ausfall-
Im 18. und 19. Jahrhundert waren Ohnmachten bei Damen symptomen, die von vegetativen Erscheinungen begleitet
höherer sozialer Schichten wegen der modischen Forderung sind.
nach einer Wespentaille, die nur durch Korsagen bei erheblicher
Einschränkung der Atmung und des venösen Rückflusses aus
den Beinen zu erreichen war, an der Tagesordnung. So gehörten 15.1.1 Vegetative und kardiale Synkopen
Riechflakons mit stechenden Flüssigkeiten, mit denen sie die
kollabierten Schönheiten wieder ins Bewusstsein zurückholten, Adams-Stokes-Anfälle
zur Standardausrüstung des Begleiters der Dame von Welt. 3Pathophysiologie. Diese Synkopen treten bei plötzlichem
Auch heute ist es gar nicht so selten, dass sonst gesunde Versagen der hämodynamisch wirksamen Förderleistung des
Personen in bestimmten Situationen, z.B. inmitten einer extre- Herzens, d.h. bei extremer Bradykardie von unter 20–30 Schlä-
men Ansammlung von Menschen, beim Stehen in schlechter Luft gen/min oder Asystolie, aber auch bei anfallsweiser Tachykar-
oder bei besonderer emotionaler Anspannung, das Gefühl des die von über 200 Schlägen/min auf.
Schwarzwerdens vor den Augen erleben und fast oder tatsäch-
lich bewusstlos werden. Vielen Ärztinnen sind die kräftigen, 3Symptome. Nach kurzem Schwindel verlieren die Kran-
durchtrainierten, selbstbewussten jungen Männer, die bei der ken das Bewusstsein und erleiden eine tonische Verkrampfung
Blutabnahme kollabieren, in bleibender Erinnerung. Und manche der Extremitäten. Diese dauert aber nicht länger als etwa 10 s,
Medizinstudenten sind bei der ersten Operation, der sie beiwoh- da die Krampftätigkeit des Gehirns durch die Anoxie und den
nen durften, oder der ersten pathologisch-anatomischen De- verminderten Abtransport der Metaboliten rasch »erstickt«.
monstration kurzfristig »weggetreten«. Hyperventilation, emotio- Die Pupillen sind weit und lichtstarr. Wenige Sekunden, nach-
nale Begeisterung, z.B. bei Teenagern während Popkonzerten, dem die Herztätigkeit wieder eingesetzt hat, können erneut
können ebenfalls Auslöser sein. Manche Männer werden bei kurze Zuckungen der Gliedmaßen auftreten.
nächtlichem Wasserlassen im Stehen ohnmächtig und stürzen
bewusstlos zu Boden. Allerdings liegen manchen Ohnmachten 3Therapie. Internistisch. Bei der bradykarden Form akut
auch ernst zu nehmende kardiale Krankheiten zu Grunde. kardiopulmonale Reanimation, später Indikation zur Implan-
Solche plötzlichen Ohnmachten nennt man Synkopen. tation eines Schrittmachers. Wenn der Herzstillstand länger als
Seltener sind anfallsartige Störungen der Wachheit und des 4–5 min dauert, besteht die Gefahr einer schweren, anoxischen
Schlafes. Eine interessante, ätiologisch nicht sicher geklärte Hirnschädigung.
attackenförmige Krankheit ist die transiente globale Amnesie
oder amnestische Episode. Neurokardiogene (vasovagale) Synkopen
Hier liegt eine zeitweilige Imbalance zwischen Parasympathi-
kus und Sympathikus zugrunde. Die Synkopen können bei
15.1 Synkopen raschem Aufstehen (Versagen der sympathischen Gegenregu-
lation), Rasieren oder Karotisdruck ausgelöst werden.
3Definition. Bei Synkopen kommt es zu einer kurzfristigen
15 Bewusstlosigkeit (»es wird schwarz vor den Augen«), meist 3Symptome. Fast alle Patienten verspüren zunächst die
verbunden mit vegetativen Erscheinungen wie Schwindel, Symptome eines drohenden Vasomotorenkollaps: Blässe, Aus-
Schweißausbruch, Harndrang und gefolgt von Herzjagen, Zit- bruch von kaltem Schweiß, Schwindel, Flimmern, Schwarz-
tern und Schwitzen. Oft realisieren die Patienten noch das werden vor den Augen. Dann erst kommt es zu einer Bewusst-
Kommen der Synkope als ein komisches aufsteigendes Gefühl. seinsstörung, bis hin zur Bewusstlosigkeit. In der Regel verlet-
Die Patienten stürzen meist wegen des Verlusts des Muskelto- zen sie sich nicht. Sie beißen sich nicht auf die Zunge und ha-
nus hin, können sich dabei auch verletzen. Besonders schwie- ben nur selten unwillkürlichen Urinabgang. Bei schwerem
rig wird die Einordnung, wenn es bei längerer Bewusstlosigkeit Kollaps kann dies allerdings doch der Fall sein.
zu kurzen Zuckungen in Armen und Beinen kommt. Zungen- In der Bewusstlosigkeit liegen die Patienten schlaff da (ein-
biss oder Urinabgang sind dagegen selten. fache Ohnmacht). Es kann dann aber auch zu einem Streck-
Synkopen betreffen das Gebiet der Inneren Medizin und krampf der Extremitäten kommen, der von wenigen, klonischen
der Neurologie in gleichem Maß. Der anfallsartige Charakter Zuckungen begleitet ist. Diese Myoklonien treten erst einige Se-
der Ohnmachten führt die Patienten meist zum Neurologen, kunden nach Einsetzen des Kreislaufversagens auf und dauern
der eine Epilepsie ausschließen soll. Die Synkopen sind oft aber nicht länger als etwa 10 s (konvulsive Synkope). Meist kehrt das
nur die zerebrale Manifestation einer Funktionsstörung des Bewusstsein nach kurzer Zeit wieder. Hält die Bewusstseinsstö-
Herzens, eines zu niedrigen systemischen Blutdrucks oder ei- rung mehrere Minuten oder länger an, kann man nicht mehr die
ner metabolischen Störung, die erst bei internistischer Unter- Diagnose eines unkomplizierten synkopalen Anfalls stellen,
suchung festgestellt werden. sondern muss eine Komplikation (etwa Commotio cerebri
Allen Synkopen ist gemeinsam, dass es durch eine extra- durch Sturz auf den Kopf), eine andersartige Bewusstseins-
zerebrale Funktionsstörung zu einer Mangeldurchblutung störung (z.B. Subarachnoidalblutung) oder eine psychogene
oder einem Substrat-(Glukose-)mangel im Gehirn kommt. Ausgestaltung annehmen.
15.1 · Synkopen
395 15
3Auslöser. Meist ist die auslösende Situation charakteris- le mit einer gewissen Regelmäßigkeit, ist eine Behandlung an-
tisch: Synkopale Anfälle treten nicht aus dem Schlaf, sondern gezeigt. Diese besteht zweckmäßig in physikalischen Maßnah-
fast immer bei einer Orthostase oder einer geistig-seelischen men, und Sport. Wenn Patienten eine Synkope nahen fühlen,
Belastung bzw. Anspannung auf. Dies ist der Fall nach länge- können sie in dieser präsynkopalen Phase mit Gegenmanövern
rem Stehen, namentlich in geschlossenen Räumen, beim Knien wie Beinekreuzen, Anspannung der Arm-, Bein- und Bauch-
in der Kirche, beim plötzlichen Aufstehen oder Aufrichten, bei muskulatur, die zu einem Anstieg von Blutdruck und Herzzeit-
der Miktion im Stehen (orthostatischer Kollaps), bei Hitzeein- volumen führen, die Synkope verhindern.
wirkung und Sauerstoffmangel, bei plötzlichem Schmerz, Er-
schrecken, körperlicher oder geistig-seelischer Erschöpfung. 3Medikamentöse Prophylaxe. Diese ist leider unbefriedi-
Auch vestibuläre Reize (Karussell, Achterbahn) können gend. In 2 randomisierten, placebokontrollierte Studien wurde
zum Vasomotorenkollaps führen. Die orthostatische Belastung gezeigt, dass der generelle Einsatz von Betablockern in der Pro-
ist also keine notwendige Bedingung. Vasovagale Synkopen phylaxe neurokardiogener Synkopen nicht wirksam ist. Aus-
werden auch häufig in der Rekonvaleszenz nach schweren All- reichende studienbasierte Evidenz für einen prophylaktischen
gemeinkrankheiten und gelegentlich nach Hirntraumen beob- Effekt liegt nur für den Alpha-Agonisten Midodrin (Gutron®)
achtet. in einer Dosierung von 3-mal 2,2–10 mg/Tag vor. Das SSRI-
Vergleichende Untersuchungen haben gezeigt, dass sich Antidepressivum Paroxetin wirkt prophylaktisch bei neuro-
die vasomotorischen Anfälle bei nicht entschädigungspflichti- kardiogenen Synkopen, hat aber für diese Indikation keine
gen Unfällen bald wieder zurückbilden, womit die Bedeutung Zulassung.
der seelischen Verfassung deutlich wird. Dass die Anfälle in
seelischen Krisensituationen besonders leicht auftreten, selbst 3Differentialdiagnose. Zur Unterscheidung von epilep-
wenn keine aktuelle orthostatische Belastung vorliegt, ist eine tischen Anfällen dienen vor allem folgende Kriterien:
geläufige Erfahrung. 4 Wenn Myoklonien (kurze tonisch-klonische Zuckungen,
die manchmal mit epileptischen Dymptomen verwechselt wer-
3Pathophysiologie. Bei den geschilderten Gelegenheiten den können) auftreten, setzen sie mit einer kurzen Latenz ein
kommt es zu einer vagotonen Umstellung des Kreislaufs und und dauern nur wenige Sekunden.
der Herzaktion. Das Blut versackt in der Peripherie: So nimmt 4 Das Gesicht ist blass und nicht zyanotisch.
die Blutmenge in der Muskulatur bis zum Dreifachen der Ru- 4 Der Puls ist bradykard und flach.
hedurchblutung zu. Die Herzfrequenz sinkt, und das Minuten- 4 Die Pupillen können lichtstarr sein, sind aber durch para-
volumen nimmt wegen der Verminderung der Herzfüllung sympathische Innervation eng und nicht, wie im epileptischen
durch geringeren venösen Rückstrom ab. Die Folge ist eine Anfall, maximal erweitert.
Ischämie des Gehirns. Sobald die kritische Mitteldruckgrenze 4 Nach dem Erwachen fühlt sich der Patient müde, jedoch
von 50–60 mmHg unterschritten ist, versagt zusätzlich die ze- nicht abgeschlagen, wie nach einer großen körperlichen An-
rebrale Gefäßregulation. Eine Ischämie der Retina erklärt das strengung.
Augenflimmern.
Der Blutmangel des Gehirns führt zur Bewusstseinsstörung.
Die kurz dauernden Myoklonien erklären sich durch die Grund- 15.1.2 Reflexsynkopen
eigenschaft aller Nervenzellen, in Hypoxie zu depolarisieren.
Die Myoklonien können nur von kurzer Dauer sein, da in der Hustensynkopen
Krampftätigkeit der zerebrale Energiestoffwechsel um das Dop- 3Symptome. Unter besonderen Bedingungen können
pelte vermehrt ist, der Nachschub an O2 und Glukose im Kollaps Hustenstöße oder heftiges Lachen, selten einmal die Defäka-
aber mit diesem gesteigerten Bedarf nicht Schritt hält. tion über einen Valsalva-Mechanismus zum Kollaps führen. Er
tritt entweder als reiner, Sekunden dauernder Tonusverlust der
3Diagnostik. Zur Basisdiagnostik gehören die präzise Körpermuskulatur mit Blässe und Schwitzen auf, manchmal ist
Fremd- sowie Eigenanamnese, ein 12-Kanal-EKG, ein Lang- er auch für einige Sekunden von Bewusstlosigkeit und klo-
zeit-EKG und der Schellong-Test. Besteht trotz negativem nischen Zuckungen begleitet. Betroffen sind vor allem starke
Schellong-Test der Verdacht auf eine orthostatische Hypoten- Raucher zwischen 40 und 50 Jahren. Das plötzliche Hinstürzen
sion oder ein posturales Tachykardiesyndrom sollte ein Kipp- kann zu Verletzungen führen.
tisch-Test durchgeführt werden. Das EEG ist im synkopalen
Anfall diffus verlangsamt und kann vorübergehend isoelekt- 3Pathophysiologie. Peripherer, vasomotorischer Kollaps
risch werden. Synchrone Entladungen oder Spike-Potentiale spielt keine Rolle. Druckmessungen haben gezeigt, dass der
treten nicht auf. Labor: Serum-Prolaktin-Werte sind nach zentrale Venendruck nicht mit der plötzlichen Erhöhung des
einem epileptischen Anfall, eventuell aber auch nach einer intrathorakalen Druckes Schritt halten kann. Deshalb kommt
Synkope erhöht. es zu einer plötzlichen, drastischen Verminderung des venösen
Zustroms zum Herzen und als Folge davon zu einem Abfall der
3Therapie. Handelt es sich nur um ein einmaliges Ereignis Förderleistung des Herzens. Dadurch sinkt die Hirndurchblu-
unter einer außergewöhnlichen, exzessiven Belastung, ist keine tung vorübergehend unter die kritische Grenze. Zusätzlich
Therapie erforderlich. Man wird den Patienten beruhigen und steigt bei der Hustenattacke der Liquordruck an und über-
ihm die Prognose günstig stellen. Wiederholen sich die Anfäl- schreitet den intraarteriellen Blutdruck.
396 Kapitel 15 · Synkopale Anfälle und andere anfallsartige Störungen

3Therapie. Atemgymnastik mit Husten aus der Atemmit- Die Defäkationssynkopen sind dagegen den durch Valsal-
tellage, Behandlung von bronchialen Infekten, Parasympatho- va-Manöver ausgelösten Synkopen (s.o.) zuzurechnen. Gleiches
lytika. gilt für die koitalen und Orgasmussynkopen.

Schlucksynkopen Synkopen durch Hypokapnie


Pathophysiologisch beruhen sie auf vagovagalen Reflexen, die Durch Hypokapnie kommt es zu einer zerebralen Vasokons-
bei Krankheiten an beiden Endpunkten des Reflexbogens aus- triktion. Diese kann von einer globalen zerebralen Perfusions-
gelöst werden können. Sie treten also bei Krankheiten des Öso- minderung gefolgt sein. Synkopen durch Hypokapnie sind
phagus, z.B. Divertikeln, und bei Krankheiten des Herzmuskels selten und werden nur der Vollständigkeit halber genannt.
auf. Auch Synkopen bei Glossopharyngikusneuralgie gehören
> Es gibt orthostatische, Husten-, Schluck- und Miktions-
hierher. In Ausnahmefällen kann auch eine ephaptische Ver-
synkopen sowie Synkopen aus kardialer Ursache. Extra-
bindung zwischen den afferenten und efferenten Vagusfasern
zerebrale Funktionsstörungen führen dabei zu rasch
das Auftreten der Schlucksynkopen begünstigen. Der afferente
vorübergehender Hypoxie des Gehirns mit Kollaps, Be-
Stimulus ist eine Dehnung des Ösophagus, der efferente Effekt
wusstseinsverlust und auch kurzdauernden Krämpfen.
ist eine Hemmung des Herzschlags.
Die medikamentöse Therapie erfolgt bei Schlucksynko-
pen, wie bei Hustensynkopen, mit Atropin oder anderen Para-
sympatholytika. 15.1.3 Synkopen bei neurologischen Krankheiten

Synkopen bei hypersensitivem Karotissinus Verschiedene Hirnstammkrankheiten und Stoffwechsel-


3Symptome und Pathophysiologie. Beim Rasieren, beim störungen, die medikamentöse Behandlung neurologischer
Tragen enger Kragen und Krawatten, manchmal auch bei mas- Krankheiten und (Multi-)Systematrophien führen unter ande-
siver Überdehnung des Halses bei Seitwärtsblick (Rückwärts- rem ebenfalls zu Synkopen. Die meisten werden an anderer
fahren) kann es zur Bewusstlosigkeit kommen, die durch eine Stelle besprochen. Erwähnt werden sollen hier die folgenden,
Störung des die Karotisgabel umgebenen sympathischen Ge- an anderer Stelle besprochenen Krankheitsgruppen:
flechts entsteht. Es resultiert eine kurze Asystolie. Diese kann 4 Vaskuläre Krankheiten: Subklavia-Anzapf-Syndrom
auch bei der Ultraschalldiagnostik der Karotiden und beim (7 Kap. 5.5.2), drop attacks bei vertebrobasilären Durchblu-
Stenting einer Karotisstenose mit Dilatation auftreten. Bei en- tungsstörungen (keine wirkliche Bewusstlosigkeit!)
dovaskulären Eingriffen an der Karotisgabel wird daher immer 4 Stoffwechselstörungen: Mitochondriopathien, M. Wilson
Atropin gegeben. Therapeutisch nutzen Internisten diesen Re- (selten, 7 Kap. 28), Hypophyseninsuffizienz (7 Kap. 11.11.2)
flex beim Karotisdruck, der bei supraventikulärer Tachykardie 4 Medikamente: Parkinsonmedikamente, Psychopharma-
eingesetzt werden kann. ka, Betablocker (7 Kap. 30)
4 Systematrophien: M. Parkinson (7 Kap. 23)
3Therapie und Prophylaxe. Vermeiden von starkem Druck 4 Multisystematrophien (MSA) (7 Kap. 23)
auf die Karotisgabel, Aufklärung über Auslöser, das heißt auch, 4 Polyneuropathien mit vegetativer Beteiligung (7 Kap. 32)
keine zu engen Krawattenknoten und Hemden.
Die kataplektischen Anfälle bei Narkolepsie (7 Kap. 15.2.1)
15 Miktionssynkopen sind keine Synkopen.
3Symptome. Charakteristisch ist ein plötzlich eintre-
tender, kurz dauernder Bewusstseinsverlust während der
Miktion im Stehen, gewöhnlich nach dem Aufstehen in der 15.1.4 Andere Ursachen von Synkopen
Nacht. Betroffen sind Männer aller Altersgruppen. Die Be-
troffenen stürzen abrupt oder nach kurzem, unsystema- Hypoglykämische Anfälle
tischem Schwindel während der Miktion im Stehen zu Boden Diese äußern sich klinisch in verschiedenen Schweregraden
(wie ein gefällter Baum). Sie können sich dabei erheblich von paroxysmalen, vegetativen Störungen (Unruhe, Schwit-
verletzen. Die Hautfarbe ist blass, der Puls im Augenblick zen, Tachykardie, Blutdruckanstieg, Kollapsneigung, Angstge-
der Vagotonie bradykard und weich. Dauer der Bewusstlosig- fühl, Schwindel, Kopfschmerzen, Hitzewallung) bis zu neuro-
keit etwa 1 min. Amnesie besteht nur für die Bewusstlosigkeit, logisch-psychiatrischen Symptomen: Bewusstseinstrübung,
falls keine traumatische Schädigung beim Sturz eingetreten Dämmerzustand, Delir, Koma, Enthemmung primitiver, ora-
ist. ler Automatismen und Reflexe, extrapyramidale Hyperkine-
sen, und auch in epileptischen Krämpfen.
3Pathophysiologie. Die Pathophysiologie ist komplex: Va- Auftreten der Anfälle: häufig nachts. Sie werden durch An-
gotone Weitstellung der Gefäßperipherie, verminderter venöser strengung und mangelhafte Nahrungszufuhr ausgelöst und
Rückstrom im Stehen und parasympathische Aktivität bei der bessern sich nach dem Essen.
Miktion führen zu einer Synkope mit vorübergehender, zere- Als Ursache der hypoglykämischen Anfälle kommen In-
braler Ischämie. Synkopen aus kardialer Ursache sollten ausge- suffizienz des Hypophysenvorderlappens, M. Addison, Insel-
schlossen werden. Zur Vorbeugung wird die Miktion im Sitzen zelladenome des Pankreas und Überdosierung von Antidiabe-
empfohlen. tika, besonders Insulin in Betracht.
15.2 · Schlafstörungen
397 15
Sympathikotone Krisen Wir werden hier nicht Schlafstörungen bei psychiatrischen
Diese treten hauptsächlich durch Adrenalin- und Noradrena- Krankheiten (z.B. bei der Depression), durch Medikamen-
linausschüttung beim Phäochromozytom auf. Der Anfall setzt te oder durch metabolische Krankheiten sekundär verursachte
plötzlich mit Erblassen, Pulsbeschleunigung, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Insomnien und Hypersomnien besprechen.
Engegefühl, Übelkeit, Angst, Flimmern vor den Augen und Primäre Schlafstörungen, die auch in der Neurologie wich-
Pupillenerweiterung ein. Die Extremitäten sind kalt und blass. tig sind, sind die Narkolepsie und das Schlaf-Apnoe-Syn-
Das Kardinalsymptom ist die plötzliche Steigerung des systo- drom.
lischen, aber auch des diastolischen Blutdrucks für Minuten
bis Stunden.
15.2.1 Narkolepsie und affektiver Tonusverlust
Flush-Syndrom
Beim metastasierenden Dünndarmkarzinoid kommt es zu Patienten mit einer Narkolepsie klagen darüber, dass sie
plötzlicher, flüchtiger Serotoninausschüttung ins Blut. Diese Schwierigkeiten haben, tagsüber wach zu bleiben, obwohl sie
führt innerhalb von Sekunden zu einer Rötung von Gesicht, ausreichenden Nachtschlaf hatten. Auch nach dem Nacht-
Hals und Thorax, während der Patient Hitzegefühl und bren- schlaf fühlen sie sich nicht erholt. Es dauert lange, bis sie mor-
nende Schmerzen verspürt. Oft treten gleichzeitig Durchfälle gens in Gang kommen, am Arbeitsplatz, beim Autofahren, in
und Atembeklemmung auf. Der Flush befällt bevorzugt Per- Gesellschaft kann es vorkommen, dass diese Patienten unge-
sonen jenseits des 40. Lebensjahres. Er kann sich zu jeder Ta- wollt kurz einschlafen.
ges- und Nachtzeit, auch wiederholt, meist ohne erkennbaren
äußeren Anlass einstellen. Seelische Erregung und Alkoholge- 3Definition. Die Narkolepsie ist bei voller Ausprägung
nuss begünstigen ihn. durch
Im weiteren Verlauf kommt es zu einer dauernden, ple- 4 imperative Schlafanfälle,
thorischen Verfärbung der im Anfall betroffenen Hautpar- 4 anfallsweisen Tonusverlust der Muskulatur,
tien mit Teleangiektasien, beim Befall des Herzens auch 4 hypnagoge Halluzinationen,
zu einer Endokardfibrose mit Lokalisation vorwiegend an 4 affektiven Tonusverlust (Kataplexie) und
der Trikuspidal- und Pulmonalklappe. In der Anamnese er- 4 Schlaflähmungen
fährt man von rezidivierenden Durchfällen. Die Diagnose gekennzeichnet. Automatische Verhaltensweisen sowie eine
wird durch den Nachweis einer vermehrten (über 25 mg pro starke Unregelmäßigkeit des Schlafrhythmus treten hinzu.
24 h) Ausscheidung des Serotoninabbauproduktes 5-Hy-
droxyindolessigsäure im Urin gesichert. Das Somatostatin- 3Einteilung. Narkolepsien werden nach der internationalen
Analogon Sandostatin beseitigt die Darmsymptome und den Klassifikation als Hypersomnien zentraler Ursache in
Flush. 4 Narkolepsie ohne Tonusverlust
4 Narkolepsie mit Kataplexie sowie
Psychogene Anfälle 4 symptomatischen Narkolepsien eingeteilt.
Eine praktisch sehr wichtige Differentialdiagnose ergibt sich
gegen psychogene Anfälle. Diese treten häufig, aber keines- Symptomatische Narkolepsien treten nach Hirnstamm und
wegs immer, im Zusammenhang mit affektiv belastenden Thalamusläsionen, besonders bei Tumoren des dritten Ventri-
Situationen auf. Oft haben sie im Erscheinungsbild Ausdrucks- kels und nach Hirnstamminfarkten auf.
charakter: wildes Umsichschlagen, Weinen, Selbstverletzung,
»Arc de cercle« oder andere sexuelle Szenen. Die Augen sind 3Epidemiologie. Die Prävalenz der Narkolepsie wird auf
meist geschlossen und werden beim Versuch, die Pupillen- etwa bis 30–50 Patienten pro 100.000 Einwohner geschätzt.
reaktionen zu prüfen, noch fester zugekniffen. Die Hände sind Männer sind etwas gleich häufig betroffen wie Frauen. Das
bald zu Fäusten verkrampft, bald in wechselnder Bewegung. durchschnittliche Erkrankungsalter liegt im 3. Lebensjahr-
Man kann sich nicht an einzelnen Symptomen orientieren: zehnt. Die Erkrankung bleibt meist lebenslang bestehen, die
Zungenbiss (allerdings nicht seitlich, sondern an der Spitze), Symptomatik schwächt sich aber oft im zunehmenden Lebens-
Verletzung beim Hinstürzen, Einnässen kommen auch bei alter ab. Vollständige Remissionen sind selten. Die Lebensqua-
psychogenen Anfällen vor, Enkopresis sogar häufiger als bei lität von Patienten mit Narkolepsie ist messbar eingeschränkt.
epileptischen Anfällen. Typisch ist vor allem der ungleichför- Fast die Hälfte dieser Patienten ist nicht mehr erwerbsfähig.
mige Ablauf. Genetische Belastung: Etwa 50% der Patienten haben eine
familiäre Belastung mit Narkolepsie. Angehörige 1. Grades von
Patienten mit einer Narkolepsie mit Kataplexie haben ein 10-
15.2 Schlafstörungen bis 40-fach erhöhtes Erkrankungsrisiko. Die Mehrzahl der
Neuerkrankungen ist allerdings sporadisch.
Als Schlafstörungen bezeichnet man Die Narkolepsie hat die höchste HLA-Assoziation aller be-
4 Störungen des Einschlafens und Durchschlafens (Insom- kannten Krankheiten: 98% der Narkolepsiepatienten haben
nien), den HLA DRB1*1501, DQB1*0602-Typ. Er besitzt hohe Sen-
4 Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus und sitivität (95%), aber nur eine geringe Spezifität, da er auch bei
4 vermehrte Schlafneigung (Hypersomnien). 25–35% der Normalbevölkerung nachweisbar ist.
398 Kapitel 15 · Synkopale Anfälle und andere anfallsartige Störungen

Exkurs
Pathophysiologie
Die Narkolepsie beruht auf einer mangelhaften Ausreifung In diesen Systemen muss die anfallsweise Funktionsstö-
der Schlaf-Wach-Regulation. Die schlafauslösenden Struk- rung auftreten, die zu den oben beschriebenen Krankheits-
turen sind im kaudalen Hirnstamm, in dem relativ eng um- symptomen führt. Die biochemischen Grundlagen sind noch
schriebenen Raphesystem in der Gegend des Tractus soli- nicht im einzelnen bekannt: Man weiß lediglich, dass der
tarius lokalisiert. Die Strukturen für die Aufrechterhaltung synchrone Schlaf durch Serotonin, der paradoxe Schlaf durch
des Wachzustandes finden sich weit ausgedehnt zwischen Noradrenalin gesteuert ist. Die engen anatomischen und
Hirnstamm und Hypothalamus im aufsteigenden, unspezi- physiologischen Beziehungen zwischen dem limbischen und
fischen retikulären System. dem retikulären System machen die affektive Auslösbarkeit
Der paradoxe Schlaf ist an die Integrität des Nucleus der Kataplexie verständlich.
reticularis caudalis pontis gebunden. Der Muskeltonus wird
über die bulbopontine (absteigende) Formatio reticularis
reguliert.

3Pathophysiologie. Die Narkolepsie ist mit einer Störung dabei verändert. Der Tonusverlust kann auf die Kopfmuskulatur
des REM-Schlafes verbunden. Dazu scheinen die Kontrollme- beschränkt sein, so dass sich nur flüchtig die Augenlider schlie-
chanismen, die den Übergang zwischen Schlafen und Wachen ßen, der Unterkiefer herabsinkt oder der Kopf nach vorn fällt.
steuern, beeinträchtigt zu sein. So kann man die Kataplexien Bei stärkerer Ausprägung gehen die Kranken blitzartig in
als Äquivalent zu REM-Schlaf-Atonie, die in der Wachphase die Knie oder stürzen zu Boden. Die Eigenreflexe sind wäh-
auftreten und, gewissermaßen entgegengesetzt, die hypnago- renddessen erloschen. Nach längstens 2 min sind die Patienten
gen Halluzinationen als REM-Träume in der Wachphase ver- sofort wieder imstande, sich zu erheben. Oft ist die auslösende
stehen. Gemütsbewegung ein plötzliches Lachen (»Lachschlag«). Auch
Bei Narkolepsien mit Kataplexie hat man einen Mangel an freudige Erregung oder Schreck bei überraschenden Begeg-
Hypokretin-1, einem Neuropeptid des dorsolateralen Hypo- nungen, selbst unerwartetes Anrufen, können die Kataplexie
thalamus, beschrieben. Tierexperimentell konnte eine Mutati- auslösen. Sie kann von außen nicht unterbrochen werden. Iso-
on des Hypokretin-Rezeptor-2-Gens gezeigt werden. lierte, kataplektische Anfälle können einer Narkolepsie jahre-
lang vorausgehen. Manche Patienten erleiden auch Wachan-
3Symptome fälle (oder Schlaflähmungen) mit dissoziiertem Erwachen
4 Monosymptomatische Narkolepsie: Der narkoleptische oder Einschlafen. Das Bewusstsein ist dabei klar, oft übermä-
Anfall setzt akut mit einem unwiderstehlichen Schlafbedürfnis ßig hell, aber die willkürliche Beweglichkeit ist für Minuten
ein, das die Kranken zwingt, sich innerhalb von Minuten zu aufgehoben. Diese Wachanfälle stellen sich vor allem beim
setzen oder hinzulegen und tief einzuschlafen. Sie sind aus die- Einschlafen oder Erwachen ein. Sie können sich aber auch an
sem Schlaf erweckbar. Spontan erwachen sie nach wenigen den affektiven Tonusverlust anschließen. Durch passive Bewe-
Sekunden bis längstens 15 min und fühlen sich dann ausge- gung der Extremitäten oder starke Sinnesreize werden sie un-
15 ruht. Neurologisch und in seiner biologischen Wirkung erfüllt terbrochen.
dieser kurze Schlummer alle Kriterien des natürlichen Schlafes, Der Zustand entspricht dem Anfangsteil einer sleep-onset
nur ist der Zeitablauf stark gerafft. REM period (s.u.), in der ein hohes Vigilanzniveau mit starker
Das imperative Einschlafen wird durch Dunkelheit motorischer Hemmung kombiniert ist. Während der Wach-
oder monotone Tätigkeit begünstigt. Es kann die Patienten anfälle können hypnagoge Halluzinationen von ängstlicher
aber auch in einer anregenden Beschäftigung übermannen. Färbung auftreten.
Sehr intensive geistige Anspannung oder körperliche Be- Viele Patienten leiden unter einer schweren Störung der
schäftigung verzögern das Einschlafen, verhindern es oft aber normalen Schlafperiodik: Sie schlafen besonders im ersten Teil
nicht. der Nacht flach und unruhig und werden von Träumen oder
Bei etwa 40% der Narkoleptiker tritt die Vigilanzstörung traumartigen Erlebnissen (hypnagoge Halluzinationen) im
nicht als Schlafanfall, sondern als länger dauernder Zustand halbwachen Zustand geplagt, in denen Verfolgung, Bluttaten,
verminderter Vigilanz auf. Diese Patienten haben tagsüber län- aber auch bedrohliche Tiere eine beängstigende Rolle spielen.
ger dauernde Zustände verminderter Wachheit, für die Amne- Schlafparalysen werden von etwa der Hälfte der Narkolepsie-
sie besteht. Manche Patienten klagen deshalb auch nur über patienten berichtet. Hierbei kommt es im Übergangsstadium
Gedächtnislücken. Andere führen während dieser Zustände zwischen Schlafen und Wachen zur Unfähigkeit, sich zu bewe-
automatische Handlungen aus, die der Situation nur teilweise gen oder zu sprechen. Psychisch sind Erwachsene oft durch
oder gar nicht angemessen sind. Antriebsarmut und affektive Indifferenz auffällig, Jugendliche
4 Narkolepsie-Kataplexie-Syndrom: Beim affektiven To- durch enthemmtes Verhalten, Diebstählen, Promiskuität, sehr
nusverlust (Kataplexie) erschlafft die Körpermuskulatur plötz- viel seltener Aggressivität. Häufig findet man neben der Nar-
lich für wenige Sekunden unter der Einwirkung einer überra- kolepsie auch das Schlafapnoesyndrom, periodischen Beinbe-
schenden Gemütsbewegung, ohne dass sich das Bewusstsein wegungen im Schlaf oder ein Restless-Legs-Syndrom. Auch
15.2 · Schlafstörungen
399 15
Depression, Kopfschmerzen und Gedächtnisstörungen wer- berichtet werden, gibt man zuerst L-Dopa (z.B. 3- bis 6-mal
den berichtet. Madopar 125 mg/Tag). Der selektive MAO-B-Hemmstoff Se-
legilin, der aus der Parkinson-Therapie stammt, reduziert so-
> Narkolepsie-Syndrom: imperativer Schlafdrang am
wohl Zahl und Dauer narkoleptischer Attacken als auch die
Tag, »zerhackter« Nachtschlaf, affektiver Tonusver-
Zahl kataplektischer Stürze deutlich.
lust, Wachanfälle zur Nacht.
4 Analeptika hemmen ebenfalls den synchronisierten Schlaf
Kataplexie: plötzlicher, affektiver Tonusverlust mit
und unterdrücken die Schlafanfälle. Ihr Einsatz ist »off label«.
Hinstürzen.
Ephedrin (3-mal 25 mg/Tag), Methylphenidat (z.B. Ritalin®),
Narkolepsiepatienten dürfen, wie Epileptiker, nicht
Amphetamin (2- bis 3-mal 10 mg/Tag) und Phenmetrazin
Autofahren.
(z.B. Preludin®, 3-mal 25 mg/Tag) werden verordnet. Die
Suchtgefahr ist bei Narkolepsiepatienten nicht hoch. Auf die
3Diagnostik. Der neuroradiologische Befund ist, außer bei Tagesmüdigkeit soll auch Koffein wirken. Manche Autoren
den seltenen symptomatischen Fällen, immer normal. empfehlen auch den liquorgängigen Betablocker Propranolol
4 Schlaf-EEG: Viele Narkoleptiker schlafen schon im Be- (z.B. Dociton®) in Dosen von 20–180 mg am Vormittag.
ginn der EEG-Ableitung ein, auch wenn sie ausgeruht sind. 4 Imipramin oder Clomipramin (z.B. 3- bis 4-mal 25 mg/
Während einer Ableitung von 15–30 min wiederholt sich das Tag Tofranil® oder Anafranil®) hemmen den paradoxen REM-
Einschlafen mehrmals. Narkoleptiker haben insgesamt einen Schlaf und unterbinden häufig die Kataplexie sowie die Wach-
polyzyklischen, gleichsam zerhackten Schlaf. Die Gesamt- anfälle/Schlaflähmungen und die hypnagogen Halluzinati-
schlafzeit und die REM-Zeit sind vermindert. Die Patienten onen. Sie sind aber ohne Wirkung auf die Schlafanfälle.
haben fast alle frühe REM-Phasen wenige Minuten nach Ein-
schlafen (sleep-onset REM periods (SOREM): frühe, nicht erst In leichten Fällen mit seltenen Anfällen sind bei der guten
nach Durchlaufen der Stadien B bis E oder D auftretende Prognose lediglich Aufklärung und Beratung erforderlich. Ein
REM-Phasen). Während des kataplektischen Anfalls kann ein regelmäßiger Mittagsschlaf kann hilfreich sein, Alkohol und
REM-EEG abgeleitet werden. sedierende Medikamente sollten in jedem Fall vermieden wer-
4 Polysomnographie mit Videometrie (Schlaflabor). Kern- den.
befunde sind verkürzte Einschlaflatenzen und verringerte
REM-Latenzen mit häufigen »Sleep-Onset-REM-Perioden«. 3Differentialdiagnose
Das Schlafprofil ist unregelmäßig mit vermehrtem Erwachen 4 Die Narkolepsie muss von der länger dauernden, nicht an-
und vermehrten Wachzeiten nach dem Einschlafen,und gro- fallsartig auftretenden Hypersomnie abgegrenzt werden, die
ßer motorischer Unruhe im Schlaf. Die REM-Schlafdauer und sich bei Tumoren, Enzephalitis, nach traumatischer Schädi-
die Anzahl von Schlafzyklen sind normal. Dennoch sind die gung des Hirnstamms und bei der Polioencephalopathia supe-
Patienten beim Erwachen erschöpft. rior haemorrhagica (Wernicke) einstellt.
4 Multiple-Schlaflatenz-Test. Der Test ergänzt die Poly- 4 Kleine-Levin-Syndrom: Bei diesem autosomal-dominant
somnographie. Die Patienten sollen 4 bis 5-mal am Tag für 20 vererbten Syndrom treten periodenweise Schlafsucht für die
min schlafen. Bei Narkolepsie ist die Einschlaflatenz kurz und Dauer von Tagen sowie gesteigertes Essbedürfnis auf. Betrof-
es treten sogar frühe REM-Perioden auf, besonders bei Pati- fen sind junge Männer. Während dieser Perioden sind die Pa-
enten mit Kataplexie. tienten erweckbar, schlafen aber rasch wieder ein.
4 Labordiagnostik. Die Messung des Hypokretin-1-Spie-
gels im Liquor ist keine Routineuntersuchung. Auf die HLA-
Typisierung wurde schon hingewiesen. 15.2.2 Schlafapnoesyndrom

3Medikamentöse Therapie 3Definition. Die Schlafapnoe ist gekennzeichnet durch ap-


4 Modafinil (Vigil®). Dies ist ein α1-Adrenorezeptorago- noische Schlafphasen, Schlafstörungen und sekundäre Folge-
nist. Er ist in einer Dosierung 100–400 mg/Tag in der Behand- erkrankungen. Die Schlafapnoeen werden in obstruktive und
lung der Narkolepsie gut wirksam. zentrale Atmungsstörungen sowie Hypoventilations- und
4 Natrium-Oxybat (Xyrem®) (BTM-rezeptpflichtig) ist in- Hypoxämiesyndrome im Schlaf eingeteilt.
zwischen für die Therapie aller Narkolepsie-Symptome zugel- 4 Die obstruktiven Atmungsstörungen sind gekennzeich-
assen. Es entspricht der γ-Hydroxy-Buttersäure, die auch als net durch die Erschlaffung der Zungen- und Schlundmusku-
Narkosemittel (historisch) und als Rauschmittel genutzt wur- latur und das Zurückfallen der Zunge. Hierdurch werden die
de. Xyrem® wirkt bei Narkolepsie mit und ohne Kataplexie. oberen Atemwege bei Inspiration blockiert. Der zentrale At-
Eine Kombinationstherapie von Natrium-Oxybat und Moda- mungsantrieb bleibt intakt, so dass Thorax- und Abdomenbe-
finil zeigt additive therapeutische Effekte bezüglich der Tag- wegungen nachweisbar sind.
schläfrigkeit, ist aber von Nebenwirkungen wie Tremor oder 4 Die zentrale Atmungsstörung dagegen wird durch eine
Parästhesien begleitet. Dysfunktion des Atmungszentrums eingeleitet, wodurch die
4 L-Dopa unterdrückt den Tiefschlaf und normalisiert die Atemexkursionen wegfallen. Die obstruktive Schlafapnoe ist
Sequenz der Schlafstadien, außerdem unterdrückt es ebenfalls die bei weitem häufigste Unterform. Sogenannte symptoma-
den REM-Schlaf. Es wirkt günstig auf die Schlafanfälle. Wenn tische, sekundäre Schlafapnoeformen nach Enzephalitis, Hirn-
nur Vigilanzstörungen oder seltene narkoleptische Attacken stamminfarkten oder Intoxikationen sind eher selten. Häufiger
400 Kapitel 15 · Synkopale Anfälle und andere anfallsartige Störungen

Empfehlungen zur Behandlung der Narkolepsie*


4 Modafinil (200–400 mg/Tag, in Einzelfällen bis 600 mg/ 4 Kataplexien, Schlaflähmungen, hypnagoge Halluzina-
Tag) ist wirksam in der Therapie der Tagesschläfrigkeit (A). tionen können mit Antidepressiva behandelt werden. Emp-
4 Als Alternative zu Modafinil kommt Methylphenidat- fohlen werden Clomipramin 10–150 mg/Tag (B), Venlafaxin
(BtMG) (B) in Frage. Die Umstellung von Methylphenidat 37,5–300 mg/Tag (B), Fluoxetin 20–60 mg/Tag (B), Reboxetin
(BtMG) auf Modafinil ist bei 95% der Patienten problemlos 4–12 mg/Tag (B), Citalopram 20–40 mg/Tag (C). Die Stärke der
möglich (B). Kataplexiesuppression ist abhängig von der noradrenergen
4 Natrium-Oxybat(BtMG) ist wirksam in der Therapie von Wiederaufnahmehemmung (B).
Kataplexie, fragmentiertem Nachtschlaf und exzessiver 4 Verhaltensmodifizierende Maßnahmen wie individuell
Tagesschläfrigkeit. (A). Bei Patienten, bei denen eine schwere angepasste Tagschlafepisoden können bei einigen Patienten
Kataplexie zusätzlich zur Tagesschläfrigkeit vorliegt oder bei mit oder ohne Medikamente hilfreich sein, werden aber nicht
denen Kataplexie, fragmentierter Nachtschlaf und exzessive generell empfohlen, sondern nur bei residueller Tagesschläf-
Tagesschläfrigkeit äquivalent vorhanden sind, kann Natrium- rigkeit (B).
OxybatBtMG als Medikament der ersten Wahl (z.B. vor Moda-
finil) auch für das Zielsymptom Tagesschläfrigkeit eingesetzt * gekürzt nach den Empfehlungen der DGN 2008
werden. (www.dgn.org/leitlinien.html)

sind vorübergehende schlafbezogene Schlafstörungen nach 4 Minderbelüftung des Alveolarraumes mit Hypoxie, Hy-
Schlaganfällen. Es wird immer klarer, dass das obstruktive perkapnie und kompensatorischer Polyglobulie, Cor pulmo-
Schlafapnoesyndrom ein wichtiger Risikofaktor für zerebro- nale mit konsekutiver Rechtsherzinsuffizienz.
vaskuläre Krankheiten ist. Als Schlafapnoephasen werden 4 Im Spätstadium entwickelt sich eine Enzephalopathie mit
Atemstillstände von mindestens 10 s definiert, die 10-mal oder psychoorganischer Veränderung. Diese soll die Folge der häu-
häufiger pro Stunde Schlafzeit auftreten. Starke Schnarcher figen, zerebralen Hypoxien sein. Nächtliche, lebensbedrohliche
sind gefährdet. Seltene Unregelmäßigkeiten der Atmung im Herzrhythmusstörungen sind häufig. Die Inzidenz von Herz-
Schlaf sind physiologisch, können aber zur Krankheit hoch- infarkt und Schlaganfall ist bei den Patienten hoch.
stilisiert werden, wenn die Definitionen weiter gefasst werden.
Interessant ist, dass man durch Veränderung der Schwellen- Fakultative Symptome sind morgendliche Abgeschlagenheit,
werte in der Definition die Prävalenz der Krankheit steigern Konzentrations- und Gedächtnisstörung, Depression und
kann. Die o.a. Frequenzen und Dauer der Apnoephasen sind Libidoverlust.
allerdings unstrittig. Das obstruktive Schlaf-Apnoe-Syndrom (OSAS) ist ein
unabhängiger Risikofaktor für Arteriosklerose und Schlag-
3Epidemiologie. Die Prävalenzschätzungen sind, je nach anfälle. Ein SAS in der Akutphase nach einem Schlaganfall ist
Definition, mit 1–2% bei Frauen und 2–4% bei Männern, je- mit einer erhöhten Mortalität assoziiert.
weils im mittleren bis höheren Lebensalter, sehr hoch.
3Pathophysiologie. Das Syndrom beruht auf einer koordi-
15 3Symptome. Die Kardinalsymptome sind: nierten Störung der Regulation von Schlaf-Wach-Rhythmus
4 Periodisch auftretende apnoische Pausen von 10–40 s und Atmung. Die physiologische Reduktion des Atemantriebs
Dauer während des Nachtschlafs. Sie sind von Zyanose und im Schlaf ist verstärkt. Es kommt entweder zum peripheren
Bradykardie, auch von myoklonischen Zuckungen begleitet Kollaps der Strukturen der oberen Luftwege oder zur zentralen
und werden jeweils von einigen unregelmäßigen, tiefen, schnar- Fehlsteuerung des Atemablaufs. Häufig sind beide Mechanis-
chenden Atemzügen unterbrochen. Das EEG zeigt einen pe- men miteinander vermischt.
riodischen Wechsel von mittlerer Schlaftiefe und Aktivierung, Eine verminderte CO2-Empfindlichkeit der Atemzentren
die auf einem CO2-Arousal-Mechanismus beruht. Der Weck- liegt nicht vor. Die mechanische Behinderung der Atmung
effekt des CO2 verhindert auch das Auftreten von Tiefschlaf- durch die Fettsucht spielt eine gewisse, aber nicht die entschei-
stadien. dende Rolle, wie man unter anderem daran sehen kann, dass
4 Deutliches Übergewicht (in Kombination mit wiederhol- während der apnoischen Pausen die Atemmuskulatur nicht
tem, kurzdauerndem Einschlafen über Tag, früher Pickwick- verstärkt arbeitet, sondern atonisch wird. Prädisponierend für
Syndrom genannt). die Schlafapnoe sind primäre Verengung des pharyngealen
4 Häufige, kurze Schlafepisoden von 10–20 s Dauer bei Raums und genetische Faktoren. Alkohol und Sedativa verstär-
gleichzeitiger apnoischer Pause. Sie treten bevorzugt bei ken das Syndrom.
körperlicher Ruhe auf. Während dieser Zustände ist das EEG Ein Schlafapnoesyndrom kommt gehäuft bei einer Reihe
abgeflacht und verlangsamt. Im EMG der Interkostalmusku- von neurologischen Grunderkrankungen wie Enzephalitiden,
latur setzen die Aktionspotentiale aus. Röntgenkinemato- nach Schlaganfällen, bei Multisystematrophien, dem idiopa-
graphisch hat man eine Atonie der Mundbodenmuskulatur thischen Parkinson-Syndrom, der ALS, peripheren Neuro-
und einen Pharynxkollaps mit frustranen Atembewegungen pathien und Muskelkrankheiten vor und kann deren Prognose
festgestellt. verschlechtern.
15.3 · Amnestische Episoden (»transient global amnesia«, TGA)
401 15
. Abb. 15.1. Polygraphische Ableitung
bei obstruktiver Schlafapnoe. Kanal 1 na-
saler Luftfluss; Kanal 2 Thoraxexkursionen;
Kanal3 Abdomenexkursionen, untere Kurve
Sauerstoffsättigung in Prozent. Während na-
sal kein Luftfluss gemessen werden kann,
kommt es zu frustranen Thoraxexkursionen.
Erst bei Abfall der Sauerstoffsättigung setzen
nach Weckreaktionen des Patienten wieder
verstärkte Abdomen- und Thoraxexkursionen
mit einem nasalen Luftfluss ein. (R. Bieniek,
Bonn)

3Diagnostik. Die polygraphische Untersuchung im Schlaf- Atemstörung. Schlafapnoepatienten haben auch nicht die Ver-
labor umfasst mehrere EEG-Ableitungen (mit deren Hilfe änderungen im Schlaf-EEG, die für Narkolepsie charakteris-
Schlafdauer und Schlafstadien sowie der Anteil von Traum- tisch sind.
phasen erfasst werden), das Elektrookulogramm, mehrere
> Schlafapnoe: Übergewicht, Tagesschläfrigkeit, Atem-
EMG-Kanäle (je nach Fragestellung Gesichtsmuskeln, Atem-
pausen im Schlaf, beendigt durch tiefes Schnarchen.
muskulatur, Extremitätenmuskulatur), das EKG, mehrere Ka-
Hypoxie, kompensatorische Polyglobulie, Hyperkap-
näle mit Atemfunktion (nasaler Luftstrom, Atemexkursionen)
nie.
und Oximetrie. Nicht selten werden die Untersuchungen über
eine Nacht und einen Tag durchgeführt, um auch Phasen ver-
mehrten Schlafes im Tagesverlauf zu erkennen. In den meisten
Fällen wird der Patient während der Aufzeichnung mit Video 15.3 Amnestische Episoden
überwacht. . Abbildung 15.1 gibt eine Teilanalyse einer solchen (»transient global amnesia«, TGA)
polygraphischen Ableitung bei Schlafapnoe wieder.
3Definition und Epidemiologie. Die transiente globale
3Therapie. Zur Behandlung werden empfohlen: Amnesie (TGA) ist eine akut einsetzende Störung aller Ge-
4 Reglementierung des Schlaf-Wach-Rhythmus, Gewichts- dächtnisinhalte für einen Zeitraum von wenigen bis maximal
abnahme, Verzicht auf alkoholische Getränke. 24 h. Neue Informationen können während der Attacke nicht
4 Vermeidung von Betablockern, medikamentöse Behand- gespeichert werden. Die Patienten sind zu Zeit und Situation
lung der Hypertonie. nicht, zur Person jedoch immer orientiert. Die Inzidenz wird
4 Nasale CPAP-Beatmung (> 90% Therapieerfolg). Übliche mit 5–10/100.000 Einwohner/Jahr angegeben. Männer und
Druckwerte liegen zwischen 6 und 14 mbar (individuelle Ein- Frauen sind gleich häufig betroffen. Die Mehrzahl der ersten
stellung erforderlich). Attacken ereignen sich zwischen dem 50–70. Lebensjahr. In
4 Ober- und Unterkieferschienen sind wirksam, aber der neuropsychologischen Untersuchungen können entgegen der
nasalen CPAP-Therapie deutlich unterlegen. Sie können als eigentlichen TGA-Definition noch viele Tage bis Wochen
Alternative in Betracht kommen, wenn die CPAP-Therapie nach dem Ereignis signifikante Einschränkungen des non-
nicht toleriert wird. verbalen Langzeitgedächtnisses nachgewiesen werden.
4 Operative Maßnahmen beim OSAS (Tonsillektomie, Uvu-
lopalatopharyngoplastik, mandibuläre und maxilläre Umstel- 3Pathophysiologie. Die Ursache der transienten globalen
lungsosteotomie) sollten erst nach Ausschöpfen der oben ge- Amnesie ist unbekannt. Aufgrund des klinischen Bildes wird
nannten Therapiemaßnahmen erwogen werden. von einer passageren Funktionsstörung mediobasaler Tempo-
rallappenanteile unter Einschluss der beiden Hippocampi
3Differentialdiagnose. Zur Unterscheidung von Narkolep- ausgegangen, da diese Strukturen sowohl in die Gedächtnis-
sie dienen folgende Kriterien: Schlafapnoekranke haben keine konsolidierung als auch den Abruf von Gedächtnisinhalten
hypnagogen Halluzinationen und keinen affektiven Tonusver- involviert sind. Man hatte die Episoden früher auf Durchblu-
lust. Bei Narkolepsie findet man keine Fettsucht, Zyanose oder tungsstörungen im basalen Temporallappen zurückgeführt.
402 Kapitel 15 · Synkopale Anfälle und andere anfallsartige Störungen

Diese Hypothese wurde aber durch die Anatomie der zerebra- Hippokampus fast ausschließlich die CA1-Region betreffend
len Blutversorgung nicht gestützt. Auch hat eine sehr gründ- nachweisen. Diese sind auf späteren FLAIR oder T2-Studien
liche Fall-Kontroll-Studie keine Beziehung zu ischämischen nicht mehr zu sehen. Neuropsychologisch lassen sich aller-
Ereignissen des Gehirns aufgezeigt. Die Patienten weisen auch dings bei vielen Patienten nach klinischer Rückbildung
keine vaskulären Risikofaktoren auf. Einige wenige Patienten der Symptome noch Störungen im nonverbalen Gedächtnis
bekommen später epileptische Anfälle. Für die Mehrzahl ist finden.
eine Beziehung zur Migräne theoretisch und empirisch gut zu Eine Therapie ist nicht erforderlich. Rezidive kommen
begründen, obwohl die amnestischen Episoden viel seltener vor, verlaufen aber ebenso benigne.
rezidivieren.
Interessanterweise weisen 12–30% der TGA-Patienten
eine positive Migräneanamnese auf. Bei ca. 10% der TGA-Pa- 15.4 Tetanie
tienten kommt es während oder unmittelbar nach der Attacke
zu Kopfschmerzen. Auch die Tetanie ist eine anfallsartige Störung der Funktion des
Auch eine venöse Abflussstörung nach Valsalva-Manöver peripheren Nervensystems, die in den meisten Fällen durch
wird diskutiert. Dafür spricht, dass für viele Patienten valsal- Hyperventilation und die hierdurch entstehenden Elektrolyt-
vaähnliche Situationen bei Beginn der Symptomatik beschrie- verschiebungen erklärt wird.
ben werden. Wieso diese kurze Abflussstörung gerade in den
beiden Hippocampusregionen zu länger andauernden Funk- 3Pathophysiologie. Hypokalzämie und Alkalose führen zu
tionsstörungen führen sollte, kann nicht erklärt werden. Para- einer Steigerung der Erregbarkeit des Nervengewebes. Bei Al-
doxe Hirnembolien bei offenem Foramne ovale können nicht kalose kommt es zu einer vermehrten Bindung von freiem Ca2+
die bilaterale, voll reversible Störung erklären. an Plasmaeiweiße, so dass eine funktionelle Hypokalzämie bei
normaler Serum-Ca2+-Konzentration vorliegt. Bei Mangel an
3 Symptome. Die Patienten zeigen in der 2. Lebens- Ca2+ erhöht sich die Permeabilität der Nervenmembranen für
hälfte plötzlich eine Störung der Merkfähigkeit und eine Na+. Infolgedessen kommt es zu abnormen Spontanentladun-
Tage bis Wochen zurückreichende retrograde Amnesie. Dabei gen. Dies erklärt die gruppierten Mehrfachentladungen der
sind sie wach, ratlos, ängstlich, fragen ständig, was denn los Muskelfasern, die spontan und nach elektrischem Einzelreiz
sei, können sich aber die Antwort nicht merken. Parallel dazu im Elektromyogramm nachweisbar sind.
ist auch der Zugriff auf alte, vor der TGA erworbene Gedächt- Solche Anfälle treten bei der seltenen hypokalzämischen
nisinhalten (retrograde Amnesie), vor allem Ereignisse der Tetanie auf, d.h. bei Ausfall oder Insuffizienz der Nebenschild-
näheren Vergangenheit, gestört. Es besteht keine Vigilanz- drüsen und bei enterogenem und nephrogenem Mangel an
minderung, die Patienten sind bewusstseinsklar und kon- ionisiertem Kalzium.
taktfähig. Sie können komplexe Tätigkeiten wie Kochen oder Weit häufiger finden wir aber die normokalzämische
Radfahren ausführen. Die amnestischen Episoden bilden Tetanie. Hier ist der Ca2+-Spiegel im Blut normal, und die teta-
sich nach Stunden, längstens 1–2 Tagen wieder zurück und nischen Anfälle werden durch eine vorübergehende Alkalose
können rezidivieren. Sie hinterlassen eine Amnesie für die nach – meist psychogener – Hyperventilation oder nach län-
Dauer des krankhaften Zustands. Klinische Symptome, die gerem Erbrechen mit metabolischer Alkalose ausgelöst. Für
über die Gedächtnisstörung und leichte vegetative Beschwer- Einzelheiten muss auf die Lehrbücher der Inneren Medizin
15 den hinausgehen, d.h. Somnolenz, starke Kopfschmerzen, verwiesen werden.
Erbrechen, Verwirrtheit, neurologische Herdsymptome oder Hier ist nur noch ein Hinweis angebracht: Bei psychisch
eine inkomplette Rückbildung nach mehr als 24 h sprechen labilen Personen kann sich der Hyperventilationsmechanis-
gegen eine TGA. mus so bahnen, dass schon wenige Atemzüge genügen, um den
Anfall auszulösen.
3Diagnostik. Bei eindeutiger klinischer Symptomatik ist
keine apparative Diagnostik erforderlich. Wenn CT, MRT oder 3Symptome. Oft bekommen die Patienten eine Atembe-
EEG durchgeführt werden, findet man keine richtungswei- klemmung, die sie zu verstärkter Atmung veranlasst. Hierdurch
senden oder unspezifische Befunde. Im cMRT kann man bei werden die tetanischen Symptome verstärkt. In schweren Fällen
mehr als der Häfte der TGA-Patienten wenige Millimeter treten schmerzhafte, tonische Krämpfe in der distalen Extremi-
große MRT-Diffusionsstörungen mit ADC-Korrelat innerhalb tätenmuskulatur und im Gesicht auf. Dabei haben die Hände
von 48 h nach Beginn der Symptome im lateralen Anteil des eine »Geburtshelferstellung« (Finger adduziert, im Grundge-

Exkurs
Klinische Diagnosekriterien der TGA
4 Akut beginnende und ausgeprägte Neugedächtnis- 4 Fehlen einer Bewusstseinsstörung oder Desorientierung
störung zur Person
4 Dauer mindestens 1 h, Rückbildung innerhalb von 24 h 4 Kein vorangehendes Trauma oder Epilepsie
4 Fehlen fokal-neurologischer Symptome und zusätzlicher
kognitiver Defizite
15.4 · Tetanie
403 15
Exkurs
Zeichen der gesteigerten neuromuskulären Erregbarkeit
4 Chvostek-Zeichen: Klopfen auf den Fazialisstamm bzw. 4 Trousseau-Zeichen: Abschnüren der Blutzirkulation
die Aufzweigungen des Nerven vor dem Kiefergelenk löst als am Oberarm führt distal davon nach 3 min zu den Parästhe-
mechanischer Reiz Zuckungen der gesamten mimischen sien und motorischen Symptomen des spontanen tetanischen
Muskulatur aus. Eine leichte Zuckung nur am Mundwinkel Anfalls.
reicht nicht zur Diagnose aus, sondern zeigt lediglich vegeta- 4 Hyperventilationsversuch: Maximales Durchatmen über
tive Labilität an. 5 min löst über eine respiratorische Alkalose einen tetanischen
4 Fibularisphänomen: In gleicher Weise ist Beklopfen Anfall aus. Beim Gesunden kommt es nur zu perioralen und
des N. peronaeus (Fibularis) hinter dem Wadenbeinköpfchen distalen Parästhesien.
von einer kurzen Hebung und Pronation des Fußes gefolgt. 4 Verlängerung der QT-Dauer = Verzögerung der Erre-
Schwach positiver Chvostek und Fibularisphänomen finden gungsrückbildung im EKG. Diese ist nicht für Tetanie spezi-
sich auch bei vegetativ labilen Personen. Die übrigen Ver- fisch, sondern zeigt nur Mangel an Ca2+ an.
suche sind bedeutsamer für die Diagnose der Tetanie.

lenk gebeugt, in den Interphalangealgelenken gestreckt, Dau- auch beim Gesunden eintreten, wenn er die Masseteren und
men eingeschlagen) oder »Pfötchenstellung« (dabei Arme ad- Temporalismuskeln anspannt.
duziert, im Ellenbogengelenk gebeugt, Handgelenk maximal Im EMG findet man manchmal schon in der Ruhe, stets
gebeugt). An den Füßen stellen sich Karpopedalspasmen ein: aber nach lokaler Ischämie und/oder Hyperventilation grup-
maximale Plantarflexion, leichte Supination des Fußes. In der pierte Mehrfachentladungen, die eine spontane Erregungsbil-
mimischen Muskulatur kommt es zum Lidkrampf und zu einer dung im Nerven anzeigen (Doubletten, Tripletten). Wenn
tonischen Vorstülpung des Mundes (»Fischmaul«). Größe und diese nach i.v.-Injektion von Kalzium nicht mehr durch die
Reaktion der Pupillen sind im Anfall nicht verändert. Das Be- standardisierten Provokationsverfahren (s.o.) auslösbar sind,
wusstsein bleibt klar. spricht das für hypokalzämische Tetanie.

3Diagnose. Epileptische Anfälle gehören nicht zum Syn- 3Therapie. Eine Therapie ist nur selten nötig. Nur in Fällen
drom. Sie werden nur in Ausnahmefällen beobachtet, in denen von postoperativer hypokalzämischer Tetanie muss Dihydro-
gleichzeitig eine gesteigerte, zerebrale Krampfbereitschaft be- tachysterol (AT 10) verordnet werden. Die unbesonnene Ver-
steht, die ebenfalls durch Hyperventilation symptomatisch schreibung des Präparats bei normalen Elektrolytverhältnissen
werden kann. kann zu schweren Verkalkungen vor allem in den Arterien und
Das EEG ist normal oder unspezifisch allgemeinverändert. in den Nieren führen. Normokalzämische Tetanie soll mit Psy-
Häufig ist das Kurvenbild durch Muskelpotentiale entstellt, die chotherapie behandelt werden.

In Kürze

Synkopen
Kurzfristige, anfallsartige Bewusstlosigkeit mit vegetativen Differentialdiagnose: Epileptische Anfälle.
Erscheinungen wie Schwindel, Schweißausbruch, Harn-
drang, Herzjagen, Zittern. Ursache: Extrazerebrale Funk- Reflexsynkopen. Hustensynkopen durch Hustenstöße,
tionsstörung bewirkt Mangeldurchblutung oder Substrat- heftiges Lachen. Zentraler Venendruck bewirkt Erhöhung des
mangel im Gehirn. intrathorakalen Drucks, dadurch Verminderung des venösen
Zustroms zum Herzen, Absinken der Herzförderleistung und
Vegetative und kardiale Synkopen. Adams-Stokes-Anfäl- Hirndurchblutung. Symptome: Sekundenlanger Tonusverlust
le durch Versagen der hämodynamisch wirksamen Förder- der Körpermuskulatur mit Blässen und Schwitzen. Therapie:
leistung des Herzens. Symptome: Schwindel, Verkrampfung Atem-, medikamentöse Therapie.
der Extremitäten, weite, lichtstarre Pupillen. Internistische
Therapie, evtl. Schrittmacher. Schlucksynkopen. Durch vagovagale Reflexe bei Krankheiten
des Ösophagus und Herzmuskels. Therapie: Medikamentöse
Vasovagale Synkopen (neurokardiogene Synkopen) Therapie.
durch Imbalance zwischen Parasympathikus und Sympathi-
kus bei geistig-seelischer oder orthostastischer Belastung, Miktionssynkopen. Ursache: Vagotone Weitstellung der
Sauerstoffmangel. Symptome: Schwindel, Blässe, Bewusst- Gefäßperipherie, verminderter venöser Rückstrom im Stehen
seinstörung bis zur Bewusstlosigkeit. Diagnostik: EEG; keine und parasympathische Aktivität bei Miktion mit vorüberge-
Therapie erforderlich. hender, zerebraler Ischämie bei Männern. Symptome: Plötz-
6
404 Kapitel 15 · Synkopale Anfälle und andere anfallsartige Störungen

lich eintretender, kurz dauernder Bewusstseinsverlust wäh- Phasen bei monosymptomatischer Narkolepsie; gestörter,
rend der Miktion im Stehen, blasse Hautfarbe, bradykarder, unruhiger Schlaf bei Kataplexie. Medikamentöse Therapie.
weicher Puls. Differentialdiagnose: Länger dauernde, nicht anfallsartig
auftretende Hypersomnie, Kleine-Levin-Syndrom, Absencen
Synkopen bei neurologischen Krankheiten. Hirnstamm- oder psychomotorische Anfälle, psychogene Anfälle, paroxys-
krankheiten, medikamentöse Behandlung neurologischer male hypo- und hyperkaliämische Lähmung.
Krankheiten, (Multi-)Systematrophien, Stoffwechselstö-
rungen. Schlafapnoesyndrom. Koordinierte Störung der Regulation
von Schlaf-Wach-Rhythmus und Atmung mit Atemstillstände
Andere Ursachen von Synkopen. Hypoglykämische von mind. 10s, >10-mal/h Schlafzeit. Symptome: Hyperkapnie,
Anfälle durch Insuffizienz des Hypophysenvorderlappens, Hypoxie, Übergewicht, Tagesschläfrigkeit, Konzentrationsstö-
M. Addison, Inselzelladenome des Pankreas, Insulinüber- rungen, Depression, Libidoverlust. Diagnostik: EEG im Schlaf-
dosierung. Symptome: Paroxysmale, vegetative Störungen, labor. Therapie: Reglementierung des Schlaf-Wach-Rhythmus,
neurologisch-psychiatrische Symptome. Gewichtsabnahme, medikamentöse Therapie der Hypertonie
und Herzrhythmusstörungen, u.U. Intubation, lebenslange
Sympathikotone Krisen durch Adrenalin- und Noradrenalin- nächtliche nasale CPAP-Beatmung. Differentialdiagnose:
ausschüttung beim Phäochromozytom. Symptome: Blässe, Narkolepsie.
Pulsbeschleunigung, Kopfschmerzen, Engegefühl.
Flush-Syndrom durch plötzliche, flüchtige Serotoninaus- Transiente globale Amnesie (TGA)
schüttung ins Blut beim metastasierenden Dünndarmkar-
zinoid. Akut einsetzende Störung aller Gedächtnisinhalte (visuell,
Symptome: Gesichts-, Halsröte, brennende Schmerzen, taktil, verbal) für 1–24 h.
Durchfälle. Symptome: Störung der Merkfähigkeit, retrograde Amnesie,
Desorientiertheit, klares Bewusstsein, kontaktfähig.
Psychogene Anfälle durch affektiv belastende Situationen. Apparative Diagnostik und Therapie nicht erforderlich,
Symptome: Weinen, sexuelle Szenen. da benigner Verlauf mit klinischer Rückbildung der Symptome.

Schlafstörungen Tetanie

Störungen des Ein- und Durchschlafens, des Schlaf-Wach- Durch vorübergehende Alkalose nach Hyperventilation oder
Rhythmus, vermehrte Schlafneigung. nach längerem Erbrechen mit metabolischer Alkalose.
Symptome: Atembeklemmung mit verstärkter Atmung, »Ge-
Narkolepsie und Kataplexie. Symptome: Imperative burtshelferstellung«, »Fischmaul«, »Pfötchenstellung«, klares
Schlafanfälle am Tag, affektiver Tonusverlust, Wachanfälle in Bewusstsein. Diagnose: EEG: Normal oder unspezifisch allge-
der Nacht bei monosymptomatischer Narkolepsie; plötz- mein verändert; Elektromyogramm: Gruppierte Mehrfachent-
licher, affektiver Tonusverlust mit Hinstürzen bei Kataplexie. ladungen, spontane Erregungsbildung im Nerven. Therapie:
15 Diagnostik: EEG: Reduzierte Schlafdauer und Zahl der REM- Selten nötig.
16

16 Kopfschmerzen und Gesichts-


neuralgien
16.1 Migräne – 406
16.1.1 Migräne ohne Aura – 406
16.1.2 Migräne mit Aura – 408
16.1.3 Amnestische Episoden – 412

16.2 Trigeminoautonome Kopfschmerzen – 412


16.2.1 Episodischer und chronischer Cluster-Kopfschmerz (Bing-Horton-Kopfschmerz) – 412
16.2.2 Episodische und chronische paroxysmale Hemikranie – 414
16.2.3 SUNCT-Syndrom – 414

16.3 Episodischer Spannungskopfschmerz – 414

16.4 Chronischer Spannungskopfschmerz und chronisch tägliche


Kopfschmerzen – 414
16.4.1 Chronische Migräne – 415
16.4.2 Chronischer Kopfschmerz vom Spannungstyp – 415
16.4.3 Hemicrania continua – 415
16.4.4 Neu aufgetretener Dauerkopfschmerz – 415

16.5 Andere Kopfschmerzformen – 415


16.5.1 Glaukomanfall – 415
16.5.2 Zervikogener Kopfschmerz – 416
16.5.3 Chronischer, medikamenteninduzierter Dauerkopfschmerz – 416
16.5.4 Posttraumatischer Kopfschmerz – 416

16.6 Trigeminusneuralgie und andere Gesichtsneuralgien – 417


16.6.1 Klassische Trigeminusneuralgie – 417
16.6.2 Symptomatische Trigeminusneuralgie – 420
16.6.3 Glossopharyngeusneuralgie – 420

16.7 Andere Gesichtsschmerzen – 421


16.7.1 Atypischer Gesichtsschmerz – 421
16.7.2 Zoster ophthalmicus – 421
16.7.3 Glossodynie – 421
16.7.4 Läsion des Nervus lingualis – 421

16.8 Arteriitis cranialis (Arteriitis temporalis) – 421

16.9 Karotidodynie – 422


406 Kapitel 16 · Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien

ä Der Fall nus »Phobie« in diesem Fall, wie auch bei den folgenden, in-
Petra ist ein normales, 14-jähriges Mädchen, das in der Schule korrekt ist: Es handelt sich um keine Phobie, sondern um eine
gut mitkommt, Sport treibt und mit vielen Freundinnen und Überempfindlichkeit gegenüber physiologischen Sinnesein-
Freunden gleiche Interessen teilt. Sie ist ganz zufrieden, bis sie in drücken) und Lärmempfindlichkeit (50%, Phonophobie) sowie
die Pubertät kommt. Es ist nicht die Pubertät, die sie stört, son- Überempfindlichkeit gegenüber bestimmten Gerüchen (10%,
dern die Tatsache, dass sie seit einigen Monaten – ganz genau Osmophobie) begleitet.
kann sie nicht sagen, seit wann – unter Attacken von heftigsten, Bei manchen Patienten treten auch vorübergehende
halbseitigen Kopfschmerzen leidet, die meist von einem Flim- neurologische Reiz- und Ausfallsymptome (Aura) auf, die
mern auf einem Auge sowie von massiver Übelkeit und Brechreiz üblicherweise vor den Kopfschmerzen beginnen. Die Dauer
begleitet sind. Wenn diese Kopfschmerzattacken kommen – sie der Attacken beträgt nach der Definition der Internationalen
sind meist nur auf eine Kopfhälfte, häufig links, beschränkt –, Kopfschmerzgesellschaft zwischen 4 und 72 Stunden. Für
dann ist sie für einen halben Tag oder länger »außer Gefecht die Diagnose der Migräne sind mindestens 5 Attacken not-
gesetzt«. Zum Neurologen kommt sie in Begleitung ihrer Mutter, wendig. In der Klassifikation der Kopfschmerzen, die die In-
die berichtet, dass sie selbst seit etwa ihrem 18. Lebensjahr unter ternationale Kopfschmerzgesellschaft erarbeitet hat, ist die
ähnlichen Kopfschmerzen leide und dass auch der Großvater Migräne mit 17 Untergruppen vertreten. Die wichtigsten da-
solche Beschwerden hatte. von werden hier nach den festgelegten operationalen Kriterien
Zweifellos hat unsere Patientin die Neigung zur Migräne beschrieben.
vom Großvater mütterlicherseits und der Mutter übernommen.
Dass eine Migräne sich in der Pubertät manifestiert, ist nicht 3Epidemiologie. Migräne ist eine der häufigsten Kopf-
selten. Es gibt heute gute Möglichkeiten für die Akutbehandlung schmerzformen. Etwa 8% aller Männer, 15% aller Frauen und
des Migräneanfalls und auch für die Prophylaxe der Migräne, ca. 3–5% der Kinder (hier sind Jungen und Mädchen etwa
so dass eine normale Lebensführung möglich ist, auch wenn gleich häufig betroffen) leiden unter einer Migräne. Bei Kin-
unsere Patientin von ihrer Migräne nicht endgültig befreit dern sind die Attacken kürzer und können auch ohne Kopf-
werden kann. schmerzen nur mit heftiger Übelkeit, Erbrechen und Schwin-
del einhergehen.Beginn der Migräne ist meist im Jugend- oder
> > Einleitung frühen Erwachsenenalter mit einem Anfallsmaximum zwi-
schen dem 3. und 5. Lebensjahrzehnt. Die höchste Inzidenz
Kopfschmerzen gehören zu den häufigsten krank machenden der Migräneattacken besteht zwischen dem 35. und 45. Le-
Symptomen. Sie werden wahrscheinlich nur noch von Rücken- bensjahr. In dieser Lebensphase sind Frauen dreimal häufiger
schmerzen übertroffen. Es ist daher nicht ungewöhnlich, hin und betroffen als Männer. Migräne tritt oft familiär auf. Man nimmt
wieder Kopfschmerzen zu haben. In diesem Kapitel sprechen wir eine genetische Komponente mit dominantem Erbgang bei
nicht von diesen »normalen« Kopfschmerzen, sondern von rezi- variabler Penetranz an.
divierenden Kopfschmerzen, die als Krankheiten zu verstehen Bei Frauen kann die Migräne eine feste Bindung an die
sind. Andere Schmerzsyndrome sind bestimmten Nerven zuzu- Periode haben. Viele Patienten geben Faktoren an, die den ein-
ordnen und werden deshalb als Neuralgien oder Neuropathien zelnen Schmerzanfall auslösen: Wetterwechsel, bestimmte
bezeichnet. Den ihnen zugrunde liegenden Schmerzcharakter Nahrungsmittel, z.B. Schokolade oder Käse; andere nennen
nennt man »neuropathischen Schmerz. Die wichtigsten, auf die Nahrungskarenz oder alkoholische Getränke, wieder andere
Hirnnerven bezogenen Neuralgien, die Trigeminusneuralgie und Aufenthalt in schlecht gelüfteten Räumen oder in großer Höhe.
andere Gesichtsneuralgien, werden ebenfalls in diesem Kapitel Psychische Belastung soll gelegentlich eine Rolle spielen, aller-
besprochen. Die vielfältigen Arten und Subtypen von Kopf- dings ist die psychische Belastbarkeit vor einem Migräneanfall
16 schmerzen sind vor wenigen Jahren in einer sehr detaillierten oft vermindert, so dass Ursache und Wirkung verwechselt wer-
Einteilung der internationalen Kopfschmerzgesellschaft zusam- den könnten. Ein gemeinsames Auftreten von Migräne mit
mengefasst worden und werden in . Tab. 16.1 verkürzt wieder- Depression und Angsterkrankungen ist im übrigen bekannt.
gegeben. Degenerative HWS-Veränderungen spielen in der Pathophy-
siologie keine Rolle.

16.1 Migräne
16.1.1 Migräne ohne Aura
3Definition. Bei der Migräne kommt es attackenweise zu
heftigen, periodisch auftretenden, häufig einseitigen pulsie- 3Symptomatik. Im Anfall kommt es zu pulsierenden, mä-
rend-pochenden Kopfschmerzen, die bei körperlicher Betäti- ßigen bis starken Kopfschmerzen, die meist einseitig sind (He-
gung an Intensität zunehmen. Bei einem Drittel der Patienten mikranie), sich über Minuten bis wenige Stunden entwickeln
bestehen holokranielle Kopfschmerzen. Wenn die Kopfschmerz- und mehr als 72 Stunden andauern können. Die Schmerzen
attacken einseitig sind, können sie innerhalb einer Attacke (sel- werden durch körperliche Aktivität verstärkt. Sie sind von
ten) oder von Attacke zu Attacke die Seite wechseln. Der Kopf- Übelkeit, manchmal auch von Erbrechen und Überempfind-
schmerz ist von typischen vegetativen Störungen wie Appetit- lichkeit gegen Geräusche und helles Licht begleitet. Viele Pati-
losigkeit (fast immer), Übelkeit (80%), Erbrechen (40–50%), enten ziehen sich deshalb in ein abgedunkeltes Zimmer zu-
Lichtscheu (60%, auch Photophobie genannt, obwohl der Temi- rück. Für die Diagnose wird verlangt, dass mindestens 5 dieser
16.1 · Migräne
407 16

. Tabelle 16.1. Internationale Klassifikation der Kopfschmerzen (verkürzt)


Typ Diagnosen Besonderes
1 Migräne

1.1–1.2 Migräne ohne und mit Aura 7 Unterformen: einschließlich Basilarismigräne

1.3–1.6 Seltene andere Migräneformen wie kindliche Migräne, re- 10 Unterformen: u.a. chronische Migräne, Status migränosus und
tinale Migräne und Migränekomplikationen Migräneinfarkt

2 Spannungskopfschmerz

2.1–2.4 Episodischer und chronische Formen 7 Unterformen

3 Cluster-Kopfschmerz und andere trigemino-autono-


me Kopfschmerzen

3.1–3.4 Cluster-Kopfschmerz, paroysmale Hemikranie, SUNCT und 8 Unterformen


möglicher trigemino-autonomer-Kopfschmerz

4 Andere primäre Kopfschmerzen 8 Unterformen: einschließlich Husten-Kopfschmerz,


Orgasmuskopfschmerz, Hemicrania continua oder primärer
»Thunderclap headache«

5 Kopfschmerz bei Kopf- und Wirbelsäulentrauma

5.1–5.7 Verschiedenste traumatische Kopfschmerzen mit Unter- u.a. Schädel-Hirn-Trauma akut und chronisch, Wirbelsäulentrauma
formen einschl. Schleudertrauma, traumatische intrakranielle Blutungen

6 Kopfschmerz bei vaskulären Krankheiten

6.1 Bei ischämischem Schlaganfall

6.2 Bei nicht-traumatischer intrazerebraler Blutung 2 Unterformen: SAB und ICB

6.3 bei nicht-rupturierten Gefäßmissbildungen 5 Unterformen

6.4–6.7 bei Arteriitis, Sinusthrombose und anderen Gefäßkrank- 13 Unterformen: u.a. Riesenzellarteriitis, Dissektion, Karotidodynie,
heiten Hypophyseninfarkt

7 Kopfschmerz bei nicht-vaskulären intrakraniellen


Krankheiten

7.1–7.2 Bei erhöhten oder erniedrigtem Liquordruck 6 Unterformen

7.3 Bei nicht-infektiösen Entzündungen 4 Unterformen: u.a. Sarkoidose und aseptische Meningitis

7.4–7.9 Bei Tumoren, bei intrathekaler Injektion, Epilepsie und sel- 6 Unterformen: einschließlich Meningeose
tenen anderen Ursachen

8 substanzinduzierte Kopfschmerzen

8.1–3 Substanzeinnahme, Überdosierung und Entzug 20 Unterformen: einschließlich durch Analgetika induzierter Kopf-
schmerz

9 Kopfschmerz bei Infektionen

9.1–9.4 Intrakranielle Infektion, systemische Infektionen und post- 8 Unterformen: einschließlich Meningitiden
infektiös

10 Kopfschmerz bei Störung der Homöostase 7 Unterformen: u.a. Hypertonus, Eklampsie, Höhenödem

11 Kopf- oder Gesichtsschmerz bei Erkrankungen von 8 Unterformen: u.a. Glaukom, Sinusitis, Zähne
Kopf, Hals, Ohren, Augen etc.

12 Kopfschmerz bei psychiatrischen Störungen 2 Unterformen: bei Somatisierungsstörung und bei Psychose

13 Kraniale Neuralgien und Gesichtsschmerz

13.1 Trigeminusneuralgie 2 Unterformen: idiopathisch und symptomatisch

13.2– Multiple weitere Neuralgien mit Unterformen >20 Unterformen: u.a. Glossopharyngeus-, Nasociliaris-, Occipita-
13.18 lis-Neuralgie, Neuritis N. optici, Tolosa-Hunt-Syndrom, Zoster u.v.m.

14 Andere Kopfschmerzen

Quelle: The International Classification of Headache Disorders, 2nd edition, 2004


408 Kapitel 16 · Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien

Exkurs
Pathophysiologie der Migräne
Kopfschmerzen. Nach heute gültiger Auffassung werden wird gestützt durch die Wirksamkeit von Serotoninagonisten,
die Kopfschmerzen auf eine neurogen vermittelte, sterile, Substanzen also, die die 5-HT-Rezeptoren besetzen, so dass
perivaskuläre Entzündung an den Piagefäßen zurückgeführt, Neuropeptide vermindert freigesetzt werden.
die über Stimulation afferenter C-Fasern des N. trigeminus
die Schmerzen auslöst. Es wird diskutiert, dass dem Migräne- Aura. Für die Entstehung der Aura wird eine sich langsam über
anfall ein kurzfristiger Ausfall von Zentren im Hirnstamm, die kortikale Strukturen ausbreitende Hemmung, (spreading depres-
die Schmerzempfindung unterdrücken, zugrunde liegt. Der sion, SD) angenommen. Mit einer Geschwindigkeit von weni-
Kopfschmerz entsteht durch die Freisetzung von vasoaktiven gen Millimetern pro Sekunde wandert die SD über den Kortex
Transmittern wie Serotonin, Histamin, Substanz P und CGRP und inaktiviert kurzfristig die Funktion der betroffenen Hirnare-
(calcitonin gene-related protein). Zentral für die Freisetzung ale. Dies führt zu den unten beschriebenen Aurasymptomen,
der Peptide sind offenbar spontane Entladungen im Trigemi- die oft eine Sequenz von hintereinander auftretenden und
nuskerngebiet, über die die Innervierung der Gefäßwände wieder verschwindenden Symptomen aufweisen, die der Aus-
der intra- und extrakraniellen Gefäße durch Freisetzung der breitung der SD entsprechen. Diese Verminderung der neuro-
o.g. Neuropeptide erfolgt. Die spontanen Entladungen sind nalen Aktivität führt zur Abnahme der Durchblutung in den
auf eine genetisch determinierte Störung in einem Ionenka- entsprechenden Regionen, die also Folge und nicht Ursache
nal zurückzuführen. Die bei der Migräne wirksamen Medika- der kortikalen Funktionsstörungen ist. Die SD kannte man bis
mente hemmen die Freisetzung der Neuropeptide dadurch, vor kurzen nur aus Tierexperimenten. Erst in den letzten Jahren
dass sie an präsynaptische Rezeptoren (5HT1b/d) in der Ge- wurde die Existenz der SD auch beim Menschen mit funktio-
fäßwand binden (5-HT1B/1D-Agonisten). Der Vorgang wird als nellen Methoden (PET) bewiesen.
trigeminovaskulärer Reflex bezeichnet. Diese Auffassung

Attacken aufgetreten sind und dass der neurologische Unter- 16.1.2 Migräne mit Aura
suchungsbefund normal ist. Apparative Zusatzuntersuchungen
sind dann nicht nötig. Trotzdem kommen viele Migränepati- 3Symptomatik. Über eine Zeit von 5–20 min entwickelt
enten schon mit den Befunden der bildgebenden Diagnostik sich eine Vielzahl neurologischer Symptome, die auf die
(CT, MRT mit MRA) zum Neurologen. Leitet man ein EEG ab, Großhirnhemisphären oder die Retina zu beziehen sind. Der
so ist dieses häufig innerhalb der Variationsbreite des Norma- zeitliche Ablauf ist ein wichtiges Unterscheidungskriterium
len dysrhythmisch. gegenüber einem Schlaganfall, bei dem die Symptome meist

Facharzt
Sonderformen der Migräne
Bei der Basilarismigräne beziehen sich die Aurasymptome Ionenkanaldefekt zurückzuführen ist. Schließlich erklärt der
auf eine Funktionsstörung im Hirnstamm: Dysarthrie, Dop- Genlokus auch die Beziehung zu CADASIL (7 Kap. 5), bei der
peltsehen, Ohrgeräusche, Hörminderung, vestibulärer es oft zu einem Auftreten von Migräne kommt.
Schwindel, beidseitige Missempfindungen in den Händen,
Ataxie, beidseitige Paresen, selten Bewusstseinsstörungen. Retinale Migräne. Hierbei handelt es sich um vollständig
reversible monokulare visuelle Phänomene in Verbindung mit
16 Familiäre hemiplegische Migräne. Diese seltene dominant Kopfschmerzen wie bei Migräne ohne Aura, die während oder
vererbliche Form der Migräne tritt mit dramatischen, zum innerhalb von 60 min danach beginnen. Der ophthalmologi-
Teil lange anhaltenden neurologischen Symptomen (Hemi- sche Befund außerhalb der Attacke ist normal. Der Ausschluss
plegie!) auf, die von einem schweren Schlaganfall nicht zu symptomatischer Ursachen (DD Amaurosis fugax) ist wichtig.
unterscheiden sind. Manche Patienten werden bewusstlos
und müssen auf der Intensivstation behandelt werden, und Ophthalmoplegische »Migräne«. Diese wird heute unter die
es gibt seltene Varianten, bei denen diese Patienten nach kranialen Neuralgien eingeordnet, sei dennoch aus histo-
harmlosen Schädeltraumen komatös werden und im unkon- rischen Gründen erwähnt: Die Patienten haben einen mig-
trollierten Hirndruck versterben. Die hemiplegische Migräne räneähnlichen Kopfschmerz mit oder gefolgt von einer Parese
löst sich ansonsten nach einigen Tagen folgenlos wieder auf. eines oder mehrerer Augenmuskeln (N. III > N. VI > N. IV). Die
Ischämische Läsionen sind möglich, aber extrem selten. Kopfschmerzen können oft über eine Woche andauern, bis
Die hemiplegische Migräne ist von wissenschaftlichem zum Auftreten der Augenmuskelparesen können 4 Tage ver-
Interesse, da über sie die genetische Ursache mancher gehen. Die Parese kann den Kopfschmerz um Tage überdau-
Migräneformen klarer wird. Sie entsteht durch eine Muta- ern. Pathophysiologisch gibt es Hinweise für eine rezidivie-
tion in den Chromosomen 1 und 19, in einer Region, die für rende demyelinisierende Neuropathie. Die Symptome reagie-
einen Ca2+-Ionenkanal kodiert, In der Nähe ist auch der Gen- ren entsprechend der anderen Pathophysiologie nicht auf die
lokus für die episodische Ataxie, die ebenfalls auf einen üblichen Migränemedikation, aber auf Kortikosteroide.
16.1 · Migräne
409 16
Exkurs
Migräne und offenes Foramen ovale (PFO)
Bei Migränepatienten mit Aura wurde überzufällig häufig ein schaftlich nicht begründet, dass der Verschluss des PFO die
offenes Foramen ovale gefunden, was zu einer Diskussion Migräneattacken beeinflussen könnte (es sei denn durch die
über eine Komorbidität mit Schlaganfällen und Migräne mit Einnahme von Aspirin nach dem Verschluss!). Dennoch bieten
Aura führte. Die Prävalenz von Schlaganfällen bei Migräne ist manche Kardiologen genau diese »Therapie«, finanziell durch-
sehr niedrig und liegt nur wenig über der Inzidenz der Nor- aus erfolgreich, Migränepatienten an. Sie behaupten, das hier-
malbevölkerung. Dagegen sind Migräne und PFO häufig. Ein durch die Frequenz der Migräneattacken reduziert würde.
überzufällig häufiges gemeinsames Auftreten lässt eher an Entsprechende klinische Studien werden seit einigen Jahren
eine genetische Kolokalisation, aber nicht an eine Kausalität, versucht, haben aber noch nicht ausreichende Patientenzahlen
gleich in welcher Richtung, denken. So wie es jeder Grundla- gewinnen können. Für das Jahr 2010 wird mit den Ergebnissen
ge entbehren würde, anzunehmen, das eine Behandlung der einer Studie gerechnet. Man darf gespannt sein. Dass das Acro-
Migräne das PFO-Risiko vermindern würde. Es ist wissen- nym einer der Studien »MIST« war, ist wahrscheinlich Zufall.

schlagartig, seltener stotternd auftreten. Es gibt auch isolierte tes Schlaganfallrisiko, besonders in Kombination mit Überge-
Auren ohne anschließende Kopfschmerzen (Migraine sans wicht, Kontrazeptivaeinnahme und Nikotingebrauch.
migraine). Auch hier wird zur Unterscheidung von zerebralen
Durchblutungsstörungen ein »March« und das Verschwinden 3Therapie im Schmerzanfall. Die Behandlung orientiert
der Symptome im Laufe von 20–60 min verlangt. sich an der Intensität des Kopfschmerzes.
Hierzu zählen: 4 Bei leichteren Schmerzanfällen mit vegetativen Reiz-
4 Augenflimmern, Lichtblitze, wandernde, binokulare Sko- symptomen werden Analgetika mit Antiemetika kombiniert.
tome mit flimmerndem (Flimmerskotome) und gezacktem 4 Metoclopramid (10–20 mg oral oder 20 mg rektal) oder
Rand (Fortifikation), Domperidon (10 mg oral) werden empfohlen, gegen die Kopf-
4 homonyme Hemianopsie, schmerzen Acetylsalicylsäure (mindestens 1000 mg als Brau-
4 Aphasie, besonders Wortfindungsstörungen, setablette zur besseren Resorption, nicht bei Gravidität!), Para-
4 vorübergehende Halbseitenlähmung und cetamol 1 g als Brausegranulat, inzwischen auch für i.v.-Gabe
4 halbseitige Parästhesien in den Extremitäten. erhältlich oder mindestens 600 mg Ibuprofen, etwa 10–20 min
nach den Antiemetika, was die Resorption im Darm fördert,
Diese Symptome dauern bis zu einer Stunde an. Danach schließt der zunächst in der vegetativen Phase eine drastisch reduzierte
sich mit einem variablen, freien Intervall die oben beschriebene Aktivität aufweist. Eine Übersicht über die Migränemedika-
Kopfschmerz- und vegetative Symptomatik an. Der neurolo- mente gibt . Tabelle 16.2.
gische Befund ist nach Abklingen des Anfalls normal. Bei be- 4 In der Notfallbehandlung steht mit Lysin-Acetylsalicyl-
kannter Migräne sind bildgebende Verfahren nicht indiziert. säure (Aspisol 1 g) eine schnell wirksame i.v.-Medikation zur
Verfügung, die vor dem Triptan gegeben wird. Der Wirkein-
> Die Kardinalsymptome der Migräne sind Kopf-
tritt dauert meist nur wenige Minuten.
schmerzen und vegetative Funktionsstörungen. Mig-
4 Bei schweren Schmerzanfällen: Patienten, die einen Arzt
räne kommt familiär gehäuft vor. Sie ist eine häufige,
zur Behandlung einer schweren Migräneattacke aufsuchen,
oft verkannte, meist lebensbegleitende, in der Regel
haben meist schon erfolglos ihre übliche orale Medikation ver-
gutartige Funktionsstörung.
sucht. Diese und ihre Dosis herauszufinden, ist nicht immer
einfach. Nicht selten sind Analgetika unterdosiert worden und
3Komplikationen man kann mit einer weiteren, höheren Dosis fortfahren.
4 komplizierte Migräne: länger als 1 Woche persistierende
Aurasymptome, aber kein Nachweis einer ischämischen Lä- Es werden Triptane eingesetzt, z.B. Sumatriptan (Imigran®),
sion; das als 5-HT1B/1D-Agonist die neurogene, perivaskuläre Ent-
4 Status migränosus: Trotz Behandlung dauern die Kopf- zündung hemmt (s. o.). Triptane haben auch eine deutliche
schmerzen länger als 72 Stunden an, oder sie wiederholen sich antiemetische Wirkung sowie eine relativ kurze Halbwertzeit,
nach Pausen von weniger als 4 Stunden mehrmals. Therapie so dass es nicht ungewöhnlich ist, dass bei einem lange andau-
wie bei schwerer Migräne (s. u.); ernden Migräneanfall der Kopfschmerz wiederkehrt. Kontra-
4 chronische Migräne mit Migränekopfschmerzen an mehr indikationen und Nebenwirkungen s. . Tab. 16.2.
als 15 Tagen im Monat (meist in Kombination mit einem me- 4 Ergotamin p.o. oder als Suppositorium werden heute vor
dikamenteninduzierten Dauerkopfschmerz s.u.) allem bei langen Migräneattacken oder, wenn sie sich in der
4 migränöser Infarkt: Bei jüngeren Frauen mit bekannter Vergangenheit bei dem Patienten gut bewährt haben, ange-
Migräne mit Aura bilden sich die Aurasymptome manchmal wendet. Eine häufige Einnahme (>10-mal pro Monat) kann
nicht innerhalb von 7 Tagen völlig zurück. Mit bildgebenden selbst Dauerkopfschmerzen auslösen. Sie sind kontraindiziert
Verfahren stellt sich dann ein Territorialinfarkt dar. Definierte in der Schwangerschaft.
Ursachen für einen Hirninfarkt sind nicht erkennbar. Diese Das Risiko vaskulärer Ereignisse bei der Einnahme von
Komplikation ist selten. Migränepatientinnen haben ein erhöh- Mutterkornalkaloiden ist erhöht.
410 Kapitel 16 · Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien

. Tabelle 16.2. Therapie der akuten Migräneattacke mit 5-HT-Agonisten (Nach Diener 2005)
Substanzen Dosis Nebenwirkungen Kontraindikationen
Sumatriptan 50–100 mg p.o. Engegefühl im Bereich der Brust und Hypertonie, koronare Herzerkrankung, Angina
(Imigran®, des Halses, Parästhesien der Extremi- pectoris, Myokardinfarkt in der Vorgeschichte,
Imigran T®) 25 mg Supp. täten, Kältegefühl M. Raynaud, arterielle Verschlusskrankheit der
Beine, TIA oder Schlaganfall, Schwangerschaft,
10–20 mg Nasenspray Stillzeit, Kinder, schwere Leber- oder Niereninsuf-
fizienz, multiple vaskuläre Risikofaktoren, gleich-
6 mg s.c. (Autoinjektor) Lokalreaktion an der Injektionsstelle zeitige Behandlung mit Ergotamin, innerhalb von
2 Wochen nach Absetzen eines MAO-Hemmers.
Zolmitriptan 2,5–5 mg p.o. wie Sumatriptan wie Sumatriptan
(AscoTop®) 2,5–5 mg Schmelztablette
5 mg Nasenspray
Naratriptan 2,5 mg p.o. etwas geringer als Sumatriptan wie Sumatriptan
(Naramig®)
Rizatriptan 10 mg p.o. oder als wie Sumatriptan wie Sumatriptan, Dosis 5 mg bei Einnahme von
(Maxalt®) Schmelztablette Propranolol
Almotriptan 12,5 mg p.o. etwas geringer als Sumatriptan wie Sumatriptan
(Almogran®)
Eletriptan 20, 40 mg p.o. wie Sumatriptan wie Sumatriptan
(Relpax®)
Frovatriptan 2,5 mg p.o. etwas geringer als Sumatriptan wie Sumatriptan
(Allegro®)
a bei Unwirksamkeit von 40 mg können auch 80 mg Eletriptan gegeben werden.

. Tabelle 16.3. Substanzen zur Migräneprophylaxe (Nach Diener 2005)


Substanzen Dosis Nebenwirkungen Kontraindikationen
Metoprolol 50–200 mg H: Müdigkeit, arterielle Hypotonie, A: AV-Block, Bradykardie, Herzinsuffizienz,
(Beloc-Zok®) G: Schlafstörungen, Schwindel Sick-Sinus-Syndrom, Asthma bronchiale
R: Diabetes mellitus, orthostatische Dysregula-
Propranolol 40–240 mg S: Hypoglykämie, Bronchospasmus, Bradykardie
tion, Depression
(Dociton®)
Bisoprolol 5–10 mg Magen-Darm-Beschwerden, Impotenz
(Concor®)
Flunarizin 5–10 mg H: Müdigkeit, Gewichtszunahme A: fokale Dystonie, Schwangerschaft, Stillzeit,
(Sibelium, Natil N®) G: gastrointestinale Beschwerden, Depression Depression

16 S: Hyperkinesen, Tremor, Parkinsonoid R: M. Parkinson in der Familie


Topiramat 25–100 mg H: Müdigkeit, kognitive Einschränkungen, A: Niereninsuffizienz, Nierensteine, Engwinkel-
(Topamax®) Gewichtsabnahme, Parästhesien glaukom
G: Geschmacksveränderungen, Psychosen
S: Engwinkelglaukom
Valproinsäure 500–600 mg H: Müdigkeit, Schwindel, Tremor A: Leberfunktionsstörungen, Schwangerschaft
(z.B. Ergenyl chrono®) G: Hautausschlag, Haarausfall, Gewichts- (Neuralrohrdefekte), Alkoholmissbrauch
off-label use zunahme
S: Leberfunktionsstörungen
Amitriptylin 50–150 mg H: Mundtrockenheit, Müdigkeit, Schwindel, A: Engwinkelglaukom, Prostataadenom mit
(z.B. Saroten®) Schwitzen Restharn
G: Blasenstörungen, innere Unruhe, Impotenz
Nebenwirkungen gegliedert in H: häufig; G: gelegentlich; S: selten
Kontraindikationen gegliedert in A: absolut, R: relativ
16.1 · Migräne
411 16
Exkurs
5-HT1B/1D-Agonisten (Triptane)
Es gibt inzwischen eine Vielzahl von 5-HT1B/1D-Agonisten. Sie duzierten Dauerkopfschmerzes vorzubeugen, kann eine frühe
sind im Vergleich zu Ergotaminen und Aspisol sehr teuer. Einnahme nur empfohlen werden, wenn die Attacken nicht zu
Sumatriptan (Imigran®) war die erste Substanz auf dem häufig sind (<10 Kopfschmerztage/Monat) und wenn der
Markt, und zwar zunächst als subkutane Form (Imigran® s.c. Patient eindeutig seine Migräne von Spannungskopfschmer-
6 mg: besonders schneller Wirkeintritt innerhalb von 10 min). zen unterscheiden kann.
Verschiedene Triptane können auch per os, als Supposi- Bei lange dauernden Migräneattacken können gegen
torien (Imigran Supp® 25 mg), sublingual (Zolmitriptan Ende der pharmakologischen Wirkung eines Migränemittels
(Ascotop®) Schmelztablette, Rizatriptan (Maxalt lingua®) die Migränekopfschmerzen wieder auftreten.
5 oder 10 mg) oder als Nasenspray (Imigran nasal® 10 oder Dies ist dann kein Versagen der Therapie, sondern die
20 mg) verabreicht werden. Außer in der s.c.- Darreichungs- Migräne hat lediglich länger gedauert als die Wirkung des
form ist der Wirkeintritt der verschiedenen Triptane relativ Triptans. Eine erneute Gabe des Triptans ist dann nötig. Alle
langsam. Sumatriptan, Zolmitriptan und Almotriptan brau- Triptane haben eine vasokonstriktorische Wirkung. Sie sollen
chen etwa 90 min, bis die Attacke unterbrochen ist. Etwas nicht in der Aura, sondern erst beim Kopfschmerz gegeben
schneller, d.h. weniger als eine Stunde bis zum Wirkeintritt, werden. Sie sind kontraindiziert bei Patienten mit koronarer
sind die oralen Triptane Eletriptan (Relpax® 20 oder 40 mg) Herzkrankheit und bei Schwangerschaft. Alle Triptane können,
und Rizatriptan (Maxalt® 5 oder 10 mg). Sie sind in ihrer wie Ergotamin, bei zu häufiger Einnahme zu einer Erhöhung
Wirksamkeit auch dem oralen Sumatriptan überlegen. der Attackenfrequenz und letztlich zu einem medikamenten-
Alle Triptane wirken aber umso besser, je früher sie bei induzierten Dauerkopfschmerz führen. Triptane sollten daher
einer Migräneattacke eingenommen werden (Burstein 2004; an nicht mehr als 10 Tage im Monat und an nicht mehr als 3
Dowson 2004). Um der Entwicklung eines medikamentenin- Tagen hintereinander eingesetzt werden.

Die wichtigsten Leitlinien Therapie und Prophylaxe der Migräne*


4 Die 5-HT1B/1D-Agonisten (in alphabetischer Reihen- Flunarizin (A) sowie die Antikonvulsiva Topiramat (A) und
folge) Almotriptan, Eletriptan, Frovatriptan, Naratriptan, Valproinsäure (noch off-label) (A).
Rizatriptan, Sumatriptan und Zolmitriptan sind die Subs- 4 Migräneprophylaktika der zweiten Wahl sind der Beta-
tanzen mit der besten Wirksamkeit bei akuten Migräne- blocker Bisoprolol (B), Naproxen (B), Acetylsalicylsäure (C),
attacken (A). Magnesium (C), Vitamin B2 (B), Coenzym Q10 (C), Pestwurz (B),
4 Nichtopioidanalgetika und nichtsteroidale Antirheu- Mutterkraut (B) und Amitriptylin (B).
matika (NSAR) sind bei der Behandlung der Migräne wirk- 4 Die medikamentöse Therapie sollte durch nichtmedika-
sam (A). mentöse Verfahren der Verhaltenstherapie (A) und durch
4 Ergotamin ist bei Migräne wirksam. Allerdings ist die Ausdauersport (B) ergänzt werden. Alternativ zur medika-
Wirksamkeit in prospektiven Studien schlecht belegt (B). mentösen Therapie kann auch eine Verhaltenstherapie als
4 Die Wirksamkeit nichtmedikamentöser Verfahren wurde Prophylaxe durchgeführt werden (A).
in der Attackentherapie in kontrollierten Studien kaum 4 Bei Patienten mit einer hochfrequenten Migräne (≥ 3 Atta-
untersucht (C). cken/Monat) sowie erheblicher Einschränkung der Lebensqua-
4 Bei häufigen Migräneattacken bzw. Migräneattacken mit lität sollte eine psychologische Therapie angestrebt werden (A).
ausgeprägten Beschwerden oder neurologischen Ausfällen
sollte eine Migräneprophylaxe begonnen werden (A).
4 Migräneprophylaktika der ersten Wahl sind die Betablo-
cker (A), Metoprolol und Propranolol, der Kalziumantagonist * Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org, leitlinien.html)

4 Status migränosus. Die Therapie de Status migränosus 4 Bei therapierefraktären Situationen kann i.v. Methylpred-
erfolgt durch die einmalig Gabe von 50 100 mg Prednison oral nisolon (allerdings nach Rücksprache mit dem Gynäkologen)
oder 250 mg i.v. verabreicht werden.
4 Triptane und Ergotamin sind in der Schwangerschaft nicht
3Migränetherapie in der Schwangerschaft und Stillzeit. zugelassen.
In der Schwangerschaft sind die Therapieoptionen einge-
schränkt. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass für das erste Trip-
4 Als Mittel der ersten Wahl der Akuttherapie gilt Paraceta- tan, Sumatriptan, bereits direkt nach der Zulassung ein
mol 1 g p.o., i.v. oder als Suppositorium. Schwangerschaftsregister eingerichtet wurde, in dem alle Fälle
4 Der Einsatz von 1 g Acetylsalicylsäure (z.B. ASS-Brause) von Triptaneinnahme während der Schwangerschaft erfasst
sollte lediglich als Alternative und nur im 2. Trimenon vorbe- wurden. Eine Auswertung ergab, dass offensichtlich keinerlei
halten bleiben. bedenkliche Nebenwirkungen auftraten. Als Prophylaxe kann
412 Kapitel 16 · Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien

Magnesium in einer Dosierung von 2-mal 300 mg/Tag zum Empfindlichkeit von Zellen des Kortex, eine »cortical sprea-
Einsatz kommen. In der Schwangerschaft ist auch eine Prophy- ding depression« auszubilden, zu reduzieren.
laxe mit Metoprolol möglich. Klassische chinesische Akupunktur reduziert die Häufig-
In der Stillzeit sollten Medikamente zum Einsatz kommen, keit der Migräneattacken, allerdings ist eine Scheinakupunktur
die in der Muttermilch nicht oder nur in geringen Mengen genauso wirksam. Auch sportliche Ausdaueraktivität ist zur
nachzuweisen sind. Beim Einsatz von Betablockern sei an die Attackenreduktion hilfreich.
Milchgängigkeit gedacht, die bei Säuglingen zu ausgeprägten Bei zyklusgebundener Migräne können perimenstruell
Bradykardien führen kann. Bewährt hat sich hierbei Valproin- Ibuprofen (400–600 mg/Tag) oder Naproxen (2 × 250 mg/Tag)
säure als Prophylaxe. eingesetzt werden.

3Migräneprophylaxe. Eine medikamentöse Migränepro-


phylaxe sollte eingeleitet werden, wenn 16.1.3 Amnestische Episoden
4 3 oder mehr Migräneattacken/Monat auftreten,
4 es zu einer Zunahme der Attackenfrequenz und Einnahme In jüngerer Zeit werden amnestische Episoden (transient global
von Schmerz- oder Migränemitteln an mehr als 10 Tagen im amnesia, TGA) von manchen der Migräne zugerechnet. Aller-
Monat kommt dings fehlt bei den meisten das Symptom Kopfschmerz, denn
4 komplizierte Migräneattacken mit beeinträchtigenden nur etwa 10% der Patienten geben Kopfschmerzen an. Eine
(z.B. hemiplegischen) und/oder lang anhaltenden Auren auf- Migräneanamnese wird bei bis zu 30% berichtet. Dieses Syn-
treten drom wurde in Kapitel 15 besprochen.
4 die Migräneattacken regelmäßig länger als 3 Tage anhal-
ten,
4 die Attacken nicht regelmäßig oder nicht ausreichend auf 16.2 Trigeminoautonome Kopfschmerzen
die Standardtherapie ansprechen,
4 eine komplizierte Migräne mit langanhaltender Aura 16.2.1 Episodischer und chronischer Cluster-
auftritt. Kopfschmerz (Bing-Horton-Kopfschmerz)
4 es zu einem migränösen Infarkt gekommen ist (nach
Ausschluss anderer Ursachen) 3Definition. Der Clusterkopfschmerz ist ein anfallsartig
auftretender, streng einseitiger, extremster Kopfschmerz mit
Durch die Prophylaxe sollen Attackenfrequenz und -schwere retroorbitalem Punctum maximum, der mit vegetativen Symp-
reduziert werden. Frequenz, Schwere und Medikamentenver- tomen wie Tränensekretion, konjunktivaler Injektion, Nasen-
brauch müssen in einem Kopfschmerztagebuch über mehrere laufen (Rhinorrhö), nasaler Kongestion, Lidschwellung und
Monate dokumentiert sein. ipsilateralem Horner-Syndrom einhergeht. Die Kopfschmerzen
Folgende therapeutische Möglichkeiten bestehen (. Tab. treten in regelmäßigem Rhythmus für Tage bis Wochen (»Clus-
16.3): ter«) oft zur gleichen Tages- oder Nachtzeit, vorzugsweise ein
4 Betablocker sind gesichert wirksam. Am besten untersucht bis zwei Stunden nach dem Einschlafen auf. Er wird zusammen
sind die Betablocker Propranolol und Metoprolol, die in der mit der episodischen oder chronischen Hemikranie und dem
Regel bis auf 200 mg/Tag aufdosiert werden müssen (Neben- SUNCT Syndrom (short-lasting unilateral neuralgiform
wirkungen: Müdigkeit, Hypotonie, Schwindel). headache with conjuctival injection and tearing) in der Diag-
4 Der Calciumantagonist Flunarizin ist in Dosierungen von nosegruppe der trigeminoautonomen Kopfschmerzen zusam-
5–10 mg/Tag wirksam (Nebenwirkungen: Müdigkeit, Ge- mengefasst. Alle 3 Formen haben die unilateralen, meist nur
16 wichtszunahme, Parkinsonoid). kurz anhaltenden (außer in den chronischen Formen) Kopf-
4 Die Antikonvulsiva Topiramat (25–100 mg/Tag) und Val- schmerzattacken und die autonomen Begleiterscheinungen
proat (600–800 mg/Tag) senken ebenfalls Anfallsfrequenz und gemeinsam.
-schwere (Nebenwirkungen 7 Kap. 14.5.3).
4 Aspirin in niedriger Dosierung hat eine leicht prophylak- 3Epidemiologie. Das Erkrankungsalter liegt zwischen
tische Wirkung (vergl. auch Anmerkungen zur Behandlung 20 und 40 Jahren. Die Prävalenz wird auf 1:1000 geschätzt.
des offenen Foramen ovale). Männer überwiegen gegenüber Frauen im Verhältnis 3:1. Die
4 Amitriptylin, ein trizyklisches Antidepressivum (Dosis 50- Kopfschmerzen treten bevorzugt im Frühjahr und im Herbst
150 mg/Tag; Nebenwirkungen: Müdigkeit, Mundtrockenheit) auf, dann für mehrere Wochen bis Monate (Cluster). Bei der
wirkt vor allem, wenn neben der Migräne noch ein Spannungs- häufigeren (etwa 80%), episodischen Form des Clusterkopf-
kopfschmerz besteht. schmerzes werden die wenigen Wochen bis Monate dauern-
den Kopfschmerzperioden von symptomfreien Zeitspannen
Die Prophylaxe sollte für mindestens 9–12 Monate durchge- von Monaten bis Jahren abgelöst. Dauert die Clusterperiode
führt werden, dann kann ein Auslassversuch ins Auge gefasst ohne Unterbrechung über ein Jahr an oder sind die Remis-
werden. sionsphasen kürzer als 1 Monat, diagnostiziert man einen
Die eingesetzten Substanzen wirken häufig schon bereits chronischen Clusterkopfschmerz. Dieser tritt primär bei we-
in deutlich niedrigeren Dosierungen als in ihrer Originalindi- niger als 5% der Patienten auf. Der Übergang von einer epi-
kation. Soweit bisher untersucht, scheinen die meisten die sodischen zur chronischen Form kommt bei 10%–15% der
16.2 · Trigeminoautonome Kopfschmerzen
413 16
Patienten vor. Die Krankheit beginnt in der Regel im frühen
Erwachsenenalter. 3Diagnostik. Die bildgebende Diagnostik (MRT von
Familiäre Häufung zeigt eine gewisse genetische Kompo- Schädelbasis und Orbita, CT mit Knochenfenster) ist bei
nente an, die aber weit geringer ist als bei Migräne. Etwa 40% Erstdiagnose oder bei begleitenden neurologischen Ausfalls-
der Betroffenen geben Alkoholkonsum als Auslöser an, andere erscheinungen notwendig, um Differentialdiagnosen wie
nennen Sauerstoffmangel oder Flackerlicht. Nitroglyzerin und Schädelbasistumore, andere knochendestruierende Prozesse,
Histamin lösen die Attacken regelmäßig aus. Sinus-cavernosus-Thrombosen und -Fisteln, arteriovenöse
Malformationen, Dissektionen oder granulomatöse Entzün-
3Pathophysiologie. Die Pathophysiologie ist nicht geklärt. dungen auszuschließen. Ansonsten ist bei typischer Klinik
Die starken Schmerzen sprechen für die Beteiligung des ipsilate- oder beim Rezidiv keine Diagnostik indiziert.
ralen N. trigeminus. Die ipsilateralen autonomen Symptome
suggerieren eine Aktivierung des Parasympathikus (Tränenfluss, 3Therapie. Periphere und zentrale Analgetika, einschließ-
Nasenlaufen) und des Sympathikus (Horner-Syndrom). Was lich Morphinderivate, helfen nicht oder nur sehr verzögert.
allerdings die Attacken auslöst, wodurch die Periodik begründet 4 Die Inhalation von 100%igem Sauerstoff über eine Ge-
ist und warum die unten beschriebenen Therapien wirken, ist sichtsmaske (10 l/min über 15–20 min in aufrechter Haltung)
unklar. ist bei 60–70% der Patienten wirksam.
4 Auch die nasale Instillation von Lidocainlösung (4%) bei
3Symptome. Der streng einseitige, seitenkonstante Kopf- zurückgelegtem und leicht zur betroffenen Seite gedrehtem
schmerz tritt akut oder subakut auf. Er wird von den Patienten Kopf sowie Sumatriptan (6 mg s.c., s.o.) oder 5–10 mg
als bohrend oder brennend, in jedem Fall als unerträglich hef- Zolmitriptan Nasenspray können in der Attacke helfen.
tig beschrieben wird, so »als würde das Auge aus dem Kopf 4 Zur Unterbrechung des Clusters wird eine Stufentherapie
herausgedrückt« oder »als müsse man mit dem Kopf gegen die empfohlen:
Wand schlagen«. Die Schmerzen sind in der Augenhöhle, hin- 1. Verapamil ist in der Dosierung von 3- bis 4-mal 80 mg
ter dem Auge und/oder in der Stirn- und Schläfenregion loka- täglich das Mittel der ersten Wahl bei episodischem und chro-
lisiert. Er dauert zwischen 15 bis 180 min an und endet meist nischem Clusterkopfschmerz (Cave: kardiale Kontraindikati-
so abrupt, wie er begonnen hat. onen, sowie QT-Zeit-Verlängerung).
Die Schmerzen sind von weiteren, ipsilateralen Symptomen 2. Kortikosteroide werden häufig additiv eingesetzt (z.B. 100
begleitet: Miosis, auch Ptosis, Tränenfluss, konjunktivale Injek- mg Methylprednisolon über 1 Woche, danach ausschleichend
tion, Kongestion der Nase oder Absonderung von Nasensekret, dosieren).
periorbitales Ödem. Sie sind im Liegen am stärksten und lassen 3. Es können auch Lithiumpräparate wie Quilonum retard
beim Aufstehen oder Herumgehen geringfügig nach. Deshalb p.o. bis zu einem Serumspiegel von 0,6–1,2 mmol/l, Topiramat
sind die Patienten – im Unterschied zu Migränepatienten, die (100–200 mg) oder Valproinsäure eingesetzt werden.
Ruhe und Abgeschiedenheit suchen – motorisch unruhig.
Manche Patienten berichten, wie bei der Migräne, von Licht- > Der Cluster-Kopfschmerz ist durch Attacken von ein-
scheu und Überempfindlichkeit gegen Geräusche. seitigen, unerträglichen Augen-, Stirn- und Schläfen-
Die Schmerzen setzen bei der Mehrzahl der Patienten über kopfschmerzen charakterisiert, die in regelmäßigem
Wochen praktisch täglich stets zur gleichen Stunde ein, meist Rhythmus für Tage bis Wochen (»Cluster«) jeweils zur
1–2 h nach dem Einschlafen oder in den frühen Morgenstun- gleichen Stunde, meist in den frühen Morgenstunden
den. Nach dem Abklingen besteht eine Refraktärperiode, aber auftreten. Die Attacken sind von parasympathischen
die Attacken wiederholen sich 5- bis 15-mal in 24 h. Bei lange Symptomen begleitet.
andauernden Clustern können die Patienten suizidal werden.
Mit oder ohne Therapie ist dieser Kopfschmerz eine le-
benslange Funktionsstörung, deren Cluster sich in Abständen
von Monaten, auch Jahren wiederholen.

Exkurs
Operative Therapieversuche bei chronischem Cluster-Kopfschmerz
4 Die bilaterale Stimulation des N. occipitalis major ist in ren zu erwägen. Sie führen nicht immer und nicht dauerhaft
Fallberichten als erfolgreich beschrieben worden. Was die zu einer Linderung der Beschwerden und haben zum Teil
Beziehung zwischen diesen Nerven und dem Cluster angeht, gravierende Risiken. Trigeminusauschaltungsoperationen (s.a.
ist die Grundlage eher bescheiden. Die Stimulation muss beid- Trigeminusneuralgie) bergen die Gefahr einer sekundären
seits erfolgen. Sie wird zur Zeit in klinischen Studien evaluiert. Neuralgie des N. trigeminus oder einer Anästhesia dolorosa
4 Ebenfalls diskutiert wird die tiefe Hirnstimulation mit (Ausfall der Oberflächensensibilität kombiniert mit quälenden
Zielpunkten im posterioren inferioren Hypothalamus. örtlichen Schmerzen).
4 Nach Versagen aller medikamentöser Maßnahmen und 4 Alternativ kann die wiederholte Injektion von Kortikoiden
sicherem Ausschluss einer symptomatischen Ursache sind in und Lokalanästhetika an den N. occipitalis major versucht
verzweifelten Situationen auch läsionelle operative Verfah- werden.
414 Kapitel 16 · Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien

Wichtige Leitlinien für die Behandlung des Cluster-Kopfschmerzes und der chronischen Hemikranie*
4 Die parenteral wirkenden 5-HT1B/D-Agonisten Su- 6-mal 80 mg/Tag, selten bis 960 mg/Tag; Cave: QT-Zeit-Verlän-
matriptan (6 mg s.c.) und Zolmitriptan (5–10 mg nasal) sind gerung) (A).
die Substanzen mit der besten Wirksamkeit in der akuten 4 Lithium (Plasmaspiegel: 0,6–1,2 mmol/l) und Topiramat
Clusterkopfschmerzattacke (A). Die orale Applikation eines (100–200 mg/Tag) sind Mittel der 2. Wahl in der prophylak-
Triptans ist nur bei langen Attacken sinnvoll (B). tischen Behandlung des Clusterkopfschmerzes (B).
4 Die Inhalation von 100% Sauerstoff über eine Gesichts- 4 Mittel der ersten Wahl in der Behandlung der episo-
maske (7–15 l/min über 15–20 min) ist bei 60–70% der Clus- dischen und chronischen paroxysmalen Hemikranie ist Indo-
terpatienten wirksam (A). metacin (bis max. 3-mal 75 mg/Tag) (A).
4 Kortikoide sind wirksam, sollten als Mittel der ersten 4 Mittel der Wahl in der Behandlung des SUNCT-Syndroms
Wahl in der Regel aber nur kurzfristig (<4 Wochen) verwen- ist Lamotrigin (100–200 mg/Tag) (A).
det werden (z.B. Prednison 1 mg/kg KG) (A).
4 Verapamil ist die Substanz der ersten Wahl in der pro-
phylaktischen Behandlung des Clusterkopfschmerzes (3- bis * Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)

16.2.2 Episodische und chronische paroxysmale 3Therapie. Sauerstoffgabe, Triptane und Indometacin sind
Hemikranie unwirksam. Moderne Antiepileptika wie Lamotrigin, Gaba-
pentin oder Oxcarbazepin sollen wirksam sein, sind aber noch
Die chronische paroxysmale Hemikranie ist eine seltene nicht durch größere Studien belegt. Die intravenöse Gabe von
Kopfschmerzvariante, die oft mit einer Migräne oder einem Lidocain (nur unter Überwachungsbedingungen) soll wirk-
Cluster-Kopfschmerz verwechselt wird. Die Erkrankung be- sam sein.
ginnt ähnlich dem Clusterkopfschmerz mit 20–40 Jahren.
Die Geschlechterverteilung ist hier jedoch umgekehrt;
Frauen überwiegen mit 3:1 gegenüber Männern. Die Attacken 16.3 Episodischer Spannungskopf-
treten paroxysmal auf, sind sehr stechend, halbseitig, oft retro- schmerz
orbital, manchmal in Stirn oder Ohr lokalisiert. Sie dauern
5–45 Minuten bis zu einer halben Stunde, rezidivieren aller- Dieser wurde früher vasomotorischer Kopfschmerz genannt
dings 5- bis 40-mal am Tag. Wie beim Cluster-Kopfschmerz und ist so häufig, dass wahrscheinlich jeder Mensch im Laufe
können Augenrötung, Tränenfluss, Miosis und Nasenlaufen seines Lebens immer wieder einmal unter solchen Attacken
hinzutreten. leidet. Der episodische Spannungskopfschmerz ist mit einer
Lebenszeitprävalenz von >90% der häufigste Kopfschmerz
3Therapie. Die Therapie ist gleichzeitig eine diagnostische überhaupt. Er ist gekennzeichnet durch dumpfe und drü-
Hilfe: Das Syndrom spricht hervorragend und exklusiv auf ckende, holozephale oder bifrontale Schmerzen, die keine
Indometacin an (3-mal 50 mg, bis max. auf 300 mg/Tag stei- vegetativen Begleitsymptome haben und wenige Stunden
gern), so dass über den Therapieerfolg auch die Diagnose bis maximal 1–2 Tage anhalten. Übergänge zu Migräne sind
gesichert ist. Allerdings wird Indometacin häufig nicht gut bekannt.
vertragen: Blutungsneigung, Leber- und Nierenfunktionsstö- Therapeutisch helfen Aspirin (500–1.000 mg), Paraceta-
16 rungen sowie Übelkeit sind häufig. Protonenpumpenhemmer mol (500–1.000 mg), Ibuprofen 200–400 mg, Naproxen 500–
und Antiemetika sollten komediziert werden. Alternativ kön- 1.000 mg, Metamizol 0,5–1,0 g, die Kombination aus 250 mg
nen andere NSAIDs, z.B. Naproxen oder Diclofenac, versucht ASS, 250 mg Paracetamol und 65 mg Koffein. Andere Kombi-
werden. nationspräparate sollten nicht gegeben werden.

16.2.3 SUNCT-Syndrom 16.4 Chronischer Spannungskopfschmerz


und chronisch tägliche Kopfschmerzen
3Symptome. Die Symptome ergeben sich aus dem Akro-
nym: »short-lasting unilateral neuralgiform headache with Nach der neuen Kopfschmerzklassifikation werden folgende
conjunctival injection and tearing«. Es handelt sich um eine Kopfschmerzformen unter dem Begriff »primärer chronischer
extrem seltene Kopfschmerzerkrankung. Das Verhältnis Kopfschmerz« zusammengefasst:
Frauen zu Männern wird mit 1:4 geschätzt. Die Schmerzat- 4 chronische Migräne,
tacken sind sehr kurz, aber äußerst heftig. Vom Cluster-Kopf- 4 chronischer Kopfschmerz vom Spannungstyp,
schmerz unterscheidet sich SUNCT durch die höhere Atta- 4 Hemicrania continua mit einem einseitigen Dauerkopf-
ckenfrequenz (50–100/Tag). Ausgeschlossen werden muss die schmerz und
Trigeminusneuralgie, die keine autonomen Begleiterschei- 4 neu aufgetretener Dauerkopfschmerz (engl.: new daily per-
nungen hat. sistent headache).
16.5 · Andere Kopfschmerzformen
415 16
Definitionsgemäß müssen chronische Kopfschmerzen im 75–150 mg/Tag. Eine langsame Aufdosierung ist wichtig, die
Durchschnitt an mehr als 15 Tagen im Monat und mindestens Wirkung lässt sich erst nach 4–8 Wochen abschätzen. Thera-
über 3 Monate bestanden haben. Diese Kopfschmerzen sind pieversager und -abbrecher sind häufig.
bei der Mehrzahl der Patienten bilateral und haben einen drü- Mittel der zweiten Wahl: Mirtazapin (15–30 mg), Venlafa-
ckenden Charakter ohne vegetative Begleitsymptome. xin (150–225 mg/Tag), Valproinsäure 500–1500 mg/Tag, alter-
Chronische Kopfschmerzen entwickeln sich meist aus nativ MAO-Hemmer Moclobemid, Fluoxetin (20–400mg/Tag)
einem episodischen Kopfschmerzsyndrom (bei etwa ¾ der Pa- oder Sulpirid 200 400 mg/Tag. Topiramat scheint auch zu wir-
tienten aus einer Migräne und bei 20% aus einem episodischen ken. Physiotherapeutische Maßnahmen mit Training der
Spannungskopfschmerz). Nur selten entsteht ein primär chro- HWS-/Schultermuskulatur, Dehnübungen und Massage sowie
nischer Kopfschmerz direkt. Entspannungsübungen ergänzen die Therapie.
Vermeidung von Analgetika, besonders Kombinationsprä-
3Epidemiologie. Diese Kopfschmerzformen werden auch paraten.
unter der Bezeichnung »chronisch täglicher Kopfschmerz« zu-
sammengefasst. Die Prävalenz beträgt etwa 3–5% der Bevölke-
rung. Frauen sind etwa 5-mal häufiger betroffen als Männer. 16.4.3 Hemicrania continua
Weitere disponierende Faktoren sind niedrigere Schulbildung,
Trennung vom Lebenspartner sowie Komorbidität mit Über- Dies ist ein kontinuierlich vorhandenen Schmerz, der von ein-
gewicht, Diabetes und Arthritis. zelnen Schmerzattacken unterschiedlicher Länge überlagert
wird. Autonome Begleiterscheinungen wie Rhinorrhö, Trä-
nenfluss und konjunktivale Injektion können vorkommen. Die
16.4.1 Chronische Migräne Hälfte der Patienten berichten eine nächtliche Schmerzzunah-
me. Die Symptome zeigen Ähnlichkeit mit dem Cluster-Kopf-
Als Ursache werden neben genetischen Faktoren eine zu- schmerz und der chronisch paroxysmalen Hemikranie, von
nehmende Umstrukturierung von zentralen schmerzbezo- der sie nicht immer sicher zu unterscheiden sind. Für eine
genen Hirnarealen (wie beim Phantomschmerz) mit Verlust Beziehung mit der letzteren spricht auch das Ansprechen auf
deszendierender Hemmmechanismen diskutiert. Risiko- Indometacin.
faktoren für die Chronifizierung einer Migräne sind hohe
Attackenfrequenz sowie häufige, erfolglose Medikamenten-
einnahme. Dann entwickelt sich ein Dauerkopfschmerz mit 16.4.4 Neu aufgetretener Dauerkopfschmerz
gelegentlichen Attacken eines pulsierenden Kopfschmerzes.
Häufig sind eine Depression oder Angsterkrankung asso- Es handelt sich um einen innerhalb von 3 Tagen akut bis sub-
ziiert. akuten entstandenen, bilateralen, drückenden, nicht pulsie-
renden Kopfschmerz leichter bis mittelschwerer Intensität, der
3Therapie. Neben der Therapie eines Medikamentenabu- von da an während eines Zeitraums von mehr als 3 Monaten
sus sollte einer Migräneprophylaxe einsetzen. Topiramat scheint vorhanden ist und nicht remittiert. Es kommt nicht zu einer
die Häufigkeit der Kopfschmerztage als auch der assoziierten Verstärkung durch körperliche Routineaktivität wie Gehen
Schmerzmitteleinnahme signifikant zu reduzieren. Für Beta- oder Treppensteigen. Eine leichte migräneartige Komponente
blocker, Valproinsäure und Amitriptylin liegen für die chro- ist beschrieben, ebenso Phono-/ Photophobie und Übelkeit.
nischer Migräne keine Studien vor. Ursächlich wird von manchen eine postinfektiösen Genese
(virale Infekte, bei Kindern EBV) diskutiert. Die medika-
mentöse Therapie ist schwierig. Je nach Kopfschmerztyp (mig-
16.4.2 Chronischer Kopfschmerz räneartig oder spannungskopfschmerzähnlich) wird eine pro-
vom Spannungstyp phylaktische Therapie mit Valproinsäure oder trizyklischen
Antidepressiva empfohlen.
Dieser dumpfe, holozephale Kopfschmerztyp ist ebenfalls pa-
thophysiologisch nicht geklärt. Diskutiert wird unter anderem
eine vermehrte Anspannung der Nackenmuskulatur und die 16.5 Andere Kopfschmerzformen
dadurch bedingte Schwellenverstellung des nozizeptiven Sys-
tems. Auch psychische Stressoren können der Auslöser sein. 16.5.1 Glaukomanfall
Hier findet man ebenfalls vermehrt Depressionen und Angster-
krankungen, Schlafstörungen und Analgetikaübergebrauch. Heftigste, halbseitige Schmerzen im Auge und in der Schläfe
Oft besteht eine familiäre Belastung. Die meisten Patienten werden auch durch einen akuten Glaukomanfall ausgelöst.
hatten vorher einen episodischen Spannungskopfschmerz. Pa- Auch dabei ist die Konjunktiva injiziert. Durch Vagusreiz
tienten jeden Alters können betroffen sein. kann Erbrechen auftreten. Diagnostisch wichtig ist jedoch,
dass die Pupille weit und reaktionslos ist. Der Augapfel ist,
3Therapie. Man gibt in erster Linie trizyklische Antide- besonders im Vergleich mit der anderen Seite, palpatorisch
pressiva wie Amitriptylin (25–150 mg/Tag), alternativ Doxepin hart, die Hornhaut glanzlos, der Patient klagt über schlechtes
(50–150 mg), Imipramin 30–150 mg/Tag oder Clomipramin Sehen.
416 Kapitel 16 · Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien

3Therapie. Acetazolamid (Diamox® 500 mg i.m.) und Verschlimmerung der vorbestehenden Kopfschmerzen und
2%ige Pilocarpin-Augentropfen. nehmen noch mehr Analgetika ein.

3Therapie. Ziel ist ein Medikamentenentzug. Zeitgleich


16.5.2 Zervikogener Kopfschmerz mit der Entzugsbehandlung soll die Prophylaxe des primären
Kopfschmerzes (Migräne oder Kopfschmerz vom Spannungs-
Diese Kopfschmerzform beschreibt ein kontrovers diskutiertes typ) eingeleitet werden.
Nacken-/Kopfschmerzsyndrom mit migräneähnlichen Cha- 4 Bei manchen Patienten mit Migräne ist durch die Prophy-
rakteristika, aber mechanischer Auslösbarkeit. Klinisch han- laxe mit Topiramat die Attackenfrequenz soweit reduzierbar,
delt es sich um einen seitenkonstanten, einseitigen ziehenden dass die Kriterien bei Medikamentenübergebrauch nicht mehr
Schmerz. Einzelne Attacken können durch aktive und passive erfüllt werden.
Halsbewegungen oder durch externen Druck reproduziert 4 Der Medikamentenentzug kann bei Patienten oft ambu-
werden. lant oder teilstationär erfolgen. Bei Patienten mit langjährigem
Pathophysiologisch kommen Reizungen sensiblen Ner- medikamenteninduzierten Kopfschmerz, Konsum von psy-
venwurzel C-C42 oder des N. occipitalis major in Frage. Nicht chotropen Substanzen oder Opioiden und bereits erfolglosen
selten sind degenerative Veränderungen der Halswirbelsäule Selbstentzügen, kann eine stationäre Entzugsbehandlung not-
mit oder ohne vorhergehende mechanische Reizung der wendig werden.
HWAS und der kleinen Wirbelgelenke vorbestehend. Neuro- 4 In der ersten Woche treten Entzugssymptome wie ver-
logen raten in der Regel von chiropraktischer Behandlung ab stärkter Kopfschmerz, Übelkeit, Tachykardie, Schlafstörungen,
und bevorzugen gymnastische Übungen und Stärkung der Unruhe, Angst und Nervosität auf.
Nackenmuskulatur. 4 Patienten mit triptaninduzierten Kopfschmerz haben ei-
nen leichteren Entzug als solche mit einem Analgetika- oder
Ergotaminentzug.
16.5.3 Chronischer, medikamenteninduzierter 4 Gegen Entzugskopfschmerz wird Prednison 100 mg über
Dauerkopfschmerz 5 Tage empfohlen. Neben der medikamentösen Entzugsbe-
handlung ist eine psychologische Betreuung, z.B. in Form von
3Definition. Es handelt sich um einen chronischen Kopf- Verhaltenstherapie wichtig.
schmerz, der an mehr als 15 Tagen/Monat auftritt und dem
eine regelmäßige (10–15 Tage/Monat seit mindestens 3 Mo- Die Rückfallquote wird mit 30% angegeben.
naten) Einnahme von Kopfschmerzmitteln jeglicher Art zu-
grunde liegt. Häufig assoziiert sind Übergewicht, niedriges
Bildungsniveau und Depressionen. Ursprünglich litten die Pa- 16.5.4 Posttraumatischer Kopfschmerz
tienten unter Migräne oder Spannungskopfschmerz.
3Definition und Symptome. Der Kopfschmerz tritt mit
3Epidemiologie. Die Prävalenz des Kopfschmerzes bei Latenz nach einem leichten oder mittelgradigen Schädeltrau-
Medikamentenübergebrauch in der allgemeinen Bevölkerung ma auf. Er wird chronisch, wenn er länger als 8 Wochen be-
beträgt etwa 2%. 80% von diesen sind Frauen im mittleren steht. Er kontrastiert in seiner Dramatik oft mit dem relativ
Lebensalter. milden Trauma. Besonders häufig tritt der Schmerz auf, wenn
ärztlicherseits nach dem Trauma eine inadäquate Immobilisa-
3Pathophysiologie. Diese ist nicht bekannt. Man diskutiert tion verordnet wird. Die Aussicht auf eine finanzielle Entschä-
16 die Veränderung der Schmerzschwelle, wodurch physiolo- digung trägt ebenfalls zur Chronifizierung bei. Gleiches gilt für
gische Phänomene bereits als schmerzhaft empfunden werden. zusätzlich geklagte Beschwerden wie Konzentrationsschwäche,
Andererseits findet man analgetikainduzierte Kopfschmerzen Schwindel oder Gedächtnisstörungen, die sich meist der objek-
nicht bei Patienten, die wegen anderer Schmerzen chronisch tiven Bestätigung entziehen. Eine Ähnlichkeit mit dem chro-
Schmerzmedikamente einnehmen. nischen Schleudertrauma-Beschwerdekomplex, der oft paral-
lel besteht, ist nicht zu übersehen.
3Ursachen. Einnahme von Analgetika, meist Mischpräpa-
rate, besonders solche mit Koffein oder Ergotamin. Auch Trip- 3Pathophysiologie. Diese ist unbekannt.
tane können den medikamenteninduzierten Kopfschmerz
auslösen, seltener sind Aspirin und nichtsteroidale Antiphlo- 3Therapie. Kurzfristig nach dem Trauma Ibuprofen oder
gistika die Ursache. Paracetamol, keine Dauertherapie. Bei Chronifizierung erfolgt
die Behandlung wie beim chronischen Spannungskopf-
3Symptome. Der Schmerz ist bilateral, diffus, dumpf, nicht schmerz.
pulsierend und ohne vegetative Begleitsymptome. Migränepa-
tienten mit Triptanübergebrauch erleben oft zuerst eine höhere
Migränefrequenz, danach einen pulsierenden, klopfenden
Kopfschmerz, teils mit Übelkeit. Der Schmerz ist oft schon
beim Aufwachen vorhanden. Oft glauben die Patienten an eine
16.6 · Trigeminusneuralgie und andere Gesichtsneuralgien
417 16
Facharzt
Andere Kopfschmerzformen
Eiscreme-Kopfschmerz. Dieses Syndrom ist gar nicht selten: »Exercise-headache«. Ähnlichen Charakter wie der o.g. Kopf-
Beim Schlucken eines größeren Bissens von Eiscreme oder schmerz hat auch dieser Schmerztyp, der während extremer
nach einem großen Schluck eines eiskalten Getränks (bestes körperlicher Aktivität (Marathon, Gewichtstraining) auftritt.
Beispiel: Frozen Margarita) kommt es mit Latenz von weni-
gen Sekunden zu einem sehr intensiven stechenden »Chinese food headache«. Dieser wird auch als Glutamat-
Schmerz in der Stirn oder hinter einem Auge. Der Schmerz induzierter Kopfschmerz bezeichnet. Er tritt mit Stunden La-
sistiert nach längstens einer halben Minute, kann aber rezidi- tenz im Anschluss an ein mit dem Geschmacksverstärker
vieren (obwohl er in der Regel so stark war, das niemand auf Glutamat angereichertes Essen auf, ist oft halbseitig und von
die Idee kommt, ihn noch mal zu provozieren. Eine Therapie einem Katerkopfschmerz nur schwer zu unterscheiden. Er
erübrigt sich und die Prophylaxe ist ziemlich offensichtlich: rezidiviert gern und scheint umso stärker aufzutreten, je mehr
In kleinen Schlucken trinken. Glutamat in der Speise war.

Koitaler (Orgasmus-) Kopfschmerz. Er tritt als heftiger, Katerkopfschmerz. Für diesen Kopfschmerz sind Auslöser,
holozephaler oder bifrontaler Kopfschmerz gegen Ende des Symptomatik und vegetative Begleiterscheinungen besonders
Verkehrs fast ausschließlich bei Männern, auf. Er ist oft so jungen Männern bestens bekannt. Auch ist die Prävention klar
stark, dass die Betroffenen in die Notaufnahme gebracht und wird von den Betroffenen am Morgen nach dem auslö-
werden und alles getan wird, um eine Subarachnoidalblu- senden Ereignis auch wortreich beschworen: »Nie wieder
tung (SAB) auszuschließen, die nach dem Geschlechtsver- werde ich einen Tropfen Alkohol trinken«! Leider endet der
kehr auch nicht selten auftritt. Der Schmerz dauert manch- Vorsatz meist am gleichen Abend, vor allem, wenn man ge-
mal 1–2 h an und kann mit Ibuprofen behandelt werden. Die merkt hat, wie gut 600–800 mg Ibuprofen hilft (falls man es
Pathophysiologie ist nicht bekannt. Auch dieser Kopfschmerz vor Übelkeit überhaupt schlucken kann).
kann rezidivieren, aber sicher nur ganz selten. Daher wird Ein Hinweis, der über den Inhalt eines Lehrbuchs hinaus-
hier auch nicht vom Patienten erwartet, dass er in Zukunft geht und eher in die Rubrik »Lebenserfahrung« gehört: Wenn
den Auslöser meidet. man absehen kann, dass der Abend heftig werden könnte,
wirkt Ibuprofen präventiv, wenn man es während des Abends
oder vor dem Einschlafen nimmt.

16.6 Trigeminusneuralgie und zwischen einem Gefäßast und dem entsprechenden Trigemi-
andere Gesichtsneuralgien nusast, zurückgeführt werden kann.

Diese Neuralgien werden hier und nicht bei den Krankheiten 3Epidemiologie. Die Krankheit beginnt meist in der
des peripheren Nervensystems besprochen, da ihr wichtigstes 2. Lebenshälfte. Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie
Kriterium der anfallsartige Schmerz ist. Im Intervall ist in dem Männer. Die Schmerzanfälle sind weit mehr in der rechten
betroffenen Areal meist keine Sensibilitätsstörung festzustellen. als in der linken Gesichtshälfte lokalisiert. Die jährliche In-
Nach der aktuellen Klassifikation der Internationalen Kopf- zidenz liegt bei etwa 3/100.000 für Männer und bei 6/100.000
schmerzgesellschaft (IHS) unterscheidet man zwischen der für Frauen. Am häufigsten sind die Äste V2 und V3 entweder
klassischen (früher idiopathischen) Trigeminusneuralgie und allein oder in Kombination betroffen. Eine doppelseitige Tri-
der symptomatischen Trigeminusneuralgie. geminusneuralgie ist sehr selten (5%). In diesen Fällen werden
beide Seiten im Abstand von Monaten oder Jahren nach-
einander befallen. Fälle vor dem 30. Lebensjahr sind immer
16.6.1 Klassische Trigeminusneuralgie verdächtig auf eine andere symptomatische Ursache (z.B. mul-
tiple Sklerose).
3Definition. Die klassische (idiopathische) Trigeminus-
neuralgie ist als blitzartig einschießender, extrem heftiger, 3Pathophysiologie. In mehr als der Hälfte der Fälle liegt
elektrisierender und stechender Schmerz im Versorgungs- der idiopathischen Trigeminusneuralgie eine enge Beziehung
gebiet eines oder mehrerer Trigeminusäste definiert. Die At- eines arteriellen Astes zu einer Trigeminuswurzel (»Gefäß-
tacken halten typischerweise Sekunden, selten auch länger Nerven-Konflikt«) zugrunde. An erster Stelle ist es die A. cere-
(<2 min) an und treten sowohl spontan als auch durch Reize belli superior, die durch degenerative Gefäßveränderungen
getriggert (Kauen, Sprechen, Schlucken oder Zähneputzen) elongiert wird, den Nerven komprimiert und dadurch zu einer
auf. Zwischen den Attacken besteht Beschwerdefreiheit. Die Trigeminusneuralgie im 2. und 3. Ast führt (. Abb. 16.1). Auf-
Attacken können täglich über Monate auftreten. Heute weiß grund der dauernden Reizung des Nerven durch den pul-
man, dass auch eine große Zahl der klassischen Neuralgien sierenden Gefäßast kommt es zu einer fokalen Läsion der My-
auf eine anatomische Variante, nämlich einen engen Kontakt elinscheide und zu ungedämmten Kontakten zwischen sensib-
418 Kapitel 16 · Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien

4 Im Anschluss an die Attacke ist die betroffene Zone für


Sekunden bis Minuten schmerzrefraktär, d.h., sensible Reize
lösen jetzt keinen Schmerzanfall mehr aus.

Ist der Ramus ophthalmicus betroffen, strahlen die Schmer-


zen in die Stirn, die Scheitelgegend und das Auge ein, begleitet
von Rötung der Stirn, konjunktivaler Injektion mit Lichtscheu
und Tränenfluss. Im Anfall kneift der Patient das Auge krampf-
haft zu. Der N. nasociliaris aus dem 1. Trigeminusast versorgt
Nasenrücken, Schleimhaut, Kornea und Iris. Triggerpunkt am
inneren Augenwinkel.
Bei Neuralgie des Ramus maxillaris befällt der Schmerz
Oberlippe, Nasenflügel, Nasenschleimhaut, Gaumen und Zäh-
ne des Oberkiefers.
Beim Ramus mandibularis sind Unterlippe, Zunge und
Unterkiefer betroffen. Dabei beißen viele Kranke reflektorisch
die Kiefer zusammen.
Die Lokalisation der Schmerzen führt leicht zur Fehldiag-
nose einer Zahn- oder Kieferhöhlenaffektion, so dass den
Kranken nicht selten alle (!) Zähne extrahiert und die Kiefer-
höhlen gespült und operiert werden. Die Beachtung des
Schmerzcharakters (Tic douloureux) sollte vor einem solchen
Irrtum bewahren.

3Verlauf. Die Attacken treten zunächst nur sporadisch, im


Abstand von Wochen und Monaten auf. Später nehmen sie an
Häufigkeit immer mehr zu, bis sie sich schließlich viele Male
am Tag wiederholen. Nachts bleibt der Patient meist verschont.
Über längere Sicht ist der Verlauf wellenförmig, mit Perioden
von Wochen und Monaten, in denen nur wenige Attacken auf-
treten.
Gewöhnlich ist zunächst das Gebiet des 2. oder 3. Astes be-
troffen. Mit längerer Krankheitsdauer werden die Schmerzanfäl-
. Abb. 16.1a,b. Vaskuläre Kompression der Trigeminuswurzeln.
le nicht nur schwerer und häufiger, sondern breiten sich auf das
a Seitliche Ansicht, b Detaildarstellung der neurovaskulären Bezie-
hungen am Austritt der Trigeminuswurzeln. (W. Seeger, Freiburg)
benachbarte Areal aus. Die Anamnese deckt bei vermeintlich
kontinuierlichen Schmerzen oft auf, dass es sich um eine rasche
Folge von Schmerzattacken handelt, oder es liegt ein atypischer
Gesichtsschmerz vor.
len und Schmerzafferenzen. Die Schmerzattacken werden auf Anfangs setzen die Schmerzanfälle spontan ein. Später
solche abnorme Nebenschlüsse (Ephapsen) im peripheren werden sie immer mehr durch äußere Reize, wie Berührung,
16 Nerven zurückgeführt. Dadurch werden Berührungen als kalten Luftzug, Kauen, Trinken, Sprechen, Schlucken und
Schmerzen empfunden. schon leichte mimische Bewegungen ausgelöst. In diesem Sta-
dium wagen die Kranken oft nicht mehr, ins Freie zu gehen
3Symptome. Die Krankheit ist am treffendsten durch die oder sich in dem betroffenen Hautgebiet zu waschen und zu
alte Bezeichnung »Tic douloureux« charakterisiert. Ihr wich- rasieren. Man muss sich davor hüten, die reaktive ängstliche
tigstes Symptom sind Schmerzattacken, die nach Qualität, Lo- Gespanntheit oder resigniert-depressive Verstimmung als psy-
kalisation, Auslösung und Ablauf unverkennbar sind. Die chopathische oder neurotische »Ursache« der Schmerzen an-
Schmerzen halten sich stets an das Territorium des betroffenen zusehen. Fälle von Suizidalität sind bekannt. Dauerschmerzen
Trigeminusastes. gehören nicht zum Krankheitsbild. Die Anamnese deckt bei
Spontan oder nach Reizung der Triggerzonen tritt der ty- vermeintlich kontinuierlichen Schmerzen oft auf, dass es sich
pische Ablauf der Neuralgie auf: um eine rasche Folge von Schmerzattacken handelt, oder es
4 Blitzartig setzt ein heftigster, brennender Schmerz im Ver- liegt ein atypischer Gesichtsschmerz vor.
sorgungsgebiet eines Trigeminusastes oder in zwei benachbar-
ten Arealen ein, der nur wenige Sekunden, ganz selten einige 3Neurologische Untersuchung. Bei der Untersuchung ver-
Minuten anhält. halten sich die Patienten ängstlich und abwehrend. Sofern dies
4 Während der Schmerzattacke kontrahiert sich die mimi- zumutbar ist, löst Berührung bestimmter Triggerzonen oder
sche Muskulatur in dem betroffenen Gebiet tonisch oder klo- Druck auf den Austrittspunkt des betroffenen Trigeminusastes
nisch. den typischen Schmerzanfall aus. Nach längerer Krankheits-
16.6 · Trigeminusneuralgie und andere Gesichtsneuralgien
419 16
um deutliche Beschwerdenbesserung zu erzielen. Bei Oxcarba-
zepin sind regelmäßige Natriumkontrollen notwendig.
4 Auch Gabapentin p.o. ist wirksam. Die Aufdosierung er-
folgt schneller als bei Epilepsie: Wir beginnen meist mit 800 mg
pro Tag. Eine Steigerung bis auf 2400 mg pro Tag ist möglich.
4 Offensichtlich hat auch das neue Antiepileptikum Proga-
balin (Lyrika®) eine sehr gute Wirkung auf den neuropathi-
schen Schmerz. Es hat, wie Oxcarbazepin, deutlich geringere
Nebenwirkungen und kann entsprechend schnell aufdosiert
werden. Ähnliches gilt für Lamotrigin und Topiramat, weniger
für Valproat.
4 Das Antiepileptikum Phenytoin hat den gleichen Wirkungs-
mechanismus wie Carbamazepin (300–400 mg/Tag p.o.).
4 Clonazepan aktiviert den Benzodiazepinrezeptor, der ein
Teil des GABA-Rezeptors ist (3–8 mg/Tag p.o.).
4 Der GABA-B-Rezeptoragonist Baclofen ist in einer Dosis
von 25–75 mg wirksam.
4 Misoprostol ist eine Option zur Behandlung der Trigemi-
nusneuralgie bei MS. Es ist ein Prostaglandin-E-Analogon. Die
Wirksamkeit wurde in Dosierungen um 3-mal 200 μg belegt.
Das Präparat ist in Deutschland nur über die internationale
Apotheke erhältlich.
4 Pimozid (Orap®) ist ein hochpotentes Neuroleptikum,
das bei therapieresistenten Patienten in einer Dosis von 4–
12 mg teilweise wirksam war. Konventionelle Analgetika sind
. Abb. 16.2. MRT N. Trigeminus. Gefäß-Nerven-Konflikt bei Trigemi-
wirkungslos.
nusneuralgie im hochauflösenden Hirnnerven-MRT. Der N. trigeminus
wird von einer Gefäßschleife komprimiert und zeigt an dieser Stelle Die Behandlung sollte als Monotherapie erfolgen; bei Thera-
ein Neuropathiesignal (Pfeil). (B. Kress, Frankfurt) pieresistenz als Kombinationstherapie mit Substanzen unter-
schiedlicher Wirkmechanismen (z.B. Carbamazepin und
Baclofen). Die Dosis sollte so lange erhöht werden, bis weit-
dauer lassen sich bei etwa 1/4 der Patienten geringfügige Sen- gehende Schmerzfreiheit eingetreten ist oder intolerable Ne-
sibilitätsstörungen im betroffenen Trigeminusareal nachwei- benwirkungen aufteten. Dosisanpassungen werden häufig
sen. Abschwächung des Kornealreflexes, stärkere Sensibilitäts- notwendig. Nach 4-6 Wochen Beschwerdefreiheit kann die
ausfälle oder Lähmung des motorischen Trigeminus zeigen Dosis stufenweise reduziert werden.
eine symptomatische Form an.
3Operative Therapie. Diese wird gewöhnlich erst ange-
3Diagnostik. An erster Stelle steht die genaue Analyse der wendet, wenn die Möglichkeiten der konservativen Therapie
Schmerzanfälle nach den oben geschilderten Kriterien. Elek- erschöpft sind. Andererseits wäre es nicht vertretbar, den Lei-
trophysiologische Untersuchungen sind bei idiopathischer denszustand des Patienten über Gebühr zu verlängern, wenn
Trigeminusneuralgie unergiebig. die medikamentöse Behandlung offensichtlich ohne den ge-
MRT-Nachweis einer vaskulären Kompression: Die Ner- wünschten Erfolg bleibt.
venkompression beruht am häufigsten auf einem Kontakt mit 4 Mikrovaskuläre Dekompression (Jannetta-Operation):
der A. cerebelli superior (ca. 80%, . Abb. 16.2), seltener und in Auf der Beobachtung der Gefäß-Nerven-Beziehung beruht die
absteigender Häufigkeit mit pontinen Venen, der A. cerebelli operative Behandlung durch neurovaskuläre Dekompression
inferior anterior oder anderen kleineren Gefäßen. nach Kraniotomie der hinteren Schädelgrube. Dabei wird eine
Kompression der Trigeminuswurzel durch eine elongierte
3Medikamentöse Therapie. In vielen Fällen wird zunächst Kleinhirnarterie neben der Brücke operativ gelöst. Die Erfolgs-
eine konservative Therapie versucht. Wie bei jedem Schmerz- quote wird initial mit 80% angegeben, sinkt aber im Verlauf auf
zustand, ist der Erfolg auch davon abhängig, dass man die Me- etwa 60%. Das Risiko ist bei mikroneurochirurgischem Vorge-
dikamente bestimmt und überzeugend verordnet. hen gering (Mortalität unter 0,5%).
4 Man gibt heute in erster Linie Carbamazepin oder Oxcar- 4 Transkutane Therapien: Eine weitere, Erfolg versprechende
bazepin (Trileptal®) p.o., einen Blocker der schnellen Na-Ka- Operationsmethode ist die stimulationsgesteuerte Thermokoa-
näle, der hochfrequente Entladungen in Nerven blockiert gulation des Ganglion Gasseri in Ultrakurznarkose, bei der die
(7 auch Kap. 14). Die Therapie muss bis zur deutlichen weniger stark myelinisierten schmerzleitenden C-Fasern durch
Schmerzlinderung oder dem Auftreten von Nebenwirkungen einen thermischen Reiz ausgeschaltet werden. Ein anderes, nur
ausdosiert werden. In der Regel braucht man 800–1500 mg noch selten angewandtes Verfahren ist die Glyzerinrhizolyse.
retardiertes Carbamazepin oder 600–2400 mg Oxcarbazepin, Für diese Verfahren liegt die Erfolgsrate bei etwa 90% und bleibt
420 Kapitel 16 · Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien

auch über längere Zeit relativ hoch. Eine sehr unangenehme bilaterale Neuralgien. Bei den symptomatischen Formen sind
Komplikation ist die Anaesthesia dolorosa in einem oder meh- die Schmerzparoxysmen die gleichen wie bei der klassischen
reren Trigeminusästen. Form, doch kann eine Sensibilitätsstörung im Versorgungsbe-
4 Radiochirurgische Behandlung: Bei der radiochirur- reich des betroffenen Trigeminusastes vorhanden sein und es
gischen Behandlung mit Gamma-Knife (oder Linearbeschleu- wird keine Schmerzfreiheit zwischen den Attacken gefordert.
niger) wird der N. trigeminus im Bereich seiner Eintrittzone Eine Abschwächung des Kornealreflexes, deutliche Sensibili-
hirnstammnah stereotaktisch mit Dosen zwischen 70 und tätsausfälle oder Paresen des motorischen N. trigeminus wei-
90 Gy in einer einmaligen Sitzung bestrahlt. Sie führt bei etwa sen auf eine symptomatische Trigeminusneuralgie hin.
50% der Patienten zu Schmerzfreiheit. Der Effekt tritt verzö- Erfahrungsgemäß sind Schmerzen im 1. Ast fast immer
gert auf. Im Vergleich zu anderen ablativen Verfahren ist die durch eine andere Ursache als eine neurovaskuläre Kompres-
radiochirurgische Behandlung die Methode mit der geringsten sion bedingt. Auch das Auftreten in allen drei Ästen oder
Erfolgsquote, aber auch der niedrigsten Komplikationsrate. beidseitig spricht für eine andere Ursache, z.B. einen Knochen-
prozess (Epipharynxkarzinom, Metastasen, M. Paget), einen
Periphere Eingriffe an den Trigeminusästen, die Entfernung Tumor des Kleinhirnbrückenwinkels, umschriebene Hirn-
von Zähnen oder Maßnahmen der manuellen Medizin sind stammischämien und Angiome des Hirnstamms, oder eine
dagegen sinnlos. basale Meningeose. Etwa 2% der Patienten mit multipler Skle-
Zur Indikationsstellung für eine operative Behandlung rose entwickeln zu Beginn oder im Verlauf der Erkrankung
gehört, dass man sich über die psychische Verfassung des Pa- eine Trigeminusneuralgie. Bei der multiplen Sklerose führt die
tienten im Klaren ist. Je atypischer die Symptomatik und je Schädigung der Myelinscheide im Bereich der Eintrittsstelle
stärker die psychischen Auffälligkeiten sind, desto weniger der Nervenwurzel zu den Schmerzattacken.
Erfolg darf man sich von der Operation versprechen.

16.6.3 Glossopharyngeusneuralgie
16.6.2 Symptomatische Trigeminusneuralgie
3Ursache und Symptome. Auch die Glossopharyngeus-
Patienten mit symptomatischer Trigeminusneuralgie sind jün- neuralgie soll mehrheitlich auf einer neurovaskulären Kom-
ger und haben wesentlich häufiger einen Befall von V1 oder pression beruhen, bei der die A. cerebelli posterior inferior, die

Exkurs
Mikrovaskuläre Dekompression
Der Eingriff, benannt nach dem Erstbeschreiber Janetta, und in 16% haben sich die Beschwerden gebessert. Nach
erfolgt über eine subokzipitale Kraniektomie. Die Patienten 10 Jahren sind noch 50% der Betroffenen schmerzfrei.
befinden sich in Rückenlage oder in halbsitzender Position. Die perioperative Mortalität liegt bei 0,5%, postoperative
Der Gefäß-Nerven-Kontakt wird durch Einfügen eines klei- Komplikationen kommen bei etwa 4% der Patienten vor. Eine
nen Stücks alloplastischen Materials (z.B. Teflon) beseitigt. Hypästhesie im Trigeminusgebiet ist selten.
Nach dem Eingriff sind etwa 80% der Patienten schmerzfrei

Leitlinien Therapie der Trigeminusneuralgie*


16 4 Carbamazepin ist das Mittel der Wahl zur Behandlung 4 Operative Therapieverfahren sollten bei Versagen der
der Trigeminusneuralgie. medikamentösen Prophylaxe bzw. intolerablen Nebenwir-
4 Die Wirkung von Oxcarbazepin ist derjenigen von Carba- kungen der medikamentösen Prophylaxe eingesetzt werden.
mazepin wahrscheinlich vergleichbar, die Substanz ist aller- 4 Die Wahl des operativen Verfahrens richtet sich nach dem
dings nicht zur Behandlung der Trigeminusneuralgie zuge- allgemeinen Operationsrisiko und der Genese der Trigeminus-
lassen. neuralgie.
4 Zur Akuttherapie von schweren Exazerbationen eignet 4 In der operativen Therapie der Trigeminusneuralgie gesi-
sich Phenytoin, i.v. gegeben, alternativ als Mittel der zweiten chert wirksam sind die mikrovaskuläre Dekompression nach
Wahl das hochpotente Neuroleptikum Pimozid. Jannetta sowie perkutane Verfahren im oder am Ganglion
4 Wirksame Medikamente der zweiten Wahl sind orales Gasseri (temperaturgesteuerte Koagulation nach Sweet, Glyze-
Phenytoin, Baclofen, Lamotrigin und Gabapentin. rinrhizolyse, Ballonkompression) und die radiochirurgische
4 Misoprostol ist zur Behandlung der Trigeminusneuralgie Behandlung mittels Gamma-Knife oder Linearbeschleuniger.
bei Multipler Sklerose wirksam.
4 Symptomatische Trigeminusneuralgien, die einer kau-
salen Operation zugänglich sind, sollten primär operativ * Modifiziert nach den Leitlinien der DGN, 2008 (www.dgn.org/
behandelt werden, ansonsten werden auch symptomatische leitlinien.html)
Trigeminusneuralgien primär konservativ behandelt.
16.8 · Arteriitis cranialis (Arteriitis temporalis)
421 16
A. vertebralis sowie venöse Gefäße den Nerv komprimieren 3Differentialdiagnose. Dauerschmerzen im Gesicht, die
können. Sie äußert sich in anfallsartigen, selten andauernden mit Sensibilitätsstörungen verbunden sind, liegt oft ein fass-
Schmerzen in der Tonsillenregion, im Zungengrund oder Mit- barer organischer Krankheitsprozess zugrunde, z.B. Nasenne-
telohr mit Ausstrahlung in den Rachen, die von Geschmacks- benhöhlenentzündung, Neurinom der Trigeminuswurzel,
störung und Husten begleitet sind. Sie werden durch Schlu- Karzinom der Schädelbasis oder Zosterneuralgie.
cken, Sprechen, Zungenbewegungen, besonders durch Trinken
kalter Flüssigkeit ausgelöst. Der Schmerz ist so heftig, dass
die Patienten, ähnlich wie bei Trigeminusneuralgie, das Essen 16.7.2 Zoster ophthalmicus
unterlassen. Die typische Neuralgie ist einseitig. Im Anfall sind
Mund und Rachen trocken. Es kann während der Attacken zu Er kann als Prodromalerscheinung und im Stadium der Zos-
Husten, Heiserkeit, Hypersalivation oder Lakrimation kom- terneuralgie als atypischer Gesichtsschmerz diagnostiziert
men. In ca. 10% der Fälle kommt es zu einer begleitenden werden. Die Herpesbläschen oder ihre Residuen sowie die Sen-
Bradykardie bis Asystolie, Blutdruckabfällen und Synkopen. sibilitätsstörung werden die zutreffende Diagnose aber immer
gestatten.
3Diagnostik. Wichtig ist die Untersuchung auf eine symp-
tomatische Neuralgie (CT der Schädelbasis, Region des Fora-
men jugulare, Processus styloideus). 16.7.3 Glossodynie

3Therapie. Akut erfolgt eine lokale Oberflächenanästhesie Brennende Zungenschmerzen im höheren Lebensalter, sind,
mit Xylocainspray oder Infiltrationsanästhesie mit 1%igem wenn metabolische Störungen (Vitaminmangel) ausgeschlos-
Novocain. Die medikamentöse Dauerbehandlung entspricht sen sind, fast immer Ausdruck einer monosymptomatischen,
der bei Trigeminusneuralgie. somatisierten Depression. Die Therapie erfolgt mit Antidepres-
siva, die aber oft von den Patienten nicht akzeptiert werden.

16.7 Andere Gesichtsschmerzen


16.7.4 Läsion des Nervus lingualis
16.7.1 Atypischer Gesichtsschmerz
Bei der iatrogenen Läsion des N. lingualis durch Entfernung
Ich behalte diese Überschrift bei, da diese Krankheitsgruppe eines Weisheitszahnes verspürt der Patient unmittelbar ein Ge-
hiermit am besten beschrieben ist, während die neuen Kopf- fühl wie einen heftigen Schlag in der Zunge, die sofort taub ist.
schmerzklassifikation hierfür die Bezeichnung »anhaltender Stellt sich das Taubheitsgefühl erst später ein, kann die Nerven-
idiopathischer Gesichtsschmerz« vorsieht. Dabei definiert läsion auf ein Hämatom zurückgeführt werden. Später treten
die IHS diesen als Schmerz, der nicht die Charakteristika einer die Schmerzen in den Hintergrund, nur ganz selten resultiert
Neuralgie hat und nicht symptomatisch ist, atypisch also. eine bleibende Neuralgie, die nach den üblichen Regeln (s. Tri-
geminusneuralgie) behandelt wird.
3Symptome. Dieser Schmerz tritt nicht anfallsweise auf,
sondern ist täglich für den größten Teil des Tages vorhanden.
Er ist nicht in das Versorgungsgebiet eines Trigeminusastes 16.8 Arteriitis cranialis
lokalisierbar, er ist nicht blitzartig und »hell«, sondern dumpf, (Arteriitis temporalis)
bohrend und hat sein Maximum meist in einer Wange, einem
Auge oder der Nase, kann sich aber später über das gesamte 3Epidemiologie. Diese Krankheit betrifft hauptsächlich Pa-
Gesicht, den behaarten Kopf und in den Hals ausdehnen. Es tienten im Alter über 50 Jahren. Frauen sind häufiger betroffen
gibt keine Triggerpunkte. Sensible Ausfälle fehlen. Frauen im als Männer (3:1). Die Prävalenz liegt bei 15–30 Patienten pro
mittleren Lebensalter sind meist betroffen. Die Pathogenese ist 100.000 Einwohnern. Sie weist eine immungenetische Assozia-
unbekannt. Auch hier ist die Kombination mit Depression tion mit HLA-DR4 bzw. DRB1*04-Allelen auf. Eine Assoziati-
oder Angststörung bemerkenswert. Alle apparativen Zusatz- on mit einer Polymyalgia rheumatica (PMR) liegt bei ca. 60%
untersuchungen sind normal. der Patienten vor. Bei etwa 20% der Betroffenen mit PMR
(7 Kap. 34) tritt auch eine Arteriitis cranialis auf. Im Durch-
3Therapie. Der Schmerz wird mit Amitriptylin behandelt, schnitt liegt der Krankheitsbeginn um 70 Jahre.
einem trizyklischen Antidepressivum, das auch eine analge- Besonders betroffen sind die Carotis-externa-Äste (v. a.
tische Wirkkomponente besitzt (s. Pathophysiologie des chro- A. temporalis superficialis, seltener A. occipitalis, die Aa. ciliares
nischen Spannungskopfschmerzes). Es ist wichtig, dem Pati- posteriores, oder andere), die A. ophthalmica (30%), der Aor-
enten zu erläutern, dass das Mittel bei ihm nicht als Antide- tenbogen und Aortenbogenäste (10–15%). Selten sind intrakra-
pressivum verordnet wird, obwohl (s.o.) dies auch Sinn machen nielle Gefäße, Koronarien oder periphere Arterien beteiligt.
kann. Versuchsweise können auch Antikonvulsiva wie Carba-
mazepin, Oxcarbazepin, Gabapentin, Pregabalin oder Topira- 3Pathophysiologie und Histologie. Zugrunde liegt eine
mat eingesetzt werden, ggf. auch in einer Kombination mit T-Zell-vermittelte autoimmune Riesenzellarteriitis der Vasa mus-
einem Antidepressivum. culorum bei genetischer Prädisposition, möglicherweise infekt-
422 Kapitel 16 · Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien

ausgelöst. Diskutiert werden verschiedene Viren (HBV, VZV). Farbduplexsonographie der Temporalarterien: Man
Ein enger zeitlicher Bezug kann zu Infektionen mit Mycoplasma findet eine Wandverdickung (echoarmer »Halo«), Stenosen,
pneumoniae, Parvovirus B19 und Chlamydia pneumoniae beste- Kalibersprünge und eine verminderte Wandpulsation. Ein po-
hen. Histologisch findet sich eine granulomatöse Panarteriitis sitiver Befund bei typischer Klinik reicht wahrscheinlich zur
mittelgroßer und großer Arterien mit Riesenzellen oft in der Diagnosestellung ohne zusätzliche Biopsie.
Nähe der unterbrochenen Lamina elastica interna mit lympho- Bildgebende Diagnostik nur beim Verdacht auf intrakra-
mononukleärer Infiltration. Eine Stenosierung entsteht vorwie- nielle Gefäßbeteiligung (dann MRT und MRA).
gend durch Intimaproliferation.
3Therapie. Selbst wenn die Diagnose noch nicht gesichert
3Symptome. Als Allgemeinsymptome mit meist schlei- ist, sollte bei dringendem Verdacht sofort mit einer Steroidbe-
chendem Beginn werden Abgeschlagenheit, Muskelschmer- handlung begonnen werden. Innerhalb der ersten Tage ändert
zen, Fieber und Gewichtsverlust angegeben. Mehr als 70% sich durch die Kortikoidgabe nichts an der Aussagekraft der
klagen über starke, oft pulssynchrone Kopfschmerzen mit Biopsie.
bohrend-stechender Qualität, die meist frontotemporal ge- 4 Man behandelt mit 1 mg/kg KG Prednisolon oral, langsam
legen sind. Sie verstärken sich beim Husten, bei Kopfbewe- ausschleichend. Nach frühestens 4 Wochen kann eine Tages-
gungen oder beim Kauen. Die Arterien sind druckschmerz- dosis von 30 mg erreicht werden. Anschließend wird die Dosis
haft und vermindert pulsatil. Häufig strahlen sie in die Stirn, um 2,5 mg alle 2 Wochen reduziert. Nach Erreichen einer Ta-
die Schläfe oder das Ohr aus. In dem betroffenen Gebiet ist gesdosis von 15 mg kann man weiter reduzieren (1 mg/Monat,
die Haut gegen Berührung überempfindlich. sofern die Remission anhält und die CRP <5 mg/l ist.
In 12–15% der Fälle kommt es zu Ptose, Augenbewegungs- 4 Beim Rezidiv wird wieder die letzte wirksame Dosis, um
schmerz und Doppelbildern durch Lähmung der Augenmus- 10 mg Prednisolon erhöht, gegeben.
keln. Die Augenbeteiligung (ca. 30%) führt zum Visusverlust 4 Bei drohender Erblindung wird mit einer intravenösen
durch eine anteriore ischämische Optikusneuropathie. Das Gabe von Prednisolon 500–1.000 mg täglich über 3–5 Tage be-
Risiko der Erblindung wird allerdings überschätzt. Hemianop- gonnen, anschließend wird auf 1 mg/kg KG oral umgestellt.
sie durch Ischämie der Sehrinde sind selten. Schmerzen in der 4 Wenn Kortikoide eingespart werden müssen, gibt man
Kaumuskulatur (Claudicatio masticatoria) sind häufig. Die Methotrexat (MTX) 10–25 mg/Woche plus Folsan.
Krankheit verläuft schubartig. 4 Zu den unterstützenden Maßnahmen zählen die Gabe von
Kalzium und Vitamin D zur Osteoporoseprophylaxe, ein Ma-
3Diagnostik. Die A. temporalis wird innerhalb von 2 Wo- genschutz (Pantozol 20 mg), regelmäßige Blutzuckerkontrol-
chen nach Einsetzen der Schmerzen verdickt und gestreckt len und die Gabe von ASS 100 mg.
und sie pulsiert nicht. Das Allgemeinbefinden ist stark beein- 4 Zusätzlich wird im akuten Stadium ASS 100 mg/Tag emp-
trächtigt. Fieberschübe, Anämie, Sideropenie, Leukozytose mit fohlen. Hierunter können 50% der Patienten innerhalb von
Eosinophilie, stark beschleunigte Blutkörperchen-Senkungs- 2 Jahren die Steroide absetzen.
Geschwindigkeit (BSG) und α2-Globulinvermehrung im Se-
rum erleichtern die Diagnose, die schon bei der ersten Unter- Der Erfolg von Methotrexat und Azathioprin zur Einsparung
suchung dadurch wahrscheinlich wird, dass eine Kompression von Cortison im Langzeitverlauf wird kontrovers diskutiert.
der A. carotis die Schmerzen bessert. Die zusätzliche Gabe von Immunsuppressiva, z.B. MTX, bei
Diagnostische Kriterien nach der American Rheumatolo- hohem Kortikoidbedarf kann erwogen werden.
gical Association sind:
4 Alter über 50 Jahre,
16 4 BSG >50 erste Stunde, 16.9 Karotidodynie
4 neuer Kopfschmerz,
4 Druckdolenz der A. temporalis und 3Definition. Hierbei handelt es sich um eine spontan auf-
4 positive Histologie. tretende (idiopathische) schmerzhafte Druckempfindlichkeit
im vorderen Halsdreieck, die sich speziell auf die A. carotis
Wenn 3 dieser 5 Kriterien erfüllt sind, kann die Diagnose mit communis und die Karotisgabel bezieht. Es ist umstritten, ob
hoher Sicherheit (Sensitivität und Spezifität über 90%) gestellt es sich bei diesem Syndrom um eine eigenständige Erkrankung
werden. handelt. Die neueste Klassifikation der Kopfschmerzen enthält
Laborbefunde: BSG (oft >80 m/h), C-reaktives Protein diese Diagnose nicht mehr, was auch vernünftig ist, da es sich
(CRP) erhöht (Anstieg in >90%, als Verlaufsparameter sen- nicht um einen Kopfschmerz handelt.
sitiver als die BSG). Zusätzliche Erhöhung der alpha-1- und
alpha-2-Globuline, des Fibrinogens und Ferritins sowie Ver- 3Symptome. Die Karotis ist einseitig druckschmerzhaft,
änderungen des Blutbildes (Anämie, Leukozytose, Thrombo- Schlucken und die Kopfdrehung schmerzen. Ein Horner-Syn-
zytose). drom oder Hirnnervenlähmungen sprechen gegen die Diag-
Biopsie der Schläfenarterie: Biopsiert wird ein mindes- nose.
tens 3 cm langes Segment, da segmentaler Befall möglich ist.
Das Biopsieergebnis ist hochspezifisch, aber nur wenig sensitiv 3Diagnose. Laborwerte sind unauffällig. Es findet sich
(bis zu 70% negative Befunde, je nach Indikationsstellung). keine BSG- oder CRP-Erhöhung, normale Vaskulitisparameter.
16.9 · Karotidodynie
423 16
. Abb. 16.3. Axiale Darstellung bei Karo-
tidodynie. Die Gefäßwand der rechten
A. carotis interna ist deutlich verdickt (Pfeile)
(a) und nimmt abnorm Kontratmittel auf
(Pfeile) (b)

a b

Die Ultraschalldiagnostik, die immer zum Ausschluss einer 3Therapie. Nichtsteroidale Antiphlogistika und Analgeti-
Dissektion durchgeführt werden muss, ist meist normal, kann ka werden empfohlen, helfen allerdings nur in einem Teil der
aber auch eine unilaterale, echoarme Wandverdickung zeigen. Fälle. Steroide wie bei Arteriitis cranialis (s.o.) sollen wirksam
Weitere Untersuchungen wie CT oder MRT sind nicht erforder- sein. Die Beschwerden sistieren spontan nach 1–2 Wochen.
lich, werden aber doch meist durchgeführt. In der MRT ist be- Rezidive, auch auf der Gegenseite, sind häufig.
sonders eindrucksvoll die Verdickung der Gefäßwand zu erken-
nen, die allerdings das Lumen nicht einengt (. Abb. 16.3).

In Kürze

Kopfschmerz

Migräne. Besonders häufige Form von periodisch auftre- Spannungskopfschmerz. Dumpfer und drückender holoze-
tenden, dumpf-drückenden oder pulsierenden Kopfschmer- phaler oder bifrontaler Kopfschmerz, dauert wenige Stun-
zen, die entweder halbseitig (Hemikranie) empfunden den bis max. 1–2 Tage. Tritt bei fast jedem im Laufe des Lebens
werden oder sich doppelseitig über die vordere Kopfhälfte auf und hat keine vegetativen Begleiterscheinungen. Thera-
ausbreiten; kommt bei 5–10% der Durchschnittsbevölkerung pie: Medikamentöse Therapie; bei chronischen Spannungs-
vor. Frauen etwa doppelt so häufig betroffen wie Männer. kopfschmerzen Antidepressiva, Akupunktur, Verhaltensthera-
Begleiterscheinungen: Vegetative Störungen und vorüber- pie, Entspannungsübungen.
gehende neurologische Reiz- und Ausfallsymptome wie
Appetitlosigkeit, Übelkeit, Licht- und Lärmempfindlichkeit. Weitere Kopfschmerzformen. Episodischer, chronischer
Formen: »Migräne ohne Aura«: Halbseitiger Kopfschmerz Spannungskopfschmerz und andere chronische tägliche Kopf-
oft mit Übelkeit, wenn keine ophthalmologischen oder schmerzen wie Status migränosus und chronischer Spannungs-
neurologischen Symptome vorausgehen. Treten Flimmer- kopfschmerz. Glaukomanfall, zervikogener Kopfschmerz,
skotome, andere Sehstörungen, Aphasie, Hypaesthesie posttraumatischer Kopfschmerz sowie medikamentenindu-
oder Lähmungen vor der Kopfschmerzattacke auf, liegt zierter Dauerkopfschmerz.
eine »Migräne mit Aura« vor. Therapie: Medikamentöse
Therapie, Akupunktur, Entspannungsübungen. Gesichtsneuralgien

Cluster-Kopfschmerz. Er gehört zu den trigeminoauto- Trigeminusneuralgie. Anfallsartig auftretender heftigster,


nomen Kopfschmerzen und befällt überwiegend Männer, brennender Schmerz im Versorgungsgebiet eines Trigeminus-
äußert sich in Attacken von heftigsten, halbseitigen Schmer- astes oder in zwei benachbarten Arealen, hält wenige Sekun-
zen, meist im Auge oder in Schläfenregion lokalisiert, wech- den, selten einige Minuten an. Auslöser: Reizung bestimmter
selt fast nie die Seite. Tritt im regelmäßigen Rhythmus für Haut- oder Schleimhautbezirke (Triggerzonen oder Trigger-
Tage bis Wochen (cluster) jeweils zur gleichen Stunde auf. punkte). Begleiterscheinungen: Vegetative Störungen wie
Zwischen zwei Perioden kann eine Pause von Monaten oder Tränenfluss, Nasensekretion sowie Kontraktion der mimischen
Jahren liegen. Begleiterscheinungen: Vegetative Störungen Muskulatur, Hautrötungen. Therapie: Medikamentöse The-
wie Tränenfluss, Nasensekretion sowie Gesichtsröte, Hyper- rapie, Jannetta-Operation, transkutane und medikamentöse
ämie der Konjunktiven. Therapie: O2-Inhalation, medikamen- Therapie, radiochirurgische Behandlung.
töse Therapie.
Zwei weitere Formen der Gruppe der trigeminoautono- Weitere Neuralgieformen.
men Kopfschmerzen sind die episodische und chronische Glossopharyngeusneuralgie: Anfallsartiger, selten andau-
paroxysmale Hemikranie und das SUNCT-Syndrom. ernder Schmerz in Tonsillengegend, im Zungengrund oder
Mittelohr.
6
424 Kapitel 16 · Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien

Dauerschmerz im Gesicht: Oft mit fassbarem, organischem >50 J., abnorme Temporalarterien, erhöhte BSG und CRP,
Krankheitsprozess, z. B. Nasennebenhöhlenentzündung, rasches Ansprechen auf Steroide.
Karzinom der Schädelbasis. Karotidodynie: Spontan auftretende (idiopathische) schmerz-
Arteriitis cranialis: Autoimmune Riesenzellarteriitis mit hafte Druckempfindlichkeit im vorderen Halsdreieck.
starken, oft pulssynchronen Kopfschmerzen bei Patienten

16
17

17 Schwindel
17.1 Benigner, paroxysmaler (peripherer) Lagerungsschwindel (BPPV) – 426

17.2 Neuritis vestibularis (akuter Labyrinthausfall) – 429

17.3 Phobischer Attackenschwankschwindel – 430

17.4 Menière-Krankheit – 430

17.5 Vestibularisparoxysmie – 432

17.6 Migräne mit vestibulärer Aura – 432

17.7 Schwindel bei zentralen Läsionen – 432

17.8 Schwindelformen mit gesteigerter Empfindlichkeit


gegenüber physiologischen Wahrnehmungen – 433
17.8.1 Kinetose (Bewegungskrankheit) – 433
17.8.2 Höhenschwindel – 433
426 Kapitel 17 · Schwindel

> > Einleitung


. Tab. 17.1. Häufigkeit der verschiedenen Schwindelformen*
Modifiziert nach Leitlinien der DGN 2008
Schwindel als Symptom, oder besser, als Wahrnehmung, ist sehr
häufig und vieldeutig. Genauere Häufigkeitsangaben sind schwer Diagnose Prozent
zu erhalten. Oft wird der Begriff Schwindel synonym für eine
Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel ca. 20%
allgemeine Befindlichkeitsstörung mit Unwohlsein und dem
Gefühl der Instabilität oder auch bei präsynkopalen Zuständen Phobischer Schwankschwindel ca. 15%
gebraucht. Schwindel im allgemeinen medizinischen Sinn ist
Zentral-vestibulärer Schwindel ca. 12%
weit verbreitet. Er gehört neben Kopfschmerzen zu den häufigs-
ten Beschwerden, die Patienten zum Arzt führen. Die Häufigkeit Vestibuläre Migräne ca. 10%
von Schwindel steigt mit dem Lebensalter: Mehr als 30% aller
Menschen, die älter als 65 Jahre sind, klagen über Schwindel, Menière unter 10%
und bei Patienten von 75 Jahren an ist Schwindel das häufigste Neuronitis vestibularis unter 10%
Symptom. Schwindel ist keine Krankheitseinheit, sondern um-
fasst fächerübergreifende multisensorische und sensomotorische Vestibularisparoxysmie unter 5%
Syndrome unterschiedlicher Ätiologie und Pathogenese. * Zahlen aus Spezialsprechstunde, in normalen Ambulanzen füh-
Als häufigste Schwindelform werden wir hier den gerichte- ren die Diagnosen Neuronitis vestibularis und peripherer Lage-
ten Schwindel besprechen, der vom Gleichgewichtsorgan ausge- rungsschwindel.
löst wird. Dieser ist gekennzeichnet durch eine akute Drehwahr-
nehmung, oft mit Übelkeit oder Erbrechen verbunden und sehr
belastend sowie angstauslösend. Auch der psychisch bedingte,
meist phobisch besetzte Schwindel wird erörtert. dert sind, resultiert eine multisensorische Fehlwahrnehmung,
Im Englischen wird sprachlich zwischen einer unsystemati- die von vegetativen Symdromen wie Überkeit, Schweißaus-
schen Unsicherheit mit Unwohlsein (dizziness) und gerichtetem bruch und Erbrechen, aber auch von psychophysiologischen
Schwindel mit Wahrnehmung einer Scheinbewegung (vertigo) Symptomen wie Panik, Angst oder Vernichtungsgefühl beglei-
unterschieden. Im Deutschen wird auch kurzfristiges oder länger tet sein kann. Schwindel wird nach Beginn, Auslöser, Dauer,
dauerndes Unwohlsein, Schwanken oder das Gefühl »als ob Rückbildung, Gerichtetsein, zusätzliche Symptome wie Nys-
der Boden unter den Füßen versinkt« Schwindel genannt. Es tagmus oder Fallneigung definiert. Die wichtigsten Formen
ist deshalb sehr wichtig, eine anschauliche Beschreibung der des Schwindels, unter Einschluss des »Schwindels zentraler
Schwindelphänomene in der Anamnese zu erhalten. Genese«, sind in . Abbildung 17.1 illustriert.
Schwindelbeschwerden sind häufig. Die Häufigkeit ver-
schiedener Unterformen ist in . Tab. 17.1 wiedergegeben.
Vorbemerkungen
3Definition. Schwindel (engl. Vertigo) beruht auf einer
komplexen, individuell stark unterschiedlich gefärbten fehler- 17.1 Benigner, paroxysmaler (peripherer)
haften Wahrnehmung von Eigen- oder Objektbewegung, ver- Lagerungsschwindel (BPPV)
bunden mit einer meist unangenehmen Störung der Orientie-
rung im Raum. Hierfür verantwortlich ist ein akutes oder 3Epidemiologie. Dies ist der häufigste organisch bedingte
chronisches Ungleichgewicht der sonst exakt aufeinander ab- Schwindel. Man schätzt, dass mehr als 10% der Menschen im
gestimmten vestibulären, optischen und somatosensiblen Af- Laufe ihres Lebens eine solche Schwindelattacke erleben. Die
ferenzen. Diese können weitgehend Imbalanzen kompensie- Attacken sind nach dem 50. Lebensjahr besonders häufig mit
ren, aber wenn diese Kompensationsmöglichkeiten überfor- einem Maximum in der 6. bis 7. Lebensdekade. Etwa ein Drit-
17

. Abb. 17.1. Die drei wichtigsten Arten des Schwindels (ohne Lagerungsnystagmus). (Nach Stenger 1967)
17.1 · Benigner, paroxysmaler (peripherer) Lagerungsschwindel (BPPV)
427 17
tel aller über 70-Jährigen hat ihn schon mindestens einmal steht er auf. Dabei hat er das Gefühl, leicht zur rechten Seite
erlebt. Mehr als 90% aller Fälle sind idiopathisch (Frauen:Män- abzuweichen. Er fühlt sich abgeschlagen, unsicher und verängs-
ner = 2:1). Rezidive sind häufig. tigt. Er sucht sofort einen Hals-Nasen-Ohrenarzt auf, der noch
einen leichten Nystagmus zur rechten Seite findet, aber sonst
3Pathogenese. Der Schwindel beruht auf einer Canaloli- keinen pathologischen Befund: Eine Lagerungsprüfung nimmt
thiasis. Es lagern sich traumatisch oder spontan abgelöste, an- er nicht vor.
organische, schwere Partikel der Utrikulusotolithen der Cupu- Zum Ausschluss einer neurologischen Ursache dieser
la in der darunter liegenden Ampulle des hinteren Bogengangs Schwindelattacke wird der Patient zum Neurologen überwiesen.
ab. Die Teilchen haften nicht an der Cupula an, sondern sind Dieser führt einen Lagerungsversuch durch, bei dem er den
frei im Bogengang beweglich und bilden einen Pfropf. Dieser Patienten aus dem Sitzen sehr schnell auf die rechte Seite legt.
übt bei der Lagerung einen Sog aus. Dieses Modell zum Pa- Prompt kommt es zu einem erneuten, wenn auch nicht ganz so
thomechanismus des BPPV erklärt alle typischen Eigen- schweren Schwindelanfall wie am Morgen. Der Neurologe beob-
schaften wie Latenz, Dauer, Richtung und Richtungsumkehr achtet einen Nystagmus nach oben mit rotatorischer Komponen-
des Nystagmus, Ermüdbarkeit und Mechanismus des Befrei- te zu rechten Seite. Beim Lagerungsversuch zur Gegenseite
ungsmanövers: Der Pfropf kann durch rasche Kopflagerung kommt es zu einer ganz kurz dauernden Schwindelempfindung,
zur Gegenseite aus dem Bogengang herausbewegt werden. dann zur anderen Seite und auch der Nystagmus schlägt kurz
Typische Auslöser sind: nach links. Die apparativen Zusatzuntersuchungen sind allesamt
4 Hinlegen oder Aufrichten im Bett, unauffällig.
4 Herumdrehen im Bett mit Lagerung auf das betroffene Unser Patient hat einen typischen, gutartigen, paroxysmalen
Ohr, Lagerungsschwindel erlebt. Bei dem Lagerungsversuch mit Be-
4 Bücken und wegung auch zur Gegenseite, den der Neurologe durchgeführt
4 Kopfreklination. hat, ist gleichzeitig schon die bestmögliche Therapie eingesetzt
worden. Trotzdem muss der Patient damit rechnen, dass bei
Symptomatische Fälle sind am häufigsten auf ein Schädeltrau- bestimmten, schnellen, auch unwillkürlichen Bewegungen im
ma oder eine Neuritis vestibularis zurückzuführen. Wachen oder Schlafen, erneut ein Lagerungsschwindel auftritt.
Er soll auch nach längerer Bettruhe, z.B. beim Mobilisieren Dieser ist und bleibt gutartig und kann auch in der Zukunft durch
nach Operationen auftreten. Rezidive sind häufig. Lagerungstraining wieder günstig beeinflusst werden (s.u.).

3Symptome. Die Patienten berichten über kurz dauernde 3Diagnose. Die Patienten haben gewöhnlich schon viele
Schwindelanfälle, meist mit einer rotierenden Scheinbewe- Ärzte aufgesucht, ohne dass die richtige Diagnose gestellt wur-
gung, die von Übelkeit, oft Schweißausbruch und Angstgefühl, de. Sie kann aber meist schon nach der Anamnese gestellt wer-
aber nicht von Ohrgeräuschen oder Hörstörung begleitet sind. den. Die Untersuchung des bewegungs-/lageninduzierten Nys-
Meist besteht eine kurze Latenz (bis zu 5 Sekunden) zwischen tagmus sollte unter der Frenzelbrille vorgenommen werden.
der auslösenden Bewegung und dem Schwindelbeginn. Die Vor Beginn der Seitwärtslagerung muss der Kopf für die Un-
Attacken dauern wenige Sekunden bis Minuten, danach klin- tersuchung (und auch für die spätere Behandlung) des rechten,
gen sie schnell ab, es bleibt aber ein unsicheres Gefühl und die hinteren Bogenganges um 45° nach links gewendet werden
Furcht vor der nächsten Attacke. und in dieser Wendung während der Lagerungsübung verblei-
Die Patienten haben oft eine Vermeidungsstrategie entwi- ben. Man legt den Patienten in die vermutete Schwindel auslö-
ckelt, in der sie die schwindelauslösende Lage instinktiv mög- sende Lage. Dies ist gewöhnlich die Seitwärtslage (rechtes oder
lichst selten einnehmen. Dennoch erfährt man durch gezieltes linkes Ohr unten), seltener die Kopfhängelage oder das Vor-
Befragen, dass es immer ein und dieselbe Kopfbewegung ist, wärtsbücken. Diese Varianten werden nicht im Detail bespro-
die den Schwindel auslöst, z.B. Bücken nach vorn bei der Haus- chen.
arbeit oder beim Schuhezubinden, Rückwärtsneigen oder Seit- Der Patient darf die Augen nicht schließen, wenn der
wärtsdrehen des Kopfes, oft auch Lagewechsel im Liegen. Der Schwindel auftritt. Nach Einnahme der auslösenden Lage tritt
Schwindel kann den Patienten aus dem Schlaf erwecken. mit einer Latenz von wenigen Sekunden ein rasch vorüberge-
hender, vertikal nach oben schlagender Nystagmus mit rotato-
ä Der Fall rischer Komponente auf, der von heftigem Schwindel begleitet
Am frühen Morgen, kurz vor dem Aufstehen, wird der 65-jährige ist. Er dauert 20 s bis 1 min. Beim Aufrichten zum Sitzen folgt
Pensionär durch eine plötzliche, massive Schwindelattacke aus ein gegenläufiger, schwächerer Nystagmus mit geringerem
dem Schlaf gerissen. Er hatte sich kurz zuvor im Schlaf auf die Schwindel. Bei wiederholten Versuchen nimmt der periphere,
rechte Seite gedreht, und jetzt ereilt ihn ein heftiger, wenige paroxysmale Lagerungsschwindel ab und setzt dann ganz aus
Sekunden anhaltender Drehschwindel. Er hat das Gefühl, dass (. Abb. 17.2).
sich der gesamte Körper, der Kopf und die Augen zur rechten Mit Ausnahme des beschriebenen Schwindels und Nystag-
Seite drehen, Übelkeit kommt auf, er kann das Erbrechen gerade mus ist der neurologische Status normal. Da nur eine paroxys-
unterdrücken, der Schwindel lässt langsam nach, und es bleiben male Störung vorliegt, hat die Vestibularisprüfung ein norma-
Herzklopfen, Schweißausbruch, Zittern der Hände und die les Ergebnis.
Furcht, so etwas noch einmal erleben zu müssen. Vorsichtig Dasselbe gilt für alle Zusatzuntersuchungen. Meist hat der
6 Patient schon eine völlig überflüssige Röntgenaufnahme der
428 Kapitel 17 · Schwindel

kann bei etwa 70% der Patienten der Schwindel beseitigt wer-
den. Besonders effektiv ist das von Brandt modifizierte Se-
mont-Manöver.
Es umfasst folgenden Ablauf:
4 Ausgangsposition im Sitzen
4 Kopfdrehung zum gesunden Ohr um 45°
4 Lagerung des Patienten um 90° auf die Seite des betrof-
fenen Ohres unter Beibehaltung der Kopfposition
4 1 Minute Beibehaltung dieser Position
4 Lagerung unter Beibehaltung der Kopfposition um 180°
zur Gegenseite (nicht betroffenes Ohr),
4 1 Minute Beibehaltung der Position.
4 Aufrichten
. Abb. 17.2. Lagerungsprüfung zur Auslösung des peripheren
paroxysmalen Lagerungsschwindels. Die Pfeile geben die Schlag-
richtung des rotierenden Nystagmus an. (Nach Brandt 1998)
Der Patient kann diese Übungen selbst zu Hause durchführen,
wenn sie initial nicht sofort erfolgreich waren.

Halswirbelsäule erhalten, auf der degenerative Veränderungen 3Verlauf: Der Verlauf ist gutartig: Meist beobachtet man
fälschlich als kausal bewertet wurden. Dabei ist die Existenz spontanes Abklingen innerhalb weniger Wochen und Monate.
eines zervikalen Schwindels beim Menschen höchst fraglich. Manchmal wird auch Persistenz über mehrere Jahre berichtet.
Oft wird ein CT oder MRT veranlasst, obwohl anfallsartiger Rezidive sind allerdings häufig, aber nicht vorhersehbar. Etwa
Schwindel kein Frühsymptom des Kleinhirnbrückenwinkeltu- 50% der Patienten erleiden Rezidive, auch mehrfach, die
mors ist. meisten davon im ersten Jahr nach dem Indexereignis. Eine
phobische Entwicklung (»Angst vor dem nächsten Schwin-
3Therapie und Verlauf. Die dauerhafte Verordnung von del«) mit besonderer Aufmerksamkeit auf alles, was mit
Medikamenten ist nicht sinnvoll, weil alle antivertiginös wir- Schwindel zu tun haben könnte, ist nicht selten. Durch die
kenden Medikamente allgemein sedierend wirken und zudem Erwartungshaltung wird die Wahrnehmungsschwelle noch
die mechanische Auslösung der Schwindelattacken nicht ver- zusätzlich herabgesetzt, und die Patienten erleben häufige
hindern können. Entgegen der Erwartung der Patienten und »Fast-Schwindelanfälle«, die sie extrem verunsichern. Eine
vieler Ärzte sollen die Patienten gerade nicht die provozierende gute Aufklärung über den harmlosen Charakter und die
Kopf- und Körperposition vermeiden, sondern ein physika- weitere selbst durchzuführenden Therapiemöglichkeiten sind
lisches Lagerungstraining ausführen. Dabei sitzen sie mit ge- wesentlich zur Vermeidung weiterer multipler Arztbesuche
schlossenen Augen und nehmen dann die Kopf- und Körper- und psychosomatische Chronifizierung des Leidens.
lage ein, die den Schwindel auslöst. Sie verbleiben in dieser
Stellung, bis der Schwindel nachlässt. Durch rasche Kopflage- > Der periphere, paroxysmale Lagerungsschwindel ist
rung zur Gegenseite kann dann versucht werden, das Otoko- lästig, sehr unangenehm, aber harmlos. Er wird nicht
nienmaterial wieder aus dem betroffenen Bogengang zu ent- medikamentös, sondern mit Lagerungsübungen
fernen (Deliberationsmanöver). Durch Deliberationsmanöver behandelt.

Exkurs
Schwindel, »Durchblutung« und die Halswirbelsäule
Die weit verbreitete Annahme, diese Schwindelanfälle seien Vertebralarterie eine kompensatorische Flusserhöhung ein. Es
17 Zeichen von Durchblutungsstörungen der A. vertebralis gibt keine theoretische oder empirische Grundlage für die
(Durchblutungsstörungen wo? »im Hirnstamm?« »im Gleich- Hypothese, dass eine Drosselung der Durchströmung in einer
gewichtsorgan?«) ist unzutreffend. Vertebralarterie eine Mangeldurchblutung in einer vorderen
Indirekte Hinweise gegen diese Hypothese sind das oft oder hinteren A. vestibularis aus der A. auditiva interna (oder
frühe Manifestationsalter, das Fehlen von Risikofaktoren und A. labyrinthi) auslösen könne, die ihrerseits der A. cerebelli
das Ausbleiben einer Entwicklung zu anderen Symptomen inferior anterior entstammt (. Abb. 17.3).
von Durchblutungsstörungen im hinteren Hirnkreislauf. Die Halswirbelsäule spielt in der Pathogenese weder über
Direkte Hinweise dagegen sind die Ergebnisse von Strö- neurale Afferenzen, deren Rolle beim Menschen sehr kontro-
mungsmessungen mit der Ultraschall-Dopplersonographie. vers diskutiert wird, noch über eine Flussminderung in einer
Selbst bei Menschen mit erheblichen degenerativen Verän- A. vertebralis eine Rolle. Bei Halsdrehtests werden natürlich die
derungen an der HWS traten bei starker bis maximaler Rota- Bogengänge stimuliert. Insgesamt ist die Diagnose zervikoge-
tion des Kopfes weder Schwindel noch andere infratentoriel- ner Schwindel kontrovers diskutiert, nichts wirklich beweisbar
le Reiz- oder Ausfallsymptome auf. Wenn in der ipsilateralen oder widerlegbar, hat keine praktische Relevanz und ist meist
A. vertebralis die Durchströmung während der Rotation eine Verlegenheitsdiagnose.
vorübergehend unterbrochen war, trat in der kontralateralen
17.2 · Neuritis vestibularis (akuter Labyrinthausfall)
429 17

. Abb. 17.3. Blut- und Nervenversorgung des Gehör- und Gleichgewichtsorgans der rechten Seite, Ansicht von medial. (Aus Tillmann
2005)

Exkurs
Bilaterale Vestibulopathie
Leitsymptome sind: Labyrinthe und/oder Vestibularisnerven gleichzeitig oder
4 Gangunsicherheit, vor allem in Dunkelheit oder auf sequenziell betroffen sein. Es gibt akute aber auch langsam
unebenem Grund progrediente Symptome. Die bilaterale Vestibulopathie kann
4 Oszillopsien mit Unscharfsehen bei Kopfbewegungen auch mit Hörstörungen verbunden sein. Die häufigsten Ur-
oder beim Gehen sachen sind: ototoxische Substanzen, Mb. Menière und Meni-
4 Störung von Raumorientierung gitis, Entstehung nach Traumen wird immer wieder berich-
tet, ein großer Anteil lässt sich ätiologisch nicht eindeutig
Die Patienten klagen darüber, dass sie beim Gehen oder zuordnen.
Laufen Scheinbewegungen der Umwelt empfinden und Therapie: Lagerungstraining und Versuch mit Cortico-
z.B. Straßenschilder nicht mehr sicher erkennen können. steroiden. Ziel: Steigerung der subjektiven Sicherheit
Im Verlauf der bilateralen Vestibulopathie können beide nicht eine wirkliche Verbesserung der Balanceleistung.

17.2 Neuritis vestibularis der Untersuchung unter der Frenzelbrille findet man einen
(akuter Labyrinthausfall) lebhaften, horizontal rotierenden Spontannystagmus zum ge-
sunden Ohr, Rumpfataxie mit Fallneigung zur betroffenen
3Definition und Pathogenese. Die Neuritis vestibularis ein Seite, aber keine Zeigeataxie. Der Unterbergersche Tretversuch
akut oder subakut einsetzender, peripher bedingter Schwindel kann mit Abweichung zur betroffenen Seite pathologisch sein.
mit der Symptomatik des einseitigen Labyrinthausfalls. Man Das betroffene Labyrinth ist kalorisch unter- oder unerreg-
nimmt an, dass die Krankheit eine entzündliche Genese hat. bar.
Eine ähnliche Pathogenese wie bei der idiopathischen Fazia-
lisparese wird vermutet. Die Annahme stützt sich auf für Vi- 3Therapie und Prognose
rusinfektionen typische histologische Veränderungen des 4 Gesichert wirksam ist die Behandlung mit Methylpred-
Nerven. Die Hypothese einer Durchblutungsstörung in der nisolon in einer initialen Dosis von 80–100 mg i.v. über 5–
A. vestibularis ist nicht fundiert (s. Exkurs Schwindel, Durch- 7 Tage, danach ausschleichend. Durchblutungsfördernde
blutung und Halswirbelsäule). Maßnahmen wie Infusionen mit Vasodilatatoren oder rheolo-
gischen Substanzen, wie oft in der HNO verordnet, haben kei-
3Symptome. Die Patienten klagen über schweren Dreh- ne wissenschaftliche Begründung.
schwindel, der von Fallneigung und Übelkeit mit Brechreiz 4 Symptomatisch führen während der ersten 3–5 Tage Anti-
begleitet ist. Die Beschwerden nehmen bei Bewegung zu. Bei vertiginosa eine Besserung der Beschwerden herbei. Sie wirken
430 Kapitel 17 · Schwindel

allerdings stark sedierend und verzögern die zentrale Kompen- 3Diagnostik. Falls nicht schon geschehen, sollte die Basis-
sation des Schwindels. Empfohlen wird z.B. diagnostik wie bei Verdacht auf neurokardiogene Synkopen,
4 Dimenhydrinat (z.B. Vomex A) 50 mg als Zäpfchen alle 6 h zur Sicherheit, durchgeführt werden. Bildgebende Verfahren
oder 1 Ampulle à 65 mg langsam i.v. (Cave: Müdigkeit, ortho- sind nicht indiziert.
statische Regulationsstörung),
4 Steroidtherapie (wie bei der idiopathischen Fazialisparese, 3Therapie. Dem Vorschlag einer Psychotherapie gegen-
die ergänzende Behandlung mit Aciclovir (siehe Virushypo- über sind die Patienten gewöhnlich nicht aufgeschlossen.
thes) hat keine zusätzliche Wirksamkeit gezeigt. 4 Trotzdem wird eine Verhaltenstherapie empfohlen.
4 Desensibilisierung durch Eigenexposition als Therapie der
Die Wirkung dieser Medikamente beruht auf der kompetitiven ersten Wahl angegeben.
Hemmung von Acetylcholin, der Überträgersubstanz an den 4 Wichtig ist auch die Aufklärung über die krankmachende
Synapsen der Vestibulariskerne. Die Medikamente sollen nur auslösende Situation: die Übersensibilisierung auf das eigene
wenige Tage gegeben werden, weil sie die zentrale Kompensa- Körpergleichgewicht.
tion verzögern. 4 Aufgrund der Ähnlichkeit mit Panikattacken kann auch
Vom 3. Tag an wird eine Übungsbehandlung zur Verbes- der Versuch einer Therapie mit modernen Antidepressiva
serung der zentralen Kompensation empfohlen. Vorausset- (SSRI, antriebssteigernde Tri- und Tetrazyklische Antidepres-
zung ist, dass sich die Übelkeit zurückgebildet hat. Man be- siva) versucht werden.
ginnt mit kontrollierten Augenbewegungen, beispielsweise
willkürlichen Sakkaden und exzentrischer Fixation in liegen-
der und sitzender Position. Ferner werden Folgebewegungen 17.4 Menière-Krankheit
auf einen bewegten Gegenstand geübt, ebenso Kopfdrehungen
bei Fixation des Blicks auf ein Objekt in 1 m Entfernung. Dann 3Definition. Die Krankheit ist durch Hörverlust, Ohrge-
soll der Patient die Übungen zu einem Gleichgewichtstraining räusche und anfallsweisen Schwindel charakterisiert. Die meis-
steigern: Sitzen, Stehen und Gehen. Vom Ende der 1. Woche an ten Patienten haben vestibuläre und kochleäre Symptome, je-
kann Gleichgewichtstraining unter der Anleitung von Kran- doch können beide Symptomgruppen getrennt vorkommen
kengymnasten ausgeführt werden. oder erst in längerem Abstand voneinander auftreten. Bei 50%
Der Verlauf ist gutartig: Die Symptome lassen in wenigen der Kranken werden über eine Periode von 5–10 Jahren beide
Tagen nach und setzen nach Tagen, selten nach Wochen ganz Ohren befallen.
aus. Dies beruht entweder auf der Herstellung der normalen
Labyrinthfunktion oder auf zentraler Kompensation. 3Epidemiologie. Die Prävalenz wird auf 50–80 Patien-
ten/100.000 Einwohnern geschätzt. Männer erkranken etwas
häufiger als Frauen. Die Menière-Krankheit setzt meist erst in
17.3 Phobischer Attackenschwankschwindel der zweiten Lebenshälfte ein. Die Bedeutung von Körperhal-
tung, Kopfdrehung und Kreislaufbelastung für die Auslösung
3Symptome. Die Patienten erleiden Attacken von Benom- der Anfälle ist gering.
menheit und Schwankschwindel mit Stand- und Gangunsi-
cherheit, die anfangs nur Bruchteile von Sekunden oder weni- 3Symptome. Der einzelne Anfall setzt ohne Vorboten als
ge Sekunden andauern. Sie werden aber als bedrohlicher und akuter Drehschwindel ein, der von Ohrensausen, Brechreiz
länger anhaltender Zustand erlebt, der eine ängstliche Erwar- oder Erbrechen, Schweißausbruch, Bradykardie und Kollaps-
tungshaltung herbeiführt. neigung begleitet ist. Seltener sind Schwank- oder Liftschwin-
Der Schwindel wird durch situative Reize der verschie- del. Die Kranken können meist nicht mehr gerade stehen oder
densten Art ausgelöst, so Überqueren von Brücken, Gehen auf gehen. Sie fühlen sich zur Seite des betroffenen Labyrinths hi-
17 Treppen, Autofahren, aber auch Durchqueren leerer Räume nübergezogen und müssen sich oft festhalten oder hinlegen,
oder die Gegenwart vieler Menschen, die auch andere Formen um nicht zu stürzen. Anheben oder Drehen des Kopfes ver-
von phobischen Reaktionen verursacht. Auffällig ist, dass die stärkt die Symptome. Die meisten Patienten legen sich auf die
Patienten ihren Attackenschwindel schließlich mit einer Ver- kranke Seite. Viele empfinden ein Druck- oder Völlegefühl in
nichtungsangst erleben, diese jedoch rasch wieder verdrängen, dem befallenen Ohr.
so dass sie ihre geplante Tätigkeit wieder aufnehmen können. Während des Anfalls besteht immer ein lebhafter, horizon-
Dies ist ein wichtiges differentialdiagnostisches Kriterium zur taler Spontannystagmus, meist mit rotierender, nie dagegen
Unterscheidung von organischen Schwindelformen. mit vertikaler Komponente. Die raschen Ausschläge sind initi-
Der Verlauf ist phasenhaft mit Remissionen. Man findet den al gewöhnlich zur Herdseite gerichtet (Reiznystagmus). Die
organischen Befund in jeder Hinsicht normal. Typischerweise Richtung kann während des Anfalls aber auch wechseln (Aus-
werden Vermeidungsmechanismen entwickelt und diese können fallnystagmus).
sozial beeinträchtigend sein. Die psychiatrische Exploration
deckt oft eine zwanghafte Persönlichkeitsstruktur mit hohem 3Diagnose. Im Anfall ist nicht nur die schon spontan zu
Leistungsanspruch oder einer Angststörung auf. Manchmal beobachtende Fallneigung, sondern auch ein gerichtetes Vor-
kann in der Anamnese ein organisches Schwindelereignis eruiert beizeigen beim Barany-Zeigeversuch und ein einseitiges Über-
werden, auf das sich der phobische Schwindel aufgebaut hat. schießen beim Rebound-Versuch festzustellen (s.u. Pathogene-
17.4 · Menière-Krankheit
431 17
se). Das Gehör ist im Anfall vermindert. Das Bewusstsein ist in 4 besonders schlechtes Sprachgehör, weil die Cochlea die
der Regel ungestört. Das betroffene Labyrinth ist im Anfall ex- akustischen Impulse nicht mehr regulär zur Weiterleitung im
perimentell übererregbar. Der einzelne Anfall dauert Minuten Hörnerven kodieren kann,
bis Stunden, seltener mehrere Tage. Meist klingt der Schwindel 4 fluktuierende Hörleistungen von einer Untersuchung zur
nur langsam ab. Viele Patienten behalten danach ein einseitiges anderen und
Ohrensausen, das sich später jeweils bei Wiederholung des 4 positives Recruitment (Lautheitsausgleich), wie es für
Schwindels verstärkt. eine Haarzellschädigung bei intaktem N. cochlearis charak-
Im Intervall entwickelt sich, langsam fortschreitend, eine teristisch ist (siehe im Gegensatz dazu negatives Recruit-
einseitige Schwerhörigkeit, die auch schon Jahre vor dem ment bei Akustikusneurinom mit geschädigtem Cochlear-
Schwindel einsetzen kann. Auch diese nimmt bei späteren An- nerven).
fällen vorübergehend zu, kann aber während einer Attacke 4 Vestibulär besteht Unter- bis Unerregbarkeit.
zeitweise besser werden. Außerhalb der Anfälle ist die Gleich-
gewichtsregulation subjektiv und klinisch meist intakt, und 3Therapie. Der Anfall ist selbstbegrenzend. Schwindel und
man stellt keinen Nystagmus fest. Nach längerem Bestehen der Übelkeit können durch Antiemetika und Antivertiginosa ge-
Krankheit ist auch im Intervall ein charakteristischer, otolo- mildert werden.
gischer Befund festzustellen, der zusammen mit der Anamne- 4 Hierzu zählen Antiemetika wie Domperidon (Motilium)
se die Diagnose sichert: oder Dimenhydrinat (z.B. Vomex A® langsam i.v. oder als
4 »Pankochleäre« Innenohrschwerhörigkeit mit »wannen- Suppositorium)
förmiger« Senke im Tonaudiogramm, 4 Kortisonbehandlung (in Analogie zur Fazialisparese).

Exkurs
Pathogenese des M. Menière
Die Ursache der Krankheit ist nicht endgültig geklärt. Man Erregung versetzt. Das Ergebnis ist ein starkes Rauschen in
diskutiert einen endolymphatischen Hydrops, der durch allen hörbaren Frequenzen. Die Durchmischung der Endo-
mangelhafte resorptive Kapazität des häutigen Labyrinths und Perilymphe beeinträchtigt den Stoffwechsel der Sinnes-
entsteht. Wenn der Innendruck der Endolymphe die Elastizi- zellen des Corti-Organs. Diese Stoffwechselstörung äußert sich
tät des häutigen Labyrinths überschreitet, kommt es zu als Schwerhörigkeit beim oder nach dem Anfall. Sie ist zu-
Einrissen im Ductus cochlearis, im Sakkulus, Utrikulus oder nächst rückbildungsfähig, bei längerem Bestehen der Krank-
den Bogengangsampullen. Durch diese Risse tritt Endolym- heit irreversibel.
phe in den Perilymphraum über. Dies führt zu einer kali- Nach der Ruptur kollabiert das häutige Labyrinth wieder,
uminduzierten Depolarisierung des N. VIII mit passagerer die Defekte heilen zu, und der Prozess beginnt von neuem.
Überregbarkeit und anschließendem Leitungsblock. Wenn es zu einer länger dauernden oder permanenten Fistel-
Die kochleären Symptome werden teils mechanisch, teils bildung kommt, tritt eine Remission ein, oder die Anfälle
biochemisch erklärt. Im Anfall wird durch die Ruptur im bleiben ganz aus.
endolymphatischen System das gesamte Corti-Organ in

Facharzt
Differentialdiagnose des M. Meniere
4 Die verschiedenen Formen der Labyrinthitis führen zu 4 Die toxische, vor allem durch Antibiotika verursachte,
andauerndem Schwindel mit Brechreiz und Erbrechen, häufig beidseitige Schädigung des VIII. Hirnnerven ist meist
Schallperzeptionsstörung mit Herabsetzung der oberen aus der Anamnese zu diagnostizieren. Sie äußert sich ebenfalls
Tongrenze und Spontannystagmus. nicht in Anfällen, sondern in vestibulären, in schweren Fällen
4 Der akute Hörsturz ist eine plötzliche, längstens inner- auch kochleären Dauersymptomen mit Stand- und Gangunsi-
halb eines Tages einsetzende Taubheit oder Innenohrschwer- cherheit vor allem in Dunkeln. Experimentell besteht vestibu-
hörigkeit, hauptsächlich bei Menschen im mittleren Lebens- läre Untererregbarkeit.
alter. Er tritt ganz überwiegend einseitig auf. Im Initialstadi- 4 Die Symptomatik der Kleinhirnbrückenwinkeltumoren
um können Ohrgeräusche und Druck auf dem befallenen lässt sich anamnestisch und im Befund leicht von der Menière-
Ohr bestehen. Der Vestibularapparat bleibt meist verschont. Krankheit abgrenzen, Einzelheiten 7 Kap. 11.10.1.
Die Ursache ist ungeklärt. Viele Ärzte geben auf »empirischer 4 Beim Zoster oticus (7 Kap. 19) sind Schwindel, Ohrensau-
Basis« Infusionen von Plasmaexpandern und Vasodilatatoren, sen und Hörminderung fast immer mit Trigeminusschmerzen
obwohl ihre Wirksamkeit umstritten ist. Ohrenärzte wenden und Fazialislähmung, nicht selten auch mit Lähmungen ande-
oft Grenzstrangblockaden an, obwohl der Halssympathikus rer, benachbarter Hirnnerven verbunden. Das akute Auftreten
die Innenohrgefäße nicht innerviert. Die Spontanprognose dieses Syndroms und der Liquorbefund sichern die Diagnose,
ist sehr gut. Das erschwert die Beurteilung von Therapiemaß- während der charakteristische Bläschenausschlag in der Tiefe
nahmen. des Gehörgangs oft übersehen wird.
432 Kapitel 17 · Schwindel

4 Bei unbeeinflussbarem Erbrechen hilft auch Odansetron ben. Eine MR-Angiographie kann die Diagnose nicht eindeu-
(Zofran) 4 mg i.v. Die Sedierung mit Diazepam-Abkömmlin- tig sichern oder sie ausschließen
gen ist initial wichtig.
4 Die oft von HNO-Ärzten verordneten mehrtägigen Infu- 3Therapie. Carbamazepin (300–1800 mg/Tag) ist sehr gut
sionen von durchblutungsfördernden Substanzen sind un- wirksam, was die Hypothese stützt. Als Alternativen bei Un-
wirksam. verträglichkeit stehen Oxcarbacepin (300–900 mg/die), Gaba-
pentin, Valproat oder Phenytoin zur Verfügung. Auch wurden
Ziel der prophylaktischen Behandlung ist es, den Endolymph- einige erfolgreiche Janetta-Operationen publiziert.
hydrops zu vermindern. Bei wiederholten Drehschwindel-
attacken sind deshalb indiziert:
4 Betahistin, 3-mal 2 Tbl./Tag à 12–24 mg über 4–12 Wo- 17.6 Migräne mit vestibulärer Aura
chen, kann bei Therapieversagen bis auf 3×48mg gesteigert
werden. Alle Altersgruppen können betroffen sein, am häufigsten sind
4 Bei unzureichender Besserung kann zusätzlich zu Beta- Patienten zwischen 30 und 50 Jahren betroffen.
histin ein Therapieversuch mit Hydrochlorothiazid plus Tri- Die Diagnose episodischer Schwindelattacken bei Migräne
amteren erfolgen. liegt nahe, wenn wiederholt reversible Attacken mit Schwindel,
Sehstörungen, Stand- und Gangataxie sowie meist okzipital be-
Selten ergibt sich bei medikamentös therapieresistenten häu- tontem Kopfschmerz bei familiärer Migränebelastung auftreten.
figen Menière-Attacken mit oder ohne Innenohrschwerhörig- Diese Migräneform wird auch als Basilarismigräne bezeichnet.
keit die Indikation für eine transtympanale Instillation oto- Allerdings können die Attacken bei 40% der Patienten
toxischer Antibiotika (1–2 ml mit einer Konzentration von auch ohne Kopfschmerzen auftreten. Auch kann die Dauer der
20–40 mg/ml Gentamycin) oder Dexametason 10 mg in mehr- Attacken sehr variabel sein. Während der Migräneattacke sind
wöchigem Abstand. die Patienten besonders empfindlich gegenüber Bewegungen.
Sehr umstritten und nur noch selten angewandt ist die Viele Patienten mit vestibulärer Migräne haben im Intervall
Durchschneidung des N. vestibularis in der mittleren Schädel- zentrale Okulomotorikstörungen und Nystagmus.
grube oder die Labyrinthektomie als operative Verfahren zur
Behandlung des chronischen Meniere. 3Therapie. Wie bei Migräne mit Aura (7 S. 408 ff).

3Prognose. Bei 50% der Kranken werden über eine Perio-


de von 5–10 Jahren beide Ohren befallen. Viele Patienten wer- 17.7 Schwindel bei zentralen Läsionen
den im Laufe der Krankheit, zumal unter dem Einfluss des
quälenden Ohrensausens und die Schwerhörigkeit, reizbar, Häufiger als früher geglaubt treten mono- oder oligosympto-
misstrauisch, und ängstlich, so dass die Behandlung auch psy- matische Schwindelsyndrome und Gleichgewichtsstörungen
chologische oder psychiatrische Probleme stellt. Die Menière- bei zentralen Läsionen wie Hirnstamminfarkten, Kleinhirnin-
Krankheit kann aber, genau wie die Migräne, nicht als psycho- farkten, MS-Herden oder Schädelhirntraumen auf. Bei letzte-
somatisch bedingt angesehen werden. ren stellt sich allerdings meist die Frage, ob das Erbrechen und
Die Menière-Krankheit geht nicht in ein anderes orga- die Übelkeit nach einem Schädeltrauma ohne Bewusstlosigkeit
nisches Leiden des Zentralnervensystems über. Die typischen nicht doch eher eine Kontusio labyrinthi gewesen ist.
Anfälle sind kein Frühsymptom des Kleinhirnbrückenwinkel- Vor allem die ausgedehnten Kleinhirninfarkte, die mono-
tumors. Mit dem Eintreten der Taubheit setzt das Ohrensausen symptomatisch mit einem massiven richtungsbestimmten
meist aus, und auch die Schwindelanfälle lassen nach. Schwindel und einer nur leichten Hemiaaxie klinisch wie eine
Neuronitis vestibularis wirken, sind der Grund warum heute
17 17.5 Vestibularisparoxysmie
beinahe immer eine bildgebende Diagnostik beim akuten
Schwindel angefordert wird. Und trotzdem, ein oder zweimal
im Jahr wird in jeder großen Klinik ein Kleinhirninfarkt auf
3Definition und Leitsymptom. Leitsymptome der Vestibula- dem initialen CT nicht erkannt und der Patient kommt erst
risparoxysmie sind kurze, Sekunden bis wenige Minuten anhal- einige Tage später mit Zeichen des Hirndrucks zurück. Deshalb
tende Dreh- oder Schwankschwindelattacken mit Gangunsicher- sollte man, obwohl nicht evidenzbasiert, im Zweifel eine MRT
heit mit oder ohne Ohrsymptome (Tinnitus und Hörminderung), anfordern.
die bei manchen Patienten von bestimmten Kopfpositionen ab-
hängig sind und sich gelegentlich durch Hyperventilation provo-
zieren lassen. Sie treten mit einer Häufigkeit von 1- bis 30-mal am
Tag auf.

3Pathophysiologie und Diagnostik. Es wird ein patholo-


gischer Nerv-Gefäß-Kontakt ähnlich wie bei der Trigeminus-
neuralgie und dem Spasmus hemifacialis angenommen. Im
Intervall können Hörminderung und Tinnitus bestehen blei-
17.8 · Schwindelformen mit gesteigerter Empfindlichkeit gegenüber physiologischen Wahrnehmungen
433 17
17.8 Schwindelformen mit gesteigerter das System stimmt wieder überein. Interessant ist, dass die Ki-
Empfindlichkeit gegenüber netose nicht auftritt, wenn ein Betroffener selbst Auto oder
physiologischen Wahrnehmungen Fahrrad fährt, rudert oder einen anderen Sport treibt, also die
Kontrolle hat, ein Phänomen, das unterstreicht, wie sehr Auf-
17.8.1 Kinetose (Bewegungskrankheit) merksamkeit, Erwartung und Konzentration auf die Afferenzen
im Vordergrund stehen.
Das Phänomen kennt jeder: Man sitzt im Zug, am Nachbargleis Medikamentös nimmt man vor auslösenden Situationen
steht auch ein Zug mit entgegengesetztem Ziel. Und plötzlich (Flugreise, Schiffreise, lange Auto- oder Busfahrt) Scopolamin
bewegt sich etwas…: Ist es der Zug in dem man sitzt, oder der Hautpflaster (Scopoderm TTS 0,5 mg). In den USA sind auch
andere? Man spürt keine Beschleunigung, nur aus dem Augen- Scopolamin-haltige Kaugummis erhältlich.
winkel nimmt man eine Bewegung wahr. Schließlich ist klar, es
ist der Zug auf dem anderen Gleis, der losfährt. Die kurze Un-
sicherheit hat für die meisten Menschen nur eine bewusste 17.8.2 Höhenschwindel
Steigerung der Aufmerksamkeit auf ein sonst unbewusst arbei-
tendes Kontrollsystem zur Folge, für manche ist dieses Erleben Manche Menschen sind »schwindelfrei«, man denke an Dach-
aber unangenehm und kann sogar zur Kinetose überleiten. decker oder die Indianer in den USA, die die Stahlkonstrukti-
Die Bewegungskrankheit ist nicht selten. Viele Menschen onen von Wolkenkratzern zusammenbauen und in luftiger
werden seekrank, vertragen Autofahrten schlecht und sind bei Höhe ungesichert von einem Stahlbalken zum anderen steigen
einem Besuch auf einem Jahrmarkt mit Achterbahnen und Ka- oder zusammen mit ihren Kollegen das Frühstück genießen.
russells schon beim Zuschauen gestraft. Interessant ist, dass bei Für andere Personen ist schon das Bild oder nur der Gedanke
einer Gruppe von Menschen die Stimulation des Gleichge- daran unangenehm und angsterweckend.
wichtssinns zu krank machenden und die Lebensqualität ein- Höhenschwindel mit Unsicherheit, Schweißausbruch und
schränkenden Symptomen führt, während es für andere einen Herzklopfen tritt oft auf, wenn man vermeintlich ungesichert
angenehmen Nervenkitzel darstellt, der allerdings in bestimm- eine steile Wand oder einen Abgrund herunterschaut. Interessant
ten Situationen (z.B. nach Alkoholgenuss oder reichlichem ist es, dass es oft einen Unterschied macht, ob ein Fenster dazwi-
Essen) ins Gegenteil umschlagen kann. schen ist oder nicht. Auch ein Geländer hilft. Keine Höhenangst
Ursache der Kinetose ist ein subjektiv wahrgenommenes wird dagegen in Aufzügen oder Flugzeugen empfunden.
Ungleichgewicht zwischen den vestibulären, optischen und Auch hier liegt ein Mismatch verschiedener Sinnesaffe-
somatischen Afferenzen. Symptome sind Übelkeit, Erbrechen, renzen zugrunde. So ist ein typischer Auslöser von Höhen-
Schweißausbruch, Herzklopfen und Blässe. schwindel, wenn man sich auf einen transparenten Untergrund
Man kann die Kinetosen z.T. unterdrücken, indem man (Glas, Metallgitter, Hängebrücke) über einen Abgrund bewegen
den optischen Input verstärkt, z.B. einen Punkt am Horizont soll. Beim Blick in einen tiefen Abgrund nimmt man die pro-
fixiert. Unter Deck gehen bei der Schiffreise hilft nicht, sondern priozeptiven Impulse des Haltungsapperates wahr, während das
macht alles nur schlimmer. Beim Autofahren hilft es oft, auf visuelle System Tiefe, aber nicht Bewegung signalisiert. Übri-
dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. Lesen oder Computerarbeit gens, mit Logik kann man dem Syndrom nicht beikommen.
beim Fahren verschlimmern das Syndrom bzw. löst es erst aus. Verhaltenstherapeutische Methoden helfen in gewissem
Dann suggeriert das Auge Ruhe, und das Vestibularorgan Be- Umfang. Man kann dies selbst feststellen, wenn man sich einer
wegung: Es entsteht das Mismatch zwischen zwei Afferenzen. höhenschwindelprovozierenden Situation bewusst mehrere
Der Blick in die Ferne, oder schon aus dem Fenster hilft schnell: Male nähert – die Toleranz steigt. Allerdings werden sie nicht
Im peripheren Gesichtsfeld, dessen Rezeptoren als Bewegungs- aus einem Menschen mit Höhenangst einen Dachdecker ma-
rezeptoren angelegt sind, wird Bewegung wahrgenommen, und chen können.

In Kürze

Schwindel

Ansammlung multisensorieller Syndrome unterschiedlicher Auslöser: Hinlegen, Aufrichten oder Herumdrehen im


Ätiologie. Schwindelwahrnehmung als kortikale Leistung, Bett mit Lagerung auf betroffenes Ohr, Kopfreklination.
beruht auf Detektion widersprüchlicher Meldungen opti- Symptome: Kurz dauernde Schwindelanfälle mit rotierender
scher, vestibulärer oder tiefensensibler Afferenzen. Scheinbewegung, Nystagmus, Übelkeit, Angst-
gefühl, Schweißausbruch. Diagnose: Wiederholtes Provo-
Benigner, paroxysmaler Lagerungsschwindel. Trauma- zieren des Schwindels bis zum Aussetzen. Normaler neuro-
tisch oder spontan abgelöste, anorganische, Otolithenteil- logischer Status. Therapie: Physikalisches Lagerungstraining,
chen lagern an »falscher« Stelle im Gleichgewichtsorgan, keine medikamentöse Dauertherapie, da Schwindel harm-
liefern Gehirn Fehlinformationen, die nicht mit Lageempfin- los.
den und Sehen übereinstimmen; es entsteht ein Schwindel.
6
434 Kapitel 17 · Schwindel

Neuronitis vestibularis. Akut oder subakut einsetzender, Unerregbarkeit. Therapie: Anfall ist selbstbegrenzend,
peripher bedingter Schwindel mit Symptomatik des einsei- prophylaktische medikamentöse Therapie zur Verminderung
tigen Labyrinthausfalls mit gutartigem Verlauf. Symptome: der Endolymphhydrops.
Drehschwindel mit Fallneigung und Übelkeit mit Brechreiz,
lebhafter, horizontal rotierender Spontannystagmus zum Vestibularisparoxysmie. Symptome: Sekunden- bis minu-
gesunden Ohr. Therapie: Medikamentöse Therapie, tenlange Dreh- oder Schwankschwindelattacken mit oder
Übungen zur Verbesserung der zentralen Kompensation, ohne Ohrsymptome, treten 1- bis 30-mal am Tag bis 1-mal im
Gleichgewichtstraining. Monat auf. Diagnose: Pathologischer Nerv-Gefäß-Kontakt.
Therapie: Medikamentöse Therapie, Jannetta-Operation.
Phobischer Attackenschwankschwindel. Ausgelöst durch Vestibuläre Migräne. Symptome: Schwindelattacken, Seh-
situative Reize wie Überqueren von Brücken, Gehen auf Trep- störungen, Stand- und Gangataxie, okzipital betonter Kopf-
pen, Auto fahren. Phasenhafter Verlauf, normaler organischer schmerz, zentrale Okulomotorikstörungen, Nystagmus.
Befund. Symptome: Attacken von Benommenheit, Schwank-
schwindel mit Stand- und Gangunsicherheit. Therapie: Ver- Kinetose (Bewegungskrankheit). Subjektiv wahrgenom-
haltenstherapie, Aufklärung über auslösende Situation, Anti- menes Ungleichgewicht zwischen vestibulären, optischen und
depressiva. somatischen Afferenzen wie bei Seekrankheit, beim Achter-
bahnfahren. Symptome: Übelkeit, Erbrechen, Schweißaus-
Menière-Krankheit. Symptome: Akuter Drehschwindel, bruch, Herzklopfen, Blässe. Therapie: Prophylaktische medika-
Hörverlust, Brechreiz, Schweißausbruch, Bradykardie, leb- mentöse Therapie.
hafter, horizontaler Spontannystagmus, Fallneigung, unge-
störtes Bewusstsein. Diagnose: »Pankochleäre« Innenohr- Höhenschwindel. Mismatch verschiedener Sinnesafferenzen.
schwerhörigkeit, fluktuierende Hörleistungen, schlechtes Symptome: Unsicherheit, Schweißausbruch, Herzklopfen.
Sprachgehör, positives Recruitment, vestibuläre Unter- bis Therapie: Verhaltenstherapeutische Methoden.

17
V Entzündungen
des Nervensystems
18 Bakterielle Entzündungen des Gehirns
und seiner Häute – 437

19 Virale Entzündungen
und Prionkrankheiten – 463

20 Entzündungen durch Protozoen, Würmer


und Pilze – 489

21 Spinale Entzündungen – 497

22 Multiple Sklerose – 501


18

18 Bakterielle Entzündungen
des Gehirns und seiner Häute
18.1 Akute, eitrige Meningitis – 438

18.2 Tuberkulöse Meningitis – 445


18.2.1 Andere Infektionen mit Mykobakterien – 446

18.3 Andere bakterielle Meningitisformen – 447


18.3.1 Traumatische Meningitis – 447
18.3.2 Listerienmeningitis – 447

18.4 Hirnabszesse – 447

18.5 Embolisch-metastatische Herdenzephalitis – 450

18.6 Treponemeninfektionen: Lues und Borreliose – 450


18.6.1 Lues – 450
18.6.2 Neuroborreliose – 454

18.7 Clostridieninfektionen – 455


18.7.1 Tetanus – 456
18.7.2 Botulismus – 458

18.8 Andere bakterielle Infektionen – 458


18.8.1 Rickettsiosen: Fleckfieber-Enzephalitis – 458
18.8.2 Leptospirose – 458
18.8.3 Neurobruzellose – 458
18.8.4 Aktinomykose und Nokardiose – 458
18.8.5 Legionellose – 459
18.8.6 Zerebraler M. Whipple – 459
438 Kapitel 18 · Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute

> > Einleitung ner akuten oder chronischen Otitis media, Mastoiditis oder
Nebenhöhlenentzündung dringen die Erreger per continuita-
Das Gehirn, das Rückenmark und deren Häute sind trotz der tem oder über eine eitrige Thrombophlebitis in den Subarach-
Barriere, die die Blut-Hirn-Schranke darstellt, Zielorgane einer noidalraum vor (Symptomatik der septischen Sinusthrombose
Vielzahl unterschiedlicher Erreger. Die Infektion erfolgt meist 7 Kap. 7).
hämatogen, seltener direkt nach Traumen oder Übergreifen einer 5 Ein weiterer Infektionsweg ist bei Schädel- und Schädelba-
Infektion aus den Nasennebenhöhlen. Die bakterielle Meningitis sisfrakturen gegeben, v.a. wenn die Dura eingerissen ist, beson-
mit ihren verschiedenen Erregern und Verlaufsformen führt zu ders an der Hinterwand der Stirnhöhle, die die rostrale Begren-
hohem Fieber und Nackensteifigkeit. Nicht selten entwickeln sich zung der vorderen Schädelgrube ist, der Lamina cribriformis
Symptome einer Meningoenzephalitis mit epileptischen Anfäl- des Siebbeins und des Felsenbeins. Die Häufigkeit von Infekti-
len, neurologischen Herdsymptomen und Bewusstseinsstörung. onen wird mit 10–30% bei frontobasalen Frakturen angegeben.
Die tuberkulöse Meningitis wird wieder häufiger. Sie war früher Bei diesen Verletzungen sind es Pneumokokken, die das Mit-
ein besonderes diagnostisches Problem, das heute durch mole- telohr und die Nebenhöhlen besiedeln und in den Subarach-
kularbiologische Untersuchungen leichter gelöst werden kann. noidalraum einwandern. Manchmal tritt die Infektion erst
Die Hirnhautentzündungen bleiben in Entwicklungsländern, Monate nach der Verletzung auf.
zusammen mit Unterernährung, AIDS und den Durchfallskrank- 5 Bei offener Hirnverletzung gelangen Eitererreger direkt
heiten, der Grund für die hohe Kindersterblichkeit. in die Liquorräume und führen sofort oder innerhalb der ers-
Die Neurolues, die man beherrscht glaubte, nimmt wieder an ten zwei Wochen zur Hirnhautentzündung.
Häufigkeit zu. Die Neuroborreliose ist eine andere Treponemen-
infektion mit charakteristischen Krankheitsstadien und guten 3Erregerspektrum. Viele Bakterien können eine Meningitis
Therapiemöglichkeiten. auslösen. In bestimmten Altersgruppen sind manche Keime
besonders häufig, andere relativ selten. Im Erwachsenenalter
stehen Pneumokokken und Meningokokken im Vordergrund.
18.1 Akute, eitrige Meningitis Zunehmend häufig werden Staphylokokken und Listerien
nachgewiesen. Gramnegative Enterobakterien sind relativ sel-
3Definition. Die eitrige Meningitis ist eine bakterielle Ent- ten. Eine Übersicht über die häufigsten Keime in den verschie-
zündung von Pia mater und Arachnoidea. Bei bestimmten denen Altersgruppen gibt . Tabelle 18.1. Auch manche Vorer-
Formen sind mehr die Hirnhäute über der Konvexität des krankungen prädestinieren zur Meningitis mit bestimmten
Gehirns, bei anderen mehr die der Hirnbasis befallen. Grund- Keimen: Bei Hals-Nasen-Ohren-ärztlichen Infektionen (Sinu-
sätzlich sind aber die weichen Häute von Gehirn und Rücken- sitis, Tonsillitis, Otitis media oder Mastoiditis) ist eine Infektion
mark in ihrer ganzen Ausdehnung erkrankt. Der Subarach- mit Pneumokokken sehr wahrscheinlich. Meningokokken sind
noidalraum ist mit serös-eitrigem Exsudat gefüllt. Die Entzün- hier seltener. Nach Schädeltraumen mit offener Verletzung sind
dung ergreift regelmäßig auch die Ependymauskleidung der Pneumokokken, Staphylokokken und Haemophilus influenzae
Ventrikel. Häufig ist die oberflächliche Hirnrinde entzündlich die häufigsten Erreger. Patienten nach Milzentfernung sind
infiltriert (Meningoenzephalitis). Die Hirnnerven und Rü- für eine Pneumokokkenmeningitis prädestiniert.
ckenmarkswurzeln, die den Subarachnoidalraum durchziehen, Bei immunsupprimierten Patienten liegen oft Listerien
sind vielfach ebenfalls ergriffen. oder Enterokokken vor. Bei Alkoholismus kommt es oft zur
Listerienmeningitis. Vorangegangene Hautinfektionen oder
3Epidemiologie. In Mitteleuropa rechnet man mit einer Abszesse führen hämatogen zur Staphylokokkenmeningitis.
Inzidenz von etwa 5–10 Fällen pro 100.000 Einwohnern. Die Pneumonien können in bis zu 10% der Fälle von Meningitiden
Häufigkeit ist etwas zurückgegangen, vor allen Dingen durch kompliziert werden.
die Einführung der Haemophilus-influenzae-Impfungen im
Kindesalter. Dort war dieser Keim bis vor wenigen Jahren die 3Symptome. Auf eine detaillierte Beschreibung einzelner
bei weitem häufigste Ursache der Meningitis. In Entwicklungs- Meningitisformen und -verläufe wird hier verzichtet, da das
ländern ist die Meningitis, besonders auch die epidemisch auf- klinische Bild in aller Regel keine ätiologische Differenzierung
18 tretende Meningokokkenmeningitis, weitaus häufiger gewor- gestattet, sondern, mit wenigen Ausnahmen, für alle Formen
den und gehört bei Kindern zu den häufigsten Todesursachen der bakteriellen Meningitis sehr ähnlich ist.
überhaupt. 4 In vielen Fällen beginnt die Meningitis mit einem Prodro-
malstadium von wenigen Stunden oder Tagen: Die Kranken
3Pathogenese. Die Erreger können hämatogen, fortgelei- fühlen sich matt und abgeschlagen, frösteln, klagen über Kopf-
tet von Entzündungen in benachbartem Gewebe und durch weh und Gliederschmerzen und haben eine leichte Tempera-
offene Hirnverletzung in die Meningen gelangen. turerhöhung.
4 Die hämatogene Meningitis entsteht bei der Generalisie- 4 Mit dem Ausbruch der vollen, meningitischen Symptoma-
rung einer bakteriellen Infektion (z.B. Meningitis epidemica) tik setzen heftigste Kopfschmerzen ein. Rasch entwickelt sich
oder durch Streuung aus einem chronischen Eiterherd. Die Nackensteifigkeit, oft mit Opisthotonus (griech. opisthen, rück-
Erreger können oft in der Blutkultur nachgewiesen werden. wärts). Bei der Untersuchung sind die Dehnungszeichen nach
4 Die fortgeleitete Meningitis geht meist vom Mittelohr, Lasègue, Kernig und Brudzinski stark positiv (vergl. Nerven-
dem Mastoid oder den Nasennebenhöhlen aus. Im Verlauf ei- dehnungsschmerz Kap. 1). Der Leib der Kranken ist eingezo-
18.1 · Akute, eitrige Meningitis
439 18
gen. Oft liegen sie in Seitenlage mit gebeugten Armen und
. Tabelle 18.1. Bakterielle Meningitis: Erregerspektrum, Erkran-
kungsalter und prädisponierende Faktoren in Mitteleuropa
Beinen im Bett. Die Haut ist, besonders am Rumpf, so hyperpa-
(Mod. nach Pfister u. Roos, in Hacke et al. 1994; nach Pfister, in thisch, dass schon leichte Berührungen sehr starke Schmerzen
Brandt et al. 1996) auslösen. Auch Sinnesreize werden als quälend empfunden.
4 Das Bewusstsein ist oft getrübt, die Patienten sind verwirrt
Erkrankungsalter
oder delirant. In schweren Fällen vertieft sich die Somnolenz
Altersgruppe Erreger zum Koma. Gewöhnlich besteht Konjunktivitis mit Lichtscheu.
Säuglinge, 1. Enterobakterien (E. coli) 4 Epileptische Anfälle treten bei etwa einem Drittel der Pa-
bis 1. Lebensjahr 2. Streptokokken (B) tienten auf. Initial oder im Verlauf kommen Hörstörungen vor
seltener: Klebsiellen, Proteus, Pseudo- (ca. 15%, bei Pneumokkoken ca. 30%).
monas, Listerien, Enterobacter 4 Häufig entwickelt sich auch ein febriler Herpes labialis, der
Kinder, 1. Haemophilus influenzaea für schwere Meningokokken- und Pneumokokkeninfektionen
1.–6. Lebensjahr 2. Meningokokken charakteristisch ist. Die Temperatur ist auf über 39 °C erhöht.
3. Pneumokokken Das Fieber verläuft septisch oder als Continua.
seltener: Streptokokken, Staphylokokken, 4 Manchmal ist, besonders bei jüngeren Patienten mit Pneu-
Pseudomonas, Listerien mokokkenmeningitis, der Verlauf so foudroyant, dass inner-
Schulkinder, 1. Meningokokken halb von 24 h trotz sofortiger Behandlung der Tod durch ma-
Jugendliche 2. Pneumokokken ximale Hirnschwellung eintritt.
3. Haemophilus influenzaea
seltener: Streptokokken, Pseudomonas, 3Komplikationen. Zu den wichtigsten und gefährlichsten
Listerien Komplikationen gehören das akute Hirnödem, Vaskulitiden,
Erwachsene 1. Pneumokokken Hydrozephalus und Hirnnervenausfälle, besonders die Betei-
2. Meningokokken ligung des Hörnerven. Bei manchen Patienten findet man
seltener: Streptokokken, Staphylokokken, petechiale Hautblutungen, besonders bei Meningokokken-,
Listerien seltener bei Pneumokokkeninfektion. Das Waterhouse-Fride-
Prädisponierende Faktoren richsen-Syndrom, das bei Meningokokkensepsis vorkommt,
Vorerkrankung oder Erreger ist durch eine disseminierte, intravasale Gerinnung, Sepsis und
besondere Situation ausgeprägte Hautveränderungen, häufig in Form von flächigen
Nekrosen, gekennzeichnet. Bei etwa 15% der Fälle kommt es
HNO-Infektion 1. Pneumokokken
2. Meningokokken
zur Nebenniereninsuffizienz aufgrund von hämorrhagischen
Infarkten. Wenn die Meningitis oder besser Meningoenzepha-
Offenes Schädeltrau- 1. Pneumokokken litis als Folge einer septisch streuenden Endokarditis entstan-
ma, Durafistel 2. Staphylokokken
den ist, können auch in anderen Körperregionen in der Haut
3. H. influenzae
septische Embolien gefunden werden. Ein Lungenversagen
Nach neurochirur- 1. Staphylokokken (ARDS, adult respiratory distress syndrome) ist bei schwerer
gischen Eingriffen, 2. Pseudomonas Meningitis häufig. Die Infektion prädestiniert zu Venenthrom-
Ventrikelkatheter
bosen und Lungenembolien.
Endokarditis 1. Staphylokokken
2. Streptokokken > Nackensteifigkeit, Kopfschmerzen und Fieber sind
3. Enterokokken die Leitsymptome der bakteriellen Meningitis. Nicht
selten treten auch enzephalitische Begleitsymptome,
Immunsuppression 1. Listerien
wie Verwirrtheit, Bewusstseinstrübung, manchmal
2. Staphylokokken
und viele andere auch eine akute Psychose hinzu.

Alkoholismus 1. Pneumokokken 3Diagnostik. . Abbildung 18.1 zeigt ein Stufendiagramm


2. Listerien der Diagnostik bei V.a. eitrige Meningitis, das sich an den Leit-
Drogenabusus (i.v.) Staphylokokken linien der DGN (2008) orientiert.
Serologie: Die BSG ist stark beschleunigt. Im Blutbild fin-
Sammelunterkunft Meningokokken
det sich eine erhebliche Leukozytose mit Linksverschiebung.
(Heim, Kaserne, Kin-
dergarten)
Beim Verdacht auf eine eitrige Meningitis muss versucht wer-
den, den Erreger durch Blutkulturen (mehrfach abnehmen,
a Durch Schutzimpfung gegen H. influenzae Typ b hat die Häufig-
besonders im Fieberanstieg) zu identifizieren. Sie sind bei
keit stark abgenommen.
30–50% der Patienten positiv.
Liquordiagnostik: Eine Liquoruntersuchung zum Zweck
der Diagnosesicherung und Erregeridentifizierung sollte bei-
nicht bedrohlichem Verlauf in der Regel vor der Antibiose
erfolgen. Die Liquoruntersuchung kann zurückgestellt wer-
den, wenn der Verlauf schnell ist, die Diagnose klinisch hoch-
wahrscheinlich ist und eine höhergradige Bewusstseinsstö-
440 Kapitel 18 · Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute

rung, petechiale Blutungen oder Zeichen der Sepsis vorliegen.


Der Liquor steht unter erhöhtem Druck. Er ist trübe bis eitrig
und enthält massenhaft segmentkernige Leukozyten (3000–
20.000, . Abb. 18.2c). Initial findet sich eine vorwiegend
gemischtzellige Pleozytose auf 1000–2000/μl, im späteren
Verlauf jedoch überwiegen Granulozyten (mehrere 10.000/μl,
. Abb. 18.2b,c). Eine apurulente Meningitis mit sehr niedriger
oder normaler Zellzahl findet sich bei immunsupprimierten
Patienten, bei denen auch seltene Keime eine bakterielle Me-
ningitis auslösen können. Die erniedrigten Glucose- und er-
höhten Eiweißwerte sind dann richtungsweisend.
Der Liquorzucker ist unter ein Drittel der Serumglukose
abgesunken, d.h. auf ca. 1,2 mmol/l (30 mg/dl) oder weniger,
während das Laktat stark erhöht ist. Fallende Laktatspiegel zei-
gen eine Besserung, erneuter Anstieg ein Rezidiv an. Eine star-
ke Eiweißvermehrung aufgrund der Blut-Hirn-Schranken-
störung ist typisch. Oligoklonale Banden oder intrathekale
. Abb. 18.1. Diagnostisches Vorgehen bei Verdacht auf bakte- IgG-Vermehrung gehören nicht zum Bild der bakteriellen Me-
rielle Meningitis ningitis, zumindest nicht in der Anfangsphase.

a b

18

c d

. Abb. 18.2a–d. Liquorbefunde. a Liquorzytozentrifugenpräparat, Monozyten, c Exsudative Phase einer eitrigen Meningitis mit über-
May-Grünwald-Giemsa-Färbung. Lymphomonozytäre Pleozytose mit wiegend neutrophilen Granulozyten und wenigen Lymphozyten und
kleinen, monomorphen Lymphozyten und einzelnen Monozyten, Monozyten, d Tuberkulöse Meningitis mit zahlreichen eosinophilen
b Lymphomonozytäre Pleozytose mit kleinen, monomorphen Lym- Granulozyten, Lymphozyten, Plasmazellen und Monozyten. (B. Storch-
phozyten, transformierten Lymphozyten und Plasmazellen, einzelne Hagenlocher, B. Wildemann, Heidelberg)
18.1 · Akute, eitrige Meningitis
441 18
9 . Abb. 18.3a–c. Keime im Liquor. a Liquorzytozentrifugenpräpa-
rat, Gramfärbung. Exsudative Phase einer eitrigen Meningitis mit
Granulozytose und massenhaft, überwiegend extrazellulär liegenden,
lanzettförmigen, grampositiven Diplokokken (Streptokokkus pneu-
moniae), b Liquorzytozentrifugenpräparat, May-Grünwald-Giem-
sa-Färbung. Exsudative Phase einer eitrigen Meningitis mit Granulo-
zytose und traubenförmig in Haufen liegenden Kokken (in Kultur
Nachweis von Staphylokokken), c Liquor in Fuchs-Rosenthal-Zähl-
kammer, Tuschefärbung. Kryptokokkus neoformans mit dicker, un-
gefärbter Kapsel. (B. Storch-Hagenlocher, B. Wildemann, Heidelberg)

Bakteriologie: Bei jedem Verdacht auf eine bakterielle Me-


ningitis, selbst wenn das Punktat nicht eitrig ist, soll vor der
Behandlung Liquor zur bakteriologischen Diagnostik entnom-
a men werden. Die Erregeridentifikation ist mikroskopisch oder
kulturell möglich. Nur bei etwa 50% der Patienten mit eitriger
Meningitis gelingt der direkte Erregernachweis (. Abb. 18.3a–
c), kulturell gelingt der spätere Nachweis bei 60–70%. Diese
geringe Ausbeute kann durch antibiotische Vorbehandlung
bedingt sein.
> Die gesicherte, bakterielle Meningitis ist, wie viele
andere entzündliche Krankheiten des Nervensystems,
meldepflichtig (. Tabelle 18.2).

Neuroradiologie: Ein CT wird praktisch immer vor der LP


durchgeführt. Zur Beurteilung von Kieferhöhlen, Stirnhöhlen
und Siebbeinzellen ist die Computertomographie weit besser
als konventionelle Röntgenaufnahmen des Schädels, die heute
nicht mehr indiziert sind, geeignet. Große Einschmelzungs-
herde des Mastoids oder eine Pneumatisationshemmung eines
b Warzenfortsatzes (chronische Mastoiditis) sind im CT eben-
falls zu erkennen.

. Tabelle 18.2. Meldepflichtige Infektionskrankheiten des Ner-


vensystems
Meldung bei Krankheitsverdacht
5 Botulismus
5 Fleckfieber
5 Poliomyelitis
5 Tollwut
5 Virusbedingtes, hämorrhagisches Fieber
5 Creutzfeldt-Jakob-Krankheit
Meldung bei Erkrankung oder Tod
Außer den oben aufgeführten
5 Angeborene Zytomegalie
5 Listeriose
5 Lues
5 Toxoplasmose
5 Bruzellose
5 Leptospirose
5 Trichinose
5 Malaria
c
b
5 Meningitis/Enzephalitis
– Meningokokkenmeningitis
– Andere bakterielle Meningitiden
– Virusmeningoenzephalitis
5 Tuberkulöse Meningitis
442 Kapitel 18 · Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute

komatös werden. Dann behandelt man auch ohne vorherige


Liquoruntersuchung.
4 Die Wahl der Antibiotika richtet sich nach dem vermute-
ten Keim. Man wird nicht so lange warten, bis ein Keimnach-
weis erfolgt ist. Eine Ausnahme ist gegeben, wenn bei eindeu-
tiger Vorgeschichte mikroskopisch Diplokokken (Pneumokok-
ken oder Meningokokken) im Ausstrich nachgewiesen werden.
Dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Penicillin-G-Be-
handlung (4-mal 10 Mega-IE/Tag in Kurzinfusionen) allein
ausreichend ist, sehr hoch.
Antibiotikakombinationen: Es werden verschiedene The-
rapieschemata empfohlen, angefangen von der Zweierkombina-
tion eines Cephalosporins mit einem Aminoglykosid oder mit
Ampicillin (wegen der steigenden Zahl von Listerienmeningiti-
den) über eine Dreierkombination, mit der auch penicillinase-
bildende Keime erfasst werden, bis schließlich zu einer Vierer-
kombination, mit der auch seltenere Problemkeime, z.B. Staphy-
lokokken und Listerien, erfasst werden. 80% der üblichen Keime
im Erwachsenenalter sind durch Penicillin gut behandelbar.
. Abb. 18.4. Ausgedehnte Kontrastanhebung der Meningen
bei bakterieller Meningitis (MRT, T1-gewichtete Darstellung) mit
Dennoch wird man bei noch unklarem Erreger die abgestufte
KM-Verstärkung Kombinationsbehandlung beginnen und später modifizieren
(. Tabelle 18.3).
Therapie der Meningokokkensepsis: Wenn sich bei der
Das CT zeigt auch die Komplikationen der Meningitis, wie Meningokokkensepsis ein Waterhouse-Friderichsen-Syndrom
Hydrozephalus, Abszess oder Empyem. Bei hydrozephaler einstellt, muss unter Kontrolle der entsprechenden Laborpara-
Ventrikelerweiterung, besonders früh an der Erweiterung der meter die Verbrauchskoagulopathie behandelt werden. Dies
Temporalhörner erkennbar, liegt meist eine Verklebung der geschieht mit Heparin, Substitution von Gerinnungsfaktoren
Arachnoidea mit mangelhafter Liquorresorption vor. und Thrombozyten.
Im Kindesalter ist aber auch eine Aquäduktstenose infolge Chirurgische Therapie: Bei fortgeleiteter Meningitis
einer Ependymitis nicht selten. Auf ein CT wird man verzichten, (Stirnhöhle, Siebbein, Mastoid, Mittelohr) muss sofort opera-
wenn der oben beschriebene foudroyante Verlauf bei Pneumo- tiv der Herd ausgeräumt werden. Anders ist dies bei trauma-
kokken oder Meningokokkenmeninigitis vorliegt. Hier wird tischen und posttraumatischen Meningitisformen, wo man
auch auf den initialen Liquor verzichtet und sofort antibiotisch wartet, bis die Meningitis gut ausgeheilt ist, bevor man die plas-
behandelt. tische Deckung eines Duradefekts durchführt. Nach frontoba-
Im MRT, das bei Verdacht auf Meningitis in der Regel salen Verletzungen mit Liquorrhoe ist plastische Deckung des
nicht notwendig ist, stellt sich die entzündliche Verdickung der Defekts nötig, auch wenn scheinbar eine Spontanheilung ein-
Meningen gut dar (. Abb. 18.4). getreten ist (Gefahr der aszendierenden Spätinfektion).
Hirnödembehandlung: Ein großes Problem stellt die
3Therapie. Bei eitriger Meningitis leitet man unmittelbar Hirnschwellung bei Meningitis dar. Möglicherweise kommt sie
nach der Liquorentnahme eine intravenöse, antibiotische Be- dadurch zustande, dass sowohl vom entzündeten Gewebe als
handlung ein, die später entsprechend der speziellen Empfind- auch von den absterbenden Bakterien toxische Zytokine frei-
lichkeit der Erreger variiert wird (. Tabelle 18.3). gesetzt werden, die eine Entzündungskaskade mit Ödembil-
4 Begonnen wird die Antibiose in der Regel erst, wenn Blut- dung in Gang setzen. Dies könnte der Grund für besonders
kulturen und Liquor abgenommen sind. schwere und letale Verläufe bei frühbehandelten, jungen Pati-
4 Dies gilt allerdings nicht für Fälle, in denen ein so akuter enten sein. Daher wird heute immer Kortison adjuvant hinzu-
18 Verlauf der Meningitis vorliegt, dass die Patienten sehr schnell gegeben.

Facharzt
Resistenzen
In manchen europäischen Ländern sind inzwischen penicil- kommen und keine gravierenden Vorerkrankungen haben, mit
linresistente Pneumokokken in über 50% der Fälle nachge- Penicillin G behandeln könnte. In der Praxis wird dies aller-
wiesen. Wenn sich dies auch in Mitteleuropa entwickelt, dings meist nicht getan, sondern mindestens eine Zweierkom-
wird man in Zukunft die Therapie auf ein modernes Cepha- bination (s.u.) eingesetzt. Vermutet man eine Immunschwäche
losporin umsetzen müssen. Ansonsten richtet man sich bei oder kommt der Patient aus einem anderen Krankenhaus, wo
der Auswahl der Antibiose nach einigen Regeln, wie sie in er eine nosokomiale Infektion erlitten haben kann, behandelt
. Tabelle 18.3 wiedergegeben sind: Zusammengefasst man mit einer Dreierkombination. Andere Regeln sind der
bedeutet dies, dass man jüngere Patienten, die von zu Hause Tabelle zu entnehmen.
18.1 · Akute, eitrige Meningitis
443 18

. Tabelle 18.3. Antibiose bei bakterieller Meningitis (In Anlehnung an die Leitlinien der DGN)
Bei unbekanntem Erreger
Hinweise aus Vorgeschichte Behandlungsschema initial
Bislang gesund, nicht immunsupprimiert 4 Penicillin G initial (Dosierung wie unten) oder
4 Cephalosporin (3. Generation z.B. Cefotaxim 3-mal 2 g) plus Ampicillin (3-mal 5 g)
Nosokomial, nach OP, nach Trauma 4 Vancomycin (2 g/Tag alle 6–12 h) plus Meropenem (3-mal 2 g i.v.) oder
4 Vancomycin(2 g/Tag alle 6–12 h) plus Ceftazidim (3-mal 2 g) oder
4 Rifampicin 10 mg/KG i.v. plus Cephtriaxon 3 × 2 g i.v.
Immungeschwächt, Alkoholismus 4 Cephalosporin (3. Generation z.B. Cefotaxim 3-mal 2 g) plus Ampicillin (3-mal 5 g)
Bei bekanntem Erreger
Erreger Antibiotikum Dosierung/Tag
Meningokokken 4 Penicillin G oder 4-mal 6–10 Mega
4 Ampicillin oder 3-mal 5 g i.v.
4 Cephalosporin: Ceftriaxon (oder Cefotaxim) oder 3-mal 2 g i.v. (2–4 g i.v.)
4 Rifampicin® 10 mg/kg i.v. (max. 600/750 mg)
Pneumokokken – empfindlich 4 Penicillin G oder 4-mal 6–10 Mega
4 Cephalosporin: Ceftriaxon (oder Cefotaxim) oder 3-mal 2 g i.v. (2–4 g i.v.)
4 Ampicillin 3-mal 5 g i.v.
Pneumokokken – intermediärempfindlich 4 Cephalosporin: Ceftriaxon (oder Cefotaxim) oder 3-mal 2 g i.v. (2–4 g i.v.)
4 Meropenem 3-mal 2 g i.v.
Pneumokokken – Penicillinresistent 4 Cephalosporin: Ceftriaxon (oder Cefotaxim) 3-mal 2 g i.v. (2–4 g i.v.)
plus Vancomycin 2 g/Tag (alle 6–12 h)
4 alternativ: Ceftriaxon (oder Cefotaxim) 3mal 2 g i.v. (2–4 g i.v.)
plus Rifampicin 1-mal 10 mg/kg i.v. (max. 600/750 mg)
H. influenzae 4 Cephalosporin: Ceftriaxon (oder Cefotaxim) 3-mal 2 g i.v. (2–4 g i.v.)
4 alternativ: Ampicillin 3-mal 5 g i.v.
plus Chloramphenicol
Listeria monocytogenes 4 Ampicillin plus Gentamycin oder 3-mal 5 g i.v.
4 Trimethoprim-Sulfamethoxazol oder 1-mal 360 mg i.v. (max. 6 mg/kg KG)
4 Meropenem 3-mal 2 g i.v.
Staphylokokken (Methicillin-empfindlich) 4 Flucloxacillin 4- bis 6-mal 2 g. i.v.
4 alternativ: Fosfomycin oder 3-mal 5 g i.v.
4 Rifampicin oder 1-mal 10 mg/kg i.v. (max. 600/750 mg)
4 Cefazolin 3- bis 4-mal 2–3 g i.v. (max. 12 g/Tag)
4 Linezolid 2-mal 600 mg
Staphylokokken (Methicillin-resistent) 4 Vancomycin oder 2 g/Tag i.v. (alle 6–12 h 0,5–1 g)
4 Rifampicin® plus Vancomycin oder 1-mal 10 mg/kg i.v. (max. 600/750 mg)
4 Trimethoprim-Sulfamethoxazol oder
4 Fosfomycin 3-mal 5 g i.v.
4 Linezolid 2-mal 600 mg
Pseudomonas aeruginosa 4 Ceftazidim 3-mal 2 g i.v.
plus Aminoglykosid,
4 alternativ: Meropenem 3-mal 2 g i.v.
plus Aminoglykosid
4 Ciprofloxacin 3-mal 400 mg i.v.
Anaerobier z.B. Bacteroides fragilis 4 Metronidazol 2- bis 4-mal 500 mg (max. 2 g/Tag)
4 Meropenem 3-mal 2 g i.v.
Gruppe B Streptokokken 4 Penicillin G 4-mal 6–10 Mega
plus Gentamycin 1-mal 360 mg i.v. (max. 6 mg/kg KG)
4 alternativ: Ampicillin 3-mal 5 g i.v.
plus Gentamycin 1-ml 360 mg i.v. (max. 6 mg/kg KG)
4 alternativ: Ceftriaxon (oder Cefotaxim) 3-mal 2 g i.v. (2–4 g i.v.)
plus Gentamycin 1-mal 360 mg i.v. (max. 6 mg/kg KG)
4 Ceftriaxon 3-mal 2 g i.v.
4 Vancomycin 2 g/Tag i.v. (alle 6–12 h 0,5–1 g)
Gramnegative Darmbakterien 4 Ceftriaxon (oder Cefotaxim) plus Aminoglykosid 3-mal 2 g i.v. (2–4 g i.v.)
4 Meropenem plus Aminoglykosid 3-mal 2 g i.v.
444 Kapitel 18 · Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute

Steroide sind bei der kindlichen, bakteriellen Haemophi- Bei schwerer Meningitis mit initialer Bewusstseinstrübung gibt
lus-influenzae-Meningitis sicher wirksam. Auch bei Erwach- man Dexamethason und Antibiotika vor CT und LP.
senen konnte ein günstiger Effekt einer adjuvanten Dexame-
thosangabe bei der bakteriellen Meningitis, besonders bei 3Prognose und Verlauf. Schnelle Entwicklung der Menin-
Pneumokokken, nachgewiesen werden. gitis, Bewusstseinsstörungen innerhalb der ersten 24 h, apuru-
Man gibt bei wachen erwachsenen Patienten mit V.a. bak- lenter Verlauf, höheres Lebensalter, ein vorbestehender Im-
terielle Meningitis (d.h. klinischer Verdacht plus trüber Liquor, mundefekt und Komplikationen, wie Vaskulitis, Ventrikelem-
Nachweis von Bakterien im Liquor in der Gramfärbung oder pyem und Hydrozephalus sind prognostisch ungünstige Fak-
einer Liquorleukozytenzahl von >1000/μl): toren.
4 Dexamethason (Fortecortin®) 10 mg i.v. unmittelbar vor Nach Einführung der ersten Antibiotika vom Penicillintyp
Gabe des Antibiotikums. Steroide senken die Letalität, die konnte die bis dahin etwa 80% betragende Meningitissterblich-
Zahl der Hörstörungen und mindern das Ausmaß neurolo- keit auf ca. 20% gesenkt werden. Trotz der großen Fortschritte
gischer Residualsymptome. in der Antibiotikatherapie ist in den letzten Jahren eine weitere
4 Danach 10 mg Dexamethason alle 6 h für insgesamt Senkung der Mortalität nicht mehr gelungen: Noch immer
4 Tage. rechnet man mit einer 10–20%igen Mortalität bei erwachsenen
4 Wenn Dexamethason verabreicht wird, sollte Rifampicin Patienten mit bakterieller Meningitis. Natürlich spielen das
(in Kombination mit Ceftriaxon) der Vorzug vor Vancomycin steigende Lebensalter und der zunehmende Anteil von Pati-
gegeben werden. enten mit schwerer verlaufenden Meningitiden und selteneren
4 Dazu Magenschutzmittel (z.B. Pantoprazol). Keimen hierbei eine Rolle. Manche Patienten überleben heute
4 Weitere allgemeine Therapiehinweise schließen low-dose- schwere Krankheiten, die später zu einer Meningitis prädesti-
Heparinisierung zur Thromboseprophylaxe ein. nieren.

Leitlinien Behandlung der bakteriellen Meningitis*


4 Bei erwachsenen Patienten mit Verdacht auf eine bak- 3 h nach Krankenhausaufnahme muss unbedingt vermieden
terielle Meningitis (keine Bewusstseinsstörung, kein fokal- werden (A).
neurologisches Defizit) soll unmittelbar nach der klini- 4 Es muss eine rasche Fokussuche erfolgen, insbesondere
schen Untersuchung die lumbale Liquorpunktion ange- eine HNO-ärztliche Konsiliaruntersuchung und Suche nach
schlossen werden. Nach Abnahme von Blutkulturen werden einem parameningealen Entzündungsherd im CT oder MRT
sofort Dexamethason (10 mg) und Antibiotika i.v. verab- (z.B. Sinusitis) (A).
reicht (A). 4 Bei fehlender klinischer Besserung innerhalb von 2 Tagen
4 Bei schwer bewusstseinsgestörten Patienten und Patien- nach Beginn der Antibiotikatherapie müssen vor allem folgen-
ten mit fokalneurologischem Defizit (z.B. Hemiparese), bei de Ursachen bedacht werden: Auftreten von intrakraniellen
denen der dringende Verdacht auf eine bakterielle Meningitis Komplikationen, persistierender infektiöser Fokus, inadäquate
besteht, sollen bereits unmittelbar nach der Blutentnahme Antibiotikatherapie (A).
(für das Anlegen einer Blutkultur) Dexamethason und Anti- 4 Bei Vorliegen eines erhöhten intrakraniellen Drucks müs-
biotika i.v. gegeben werden; anschließend werden ein Schä- sen hirndrucksenkende Maßnahmen durchgeführt werden,
del-Computertomogramm und – wenn der CT-Befund nicht z.B. Oberkörperhochlagerung (30°), Osmotherapie, externe
dagegen spricht – eine Liquorpunktion durchgeführt (C). intraventrikuläre Liquordrainage bei Vorliegen eines Hydro-
4 Die initiale empirische Antibiotikatherapie bei der ambu- zephalus (A).
lant erworbenen bakteriellen Meningitis im Erwachsenenal- 4 Für die arteriellen zerebralen Gefäßkomplikationen (Arteri-
ter beinhaltet eine Kombination aus Ampicillin und einem itis, Vasospasmus) gibt es bislang keine gesicherten Therapie-
Cephalosporin der 3. Generation (z.B. Ceftriaxon) (A); bei optionen.
dringendem Verdacht auf eine Meningokokkenerkrankung 4 Die Antikoagulation mit PTT-wirksamem intravenösem
(Alter, Exposition, Hauterscheinungen) ist Penicillin G nach Heparin ist bei septischen Sinus-sagittalis- oder Sinus-caverno-
18 wie vor ausreichend (C). sus-Thrombosen oder kortikalen Venenthrombosen zu emp-
4 Eine Antibiotikatherapie muss bei Patienten mit Verdacht fehlen (C).
auf bakterielle Meningitis möglichst schnell begonnen wer-
den. Eine Verzögerung der Antibiotikatherapie um mehr als * Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)

Exkurs
Prophylaxe und Behandlung von Kontaktpersonen
Angehörige und Pflegepersonal, die engen Kontakt mit sind einmalige Gaben von Ciprofloxacin (500 mg als Einzel-
Patienten mit Meningokokkenmeningitis haben, werden mit dosis p.o.) oder Ceftriaxon (Erwachsene und Kinder >15 Jahre
Rifampicin oral, 2-mal 600 mg/Tag über 2 Tage, behandelt. 250 mg i.m. als Einzeldosis, Kinder <15 Jahre 125 mg als Ein-
Für Kinder beträgt die Tagesdosis 20 mg/kg KG. Alternativen zeldosis i.m.).
18.2 · Tuberkulöse Meningitis
445 18
Nach dem Abklingen der akuten Erscheinungen bleiben Entsprechend der Lokalisation des Prozesses sind Hirn-
allgemeine Beschwerden, wie Konzentrationsschwäche, Reiz- nervenlähmungen und spinale Wurzelsymptome besonders
barkeit und Schwindel für einige Wochen und Monate beste- charakteristisch. Am häufigsten ist der N. oculomotorius be-
hen. Der N. acusticus kann bleibende Schäden erleiden. Rezi- troffen. Es kommen aber auch Lähmungen der anderen Au-
dive oder ein Ausgang mit schweren Defekten sind oft die genmuskelnerven, Fazialisparesen und in schweren, fortge-
Folge unzureichender Dosierung oder zu kurzer Dauer der schrittenen Fällen Lähmungen der kaudalen Hirnnerven vor.
Therapie. Durch arachnitische Verklebungen in der Chiasmaregion kann
sich eine Stauungspapille mit sekundärer Atrophie entwickeln.
In 20% der Fälle sollen sich an der Peripherie des Fundus Cho-
18.2 Tuberkulöse Meningitis rioidealtuberkel finden. Anfälle und Hemiplegie sind seltener.
Sie sind Zeichen einer sekundären Vaskulitis.
3Epidemiologie. Während die tuberkulöse Meningitis in
Mitteleuropa relativ selten geworden war, stellt sie immer 3Verlauf und Komplikationen. Unbehandelt nimmt die
noch eine der häufigsten Krankheiten in Entwicklungslän- Krankheit einen chronischen Verlauf: Manche Patienten kla-
dern dar. Inzwischen ist aber auch in den USA und in Mittel- gen jahrelang über Kopfschmerzen, haben rezidivierende, neu-
europa die Inzidenz der tuberkulösen Meningitis wieder an- rologische Symptome und leichte Fieberschübe. Schwere Ver-
gestiegen, z.T. wegen veränderter sozialer und ökonomischer läufe mit Hydrocephalus occlusus oder Querschnittslähmung
Bedingungen, Einwanderern aus Endemiegebieten und in sind heute selten geworden. Hydrocephalus und Vaskulitis
Verbindung mit HIV-Infektionen. Weil die initialen Symp- sind die wichtigsten und häufigsten Komplikationen. Die Mor-
tome der tuberkulösen Meningitis unspezifisch sind, dauert es talität liegt auch heute noch bei etwa 10–20%, in Entwicklungs-
manchmal lange, bis die Diagnose gestellt wird. Die Krankheit ländern und bei zu später Diagnosestellung erreicht sie leicht
tritt bei Kindern und Erwachsenen auf. 50%.

3Pathogenese. Die Meningen werden sekundär hämato- 3Diagnostik. Die tuberkulöse Meningitis wird oft zu spät
gen von einer Organtuberkulose aus befallen. Bei Erwachsenen diagnostiziert.
gelingt es häufig nicht, den Primärherd zu finden. Die Diagno- Liquor. Am sichersten wird die Diagnose gestellt, wenn
se darf deshalb nicht von einem positiven Lungenbefund ab- Tuberkelbazillen in der Ziehl-Neelsen-Färbung direkt im Li-
hängig gemacht werden. quor nachgewiesen werden können. Dies ist leider selten mög-
Pathologisch-anatomisch findet man die schwersten Ver- lich. Die Liquoruntersuchung zeigt eine anfangs segment-
änderungen an den Meningen der Hirnbasis und des Rücken- kernige, später gemischtzellige Pleozytose (. Abb. 18.2d) in
marks. Diese sind von einem grauen, gelatinösen Exsudat be- der Größenordnung von 100–200 Zellen (Streuung zwischen
deckt, das vor allem die basalen Zisternen ausfüllt und die 20 und 1000), ein erhöhtes Laktat, einen sehr stark erniedrigten
Hirnnerven sowie Rückenmarkwurzeln umgibt. Es enthält nur Glukosewert und häufig extrem hohe Eiweißwerte, die dazu
wenig spezifisches Granulationsgewebe. Dagegen findet sich führen können, dass der Liquor durch vernetzte Eiweißfäden
im Hirn- und Rückenmarkparenchym selbst nur selten tuber- zäh wird (Spinnwebgerinnsel).
kulöses Granulationsgewebe. Die Meningen der Konvexität Heute ist durch die Polymerasekettenreaktion (PCR) eine
sind meist nur leicht befallen und diffus grau getrübt. schnelle Diagnose möglich geworden (. Abb. 18.5) wenngleich
Die Arterien zeigen eine Panarteriitis oder sekundäre Inti- der Nachweis von mykobakterieller DNA im Liquor nicht in
maproliferation. Die Gefäßveränderungen können zu ischä- allen Fällen gelingt. Oft müssen mehrfach Punktionen durch-
mischen Nekrosen im Hirnstamm und Rückenmark führen. geführt werden, bis die Diagnose gesichert ist.
Serologie: Das Blutbild ist meist nur wenig entzündlich
3Symptome. Die Krankheit setzt meist mit einem tage- verändert, die BSG mäßig beschleunigt. Serologische und
bis wochenlangen Prodromalstadium ein. Kinder werden mikrobiologische Untersuchungen im Tbc-Labor ergänzen
durch Unlust, Verstimmbarkeit und Appetitlosigkeit auffäl- die Diagnostik. Leider dauern die Untersuchungen, mit Aus-
lig. Erwachsene klagen mehr über Kopfschmerzen und allge- nahme der PCR sehr lange, so dass man mit der Therapie vor
meine Leistungsminderung. Die meningitischen Symptome dem Vorliegen der Ergebnisse beginnen muss.
setzen meist schleichend, bei klarem Bewusstsein, mit lang- Weitere Untersuchungen: Die Röntgenaufnahme des
samem Temperaturanstieg ein. Thorax ist oft normal und hilft nicht weiter. Gleiches gilt für

Facharzt
Differentialdiagnose der tuberkulösen Meningitis
Die chronische, lymphozytäre Meningoenzephalitis beim Die Meningeosis carcinomatosa (7 Kap. 11) tritt als
M. Boeck (7 Kap. 19.2.1) kann mit einer ähnlichen klinischen fieberfreie »Meningitis« mit Zell- und starker Eiweißvermeh-
Symptomatik und ähnlichen Liquorbefunden auslösen. rung sowie niedrigem Liquorzucker auf. Klinisch werden die
Schwierig ist manchmal die Abgrenzung von den selte- Hirnnerven III, IV, V, VII und VIII befallen.
nen Pilzinfektionen der Meningen (7 Kap. 20.3), da auch Zur Behçet-Krankheit 7 Kap. 22.9, S. 516.
bei diesen der Zucker reduziert ist.
446 Kapitel 18 · Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute

a b

. Abb. 18.5. PCR-Amplifikat von Mycobacterium-tuberculosis- 3,4 A Liquorproben mit positivem Mycobacterium-tuberculosis-Nach-
spezifischer (a) und Herpes-simplex-virusspezifischer (b) DNA- weis; 2,3 B Liquorproben mit negativem HSV-Nachweis; 1,4 B Liquor-
Sequenz im Liquor. PK Positivkontrolle; NK Negativkontrolle; 1,2 A Li- proben mit positivem HSV-Nachweis. (B. Wildemann, Heidelberg)
quorproben mit negativem Mycobacterium-tuberculosis-Nachweis;

den Tuberkulintest. CT und MRT sind meist normal, selten


. Tabelle 18.4. Tuberkulostatische Therapie (Mod. nach
stellen sich Tuberkulome dar oder ein Hydrocephalus. Das Schmutzhardt u. Roelcke, in Hacke et al. 1994)
EEG ist häufig allgemein und herdförmig verändert.
Substanz Dosierung/Tag Nebenwirkungen
3Therapie. Die Therapie wird auch ohne Erregernachweis Dreierkombination für 2 Monate oder länger, falls Liquor nicht
bei dringendem Verdacht – allgemeine Krankheitszeichen, saniert
Hirnnervenausfälle und typischer Liquorbefund – begonnen. 1. Isoniazid 1-mal 10 mg/kg Neuropathie
Vor Beginn der Behandlung muss aber Liquor zur bakteriolo- (INH) Höchstdosis 600 mg
gischen Untersuchung mit Kultur entnommen sein. 2. Rifampicin 1-mal 10 mg/kg Leberschäden
4 Man behandelt mit einer Dreierkombination aus Isoniazid, Höchstdosis 600 mg
Rifampicin und Pyrazinamid oder Ethambutol, ergänzt durch
3. Ethambutol 15–25 mg/kg Optikusschädi-
Vitamin B6 (. Tabelle 18.4).
Höchstdosis 2000 mg gung
4 Zurzeit wird auch die zusätzliche Gabe von Streptomycin
für 1–3 Monate diskutiert. 4. Pyrazinamid 35 mg/kg Leberschäden,
oder Strepto- Höchstdosis 2500 mg gastrointestinale
4 Nach zwei Monaten kann man auf eine Zweierkombina-
myin (s.u.) Störungen
tion umwechseln (Behandlungsdauer mindestens 12, meist
24 Monate). plus
4 Bei schweren Verläufen ist die intrathekale Gabe von Strep- Vitamin B6 80–100 mg
tomycin in einer Dosierung von 1 mg/kg jeden 2. Tag sinn-
und
voll.
Steroide 100 mg, ausschleichend
(Methylprednisolon)
Bei Multiresistenzen (2,5% aller Tuberkulosekranken, durch
Zuzug steigend) wird anstelle der initialen Viererkombination Dauerbehandlung für 4–12 Monate
noch die zusätzliche Gabe von Streptomycin empfohlen. Aus- 1. Isoniazid 1-mal 10 mg/kg Neuropathie
weichpräparate bei nachgewiesener Resistenz gegen Rifampi- (INH) Höchstdosis 600 mg
cin ist das Rifabutin. Ein weiteres Ausweichpräparat ist Spar- 2. Rifampicin 1-mal 10 mg/kg Leberschäden
floxacin (Zagam®, 1. Tag 400, dann täglich 200 mg). Höchstdosis 600 mg
Tuberkulostatika sind nebenwirkungsreiche Medika-
plus
mente. Lebertoxizität, Ototoxizität (Streptomycin) und Op-
tikusläsion (Ethambutol) sind besonders zu beachten. Ste- Vitamin B6 80–100 mg
roide (100 mg Methylprednisolon) werden gegeben, um eine Alternative Medikamente
18 Vaskulitis zu verhindern. Sie bessern darüber hinaus das
Streptomycin 1 g i. m., Ototoxisch
Behandlungsergebnis. Arachnoidale Verklebungen und Hy- 200 mg intrathekal
drocephalus werden mit intrathekalen Steroiden bzw. Shunt-
Ethionamid 15 mg/kg Lebertoxisch
Operation behandelt (erst nach Sanierung des Liquors, da
sonst eine peritoneale Aussaat droht). Tuberkulome werden, Cycloserin 10–15 mg/kg Neurotoxisch
wenn möglich, operiert. INH, Rifa, Pyrazinamid und Streptomycin sind tuberkulozid, Etham-
butol ist tuberkulostatisch.

18.2.1 Andere Infektionen mit Mykobakterien

Die Lepra wird in 7 Kap. 32.7.1 besprochen. Bei AIDS-Pati-


enten findet man heute auch Infektionen mit eigentlich nicht-
humanpathogenen Mykobakterien, z.B. dem M. avium.
18.4 · Hirnabszesse
447 18
18.3 Andere bakterielle ä Der Fall
Meningitisformen Ein 18-jähriger Schüler erkrankt plötzlich mit Fieber und Kopf-
schmerzen. Am Körper sind kleine, petechiale Blutungen zu
18.3.1 Traumatische Meningitis sehen. Der Patient wirkt sehr müde, scheint verwirrt und ist
extrem schmerzgequält. Der Notarzt stellt eine Tachykardie, 40°C
Besonders groß ist die Gefahr einer traumatischen fortgeleite- Fieber und eine deutliche Nackensteifigkeit fest und weist den
ten Meningitis, wenn nach dem Trauma eine Oto- und/oder Patienten in die Klinik ein.
Rhinoliquorrhoe besteht. Diese ist daran zu erkennen, dass Bei Aufnahme werden keine neurologischen Herdbefunde
beim Aufrichten aus dem Liegen und beim Bücken seröse Flüs- gesehen, der Patient ist jetzt aber bewusstseinsgetrübt. Das CT
sigkeit aus der Nase oder in Seitenlage aus dem Ohr läuft. Nach ist normal. Der Liquor steht unter hohem Druck und ist trüb.
Frakturen des Gesichtsschädels soll man die Patienten speziell Mikroskopisch zeigt sich ein Zellbild, wie es in . Abb. 18.1c
nach diesem Flüssigkeitsabfluss fragen. Ist die Flüssigkeit zu- abgebildet ist. Es wird die Diagnose einer Meningokokkenmenin-
ckerhaltig und enthält β-Transferrin, handelt es sich um Li- gitis mit beginnender Sepsis gestellt. Der Patient wird sofort mit
quor. Die Gefahr einer Meningitis ist dann besonders groß. Penicillin G, 4-mal 10 Mega-IE, behandelt. Schon am nächsten
Diese Meningitis entsteht oft erst nach Wochen, selbst Mona- Morgen ist er fieberfrei und bewusstseinsklar. Nach 2 Tagen kann
ten und Jahren. Sie rezidiviert, wenn die Duradehiszenz nicht er die Intensivstation verlassen. Nach 2 Wochen verlässt er ge-
plastisch verschlossen wird. Rezidive bringen die Gefahr des sund die Klinik. Eltern und Geschwister wurden prophylaktisch
Hirnabszesses oder der chronischen Arachnopathie mit Ver- mit Rifampicin behandelt.
klebungen der Hirnhäute und Hydrocephalus communicans
mit sich.
18.4 Hirnabszesse
18.3.2 Listerienmeningitis 3Definition. Der Hirnabszess ist eine lokale Infektion des
Hirngewebes, die als fokale Enzephalitis (»Zerebritis«) beginnt
Die Listerienmeningitis tritt vor allem bei Patienten mit Beein- und sich zu einer Eiteransammlung mit Bindegewebskapsel
trächtigung der Immunabwehr auf. Vorbehandlung mit Im- entwickelt. Das zerebrale subdurale Empyem ist eine fokale
munsuppressiva oder chronischer Alkoholismus sind die häu- Eiteransammlung im Subduralraum.
figsten prädisponierenden Faktoren.
3Pathogenese. Wie die eitrige Meningitis, entstehen Hirn-
3Symptome und Diagnostik. Die Listerienmeningitis ist abszesse hämatogen-metastatisch, fortgeleitet und durch of-
meist eine basale Meningoenzephalitis. Typisch ist auch eine fene Hirnverletzung, septische Sinusthrombose oder in Folge
Hirnstammenzephalitis. Sie kann sehr schwer verlaufen. einer bakteriellen Meningitis.
Frühes Koma und Beatmungspflichtigkeit sind die Regel. Pathologisch-anatomisch findet man im Frühstadium eine
Manchmal ist die Meningitis apurulent, d.h., der Liquor ist mit schlecht abgegrenzte, herdförmige, bakterielle zerebrale Ent-
Listerien übersät, aber es kommt kaum zu einer zellulären Ab- zündung. Durch Zusammenfließen kleinerer Eiterherde ent-
wehrreaktion. Im Liquor erkennt man die Listerien als gram- steht zunächst eine Phlegmone, danach der Abszess. Die loka-
positive Stäbchen. le Entzündung setzt eine mesenchymale Abwehrreaktion in
Gang, bei der eine Kapsel um den Abszess gebildet wird. Ein
3Therapie. Bei schwer verlaufender Meningitis, unklarem ausgeprägtes vasogenes Hirnödem findet sich um nahezu je-
Erreger und Vorerkrankung des Patienten sollte diese Mög- den Abszess.
lichkeit berücksichtigt werden. Listerien sind auf Ampicillin
sensibel, weswegen in unklaren Fällen Ampicillin zu einer 3Lokalisation. Die hämatogenen Abszesse sind oft mul-
Zweier- oder Dreierkombination hinzugegeben wird. tipel. Sie sind bevorzugt an der schlecht vaskularisierten Grenze

Exkurs
Komplikationen der bakteriellen und tuberkulösen Meningitis
Hydrocephalus. Durch meningeale Verklebungen am Aus- Teil auch durch Freisetzung von Entzündungsmediatoren. Eine
gang des IV. Ventrikels kann ein Hydrocephalus occlusus Vaskulitis entsteht besonders bei Pneumokokkenmeningitis,
entstehen, der zur kritischen Hirndrucksteigerung führen seltener bei Meningokokkenmeningitis und besonders stark
kann und zunächst mit einer Außenableitung des Liquors ausgeprägt bei tuberkulöser und bei luetischer Meningitis.
aus dem Seitenventrikel behandelt wird.
Epileptische Anfälle. Epileptische Anfälle sind häufige
Vaskulitis. Bei einer Reihe von bakteriellen Meningitiden Komplikationen. Meist fokal eingeleitet, neigen sie zur Genera-
kommt es zur sekundären Vaskulitis. Diese entsteht ent- lisierung. Penicillin verstärkt die Krampfneigung. Eine prophy-
weder durch direkten Erregerbefall oder immunologisch. laktische, antikonvulsive Behandlung mit Phenytoin kann bei
Die Folge sind arterielle Durchblutungsstörungen, Infarkte schwer verlaufender Meningitis sinnvoll sein. Hierzu gibt es
(. Abb. 18.6) und eine Zunahme der Hirnschwellung, zum allerdings keine prospektiven Studien.
448 Kapitel 18 · Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute

zwischen Rinde und Mark in Groß- und Kleinhirn lokalisiert. lappen oder Kleinhirn – auf Aphasie, Gesichtsfeldeinschrän-
In der Mehrzahl der Fälle stammen die Erreger, vorwiegend kung, einseitige Abschwächung der BHR oder einseitige
grampositive Kokken, aus eitrigen Lungenprozessen, wie Bron- Störung der Bewegungskoordination (Zeigeversuche, Diado-
chiektasen oder abszedierender Pneumonie. Prinzipiell ist aber chokinese).
eine Einschwemmung aus jeder Körperregion möglich. Immun-
schwäche und Vorbehandlung mit unwirksamen Antibiotika 3Diagnostik. In CT und MRT stellt sich der Abszess meist
begünstigen ihre Entstehung. als unscharf begrenzte Zone stark verminderter Dichte mit den
Fortgeleitete Abszesse sind in der Regel solitär. Sie ge- zusätzlichen Zeichen der Massenverlagerung dar. Im Gegen-
hen meist von eitrigen Entzündungen im Mittelohr, Mastoid satz zur Hirnphlegmone kommt es beim abgegrenzten Hirn-
oder den Nasennebenhöhlen aus, bei Osteomyelitis, Gesichts- abszess nach Kontrastmittelgabe regelmäßig zu einer ring-
furunkel oder auch nach Schädelbasisfraktur. Rhinogene förmigen Anhebung der Dichte am Rande der Nekrosezone
Abszesse sind meist im Stirnhirn, otogene im Schläfenlappen (. Abb. 18.7). Bei klinischem Verdacht kann es nötig sein,
oder im Kleinhirn lokalisiert. Bei offener Hirnverletzung ge- durch wiederholte, computertomographische Untersuchungen
langen pyogene Keime mit Knochenteilen oder Geschosssplit- den Übergang einer Hirnphlegmone in einen abgekapselten
tern in die Hirnsubstanz. Sie führen dann zum Frühabszess Abszess nachzuweisen. So typisch die Ringstruktur für einen
oder zur Hirnphlegmone. Auch nach vielen Jahren, selbst Abszess ist, so wenig beweisend ist sie aber für diese Diagnose
nach mehreren Jahrzehnten, ist die Ausbildung eines Spätabs- ohne Kenntnis des klinischen Befunds, da solche Ringstruktu-
zesses möglich. ren z.B. auch bei Gliomen und Metastasen, selbst nach Hirnin-
farkten und Blutungen, gefunden werden. Deshalb kann eine
3Erreger. Die häufigsten Erreger sind vergrünende Strep- Biopsie zur Sicherung der Diagnose nötig sein. In der MRT
tokokken, Staphylococcus aureus, Pneumokokken und Ente- lassen sich kleine Satellitenabszesse, Einblutungen und die Be-
rokokken. Auch Anaerobier können gefunden werden. ziehungen zur Schädelbasis oder zu den Nebenhöhlen weitaus
genauer darstellen.
3Symptome. In akuten Fällen zeigt die rasche Entwicklung Liquor. Solange der Abszess nicht in die Ventrikel ein-
von Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit, Bewusstseinstrübung, bricht, zeigt der Liquor nur eine leichte Eiweißvermehrung
epileptische Anfälle (bis zu 30% der Fälle) und zerebralen und meist nur eine geringe Pleozytose.
Herdsymptomen die schnelle Ausbreitung des Abszesses und Das EEG wird meist einen Herd sehr langsamer Wellen
des kollateralen Ödems an. (Sub-δ-Wellen) und oft auch eine Allgemeinveränderung zei-
Chronische Abszesse führen oft zunächst zu Anfällen gen. Auf Epilepsie hinweisende Potentiale kommen vor.
und anderen Herdsymptomen (Hemiparese, Hemianopsie), Die Fokussuche kann sich schwierig gestalten. Sie schließt
bevor die Zeichen des Hirndrucks zu erkennen sind. Nur die HNO-ärztliche Untersuchung, CT-Aufnahmen der Schä-
bei der Hälfte der Patienten entwickelt sich eine Stauungs- delbasis, von Nebenhöhlen, Mastoid und Mittelohr und die
papille. Suche nach kardialen (Endokarditis), pulmonalen, kutanen
Allgemeine Entzündungszeichen, wie Fieber, Leukozyto- oder ossären Infektionen ein. Das CRP ist der wichtigste Mar-
se und Beschleunigung der BSG können fehlen. Dennoch ker der Entzündungsaktivität.
wirken die Patienten schwer krank. Die Verdachtsdiagnose
wird aus den klinischen Symptomen gestellt. Dabei achtet 3Komplikationen. Komplikationen des Hirnabszesses sind
man vor allem auf eine zunehmende psychische Verlang- die eitrige Durchwanderungsmeningitis, der Durchbruch in
samung oder affektive Abstumpfung und – entsprechend die Ventrikel mit Pyocephalus internus und akuter Meningitis
den bevorzugten Lokalisationen im Stirnlappen, Schläfen- sowie die Hirnschwellung mit Einklemmung.

. Abb. 18.6. Multiple vaskuläre Läsionen


bei Pneumokokkenmeningitis. Die ischä-
mischen Läsionen finden sich in verschiedenen
18 Gefäßterritorien. Als Nebenbefund noch ein
subdurales Hygrom über der rechten Hemis-
phäre

a b
18.4 · Hirnabszesse
449 18
Exkurs
Andere Lokalisationen von Abszessen und Empyemen
Epiduraler Abszess Subdurales Empyem
Er wird meist durch Streptokokken oder Staphylococcus Dies entsteht nicht selten durch Fortleitung einer extrakrani-
aureus verursacht und ist fast immer mit einer Sinusitis, ellen Infektion über Emissarien nach intrakraniell. Fieber, Kopf-
einem vorhergegangenen Trauma oder einer Operation an schmerzen und Nackensteifigkeit sind die führenden Akut-
den Nasennebenhöhlen verbunden. Kopfschmerzen und symptome. Die Patienten entwickeln häufig Anfallserien und
epileptische Anfälle stehen im Vordergrund der Symptome. erhöhten Hirndruck. Beides wird entsprechend intensivmedi-
Die Diagnose wird leicht mit dem MRT gestellt, die eine zinisch behandelt. Thrombotische Verschlüsse der Venen
eitergefüllte epidurale Raumforderung zeigen. können zu kleinen, venösen Infarzierungen führen.
Chirurgische Therapie: Nach einer Kraniotomie wird der Das CT ist die initiale diagnostische Methode. Neben der
Epiduralraum vom Eiter befreit und mit Antibiotikalösung subduralen Eiteransammlung können im MRT kleine intrapar-
ausgespült. Eine Drainage wird über mehrere Tage eingeführt enchymatöse Abszesse, Kammerungen im Subduralraum und
und regelmäßig gespült. Systemische Antibiose (s.o.) und venöse Infarzierungen gefunden werden.
allgemeine, intensivmedizinische Maßnahmen sind notwen- Die Therapie entspricht der beim epiduralen Abszess.
dig. Die Deckung des Knochendefekts erfolgt erst nach eini- Subdurale Emphyeme neigen zu Rezidiven. Relativ häufige
gen Monaten, wenn sicher ausgeschlossen werden kann, Kontroll-Computertomographien sind notwendig.
dass keine Osteomyelitis des Knochenrands entstanden ist.

Leitlinien Diagnose und Behandlung der zerebralen Abszesse*


4 Die entscheidende diagnostische Maßnahme ist das gut gegen Staphylokokken wirksames Antibiotikum (z.B. Van-
kraniale CT (CCT) oder MRT (C-MRT), ohne und mit Kontrast- comycin, Rifampicin oder Flucloxacillin) empfohlen (C), im
mittel. Das C-MRT ohne und mit Gadoliniumgabe ist in seiner Einzelfall kann bei Auftreten von multiresistenten Staphylokok-
Sensitivität dem CCT überlegen (C). ken auch eine Kombination mit Fosfomycin (Dosierung 3-mal
4 Für die Erregeridentifikation sind Blutkulturen sowie die 5 g/Tag) oder eine Therapie mit Linezolid (Dosierung 2-mal
rasche Gewinnung von Abszessinhalt durch (stereotaktische) 600 mg/Tag) angezeigt sein (C).
Punktion, Drainage oder Abszessexzision entscheidend (C). 4 Bei postoperativen bzw. posttraumatischen oder innerhalb
4 Bei raumfordernden Abszessen ist die Liquorentnahme des Krankenhauses erworbenen Abszessen wird als ungezielte
wegen der Gefahr der transtentoriellen und/oder zerebel- Therapie vor Erregernachweis ein Cephalosporin der 3. Genera-
lären Herniation kontraindiziert (C). tion plus Metronidazol plus Vancomycin (alternativ Meropenem
4 Die Therapie ist in der Regel kombiniert operativ plus plus Vancomycin) empfohlen (C).
antibiotisch. Eine alleinige Antibiotikatherapie zur Abszess- 4 Eine adjuvante Therapie mit Kortikosteroiden ist indiziert,
behandlung ist gerechtfertigt, wenn multiple, tief gelegene wenn ein ausgeprägtes perifokales Ödem vorliegt bzw. eine
und/oder kleine Abszesse vorliegen oder wenn sich noch Herniation droht, multiple Abszesse mit deutlichem perifo-
keine Ringstruktur nach Kontrastmittelgabe demarkiert kalem Ödem vorliegen, die nur teilweise operativ angehbar
(»Zerebritis«) (C). sind, oder Hirnregionen mit besonderer Ödemneigung (z. B.
4 Bei außerhalb des Krankenhauses erworbenem intrakra- Kleinhirn) betroffen sind (C).
niellem Abszess und unbekanntem Erreger wird als empi-
rische antibiotische Therapie die hochdosierte Gabe eines
Cephalosporins der 3. Generation plus Metronidazol plus ein * Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)

3Therapie 4 Die allgemeine, antibiotische Behandlung muss lange Zeit


4 Liegt ein frischer, hämatogener Abszess mit eitriger Me- fortgesetzt werden. Otogene oder rhinogene Abszesse sowie
ningitis und noch ohne Kapselbildung vor, wird zunächst, wie frühe Abszesse nach offener Hirnverletzung werden sofort ope-
bei der Meningitis, konservativ behandelt. riert. Man behandelt mit Cefotaxim (3-mal 2–4 g) oder Ceftri-
4 Ist der Abszess abgekapselt, kann die neurochirurgische axon (2-mal 2 g i.v.) plus Metronidazol (3-mal 0,5 g i.v.) plus
Behandlung (stereotaktische Abszessaspiration mit Spüldrai- Staphylokokken-Antibiotikum (z B. Vancomycin 2-mal 1 g i.v.,
nage) in Frage kommen, da viele Antibiotika nicht durch die Rifampicin 1-mal 0,6 g i.v., Flucloxacillin 4-mal 2–3 g i.v.). Post-
Kapsel an den Eiterherd gelangen können. traumatische Abszesse behandelt man mit Vancomycin (2-mal
1 g i.v.) plus Cefotaxim (3-mal 2–4 g) oder Ceftriaxon (2-mal
Viele Neurochirurgen operieren zweizeitig: Sie punktieren 2 g i.v.) plus Metronidazol (3-mal 0,5 g i.v.). Vancomycin kann
zunächst durch ein Bohrloch den Abszess an und instillieren auch intrathekal oder in den Abszess gegeben werden.
ein Antibiotikum, bis der Inhalt des Abszesses keimfrei ist. 4 Die meisten Patienten müssen intensivmedizinisch behan-
Erst dann wird die Kapsel extirpiert. Dies ist aber nicht immer delt werden (Hirndrucktherapie, Behandlung von Anfällen,
notwendig. Behandlung des Multiorganversagens).
450 Kapitel 18 · Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute

4 Eine prophylaktische antikonvulsive Behandlung (30–70% logische Diagnostik mit TEE ist erforderlich und muss ggf.
der Patienten entwickeln in der Akutphase Anfälle) kann ver- wiederholt werden.
treten werden. Sie kann in der Regel nach 3 Wochen wieder
beendet werden. 3Therapie und Prognose. Unbehandelt, führt die embo-
lische Herdenzephalitis zum Tode.
3Prognose. Die Letalität konnte bei chronischen Abszessen 4 Wir behandeln mit einer Dreierkombination aus Cepha-
auf etwa 10% gesenkt werden. Bei akuten Abszessen liegt sie, je losporin der dritten Generation, Aminoglykosid und Staphy-
nach Lokalisation und Erreger, über 20%. Auch nach erfolg- lokokken-Penicillin (. Tabelle 18.3).
reicher Behandlung bleiben oft neurologische Restsymptome 4 Oft haben die Patienten eine Verbrauchskoagulopathie.
zurück. Diese wird mit Heparin, AT-III und Frischplasma behandelt.

18.5 Embolisch-metastatische Herd- 18.6 Treponemeninfektionen:


enzephalitis Lues und Borreliose

3Pathogenese. Bei einer bakteriellen Endokarditis können 18.6.1 Lues


multiple, septische Emboli auch in die Hirnarterien gelangen.
Dadurch kommt es in erster Linie zu multiplen, kleinen, ischä- 3Epidemiologie. Nachdem die Lues in Mitteleuropa und
mischen Infarkten mit entzündlichen Infiltraten, die die Erre- den USA selten geworden war, ist in den letzten Jahren wieder
ger enthalten. Diese Mikroabszesse sind vorwiegend in der eine leichte Zunahme der Krankheit festzustellen. Oft bleibt die
grauen Substanz, im Versorgungsbereich der Arteriolen und Beteiligung des Zentralnervensystems bei Lues asymptoma-
Kapillaren lokalisiert. tisch. Als Neurolues fassen wir die Spätformen der Lues mit
ZNS-Befall zusammen. Etwa 10% der männlichen und ca. 5%
3Symptome. Unter Kopfschmerzen, septischem Fieberan- der weiblichen, unbehandelten, luesinfizierten Patienten ent-
stieg und Bewusstseinstrübung treten schubweise generalisier- wickeln neurologische Komplikationen.
te oder fokale Krampfanfälle und zerebrale Herdsymptome der
verschiedensten Art auf. An der Haut findet man Osler-Knöt- 3Krankheitsstadien. Im frühen Stadium, der primären
chen und Janeway-Flecken als Ausdruck der generalisierten Lues, finden sich Hautläsionen, die etwa 2–4 Wochen nach In-
Streuung. fektion auftreten. Das Sekundärstadium ist durch hämatogene
Aussaat von Treponema pallidum gekennzeichnet. Hierbei
3Diagnostik. Internistisch findet man Anämie, Leukozy- kann eine lymphozytäre Meningitis entstehen. Im Tertiärsta-
tose mit Linksverschiebung, stark beschleunigte BSG, Milzver- dium kann es zur Lues cerebrospinalis mit Vaskulitis, zur pro-
größerung und im Urin die Zeichen der embolischen Herd- gressiven Paralyse und zur Tabes dorsalis kommen.
nephritis. Durch Blutkultur lassen sich die Erreger nachweisen.
In 90% handelt es sich um Streptococcus viridans. 3Diagnose. Zum Screening wird im Allgemeinen der Tre-
Der Liquor ist entzündlich verändert. Im CT und MRT ponemen-Hämagglutinationstest (TPHA) oder der VDRL-
findet man anfangs nur geringe Veränderungen, später aus- (Venereal Disease Research Laboratory-)-Test eingesetzt, ein
gedehnte, konfluierende Ödeme mit zentralen, hyperdensen Kardiolipintest, mit dem Antikörper auf Treponema pallidum
Anteilen (. Abb. 18.7) oder intrazerebrale Blutungen, die aus identifiziert werden können. Er bedarf bei positivem Ausfall
mykotischen Aneurysmen stammen. Eine ausführliche kardio- der Bestätigung durch einen spezifischen Treponementest wie

18

a b c

. Abb. 18.7. MRT bei septischer Herdenzephalitis MRT; a FLAIR – vereinzelte subcorticale signalhyperintense Zonen (Pfeile), die diffusions-
eingeschränkt sind (b) und Kontrastmittel aufnehmen (c)
18.6 · Treponemeninfektionen: Lues und Borreliose
451 18
. Abb. 18.8. a Temporaler Abszess in verschie-
denen MRT-Sequenzen. T2: hyperintenser Abszess-
kern mit hypointenser Kapsel und deutlichem Be-
gleitödem. Im diffusionsgewichteten MR erschwerte
Diffusion (rechts oben). Nach KM deutliche Anreiche-
rung der Kapsel. b Hochfrotaler Abszess mit sub-
duralem Empyem. Ähnliche Darstellung des Abs-
zesses wie in a, zusätzlich Diffusionsbehinderung
und KM-Aufnahme im Subduralraum

b
452 Kapitel 18 · Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute

Exkurs
Lues-Serologie
Als Beweis für eine lokale Antikörpersynthese im ZNS mit ergänzt durch den Nachweis einer autochthonen Produktion
überproportionaler Konzentration der Syphilisantikörper von Immunglobulinen im Liquor. Da die lokale Produktion von
muss der Serum-Liquor-Quotient TPHA deutlich (mindestens IgG im ZNS vieldeutig ist, muss man den Serum-Liquor-Quoti-
dreimal) kleiner sein als der Serum-Liquor-Quotient IgG. Bei enten des treponemenspezifischen IgG bestimmen. Dies
progressiver Paralyse finden sich die höchsten Werte des geschieht durch den Vergleich des unspezifischen Serum-
Liquor-IgG-Index, bei Lues cerebrospinalis findet man er- Liquor-Quotienten für IgG mit dem spezifischen TPHA-Serum-
höhte Werte und bei Tabes dorsalis ist der Quotient grenz- Liquor-Quotienten
wertig. Eine klinisch aktive Lues kann über den Nachweis Bei ausreichender Therapie ist nach rund 6 Monaten die
spezifischer, intrathekaler IgM-Antikörper nachgewiesen Pleozytose normalisiert. Über mehrere Jahre fällt der Titer der
werden. Abfall dieser Antikörper unter Therapie und spätere immunologischen Reaktionen stetig ab. Der Rückgang der
Wiedererhöhung sprechen für eine Reinfektion oder einen Titer beginnt erst 5–12 Wochen nach dem Ende der Behand-
Rückfall. lung und wird durch weitere, antibiotische Behandlungen
Quantitative Reaktionen erlauben es, die jeweilige Akti- nicht beschleunigt. Leichtere Vermehrungen des Gesamtei-
vität und damit Behandlungsbedürftigkeit der nachgewie- weißes können als »Narbensymptome« dauernd bestehen
senen luischen Infektion zu beurteilen. Hierfür verwendet bleiben. Die modernen, empfindlichen, immunologischen
man, auch im Liquor, den VDRL-Test (s.o.) und den 19S-IgM- Reaktionen bleiben bei allen Formen der Neurolues auch nach
FTA-Abs-Test, einen Absorptionstest zum Nachweis spezifi- erfolgreicher Penizillintherapie lebenslang mit niedrigen Titern
scher IgM-Antikörper. Die Serodiagnose der Neurolues wird positiv.

Facharzt
Verschiedene Stadien der zerebralen Luesinfektion und der Neurolues
Frühluische Meningitis Neurolues
3Definition. Im Beginn des Sekundärstadiums, wenn Man unterscheidet folgende Stadien der Neurolues:
unter allgemeiner Drüsenschwellung das Primärexanthem 4 die Lues cerebrospinalis,
auftritt, kommt es in vielen Fällen zu einer meningealen 4 die progressive Paralyse (P. P.),
Reaktion. Tritt in diesem Stadium ein schwererer, meningi- 4 die Tabes dorsalis (T. d.) und
tischer Krankheitszustand auf, spricht man von der früh- 4 die Kombination der letztgenannten, die Taboparalyse.
luischen Meningitis.
Lues cerebrospinalis
3Symptome. Kopfschmerzen und Nackensteifigkeit, meist 3Pathogenese. Sie ist eine Vaskulitis, die als Panarteriitis,
mit Fieber, sind die initialen Symptome. Hirnnerven (Nn. opti- als Periarteriitis oder als Endarteriitis auftritt. Der Prozess er-
cus, facialis und stato-acusticus) können beteiligt sein. greift vor allem die basalen Hirnarterien mit ihren Ästen und
die A. cerebri media. Die Treponemen dringen über die Vasa
3Diagnostik. Im Liquor beträgt die lymphozytäre Pleozy- vasorum in die Gefäßwände ein und lösen eine Gefäßwand-
tose bis zu 300–400 Zellen l/μl, das Eiweiß ist leicht vermehrt, entzündung mit Intimawucherung aus. Dadurch verengt sich
die immunologischen Reaktionen sind in Blut und Liquor das Lumen konzentrisch bis zum Gefäßverschluss. Wie bei
stark positiv. jeder anderen obliterierenden Gefäßwandkrankheit, kommt es
sekundär zur ischämischen Schädigung des Nervengewebes.
3Therapie und Prognose. Man behandelt die frühlu-
ische Meningitis mit Penicillin. Die Prognose ist in der großen 3Symptome. Die Krankheit verläuft mit rezidivierenden
Mehrzahl der Fälle gut. Häufig wird der Liquor auch durch ischämischen Insulten in wechselnden Gefäßterritorien des
immunologische Abwehrvorgänge im Laufe der ersten 3 Jah- Gehirns bzw. des Rückenmarks. Häufig ist das vertebrobasiläre
18 re spontan saniert. Bilden sich die Liquorveränderungen des Stromgebiet betroffen.
Sekundärstadiums innerhalb von 3–5 Jahren nicht wieder
zurück, besteht eine erhöhte Gefahr, dass sich eine Neuro- 3Diagnostik. Zusätzlich zu den neurologischen, sonogra-
lues entwickelt. Dabei sind es die Pleozytose und die hohen phischen und CT-Befunden der stenosierenden Gefäßkrank-
Titer der immunologischen Reaktionen, die erkennen lassen, heit ist der Liquor entzündlich verändert, und die Luesserolo-
dass der Prozess noch oder wieder aktiv ist und spezifische gie ist positiv. Die Angiographie beweist isolierte oder multiple
immunbiologische Vorgänge unterhalten werden (Lues Gefäßstenosen (. Abb. 18.9).
latens seropositiva).
3Therapie und Prognose. Die Prognose ist für die unbe-
handelten Fälle schlecht: Im weiteren Verlauf bleiben die
6 neurologischen Ausfallsymptome bestehen, es entwickelt sich
18.6 · Treponemeninfektionen: Lues und Borreliose
453 18

eine Demenz, und schließlich führt ein größerer, apoplekti- 3Therapie. Der Therapieerfolg ist abhängig vom Ausmaß
scher Insult zum Tode. der Gewebszerstörung. Ohne Behandlung ist der Verlauf rasch
Setzt dagegen rechtzeitig die Penicillintherapie ein, kann progredient. Im Endstadium kommt es zu zentralen Lähmun-
man einen Rückgang auch schwerer akuter Symptome errei- gen. Die Kranken sterben schwer dement und desorientiert im
chen. Neurologische und psychische Ausfälle, die auf Auto- Marasmus.
immunprozessen oder auf einer irreparablen ischämischen
Parenchymschädigung beruhen, können allerdings weiter Tabes dorsalis
fortschreiten oder bleiben als Defektsymptome zurück. Die Tabes dorsalis (T. d.) ist eine entzündlich-degenerative
Krankheit mit Lokalisation an den hinteren Wurzeln, der Pia
Progressive Paralyse und in den Hintersträngen des Rückenmarks.
3Definition und Pathogenese. Die progressive Paralyse
(P. P.) ist eine primäre, luische Enzephalitis vor allem des 3Symptome. Auch die T. d. ist heute extrem selten; daher
Stirnhirns mit Gefäßreaktion und begleitender Meningitis. In wird sie nur kurz besprochen.
der Hirnrinde und in den Basalganglien, nicht dagegen im Typische Symptome sind Reizerscheinungen des Tr. spino-
Marklager, findet man reichlich Treponemen. In 80% der Fälle thalamicus mit einschießenden Schmerzen, autonome Störun-
besteht eine luische Mesaortitis. Andere Organe sind nur gen, Muskelhypotonie, spinale Ataxie und Reflexverlust. Die
selten befallen. Schmerzen können auch im Bauchraum auftreten und ein
akutes Abdomen vortäuschen. Auch die Propriozeption geht
3Epidemiologie. Nur wenige Lueskranke bekommen verloren (sensible Ataxie). Die Eigenreflexe erlöschen durch
noch eine P. P., vermutlich wegen ausreichender Penicillin- Unterbrechung des spinalen Reflexbogens in den Hinterwur-
behandlung im Frühstadium. Die ersten Symptome setzen zeln.
mit einer Latenz von 8–10 Jahren nach der Infektion ein. Die Pupillen sind oft entrundet, ungleich weit und zeigen
Männer sind häufiger betroffen als Frauen, obwohl diese sich immer Störungen der Lichtreaktionen, während die Koinner-
nicht seltener mit Lues infizieren. vation der Pupille bei Konvergenz erhalten ist (Robertson-
Phänomen). Die tabische Optikusatrophie beginnt oft einsei-
3Symptome. Die Krankheit beginnt mit einem uncha- tig, ergreift aber später auch das andere Auge. Bald darauf
rakteristischen Vorstadium, in dem die Patienten über Kopf- setzt ein Visusverfall ein, der bis zur Erblindung geht. Ophthal-
schmerzen, Nachlassen von Merkfähigkeit, Konzentration moskopisch ist die Papille porzellanweiß und scharf begrenzt.
und körperlicher Leistungsfähigkeit sowie über Schlafstörun- An den inneren Organen finden sich häufig Aorteninsuffi-
gen klagen. Sie versagen im Beruf, vernachlässigen ihre zienz oder Aortenaneurysma (Mesaortitis luica).
Hobbys, und der Umgebung fällt eine zunehmende Ver-
flachung ihrer Persönlichkeit und affektive Labilität auf. 3Therapie und Prognose. Der Verlauf ist wechselnd. Auch
Aus diesem Vorstadium entwickelt sich schleichend die bei der Tabes ist der Zeitpunkt der Therapie entscheidend für
manifeste Psychose. Das Achsensymptom der progressiven den Therapieerfolg. Die oft sehr quälenden, lanzinierenden
Paralyse ist die Demenz. In fortgeschrittenen Stadien kom- Schmerzen können mit Carbamazepin oder Amitriptylin be-
men Lähmungen, epileptische Anfälle und Ataxie hinzu. Zu handelt werden. In manchen Fällen kommt die Krankheit
Einzelheiten des psychopathologischen Bildes sei auf die spontan zum Stillstand, in anderen ist sie, ohne Behandlung,
psychiatrische Literatur verwiesen. Neurologisch findet man über Jahre langsam progredient, bis im Zustand des Marasmus
bei 80–90% der Kranken Pupillenstörungen: absolute Starre durch Urosepsis oder Infektion von Dekubitalgeschwüren der
(etwa 50%), mangelhafte Lichtreaktion und Robertson-Phäno- Tod eintritt.
men (20–30%). Der Tonus der Muskulatur ist rigorartig erhöht.

den FTA-Abs (fluorescent treponemal antibody absorption). 3Allgemeine Therapie der Neurolues
Während der VDRL-Test nach Therapie schnell negativ 4 Alle Formen der Neurolues werden mit Penicillin, 2 Wo-
wird, können die spezifischen Treponementests längere Zeit chen lang 4-mal 3–4-Mega IE Penicillin G als Kurzinfusion
auch bei erfolgreicher Behandlung positiv bleiben. Beide Tests behandelt. Nur wenn eine Penizillinallergie die übliche Be-
sind selten auch falsch-positiv, so bei Polyarthritis und Bor- handlung verbietet, gibt man Tetrazykline über 30 Tage (z.B.
reliose. Doxicyklin, 2-mal 200 mg/Tag).
Syphilis und HIV-Infektion: Gemeinsame Infektionen 4 Die Herxheimer-Reaktion ist mit Kortison (40–100 mg/
sind nicht selten, so dass es bei der Frühmeningitis schwer sein Tag i.v.) zu beherrschen. In der genannten Dosierung werden
kann, die beiden Krankheiten zu unterscheiden. Auch scheint durch die antibiotische Behandlung die Treponemen auch in
die Syphilis bei HIV-infizierten Personen schneller und schlecht durchbluteten Geweben abgetötet.
schwerer zu verlaufen. Ohne Antibiose können Stadien der ter-
tiären (Neuro-) Syphilis schon früh eintreten.
454 Kapitel 18 · Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute

Exkurs
Differentialdiagnose der luischen Pupillenstörungen
Pupillotonie. Die Störungen beginnen meist einseitig und Syndrom. Das Syndrom tritt erst in der Adoleszenz oder im
ergreifen erst nach Monaten oder Jahren auch das zweite mittleren Lebensalter auf. Die Ursache ist nicht bekannt. Für
Auge. Der Betroffene bemerkt dann im Spiegel die Pupillen- die Augensymptome nimmt man eine Funktionsstörung im
differenz und leidet unter Blendungsempfindlichkeit, da die Ggl. ciliare an. Das Syndrom hat keinen Krankheitswert. Es
Pupille sich beim Sonneneinfall nicht mehr reflektorisch ver- muss nicht behandelt werden. Es ist wichtig, den Patienten
engt. Das plötzliche Auftreten der Akkommodationsstörung über die Anomalie aufzuklären, damit nicht bei späteren Kran-
wird beim Lesen sofort bemerkt. Manchmal entwickelt sich kenhausaufenthalten erneut die Untersuchungen auf Lues
die Pupillotonie unbemerkt und wird erst bei einer ärztlichen einschließlich Liquorpunktion vorgenommen werden.
Untersuchung aus anderen Gründen zufällig festgestellt.
Ganglionitis ciliaris. Es gibt eine parainfektiöse Ganglionitis
Adie-Syndrom. Wenn zudem die Eigenreflexe an den Bei- ciliaris, die akut zur Pupillotonie und Akkommodotonie führt.
nen erloschen sind (ASR früher als PSR), besteht ein Adie- Sie ist und bleibt einseitig, und die Eigenreflexe sind erhalten.

3Prognose 18.6.2 Neuroborreliose


Die neurologischen und psychopathologischen Symptome der
tertiären Lues bilden sich nicht völlig zurück, da sie teilweise 3Epidemiologie. Die Zecke Ixodes ricinus, die in Europa
auf irreversiblen Parenchymveränderungen beruhen. und in den USA weit verbreitet ist, überträgt neben Arbo-
viren, die die seltene Frühsommer-Meningoenzephalomyelitis
ä Der Fall (FSME) verursachen (7 Kap. 19.3.5), auch die Borrelia burg-
Eine 45-jährige Frau kommt mit dem Symptom einer plötzlich dorferi aus der Familie der Treponemen. Etwa 80–90% der
aufgetretenen Hemianopsie mit Verdacht auf embolischen Ixodes-ricinus-Zecken sind mit Borrelia burgdorferi infiziert.
Schlaganfall in die Klinik. Im CT zeigt sich ein Posteriorinfarkt Nach dem Ort der ersten Beobachtung in den USA wird die
rechts und ein asymptomatischer, kleinerer Kleinhirnhemisphä- Krankheit auch Lyme-Borreliose genannt. Die Infektion durch
reninfarkt. Die Patientin klagt über eine seit Wochen bestehende Zeckenbiss erfolgt in der warmen Jahreszeit. Die Borrelienin-
Abgeschlagenheit, Fieber liegt nicht vor. Dopplersonographisch fektionen haben in Europa und in den USA ein etwas unter-
zeigt sich eine hochgradige Basilarisstenose, daneben noch schiedliches klinisches Bild. Wir besprechen hier die mitteleu-
Stenosen an der linken A. cerebri anterior und der rechten A. ce- ropäische Neuroborreliose. Klinisch kann die Borreliose neben
rebri post. Angiographisch findet man eine Basiliarisstenose. Im neurologischen auch dermatologische, kardiovaskuläre und
Liquor Pleozytose und deutlich erhöhtes Eiweiß mit oligoklo- rheumatologische Symptome hervorrufen.
nalen Banden. Liquor und Luesserologie sind positiv. Die Patien- Relativ häufig findet man positive serologische Ergebnisse
tin weiß nichts von einer Luesinfektion. Penicillinbehandlung in der gesunden Bevölkerung, etwa bei 2–10%. Waldarbeiter,
und Steroide führen zur Normalisierung des Liquorbefunds und Gartenbesitzer und andere Personen, die sich häufig in der
zur Besserung des Allgemeinbefindens. Die Stenosen bilden sich Natur aufhalten, haben eine höhere Durchseuchung.
nur wenig zurück. Die Hemianopsie bleibt bestehen.
3Symptome. Im ersten Stadium ist eine meist ringför-
mige, sich zentrifugal ausdehnende leicht erhabene Hautefflo-
reszenz, das Erythema chronicum migrans, typisch. Es entsteht
in den ersten Tagen und Wochen nach dem Zeckenbiss und
bleibt für einige Wochen bis Monate erhalten. Symptome eines
allgemeinen Krankheitsgefühls sowie Müdigkeit, Kopfschmer-
zen, Muskelschmerzen, leichtes Fieber, Hepatomegalie, Sple-
nomegalie, Konjunktivitis und Hämaturie treten hinzu. Diese
18 können auch ohne das Erythem Ausdruck einer Borrelienin-
fektion sein. Der Liquor ist in dieser Phase immer normal.
Das zweite Stadium setzt einen Monat nach dem Zecken-
biss ein. Das Erythem besteht weiter. Am Nervensystem finden
sich die Zeichen der lymphozytären Meningitis; es können
Hirnnervenlähmungen und eine Polyradikuloneuritis auftre-
ten. Manche Patienten entwickeln auch eine Myelitis. Charak-
teristisch sind heftige, radikuläre Schmerzen am Rumpf oder
den Extremitäten, die gegenüber gewöhnlichen Analgetika re-
. Abb. 18.9. Stenose der A. cerebri media bei luischer Vaskulitis. sistent sind und in der Nacht zunehmen.
Bei diesem 40-jährigen Mann mit transitorisch-ischämischen Attacken Lähmungen treten etwa 2 Wochen nach Einsetzen der ra-
zeigt sich in der Angiographie der A. carotis interna eine deutliche dikulären Schmerzen auf. Unter den Hirnnerven ist der N. fa-
proximale Stenose der A. cerebri media (Pfeil) cialis, auch doppelseitig, am häufigsten befallen, danach der
18.7 · Clostridieninfektionen
455 18
Exkurs
Borrelienserologie und Kausalität
Der Nachweis spezifischer Antikörpersynthese beweist nicht Symptomen, die sich nicht an einen Zeckenbiss oder ein
sicher, dass die neurologischen Symptome des Patienten auf Erythema erinnern, aufgrund eines IgG-Titers eine Neurobor-
einer Neuroborreliose beruhen. Das Risiko, eine Borreliose reliose zugeschrieben wird. Es wundert nicht, dass diese Patien-
nach Zeckenbiss zu erleiden, ist sehr gering, selbst wenn ten dann sekundär neurotisiert werden und weitere Symp-
eine Serokonversion stattfindet. Bei einer Feldstudie in Süd- tome entwickeln, die sie auf die vermeintliche Borreliose be-
westdeutschland fand man im Serum von 47% der unter- ziehen.
suchten Personen erhöhte Antikörpertiter. Nur in 2% ent- Geschürt wird der Verdacht auf eine Neuroborreliose
wickelte sich ein Erythema chronicum migrans. Über 2 Jahre durch selbsternannte Borrellienspezialisten, die serologische
entwickelte keine der beobachteten Personen weitere Mani- Befunde mit multiplen Antibiotikakuren und Außenseiterme-
festationen. thoden behandeln. Tendenziöse Informationen im Internet
Die Neuroborreliose wird stark überdiagnostiziert. Es ist und neurotisierende Patientenselbsthilfegruppen stellen auch
erstaunlich, wie vielen Patienten mit ganz unspezifischen keine Hilfe dar.

N. abducens. Als Bannwarth-Syndrom bezeichnet man die phalosporine der 3. Generation (Ceftriaxon 1-mal 2 g pro Tag
Kombination von Fazialisparese und Meningoradikulitis. Bei oder Cefotaxim 3-mal 2 g pro Tag i.v.) empfohlen. Behandelt
etwa 60% der Patienten treten asymmetrische, periphere Läh- hat das Stadium 1 eine gute Prognose.
mungen der Extremitäten auf. Gelenk- und Muskelschmerzen, 4 Dies gilt auch für das Stadium 2, in dem heute trotz der
manchmal auch eine Arthritis, kommen vor. Auch andere Or- Wirksamkeit von intravenösem Penicillin G (Dosierung wie
gane, wie die Augen, die Leber und das Herz können in den bei Lues) Cephalosporine gegeben werden.
Entzündungsprozess eingeschlossen sein. 4 Im chronischen Stadium 3 erfolgt ebenfalls eine zwei- bis
Im dritten Stadium entwickelt sich eine progrediente En- dreiwöchige Behandlung mit intravenösem Penicillin G oder
zephalomyelitis, die einen schubweisen Verlauf nehmen und eine zwei- bis vierwöchige Behandlung mit Cephalosporinen.
bei unbehandelten Kranken Monate oder Jahre andauern Steroide werden praktisch nicht eingesetzt.
kann. Wie bei der Lues, kann eine Vaskulitis zu einem Schlag-
anfall führen. Die chronische Enzephalitis und Enzephalomy- Wir behandeln auch schon auf Verdacht, wenn ein Zecken-
elitis macht bei jüngeren Patienten die Differentialdiagnose zur biss erinnerlich ist, eine Meningoradikulitis vorliegt und im
multiplen Sklerose häufig schwer. Eine chronische Polyneuro- Liquor Entzündungszeichen festzustellen sind, auch wenn
pathie vom axonalen Typ kann entstehen. die Borrelienserologie noch nicht positiv vorliegt. Die Be-
handlung wird beendet, wenn sich der Verdacht nicht be-
3Diagnostik. Im Liquor findet man im Stadium 2 und 3 stätigt. Eine Impfung gegen die Neuroborreliose ist noch nicht
eine lymphozytäre Pleozytose um 50 Zellen mit Eiweißver- möglich.
mehrung auf 1–2 g/l. Intrathekale Synthese von IgG oder eine Bei rechtzeitiger Behandlung kann mit Ausheilung gerech-
Dreiklassenreaktion mit erhöhten IgM- und IgA-Titern sowie net werden. Die Symptome des 2. Stadiums bessern sich lang-
oligoklonale Banden sind in fast 90% der Krankheitsfälle nach- sam, die des 3. Stadiums nur teilweise. Rhythmusstörungen bei
zuweisen. Serologisch gelingt der Nachweis von Borrelienanti- Borrelienkarditis können lebensgefährlich sein und müssen
körpern mit ELISA oder Westernblot. Direkte Anzüchtung kardiologisch behandelt werden.
von Borrelia burgdorferi und PCR sind weitere Nachweis-
methoden. Am wichtigsten ist der Nachweis von Antikörpern
der IgM-Fraktion. Eine frische Infektion wird nur über IgM- 18.7 Clostridieninfektionen
Antikörper bewiesen. Erhöhte IgG-Titer zeigen nur an, dass
früher einmal ein Kontakt mit Borrelien bestanden hat. Im Clostridium tetani und Clostridium botulinum setzen Toxine
Stadium 1 haben 20–50% der Patienten erhöhte IgM-Anti- frei, die die synaptische Übertragung im motorischen Nerven-
körper. In den Stadien 2 und 3 nimmt dagegen der Anteil der system beeinträchtigen. Die Sporen von Clostridium tetani
IgG-positiven Patienten zu. gelangen über verschmutzte Verletzungen in den Körper und
Im EMG findet man die Zeichen der Polyneuropathie, ver- produzieren dort das Toxin. Das Botulinumtoxin wird in infi-
längerte F-Wellen-Latenzen und im Falle einer Myelitis oder zierten Nahrungsmitteln produziert. Beide Keime sind Anae-
Enzephalomyelitis verzögerte, somatosensible Reaktionspo- robier.
tentiale. Gemeinsam ist beiden, dass sie präsynaptisch die Aus-
Im CT und MRT kann man bei der chronischen Borrelien- schüttung von Transmittersubstanzen blockieren. Die Unter-
enzephalomyelitis des 3. Stadiums ähnliche Befunde wie bei schiede in den klinischen Symptomen sind dadurch bedingt,
der multiplen Sklerose erheben. dass unterschiedliche Synapsen gestört werden. Das Tetanusto-
xin greift an der inhibitorischen Synapse der Vorderhornzellen
3Therapie und Prognose an, ist daher eine Krankheit, die sich an der Grenze zwischen
4 Im Stadium 1 (Erythema migrans) werden meist Tetrazy- zentralem und peripheren Nervensystem abspielt. Dagegen
kline (2-mal 100 mg/Tag Doxicyclin über 14 Tage) oder Ce- hemmt das Botulinumtoxin die Übertragung an cholinergen,
456 Kapitel 18 · Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute

neuromuskulären und vegetativen, cholinergen Synapsen, ist dert und nicht, wie beim Meningismus, bevorzugt bei der Vor-
also eine Krankheit des peripheren neuromuskulären Systems. wärtsbewegung.
Deshalb besprechen wir den Tetanus hier, den Botulismus da- Die fehlende Hemmung des inhibitorischen Reflexbogens
gegen in 7 Kap. 32. führt zu schmerzhaften und dauerhaften Spasmen, die nach
Berührung, nach Muskelaktivität oder spontan auftreten. Bei
leichterer Intoxikation sind diese auf die Gesichts- und
18.7.1 Tetanus Schlundmuskeln beschränkt.
In der generalisierten Form, die auch die häufigste ist, ist
3Epidemiologie. Tetanus ist eine in Entwicklungsländern der Patient unfähig, sich zu bewegen. Der Grund ist die maxi-
häufige, in industrialisierten Ländern durch Impfungen heute male Muskelaktivität in Agonisten und Antagonisten. Opist-
selten gewordene Krankheit. Weltweit erkrankt ca. 1 Million hotonus, Beugestellung der Arme und Überstreckung der Bei-
Menschen pro Jahr an Tetanus, in Deutschland nur etwa ne sind hierbei typisch, weil sie das Übergewicht der jeweiligen
20 Menschen jährlich. Die meisten Fälle von Tetanus folgen Agonisten zeigen.
einer akuten Verletzung der Haut bei Personen, die nicht oder Besonders gefährlich sind die Krämpfe der Glottismus-
nur unzureichend aktiv immunisiert wurden. Mit höherem keln, der Mm. intercostales und des Zwerchfells, die zur
Lebensalter sinken die Tetanus-Antitoxin-Antikörperspiegel; Atemlähmung führen können. Das Bewusstsein bleibt klar,
das Risiko, einen Tetanus zu entwickeln, ist bei über 60-Jäh- sofern nicht infolge Ateminsuffizienz eine zerebrale Hypoxie
rigen 5-mal höher als bei jungen Menschen. eintritt.
Lokaler Tetanus: Als lokaler Tetanus wird die Muskeltonus-
3Pathogenese. Tetanus entsteht durch Inokulation von erhöhung und Reflexsteigerung in Muskeln in der Nachbar-
Sporen des Clostridium tetani, die in von der Luft abgeschlos- schaft zur Verletzung bezeichnet. Der Kopftetanus, auch als
senen Wundtaschen ein Toxin, das Oligopeptid Tetanospas- halbseitiger Kopftetanus vorkommend, ist eine Variante dieses
min, entwickeln. Das Toxin wird über retrograden Transport lokalen Tetanus nach Inokulation der Sporen in eine Wunde
im motorischen Nerven zur Vorderhornzelle transportiert, im Gesicht. Er kann klinisch, jedoch nicht im EMG, das Bild
erreicht dort die glyzinergen, inhibitorischen Neurone des einer peripheren Fazialisparese oder einen Spasmus facialis
Rückenmarks und die gabaergen, inhibitorischen Neurone imitieren und wird oft verkannt. Seine Inkubationszeit ist be-
im Hirnstamm. Es hemmt präsynaptisch die Freisetzung der sonders kurz.
inhibitorischen Transmitter, die physiologischerweise die al-
> Trismus und sensorisch ausgelöste Muskelspasmen
phamotorische Vorderhornzelle in ihrer Erregung nach unten
sind die Leitsymptome des generalisierten Tetanus.
regulieren (Renshaw-Hemmung). Die Folge ist eine überschie-
ßende Dauererregung und Reflexenthemmung des willkür- 3Diagnostik. Der Liquor ist normal. Antikörper gegen Te-
motorischen Systems. Inhibitorische Synapsen des vegetativen tanus können im Verlauf differentialdiagnostisch nachgewie-
Nervensystems werden ebenfalls blockiert, und es resultiert sen werden, wenn nicht vorher eine Impfung erfolgte. Serum
eine Überaktivität des Sympathikus mit Krisen, die an ein Phä- und Urin werden auf Strychnin untersucht, um diese Vergif-
ochromozytom erinnern. Alle Arten von Verletzungen können tung auszuschließen.
zur Infektion führen. Der Erreger kann aus den Wunden nicht kultiviert werden.
Pathogenese und Symptomatik entsprechen der Strych- Die Inokulation von Patientenserum in eine Maus dient zum
ninvergiftung. Die Inkubationszeit schwankt zwischen weni- Toxinnachweis im Serum. Sie ist wenig aussagekräftig. Das
gen Stunden und mehreren Wochen. Je kürzer die Inkubati- Gleiche trifft auf den quantitativen Antitetanus-Toxoid-IgG-
onszeit, desto schwerer ist der Krankheitsverlauf. Nachweis im ELISA zu.
Im EMG findet man, auch ohne dass der Patient eine Be-
3Symptome. Wir unterscheiden den generalisierten und wegung ausführt, ein Aktivitätsmuster, das durch Berührung,
den lokalen Tetanus. Daneben gibt es noch den neonatalen Schmerz, aber auch durch akustische Reize bis zum Inter-
Tetanus. ferenzmuster verstärkt wird. Nach Beendigung einer willkür-
Generalisierter Tetanus: Nach einem Vorstadium von lichen Innervation nimmt die Dichte der Aktionspotentiale
18 Kopfschmerzen, verstärktem Schwitzen und allgemeiner Mat- nur sehr verzögert ab. Die Dauer der postreflektorischen In-
tigkeit mit motorischer Unruhe verspüren die Kranken zu- nervationsstille (silent period), geprüft am Bizepssehnen- oder
nächst eine unangenehme Spannung in den Kiefer- und Hals- Masseter-Reflex, ist verkürzt oder aufgehoben. Evozierte Po-
muskeln mit Schluckbeschwerden. In diesem Stadium sind tentiale sind normal, wenn man sie trotz der heftigen, konti-
schnelle Wechselbewegungen mit dem Mund erschwert – ein nuierlichen Muskelaktivität überhaupt artefaktarm ableiten
sehr wichtiges Frühsymptom. kann.
Bald stellen sich eine Kieferklemme (Trismus) und eine
Dauerspannung der mimischen Muskulatur ein, die dem Pati- 3Prophylaxe und Therapie. Grundprophylaxe: Die einzig
enten den typischen, verkrampften Ausdruck gibt, den man als sinnvolle Prophylaxe ist die vollständige, aktive Immunisie-
Risus sardonicus bezeichnet. Im Vordergrund stehen die Zei- rung durch s.c.- oder i.m.-Injektionen von je 0,5 ml Toxoid
chen des erhöhten Muskeltonus. Die Nackenmuskulatur ist (Tetanol®) im Abstand von 4–6 Wochen, gefolgt von einer
massiv angespannt, was die Verwechslung mit Meningismus Auffrischimpfung nach 6 oder mehr Monaten. Dadurch wird
nahe legt. Die Bewegungen sind aber in alle Richtungen behin- ein aktueller Schutz für 10 Jahre und eine lebenslange, latente
18.7 · Clostridieninfektionen
457 18

Leitlinien Behandlung des Tetanus*


4 Identifizierung und Sanierung der Eintrittspforte (A). nöse Applikation von Benzodiazepinen (Diazepam oder Mida-
4 Neutralisierung zirkulierenden Toxins und Immunisie- zolam) angezeigt (A), eventuell ist die intrathekale Applikation
rung. Neben der bisher empfohlenen Einmalgabe von 500 von Baclofen zu überlegen (B).
I.E. hTIG i.m. ist eine intrathekale Applikation von hTIG zu
überlegen (B).
4 Supportive/symptomatische Therapie: Unter Beachtung
der möglichen Komplikationen ist insbesondere die intrave- * Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)

Facharzt
Therapie bei manifestem Tetanus
4 Humanes Tetanusimmunoglobulin 500 IE. Antitoxin- (Benzodiazepinderivat), das kontinuierlich i.v. infundiert wer-
(Toxoid)-Auffrischung, nicht in die gleiche Extremität. Die den kann, sinnvoll.
Tetanusinfektion selbst ruft keine adäquate Immunantwort 4 Manchmal wird künstliche Beatmung notwendig. Zur
hervor. Vermeidung von für das Lungengewebe schädlichen Beat-
4 Antibiotische Therapie: Metronidazol (z.B. Clont®, Anae- mungsdrücken empfiehlt sich die periphere, neuromuskuläre
robex®) 500 mg i.v. alle 6 h für die Dauer von 7–10 Tagen zur Blockade mit Vecuronium. Man sollte bedenken, dass auch ein
Eradizierung von C. tetani. Bisher konnte nicht gezeigt wer- oraler Tubus Spasmen bewirken kann, daher frühzeitige Tra-
den, dass eine antibiotische Therapie Mortalität oder Morbi- cheotomie.
dität beeinflusst. Penicillin G ist ebenfalls gegen C. tetani 4 Hohe Dosen von Baclofen (Lioresal®) i.v. oder über einen
wirksam und wird in einigen Ländern neben Metronidazol lumbalen Katheter können bei schwersten Verlaufsformen
zur antibiotischen Therapie empfohlen. Da Penicillin jedoch des Tetanus eine langdauernde Muskelrelaxation vermeiden
ein zentral wirksamer GABA-Antagonist ist, können theo- helfen. Dosierung bei intrathekaler Gabe: initialer Bolus von
retisch hierdurch in Synergie mit TTX die Muskelspasmen 50–200 μg, dann kontinuierliche Infusion von 20 μg/h, Stei-
verstärkt werden. gerung alle 4 h 5–10 μg/h. Maximale Tagesdosen von
4 Bettruhe, Isolierung im abgedunkelten Zimmer. 2.000 μg sind berichtet. Dantrolen intravenös: loading dose:
4 Symptomatisch behandelt man mit Benzodiazepinen, 1,5 mg/kg KG, dann 0,5–1,5 mg/kg KG alle 4–6 h für bis zu
z.T. in sehr hoher Dosierung (Dosen von über 100 mg Va- 3 Wochen. Dantrolen wirkt am Muskel durch Hemmung des
lium® pro Tag und mehr sind nicht ungewöhnlich bei Kalziumeinstroms und ist in Einzelfällen erfolgreich zur Be-
schweren Tetanusformen). Alternativ ist auch Midazolam handlung tetanischer Spasmen eingesetzt worden.

Immunität aufgebaut, die jederzeit durch eine Auffrischimp- 3Verlauf und Komplikationen. Es dauert 4–12 Wochen, bis
fung in aktuelle Immunität überführt werden kann. das Toxin von den glyzinergen und gabaergen Synapsen ent-
Komplikationen der Toxoid-Prophylaxe: Die häufigste fernt ist. Entsprechend lang ist auch der klinische Verlauf.
Nebenwirkung sind Schmerzen an der Injektionsstelle. Seltene, Nachdem die respiratorischen Probleme durch künstliche Be-
aber ernste Komplikationen einer Tetanustoxoid-Booster- atmung und Muskelrelaxation heute gut kontrolliert werden
impfung sind die serogenetische Plexus brachialis Neuropathie können, ist die Überaktivität des Sympathikus mit seinen Fol-
und das sekundäre Guillain-Barré-Syndrom. gen die häufigste Ursache für einen tödlichen Verlauf. Supra-
Prophylaxe nach Verletzung: Im akuten Fall ist eine chi- ventrikuläre Tachykardien, die zum Kammerflattern führen
rurgische Wundversorgung indiziert. Nicht verlässlich aktiv können, und unbeeinflussbare hypertone Krisen sind hier zu
immunisierte Verletzte erhalten zur Prophylaxe eine Simultan- nennen.
impfung von 250–500 IE Antitetanushyperimmunglobulin
(Tetagam®) zur Vermeidung der neurologischen Komplika- 3Prognose. Die Prognose ist durch den initialen Schwere-
tionen und 0,5–1,0 ml Tetanustoxoid intramuskulär, nach 36 h grad der Tetanuserkrankung definiert. Während ein umschrie-
erneut 250 IE Tetagam. Liegt nachweislich eine ausreichende bener Extremitäten- oder Kopftetanus fast immer eine gute
Grundimmunisierung vor, wird akut eine Auffrischimpfung Prognose hat, verläuft der schwere, generalisierte Tetanus mit
mit Toxoid durchgeführt, die nach einem Jahr durch eine vierte Tachykardie und massiv erhöhter Körpertemperatur auch heu-
Impfung ergänzt wird. Wegen möglicher sekundärer Wundin- te noch in 20–40% der Fälle tödlich. Unbehandelt, führt der
fektionen sollten Antibiotika gegeben werden. generalisierte Tetanus zum Tod durch Atemlähmung, weil kei-
Intensivtherapie bei manifestem Tetanus: ne wirksamen Atemexkursionen mehr initiiert werden kön-
4 Tetanusimmunglobulin nen. Dies gilt vor allem, wenn die Inkubationszeit und die Zeit
4 Antibiose bis zum Maximum der Symptome sehr kurz sind, da dies für
4 Allgemeine Intensivmedizin eine sehr große Menge infizierten Gewebes spricht. Die Krank-
4 Benzodiazepine und Baclofen (Details siehe Fachartzbox) heit kann mehrere Wochen dauern. Im abklingenden Stadium
458 Kapitel 18 · Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute

werden die Spasmen seltener, schwächer und weniger ausge- 18.8.2 Leptospirose
dehnt. Wenn das konvulsive Stadium überlebt wird, ist völlige
Ausheilung zu erwarten. Leptospirosen treten besonders im Sommer und Herbst auf.
Differentialdiagnostisch kommt nur die Strychninvergif- Die Verdachtsdiagnose liegt nahe, wenn eine akute, lympho-
tung, die spezifisch Glyzinrezeptoren im Rückenmark blo- zytäre Meningitis mit Fieber, Leukozytose, starker Beschleuni-
ckiert, in Frage. gung der BSG, Ikterus und weiteren internistischen Symp-
tomen auftritt. Infektionen mit Leptospiren werden durch di-
rekten Kontakt mit leptospirenhaltigen Flüssigkeiten, beson-
18.7.2 Botulismus ders bei Landwirten oder Kanalarbeitern, verursacht.

Der Botulismus wird in Kap. 32 besprochen. 3Symptome. Neben einer leichten, fieberhaften Variante
der Leptospirose (Stadium 1) kommt auch die Weil-Erkran-
kung mit schwerem Ikterus vor. Neurologisch haben die Pati-
18.8 Andere bakterielle Infektionen enten in einem zweiten Stadium eine lymphozytäre Meningitis
mit erhöhtem Proteingehalt im Liquor. Ein drittes Stadium,
Zu den bakteriellen Erregern dieser Kategorie gehören granu- wie bei Lues oder Borreliose, ist sehr selten, führt aber auch zu
lomatöse bzw. zystische infektiöse ZNS-Erkrankungen (z.B. Enzephalitis, Enzephalomyelitis oder Polyradikulitis.
Brucella spp., Nokardia, Mykoplasmen und Rickettsien.
3Diagnose und Therapie. Der Nachweis erfolgt über sero-
logische Tests, meist den Hämagglutinationstest. Leptospiren
18.8.1 Rickettsiosen: Fleckfieber-Enzephalitis können direkt aus Blut und Liquor isoliert werden. Man be-
handelt mit Tetrazyklinen oder Cephalosporinen über 7–
Die Krankheit ist in Friedenszeiten äußerst selten. Sie kann 14 Tage. Normalerweise ist die Prognose günstig.
unter ungünstigen hygienischen Verhältnissen rasch in großer
Häufigkeit aufflammen. Der Erreger, Rickettsia prowazekii,
wird durch den Biss infizierter Kleiderläuse auf den Menschen 18.8.3 Neurobruzellose
übertragen. Die Inkubationszeit beträgt 11–12 Tage.
Die verschiedenen Formen von Bruzellosen werden über
3Symptome. Das Fleckfieberexanthem am Rumpf und Milchprodukte oder direkten Kontakt zu infizierten Tieren
den Extremitäten hat zwischen dem 5. und 10. Tag seinen übertragen. Bruzellosen können als akute Meningoenzephali-
Höhepunkt. Internistisch besteht eine schwere Störung der tis, chronische Meningitis und Polyradikulitis (mit Hirnner-
zentralen Regulation von Blutdruck, Herzfrequenz und Elek- venbefall) manifest werden.
trolythaushalt. Nach einem Prodromalstadium mit Kopf-
schmerzen, Gliederschmerzen und Schlaflosigkeit bricht 3Diagnostik. Der Liquor zeigt eine deutliche, lympho-
unter starkem Fieberanstieg die Enzephalitis aus. Die Patien- zytäre Zellvermehrung mit Eiweißerhöhung. Spezifische Anti-
ten sind bewusstseinsgetrübt, oft delirant. Neurologisch tre- körper gegen Bruzellen und die Liquorkultur können positiv
ten vor allem extrapyramidale Hyperkinesen, Myoklonien sein.
und bulbäre Lähmungen auf. Durch Hirnvenen- und Sinus-
thrombosen kommt es häufig zu Halbseitenlähmungen. Oft 3 Therapie. Kombinationstherapie mit Doxyzyklin
wird der N. acusticus geschädigt. Das akute Stadium kann (200 mg/Tag initial i.v., nach 1–2 Wochen p.o.) plus Rifampicin
einen Monat dauern, die Rekonvaleszenz zieht sich viele Wo- (600 mg/Tag initial i.v., nach 1–2 Wochen p.o.) und Streptomy-
chen hin. cin (1 g/Tag i.m. in den ersten 2 Wochen), danach Zweifach-
therapie (Doxycyclin und Rifampicin). Gesamtdauer mind.
3Diagnostik. Der Liquor zeigt eine monozytäre Pleozytose. 45 Tage, in vielen Fällen länger, bis zu 6 Monaten (Kultur- und
Die Diagnose wird mit der PCR gesichert. Serologiekontrollen). Kortikosteroide werden in der akuten
18 Phase hinzugegeben. Die Prognose ist günstig, die Mortalität
3Therapie liegt unter 2%.
4 Die Behandlung erfolgt mit Doxyzyklin 100–200 mg/Tag,
initial i.v., nach Stabilisierung p.o. oder
4 Chloramphenicol 50 mg/kg/KG/Tag i.v. Therapiedauer: 18.8.4 Aktinomykose und Nokardiose
7–10 Tage, zumindest bis 1 Tag nach Erreichen der Fieberfrei-
heit. Infektionen mit diesen Bakterien sind in Mitteleuropa sehr
selten.
Aktinomyzes kann eine eitrige Meningitis und Abszesse
verursachen. Die Diagnose wird mikroskopisch gestellt. Meist
gehen extrazerebrale Manifestationen voraus. Die Therapie
der Aktinomykose besteht in intravenöser Ampicillinbehand-
lung (3-mal 5 g/Tag über 4–6 Wochen), anschließend orale
18.8 · Andere bakterielle Infektionen
459 18
Weiterbehandlung. Erythromycin kann alternativ gegeben goenzephalitische Symptome mit nukleären und supranu-
werden. kleären Augenbewegungsstörungen, Ataxie, Myoklonien und
Für Nokardiosen, die häufig von primären Lungenherden hypothalamischen Funktionsstörungen auf. Grund hierfür ist
stammen, gilt die gleiche klinische Symptomatik. Nokardiosen eine granulomatöse, perivaskuläre Enzephalitis, die bevorzugt
treten gehäuft bei immunsupprimierten Patienten auf. Die The- Zwischenhirn, Hirnstamm und Kleinhirn betrifft. Auf die gas-
rapie ist Imipenem, bis zu 6 g/Tag, alternativ Trimethoprim-Sul- trointestinalen Symptome gehen wir hier nicht ein (vergl.
famethoxazol (480–640 mg/Tag i.v.), gefolgt von oraler Weiter- Lehrbücher der Inneren Medizin).
behandlung.
3Diagnostik. Obwohl der Liquor meistens eine normale
Zellzahl hat, kann es gelingen, so genannte PAS-positive Par-
18.8.5 Legionellose tikel in Makrophagen nachzuweisen. Seit neuestem ist auch
die PCR-Diagnostik möglich. Im MRT können granuloma-
Die Infektion durch Legionella pneumophila führt bei einem töse, kontrastmittelaufnehmende Läsionen im oberen Hirn-
Drittel der Patienten zu neurologischen Symptomen mit Enze- stamm und im Hypothalamus gefunden werden. Daneben
phalopathie, Kopfschmerzen, Verwirrtheit und zerebellären kommen auch hypointense Läsionen vor. Diagnostisch ist
Symptomen. Diese können der Pneumonie vorausgehen. Der auch die Dünndarmbiopsie zum Nachweis eines intestinalen
Liquor ist meist leicht entzündlich. Die Behandlung erfolgt mit M. Whipple geeignet.
Erythromycin 4-mal 500 mg pro Tag i.v. über 14 Tage. Legionel-
losen treten oft lokal endemisch durch Befall von Wasservor- 3Therapie und Prognose. Unbehandelt führt der zerebrale
räten auf und werden nicht selten in den Wassersystemen von M. Whipple zu Demenz und Tod.
Hotels und Krankenhäusern gefunden. Im letzteren Fall drohen 4 Man behandelt über lange Zeit, mindestens ein bis zwei
tödliche Infektionen bei immunsupprimierten oder anderen Jahre: zunächst Penicillin G (30 Mio. E./Tag i.v.) plus Strepto-
schwerkranken Patienten. mycin (1 g/Tag i.m.) für 2 Wochen,
4 gefolgt von Hochdosis-Trimethoprim/Sulfamethoxazol
(3-mal täglich 160 mg/800 mg p.o.) für die Dauer von mindes-
18.8.6 Zerebraler M. Whipple tens 1–2 Jahre (in Abhängigkeit von der Klinik, Bildgebung
und dem Nachweis von PAS-positiven Makrophagen im Li-
3Erreger. Als Erreger des M. Whipple wurde das Bakteri- quor, evtl. PCR).
um Tropheryma Whipplei identifiziert (eine Spezies der Akti- 4 Alternativ: Cephalosporine der dritten Generation, mit
nomyzeten). Trimethoprim-Sulfamethoxazol oder Tetrazyklinen.
4 Bei hypothalamischer Beteiligung ist eine endokrine Be-
3Symptome. Der M. Whipple kann das Zentralnervensys- gleitbehandlung notwendig.
tem, manchmal auch isoliert, befallen. Dann treten menin-

In Kürze

Akute, eitrige Meningitis

Bakterielle Entzündung der weichen Häute von Gehirn und segmentkernige Leukozyten, Eiweißvermehrung. Bakterio-
Rückenmark in ganzer Ausdehnung durch Pneumokokken, logie: Erregeridentifikation mikroskopisch oder kulturell.
Meningokokken, Staphylokokken oder Listerien. Therapie: Medikamentöse Therapie mit Antibiotika; chirur-
Inzidenz: 5–10/100.000 Einwohner/Jahr. gische Therapie bei fortgeleiteter Meningitis; Hirnödembe-
Ursache: Hämatogene Meningitis durch Generalisierung handlung mit Osmotherapie, Normothermie, Hyperventilation,
bakterieller Infektion oder Streuung aus chronischem Eiter- Analgosedierung. Bei Erwachsenen beträgt die Mortalität
herd. Fortgeleitete Meningitis nach akuter oder chronischer 10–20%.
Otitis media, Mastoiditis oder Nebenhöhlenentzündung.
Symptome: Stunden- oder tagelanges Prodromalstadium Tuberkulöse Meningitis
mit Gliederschmerzen, Abgeschlagenheit. Ausbruch mit
heftigsten Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit, enzephali- Schwerste Veränderungen an Meningen der Hirnbasis und des
tischen Begleitsymptomen, Fieber, Somnolenz bis Koma, Rückenmarks.
bleibende Schäden am N. acusticus. Symptome: Tage- bis wochenlanges Prodromalstadium: Un-
Diagnostik: Serologie: Beschleunigtes BSG, Blutbild zeigt lust, Appetitlosigkeit bei Kindern, Kopfschmerzen, allgemeine
Leukozytose mit Linksverschiebung; CT: Beurteilung von Leistungsminderung bei Erwachsenen, klares Bewusstsein,
Kiefer-, Stirnhöhlen, Einschmelzungsherde des Mastoids, langsamer Temperaturanstieg, Fazialisparesen, Lähmungen
Komplikationen wie Hydrocephalus. Liquor: Trübe bis eitrig, der Augenmuskelnerven.
6
460 Kapitel 18 · Bakterielle Entzündungen des Gehirns und seiner Häute

Diagnostik: Liquor: Anfangs sementkernige, später ge- dium: Lues cerebrospinalis mit Vaskulitis, progressiver Paralyse
mischtzellige Pleozytose, erhöhtes Laktat, niedrige Glukose-, und Tabes dorsalis.
hohe Eiweißwerte. Serologie: Wenig entzündlich verän- Therapie: Medikamentöse Therapie, neurologische und psy-
dertes Blutbild, BSG mäßig beschleunigt: CT/MTR: Normal; chopathologische Symptome der tertiären Lues bilden sich
EEG: Allgemeine und herdförmig Veränderung. aufgrund irreversibler Parenchymveränderungen nicht völlig
Medikamentöse Therapie bei dringendem Verdacht auch zurück.
ohne Erregernachweis, unbehandelt chronischer Verlauf bei
Mortalität von 10–20%. Neuroborreliose. Infektion durch Zeckenbiss in warmer Jah-
reszeit. Symptome: 1. Stadium: Ringförmige, sich zentrifugal
Andere bakterielle Meningitisformen ausdehnende leicht erhabene Hauteffloreszenz, allgemeine
Krankheitsgefühle, Müdigkeit, Kopf-, Muskelschmerzen, leich-
Traumatische Meningitis. Oto- und/oder Rhinoliquorrhoe tes Fieber, Konjunktivitis, Hämaturie. 2. Stadium: 1 Monat
nach Trauma. Symptome: Laufen seröser Flüssigkeit aus nach Zeckenbiss heftige, radikuläre Schmerzen an Rumpf oder
Nase beim Aufrichten und Bücken oder in Seitenlage aus Extremitäten, 2 Wochen danach Lähmungen. 3. Stadium:
Ohr. Progrediente Enzephalomyelitis, schubweiser Verlauf. Diag-
nostik: Liquor im 1. Stadium normal, im 2. und 3. lympho-
Listerienmeningitis. Durch Beeinträchtigung der Immun- zytäre Pleozytose, Eiweißvermehrung. Bei rechtzeitiger medi-
abwehr bei Immunsupprimierten und chronischem Alko- kamentöser Therapie Ausheilung.
holismus. Symptome: Basale Meningo- und Hirnstammen-
zephalitis. Therapie: Ampicillin zur Zweierkombination. Clostridieninfektionen

Hirnabzesse Tetanus. Infektion nach Hautverletzung bei nicht oder nur


unzureichend aktiver Immunisierung. Symptome: Generali-
Lokale Infektion des Hirngewebes, entstehen hämatogen- sierter Tetanus: Kopfschmerzen, verstärktes Schwitzen, Mat-
metastatisch, fortgeleitet oder durch offene Hirnverletzung. tigkeit, motorische Unlust, Kieferklemme, klares Bewusstsein.
Erreger: Streptokokken, Pneumokokken, Enterokokken. Lokaler Tetanus: Muskeltonuserhöhung, Muskelreflexsteige-
Symptome: Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit, Bewusst- rung in Nachbarschaft der Verletzung. Diagnostik: Liquor ist
seinstrübung, zerebrale Herdsymptome als Akutsymptome; normal; EMG: Spontane PmE; durch Berührung, Schmerz,
Anfälle, Hemiparese, Hemianopsie bei chronischen Abszes- akustische Reize bis zum Interferenzmuster verstärkt. Thera-
sen. pie: Grundprophylaxe durch aktive Immunisierung durch s.c.
Diagnostik: CT/MRT: Unscharf begrenzte Zone stark ver- oder i.m.-Injektionen, Bettruhe, chirurgische Wundversorgung,
minderter Dichte, Zeichen der Massenverlagerung; Liquor: medikamentöse Therapie gegen sekundäre Wundinfektionen.
Leichte Eiweißvermehrung, geringe Pleozytose. Bei schwerem, generalisiertem Tetanus beträgt die Mortalität
Therapie: Medikamentöse Therapie bei frischen, hämato- 20–40%.
genen Abzessen mit eitriger Meningitis und ohne Kapselbil-
dung; chirurgische Therapie bei abgekapselten Abzessen. Andere bakterielle Infektionen

Embolisch-metastatische Herdenzephalitis Bakterielle Meningoenzephalitiden ohne eitrige Einschmel-


zung bzw. Reaktion.
Multiple, kleine, ischämische Infarkte mit entzündlichen
Infiltraten, die die Erreger enthalten. Fleckfieber-Enzephalitis. Symptome: Fleckfieberexanthem
Symptome: Kopfschmerzen, septischer Fieberanstieg, Be- an Rumpf und Extremitäten am 5.-10. Tag, Fieberanstieg, Kopf-
wusstseinstrübung, schubweise generalisierte oder fokale und Gliederschmerzen, Schlaflosigkeit, Bewusstseinstrübung,
Krampfanfälle, zerebrale Herdsymptome. Halbseitenlähmung. Diagnostik: Liquor: Monozytäre Pleo-
18 Diagnostik: Internistisch: Anämie, Leukozytose mit Links- zytose. Medikamentöse Therapie.
verschiebung, Milzvergrößerung; Liquor: Entzündlich ver-
ändert; CT: Ausgedehnte, konfluierende Ödeme mit zentra- Leptospirose. Infektionen durch direkten Kontakt mit lepto-
len, hyperdensen Anteilen oder intrazerebralen Blutungen. spirenhaltiger Flüssigkeit. Symptome: Fieber, Weil-Erkrankung
Medikamentöse Therapie, unbehandelt tritt Tod ein. mit schwerem Ikterus. Medikamentöse Therapie.

Treponemeninfektionen Neurobruzellose. Übertragung über Milchprodukte oder


direkten Kontakt zu infizierten Tieren als akute Menin-
Lues. Symptome: Frühstadium: 2–4 Wochen nach Infektion goenzephalitis, chronische Meningitis oder Polyradikulits.
Hautläsionen. Sekundärstadium: Hämatogene Aussaat von Diagnostik: Liquor. Medikamentöse Therapie. Mortalität:
Treponema pallidum, lymphozytäre Meningitis. Tertiärsta- <2%.
6
18.8 · Andere bakterielle Infektionen
461 18

Zerebraler M. Whipple. Befall des ZNS. Symptome: Augen- Weitere bakterielle Infektionen. Aktinomykose verursacht
bewegungsstörung, Myoklonien, Ataxie, hypothalamische eitrige Meningitis und Abzesse. Nokardiose stammt von
Funktionsstörungen. Diagnostik: Liquor mit normaler Zell- primären Lungenherden. Legionellose mit zerebellären Symp-
zahl; MRT: Granulomatöse, kontrastmittelaufnehmende tomen, Kopfschmerzen, Verwirrtheit tritt lokal epidemisch
Läsionen im oberen Hirnstamm und Hypothalamus. Medika- durch Befall von Wasservorräten auf.
mentöse Therapie, unbehandelt Demenz und Tod.
19

19 Virale Entzündungen
und Prionkrankheiten
19.1 Virale Meningitis (akute, lymphozytäre Meningitis) – 464

19.2 Chronische, lymphozytäre Meningitis – 466


19.2.1 Morbus Boeck – 466

19.3 Akute Virusenzephalitis – 467


19.3.1 Herpes-simplex-Enzephalitis (HsE) – 468
19.3.2 Zosterinfektionen (Varizella-Zoster-Virus, VZV) – 471
19.3.3 Epstein-Barr-Virus-Infektion (EBV) – 473
19.3.4 Zytomegalie-Virus-Infektion (CMV) – 473
19.3.5 Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) – 473
19.3.6 Coxsackie- und Echovirus-Meningitis – 473
19.3.7 Poliomyelitis acuta anterior (Polio) – 474
19.3.8 Myxoviren – 475
19.3.9 Rabies (Lyssa, Tollwut) – 475
19.3.10 Weitere akute Virusmeningoenzephalitiden – 476

19.4 HIV-Infektion (Neuro-AIDS) – 477


19.4.1 Neurologische Beteiligung bei HIV-Infektion – 478
19.4.2 Opportunistische Infektionen bei HIV – 479
19.4.3 HIV-assoziiertes ZNS-Lymphome – 481
19.4.4 Die HIV-assoziierte Demenz – 482

19.5 Prionkrankheiten – 482


19.5.1 Creutzfeldt-Jacob-Krankheit (CJK) – 482
19.5.2 Neue Variante der CJK – 485
464 Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

> > Einleitung einer neuen Epidemie mit armageddonartiger Ausprägung hoch-
stilisiert wurde. Die Rede war von zehntausenden Fällen in Eng-
Vor 25 Jahren war AIDS noch unbekannt. Vor etwas mehr als land und tausenden Patienten, die wir in Deutschland zu erwar-
15 Jahren wusste man, dass es sich wahrscheinlich um eine ten hätten. Die Presse nahm das Thema auf, auch die Politiker,
Viruskrankheit handelt, die durch sexuellen Kontakt oder durch und besonders jene, die immer schon gewusst hatten, dass die
Blut übertragen werden kann. Die Krankheit wurde in ihren moderne Tierhaltung ein Gesundheitsrisiko sei, hatten exzellente
Verlaufsformen schnell bekannt und die Identität des Virus, seine Medienpräsenz. Die Aufdeckung der Quelle der BSE, vermutlich
speziellen Eigenschaften und seine Struktur schnell aufgedeckt. die Verfütterung von tierischem Proteinmehl (unter anderem
Schon nach wenigen Jahren standen die ersten Medika- auch mit Gehirnanteilen von Schafen) an vegetarische Kühe und
mente zur Verfügung, die den Verlauf der Krankheit leicht modifi- der denkbare Link zur neuen Variante der Creutzfeld-Jakob-
zieren konnten. Inzwischen kennt man Patienten, die trotz HIV- Krankheit-(nvCJK-) Endemie in England führte praktisch über
Infektion nie das Vollbild von AIDS entwickelt haben, und man ist Nacht zu Einbrüchen im Rindfleischverzehr von über 50% (würde
dabei, die genetische Ursache hierfür zu identifizieren. Zwar ist die Bevölkerung doch nur auch so konsequent auf die seit Jahr-
die Hoffnung auf einen Impfstoff noch immer nicht erfüllt, aber zehnten bekannten und bewiesenen mehreren 100.000 Toten
neue, virustatische Medikamente haben das Bild von AIDS jetzt pro Jahr, die durch Zigarettenrauchen umkommen, reagieren!).
schon entscheidend geändert. Manche Forscher sprechen jetzt Die Erkrankungszahlen stiegen zum Glück nicht einmal
von einer chronischen, aber nicht mehr von einer zwangsläufig annähernd so an, wie prophezeit worden war. Eigentlich stiegen
tödlich verlaufenden Krankheit. Inzwischen spricht man schon sie gar nicht an, sondern nehmen seit Jahren deutlich ab. Gute
von der Möglichkeit, die Viren komplett zu »eradikieren«. Dies Wissenschaft wurde mit den kurzfristig zur Verfügung gestellten
gilt für die westliche Welt. Hier ist auch die Zahl der Infizierten Mitteln gemacht, denn zum ersten Mal gab es eine Förderung
hinter den Schätzungen zurückgeblieben, nicht zuletzt aufgrund zur Erforschung einer Krankheit, die es in Deutschland noch
zunächst erheblicher Änderungen im Sexualverhalten. In der immer nicht gibt.
Dritten Welt, wo auch viele heterosexuelle Personen an AIDS Trotzdem, als ich zur Hochphase der BSE-Krise in England
erkranken, nimmt die Epidemie dagegen weiter ihren Lauf. Allein war, habe ich auf das angebotene Rinderfilet und die Beef-and-
in Zentralafrika rechnet man mit vielen Millionen Infizierten. Die Kidney-Pie dankend zugunsten von Fisch verzichtet …
Aufklärungskampagnen laufen dort ins Leere, und die mit erheb-
lichem Geld- und Forschungseinsatz entwickelten Medikamente
sind unbezahlbar. Und inzwischen hat auch in Mitteleuropa und 19.1 Virale Meningitis
den Vereinigten Staaten die Sorge vor der todbringenden Krank- (akute, lymphozytäre Meningitis)
heit wegen der guten Therapiemöglichkeiten nachgelassen: Alte
Sorglosigkeit greift um sich und die jüngere Generation kennt 3Epidemiologie. Alle Altersstufen können betroffen sein,
die Epidemie von vor 15 Jahren nicht mehr. Folge: Die Zahl der eine Bevorzugung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen
Neuerkrankten steigt wieder. ist aber deutlich. Vermutlich gehen viele virale Infektionen mit
Prione sind in doppelter Hinsicht besondere – ja was denn einer leichten Begleitmeningitis einher, die aber nicht diagnos-
eigentlich: Moleküle – oder doch Keime? tiziert wird, weil meist keine Liquoruntersuchung ausgeführt
Es sind die ersten nicht lebenden, aber biologischen Struk- wird. Die ätiologische Diagnose ist schwierig, weil die Krank-
turen, die infektiös sind und von Mensch zu Mensch oder von heitsbilder nicht für bestimmte Ursachen charakteristisch sind:
Tier zu Tier, auch über die Artgrenzen hinaus, übertragen werden Verschiedene Erreger können eine ganz ähnliche neurolo-
können. Ihre Biochemie und Pathophysiologie scheint aufgeklärt, gische Symptomatik hervorrufen, andererseits kann derselbe
vor wenigen Jahren erhielt der Neurobiologe und Neurologe Erreger zu einem breiten Spektrum von Krankheitsverläufen
Stanley B. Prusiner für die Aufdeckung des (nicht unumstrit- führen, die bald dem Bild einer Meningitis, bald dem einer
tenen) Infektionsweges den Nobelpreis. Enzephalitis oder Meningomyelitis entsprechen. Die Virusme-
Zum anderen finden wir bei den Prionkrankheiten aber auch ningitis ist wesentlich häufiger als die eitrige Meningitis.
ein bemerkenswertes Lehrstück in Panikmache, Presse- und
> Die virale, lymphozytäre Meningitis ist die häufigste
Massenhysterie, medizinpolitischer Ahnungslosigkeit, von win-
entzündliche Krankheit des Nervensystems.
digen Beratern und falschen epidemiologischen Propheten und
schließlich auch unbestritten exzellenten Wissenschaftlern, die
19 gerne ein Problem etwas größer reden, um an plötzlich in er- 3Erreger. Die Erreger werden in zwei Gruppen unterschie-
staunlichem Maße zur Verfügung stehende Fördermittel zu den:
gelangen. 4 Primär neurotrope Viren können außer zu den be-
Die Rede ist vom Auftauchen der heute noch jedem Laien kannten, charakteristischen Krankheitsbildern, die weiter un-
bekannten BSE (bovinen spongiformen Enzephalopathie) -Epide- ten beschrieben sind, auch nur zu einer akuten oder subakuten,
mie in England, mit Millionen von befallenen Tieren (und in lymphozytären Meningitis führen: Herpes simplex-Virus Typ
deutlich geringerem Maße in Deutschland und den EU-Ländern). II (HSV-II), Varicella Zoster-Virus (VZV), Flaviviren (FSME-
Kurz danach kamen die Berichte von traurigen Fällen einer neuen Virus für Zentraleuropa), Lymphocytic Choriomeningitis-
Variante der seit langem bekannten Creutzfeldt-Jacob-Krankheit, Virus (LCMV).
die, ebenfalls in England, viele junge Menschen betraf und zu 4 Nicht primär neurotrope Viren befallen fakultativ im Ge-
6 neralisationsstadium die Meningen: im Spätsommer und
19.1 · Virale Meningitis (akute, lymphozytäre Meningitis)
465 19

. Tabelle 19.1. Akute, virale, lymphozytäre Meningitis


Erreger Besondere klinische Symptome (neben der Meningitis)
Echoviren* Bauchschmerzen, Durchfall, Konjunktivitis, Exanthem, gutartige Meningoenzephalitis; gutartige, polioähn-
liche Lähmungen
Coxsackie A* Fieberhafte Herpangina = Bläschen auf Tonsillen, vorderen Gaumenbögen, weichem Gaumen, Uvula, Zunge,
mit Schluckstörungen, Appetitlosigkeit, Leibschmerzen, Erbrechen, gutartige, polioähnliche Lähmungen
Coxsackie B* Fieber, Muskelschmerzen, Pleurodynie = attackenweiser, thorakaler Muskelschmerz beim Atmen, Husten,
(Bornholm-Krankheit) Lachen, Pressen
Myxovirus parotidis Befall anderer Organe: Parotitis (kann asymptomatisch sein), Orchitis, Pankreatitis (Amylase- und Lipase
bestimmung!), auch: Meningoenzephalitis, Pleozytose im Liquor kann wochenlang andauern. Später häufig
Verhaltensstörungen und EEG-Veränderungen
Epstein-Barr-Virus Fieber, Lymphknoten- und Milzschwellung, Gliederschmerzen, Angina, flüchtige Exantheme. Blutbild: starke
(infektiöse Mononukleose) Vermehrung monozytoider Zellen, auch: Enzephalitis und Guillain-Barré-Syndrom
Polio 7 Kap. 19.3.7
Herpes Zoster 7 Kap. 19.3.2
Arboviren Zeckenbiss meist April bis Juni oder September bis Oktober. Zweiphasiger Verlauf, ähnlich der Polio.
Hirnstammenzephalitis und/oder Vorderhornbefall mit schlaffen Lähmungen
Lymphozytäre Chorio- Sporadisch, Übertragung durch Hausmäuse, Hamster, Meerschweinchen. Langes Prodromalstadium: Müdig-
meningitis (sehr selten) keit, Muskel-, Kreuz-, Halsschmerzen, lange Rekonvaleszenz, auch: schwere Meningoenzephalitis mit Bewusst-
seinstrübung und Myoklonien
Adenoviren Fieber, Pharyngitis, Rhinitis, Konjunktivitis, Keratoconjunctivitis epidemica, Lymphknotenschwellung, Exan-
theme, atypische Pneumonie

* gemäß neuer Nomenklatur »Enteroviren«

Herbst besonders Echo- und Coxsackie-Viren, ferner sehr tome sind nicht selten, da die Entzündung häufig auf Gehirn
häufig (in etwa 30–50% der Krankheitsfälle) das Mumps-Vi- oder Rückenmark übergreift. Die Temperatur ist erhöht, er-
rus, seltener die Viren von Varizellen und Masern, der Erreger reicht aber nicht die maximale Fieberhöhe wie bei eitriger Me-
der infektiösen Mononukleose und einige Adenoviren. ningitis. Der für Viruskrankheiten sonst typische, zweigipflige
Temperaturanstieg ist häufig nicht zu erkennen. Das schwere
Die Artdiagnose hängt ganz von eingehenden, serologischen Krankheitsstadium dauert nur einige Tage, dann klingen die
Untersuchungen ab, wenn auch allgemeine klinische Symp- akuten Symptome rasch wieder ab. Danach können noch für
tome gewisse Anhaltspunkte geben können. Wir werden des- einige Wochen leichtere Kopfschmerzen und allgemeine Leis-
halb auch hier Symptomatik und Verlauf zusammenfassend tungsschwäche bestehen bleiben.
beschreiben. Die wichtigsten Fakten für die Differentialdiag-
nose sind in . Tabelle 19.1 zusammengestellt, die anschließend 3Diagnostik. Die BSG ist normal oder nur mäßig beschleu-
kurz erläutert wird. nigt. Das Blutbild ist normal oder zeigt Leukopenie und rela-
tive Lymphozytose.
3Symptome. Die Meningitis setzt mit oder ohne Prodro- Der Liquor ist klar, höchstens leicht getrübt, nie eitrig. Die
malerscheinungen ein. Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit und Pleozytose bewegt sich zwischen Werten von etwa 20–30 und
Nervendehnungszeichen sind schwächer ausgeprägt als bei mehreren 1000 μl Zellen. Es gibt sichere Virusmeningitiden
eitriger Meningitis. Das Bewusstsein kann getrübt sein, ist aber mit Werten über 3000 Zellen, im Allgemeinen liegt aber die
oft voll erhalten. Anfälle und zerebrale oder spinale Herdsymp- obere Grenze bei 1500 Zellen. In den ersten Tagen überwiegen

Empfehlungen zur Behandlung der viralen Menigitis*


Bei Verdacht auf Virusmeningitis CCT und Lumbalpunktion 4 Die blande Virusmeningitis ist symptomatisch antipyretisch
durchführen (Liquordiagnostik gemäß Leitlinie »Diagnostik und analgetisch zu behandeln. Patienten mit akuten viralen
akuter ZNS-Infektionen der DGHM) (A). Enzephalitiden sind auf der Intensivstation zu betreuen (B).
4 Beim enzephalitischen Syndrom ist die MRT-Untersu-
chung erforderlich (A).
4 Bei enzephalitischer Symptomatik und Verdacht auf eine * nach den Leitlinien der DGN, 2008 (www.dgn.org/leitlinien.
Herpes-Virus-Ätiologie ist die i. v. Gabe von Aciclovir ohne html)
Verzug einzuleiten (A).
466 Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

polynukleäre Zellen, später Lymphozyten (. Abb. 18.1a). Das 4 M. Boeck (7 Kap. 19.2.1),
Eiweiß ist häufig normal, seltener auf Werte bis zu 0,7–1,0 g 4 M. Behçet (7 Kap. 22, S. 516).
vermehrt. Der Liquorzucker ist nicht erniedrigt. Oft bestehen
große Diskrepanzen zwischen der Schwere der klinischen Viele Fälle bleiben auch bei eingehender klinischer, bakteriolo-
Symptome und dem Liquorbefund. Die Liquorpleozytose geht gisch-serologischer und selbst pathologisch-anatomischer Un-
rasch zurück. Manchmal ist eine geringe Zellvermehrung aber tersuchung unaufgeklärt.
noch für mehrere Wochen nachweisbar. Die Eiweißwerte keh-
ren in der Regel im Laufe einer Woche zur Norm zurück. 3Symptome. Beschwerden und Symptomatik entwickeln
Die Identifizierung des Virus erfolgt durch ELISA-Tech- sich schleichend. Die Patienten klagen über Kopfschmerzen,
nik (enzyme-linked immunosorbent assay) und setzt die Fest- Konzentrationsschwäche und allgemeine Leistungsminde-
stellung eines Titeranstiegs über zwei Stufen voraus. Die erste rung. Regelmäßig treten Hirnnervenlähmungen oder enze-
Untersuchung soll möglichst früh erfolgen. Für den Nachweis phalitische und myelitische Symptome auf. Diese Symptome
der akuten Erkrankung werden IgM-Antikörper gefordert. Für beruhen teils darauf, dass der entzündliche Prozess auf das
Viren der Herpes-Familie (HSV, VZV,CMV, EBV) ist die PCR- Nervenparenchym übergreift, teils auf ischämischen Gewebs-
Diagnostik aus dem Liquor der Goldstandard. schäden durch endarteriitische Veränderungen.
Eine enzephalitische Beteiligung ist oft an EEG-Verände- Nackensteife und Nervendehnungszeichen sind nur ge-
rungen zu erkennen (Allgemeinveränderung und Herdbe- ring ausgeprägt. Die Temperatur ist normal oder nur wenig
funde). Die Prognose korreliert nicht mit der Schwere der erhöht. Die übrigen internistischen Befunde werden von der
EEG-Veränderungen, sondern mit deren Dauer im Krank- Grundkrankheit bestimmt. Oft sind sie unauffällig. Der Ver-
heitsverlauf. lauf ist chronisch fortschreitend mit wiederholten Exazerba-
Neuroradiologische Untersuchungen dienen nur zum tionen.
Ausschluss einer anderen Ursache der Beschwerden, in CT
und MRT findet man bei schweren Verläufen eine Hirnschwel- 3Diagnostik. Der Liquor enthält eine lymphozytäre Pleo-
lung, aber keine Parenchymläsionen. zytose von einigen 100, seltener 1000 Zellen. Das Eiweiß ist oft
vermehrt. Eosinophile Zellen kommen bei manchen Erregern
3Therapie und Prognose. Bei der einfachen Virusmenin- vor. Der Liquorzucker ist bei vielen Formen vermindert. Dies
gitis ist eine spezielle Behandlung nicht möglich. Die Patienten beruht teils auf Veränderungen der Blut-Liquor-Schranke, teils
halten Bettruhe ein und nehmen bei Bedarf Analgetika ein. Die auf der Gegenwart von Mikroorganismen. Auch verhält sich
Prognose der unkomplizierten Verläufe ist gut. der Zuckerabfall proportional zur Zellzahl im Liquor, beson-
ders zur Zahl der polynukleären Zellen. Das EEG zeigt häufig
eine Allgemeinveränderung mit Herdbefunden.
19.2 Chronische, lymphozytäre Meningitis
3Therapie. Gelingt auch nach eingehender Suche kein Er-
Eine chronische, lymphozytäre Meningitis wird meist durch regernachweis, behandelt man längerfristig mit Kortikoiden.
nichtvirale Erreger ausgelöst, die an anderen Stellen detailliert Die Dosierung ist wie bei der Vaskulitis.
besprochen werden. Hierzu zählen
4 Pilze (z.B. Kryptokokkus, 7 Kap. 20.3),
4 Protozoen (Toxoplasmen, Zystizerken; 7 Kap. 20.1), 19.2.1 Morbus Boeck
4 die Tuberkulose (7 Kap. 18.2),
4 Leptospiren (7 Kap. 18.8.2), Die Boeck-Sarkoidose führt in manchen Fällen zu einer ba-
4 M. Whipple (7 Kap. 18.8.6) salen Meningoenzephalitis. Die Granulome, die immer um

Facharzt
Hirnhautreizungen anderer Genese
Nach Punktionen und operativen Eingriffen am ZNS findet Bei entzündlichen Prozessen in unmittelbarer Nachbar-
man gewöhnlich für 1–3 Wochen eine leichte Reizpleozyto- schaft der Liquorräume tritt eine abakterielle Hirnhautreizung
se ohne besondere Beschwerden. In manchen Fällen kommt auf, die man als sympathische Meningitis bezeichnet. Sie
19 es darüber hinaus zu einer akuten, abakteriellen, lympho-
zytären Meningitis mit stärkerer Pleozytose bis zu einigen
kann akut oder schleichend einsetzen. Die Pleozytose (poly-
nukleäre und Lymphozyten) beträgt höchstens einige 100 Zel-
1000 Zellen und leicht erhöhten Eiweißwerten. Diese Reiz- len, das Eiweiß ist normal. Erreger lassen sich im Liquor nicht
oder Fremdkörpermeningitis führt auch zu Nackensteife, nachweisen. Die meningitischen Zeichen sind nur gering
Krankheitsgefühl und leichter Temperaturerhöhung. Die ausgeprägt. Der Verdacht auf sympathische Meningitis ist
Diagnose ergibt sich aus dem zeitlichen Zusammenhang. immer dann gegeben, wenn meningitische Zeichen bei einem
Die Reaktion klingt innerhalb 2–3 Wochen wieder ab. Im MRT Patienten auftreten, der einen entzündlichen Prozess im Mit-
kann man nach Lumbalpunktionen diese unspezifische tel- oder Innenohr oder in den Nasennebenhöhlen hat. Immer
Reizung an der Kontrastmittelaufnahme der Meningen er- muss aber eine fortgeleitete, eitrige Meningitis ausgeschlos-
kennen. sen werden.
19.3 · Akute Virusenzephalitis
467 19
Exkurs
Viruslatenz und -persistenz bei Herpesviren
Viruslatenz und -persistenz sind für einige neurotrope Viren system und eine virusspezifische Immunkompetenz spielen
charakteristisch: offensichtlich eine wichtige Rolle.
Herpesviren sind große behüllte Viren (ca. 200 nm) mit Neue Befunde legen einen HSV-selektiven Immundefekt
einem großen doppelsträngigen DNA-Genom (ca. 150 kb). als eine mögliche Ursache nahe. Geschwisterstudien konnten
Sie werden in unterschiedliche Unterfamilien eingeteilt. Die eine funktionelle Mutation in einem Protein (Unc-53B) nach-
wichtigsten humanpathogenen Vertreter sind das Herpes weisen die zu einer gestörten HSV-spezifischen Antigenprä-
simplex-Virus Typ I+II (HSV-I+II), das Varizella Zoster-Virus sentation und Interferonantwort führt.
(VZV), das Ebstein-Barr-Virus (EBV) und das Cytomegalie- Kommt es zu einer Reaktivierung des Genoms, tritt das
Virus (CMV). Virus aus der latenten Phase wieder in den Replikationszyklus
Die Genome der Herpesviren persistieren latent als epi- ein. Das Virus wird dann anterograd axonal in die Haut trans-
genetische DNA in sensiblen Ganglien (VZV, sensible Hinter- portiert, wo es die Hautepithelien infiziert und die typischen
strangganglien und Ggl. Gasseri), d.h. sie sind nicht in das Effloreszenzen (Herpes labialis) verursacht.
Wirtsgenom integriert. HSV-I bevorzugt auch Ggl. gasseri; Im Fall der Herpes simplex- Virus-Enzephalitis (HSV-I) wer-
HSV-II lumbosakrale sensible Hinterstrangganglien. In diesem den zwei Mechanismen der Neurotransmission diskutiert. Zum
Zustand wird nur eine einzige mRNA aus dem Virusgenom einen kommt es zu einer Reaktivierung im Ggl. gasseri und zu
transkribiert, die nicht für ein Virusprotein kodiert und mög- einem anterograden Transport in das Gehirn. Dabei ist unklar,
licherweise regulatorische Funktion hat. warum das hirnseitige Axon der bipolaren Neurone des Ggl.
Eine Reaktivierung des Virusgenoms kann durch unter- gasseri dann überwunden werden kann. Zum anderen vermu-
schiedliche, nur zum Teil bekannte Faktoren getriggert tet man eine Primärinfektion bzw. Reinfektion olfaktorischer
werden: emotionaler oder physischer Stress, UV-Licht (HSV-I), Neurone der Riechschleimhaut. Dies würde die bevorzugte
Immunsupression (HSV-I/VZV). Das individuelle Wirtsimmun- Manifestation der mesiotemporalen Gehirnregion gut erklären.

Blutgefäße angeordnet sind, finden sich in den basalen Menin- entlang des N. und Tr. olfactorius, in den meisten Fällen aber
gen und im Höhlengrau des III. Ventrikels. hämatogen eintreten. Dabei überwinden sie entweder die
Blut-Liquor-Schranke in den Plexus chorioidei oder die durch
3Symptome. Entsprechend sind die führenden Symptome: Tight-junctions »dichten« Endothelien der Mikrokapillaren
Hirnnervenlähmungen, Visusstörungen durch Optikusbefall der Blut-Hirn-Schranke. Die Mechanismen, über die Viren die
und Hydrozephalus. Gelegentlich kommt es zum Diabetes in- Blut-Hirn-Schranke überwinden, werden als virale Neuro-
sipidus oder zu anderen, hypothalamisch-hypophysären Funk- transmission bezeichnet. Sie sind bis heute wenig verstanden.
tionsstörungen. Kortikale Lokalisation mit Anfällen und Pare- Der Mechanismus des anterograden axonalen Transports bei
sen ist äußerst selten. Die Krankheit verläuft meist chronisch HSV-I ist hier eher eine Ausnahme. Viele Viren haben Bin-
mit Remissionen. dungsproteine für endotheliale Membranrezeptoren und eine
endotheliale Transzytose als Mechanismus ist wahrscheinlich.
3Diagnostik. Die Diagnose ist nicht schwierig, wenn Es müssen viele Faktoren zusammenkommen, damit die
gleichzeitig die typischen Manifestationen in Lunge, Milz, häufigen Virusinfektionen zu den seltenen ZNS-Infektionen
Haut, Augen (Uveitis, Chorioretinitis) und Knochen vorliegen. führen. Im Gehirn breiten sich die Viren in den Nervenzellen
Im CT und MRT sieht man ventrikel- und schädelbasisnahe, und/oder in der Glia aus, deren Aufgabe der Transport von
kontrastmittelaufnehmende Granulome. Substanzen zu den Nervenzellen ist. Die selektive Aggressivität
Im Liquor kann in 50% der Fälle ein erhöhtes Angioten- und Vulnerabilität, die von Virus zu Virus und in einzelnen
sin-Converting-Enzym (ACE) und in 75% der Fälle ein er- Immunitätslagen des Individuums unterschiedlich ist, ent-
höhtes Lysozym nachgewiesen werden. scheidet darüber, ob eine Enzephalitis umschrieben und gut-
Es gibt aber auch eine isolierte Meningoenzephalitis beim artig oder ausgedehnt und letal verläuft. Die Zellschädigung
M. Boeck, die schwer zu diagnostizieren ist. Das gilt ebenso für mit Untergang von Neuronen oder Gliazellen wird direkt vi-
die seltene, vorwiegend sensible Polyneuropathie. Die Diagno- rustoxisch durch lytische Replikationszyklen oder durch zyto-
se kann durch Lymphknotenbiopsie, unter Umständen nach toxische Immunantworten des Wirtsorganismus vermittelt. Es
Mediastinoskopie, erhärtet werden. werden in einigen Fällen auch autoimmun parainfektiöse Me-
chanismen vermutet (z.B. Herpesviren).
3Therapie. Zur Behandlung gibt man Kortikoide für we- Ein neuer Übertragungsweg von schweren viralen Infek-
nigstens 6 Monate. tionen des Nervensystems ist die Organtransplantation. Be-
sonders tragisch war die Übertragung von Tollwut auf vier
Empfänger über Transplantate, die bei einer Patientin, die an
19.3 Akute Virusenzephalitis einer Enzephalitis unklarer Ursache verstorben war, aufgetre-
ten sind. Auch West-Nile-Virusinfektionen, Infektionen mit
3Pathogenese. Viren können in das Zentralnervensystem dem LCMV-Virus und mit Herpesviren über Transplantate
entweder entlang der peripheren Nerven und Nervenwurzeln, sind beschrieben worden.
468 Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

3Erregerspektrum. Die wichtigsten Viren, die das ZNS be- 4 Fokale oder generalisierte Anfälle sind ein häufiges Initi-
fallen, sind alsymptom. Sie können sich zum Status epilepticus steigern.
4 die Enteroviren (Echo-, Coxsackie- und Poliovirus),
4 die Paramyxoviren (Mumps-, Masern-, Parainfluenzavi- 3Diagnostik. Blutbild und BSG können normal sein. Der
ren), Routinestatus des Liquors (Zellen, Gesamteiweiß, Zucker und
4 das Virus der lymphozytären Choriomeningitis, Laktat) kann normal sein. Häufig besteht eine leichte Pleozy-
4 die Gruppe der Arboviren und tose um 10–30 Zellen und geringe bis mäßige Eiweißvermeh-
4 die Gruppe der Herpesviren. Zu den neurotropen und rung bis etwa 0,70 g/l. Stärkere entzündliche Veränderungen
humanpathogenen Viren der Herpesgruppe gehören das Her- sind selten. Oft ist der Liquorzucker erhöht. Die Ursache dafür
pes-simplex-Virus Typ I (HsV), das Varizella-Zostervirus ist nicht bekannt. Um so wichtiger ist die Untersuchung auf
(VZV), das Epstein-Barr-Virus (EBV) und das Zytomegalie- Immunglobuline, besonders der IgM-Klasse. Die PCR aus dem
Virus (CMV) Liquor wird bei Herpes-simplex-Virus, Varizella-Zostervirus
4 ungewöhnliche Erreger werden auch in den westlichen und Zytomegalievirus heute schon routinemäßig eingesetzt.
Ländern zunehmend gefunden (z.B. Bunyaviren, Nipahviren, Mit Sicherheit wird sich diese Liste noch erweitern. Selbst bei
West-Nile- und Japanisches Enzephalitis-Virus.). wiederholter, sorgfältiger serologischer Untersuchung gelingt
es aber oft nicht, den Erreger zuverlässig nachzuweisen.
3Symptome und Verlauf. Wie bei der Meningitis, lässt sich Das EEG ist im akuten Stadium immer pathologisch. Ent-
aus der klinischen Symptomatik nur in seltenen, weiter unten sprechend der fluktuierenden Bewusstseinstrübung findet
gesondert beschriebenen Fällen eine ätiologische Diagnose man eine wechselnd schwere Allgemeinveränderung, bei der
stellen. Hälfte der Fälle Herdbefunde, gelegentlich auch epilepsiever-
Ein zweiphasiger Verlauf, in dem sich ein Prodromalstadi- dächtige Abläufe.
um mit allgemeinen Krankheitssymptomen, ein kurzes Intervall Im CT und MRT gibt die Enzephalitis einen uncharakte-
und ein subakuter Ausbruch der enzephalitischen Symptomatik ristischen Befund. Man findet oft ein diffuses, seltener lokales
abgrenzen lässt, ist häufig nicht zu beobachten oder zu erfragen. Hirnödem. Eine wichtige Ausnahme ist die Herpes-simplex-
In vielen Fällen setzen die Symptome akut aus voller Gesundheit Enzephalitis (s.u.).
ein und erreichen bereits am ersten Tag ihren Höhepunkt. Na-
ckensteifigkeit fehlt oder ist nur gering. Die Körpertemperatur 3Differentialdiagnose. Folgende Krankheiten können dem
ist meist erhöht. Bei einigen Arten bestehen initial katarrhalische Bild der akuten Virusenzephalitis ähneln:
Erscheinungen, Exantheme oder Gelenkschwellungen. Die Sinusthrombose (7 Kap. 7) ist klinisch und selbst im
Psychopathologische Veränderungen: Die Mehrzahl der CT schwierig, im MRT weit besser abzugrenzen. Bei subaku-
Kranken ist bewusstseinsgetrübt. Dabei werden alle Schwere- tem Verlauf und geringeren psychischen Veränderungen muss,
grade von leichter Verhangenheit oder Benommenheit bis zum zumal bei Beginn mit Anfällen im mittleren Lebensalter, ein
Koma beobachtet. In fast der Hälfte der Fälle tritt im akuten Tumor ausgeschlossen werden.
Krankheitsstadium eine exogene Psychose auf. Diese kann zu Eine Intoxikation lässt sich durch die schwere, auch herd-
Anfang das Krankheitsbild so beherrschen, dass die Verdachts- förmig betonte EEG-Veränderung, durch den entzündlichen
diagnose einer Enzephalitis nicht gestellt wird. Die Patienten Liquor und oft durch den Verlauf ausschließen. Bei entspre-
sind bald erregt, expansiv, motorisch unruhig und, unter Ver- chendem Verdacht werden Blut und Urin auf Pharmaka unter-
kennung der Umgebung, aggressiv; bald sind sie still, verwirrt sucht.
und desorientiert. Halluzinationen sind selten. Auch ohne Stehen psychische Symptome im Vordergrund, reicht die
schwere Bewusstseinsstörung oder Psychose sind die Kranken Skala der differentialdiagnostischen Möglichkeiten von psy-
durch Verlangsamung, Antriebsmangel, affektive Gleichgültig- chogenen Verhaltensweisen bis bis zu psychotischen Störun-
keit oder Verstimmbarkeit psychisch auffällig. gen. Schwierigkeiten kann die Abgrenzung zum Delir bei alten
Neurologische Herdsymptome: Diese werden vom loka- und besonders bei dementen Patienten machen, da hier häufig
lisatorischen Schwerpunkt des entzündlichen Prozesses be- durch einen Nackenrigor, psychopathologische Symptome,
stimmt: eine Bewusstseinsstörung und nicht selten eine Infektkonstel-
4 Bei kortikalem Befall, treten Mono- oder Hemiparesen, lation im Labor typische Symptome einer Herpes-simplex-
kortikale Blicklähmungen, Sprachstörungen, Apraxie und ähn- Enzephalitis vorgetäuscht werden. Die psychopathologische
19 liche neurologische Störungen auf.
4 Bei Hirnstammenzephalitis sind einseitige oder doppel-
Abgrenzung kann hier nicht erörtert werden. Die wichtigsten
Unterscheidungsmerkmale sind die Bewusstseinstrübung und
seitige Myoklonien besonders charakteristisch. Sie sind von die begleitenden körperlichen Symptome.
zerebellären oder extrapyramidalen Bewegungsstörungen,
Nystagmus, Blicklähmungen oder Blickkrämpfen begleitet.
4 Gelegentlich besteht primär ein akinetisches Parkinson- 19.3.1 Herpes-simplex-Enzephalitis (HsE)
Syndrom.
4 Auch Rückenmarksyndrome der verschiedensten Art 3Epidemiologie. Die HsE ist eine seltene Erkrankung (In-
(7 Kap. 1.13) können vorkommen. Die Vorderhornzellen und zidenz: 1:250.000–1.000.000 Einwohner/Jahr), aber dennoch
die Spinalganglien können befallen werden, bei manchen Er- die häufigste sporadische Virusenzephalitis in Mitteleuropa.
regern (Poliomyelitis) sogar bevorzugt. Sie wird in 95% der Fälle durch HSV-I verursacht, in 5% (hier
19.3 · Akute Virusenzephalitis
469 19
besonders bei immuninkompetenten Patienten) durch HSV- 3Diagnostik. Im Liquor findet man eine Pleozytose von
II. Bei Neugeborenen allerdings verursacht HSV-II zwei Drittel über 400 Zellen/μl, anfangs Granulozyten, später Lymphozyten,
der HsE. Bei immunkompetenten Erwachsenen ist eine zentra- Plasmazellen und einige Erythrozyten. Das Gesamteiweiß ist
le nervöse HSV-II Infektion extrem selten und verursacht fast auf Werte um 1,0–1,5 g/l erhöht. Es besteht eine Störung der
ausnahmslos eine lymphozytäre Meningitis mit guter Progno- Blut-Liquor-Schranke. Etwa vom 10. Tag an ist eine lokale Pro-
se (s. Mollaret-Meningitis). duktion von Immunglobulinen im Liquor nachweisbar (IgG,
Ein Drittel der HsE-Fälle sind Primärinfektionen, ca. zwei IgA und IgM), vom etwa 7. Tag an lassen sich HsV-spezifische
Drittel sind Reinfektionen bzw. Reaktivierungen mit bereits Antikörper im Liquor nachweisen (Vergleich mit dem Serum).
positivem Antikörpernachweis für IgG im Serum (s. Exkurs Während dieser Nachweis für eine Therapie zu spät kommt, ist
S. 467). Die HsE hat unbehandelt eine infauste Prognose (70% heute mit der PCR ein schneller Nachweis von Virus-DNA
Letalität). Aber auch behandelt liegt der Anteil von mäßigen bis möglich (. Abb. 18.5).
schweren neuropsychiatrischen Residualzuständen bei 50%. In einem frühen Stadium findet man im EEG einen ein-
Nur wenige Patienten erreichen wieder eine vollständige Er- seitigen, temporalen Herd langsamer Wellen. Dann treten in
werbsfähigkeit. vielen Fällen rhythmische, triphasische Wellen sowie fokale,
epileptische Aktivität und Allgemeinveränderung hinzu. Etwa
3Pathologisch-anatomische Befunde. Die Entzündung er- 6–8 Tage nach Beginn der Symptomatik treten oft periodische
streckt sich zunächst auf limbische Strukturen des basalen Komplexe auf, die dann auch über beiden Temporalregionen
Temporal- und Frontallappens, und zwar zunächst einseitig, nachweisbar sind (. Abb. 19.1). Man darf diese periodischen
später doppelseitig. Dann dehnt sie sich auch auf nichtlim- EEG-Veränderungen aber nicht in allen Fällen erwarten.
bische Bezirke des Temporal- und Frontallappens aus. Neben Bis zu 3 Tagen nach Auftreten der ersten neurologischen
den Zeichen der hämorrhagischen Entzündung findet man ein Symptome ist das CT normal. Der Kontrast zu dem schwe-
ausgedehntes Ödem mit Zisternenverquellung. ren klinischen Befund und den deutlichen EEG-Verände-
rungen ist bereits sehr verdächtig auf HsV-Enzephalitis. Ab
3Symptome und Verlauf. Die Krankheit beginnt mit einem 4.–5. Krankheitstag sind hypodense Areale nachzuweisen, die
unspezifischen Prodromalstadium von Allgemeinsymptomen, sich erst in einem (meist dem linken), dann im anderen Tem-
das 1–4 Tage dauert. Danach setzen neurologische und vor porallappen und im paramedianen, basalen Frontallappen
allem neuropsychologische Herdsymptome ein. Viele Patienten ausdehnen. Ferner finden sich die Zeichen der Zisternenver-
werden aphasisch, da die HsE mehr den linken als den rechten quellung. Die entsprechenden MRT-Veränderungen treten
Schläfenlappen befällt. Die Patienten bekommen leichte Halb- etwa 2–3 Tage früher auf (. Abb. 19.2a,b). Krankheitsverlauf
seitenlähmungen und fokale oder generalisierte epileptische und typische Befunde sind in . Abbildung 19.3 dargestellt.
Anfälle (Häufigkeit 60%). Das Bewusstsein trübt sich, und un-
ter Temperaturanstieg bildet sich Nackensteifigkeit aus. Unbe- 3Therapie und Prognose
handelt, entwickelt sich ein Koma, und 70% der Patienten ster- 4 Man gibt schon bei begründetem Verdacht (enzephali-
ben durch Hirndruck. tisches Syndrom, entzündlicher Liquor, EEG-Herd und nor-

. Abb. 19.1. Periodische Komplexe im EEG eines 48-jährigen Patienten mit Herpes-simplex-Enzephalitis. Im CCT zu dieser Zeit bitempo-
rale Läsionen
470 Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

a b c

. Abb. 19.2. Herpesenzephalitis in der MRT. a Axiale FLAIR-Se- sich eine Kontrastmittelaufnahme links temporal kortikal sowie im
quenz. b Axiale T1-gewichtete Sequenz nach Kontrastmittelgabe. Kaudatuskopf links. In der diffusionsgewichteten MRT zeigt sich in den
c Diffusionsgewichtete Sequenz im frühen Stadium einer Herpesenze- betroffenen Arealen eine Diffusionsrestriktion (helles Signal) als Aus-
phalitis. Es zeigt sich ein ausgedehntes Ödem links temporal mit Betei- druck eines zytotoxischen Ödems, welches typisch für die Herpesen-
ligung der Insel sowie des Cingulums. Nach Kontrastmittelgabe zeigt zephalitis ist

19

. Abb. 19.3. Klinische, apparative und liquordiagnostische Befunde bei der Herpes-simplex-Enzephalitis. (Nach Hacke u. Zeumer 1985)
19.3 · Akute Virusenzephalitis
471 19
males CT) Aciclovir (z.B. Zovirax®) 3-mal 10 mg/kg KG i.v. Bei 19.3.2 Zosterinfektionen
Niereninsuffizienz erfolgt eine Dosisanpassung. Um die Ge- (Varizella-Zoster-Virus, VZV)
fahr einer Nierenschädigung zu vermindern, soll der Patient so
viel Flüssigkeit erhalten, dass er pro 1 g Aciclovir 1 l Urin aus- Die Erkrankungen des Erwachsenen gehen von einer Reaktivie-
scheidet. rung der latenten Viren in den Hinterstrangganglien aus. Neben
4 Wenn sich die Diagnose bestätigt, Behandlung über 14 Tage. einer Enzephalitis und einer sehr seltenen Myelitis (»Zoster-
Bleibt die PCR zweimal negativ und entwickeln sich im MRT myelitis«) verursacht das VZV am häufigsten eine Radikulo-
keine temporalen Läsionen, wird die Therapie früh abgesetzt. neuritis (»Gürtelrose«). Bei Kindern sieht man im Anschluss an
Neue Virustatika sind in Entwicklung. Diskutiert wird eine die primäre kutane Infektion (»Windpocken«) als Komplika-
Steroidbehandlung, um sekundäre neuroimmunologische Ver- tion eine Meningoenzephalitis oder Zerebellitis (1:4.000).
schlechterung, die tierexperimentell nachgewiesen ist, zu unter- 4 Die VZV-Myelitis ist eine seltenen Komplikation der Ra-
drücken. Dazu läuft zur Zeit eine multizentrische Behand- dikuloneuritis (5% der Fälle) mit übergreifen der Infektion
lungsstudie mit einer Kombinationsbehandlung von Aciclovir ausgehend von den Hinterstrangganglien auf die Vorderhorn-
und Dexamethason. neurone.
4 Weitere Virustatika, die zur Behandlung der HsE zuge- 4 Die Enzephalitis des Erwachsenen ist selten, genaue Zah-
lassen sind, sind Famicyclovir und Valaciclovir. Das Letztere len sind nicht bekannt. Sie wird besonders bei immunkompro-
hat eine sehr gute Bioverfügbarkeit nach oraler Gabe und mitierten Patienten im Anschluss an eine Gürtelrose beobach-
wird im Körper zu Aciclovir umgewandelt. Äquivalenzdosis: tet. In den Symptomen lässt sie sich schwer von einer HsE
2-mal 1000 mg Valaciclovir oral entsprechen 3-mal 5 mg/kg unterscheiden. Sie zeigt aber im MRT nicht die mesotempo-
Acilovir i.v. rale Prädilektion. Auch bei Erwachsenen kann es zu einer
VZV-assoziierten Zerebellitis kommen, bei der eine akute
Unter dieser Behandlung kann die Letalität auf etwa 20% ge- Tetraataxie im Vordergrund steht. Die Prognose ist unter Be-
senkt werden. Über die Hälfte der Patienten bleibt bei früh handlung mit Aciclovir ähnlich der HsE. Als Komplikation der
einsetzender Therapie ohne gravierende neurologische De- VZV-Enzephalitis kann eine granulomatöse Vaskulitis ent-
fekte. Allerdings gibt es auch heute noch viele Patienten, die stehen.
mit massiven Gedächtnisstörungen zu leben haben. Wir haben
in den letzten Jahren keinen Patienten mit HsE mehr verlo- Im Folgenden wird schwerpunktmäßig die Zosterneuritis,
ren. (Herpes zoster, Gürtelrose) behandelt.

ä Der Fall 3Epidemiologie und Pathogenese. Der Zoster ist eine vom
Eine 40-jährige Patientin wird nach einem plötzlich aufgetre- Varizella-Zoster-Virus ausgelöste Krankheit, die sporadisch
tenen, fokal eingeleiteten, generalisierten Anfall in die Notambu- und vorwiegend bei Erwachsenen auftritt. Die Häufigkeit des
lanz der Klinik gebracht. Die Angehörigen berichten, dass die Zoster nimmt mit dem Lebensalter zu. Es handelt sich um eine
Patientin seit einigen Tagen unter Kopfschmerzen, Abgeschla- Allgemeininfektion mit lokaler Manifestation in den sensiblen
genheit und leichtem Fieber gelitten habe. Ganglien und der Haut. Das Virus ist mit dem Varizellenvirus
Bei der neurologischen Untersuchung ist außer einer amnes- identisch. Varizellen zeigen die Erstinfektion des voll empfind-
tischen Aphasie kein Herdbefund feststellbar. Es liegt eine leichte lichen Individuums an, Zoster die Zweiterkrankung durch ver-
Nackensteifigkeit vor. Die Temperatur beträgt 38,5°C. Das Com- bliebene oder neu eingedrungene Erreger bei partieller Immu-
putertomogramm ist regelrecht, im EEG zeigt sich ein ausge- nität. Bei Kindern führt lokale Inokulation von Zostervirus in
dehnter, links hemisphärischer, temporal betonter Herd mit die Haut zu typischen Varizellen, von denen andere Kinder mit
hochgespanntem, zum Teil rhythmischen Entladungen. Im Liquor einer Inkubationszeit von etwa 2 Wochen angesteckt werden
ist eine Pleozytose von 200/3 Zellen bei noch normalem Eiweiß können. Die Kinder sind danach gegen Varizellen resistent.
festzustellen. Erwachsene bekommen nach Kontakt mit Varizellenkindern
Entzündlicher Liquor, normales CT und neurologische Herd- nicht selten Zoster. Haben sie in der Kindheit Varizellen durch-
befunde legen den dringenden Verdacht auf eine Herpesenzepha- gemacht, können sie später aber dennoch einen Zoster bekom-
litis (HsE) nahe. Die Behandlung mit Aciclovir wird sofort begon- men.
nen. Die Herpes-PCR ist am nächsten Tag positiv. Im Kernspin-
tomogramm zeigt sich eine linkstemporale, im T2-Bild hyperinten- 3Symptome. Die Inkubationszeit beträgt 7–14 Tage. Die
se, nicht kontrastmittelaufnehmende Zone in der Inselrinde und Krankheit beginnt mit Allgemeinerscheinungen, wie Abge-
im benachbarten Temporallappen. Unter zusätzlicher antikonvul- schlagenheit, Kopf- und Gliederschmerzen, leichte Tempera-
siver Behandlung bilden sich die Symptome nach wenigen Tagen turerhöhung und gelegentlich Nackensteifigkeit. Im Versor-
bis auf eine geringe, verbleibende amnestische Aphasie zurück. gungsgebiet des betroffenen, sensiblen Ganglions treten
Nach 14-tägiger Aciclovir-Behandlung erholt sich die Patientin dumpfe oder ziehende Schmerzen auf. Am 3.–5. Tag schießen
schnell, allerdings bleiben mnestische Einschränkungen beste- die typischen Hauteruptionen auf: Gruppen von Bläschen, die
hen. Erst nach Monaten kehrt die Patientin in ihren Beruf zurück. segmental angeordnet sind. Die Lokalisation ist meist einseitig.
Am häufigsten ist eines der Thorakalsegmente betroffen
(»Gürtelrose«). Weitere Lokalisationen sind die unteren Zervi-
kalsegmente (Schulter-Arm-Region), das Gebiet des 1. Trige-
472 Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

minusastes (Zoster ophthalmicus), seltener der anderen Trige- hämorrhagischen Nekrosen. Die benachbarten, sensiblen Spi-
minusäste (Befall des Ggl. semilunare) oder die Ohrregion bei nalnerven und -wurzeln sind entmarkt. Bei Zostermyelitis er-
Befall des Ggl. geniculi (Zoster oticus). In dem betroffenen greift ein analoger Prozess auch das Rückenmark, besonders
Hautareal lässt sich gewöhnlich eine Sensibilitätsstörung nach- die Hinterhornregion. Manchmal werden auch die Vorder-
weisen. wurzeln betroffen.
Nach wenigen Tagen lassen die Schmerzen langsam nach,
die Bläschen verschorfen und fallen ab. Sie hinterlassen meist 3Diagnostik. Im Liquor findet man eine lymphozytäre Ple-
kleine, weißliche Narben oder bräunliche Pigmentverschie- ozytose um 20–70 Zellen bei normalen Eiweißwerten. Entwi-
bungen. Sie können auch nekrotisch zerfallen (Zoster gangra- ckelt sich eine ausgedehnte Zostermeningitis, besteht klinisch
enosus). Es gibt auch motorische Ausfälle: Reflexabschwä- ein schwerer Krankheitszustand mit hohem Fieber, Nacken-
chung und Lähmung in den betroffenen Segmenten. Selten steifigkeit und Bewusstseinstrübung. Die Zellvermehrung
wird der Grenzstrang befallen, und man findet eine Anhi- kann dann bis auf mehrere 1000 ansteigen. In diesem Fall ist
drose. auch das Eiweiß auf Werte um 0,70–1,00 g/l erhöht. Leichte,
entzündliche Liquorveränderungen bleiben noch für Wochen
3Verlauf. Bei jüngeren Personen heilt der Zoster klinisch nachweisbar. PCR und VZV-spezifische intrathekale AK-Titer
folgenlos ab. Bei älteren Patienten kann sich eine sehr hartnä- beweisen die Diagnose.
ckige Zosterneuralgie anschließen. Sie äußert sich in zie-
henden, bohrenden oder brennenden Dauerschmerzen, die 3Therapie. Eine antivirale Therapie sollte innerhalb von
durch Analgetika kaum zu beeinflussen sind. Es ist oft sehr 72 h nach Auftreten der Effloreszenzen begonnen werden.
schwierig, den rein organischen und den reaktiv-seelischen 4 Die orale Behandlung mit Valaciclovir (3-mal 1 g für
Anteil dieses Krankheitszustands richtig einzuschätzen. 7 Tage) ist der oralen Therapie mit Aciclovir (5-mal 800 mg für
8 Tage) aufgrund der 3- bis 5fachen besseren Bioverfügbarkeit
3Pathologie. Pathologisch-anatomisch ist beim unkom- überlegen.
plizierten Zoster meist nur ein Spinalganglion oder das 4 Die Dauer der Zoster-assoziierten Schmerzen (akuter Zos-
Ggl. Gasseri bzw. Ggl. geniculi betroffen. Mikroskopisch be- terschmerz wie auch postherpetischer Zosterneuralgie) wird
stehen entzündliche, lymphoplasmazelluläre Infiltrationen mit durch Valaciclovirgabe deutlich verkürzt.

Exkurs
Sonderformen des Zoster
Symptomatischer Zoster. Er kann bei traumatischen oder auf der Zunge und am weichen Gaumen lokalisiert sein. Das
destruierenden Wirbelläsionen oder bei schweren, malignen befallene sensible Ganglion ist das Ggl. geniculi.
Allgemeinkrankheiten auftreten, namentlich bei HIV-Infekti- Regelmäßig tritt in der 1. oder 2. Krankheitswoche eine
on, Karzinomen, Plasmozytom, Leukämie, Lymphogranulo- Fazialislähmung auf, oft mit halbseitiger Geschmacksstörung
matose. Der Verdacht ist besonders dringlich, wenn mehrere und Beeinträchtigung der Speichelsekretion. Weitere, fakulta-
Segmente betroffen sind. Auch in diesen Fällen handelt es tive Hirnnervensymptome sind: Ohrensausen, Hörminderung,
sich aber um echte Zoster-Infektionen. Hier ist die Gefahr der Drehschwindel, Übelkeit und Brechreiz, Sensibilitätsstörung,
Generalisierung durch Steroidtherapie besonders groß. vor allem im N. trigeminus, Abduzenslähmung, Hypoglossus-
lähmung und Parese des motorischen N. vagus. Ein Reizsymp-
Zoster ophthalmicus. Er äußert sich in einseitigem Befall der tom des Vagus ist der Singultus.
Stirnhaut unter Beteiligung von Konjunktiva und Kornea, die Der Liquor ist praktisch immer akut entzündlich verändert.
lebhaft injiziert sind. Dabei entwickeln sich oft auch Keratitis, Fazialislähmung und Hörstörung bilden sich oft nur unvoll-
Iritis, Neuritis nervi optici und Augenmuskellähmungen, diese ständig wieder zurück. Die übrigen Symptome haben eine
infolge einer begleitenden basalen Meningitis. Bei Virusinva- gute Prognose.
sion der Gefäße sind ipsilaterale Hirninfarkte möglich.
Der Zoster ophthalmicus kann, wie Zoster überhaupt, Zoster-Zerebellitis. Eine weitere Komplikation ist die Zoster-
auch ohne die typischen Hauteruptionen auftreten. Die Zerebellitis, die im Anschluss an einen Zoster oticus auftreten
Diagnose muss dann nach den lokalisierten Schmerzen mit kann und akute Symptome einer Entzündung des Neozerebel-
19 Hautrötung, Injektion des Auges und entzündlichen Liquor-
veränderungen gestellt werden. Neben der systemischen
lums hervorrufen kann. Es handelt sich um eine parainfektiöse
Entzündung (s. Kap. 22.2.3). Die Prognose ist in der Regel gut.
Aciclovir-Behandlung gibt man lokal Aciclovir-Augensalbe Differentialdiagnose der Zerebellitis nach systemischem
zur Verhinderung von Korneanarben. Zoster: Paraneoplastische, zerebelläre Degeneration, Diagnose
über den Nachweis von Purkinje-Zell-Antikörpern (7 Kap. 13).
Zoster oticus. Die initialen Schmerzen bei Zoster oticus sind
im Ohr, im seitlichen Gesicht oder Nacken lokalisiert. Die Zostervaskulitis. Eine weitere parainfektiöse, immunmediier-
Bläschen schießen auf der Ohrmuschel, dem Ohrläppchen, te Folge einer lokalen Zosterinfektion ist eine umschriebene
oft aber versteckt in der Tiefe des äußeren Gehörgangs und Arteriitis (Zostervaskulitis), die zu sekundären, ischämischen
auf dem Trommelfell auf. Sie können auch seitlich am Hals, Symptomen führen kann. Behandlung mit Steroiden.
19.3 · Akute Virusenzephalitis
473 19
4 Bei immunsupprimierten Patienten wird derzeit die orale 3Symptome. Nach einer Inkubationszeit von 1–2 Wochen
Gabe von Aciclovir empfohlen (5-mal 800 mg/Tag). kommt es im Stadium der Virämie zu allgemeinem Krank-
4 Während früher von Kortikoiden abgeraten wurde, weil sie heitsgefühl, Fieber und Kopfschmerzen. In einem Drittel der
eine Generalisierung des Zoster begünstigen sollten, schreibt primär Infizierten kommt es nach einem symptomfreien Inter-
man heute der begleitenden, frühzeitigen Kortikoidbehand- vall von 5–10 Tagen zur Neurotransmission und Infektion des
lung (30–60 mg Prednisonäquivalent) den Effekt zu, einer Zos- ZNS. Etwa 50% der Patienten entwickeln eine Meningitis, 40%
terneuralgie entgegenzuwirken, möglicherweise durch Unter- eine Meningoenzephalitis und 10% eine Meningoenzephalo-
drückung einer Angiitis. myelitis bzw. Meningoenzephaloradikultitis. Die Letalität liegt
4 Dermatologische Behandlung, bei Superinfektionen: Anti- bei unter 3%. Die reinen Meningitiden verlaufen gutartig, Me-
biotikasalben, Schmerzmittel, eventuell kombiniert mit Ami- ningoenzephalitiden können mit einem schweren akuten Ver-
triptylin, 2- bis 3-mal 25 mg oral oder als Infusion. lauf einhergehen, der eine intensivmedizinische Behandlung
– u.U. mit einer vorübergehenden maschinellen Beatmung –
erforderlich macht. Dennoch heilen diese Verläufe in der Regel
19.3.3 Epstein-Barr-Virus-Infektion (EBV) ebenfalls verzögert gut aus. Die Meningoenzephalomyelitis hat
eine deutlich schlechtere Prognose und heilt oft nur mit neuro-
Die EBV-Meningoenzephalitis tritt häufig als Hirnstammen- logischen Defekten aus. Die Prognose hängt hier u.a. vom Alter
zephalitis mit Zerebellitis auf. Eine Polyneuritis kann hinzutre- und möglichen Vorerkrankungen des Nervensystems ab.
ten. Eine Mononucleosis infectiosa (Pfeiffer-Drüsenfieber) mit Eine Variante der Infektion befällt besonders die moto-
ihren allgemeinen Symptomen ist meistens gleichzeitig vor- rischen Vorderhornzellen und führt zu einem polioähnlichen
handen. Ein Therapieversuch mit Ganciclovir oder Aciclovir Bild mit relativ schlechter Prognose, d. h. bleibenden Paresen.
kann erfolgen. Die Prognose ist im Allgemeinen gut, dennoch
können schwere Verläufe bei immunsupprimierten Patienten 3Diagnostik. Nachweis von FSME-IgM im Serum und im
und bei Kindern vorkommen. Dann steht therapeutisch noch Liquor. Im Liquor findet man meistens eine sehr deutliche,
das relativ toxische Foscarnet zur Verfügung. lymphozytäre Pleozytose bei mäßiger Eiweißerhöhung.

3Therapie. Eine spezifische Therapie existiert nicht. Die


19.3.4 Zytomegalie-Virus-Infektion (CMV) passive Immunisierung mit IgG-Antikörpern nach Kontakt
wird nicht mehr empfohlen, da es hierunter zu Exazerbationen
Die CMV-Meningoenzephalitis tritt häufig durch Reaktivie- des Krankheitsverlaufs kam, derzeit ist in Deutschland deshalb
rung eines früheren Infektes bei immunsupprimierten Pati- auch kein Präparat mehr auf dem Markt erhältlich.
enten auf. Nicht selten werden auch andere Organe (Lunge, Die Chance, eine FSME zu bekommen, ist sehr gering und
Herz, Leber) infiziert. Die CMV-Infektion bei immunsuppri- dürfte nicht viel höher liegen als das Risiko, eine Komplikation
mierten, transplantierten Patienten kann zur Transplantatab- der IgG-Behandlung (Serumkrankheit) zu bekommen. Es gibt
stoßung führen. Auch ein polyneuritischer Verlauf der Infek- mittlerweile 2 polyvalente Aktivimpfstoffe (abgetötete FSME-
tion ist bekannt. Viren), die im Gegensatz zu dem Impfstoff der ersten Genera-
tion sehr gut verträglich und komplikationsarm sind (schwer-
3Therapie. Bei Transplantatempfängern und bei Patienten, wiegende Komplikationen: kleiner 1:1.000.000).
die aus anderen Gründen immunsupprimiert sind, kann eine Personen, die sich wiederholt in Endemiegebieten aufhal-
Hyperimmunglobulinprophylaxe gegen CMV (Cytotect®) ten und dabei auch eine hohe mögliche Exposition haben,
erfolgen. Die akute CMV-Meningoenzephalitis wird mit Gan- wird die Impfung angeraten.
ciclovir (Cymeven®), einem weiteren Nukleosidanalogon, das
gegen verschiedene Viren der Herpesgruppe wirksam ist, be-
handelt. 19.3.6 Coxsackie- und Echovirus-Meningitis

3Epidemiologie und Pathogenese. Beide entstehen durch


19.3.5 Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) hämatogene Aussaat bei einer systemischen Infektion. Cox-
sackieviren befallen häufig auch das Herz, die Echoviren häufig
3Erreger und Pathogenese. Weltweit sind Arboviren die die Leber. Der primäre Infekt erfolgt meist oral, seltener über
Ursache für eine Vielzahl von Enzephalitiskrankheiten, die die Lunge. Infektionen treten gehäuft im Sommer und Früh-
meist über Moskitos oder Zecken verbreitet werden. In Mittel- herbst auf. Die Inkubationszeit beträgt meist 5–10 Tage.
europa ist die Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) von
Bedeutung. Sie wird, wie die Borreliose, von Zecken der Art 3Symptome. Hohes Fieber und allgemeine Zeichen einer
Ixodes ricinus übertragen. Nach Infektion durch einen Ze- Virusinfektion (Grippe) mit Rhinitis, Pharyngitis, Erbrechen,
ckenbiss vermehrt sich das Virus in den Lymphknoten. In den Gelenkschmerzen, Muskelschmerzen und Lymphdrüsen-
Endemiegebieten sind bis zu 5% der Zecken Träger des Erre- schwellung sind die Allgemeinsymptome. Später entwickeln
gers. Die Krankheit ist endemisch in Österreich, Tschechien, sich Zeichen einer Meningoenzephalitis.
Slowakien und in Süddeutschland. Hier breitet sie sich langsam Bei Coxsackieinfektionen der Gruppe B entsteht die Born-
aber sicher weiter nach Norden aus. holm-Krankheit mit Pleuraschmerz und Interkostalneuralgie.
474 Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

Exkurs
FSME-Virus
Die FSME wird durch ein kleines behülltes RNA-Virus Baltischen Staaten vor. Ihr Verbreitungsgebiet reicht außerhalb
(40–60 nm) aus der Familie der Flaviviren, zu der u.a. auch Deutschlands im Norden bis nach Südschweden. Die deut-
das Gelbfiebervirus, das Westnilvirus oder der Erreger des schen Endemiegebiete werden durch das Robert-Koch-Institut
Denguefiebers gehören, verursacht. Alle durch Flaviviren in unterschiedliche Risikogebiete eingeteilt (s. www.rki.de).
verursachten Erkrankungen werden durch Arthropoden Weitere Erreger einer FSME kommen in Osteuropa und dem
übertragen. Daher werden sie taxonomisch nicht korrekt mit asiatischen Teil Russlands vor. Diese Erreger (Eastern-type-Virus,
anderen Virenfamilien zusammen auch den sogenannten Far-Eastern-Type-Virus) verursachen allerdings weit schwerere
»arthropode-borne viruses« (ARBO-Viren) zugeordnet. und oft letale (Fareastern-type) Meningoenzephalitiden.
Der Vektor der FSME ist in Zentraleuropa der gemeine Der deutsche Name der FSME (im Englischen »tick-borne
Holzbock (Ixodes ricinus). Die Zecke überträgt das FSME- encephalitis«) ist irreführend, da sie nicht nur im »Frühsommer«
Virus bereits nach wenigen Minuten, da die FSME-Viren in sondern mit zwei Gipfeln im April bis Juni und im September
den Speicheldrüsen des Vektors replizieren. Im Gegensatz bis Oktober vorkommt. Im »Hochsommer« nehmen die Infek-
dazu werden Borrelien, die sich im Darm der Zecke befinden, tionen ab, da die Zecken ihre höchste Aktivität bei 16–18°C
erst nach längerer Blutmahlzeit übertragen. zeigen und bei hohen Temperaturen und besonders bei Tro-
Die Prävalenz des FSME-Virus in Zecken liegt bei 3–5%, ckenheit inaktiv sind. Mit dem Klimawandel ist davon aus-
neuere Untersuchungen gehen allerdings von zum Teil zwei- zugehen, dass die FSME sich nicht nur weiter nach Norden
stelligen Prozentzahlen aus. Die FSME ist eine endemische ausbreitet, sondern auch zunehmend ganzjährig auftreten
Erkrankung in Süddeutschland und Thüringen sowie im wird. Im extrem milden Winter 2006/2007 wurden erstmals
deutschsprachigen Raum in Österreich und Teilen der in Deutschland Infektionen im Februar, dem üblicherweise
Schweiz. Sie kommt weiter, teils mit deutlich höherer Inzi- kältesten Monat des Jahres, gemeldet.
denz, in Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Polen und den

Sie kann durch Myokarditis kompliziert sein. Neben den ty- der Schleimhaut des Pharynx oder Darms. In der ersten Woche
pischen Zeichen der Virusmeningitis können Anfälle und my- nach der Infektion kommt es zur Virämie. Die Inkubationszeit
elitische Symptome auftreten. beträgt 3–14 Tage.
An diese schließt sich bei einem kleinen Prozentsatz der
3Diagnose. Der Liquor zeigt eine variable Zellzahlerhö- Infizierten ein Befall des ZNS oder der Meningen an. Das Virus
hung, meist mononukleärer Zellen. Das Eiweiß kann leicht er- gelangt hämatogen in das Zentralnervensystem und befällt
höht sein, der Zucker ist meist normal. Serologisch weist man bevorzugt die graue Substanz und hier besonders die Vorder-
den Infekt über spezifische IgG und IgM Antikörper nach. hornzellen im Rückenmark und die Kerne der motorischen
Hirnnerven. Die Bedingungen für das Auftreten manifester
3Therapie. Eine spezifische Therapie existiert nicht. Bei Krankheitssymptome sind nicht bekannt. Traumen, Allgemein-
Patienten mit B-Zell-Schwäche oder Agammaglobulinämie krankheiten, körperliche Anstrengungen haben darauf keinen
gibt man Gammaglobuline, Gleiches gilt auch für die Infektion Einfluss. Lediglich die Tonsillektomie im Inkubationsstadium
von Neugeborenen. Trotz der schweren und in der Akutphase begünstigt das Eindringen der Viren ins Nervensystem. Patho-
manchmal lebensbedrohlichen Symptomatik ist die Prognose logisch-anatomisch findet man bei Poliomyelitis, gleich welcher
insgesamt günstig, wenn nicht ein Immundefekt zugrunde Ätiologie, entzündliche Infiltrate mit Untergang von Ganglien-
liegt. zellen und reaktiver Gliawucherung. Die Veränderungen sind
in der Vorderhornregion des Rückenmarks, in der Formatio
reticularis und den motorischen Hirnnervenkernen von Me-
19.3.7 Poliomyelitis acuta anterior (Polio) dulla oblongata und Brücke sowie in der vorderen Zentralwin-
dung der Hirnrinde lokalisiert
3Epidemiologie und Pathogenese. Seit Einführung der
Polioschutzimpfung ist die Inzidenz dieser Krankheit, die frü- 3Symptome. Die Infektion bleibt meist asymptomatisch
19 her zu den häufigsten Todesursachen bei Kindern und Jugend-
lichen gehört hat, dramatisch gesunken. In Deutschland wer-
(was wiederum zur Verbreitung der Infektion führen kann).
Von den klinisch symptomatischen Patienten haben viele nur
den jährlich nur noch wenige Fälle gemeldet. In Entwicklungs- eine benigne, aseptische Meningitis mit allgemeinen Krank-
ländern mit fehlendem Impfprogramm ist die Krankheit im- heitssymptomen, wobei aber andauernde Immunität gegen
mer noch ein sehr großes Problem. Nachlassende Impfbereit- den aufgenommenen Virustyp durch Bildung neutralisie-
schaft führt auch hier wieder zu einem leichten Anstieg. render Antikörper erworben wird.
Nach serologischen Kriterien werden drei Virustypen un- Nur wenige Patienten entwickeln die Symptome des Voll-
terschieden, von denen Typ 1 die letzten größeren Epidemien bildes einer Poliomyelitis durch Befall von Rückenmark und
verursachte. Die Übertragung erfolgt von Mensch zu Mensch, Hirnstamm. Dann kommt es zur asymmetrischen, oft proxi-
in erster Linie durch Schmutz- und Schmierinfektion. Das Vi- mal betonten Lähmung und Atrophie verschiedenster Muskel-
rus wird per os aufgenommen und vermehrt sich zunächst in gruppen und Hirnnerven, manchmal auch der Atemmuskeln.
19.3 · Akute Virusenzephalitis
475 19
Etwa 10% der Patienten mit Poliomyelitis müssen beatmet wer- 19.3.9 Rabies (Lyssa, Tollwut)
den, und auch tödliche Verläufe sind heute noch möglich.
Die paralytische Phase führt in wenigen Tagen zur schlaf- 3Epidemiologie und Pathogenese. Die Tollwut ist welt-
fen, asymmetrischen Lähmung, die an den Beinen meist stär- weit verbreitet und in Entwicklungsländern immer noch eine
ker ausgeprägt ist als an den Armen. Interkostalmuskeln und häufige Krankheit. Dort versterben geschätzt ca. 100.000 Men-
Zwerchfell können beteiligt sein. Die Hirnnervenlähmungen schen jährlich. In Mitteleuropa und in den USA ist sie sehr
führen zu Schluckstörung und Aspirationsrisiko. selten. Einige Staaten, wie die Britischen Inseln, Japan oder
Wenn Anfälle oder eine höhergradige Bewusstseinsstö- Australien sind tollwutfrei. In Deutschland traten die letzten
rung auftreten, ist die Prognose schlecht. Fälle 2004 auf, wobei hier die primäre Infektion in Indien er-
In einzelnen Fällen wurde mit Latenz von Jahren und Jahr- worben wurde, aber leider weitere Patienten nach Transplan-
zehnten eine fortschreitende Vorderhorndegeneration mit zu- tation von Organen der (nicht als Tollwuterkrankten identi-
nehmenden, segmentalen Lähmungen nach Poliomyelitis be- fizierten) Spenderin erkrankten und verstorben. Die Infektion
schrieben (Postpoliosyndrom). Der immer wieder postulierte erfolgt durch direkten Kontakt mit Speichel oder anderem
Übergang der Polio in eine ALS ist nicht bewiesen. infektiösem Material, fast immer durch Bissverletzungen.
Füchse, Mader, Dachse, Rot- und Schwarzwild und bei den
3Diagnostik. Die Zellzahl im Liquor ist auf 100–200 Zellen Haustieren Weidetiere, Hunde sowie Katzen können Über-
erhöht, im Verlauf entwickelt sich ein lymphozytäres Zellbild. träger sein. Die Wahrscheinlichkeit einer Infektion über Klein-
Das Protein ist leicht erhöht, die Glukose normal. Der Erreger- nager und Fledermäuse ist äußerst gering, aber nicht 100%ig
nachweis erfolgt aus dem Stuhl. Liquor- und Blutkulturen sind auszuschließen. Seit 2007 scheint das Virus in den für Deutsch-
selten positiv. land wichtigsten Reservoirtieren (Fuchs, Dachs, Mader) voll-
ständig eradiziert.
3Therapie Das Rabiesvirus ist ein behülltes, pleomorphes RNA-Vi-
4 Poliokranke werden isoliert und Kontaktpersonen kommen rus: bakterien- bis geschossförmig, 45–100 nm im Durchmes-
in Quarantäne. ser und 100–430 nm lang. Der zelluläre Rezeptor für das Ra-
4 Spezifische Medikamente gibt es nicht, deshalb wird die biesvirus ist nicht bekannt. Es werden eher Phospholipide der
Krankheit durch intensivmedizinische Behandlung der Kom- Zellmembran vermutet, denn ein spezifischer Rezeptor. Die
plikationen kontrolliert. Hierzu gehört vor allem die Unterstüt- primäre Neuroinvasion findet an der muskulären Endplatte
zung der Atmung. Historisch interessant ist, dass die Poliomy- statt. Die Propagierung des Virus ins ZNS erfolgt über retro-
elitis die Krankheit ist, mit der die Ära der künstlichen Beat- graden axonalen Transport und transsynaptische Ausbreitung.
mung – zunächst mit einer eisernen Lunge – begonnen hat. Eine Virämie wird nicht beobachtet.
Vermeidung von Aspiration, Überwachung der kardiovasku- Die Inkubationszeit ist relativ lang und liegt im Mittel
lären Funktion und Behandlung von Komplikationen, wie epi- zwischen 20 und 90 Tagen. Bei großen Verletzungen kann sie
leptischen Anfällen sind selbstverständlich. kürzer sein. Pathologisch-anatomisch findet man enzephali-
4 Nach Überstehen der akuten Infektion erholen sich die tische Herde in der Mittellinie des Gehirns, im Hypothalamus,
Patienten zunächst recht gut. Lähmungen, die nach 6 Monaten in der Substantia nigra, um den Aquädukt, dorsal in der Brücke
noch vorliegen, bilden sich aber meist nicht mehr zurück. und Medulla oblongata und auch im Rückenmark. Weitere
Herde, die auch die charakteristischen intrazellulären Ein-
Differentialdiagnostisch müssen das Guillain-Barré-Syndrom, schlüsse (Negri-Körperchen) enthalten, liegen im Hippokam-
andere Polyradikulitissyndrome nach Zeckenbiss oder Tollwut pus und Kleinhirn. Besonders stark ist das limbische System
und Botulismus ausgeschlossen werden. Gleichartige Symp- betroffen, woraus sich die meisten Symptome erklären.
tome werden auch durch andere Viren hervorgerufen, na-
mentlich Echo-, Coxsackie-, FSME-, EBV-und bestimmte Ar- 3Symptome. Die Symptome beginnen mit lokalen Schmer-
boviren. zen und Parästhesien, es folgt eine Phase mit allgemeinem
Krankheitsgefühl, Fieber und Reizbarkeit. Hierauf folgen die
Zeichen der Beteiligung des zentralen Nervensystems. Schließ-
19.3.8 Myxoviren lich gelangt das Virus wieder in die Peripherie des Körpers, vor
allem in die Speicheldrüsen. Die Symptomatik wird in 3 Sta-
Von den Myxoviren verursachen das Influenza-A- und -B- dien eingeteilt:
Virus, das Mumpsvirus und das Parainfluenzavirus eine 4 Im Prodromalstadium bestehen allgemeines Krankheits-
Meningitis bzw. Meningoenzephalitis. Der Verlauf kann bei gefühl, Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit und gedrückte Stim-
Influenzainfektionen manchmal schwer sein, sonst sind die mung. Charakteristisch sind eine starke Empfindlichkeit der
Krankheiten weniger gefährlich und selbstlimitierend. Das Bissstelle mit ausstrahlenden Missempfindungen und eine
Masernvirus verursacht eine parainfektiöse Enzephalitis Überempfindlichkeit gegen Sinnesreize, die sich durch mas-
(7 Kap. 22.2.3). sive, spastische Verkrampfungen der Gesichts-, Rumpf- und
Zwerchfellmuskulatur bemerkbar macht. Das Gesicht ist ver-
zerrt (Risus sardonicus). Allmählich werden die Kranken
schlaflos, unruhig, ängstlich und bemerken starken Speichel-
und Tränenfluss.
476 Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

4 Ähnlich wie bei infizierten Hunden, bildet sich dann ein West-Nile-Virus
Erregungsstadium aus. Das wichtigste Symptom sind schmerz- Das West-Nile-Virus ist in den letzten Jahren vom Ursprungs-
hafte Krämpfe der Schlundmuskulatur, besonders beim Ver- gebiet in Uganda nach Nordamerika »ausgewandert«. Nach-
such, Flüssigkeiten aufzunehmen. Um dies zu vermeiden dem zunächst einzelne Fälle in New York auftraten, hat es An-
(»Hydrophobie«), lassen die Patienten sogar ihren Speichel aus fang dieses Jahrtausends eine wahre Epidemie mit mehr als
dem Munde tropfen. Weiter können hemmungslose Wutan- 3.000 Patienten in den USA gegeben.
fälle mit Aggressivität, auch sexuelle Übererregung und vege-
tative Störungen (Schwitzen, Atemlähmung, Pulsbeschleuni- 3Epidemiologie. Das West-Nile-Virus ist ein Arbovirus,
gung) auftreten. das Meningitiden und Enzephalitiden auslösen kann. Es wird
4 Im Endstadium lösen Sinnesreize tonisch-klonische von bestimmten Moskitos, die ihrerseits über Vögel verbreitet
Krämpfe aus. Der Tod tritt dann nach wenigen Tagen ein, wurden, übertragen. Zum Glück bleiben viele Infektionen
manchmal unter Lähmung der motorischen Hirnnerven und asymptomatisch oder führen zu einem grippeähnlichen Syn-
der Stamm- und Extremitätenmuskulatur. drom. Neben der Meningitis und der Enzephalitis kann auch
ein der Poliomyolitis ähnliches Bild entstehen. Immunsuppri-
3Diagnostik. Am besten ist es, wenn eine histologische mierte Patienten oder solche mit vaskulären Risikofaktoren
Untersuchung vom Zentralnervensystem des Tieres, von dem werden häufiger betroffen.
die Infektion stammt, durchgeführt werden kann. Die höchs-
te Sensitivität hat der Nachweis von Antikörpern im Liquor. 3Diagnostik. Der Liquor zeigt die typischen Zeichen einer
Eine Pleozytose mit einigen 100 Lymphozyten/μl fehlt selten. viralen Meningitis mit einigen Hundert Zellen und Eiweiß-
Antikörper gegen Tollwut erscheinen etwa 7 Tage nach Be- erhöhung. Initial kann ein gemischtzelliges Bild gefunden
ginn der Symptome. werden.
Im MR können bei etwa einem Viertel der Patienten un-
3Therapie spezifische Veränderungen in Flair und DWI gefunden wer-
4 Nach Wundreinigung und Desinfektion chirurgische den. Die serologische und molekularbiologische Diagnostik
Wundversorgung ohne Naht. (PCR) bestätigt den Erreger.
4 Dann schnellstmögliche aktive Immunisierung (z.B. HDC-
Vaccine – z.B. Rabivac® – 1 ml i.m.) Erste Impfung sofort, dann 3Therapie. Immunglobulingabe und monoklonale Anti-
am 3., 7., 14. und 30. Tag nach Verletzung. körper gegen West-Nil-Virus werden zur Zeit klinisch er-
4 Passive Immunisierung: humanes oder equines Antirabies- probt.
serum, z.B. Berirab®, 20–30 IE/kg KG. Aktive und passive
Immunisierung müssen früh erfolgen, d.h. noch vor Auftre- Toskana Virus
ten erster Symptome, da das Vollbild der Rabies nicht über- Dieses Arbovirus wird über Sandfliegen verbreitet, die auch
lebt wird und die Patienten trotz Intubation, Beatmung und das Reservat für das Virus darstellen. Von Italien aus hat das
Sedierung sterben. Virus verschiedene europäische Länder erreicht. Auch hier
reicht das Spektrum von milden Infektionen über Meningitis
Eine Therapie der manifesten Tollwut ist nicht möglich. Ein zur schweren Meningoenzephalitis (selten). Das MRT ist meist
Bericht über eine angebliche Heilung einer Patientin in den normal. Diagnosesicherung über PCR. Es gibt keine spezi-
USA, die mit einem Virustatikum behandelt wurde, hat für fische Therapie.
falsche Hoffnung gesorgt. Liest man den veröffentlichten Fall,
so muss man die Diagnose bezweifeln. Japanische Enzephalitis-Virus
Die wichtigste Differentialdiagnose ist der Tetanus, der Dies ist eine der gefährlichsten Virusenzephalitiden mit ca.
ebenfalls nach Verletzungen, auch nach Bisswunden auftritt. 50.000 Fällen pro Jahr und einer Mortalität von etwa 20–30%.
Er hat eine kürzere Inkubationszeit, kein asymptomatisches Die Übertragung erfolgt über Mücken, das Reservat des Virus
Intervall, dagegen einen Trismus, der bei Rabies so nicht auf- ist in Vögeln und Schweinen zu finden. Zuerst in Japan be-
tritt. Hierum dürfte es sich bei oben genanntem Fall gehandelt obachtet, ist die Krankheit jetzt in ganz Süd-Ost-Asien ein-
haben. schließlich China, auf dem Indischen Subkontinent und in
Nordaustralien zu finden. Die Erkrankung verläuft oft schwer
19 19.3.10 Weitere akute Virusmeningo-
mit meningoenzephalitischem Bild und Koma. Eine spezi-
fische Therapie existiert nicht, allerdings ist eine Impfung
enzephalitiden möglich.

Die folgenden Virusenzephalitiden sind in Europa selten Hantavirus


oder nur auf bestimmte Regionen beschränkt, können aber, Gruppe von humanpatogenen Viren, die unter anderem in
auch im Rahmen des weltweiten Reiseverkehrs, bei Rück- Südostasien oft schwere hämorrhagische Infektionen mit My-
kehrern aus dem Ausland zur Diskussion stehen. Einige haben algien und Enzephalitiden auslösen. Die Übertragung erfolgt
in den letzten Jahren eine dramatische Zunahme erfahren, meist über Nager, aber auch von Mensch zu Mensch. Infek-
weswegen diese exotischen Krankheiten einer Erwähnung be- tionen kommen inzwischen auch in Mitteleuropa vor, oft aber
dürfen. ohne Enzephalitis.
19.4 · HIV-Infektion (Neuro-AIDS)
477 19
Bunyaviren Patienten beträgt in Deutschland im Jahr 2004 22.000. Man
Hierzu zählen Viren, die das Krim-Kongo-Fieber oder das rechnet in Deutschland jährlich mit 1500 bis 2500 neuin-
Rift-Valley-Fieber auslösen. Übertragung erfolgt meist über fizierten Patienten.
Stechmücken. Die Ansteckung erfolgt durch Geschlechtsverkehr, ge-
meinsame Benutzung von intravenösen Spritzen, erregerhal-
Niphaviren tiges Blut oder Blutprodukte und perinatal. Eine Übertragung
Diese gehören zur Familie der Paramyxoviren und sind Erreger durch Tröpfcheninfektion oder Berührung von Gegenständen
einer sehr schweren Enzephalitis (Mortalität fast 50%), die in ist bislang nicht gesichert.
Malaysia zuerst auftrat und sich jetzt in Südostasien ausbreitet.
Das Reservoir ist vermutlich in Fledermäusen, die Schweine 3Stadien der Infektion. Die HIV-Infektion wird in vier kli-
ansteckten, über die sich (meist mit Tieren arbeitende) Per- nische Stadien eingeteilt:
sonen ansteckten. Die Behandlung mit Ribavirin kann die 4 Asymptomatisches Stadium: Die Person ist HIV-positiv,
Mortalität leicht senken, eine Impfung (für Schweine) ist in aber gesund.
Vorbereitung. 4 Lymphadenopathiesyndrom (LAS): Der Patient weist
eine persistierende Vergrößerung von extrainguinalen Lymph-
knoten auf; dieses Stadium führt über in den
19.4 HIV-Infektion (Neuro-AIDS) 4 AIDS-related complex (ARC), bei dem Gewichtsverlust,
Diarrhö, Fieber und allgemeines Krankheitsgefühl auftreten.
3Erreger und Pathogenese. Das erworbene Immundefekt- 4 Manifestes AIDS liegt vor, wenn entweder eine AIDS-de-
syndrom (AIDS; acquired immune deficiency syndrome) wird finierende opportunistische Infektion, ein AIDS-definierendes
durch ein Retrovirus ausgelöst, das als HIV (human immuno- Malignom, wie das Kaposi-Sarkom oder das B-Zell-Lymphom,
deficiency virus) bezeichnet wird. Das HI-Virus infiziert T4- oder die HIV-Enzephalopathie aufgetreten sind.
Lymphozyten und Makrophagen. Eine besondere Affinität
besteht auch zum ZNS. 3Diagnostik. HIV-Antikörper werden 1–3 Monate nach
Infektion nachweisbar. Als Suchtest setzt man einen ELISA-
3Epidemiologie. Während die Erkrankungshäufigkeit in Test ein, bei positivem Suchtest erfolgt der bestätigende Wes-
den USA und Mitteleuropa hinter den ursprünglich prognos- ternblot- oder Immunfluoreszenztest.
tizierten Zahlen zurückbleibt, sind jetzt in der Dritten Welt, vor In der meningitischen Phase finden sich entzündliche
allem in Zentralafrika, Südostasien und den Ballungszentren Liquorveränderungen, meist eine mäßige lymphomono-
in Südamerika stark steigende Erkrankungszahlen gemeldet zytäre Pleozytose. Zellzahl und Gesamteiweiß sind später im
worden. In Europa und Nordamerika sind noch immer Män- Liquor häufig leicht vermehrt. Die Untersuchung der Im-
ner viel häufiger betroffen. Dies gilt in den genannten Entwick- munglobuline zeigt eine autochthone IgG-Produktion im
lungsländern nicht mehr. Auch in Osteuropa steigen die Infek- Liquor an. Die PCR in Serum und Liquor kann früh positiv
tionsraten massiv an. So rechnet man 2005 mit etwa 1,5 Milli- sein. In Einzelfällen ist das Retrovirus im Liquor und autop-
onen Erkrankten in den früheren Ländern des Ostblocks. tisch auch im Gewebe des ZNS nachgewiesen worden. Li-
Die Zahl der HIV-positiven Patienten ist im vergangenen quorspezifische, oligoklonale Banden und positiver Nach-
und diesen Jahr weiter leicht angestiegen, die Zahl der AIDS- weis von Virusmaterial durch PCR können einer HIV-Enze-

Exkurs
Meldepflicht und Aufklärungspflicht bei HIV
Im Gegensatz zu vielen anderen entzündlichen Krankheiten gen dieser Zustimmung kann in Einzelfällen eine psycholo-
des Nervensystems werden AIDS-Fälle aufgrund politischer gische Barriere darstellen oder eine solche begründen. Manch-
Scheinargumente nur anonym gemeldet. HIV-Tests bedürfen mal ist es auch hilfreich, zuerst auf das Verhältnis von T-Helfer-
der schriftlichen Zustimmung der Patienten. Bei Notfällen und T-Suppressorzellen zu achten. Diese Sonderregelung ist
verzögert diese unsinnige Regelung die Diagnostik. Dies ist auch ein nicht zu unterschätzendes Problem für die mit
bei der Suche nach anderen infektiösen Krankheiten nicht solchen Patienten beruflich umgehenden Schwestern, Pfleger
der Fall, z.B. auch nicht bei Lues oder Tuberkulose. Das Erlan- und Ärzte.

Exkurs
Behandlung nach Stichverletzungen bei medizinischem Personal
Das Risiko der Infektion durch Verletzung mit Instrumenten, plus Epivir® (Lamivudin, 3TC), 2-mal 150 mg/Tag, sollte durch-
die vorher bei HIV-infizierten Personen eingesetzt waren geführt werden. Bei sehr hohem Ansteckungsrisiko kann
(z.B. Kanüle), ist sehr gering und liegt bei unter 0,5%. Wund- zusätzlich Indinavir (Crixivan®) 3-mal 800 mg/Tag verabreicht
reinigung und Vorstellung in einer berufsgenossenschaft- werden. Auch Viramune® (Nevirapin) 1- bis 2-mal 200 mg/Tag
lichen Ambulanz sind erforderlich. Eine sofortige Prophylaxe als drittes Kombinationspräparat scheint äußerst schnell wirk-
mit Retrovir, täglich 2-mal 250 mg/Tag über 2–4 Wochen, sam zu sein.
478 Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

phalopathie vorausgehen. Etwa 60–80% der ARC-Patienten 4 Die seit 1996 eingesetzte und durch die oben beschriebene
haben entzündliche Liquorveränderungen. neuen Substanzen immer mehr erweiterte hochaktive anti-
retrovirale Kombinationstherapie (HAART) hat zum Ziel, eine
3Therapieprinzipien möglichst effektive und um Nebenwirkungen reduzierte Sup-
4 Die Hemmung der Reproduktion der HI-Viren wurde zu- pression der Plasmavirenlast zu erreichen. Oft gelingt es, die
nächst durch das Medikament Zidovudin (Retrovir®), einen Virenlast unter die Nachweisgrenze zu senken. Aus der HIV-
Hemmer der reversen Transkriptase, erreicht. Infektion ist in den reichen Industriestaaten eine chronische
4 Das Medikament konnte die Überlebenszeit der HIV-infi- Erkrankung geworden. Allerdings ist die HAART oft nicht aus-
zierten Patienten verlängern. reichend ZNS-effizient. So kommt es in Folge der HIV-Infek-
4 Es ergaben sich auch Hinweise darauf, dass bei einem früh- tion zu unterschiedlichen HIV-assoziierten Erkrankungen des
zeitigen Einsatz von Retrovir® der AIDS-Dementia-Komplex ZNS aber auch zu opportunistischen Infektionen, die im
aufgehalten werden kann. nächsten Abschnitt beschrieben werden.
4 Es folgten weitere reverse Transkriptasehemmer wie Lami-
vudin (3TC), Zalcitabin (ddC) und Didanosin (ddI), die in
Mehrfachkombinationen einen besonders günstigen Verlauf 19.4.1 Neurologische Beteiligung
ermöglichen. Inzwischen sind viele weitere reverse Transkrip- bei HIV-Infektion
taseinhibitoren eingeführt worden. Die Vielzahl der mittler-
weile zu Verfügung stehenden Reverse-Transkriptase-Hem- Etwa 50% der Erwachsenen und etwa 75% der an AIDS erkrank-
mer werden in Nukleosidanaloga (NRTI, 1. Generationen, z.B. ten Kinder entwickeln neurologische Auffälligkeiten. Das Spek-
Zidovudin, Lamivudin) und nicht-nukleosidanaloge Reverse- trum der neurologischen Symptome ist in . Tabelle 19.2 wieder-
Transkriptase-Hemmer (neuere, NNRTI, z.B. Nevirapin, Efa- gegeben. Die verschiedenen neurologischen Symptome bei
virenz) eingeteilt. HIV-Infektion treten typischerweise in bestimmten HIV-Sta-
4 In den letzten Jahren sind neue Substanzen mit neuen dien auf. Einige neurologische Krankheiten kommen nur im
Wirkmechanismen hinzugekommen: virale Fusionsinhibitoren AIDS-Stadium vor, bzw. ihr Auftreten definiert das Vollbild
(Envuvirtid), Integraseinhibitoren (Hemmung der Integration AIDS. (. Tabelle 19.2).
der revers transkribierten RNA in das Wirtsgenom, Raltegra-
vir), Maturationshemmer und Chemokinerezeptor-5-(CCR5)- Aseptische Meningitis
Antagonisten (Maraviroc). Die Entwicklung der CCR5-Anta- Diese benigne, meist ohne Behandlung ausheilende Meningitis
gonisten ist in sofern interessant, da man den zugrunde liegen- tritt mit den typischen Zeichen einer viralen Meningitis in frü-
den Mechanismus ursprünglich an Menschen aufgedeckt hatte, hen Krankheitsstadien, manchmal in Zusammenhang mit der
die gegen eine HIV-Infektion resistent schienen. Serumkonversion auf. Meist wird sie nicht speziell aufgeklärt

. Tabelle 19.2. Neurologische Manifestationen bei HIV


Art Krankheit Häufigkeit Stadium
HIV+ LAS ARC AIDS
Direkter Virusinfekt Meningitis + +
Polyradikulitis + + + + +
Myopathie + + + + +
Neuropathie ++ +
AIDS-Demenz-Komplexa +++
Opportunistische Toxoplasmosea +++ +
Infektionen Kryptokokkenmeningitisa ++ +
Progressive, multifokale Leukenzephalopathie + +
(PML)a
Zytomegalievirus- (CMV) Enzephalitis + +
Sehr selten: Herpesenzephalitisa
tuberkulöse Meningitisa
19 andere Mykobakterien
Listeriose, andere Pilze
andere Protozoen
Tumoren Primäres ZNS-Lymphoma ++ +
Sekundäres Lymphoma + +
Sehr selten! Intrazerebrales Kaposi-Sarkoma
Andere Vaskulitis + + +
Sehr selten Blutungen, Hypophyseninfarkt
a AIDS-definierende Krankheit.
19.4 · HIV-Infektion (Neuro-AIDS)
479 19
und bleibt unbehandelt. Die Behandlung hat keinen Einfluss galieinfektion, die Kryptokokkenmeningitis und die progres-
auf die weitere Prognose der HIV-Infektion. sive, multifokale Leukenzephalopathie.

Akute Polyradikulitis ZNS-Toxoplasmose


Etwa zur gleichen Zeit können selten auch akute, einem Guil- 3Symptome. Bei HIV-positiven Patienten, die mit Kopf-
lain-Barré-Syndrom (GBS) zum Verwechseln ähnlich sehende schmerzen, Fieber und plötzlich aufgetretenen neurologischen
Symptome einer Polyradikulitis auftreten. Häufiger ist eine Herdsymptomen (Hemiparese, Bewusstseinsstörung, epilep-
langsam progrediente, initial leicht verlaufende, sensomoto- tische Anfälle) in die Klinik kommen, ist die Ursache meist
rische Polyneuropathie. Therapeutisch wirken Plasmapherese eine ZNS-Toxoplasmose (7 auch Kap. 20.1.1).
oder Immunglobuline bei rascher Progression der Paresen. Die
Gesamtprognose ist gut, Spontanremissionen sind möglich. 3Diagnostik. Zeigen CT bzw. MRT (. Abb. 19.4) multiple,
kontrastmittelaufnehmende Herde, so trifft diese Verdachtsdi-
HIV-assoziierte Myopathie agnose sehr wahrscheinlich zu. Die Herde sind von Ödem um-
Sie manifestiert sich mit schmerzhaften, proximalen Paresen. geben und finden sich in allen Hirnanteilen, besonders aber im
Die Lähmungen sind nur langsam progredient. Die CK ist Marklager. Der Liquor ist meist entzündlich verändert, IgG-
meist erhöht. Mikroskopisch sind überwiegend Typ-II-Mus- Antikörper lassen sich im Serum und Liquor nachweisen.
kelfasern betroffen. Eine wichtige Differentialdiagnose zur
HIV-Myopathie ist die durch antiretrovirale Medikation aus- 3Therapie. Man behandelt schon auf Verdacht:
gelöste Myopathie, die bei 15–30% aller mit Zidovudun (Retro- 4 Zunächst Gabe von Pyrimethamin (z.B. Daraprim®)
vir®), Didanosin (Videx®), Zalcitabin (Hivid®) und Stavudin 100 mg oral für 2 Tage, danach 50 mg/Tag, Folinsäure 5–
(Zerit®) behandelten Patienten auftritt. Steroide werden ver- 10 mg/Tag und und Sulfadiazin (Fansidar), 4–6 g/Tag.
suchsweise gegeben. 4 Sulfadiazin kann alternativ durch Clindamycin, 2,4–4,8 g/
Tag ersetzt werden.
HIV-Enzephalopathie und AIDS-Demenz-Komplex 4 Die Vorbehandlung mit Zidovudin sollte abgebrochen
Die HIV-Enzephalopathie ist durch anfänglich sehr wenig werden, wenn eine Neutropenie auftritt. Wie bei jeder hoch-
eindrucksvolle, psychopathologische Veränderungen von dosierten Sulfonamidtherapie, ist reichliche Flüssigkeitszu-
Antrieb, Stimmung und Konzentration gekennzeichnet. In fuhr erforderlich, da sonst ausfallende Kristalle leicht die Nie-
dieser Phase ist es schwer, dies Syndrom von einer (nachvoll- rentubuli verstopfen. Die Behandlung kann sich nur gegen
ziehbaren) reaktiven Depression zu unterscheiden. Später freie Toxoplasmen richten. In den Zysten und Pseudozysten
treten kognitive Störungen in den Vordergrund: Gedächtnis, werden die Erreger von den heute verwendeten Mitteln nicht
Konzentration und psychomotorisches Tempo lassen nach. erreicht.
Hieraus entwickelt sich eine fortschreitende Demenz, die un-
behandelbar zum Tode führt. Ataxie, Myoklonien, akineti- In den meisten Fällen sprechen die Patienten schnell auf die
scher Mutismus und okulomotorische Störungen leiten diese Therapie an. Auch die CT-Veränderungen sind schnell rück-
Terminalphase ein. Selten sind auch spinale Zentren betrof- läufig. Eine Dauertherapie mit Pyrimethamin 50 mg/Tag,
fen. Unter der HAART ist die Inzidenz der schweren HIV- kombiniert mit Sulfadoxin 500 mg/Tag, ist notwendig.
Demenz erheblich zurückgegangen, allerdings weniger
ausgeprägt als bei den übrigen AIDS-definierten Erkran- 3Prophylaxe. Man behandelt bereits bei positiven Serum-
kungen. IgG gegen Toxoplasma gondii und einem Abfall der CD4-Lym-
Deutlich zugenommen haben mittlerweile die Vorstufen phozyten unter 200/μl prophylaktisch mit Cotrimoxazol. Diese
der HIV-assoziierten Demenz, die ihr Erscheinungsbild ge-
ändert haben und einem Alzheimer-ähnlichen Verlauf ent-
sprechen. Man teilt diese in drei Stufen ein:
4 asymptomatische, HIV-assoziierte, neurokognitive Ein-
schränkung (ANCE),
4 HIV-assoziiertes, mildes neurokognitives Defizit MNCD)
und
4 HIV-assoziierte Demenz (HAD).

Histopathologisch findet man multiple, disseminierte Mikro-


glia- und Entmarkungsherde im frontalen Kortex betont. HIV-
Antigene und Nukleinsäuren können nachgewiesen werden.

19.4.2 Opportunistische Infektionen bei HIV


. Abb. 19.4. Zerebrale Toxoplasmose bei HIV-Infektion. MRT, T1
Aus der Vielzahl der möglichen, opportunistischen Infekti- mit KM, koronar. Multiple supra und infratentorielle, kontrastmittelan-
onen besprechen wir die ZNS-Toxoplasmose, die Zytome- reichernde Abszesse
480 Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

Therapie schützt gleichzeitig vor eine Pneumocystis carinii- Progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML)
Pneumonie. 3Epidemiologie. Die Infektion mit dem JC-Virus, einem
kleinen behüllten DNA-Virus (50 nm) der Polyomavirusfami-
Kryptokokkenmeningitis lie, setzt akut oder subakut bei immunsupprimierten Patienten
3Symptome. Diese Patienten haben viel seltener neurolo- ein (Durchschnittsalter: Mitte des 5. Lebensjahrzehnt), Pati-
gische Herdsymptome und kommen mit Meningismus, Kopf- enten nach Chemotherapie, Patienten mit Tumoren des lym-
schmerzen, Fieber und Bewusstseinsstörung in die Klinik. phoretikulären Systems, HIV-Patienten und in den letzten
Jahren vereinzelt, aber zunehmend unter Behandlung immun-
3Diagnostik. Der Liquor ist entzündlich verändert. In den modulatorischer monoklonaler Antikörper (z.B. Rituximab,
meisten Fällen sind das Tuschepräparat und die Kultur im Li- Natalizumab).
quor positiv (. Abb. 18.3c). Kryptokokkenantigen kann im
Serum bestimmt werden. CT und MRT helfen nicht entschei- 3Pathologie. Pathologisch-anatomisch liegt ein herdför-
dend weiter. Der Krankheitsverlauf ist meist langsamer und mig disseminierter Entmarkungsprozess vor, der im Marklager
weniger akut als bei der Toxoplasmose. der Großhirnhemisphären, im Hirnstamm, im Zerebellum
und Rückenmark lokalisiert ist. Auffällig sind Gliawuche-
3Therapie rungen mit Einschlusskörperchen und perivaskulären Rund-
4 Die Therapie erfolgt mit Amphotericin B 0,3–0,6 mg/kg zellinfiltraten.
KG i.v. oder über Infusion und mit Flucytosin (z.B. Ancotil R)
150 mg/kg KG pro Tag in 4 Dosen i.v. 3Symptome. Die Krankheit äußert sich durch eine Kom-
4 Eine Erhaltungstherapie mit Fluconazol (z.B. Diflucan) bination verschiedener zerebraler Herdsymptome: zentrale
100–200 mg/Tag oder Amphotericin B 1-mal 100 mg/Woche Halbseitenlähmung, auch Tetraparese, zerebelläre oder extra-
i.v. ist empfehlenswert. Rezidive sind häufig. pyramidale Störungen der Bewegungskoordination, Dysarth-
rie, Aphasie, Visusverlust, aber auch Krampfanfälle. Psychopa-
Zytomegalieinfektion thologisch besteht eine organische Veränderung mit Desorien-
Das Zytomegalievirus (7 auch Kap. 19.3.4) ist in latenter Form tiertheit, Verwirrtheit und Demenz. Der Tod tritt nach 3–
bei vielen, gesunden Erwachsenen vorhanden, etwa die Hälfte 20 Monaten ein.
der Bevölkerung ist seropositiv. Bei Reinfektion kommt es bei
immunkompetenten Patienten nur zu einer milden Meningi- 3Diagnostik. Der Liquor ist gewöhnlich normal oder nur
tis. Bei immunsupprimierten Patienten können eine lebensbe- geringfügig verändert. JC-Virus-DNA kann mittels PCR im
drohliche Enzephalitis, eine akute Polyradikulitis (Guillain- Liquor und im Urin nachgewiesen werden. Allerdings ist der
Barré-Syndrom) und eine chronisch progrediente Enzephalo- positive PCR-Nachweis lediglich in 50% der Fälle möglich.
pathie entstehen. Bei klinischem und MR-morphologischen Verdacht muss
die Diagnose mittels Hirnbiopsie erzwungen werden. Im
3Therapie. Man gibt heute die Kombination von CT und MRT findet man hypodense bzw. hypointense (T1)
4 Foscarnet (2-mal 90 mg/kg KG und Tag) mit Ganciclovir Demyelinisierungsherde, meist bilateral, aber oft asymmet-
(z.B. Zymeven®) 10 mg/kg KG i.v. über 14 Tage zur Verfü- risch im Marklager gelegen, die kein Kontrastmittel aufneh-
gung. men (. Abb. 19.5). Der Verlauf ist unaufhaltsam progredient.
4 Unter Ganciclovir werden Leukopenien beobachtet. Fos-
carnet ist nierentoxisch. Alternativ: Cidofovir i.v. 5 mg/kg KG 3Therapie
und Woche. 4 Man gibt Cidofovir (zusammen mit hochdosierter, antire-
troviraler Therapie bei AIDS-Patienten) (HAART).
Bei immunsupprimierten Patienten ist die Prognose trotz die- 4 Warum eine reverse Transkriptase einen günstigen thera-
ser Behandlungsmöglichkeiten nicht besonders gut, Rezidive peutischen Effekt auf die Replikation eines DNA-Virus hat, ist
sind häufig. unklar.

Facharzt

19 Besonderheiten bei Neuro-AIDS


4 HIV-positive Patienten haben nicht selten eine aggres- einer Myelitis mit spastisch-ataktischer Paraparese und Inkon-
sive Form der Neurosyphilis. tinenz.
4 Opportunistische Infektionen nehmen wegen des Im- 4 Vaskulitis, Hirnblutungen und zentrale, pontine Myelinoly-
mundefekts einen schweren und häufig tödlichen Verlauf. se kommen vor.
4 Vaskuläre Läsionen entstehen vor allem bei Knochen- 4 Bei Tuberkulose und HIV können Interaktionen zwischen
markschädigungen mit Gerinnungsstörungen, aber auch bei Rifampicin und antiretroviraler Therapie vorkommen. Es wird
Meningitis und oft ohne erkennbare Ursache. daher empfohlen, Rifampicin primär gegen Rifabutin auszu-
4 Durch direkten Befall des ZNS kommt es zu einer Enze- tauschen.
phalitis, einer Meningitis mit Hirnnervenlähmungen und
19.4 · HIV-Infektion (Neuro-AIDS)
481 19
Facharzt
Immunrekonstitutionssyndrom (IRIS). Eine noch nicht bereits anbehandelter opportunistischer Infektionen, zum
allzu lange bekannte und gefürchtete Komplikation der Auftreten oder zum Verschärfen von autoimmunen Phäno-
HAART ist das Immunrekonstitutionssyndrom (IRIS). Es tritt menen und zu einer Vaskulitis kommen. Letztere imponiert im
fast ausschließlich bei Patienten mit sehr hoher Plasmavirus- MRT als flächige, konfluierende Marklagerveränderung und
last und sehr niedriger CD4-Lymphozytenzahl auf. Der unter kann eine PML vortäuschen. Man begegnet dem IRIS mit einer
HAART dann rasch einsetzende Viruslastabfall, ein verän- vorsichtigen Eindosierung der einzelnen HAART-Komponen-
dertes inflammatorisches Cytokinmuster und ein Anstieg ten. Der Einsatz einer additiven Steroidtherapie ist umstritten,
der CD4-Lymphzyten führen zu einer Aktivierung von Ent- da sie das Immunsystem zusätzlich schwächt, kann aber im
zündungszellen im Gehirn. Es kann dabei zu einer Demaskie- Einzelfall lebensrettend sein.
rung opportunistischer Infektionen, einem Aufflammen

4 Neuere Ansätze verfolgen eine Therapie mit Mefloquin, scheiden. Anfälle, Bewusstseinstrübung und Halbseitenläh-
einer Substanz aus der Malariatherapie. Hierzu gibt es zur Zeit mung sind häufig.
eine kontrollierte Studie.
4 Ein interessanter Ansatz ist auch eine Kombinations- bzw. 3Diagnostik. Im CT und MRT sind die Läsionen oft etwas
Add-On-Therapie mit Mirtazapin. Mirtazapin ist ein neueres größer, konfluierender und nehmen stärker Kontrastmittel auf
Antidepressivum, das u.a. an einen der Serotoninrezeptoren als bei der Toxoplasmose. Eine ganz sichere Unterscheidung ist
(5HT2A-Rezeptor) bindet. Man weiß seit kurzem, dass der aber nicht möglich, zumal bei manchen Patienten Toxoplas-
zellständige Rezeptor des JCV der 5HT2A-Rezeptor auf Astro- mose und Lymphom gemeinsam auftreten können. Wenn die
zyten ist. Möglicherweise kann Mirtazapin so die Propagie- Therapie bei Verdacht auf eine Toxoplasmose nicht zu kli-
rung des JCV im ZNS hemmen. nischer und neuroradiologischer Befundverbesserung führt,
4 Weitere Ansätze berichten über die Kombination von Ci- muss ein ZNS-Lymphom gegebenenfalls durch Biopsie ausge-
dovir, Camptothecin oder β-Interferon. schlossen werden. Im Liquor können Lymphomzellen nachge-
4 Bei organtransplantierten Patienten müssen die immun- wiesen werden, was die Therapieentscheidung erleichtert.
suppressiven Medikamente reduziert oder vorübergehend aus- HIV-assoziierte ZNS-Lymphome sind praktisch immer EBV-
gesetzt werden. assoziiert, daher ist der EBV-DNA-Nachweis im Liquor eine
4 Transplantierte Nieren müssen entfernt werden. Kann eine große diagnostische Hilfe.
Immunsupression schnell beendet werden, kann sich eine
JCV-Infektion auch selbst terminieren. 3Therapie. Die Therapie besteht, anders als beim primären
zerebralen Lymphom ohne Immunsupression in der primären
Bestrahlung. Die Prognose der HIV-ZNS-Lymphome ist in-
19.4.3 HIV-assoziiertes ZNS-Lymphome faust.

Bei HIV-Infektionen treten neben der intrazerebralen Mani- ä Der Fall


festation des Kaposi-Sarkoms vor allem das primäre ZNS- Ein 25 Jahre alter, HIV-positiver, drogenabhängiger Patient wird
Lymphom (meist B-Zell-Lymphom) und das systemische mit Fieber, Zeichen einer Meningoenzephalitis und zunehmender
Non-Hodgkin-Lymphom mit sekundärem Befall des ZNS Halbseitenlähmung rechts sowie mit einer Hemianopsie nach
auf. links in die neurologische Klinik eingewiesen. Im MRT sieht man
einen Befund ähnlich wie in . Abb. 19.4. Im Liquor finden sich
3Symptome. Klinisch sind die Symptome des ZNS-Lym- Antikörper gegen Toxoplasmen. Unter dem Verdacht auf eine
phoms oft nicht von einer Toxoplasmoseenzephalitis zu unter- 6

. Abb. 19.5. Multiple, assymetrische sub-


kortikale Signalveränderungen bei PML (a)
T1 mit KM: keine Kontrastmittelaufnahme (b)
FLAIR

a b
482 Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

Toxoplasmoseenzephalitis bei AIDS wird mit der spezifischen Stavudin) gewählt werden (Leitlinien der DGN 2008). Bei Ver-
Therapie begonnen. sagen der HAART können auch Foscarnet oder Cidofovir ver-
Die Halbseitenlähmung bessert sich in den nächsten Tagen abreicht werden. Antidementiva sind nicht wirksam.
deutlich, auch der Allgemeinzustand des Patienten bessert sich.
Das Fieber geht zurück, der Patient ist wieder mobil. Bei der
Kontrolluntersuchung nach 2 Wochen zeigt sich, dass sich die 19.5 Prionkrankheiten
meisten Herde deutlich zurückgebildet haben, auch das Hirn-
ödem ist rückläufig. Lediglich der okzipitale Herd, der die He- 3Definition. Unter Prionkrankheiten (syn. übertragbare
mianopsie erklärt, hat an Größe zugenommen. Der Liquor zeigt spongiforme Enzephalopathien) wird eine Gruppe von Krank-
jetzt eine Erhöhung der Zellzahl bei geringer Eiweißerhöhung. heiten zusammengefasst, die bei Tieren und Menschen auftre-
Liquorzytologisch lassen sich atypische Lymphozyten nachwei- ten und folgende Merkmale gemeinsam haben: Pathologisch-
sen, die aber nicht dem typischen Bild eines Lymphoms entspre- anatomisch findet man Verlust von Neuronen, reaktive Gliose
chen. Die Hirnbiopsie beweist die Verdachtsdiagnose eines zu- und spongiforme (schwammartige) Gewebsveränderungen
sätzlichen ZNS-Lymphoms. Unter Bestrahlung nimmt auch dieser ohne Entzündung. Die Symptome treten nach sehr langer In-
Herd ab. Nach wenigen Monaten kommt es aber zum Lymphom- kubationszeit auf, die bis zu einer Dekade und länger dauern
rezidiv, an dessen Folgen der Patient verstirbt. kann. Die Symptomatik verschlechtert sich langsam, über Mo-
nate bis Jahre, bis zum tödlichen Ausgang. Die Krankheiten
sind übertragbar, und das Agens, ein Glykoprotein, unterschei-
19.4.4 Die HIV-assoziierte Demenz det sich grundsätzlich von errergervermittelten infektiösen
Erkrankungen (s. Exkurs Seite 485).
Die Inzidenz der HIV-assoziierten Demenz ist im Vergleich zu Die Übertragung vom Menschen auf Tiere ist nur möglich,
anderen AIDS definierenden Erkrankungen nach Einführung wenn Hirngewebe von Kranken in das Gehirn von Tieren in-
intensivierter multimodaler antiretroviraler Therapie weniger okuliert wird. (Zur Übertragung von Mensch zu Mensch 7 Be-
stark zurückgegangen. sprechung der einzelnen Krankheiten.)
Prionkrankheiten treten sporadisch, d.h. durch Mutation
3Symptome. Die Patienten sind psychomotorisch verlang- bedingt, dominant erblich oder durch Übertragung auf. Von
samt, haben Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, sind diesen wird die Creutzfeldt-Jacob-Krankheit eingehend be-
in Auffassung und Reaktionsfähigkeit verlangsamt und verlie- sprochen, weil nur sie allgemeine Bedeutung hat. Die übrigen
ren Antrieb und Initiative. Sozialer Rückzug, Depressivität und Krankheiten dieser Gruppe werden nur kurz charakterisiert.
Apathie treten hinzu. Bei fortgeschrittener schwerer Demenz
> Prionkrankheiten führen nach sehr langer Inkubati-
sind die Patienten tetraparetisch und mutistisch.
onszeit in einem relativ kurzen Krankheitsverlauf
Inzwischen werden die kognitiven Einschränkungen wie
zum Tode.
folgt klassifiziert:
Eine Übertragung von Prionkrankheiten vom Tier auf
4 1. Stufe: neurokognitive Einschränkung.
den Menschen ist bisher nicht mit hinreichender Si-
Hierbei handelt es sich um leichte Einschränkungen der kogni-
cherheit nachgewiesen worden, auch wenn die Häu-
tiven Leistungen und der Exekutivfunktionen mit Gedächtnis-
fung von Patienten mit der CJK-Variante in England
störung und Störung der Informationsverarbeitung. Das All-
suggestiv und der Zusammenhang des bovinen Be-
tagsleben ist hierdurch noch nicht beeinflusst.
falls nach Fütterung mit Tiermehl bewiesen ist.
4 2. Stufe: mildes HIV-assoziiertes neurokognitives Defizit.
Jetzt machen sich die Einschränkungen im Alltag bemerkbar, die
Patienten werden im Beruf auffällig und haben Schwierigkeiten
in der sozialen Interaktion. Sie bemerken allerdings selbst ihre 19.5.1 Creutzfeldt-Jacob-Krankheit (CJK)
reduzierten kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten.
4 3. Stufe; HIV-assoziierte Demenz 3Definition. Die CJK wird zu einer Gruppe von Erkran-
Das Alltagsleben ist nicht mehr alleine zu bewältigen und die kungen gezählt, die neuropathologisch durch spongiforme
kognitiven Funktionen sind massiv eingeschränkt. Testpsycho- Veränderungen, astrozytäre Gliose, Neuronenverlust und Ab-
logisch werden hier die Leistungen deutlich unterhalb der lagerung der abnormen Form des Prionproteins charakteri-
19 zweifachen Standardabweichung festgestellt. siert sind. Weitere Synonyme sind übertragbare spongiforme
Enzephalopathie oder auch Prionerkrankung. Die Prioner-
3Diagnostik. Zur Diagnostik gehören die neuropsycholo- krankungen des Menschen kommen übertragen, genetisch
gischen Tests mit AIDS bezogener Demenzskala. MRT und oder sporadisch vor.
Liquoruntersuchungen bringen nicht entscheidend weiter. De-
mente HIV-Patienten haben eine höhere Liquorviruslast als 3Epidemiologie. Die Inzidenz liegt in Mitteleuropa kons-
nicht-demente Patienten. tant bei 1–1,5 Neuerkrankungen pro 1 Mio. Einwohner pro
Jahr. Sie hat in den letzten 10 Jahren nicht zugenommen, egal
3Therapie. Wenn nicht schon vorher eingesetzt, wird eine ob in den Ländern BSE häufig, selten oder gar nicht beobachtet
hochaktive antiretrovirale Therapie HAART indiziert. Es soll- wurde. Das Auftreten scheint, wie bei vielen anderen Krank-
ten liquorgängige Substanzen (Azidothymidin, Abacavir oder heiten auch, genetisch determiniert zu sein. Frauen erkranken
19.5 · Prionkrankheiten
483 19
Facharzt
Slow-virus-Infektionen
Zu der Gruppe der chronischen Virusinfektionen des Zentral- Im weiteren Verlauf kommt es zu vegetativen Krisen mit Hy-
nervensystems gehören Krankheiten, die als Folge einer perthermie, Tachykardie, Hyperventilation, profusem Schwit-
Infektion mit dem Jc-Virus (SV40-PML-Virus), dem Masern- zen und Erbrechen. Später wird eine parkinsonartige Haltung
virus oder dem Rötelnvirus (Rötelnenzephalopathie) ent- in fast völliger Bewegungslosigkeit fixiert.
stehen. Die Krankheitsdauer nimmt mit steigendem Erkrankungs-
alter linear zu. Mit 5 Jahren beträgt sie etwa 6 Monate, mit
Subakut-sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) 16 Jahren über 30 Monate. Im Endstadium besteht eine Deze-
3Epidemiologie und Pathogenese. Diese Krankheit tritt rebration mit apallischem Syndrom.
bei Kindern nach Maserninfektionen auf. Knaben erkranken
wesentlich häufiger als Mädchen. Die SSPE ist sehr selten. 3Diagnostik. Das EEG ist stets pathologisch. Die Verände-
Eine familiäre Häufung ist nicht beobachtet worden. Die rungen sind sehr bezeichnend: In allen Ableitungen treten
Virusätiologie ist belegt durch synchron alle 5–8 s Gruppen von hohen δ-Wellen auf, die von
4 hohe Titer komplementbindender Masernantikörper im rhythmischen Hyperkinesen begleitet sind.
Serum und Liquor der Kranken, Der Liquor ist in vielen Fällen charakteristisch verändert:
4 Nachweis von Masernantigenen in Gewebekulturen aus Bei normaler Zellzahl und normalem oder nur gering erhöh-
Hirnbiopsien SSPE-kranker Kinder und tem Gesamteiweiß findet man die IgG-Fraktion durch eine
4 erfolgreiche Übertragung der Krankheit auf Versuchs- autochthone IgG-Produktion im ZNS deutlich erhöht. Der
tiere durch intrazerebrale Inokulation. Es scheint, dass alle Antikörpertiter gegen Masern ist regelmäßig erhöht.
Patienten, die eine SSPE bekamen, vorher manifeste Masern Im CT und MRT findet man eine rasch progrediente Ab-
hatten. nahme des Hirnvolumens.

3Symptome. Die Krankheit beginnt mit rasch fortschrei- 3Therapie. Eine wirksame Therapie ist nicht bekannt. Auch
tender Demenz, Nachlassen von Merkfähigkeit und Ge- auf Behandlung mit Immunsuppressiva und Immunglobulinen
dächtnis sowie Verarmung der Sprache. Gleichzeitig oder tritt keine Besserung ein.
bald darauf verändert sich das affektive Erleben und Ver-
halten der Kranken: Sie werden stumpf und gleichgültig Rötelnpanenzephalitis
oder reizbar-aggressiv und schrecken geängstigt aus dem Nach Rötelninfektion kann bei Kindern ein ähnliches Krank-
Schlaf auf. heitsbild, die progressive Rötelnpanenzephalitis, entstehen.
Verhaltensauffälligkeiten, neurologische Herdsymptome, Die Einzelheiten zu Pathogenese, Klinik und Therapie ähneln
Myoklonien, komplexe extrapyramidale Hyperkinesen, denen der SSPE.
Bewusstseinsstörung und Koma entwickeln sich langsam Die PML wurde bei den opportunistischen Infektionen
über Monate bis Jahre. Oft treten generalisierte Anfälle auf. besprochen.

im Verhältnis 1,5:1 häufiger als Männer. Wegen der kurzen beschränkt hatte. Eine Übertragung durch Blut oder Blutpro-
Krankheitsdauer ist die Prävalenz gleich der Inzidenz. dukte ist denkbar, aber noch nicht bewiesen
Das Erkrankungsalter liegt zwischen >30 und <75 Jahren,
meist bei 55–74 Jahren, mit einem Median von 60–61 Jahren. 3Symptome und Verlauf. Die Symptomatik entwickelt sich
Zur Zeit der Erstbeschreiber Creutzfeldt und Jacob wurden in 3 Stadien:
aber auch weit jüngere Patienten beobachtet. Die Inkubations- 4 Ein Prodromalstadium ist durch Schlaflosigkeit, kogni-
zeit wird auf 10–30 Jahre geschätzt, der Krankheitsverlauf be- tive und vielfältige Verhaltensstörungen, vegetative Regula-
trägt bei 90% der Patienten weniger als 1 Jahr, bei 5% 2 Jahre. tionsstörungen und in 30% auch durch Visusminderung und
Nystagmus charakterisiert.
3Ätiologie. Die Krankheit tritt in etwa 85% der Fälle spo- 4 Im 2. Stadium entwickelt sich eine fortschreitende De-
radisch auf. Man nimmt an, dass die Konversion von zellulä- menz, bei 80% der Kranken begleitet von Myoklonien, die auch
rem zu pathogenem Prionprotein in diesen Fällen als stochas- als startle reaction sensorisch ausgelöst werden und mit oder
tisches Ereignis vorkommt. In 10–15% ist sie dominant erblich. ohne Beziehung zu charakteristischen EEG-Veränderungen
In seltenen Fällen ist sie iatrogen auf den Menschen übertragen (s.u.) auftreten. Ferner treten Pyramidenbahnzeichen, zerebel-
worden. Dies geschah anlässlich von Kornea- und Duratrans- läre Gangstörung und andere Kleinhirnsymptome sowie cho-
plantationen, durch den Gebrauch von Tiefenelektroden und reoathetotische Hyperkinesen auf. Neben der Demenz liegen
anderen neurochirurgischen Instrumenten und durch Injekti- also motorische Störungen aus jedem Teilsystem des ZNS vor.
on von Wachstumshormon, das aus menschlichen Hypophy- Epileptische Anfälle sind selten.
sen gewonnen war. Diese Infektionen waren möglich, weil bei 4 Das Finalstadium ist durch Rigor und Spastik gekenn-
den Spendern die Krankheit noch nicht manifest geworden zeichnet und mündet in einen Zustand von akinetischem Mu-
war und man sich auf konventionelle Sterilisationsverfahren tismus und schließlich Dezerebration. Die Patienten sterben an
484 Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

einer Erhöhung der neuronenspezifischen Enolase scheint


hiermit die Möglichkeit gegeben zu sein, eine Frühdiagnose
zu stellen. Weiterhin werden im Liquor das tau-Protein, S100
und das Prionprotein untersucht. Letzteres hat eine Spezifität
von 100%, aber leider nur eine geringe Sensitivität. Eine Aus-
sage über Schweregrad der Krankheit und Verlaufsdynamik
ist ebenso wenig möglich wie der Rückschluss auf eine be-
stimmte Ätiologie, z.B. durch BSE.
Die Diagnose kann nur pathologisch-anatomisch und im-
munhistochemisch gesichert werden. Sie ist wahrscheinlich,
wenn
4 eine progrediente Demenz von weniger als 2 Jahren Dauer
besteht und
4 zwei der nachfolgend aufgeführten Symptome vorliegen:
5 Myoklonus,
5 visuelle oder zerebelläre Symptome,
5 akinetischer Mutismus,
5 pyramidale oder extrapyramidale Symptome und Bewe-
gungsstörungen,
. Abb. 19.6. EEG bei Creutzfeldt-Jacob-Krankheit mit typischen 4 das EEG die beschriebenen Komplexe scharfer Wellen
Perioden triphasischer Wellen, die synchron, bilateral und symmet-
zeigt,
risch auftreten
4 der Nachweis von Protein 4-3-3 gelingt.

hypostatischer Pneumonie oder vegetativen Regulationsstö- Die Diagnose ist möglicherweise zutreffend, wenn die cha-
rungen. Die erblichen und iatrogenen Krankheitsformen zei- rakteristischen EEG-Veränderungen fehlen, aber die beiden
gen gewisse, aber nicht prinzipielle Abweichungen in Sympto- anderen Kriterien erfüllt sind.
matik und Verlauf.
3Differentialdiagnose. Die rasch fortschreitende De-
3Diagnostik. Das EEG zeigt fast immer periodische Kom- menz legt den Gedanken an die Alzheimer-Krankheit nahe
plexe scharfer Wellen bei einer langsamen Hintergrundaktivi- (7 Kap. 25.1). Für diese sind Myoklonien und extrapyramidale
tät (. Abb. 19.6). Dieses Muster ist, wenn man das EEG bis zu Bewegungsstörungen nicht charakteristisch, im Gegensatz zu
viermal untersucht, bei 90–100% der Patienten nachzuweisen. »verwaschenen« kognitiven Störungen, vor allem amnesti-
Im kranialen CT findet man eine unspezifische Hirnvolumen- scher Aphasie, die wiederum bei CJK sehr selten sind. Das EEG
minderung. entscheidet im Zweifelsfall die Diagnose.
Im MRT findet man häufig in der T2-Gewichtung eine Die Kombination von extrapyramidalen Bewegungsstö-
Signalanhebung in den Basalganglien, besonders im Cauda- rungen und Demenz lässt an die Chorea Huntington oder den
tumkopf und im Linsenkern (. Abb. 19.7). Parkinson-Demenz-Komplex denken. Demenz und Verhaltens-
Der Liquor ist bei Routineuntersuchungen unauffällig. störungen treten dort aber erst nach jahrelanger Entwicklung
Bei CJK-Patienten kann im Liquor das Protein 14–3–3 durch der Bewegungsstörung auf. Keine periodischen Komplexe im
polyklonale Antikörper in der Westernblot-Analyse nachge- EEG. Andere, sehr seltene Differentialdiagnosen werden hier
wiesen werden. Die Spezifität soll bei Verdacht auf eine spon- nicht besprochen.
giforme Enzephalopathie über 90% betragen. Zusammen mit

. Abb. 19.7. Creutzfeldt-Jakob-Erkran-


kung in der MRT. a Koronare FLAIR-Sequenz.
b Axiale diffusionsgewichtete Sequenz.
Typisch für die Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung
19 ist eine Signalanhebung im FLAIR-Bild im
Linsenkern sowie im N. caudatus (a). Charak-
teristisch ist eine Diffusionsrestriktion in den
betroffenen Arealen (b)

a b
19.5 · Prionkrankheiten
485 19
Exkurs
Eigenschaften der Prionen
Die prionenvermittelten Erkrankungen nehmen unter den muss man auch zwischen den nicht-genetisch bedingten
infektiösen Erkrankungen eine kuriose Sonderstellung ein. Prionenerkrankungen (sporadische CJK), den familiären
Erreger wurden bis heute trotz intensivster Suche nicht bzw. genetischen Prionenerkrankungen (GSS-Krankheit, FFI,
isoliert und nach heutiger Meinung ist das infektiöse »Par- familiäre CJK, s. Facharztwissen S. 486) und den übertrag-
tikel« alleine ein pathologisches Prionprotein (Prion = proe- baren Prionenerkrankungen (neue Variante der CJK, Kuru,
teinaceous infectious particle). Man muss von dem patholo- nicht-humane Formen wie BSE, FSE) unterscheiden.
gischen Prionenprotein (PrPSC) das physiologische Prion- Bei der sporadischen CJK vermutet man ein zufälliges
protein (PrPC) abgrenzen. Das PrPC ist ein membranständiges spontanes Übergehen des PrPC in PrPSC. Von Natur aus scheint
Protein und wird auf Neuronen exprimiert, aber auch in das PrPC in seiner Konformation begünstigt. Kommt es zufällig
peripheren Organen wie dem Hoden oder auch Zellen des und gleichzeitig zu mehreren zu spontanen Konformationsän-
Immunsystems. derungen hin zu PrPSC, so lagern sich PrPSC-Moleküle aneinan-
Seine Funktion ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Sein der und es entsteht ein Keim, der die weitere Konversion in
Gen (prnp) ist auf dem kurzen Arm des Chromosom 19 lokali- PrPSC begünstigt. Es entsteht eine Kettenreaktion und immer
siert. Man vermutet im Gehirn eine Bedeutung des PrPC für die mehr PrPSC-Moleküle lagern sich dann zu Fibrillen zusammen,
synaptische Plastizität bei Lernvorgängen, bei der Ausbildung die auch in den pathologisch-histologischen Plaques nach-
von Zell-Zell-Kontakten und während der Entwicklung. weisbar sind. In der Folge kommt es zu den typischen spongi-
Biochemisch entstehen die pathologischen Varianten, formen Gewebsveränderungen mit zunehmenden Neuronen-
das PrPSC, durch eine Änderung der Tertiärstruktur: während untergang und dem klinischen Bild einer rasch progredienten
im physiologischen PrPC α-Helices als β-Faltblattstrukturen Demenz.
vorliegen, besitzt das PrPSC mehr β-Faltblattstrukturen als Die sporadischen Prionenerkrankungen sind mit bestimm-
α-Helices (. Abb. 4.2). Mit der Konformationsänderung ten Polymorphismen im Priongen assoziiert. Bei den geneti-
ändern sich auch die biophysikalische Eigenschaften des schen Prionerkrankungen liegen nun Mutationen im Priongen
Proteins. So ist das PrPSC innert gegen stärkste Säuren, alle vor, die zu spezifischen Aminosäureaustauschen im PrPC füh-
gängigen Desinfektionsmittel, gegen hohe Hitze, gegen ren. Diese verschieben offensichtlich das Gleichgewicht hin
ionisierende Strahlen, gegen alle bekannten Proteasen und zur Bildung von PrPSC, was den deutlich früheren Ausbruch
bleibt so behandelt dennoch weiter infektiös. Lediglich eine und die familiäre Häufung erklärt. Bei den übertragbaren
Behandlung mit höher konzentrierten Laugen (z.B. NaOH) Prionenerkrankungen vermutet man eine Propagierung von
kann PrPSC inaktivieren. aufgenommenem infektiösen PrPSC über Lymphozyten, die
Der Mechanismus, wie und wodurch das PrPC in PrPSC PrPC exprimieren und dann über retrograden axonalen Trans-
übergeht, ist bis heute nicht vollständig verstanden. Hier port in ZNS gelangen.

3Therapie. Eine wirksame Therapie ist nicht bekannt. Eine tion und Sterilisation von chirurgischen Instrumenten bei
symptomatische Therapie existiert bisher nur für die Myoklo- Verdacht auf Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung« (Bundesgesund-
nien, die gut auf Clonazepam oder Valproat ansprechen heitsblatt 8/96, S. 282–283) und »Krankenversorgung und In-
strumentensterilisation bei CJK-Patienten und CJK-Ver-
3Infektiosität und Dekontamination. ZNS-Gewebe, Blut dachtsfällen« (Bundesgesundheitsblatt 7/98, S. 279–285) erar-
und viszerale Organe von CJK-Patienten sind infektiös. Eine beitet hat. Der aktuelle Stand der Empfehlungen kann unter:
Übertragung auf Versuchstiere hat aber die intrazerebrale Ino- http://www.rki.de abgerufen werden.
kulation von Hirnhomogenat zur Voraussetzung. Es ist berech-
net worden, dass eine Übertragung auf oralem Wege 109-mal
mehr infektiöse Einheiten verlangen würde als die intrazere- 19.5.2 Neue Variante der CJK
brale Inokulation.
Die Patienten müssen nicht in Isolierpflege gehalten wer- Unter der Bezeichnung nvCJK sind vor allem in England
den. Personal, das mit Blut, Urin, Liquor und anderen Körper- Krankheitsfälle beschrieben worden. Die Patienten sind deut-
flüssigkeiten in Berührung kommt, muss Handschuhe tragen. lich jünger als bei der sporadischen Form der CJK (Median
Eventuell kontaminierte Haut soll für 10 min mit einmolarer 30 Jahre). Die Erkrankungsdauer ist länger (Median 14 Mo-
Natronlauge gesäubert und dann unter fließendem Wasser nate). Alle Erkrankten haben eine Methioninhomozygotie im
gründlich abgespült werden. Kontaminierte Räumlichkeiten Prionprotein. Die Infektion kann möglicherweise auch über
sollen 60 min lang mit zweimolarer Natronlauge gereinigt wer- Blut oder Blutprodukte erfolgen.
den. Instrumente sollen im Autoklaven für 60 min bei 136°C
und einem Druck von 2 kg/cm2 sterilisiert werden. 3Symptome. Im Vordergrund stehen psychiatrische Auf-
Berichte über die iatrogene Übertragung des extrem resis- fälligkeiten (meist Depression oder Psychose), die über meh-
tenten CJK-Erregers auf Patienten haben dazu geführt, dass rere Monate ohne neurologische Auffälligkeiten verlaufen
das Robert Koch-Institut in Zusammenarbeit mit Experten können. Später kommen schmerzhafte Dysästhesien und
bereits im Jahr 1996 bzw. 1998 »Empfehlungen zur Desinfek- Gangataxie hinzu, die Demenz tritt erst spät im Verlauf auf. Im
486 Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

Facharzt
Tierische Prionkrankheiten
Scrapie. Sie wird im Deutschen Traberkrankheit genannt vorwiegend in Großbritannien auftrat. Diese Enzephalopathie
und ist seit mehr als 250 Jahren bekannt. Die Krankheit ist wird darauf zurückgeführt, dass an die Rinder zur Intensivmast
relativ wenig kontagiös. Der Übertragungsweg ist nicht im eiweißreiches Tiermehl verfüttert wurde, zu dessen Herstel-
Einzelnen bekannt. Ein möglicher Infektionsweg besteht lung man auch Kadaver von Schafen verwendete, die an Scra-
darin, dass die Schafe auf der Weide die Nachgeburt erkrank- pie erkrankt waren. Es ist deshalb fraglich, ob BSE wirklich eine
ter Tiere fressen. Die Krankheit äußert sich in sensorischen, eigenständige Krankheit ist.
motorischen und Verhaltensstörungen. Tiermedizinische Nachweisverfahren sind entwickelt
worden und jeder Fall von Rinderwahnsinn führt zum groß-
Bovine, spongiforme Enzephalopathie BSE (Rinderwahn- zügigen Töten der gesamten Herde.
sinn). Dies ist eine relativ neue Krankheit, die bei Rindern

Gegensatz zur sporadischen Form der Creutzfeldt-Jakob- Form nicht gefunden werden. Liquorveränderungen gleichen
Krankheit kann das abnorme Prionprotein auch im peripheren denen der klassischen JCK. Das pathologische Prionprotein
Gewebe (Appendix, Tonsillen und Lymphknoten) nachgewie- kann auch im lymphatischen Gewebe nachgewiesen werden
sen werden. (Tonsillenbiopsie).
Der nosologische Status dieser so genannten Variante ist
3Diagnostik. Der neuropathologische Befund weicht noch nicht geklärt. Die seit Jahren befürchtete Epidemie ist
von dem ab, was bei sporadischen Fällen von CJK bekannt ausgeblieben. Die Zahl der Neuerkrankungen auch in England
war. Die Prionproteinplaques gleichen denen bei Schafen mit ist seit Jahren rückläufig, die Gesamtzahl der Erkrankten liegt
Scrapie. Prionproteinablagerungen in der grauen Substanz nach neueren Zahlen bei unter 200 Patienten. Außerhalb von
und fleckförmige Herde in der MRT sind weit ausgedehnter als Großbritannien sind weniger als 20 Menschen weltweit an der
bei CJK. neuen Variante erkrankt. In Deutschland, Österreich und der
Im MRT sieht man zudem Signalveränderungen im poste- Schweiz sind bislang, trotz aufmerksamer Suche, keine Erkran-
rioren Thalamus (Pulvinar-Zeichen), die bei der sporadischen kungen dokumentiert worden.

Facharzt
Andere menschliche Prionkrankheiten
Familiäre/genetische Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Bei medialen und dorsalen Kerne des Thalamus, auch im Hypotha-
den Patienten können Mutationen im Prionproteingen nach- lamus, sehr selten Gliose und spongiforme Gewebsverände-
gewiesen werden (V210I). Bei genetischen Formen der Pri- rung in der Hirnrinde. Die Krankheit beginnt etwas früher als
onerkrankung handelt es sich um Erkrankungen mit einem die CJK. Entsprechend steht in der Symptomatik eine Beein-
autosomal-dominanten Vererbungsmodus mit nahezu trächtigung von Aufmerksamkeit und Vigilanz, Schlaflosigkeit
hundertprozentiger Penetranz. Der Erkrankungsgipfel liegt und eine Störung im zirkadianen Schlaf-Wach-Rhythmus und
früher als bei sporadischer Form (um das 50. Lebensjahr), der vegetativen (autonome Dysregulation) und endokrinen
die Erkrankungsdauer ist häufig länger. Familiäre Creutzfeldt- Funktionen im Vordergrund. Der Tod tritt nach einer Krank-
Jakob-Fälle können häufig nicht von der sporadischen Form heitsdauer zwischen <1 Jahr und 3 Jahren im Koma ein.
unterschieden werden.
Kuru. Hierbei handelt bzw. handelte es sich um eine degenera-
Gerstmann-Sträussler-Scheinker-Krankheit. Hier entsteht tive Kleinhirnkrankheit mit langer Inkubationszeit, die bei einem
die Mutation des zellulären Prionproteins auf dominant Stamm in Zentral-Neu-Guinea auftrat. Pathologisch-anatomisch
erblicher Grundlage (Mutation P102L). Exogene Bedingun- fand man Amyloidplaques im Kleinhirn. Die Krankheit wurde
gen sind nicht bekannt. Die Prävalenz beträgt 1 Erkrankung durch einen rituellen Totenkult übertragen. Hierbei verrührten
auf 10 Mio. Einwohner pro Jahr. Die Gewebsveränderungen die Mitglieder eines Stammes die Gehirne gerade Verstorbener
19 betreffen vorwiegend das Kleinhirn. Pathologisch-anato-
misch findet man Amyloidplaques, ähnlich wie bei Kuru. Die
zu einer Paste, die sie sich ins Gesicht auftrugen, unter der Vor-
stellung, dass die Seelen der Ahnen auf die lebenden Mitglieder
Symptomatik ist durch zerebelläre Ataxie mit Dysarthrie und übergingen. Dabei kam es zu einer Inokulation mit PrPSC, mut-
Nystagmus geprägt, Demenz tritt erst spät auf oder fehlt. maßlich über die Konjunktiven und eine Propagierung entlang
sensibler Trigeminusäste in das ZNS. Die Beerdigungszeremo-
Familiäre tödliche Schlaflosigkeit. Diese sehr seltene Prion- nien wurden überwiegend von Frauen durchgeführt, was die
krankheit, wurde bisher nur in einigen italienischen und besonders hohe Kuru-Sterblichkeit bei Frauen erklärte. Der oft
nordamerikanischen Familien nachgewiesen. Auch hier ist angeschuldigte Kannibalismus ist eine Fehlinformation, die sich
eine Mutation im Priongen bei D178N bekannt. Pathologisch- hartnäckig hält. Erkrankte Mütter übertrugen die Krankheit nicht
anatomisch findet man eine Degeneration der vorderen diaplazentar und auch nicht nach der Geburt auf ihre Kinder.
19.5 · Prionkrankheiten
487 19

In Kürze

Virale Meningitis verbliebene oder neu eingedrungene Erreger bei partieller


Immunität.
Erreger: Primär neurotrope Viren wie Zosterviren, nicht Symptome: Inkubationszeit: 7–14 Tage, Allgemeinsymptome;
primär neurotrope wie Mumpsviren. 3.–5. Tag: Segmental angeordnete Bläschengruppen; Nachlas-
Symptome: Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit, Nervendeh- sen der Schmerzen, Abfallen der Bläschen. Diagnostik: Liquor.
nungszeichen, Bewusstseinstrübung, Anfälle. Nach schwerem Medikamentöse Therapie.
Krankheitsstadium von einigen Tage klingen Symptome ab.
Diagnostik: BSG: Normal oder mäßig beschleunigt; Blutbild: Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME). Endemisch
Normal oder Leukopenie; Liquor ist klar; EEG: Allgemeinver- auftretende Enzephalitiskrankheit, nach Infektion durch
änderung mit Herdbefunden; CT/MRT: Hirnschwellung. Moskito- oder Zeckenbiss. Vermehrung des Virus in Lymph-
Keine Therapie. knoten. Symptome: Inkubationszeit: 1–2 Wochen; Allge-
meinsymptome, nach fieberfreiem Intervall: Meningoenze-
Chronische, lymphozytäre Meningitis phalitis z.T. mit Lähmungen. Diagnostik: Liquor. Keine spezi-
fische Therapie.
Erreger: Nichtvirale Erreger wie Pilze, Protozoen, Tuberku-
lose, Leptospiren, M. Whipple. Coxsackie- und Echovirus-Meningitis. Durch hämatogene
Symptome: Schleichende Kopfschmerzen, Konzentrations- Aussaat bei systemischer Infektion mit Befall von Herz oder
schwäche, Leistungsminderung. Leber. Primärer Infekt erfolgt oral, gehäuft im Sommer oder
Diagnostik: Liquor: Lymphozytäre Pleozytose, vermehrtes Frühherbst. Symptome: Inkubationszeit: 5–10 Tage; Fieber,
Eiweiß, verminderter Liquorzucker; EEG: Allgemeinverände- Allgemeinsymptome einer Virusinfektion. Diagnostik: Liquor.
rung mit Herdbefunden. Keine spezifische Therapie.
Therapie: Medikamentöse Therapie bei fehlendem Erreger- Poliomyelitis acuta anterior (Polio). Durch Übertragung von
nachweis. Mensch zu Mensch durch Schmutz- und Schmierinfektion.
M. Boeck. Symptome: Chronischer Verlauf von Hirnnerven- Virusaufnahme per os, Vermehrung in Schleimhaut des Pha-
lähmungen, Visusstörungen durch Optikusbefall und Hydro- rynx oder Darms. Symptome: Inkubationszeit: 3–14 Tage;
zephalus. Diagnostik: CT, MRT. Therapie: Kortison. Allgemeinsymptome.
Diagnostik: Liquor. Therapie: Bettruhe, Isolation, keine spe-
Akute Virusenzephalitis zifischen Medikamente, intensivmedizinische Behandlung
der Komplikationen. Differentialdiagnose: Guillain-Barré-
Viren befallen das ZNS, dadurch Zellschädigung mit Unter- Syndrom, Polyradikulitissyndrome nach Zeckenbiss, Tollwut,
gang der Nervenzellen. Botulismus.
Symptome: Akuter Symptomeinsatz mit erhöhter Tempera-
tur, psychopathologischen Veränderungen wie Bewusstseins- Rabies (Lyssa, Tollwut). Durch direkten Kontakt mit Speichel
trübung, neurologischen Herdsymptomen wie Mono- oder infolge Bissverletzung, limbisches Systems besonders betrof-
Hemiparesen, bei Befall des Hirnstammes Nystagmus, fokale fen. Symptome: Prodromalstadium: Allgemeinsymptome,
oder generalisierte Anfälle. starke Empfindlichkeit der Bissstelle, Schlaflosigkeit, Speichel-
Diagnostik: BSG/Blutbild sind normal; Liquor: Erhöhter fluss, spastische Verkrampfung der Gesichts-, Rumpf-, Zwerch-
Liquorzucker, leichte Pleozytose; EEG: Schwere Allgemein- fellmuskulatur. Erregungsstadium: Schmerzhafte Krämpfe
veränderungen; CT/MRT: Diffuses Hirnödem. der Schlundmuskulatur, hemmungslose Wutanfälle mit
Aggressivität, vegetative Störungen. Endstadium: Sinnesreize
Herpes-simplex-Enzephalitis (HsE). Einseitige, später lösen tonisch-klonische Krämpfe aus. Tod nach wenigen Tagen.
doppelseitige Entzündung der limbischen Strukturen des Diagnostik: Histologische Untersuchung des tierischen ZNS.
basalen Temporal- und Frontallappens. Symptome: Allge- Therapie: Chirurgische Wundversorgung ohne Naht, aktive
meinsymptome, danach neurologische und -psychologische und passive Immunisierung, Therapie der manifesten Tollwut
Herdsymptome. Unbehandelt: Koma, Tod durch Hirndruck. nicht möglich. Differentialdiagnose: Tetanus.
Diagnostik: Liquor, CT, MRT, EEG. Therapie: Aciclovir.
Weitere akute Virusenzephalitis-Formen. Epstein-Barr-
Zosterinfektion wie Herpes Zoster (Gürtelrose). Vom Virus-Infektion häufig als Hirnstammenzephalitis mit Zere-
Varizella-Zoster-Virus ausgelöste sporadische Allgemein- bellitis; Zytomegalie-Virus-Infektion durch Reaktivierung
infektion mit lokaler Manifestation in sensiblen Ganglien und eines früheren Infektes bei Immunsupprimierten, befällt oft
Haut, vorwiegend bei Erwachsenen. Virus ist mit Varizellen- andere Organe; Myxoviren verursachen Meningitis oder
Virus identisch, Varizellen zeigen Erstinfektion des voll emp- parainfektiöse Enzephalitis meist mit selbstlimitierendem
findlichen Individuums, Zoster die Zweiterkrankung durch Verlauf.

6
488 Kapitel 19 · Virale Entzündungen und Prionkrankheiten

HIV-Infektion drohliche Enzephalitis, akute Polyradikulitis, chronisch progre-


diente Enzephalopathie. Therapie: Foscarnet und Ganciclovir.
Erreger: human immunodeficiency virus (HIV) löst erwor- Progressive multifokale Leukenzephalopathie: Symptome:
benes Immundefektsyndrom (AIDS) aus. Durch Geschlechts- Kombination verschiedener zerebraler Herdsymptome.
verkehr, intravenöse Spritzen, erregerhaltiges Blut oder Diagnostik: CT, MRT, Liquor. Therapie: Cidofovir.
-produkte.
Stadien: Asymptomatisches Stadium; Lymphadeno- HIV-assoziierte ZNS-Lymphome: Symptome: Anfälle, Be-
pathiesyndrom mit persistierender Vergrößerung der wusstseinstrübung, Halbseitenlähmung. Diagnostik: CT, MRT,
extrainguinalen Lymphknoten; AIDS-related complex: Liquor. Therapie: Strahlentherapie.
Gewichtsverlust, Diarrhö, Allgemeinsymptome; manifestes
AIDS mit AIDS-definierender opportunistischer Infektion, Prionkrankheiten
AIDS-definierendem Malignom oder HIV-Enzephalo-
pathie. Krankheitsgruppe bei Menschen und Tieren mit Verlust von
Diagnostik: Liquor: Zellzahl- und Gesamteiweißerhöhung. Neuronen, reaktiver Gliose, spongiformer Gewebsveränderung
Therapie: Hochintensivierte, antivirale Kombinations- ohne Entzündung.
therapie. Symptome treten erst nach langer Inkubationszeit auf,
Folgen. Neurologische Auffälligkeiten, aseptische Meningi- langsame Verschlechterung bis zum Tod.
tis, HIV-assoziierte Myopathie mit proximalen Paresen, HIV-
Enzephalopathie, AIDS-Demenz, die unbehandelt zum Tod Creutzfeld-Jacob-Krankheit (CJK). Erkrankungen mit spongi-
führt. formen Veränderungen, astrozytärer Gliose, Neuronenverlust
und Ablagerung der abnormen Form des Prionproteins. Symp-
Opportunistische ZNS-Infektionen bei AIDS. ZNS-Toxo- tome: Prodromalstadium: Schlaflosigkeit, Verhaltensstörun-
plasmose: Symptome: Kopfschmerzen, Fieber, neuro- gen, Visusminderung, Nystagmus. 2. Stadium: Fortschreitende
logische Herdsymptome. Diagnostik: CT, MRT, Liquor. The- Demenz, Myoklonien, motorische Störungen. Finalstadium:
rapie: Pyrimethamin, Folsäure, Sulfadiazin. Rigor, Spastik, akinetischer Mutismus, Dezerebration, Tod durch
hypostatische Pneumonie oder vegetative Regulationsstörun-
Kryptokokkenmeningitis: Symptome: Kopfschmerzen, gen. Gesicherte Diagnose: Komplexe scharfer Wellen im EEG,
Fieber, Bewusstseinsstörungen. Diagnostik: Liquor. Thera- progrediente Demenz <2 Jahre, Myoklonus, visuelle oder zere-
pie: Amphotericin B oder Flucytosin. belläre Symptome, akinetischer Mutismus, pyramidale oder
extrapyramidale Symptome und Bewegungsstörungen. Keine
Zytomegalieinfektion: Symptome: Bei Immunkompe- wirksame Therapie. Differentialdiagnose: Alzheimer, Chorea
tenten milde Meningitis, bei Immunsupprimierten lebensbe- Huntington, Parkinson-Demenz.

19
20

20 Entzündungen durch Protozoen,


Würmer und Pilze
20.1 Protozoenerkrankungen – 490
20.1.1 Toxoplasmose – 490
20.1.2 Amöbiasis – 491
20.1.3 Malaria – 491

20.2 Wurminfektionen – 492


20.2.1 Zystizerkose – 492
20.2.2 Trichinose – 492
20.2.3 Echinokokkose – 492
20.2.4 Hundespulwurm – 492

20.3 Pilzinfektionen – 493


20.3.1 Spezielle Aspekte einzelner Pilzerkrankungen – 494
490 Kapitel 20 · Entzündungen durch Protozoen, Würmer und Pilze

> > Einleitung zeigt. In diesem Kapitel werden die wichtigsten, auch in Mittel-
europa jetzt häufiger auftretenden Krankheiten besprochen.
Obwohl durch Protozoen, Pilze und Würmer ausgelöste Krank- Daneben findet man in Tabellenform Hinweise auf andere, meist
heiten in Mitteleuropa selten geworden waren, werden weltweit tropische Erreger. Eine Übersicht über parasitäre Infektionen des
Millionen von Menschen von solchen Erkrankungen betroffen ZNS findet sich in . Tabelle 20.1.
und getötet. Malaria, Gelbfieber, Wurmkrankheiten und viele
Pilzkrankheiten kommen heute auch wieder bei Mitteleuropäern
mit gesundem Immunsystem vor, eine Folge des weltweiten 20.1 Protozoenerkrankungen
Tourismus, der auch in gefährdende Regionen führt. Immun-
schwäche bzw. -suppression und Autoimmunerkrankungen 20.1.1 Toxoplasmose
begünstigen darüber hinaus das Auftreten »exotischer« Krank-
heiten, wie Toxoplasmose und Kryptokokkose. 3Epidemiologie und Übertragung. Die Toxoplasmosein-
Die Diagnose ist oft schwierig. Bei Unklarheiten ist eine fektion als opportunistische Infektion bei AIDS ist heute die
Reiseanamnese zum Ausschluss von Tropenkrankheiten ange- häufigste Manifestation und dort beschrieben (7 Kap. 19.4).
6 Ohne Immunschwäche wird die Toxoplasmose, trotz der Tat-

. Tabelle 20.1. Parasiteninfektionen des ZNS (Auswahl) (Mod. nach Platten, in Brandt et al. 2003 und Schmutzhardt, in Hacke et al. 1994)
Art Infektion Symptome Verlauf Diagnose Therapie
Protozoen
Entamoeba Fäkooral Hirnabszess, Anfälle, Chronisch Liquor, Biopsie Metronidazol 2 g/Tag
histolytica Hirndruck, meist auch
Leberabszess
Malaria Anopheles, Enzephalopathie, Koma, Akut Blutausstrich, Akut: Chinin 20 mg/kg über 4 h,
(Plasmodium Bluttransfusion Anfälle, Infarkte, Multior- »dicker Tropfen« danach 10 mg/kg alle 8–12 h für 7 Tage
falciparum) ganversagen Alternativen: Chinidin-Gluconat (EKG-
Monitoring), Cloroquin
Artesunat (2,4 mg/kg KG als iniatialer
Bolus, dann nach 12 und 24 h wieder-
holen, ab dem 3. Tag: 2,4 mg/kg KG
alle 24 h, maximale kumulative Dosis:
18 mg/kg KG)
Toxoplasma Nahrung, kon- Enzephalitis, Abszesse, Subakut Liquor, CT, MRT Initial: Sulfadiazin p.o.
gondii natal gesteigerter Hirndruck 4–6 g/Tag
plus Pyrimethamin p.o. 100 mg/Tag,
plus Folinsäure 5–10 mg/Tag (s. Text)
Alternativ:
Clindamycin
Dauertherapie: Sulfadiazin 2 g/Tag
Plus Pyrimethamin 25 mg/Tag
Plus Folsäure 5–10 mg
Würmer (Helminthen)
Toxocara canis Oral vom Hund Granulome und Abszesse Subakut Liquor-Eosinophilie Albendazol 2-mal 400 mg/Tag p.o.
(Hunde- in Hirn und Rückenmark, CT: Granulome Alternativ: Mebendazol, Thiabendazol
spulwurm) Eosinophilie
Trichinen Rohes Eosinophile Menin- Akut Liquor-Eosinophilie Thiabendazol 25 mg/kg/Tag für 1 Wo-
Schweinefleisch goenzephalitis, Myostits CT und MRT, che
(Larven) Muskelbiopsie Alternativ: Mebendazol, Flubendazol
Cestoden
20 Zystizerken Fäkooral (Eier) Intrazerebrale Zysten, Chronisch, CT und MRT: Zysten Praziquantel-Steroide (s. Text)
Meningitis, Hydrocepha- selten akut Liquor: Eosinophilie Albendazol (2–400 mg/Tag für mindes-
lus, Vaskulitis möglich tens 10 Tage)
Echinokokkus Fäkooral Riesenzysten, Hydro- Chronisch CT und MRT: Zyste(n) Albendazol
(Eier) cephalus
Trematoden
Schistosoma Perkutan Intrazerebrale Granulome Chronisch CT, MRT, Liquor Praziquantel
20.1 · Protozoenerkrankungen
491 20
Facharzt
Konnatale Toxoplasmose
3Pathogenese. Ausgangspunkt für die Infektion des allem Mikrophthalmus, chorioretinitische Herde, Iridozyklitis
Embryo bzw. Feten sind Zysten und Pseudozysten im Endo- und Katarakt.
metrium der Mutter. Die Protozoen gehen in die Frucht über.
Hat sich die Mutter in den ersten drei Embryonalmonaten 3Diagnostik. Der Liquor zeigt immer eine mittlere Eiweiß-
infiziert, kommt es zum Abort. Nach Infektion in einem vermehrung bei leichter Pleozytose, häufig ist er xanthochrom.
späteren Stadium der Schwangerschaft kann das Kind eine Serologisch (Sabin-Feldmann-Serofarbtest, ELISA) stellt man
konnatale Toxoplasmose mit Missbildungen haben. Die bei wiederholter Untersuchung einen Anstieg der Antikörper
konnatale Toxoplasmose kann auch latent sein, aber später fest, während sich die passiv übertragenen Antikörper im
akute Symptome verursachen, z.B. chorioretinitische Schübe. Laufe der ersten 6 Lebensmonate verlieren.

3Symptome. Durch Befall des ZNS und der Augen findet 3Prognose. Etwa 20% der Kinder sterben. Die übrigen
man Hydrozephalus, Paresen, Reflexdifferenzen, Krämpfe haben trotz intensiver Behandlung einen schweren geistig-
und Augenmuskellähmungen mit Strabismus. Ophthalmolo- körperlichen Entwicklungsrückstand mit Residualepilepsie und
gisch findet man die verschiedensten Veränderungen, vor Sehschwäche.

sache, dass etwa die Hälfte – in ländlichen Gegenden bis zu kommt zu Milz- und Leberschwellung, Myokarditis und Pneu-
80% – der Bevölkerung in Deutschland mit Toxoplasma gondii monie. Häufig besteht eine Enzephalitis mit geringer meninge-
durchseucht sind, selten aktiv. Die Übertragung geschieht aler Beteiligung.
durch Kontakt mit Hunden, Katzen, Kaninchen und Mäusen, Die chronisch-rezidivierende Form mit Beteiligung des
aber auch durch Genuss von rohem Fleisch und ungekochter Nervensystems bietet das Bild einer schubweise verlaufenden
Milch, vermutlich auch von Mensch zu Mensch. Meningoenzephalitis oder Enzephalomyelitis, die sich über
Die meisten Infektionen verlaufen inapparent. Die Proto- viele Jahre hinziehen kann. Ihre Symptomatik ist durch psy-
zoen werden dann in den charakteristischen sog. Pseudozysten chischen Verfall und Verhaltensstörungen, epileptische Anfäl-
beherbergt. Unter besonderen Bedingungen (Unterernährung, le, extrapyramidale Hyperkinesen und wechselnde Herdsymp-
andere Infektionskrankheiten, Immunsuppression) können tome gekennzeichnet. Manche Fälle beginnen mit Anfällen.
sich diese Pseudozysten öffnen, so dass sich die Infektion erneut
generalisiert. Man spricht dann von einer reaktivierten Toxo- 3Diagnostik, Therapie und Prognose. Siehe 7 Kap. 19, op-
plasmose. Bei der manifesten Krankheit unterscheidet man die portunistische Infektionen bei AIDS, dort auch . Abb. 19.4.
konnatale und die nach der Geburt erworbene Toxoplasmose.

3Pathologie. Pathologisch-anatomisch findet man im ZNS 20.1.2 Amöbiasis


eine disseminierte, nekrotisierende Enzephalomyelitis in
Großhirn, Kleinhirn und Rückenmark, deren Herde vorwie- Amöben werden durch orale Aufnahme der Zysten von Enta-
gend um die Gefäße angeordnet sind. Weiter besteht eine gra- moeba histolytica aus infiziertem Wasser und infizierter Nah-
nulomatöse Meningitis und Ependymitis. Histologisch sind im rung aufgenommen. Etwa 10% der Patienten entwickeln mul-
Granulationsgewebe die Pseudozysten charakteristisch. tiple, intrakranielle Abszesse. Hämagglutinationstests und
ELISA-Tests helfen bei der Identifikation der Amöben. Im CT
3Symptome. Die Inkubationszeit der erworbenen Toxo- lassen sich die Abszesse gut nachweisen. Meist sind gleichzeitig
plasmose beträgt 3–10 Tage. Die Krankheit verläuft meist pri- Abszesse in der Leber vorhanden. Behandlung: Metronidazol,
mär chronisch, seltener akut. Auch chronisch-rezidivierender 2–3 g täglich i.v. über 10–14 Tage.
Verlauf wird beobachtet. Die zerebralen Manifestationen bei Nicht selten kommt es zu einer akuten, lebensbedroh-
der Toxoplasmose sind in erster Linie multiple Hirnabszesse, lichen, eitrigen Meningitis durch die Amöbe Naegleria fowleri,
seltener akute Meningoenzephalitis oder gar Myelitis. Die dif- die mit Amphotericin B i.v. (1 mg/kg KG und Tag), kombiniert
fuse Enzephalitis beginnt subakut mit Kopfschmerzen und mit intrathekalem Amphotericin B behandelt wird.
Fieber, gefolgt von Vigilanzstörungen. In der Regel tritt die
Enzephalitis nicht solitär auf, sondern mit Abszessen verbun-
den, die dann entsprechende Herdsymptome machen. 20.1.3 Malaria
Die akute Toxoplasmose setzt etwa 1–2 Wochen nach
einem Prodromalstadium von Müdigkeit, Schwäche, Unlust 3Epidemiologie. Zerebrale Malaria entwickeln etwa 5%
und Kopfschmerzen ein. Unter hohem Fieberanstieg, der der Patienten, die mit Plasmodium falciparum angesteckt
durch Antibiotika nicht zu beeinflussen ist, tritt bei der gene- worden sind. Schwere Verläufe sind vor allem bei Personen
ralisierten Form ein nicht juckendes, makulopapulöses Exan- bekannt, die vorher keine Prophylaxe durchgeführt haben
them auf. In den Papeln werden Toxoplasmen nachgewiesen. und auch sonst noch keine Exposition zu Malaria hatten, also
Gleichzeitig werden auch viele andere Organe befallen: es besonders Touristen.
492 Kapitel 20 · Entzündungen durch Protozoen, Würmer und Pilze

3Pathophysiologie und Symptome. Die klinischen Symp- 3Therapie. Solitäre Zysten müssen nicht behandelt wer-
tome der zerebralen Malaria sind Bewusstseinsstörung, Anfäl- den.
le, Halluzinationen, Myoklonien, Halbseitenlähmung, Tremor Nur bei der aktiven parenchymatösen, multilokulären
und Chorea. Die Symptome beginnen perakut. Form wird mit Albendazol (50 mg/kg KG pro Tag über 2 Wo-
Das Gehirn kann bei der Malaria in mehrfacher Weise ge- chen) und Praziquantel (15 mg/kg KG pro Tag über 4 Wochen)
schädigt werden. Am häufigsten sind wohl der Verschluss ze- behandelt. Die Behandlung kann zum Aufbrechen der ru-
rebraler Gefäße durch die parasitenbeladenen Erythrozyten henden Zysten und zur Zunahme des umgebenden Ödems
mit arteriellen Schlaganfällen und venösen Thrombosen. Die führen. Sie wird nur bei akuten Krankheitssymptomen emp-
Enzephalopathie bei der zerebralen Malaria wird auf toxische fohlen.
Zytokine (z.B. Tumornekrose Faktor A) zurückgeführt. Anfäl- Die symptomatische Epilepsie, die häufig auftritt, kann
le kommen vor, und auch eine sekundäre Hirnschädigung bei antiepileptisch kontrolliert werden. Solitäre Zysten, die zu An-
schweren metabolischen Schädigungen (Sepsis, ARDS, Nie- fällen führen oder einen Hydrocephalus verursachen, können
renversagen) können zu Grunde liegen. In seltenen Fällen ohne vorherige medikamentöse Therapie operiert werden.
kann die zerebrale Malaria auch wie eine akute exogene Psy-
chose mit Halluzinationen, aber ohne neurologische Begleit-
erscheinungen auftreten. 20.2.2 Trichinose

3Therapie und Prognose. Therapie der ersten Wahl ist Sie entsteht durch Verzehr infizierten, rohen Schweinefleischs.
noch immer Charakteristisch sind die akute Meningitis (Liquor: Eosinophi-
4 Chinin (. Tab. 20.1). lie) und Myositis (CK-Erhöhung, Larven in der Muskelbiop-
4 Neu sind Artemisinderivate wie z. B. Artesunat, die effek- sie). Die Krankheit kann sehr rasch verlaufen und, unbehan-
tiver sein sollen (. Tab. 20.1). delt, zum Tode führen. Medikamentös stehen neben Thia-
bendazol (25 mg/kg KG pro Tag über 1–2 Wochen) noch
Chinin ist nicht ohne Nebenwirkung: Hypoglykämien, Herz- weitere Antihelminthika wie Mebendazol und Flubendazol
rhythmusstörungen, Kopfschmerzen, Sehstörungen, Stö- (. Tabelle 20.1) zur Verfügung.
rungen im Blutbild und Anaphylaxie sind häufig.
Die Prognose der zerebralen Malaria ist relativ schlecht.
Wenn das Gehirn alleine betroffen ist, liegt die Mortalität bei 20.2.3 Echinokokkose
15–20%, bei Multiorganbefall höher. Die meisten Überleben-
den haben behindernde neurologische Herdsymptome. 3Epidemiologie und Symptome. Die Echinokokkose des
ZNS ist die in Deutschland häufigste Wurmkrankheit. Echino-
kokkosen werden durch den Echinococcus granulosus (Hun-
20.2 Wurminfektionen debandwurm, in den Tropen, Mittelmeerraum) und den Echi-
nococcus alveolaris (Fuchsbandwurm, in Mitteleuropa, Nord-
20.2.1 Zystizerkose amerika) hervorgerufen. Insgesamt ist die Beteiligung des
Gehirns bei der Echinokokkose relativ gering. Sehr große Zys-
3Erreger und Epidemiologie. Die Zystizerkose entsteht ten führen zu Anfällen, neurologischen Herdsymptomen und
durch den Befall von Finnen der Taenia solium (Blasenwurm). gesteigertem Hirndruck. Solitäre Zysten werden neurochirur-
Die Neurozystizerkose ist eine der häufigsten entzündlichen gisch entfernt.
Krankheiten des Gehirns weltweit. Man schätzt in tropischen
Ländern etwa 50 Mio. Erkrankte (Prävalenz) und mindestens 3Diagnose. Eosinophilie im Blut, IgE-Serumerhöhung,
50.000 Tote pro Jahr. In Deutschland ist die Krankheit sehr Echinococcus Elisa. Auch im Liquor kann eine Eosinophilie
selten und meist bei Migranten, seltener bei Touristen zu fin- gefunden werden. Im MRT findet man intrazerebrale Zysten,
den. Auch in Osteuropa und auf der iberischen Halbinseln die oft raumfordernd sind.
kommen Zystizerkosen gehäuft vor, ansonsten sind Mittel-
und Südamerika, Afrika und die tropischen und subtropischen 3Therapie. Wenn möglich operative Entfernung der Zyste.
Gegenden Asiens die Hauptendemiegebiete. Medikamentöse Begleitbehandlung mit Albendazol. Bei ino-
Die Inkubationszeit kann sehr lang sein. Oft sind die Zys- perablen Zysten länger dauernde Albendazoltherapie. Dosie-
ten asymptomatisch oder führen nur zu fokalen Anfällen. Mul- rung: 10 mg/kg KG und Tag.
tiple Zysten sind die Regel.
20
3Diagnostik. Der MRT-Befund ist charakteristisch: Man 20.2.4 Hundespulwurm
findet in der Regel multiple zystische Läsionen mit meist nur
geringem Ödem. Pathognomonisch sind kleine, randständige Er wird durch Aufnahme der Erreger beim Spiel mit Hunden
Verkalkungen, die den Kopf, genannt Skolex, der Zysterizerke oder Kontakt mit Hundekot (Spielplatz) oral aufgenommen. Es
entsprechen (. Abb. 20.1). kann zu subakuten Abszessen und Granulomen in Gehirn und
Rückenmark kommen.
20.3 · Pilzinfektionen
493 20
. Abb. 20.1a-d. Zystizerkose CT (a) und
MRT (b–c) bei Zystizerkose. Schon im CT
sind zwei kleine Zysten mit randständiger
Verkalkung zu erkennen, die dem Skolex ent-
sprechen. Im MRT ohne (b,c) und mit KM (d)
kommen die Zysten deutlicher zur Darstel-
lung. Es ist kaum Begleitödem erkennbar. Die
Läsionen (Pfeile) reichern nicht an. (S. Hähnel,
Heidelberg, aus Radiologie update, Thieme
2005)

a b

c d

3Diagnostik. Im MRT lassen sich die Abszesse gut darstel- Mit zunehmendem Ferntourismus können auch tropische
len, der Liquor ist entzündlich verändert, Eosinophilie ist häu- Pilzinfektionen nach Deutschland kommen, sie können hier
fig. aber nicht im Einzelnen besprochen werden (. Tabelle 20.2).

3Therapie. Thiabendazol, Dosierung wie Trichinose. 3Diagnostik. CT und MRT sind unspezifisch: Anreiche-
rung der Meningen, Granulome oder Abszesse können gefun-
den werden, ohne dass man aus dieser Darstellung auf eine
20.3 Pilzinfektionen Pilzinfektion schließen kann. Der Liquor zeigt häufig eine ge-
mischtzellige Pleozytose mit Eosinophilie und erniedrigtem
3Epidemiologie. Auch viele Pilze können humanpathogen Zucker. Die Abgrenzung gegen eine tuberkulöse Meningitis
sein. Wir beschränken uns hier nur auf wenige Spezies, die in kann schwierig sein. Der direkte Erregernachweis, besonders
Mitteleuropa vorkommen. Klinisch werden die meisten Pilzer- bei Candida (Gramfärbung) und Kryptokokkus (Tuschepräpa-
krankungen mit Symptomen einer chronischen Meningitis rat), ist möglich.
oder durch Granulom-/Abszessbildung symptomatisch. Pilz-
infektionen treten besonders bei abwehrgeschwächten Per- 3Therapie. Mehrere Antimykotika wie Amphotericin B,
sonen auf (Langzeitbehandlung mit Antibiotika, Steroiden, Flucytosin (Ancotil®) und Imidazole [Ketoconazol, Miconazol
Zytostatika, Immunschwäche). Itraconazol und Fluconazol (Diflucan®)] stehen zur Verfügung
(. Tabelle 20.3). Die meisten sind hochwirksam, haben aber
3Erregerspektrum. Häufig sind Pilzinfektionen in Mittel- erhebliche, unerwünschte Wirkungen wie Nierenzellschädi-
europa durch gung und Knochenmarkdepression.
4 Candida albicans,
4 Cryptococcus neoformans und
4 Aspergillus fumigatus.
494 Kapitel 20 · Entzündungen durch Protozoen, Würmer und Pilze

. Tabelle 20.2. Pilzinfektionen des ZNS (Auswahl) (Mod. nach Platten, in Brandt et al. 2003 und Schmutzhardt, in Hacke et al. 1994)
Klasse Art Symptome Antimykotikum
Zygomyzeten Mukor Meningitis Akut Amphotericin B 1 mg/kg/Tag
Rhizopus Meningoenzephalitis Akut Amphotericin B
Absidia Abszess, Infarkt Akut, subakut Amphotericin B
Askomyzeten Histoplasma Meningitis, Granulome, Hydrozephalus Chronisch Amphotericin B i.v., i.th.a
Candida Meningitis, Vaskulitis, Akut Fluconazol oral 400–800 mg
Enzephalitis, Abszess Subakut Amphotericin B plus Flucytosin
100–150 mg/kg i.v..
bei Immunsuppression plus Fluconazol oral
Blastomyces Meningitis Amphotericin B
ggf. plus Fluconazol
Basidiomyzeten Cryptococcus Meningitis, Granulom Chronisch Amphotericin B plus
neoformans Flucytosin
Deuteromyzeten Aspergillus Meningitis, Abszess, Sinusthrombose, Akut-chronisch Amphotericin B i.v.,
Vaskulitis i.th. plus Flucytosin
ggf. plus Rifampicin
a i.th. intrathekal.

. Tabelle 20.3. Antimykotische Therapie (Mod. nach Platten, in Brandt et al. 2003; nach Schmutzhardt, in Hacke et al. 1994)
Substanz Dosierung Nebenwirkungen
Amphotericin B 1. Tag: 1 mg in Glukose Testdosis, danach 5 mg in 500 ml 5% Glukose über Fieber, Erbrechen, Phlebitis, nierentoxisch!
6 h i. v. Knochenmarksuppression, Anfälle, Myelo-
2. Tag: 10 mg, wie oben, danach tgl. um 5 mg steigern. pathie, Enzephalopathie Hypokaliämie,
Gesamt: 2000 mg. Toxizität
Bei schweren Fällen und Immunschwäche nach Testdosis mit 10–12 mg In Kombination mit Flucytosin: Gabe alter-
1. Tag, danach 20–25 mg, tägl. um 5–10 mg steigern. nierend wegen additiver Nebenwirkungen
Gesamt nie über 4000 mg (Nierenschaden). Bevorzugt über ZVK geben.
Intrathekal: Beginn 0,1–0,2 mg/Tag
Steigern bis 0,5 mg, 3-mal pro Woche.
Flucytosin Nur in Kombination zu geben, 150 mg/kg und Tag i.v. auf 3 Gaben verteilt. Lebertoxisch, Knochenmarksuppression,
Dosisanpassung nach Nierenfunktion nicht mit ARA-C kombinieren
Fluconazol 400 mg/Tag über 3 Tage i.v., danach 200 mg/Tag i.v. oder oral über längere Nebenwirkungsarm; Übelkeit, Erbrechen,
Zeit. Prophylaxe gegen Candida: 200 mg jeden 2. Tag reversible Leberenzymerhöhung

20.3.1 Spezielle Aspekte einzelner Candidiasis


Pilzerkrankungen Diese Infektion entsteht meist hämatogen, fast immer bei im-
munsupprimierten Patienten. Es kommt zu einer leichten, me-
Kryptokokkose ningealen Reizung und multiplen Mikroabszessen. Größere
Die Kryptokokkeninfektion ist im Kapitel opportunistische Granulome sind selten. Fluconazol und Amphotericin B, ggf.
Infektionen bei AIDS (7 Kap. 19.4) besprochen. Therapie ist auch intrathekal, sind am besten wirksam. Fluconazol (. Ta-
Flucytosin in Kombination mit Amphotericin B (. Tabel- belle 20.3) als Monotherapie ist etwa gleich wirksam wie Am-
le 20.3). photericin B.

Aspergillose
20 Aspergillose führt über hämatogene Aussaat zu Abszessen und
thrombotischen Gefäßverschlüssen. Eine meningeale Sympto-
matik ist selten. Die Diagnose wird entsprechend selten ge-
stellt. Betroffen sind ausschließlich immunsupprimierte Pati-
enten. Die Prognose ist schlecht. Die Kombination von Am-
photericin B und Flucytosin wird empfohlen. Ein neues Medi-
kament ist Itraconazol, eine Weiterentwicklung der Imidazole,
das bei der invasiven Aspergillose eingesetzt wird.
20.3 · Pilzinfektionen
495 20

In Kürze

Protozoenerkrankungen

Toxoplasmose. Häufigste Manifestation als opportunistische Trichinose. Durch Verzehr infizierten, rohen Schweineflei-
Infektion bei AIDS. Ohne Immunschwäche selten aktiv, Über- sches. Symptome: Akute Meningitis, Myositis. Medikamentöse
tragung durch Kontakt mit Hunden, Katzen, Kaninchen, Mäu- Therapie. Unbehandelt rascher Verlauf bis zum Tod.
sen, durch Genuss rohen Fleisches und ungekochter Milch.
Symptome: Inkubationszeit: 3–10 Tage mit Kopfschmerzen, Echinokokkose. Häufigste Wurmkrankheit in Deutschland,
Fieber, gefolgt von Vigilanzstörungen. Akute Toxoplasmose: durch Hunde- und Fuchsbandwurm. Symptome: Anfälle,
1–2 Wochen nach Prodromalstadium mit Müdigkeit, Schwä- neurologische Herdsymptome, gesteigerter Hirndruck.
che, Unlust, Kopfschmerzen, Pneumonie, Milz-, Leberschwel- Diagnostik:Liquor: Eosinophilie; MRT: Raumfordernde,
lung, Myokarditis. Chronisch-rezidivierender Verlauf: intrazerebrale Zysten. Therapie: Medikamentöse Therapie,
Psychischer Verfall, epileptische Anfälle, extrapyramidale bei solitären Zysten Operation.
Hyperkinesen.
Hundespulwurm. Durch orale Erregeraufnahme bei Kontakt
Amöbiasis. Durch orale Aufnahme der Zysten von Entamoe- mit Hunden oder Hundekot. Symptome: Subakute Abszesse
ba histolytica aus infiziertem Wasser und infizierter Nahrung. und Granulome in Gehirn und Rückenmark. Diagnostik:
Symptome: Multiple, intrakranielle Abszesse, akute, lebens- MRT: Darstellung der Abszesse; Liquor entzündlich verändert.
bedrohliche, eitrige Meningitis. Diagnostik: CT: Nachweis Medikamentöse Therapie.
von Abszessen. Medikamentöse Therapie.
Pilzinfektionen
Malaria. Symptome: Perakuter Beginn mit Bewusstseins-
störungen, Anfällen, Halluzinationen, Myoklonien, Halbsei- Symptome: Bei Abwehrgeschwächten Granulom-/Abszessbil-
tenlähmungen, Tremor, Chorea, Schädigung des Gehirns. dung, chronischer Meningitisverlauf. Diagnostik: CT/MRT:
Medikamentöse Therapie mit Chinin. Schwere Verläufe bei Unspezifisch; Liquor: Gemischtzellige Pleozytose mit Eosino-
fehlender Prophylaxe, bei Multiorganbefall hohe Mortalität. philie, niedriger Zucker. Medikamentöse Therapie.

Wurminfektionen Erkrankungsformen. Aspergillose führt über hämatogene


Aussaat bei Immunsupprimierten zu Abszessen und thrombo-
Zystizerkose. Durch Befall von Finnen des Blasenwurms. tischen Gefäßverschlüssen mit schlechter Prognose. Candidia-
Symptome: Asymptomatisch oder fokale Anfälle. Diagnos- sis mit leichter, meningealer Reizung und multiplen Mikro-
tik: MRT: Multiple zystische Läsionen mit geringem Ödem. abzessen entsteht meist hämatogen bei Immunsupprimierten.
Therapie: Bei solitären Zysten keine Therapie, bei Anfällen Kryptokokkose (7 Kap. 19).
oder Hydrocephalus Operation, bei aktiver parenchymatöser,
multioculärer Form medikamentöse Therapie.
21

21 Spinale Entzündungen
21.1 Spinale Abszesse – 498

21.2 Andere, spinale Infektionen – 500


498 Kapitel 21 · Spinale Entzündungen

> > Einleitung Am häufigsten sind


4 epidurale Abszesse (. Abb. 21.2) und
Spinale Entzündungen werden durch die gleichen Erreger ausge- 4 die Spondylodiszitis (. Abb. 21.1), die wir etwa 5- bis 10-
löst, die auch das Gehirn und die Hirnhäute befallen können. Die mal pro Jahr sehen, wenn Patienten mit unklarer Querschnitts-
Symptomatik hingegen unterscheidet sich aufgrund anato- symptomatik in die Neurologische Klinik überwiesen werden.
mischer und physiologischer Fakten stark: Während bei den Epidurale Abszesse finden sich bevorzugt im thorakolumbalen
Entzündungen des Gehirns und der Hirnhäute Nackensteifigkeit, Übergang. Zervikale und obere, thorakale Abszesse sind sel-
Schmerzen und psychoorganische Veränderungen im Vorder- tener.
grund stehen, sind lokale Rückenschmerzen und subakut entste- 4 Intradural-extramedulläre Entzündungen sind selten.
hende Querschnittsyndrome die typischen Initialsymptome einer Sie kommen bei Mitbeteiligung des spinalen Arachnoidal-
spinalen Entzündung. Das Querschnittsyndrom entwickelt sich raums bei bakterieller Meningitis und bei meist iatrogener In-
meist innerhalb einiger Tage, es kann aber auch relativ akut fektion durch spinale Katheter, Injektionen oder Operationen
innerhalb weniger Stunden auftreten. vor. Sie sind praktisch nicht raumfordernd.
Von den in diesem Kapitel besprochenen Ursachen spinaler 4 Auch intramedulläre Abszesse sind selten, kommen aber
Entzündungen sind heute der spinale, epidurale Abszess und die bei multipler Abszedierung einer bakteriellen Endokarditis
raumfordernde Spondylodiszitis von besonderer Bedeutung. Der vor. Protozoen und Parasiten können auch das Rückenmark
epidurale Abszess wird meist durch Staphylokokken ausgelöst. befallen (Toxoplasmose), manche Parasiten bevorzugen sogar
Nicht selten findet man in der näheren Vorgeschichte des Patienten das Rückenmark (Toxocara canis), 7 Kap. 20.
Injektionen, Zahnbehandlungen oder einen entzündeten venösen
Zugang. Wenn Initialsymptome lokale Rückenschmerzen, Störun- 3Ätiologie und Pathogenese. Der häufigste Keim ist Sta-
gen beim Wasserlassen und eine fortschreitende Querschnitts- phylococcus aureus, der in etwa 2/3 der Fälle nachgewiesen
symptomatik nicht ernstgenommen werden, droht die komplette werden kann.
Querschnittslähmung, die dann selten rückbildungsfähig ist. Anti- Streptokokken machen ca. 20%, gramnegative Enertobak-
biotische Behandlung und neurochirurgische oder orthopädische terien (Proteus spec.), Pseudomonaden machen ca. 15%, und
Intervention können, wenn der Abszess rechtzeitig erkannt wird, Anaerobier (Bacteroides, Peptostreptokokken, Fusobakterien)
die Erkrankung ohne Folgeerscheinungen ausheilen lassen. 5% des Erregerspektrum aus. Sehr selten sind ursächlich ver-
antwortlich: Mycobakterium tuberculosis, Listerien, Norka-
dien und Pilze (Aspergillus fumigatus, Cryptococcus neofor-
21.1 Spinale Abszesse mans), hier insbesondere bei immungeschwächten Patienten.
Epidurale Abszesse können sowohl im Gefolge einer Sep-
3Lokalisation. Spinale Abszesse können, wie andere spina- sis auftreten, aber auch selbst Ausgangspunkt einer Sepsis
le, raumfordernde Läsionen, epidural, extramedullär und in- werden. Diabetiker und abwehrgeschwächte Patienten sind
tramedullär liegen. Ausgangspunkt für die Entzündung kann prädisponiert. Nicht selten sind bei bakteriellen Infektionen
die hämatogene Aussaat im Rahmen einer Sepsis sein, aber Spritzenabszesse oder lumbale Katheter die Ursache. Selten
auch die lokale Ausbreitung eines Abszesses, z.B. nach intra- entwickelt sich eine Spondylodiszitis nach einer Bandscheiben-
muskulärer oder paravertebraler Injektion. operation. Die Spondylitis tuberculosa unterscheidet sich von

21
a b

. Abb. 21.1a, b. Zervikale Spondylodiszitis und epiduraler Abs- KM (b) unregelmäßige, ausgedehnte Kontrastmittelaufnahme ventral
zess. Im T2-Bild (a) hyperintense Wirbelkörper C6 und C7 mit flächiger des Rückenmarks und in den betroffenen Wirbelkörpern. Auch die
Signalintensität in Projektion auf das Myelon, das verdrängt ist. Nach Wirbelkörper C6, C7 und die Bandscheibe C6/C7 reichern an
21.1 · Spinale Abszesse
499 21

a b

. Abb. 21.2a, b. Im T2 Bild hyperintense Wirbelkörper L4 und L5 Kontrast Anreicherung der Meningen und der Abszesshülle ventral L4,
(erster Sakralwirbel lumbalisiert). Im Spinalkanal mehrere gekammer- L5 (b)
te Signalintese Areale, die die Wurzelfasern verdrängen (a). Im T1 mit

den Metastasen und dem Plasmozytom der Wirbelsäule kli- Verdacht auf einen lumbalen, epiduralen Abszess ist die Lum-
nisch durch Gibbusbildung und auf der Röntgenaufnahme balpunktion kontraindiziert, da hierbei der Abszess penetriert
durch Zerstörung der Zwischenwirbelscheibe. Häufig kommt werden kann und Erreger in den Liquorraum gelangen kön-
es auch etwa gleichzeitig mit den Rückenmarksymptomen nen. Nicht selten ist eine Spondylodiszitis Ausgangspunkt
oder kurz davor zum Senkungsabszess. eines epiduralen Abszesses.
Kardiologische Untersuchung: Bei Verdacht auf eine hä-
3Symptome. Klinisch beginnt die Symptomatik meist mit matogene Aussaat (z.B. Endokarditis) führt man eine kardio-
stärksten Schmerzen, die auch radikulär ausstrahlen können. logische Untersuchung mit TEE durch.
Hierbei kommt es zu Fieber und leichter Nackensteifigkeit.
Schon in diesem Stadium ist eine deutliche Leukozytose, BSG 3Therapie. Die Therapie ist chirurgisch und antibiotisch.
und CRP-Erhöhung feststellbar. Danach entwickelt sich suba- 4 Nach Laminektomie und Drainage des Eiters wird lokal
kut ein Querschnittssyndrom, das längere Zeit inkomplett blei- und systemisch antibiotisch behandelt.
ben kann. Der Querschnitt entwickelt sich über einige Tage bis 4 Die Kombination bei noch unklaren Erregern besteht aus
zwei Wochen. Sehr akute Verläufe deuten eine zusätzliche, vas- einem Staphylokokkenpenicillin (z.B. Oxacillin 12 g/Tag i.v.),
kuläre Kompression an. einem Cephalosporin der dritten Generation (Cefotaxim 6 g/
Tag i.v.) und einem Aminoglykosid (Tobramycin 240 mg/Tag).
3Diagnostik. Bildgebende Diagnostik: Schon im Nativ- 4 Gegen resistente Staphylococcus-aureus-Stämme wird
röntgen kann die Entzündung der Wirbelkörpers mit Destruk- Vancomycin 2 g pro/Tag i.v. gegeben. Steroide sind nicht indi-
tion oder das Zusammensinken eines Bandscheibenfachs bei ziert.
Diszitis gesehen werden. Allerdings sollte das Nativröntgen bei
derartiger Konstellation nicht durchgeführt werden und sofort 3Prognose. Wenn eine fortgeschrittene Paraparese vor-
die Schnittbilddiagnostik eingesetzt werden. liegt, ist mit einer völligen Wiederherstellung kaum noch zu
CT und MRT weisen Diszitis und Abszesse in eindrucks- rechnen. Die heute mögliche frühe Diagnose mit Hilfe der
voller Weise nach (. Abb. 21.1 (cervikal) und Abb. 21.2 (lumbal)). MRT lässt hoffen, dass Patienten in einem fortgeschrittenen
Wenn die Läsionshöhe klinisch bekannt ist, ist die spinale MRT Stadium des spinalen Abszesses immer seltener werden. Früh
heute der erste diagnostische Schritt. Wenn die Läsionshöhe behandelt, ist die Prognose relativ günstig. Eine Paralyse, die
nicht ganz sicher ist, wird eine Myelographie mit Myelo-CT länger als zwei Tage angedauert hat, bildet sich kaum noch
oder eine ausgedehnte MRT-Diagnostik des gesamten Spinal- zurück. Die Spondylodiszitis kann durch einen epiduralen,
kanals durchgeführt. raumfordernden Abszess kompliziert werden.
Liquor: Bei der Myelographie gewinnt man auch Liquor,
der fast immer eine gemischtzellige Pleozytose mit vielen Leu- ä Der Fall
kozyten und hohem Eiweißgehalt zeigt und zur mikrobiolo- Die 65-jährige Diabetikerin ist seit Wochen wegen Beschwerden
gischen Untersuchung weitergeschickt wird. Manchmal gelingt an der Lendenwirbelsäule in ärztlicher Behandlung. Nachdem
die Anzüchtung des Erregers, der dann gezielt antibiotisch be- Krankengymnastik und Medikamente nicht geholfen haben,
handelt wird. Auch ein Stopp-Liquor kann vorkommen. Bei 6
500 Kapitel 21 · Spinale Entzündungen

entschließt sich der Arzt zu einer kombinierten intramuskulären eitrig. Staphylococcus epidermidis konnte angezüchtet werden.
und paravertebralen Injektionsbehandlung mit einem kortison- Die Patientin wurde sofort operiert und lokal und systemisch mit
haltigen Mischpräparat. Nach einigen Tagen entwickelt sich eine einem Staphylokokken-Penicillin behandelt. Unklar blieb, ob der
schmerzhafte Schwellung in einem Glutäus. Unter Behandlung epidurale Abszess lokal als Folge der paraspinalen Injektion
mit einem Tetrazyklin geht die Schwellung etwas zurück, danach entstanden und Ursache der Sepsis war oder ob er hämatogen
aber entwickelt die Patientin Schüttelfrost und hohes Fieber. durch eine Sepsis bei Glutäalabszess entstanden war.
Sie klagt weiterhin über Rückenschmerzen, die sich jetzt auch
beim Husten und Pressen verstärken. Nach Einweisung in die
Klinik fällt dort auf, dass die Patientin urininkontinent ist, sie 21.2 Andere, spinale Infektionen
erhält einen Blasenkatheter. Dass die Muskeleigenreflexe fehlen,
schreibt man dem Diabetes zu, ebenfalls die Schwäche der Einige Infektionen, die den Spinalkanal betreffen, wurden
Beine. schon in den vorangegangenen Kapiteln besprochen: Die Poli-
Die Blutkulturen sind negativ, und man behandelt mit Cepha- omyelitis infiziert die Vorderhornzellen, manche Parasiten und
losporinen. Nach wenigen Tagen werden die Rückenschmerzen Protozoen befallen bevorzugt das Rückenmark, z.B. Toxocara-
immer stärker, und die Patientin kann die Beine kaum noch canis. Jede Meningitis erfasst, mehr oder weniger ausgeprägt,
bewegen. Der Neurologe wird hinzugezogen und stellt ein auch die Häute des Rückenmarks.
schlaffes Querschnittssyndrom fest. Zur Diagnostik sind Liquoruntersuchung, spinale MRT,
Ein MRT und eine Lumbalpunktion werden veranlasst. Das manchmal Myelo-CT, evozierte Potentiale und transkranielle,
MRT zeigt eine extradurale, lumbale raumfordernde Läsion mit motorische Stimulation, wichtig. Die Therapie richtet sich
nahezu vollständiger Verlegung des Spinalkanals. Der Liquor war nach den Regeln, die für die einzelnen Ätiologien besprochen
6 wurden.

Facharzt
Andere entzündlich-raumfordernde Prozesse
Polyarthritis mit Densbefall schwellen und wie ein Tumor wirken. Ein schnell entstehendes
Bei Patienten mit fortgeschrittener Polyarthritis ist die ent- Querschnittssyndrom (Myelitis transversa) ist charakteristisch.
zündliche Infiltration der Axis-Atlas-Region mit Verdickung (Zur akuten disseminierten Enzephalomyelitis (ADEM)
und Auflösung des atlantodentalen Bandapparats und Dens- 7 Kap. 22.) Auch HIV-Manifestationen betreffen das Myelon.
dislokation eine mögliche Ursache eines hohen Quer-
schnittssyndroms mit Atemstörung. 3Diagnose. Im Myelogramm ist die Myelitis nicht von
einem intramedullären Tumor zu unterscheiden. Der Liquor ist
3Therapie. Die transorale Resektion des Entzündungsge- gewöhnlich entzündlich verändert. Oligoklonale Banden und
webes und Stabilisierung des Dens sind lebensrettend. intrathekale IgG-Erhöhung bei ADEM. Entwicklung spezifischer
Antikörper gegen die zugrundeliegende Virusentzündung.
Myelitis
3Ursachen und Symptome. Manchmal kann eine akute 3Therapie. Virustatisch, wenn möglich. Hochdosiertes
virale, parainfektiöse (z.B. nach Varizella-Zoster, EBV-Infek- Kortison, z.B. 3-mal 1000 mg Methylprednisolon.
tion) oder autoimmune Myelitis (bei MS) einen raumfordern-
den Charakter annehmen. Das Rückenmark kann stark an-

In Kürze

Spinale Abzesse

Lokalisation: Epidural, extramedullär und intramedullär. Therapie: Medikamentöse Therapie mit Antibiotika, chirurgi-
Ausgangspunkt für Entzündung ist die hämatogene Aussaat sche Therapie. Günstige Prognose bei früher Behandlung, bei
im Rahmen einer Sepsis oder lokale Ausbreitung eines Abs- fortgeschrittener Parese keine vollständige Wiederherstellung.
zesses.
Symptome: Stärkste, auch radikulär ausstrahlende Schmer- Andere spinale Infektionen
zen, Fieber, leichte Nackensteifigkeit, subakutes und längere
Zeit inkomplett bleibendes Querschnittssyndrom. Poliomyelitis infiziert die Vorderhornzellen; Befall des Rücken-
Diagnostik: CT/MRT: Nachweis von Diszitis und Abszessen; marks durch Parasiten und Protozoen; jede Meningitis er-
21 Liquor: Gemischtzellige Pleozytose mit Leukozyten und fasst in unterschiedlicher Ausprägung auch die Rückenmark-
hohem Eiweißgehalt. häute.
Diagnostik: Liquor, spinale MRT, Myelo-CT.
Medikamentöse Therapie.
22

22 Multiple Sklerose und andere


immunvermittelte Enzephalopathien
22.1 Multiple Sklerose (MS) – 502
22.1.1 Epidemiologie, Ätiologie und Pathogenese – 502
22.1.2 Symptome und Verlaufsformen – 504
22.1.3 Diagnostik – 508
22.1.4 Therapie und Prophylaxe – 510
22.1.5 Encephalitis pontis et cerebelli – 516

22.2 Akute immunvermittelte Enzephaitiden – 517


22.2.1 Akut demyelinisierende Enzephalomyelitis (ADEM) – 517
22.2.2 Akutes Posteriores (reversibles) Leukenzephalopathiesyndrom (PRES) – 518
22.2.3 Parainfektiöse Enzephalomyelitis und impf-assoziierte Enzephalitiden – 520

22.3 Chronische immunvermittelte Enzephalitiden – 522


22.3.1 Nicht-paraneoplastische limbische Enzephalitis (LE) – 522
22.3.2 Neuromyelitis optica (NMO) – 522
22.3.3 Hashimoto-Enzephalitis (steroidresponsive Enzephalopathie mit Autoimmunthyreoiditis
(SREAT)) – 522

22.4 Neurosarkoidose – 523

22.5 Stiff-person-Syndrom (SPS) – 524


502 Kapitel 22 · Multiple Sklerose und andere immunvermittelte Enzephalopathien

> > Einleitung 22.1 Multiple Sklerose (MS)

Die Multiple Sklerose (MS) wurde im 19. Jahrhundert von dem Die Multiple Sklerose ist eine der häufigsten, organischen
großen französischen Neurologen Charcot beschrieben. Wenn er Krankheiten des Nervensystems. Die Inzidenz wird in Mittel-
in dem Pariser Armenkrankenhaus La Salpêtrière Visite machte, europa mit 3–7 Erkrankten, die Prävalenz mit 30–60 pro
fiel ihm auf, dass manche Patienten, wenn sie ihn seitwärts an- 100.000 Einwohner angegeben. Etwa 8% der Patienten, die in
blickten, einen Nystagmus bekamen. Wenn sie ihm die Hand einer neurologischen Klinik in unseren Breitengraden behan-
reichten, zeigten sie einen Intentionstremor, und ihre Sprechwei- delt werden, leiden an MS. Frauen erkranken doppelt so häufig
se legte auf jede Silbe eine »skandierende« Betonung. Diese an der schubweisen Verlaufsform wie Männer (s.u.), aber
Symptomkombination wurde später als Charcot-Trias bezeichnet. gleich häufig an chronisch progredienter MS.
Bei der Autopsie solcher Patienten fand man multiple, gliöse
Herde im ZNS, und die »Sclérose en plaques« wurde eine der am
besten bekannten Nervenkrankheiten. Dennoch blieb ihre Ätio- 22.1.1 Epidemiologie, Ätiologie
logie – nicht die Pathogenese – bis heute unbekannt, und zur und Pathogenese
Behandlung wurden sehr viele Methoden angewendet, die heute
nur Verwunderung hervorrufen können. Eine davon war die Das Prädilektionsalter für die Erkrankung an MS ist die Zeit
Quecksilberschmierkur, bei deren Anwendung die Fenster des zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Die MS kann schon in
Zimmers geschlossen werden mussten, damit die Quecksilber- der Zeit der Pubertät auftreten. Nach dem 45. Lebensjahr sinkt
dämpfe nicht entweichen konnten. die Häufigkeit von Neuerkrankungen kontinuierlich ab. Die
Heute weiß man um die autoimmune Genese der MS, die obere Grenze liegt um 55–60 Jahre. Diese Zahlenangaben spie-
auch oft als Enzephalomyelitis disseminata (ED) bezeichnet wird. geln aber nur die erste Manifestation neurologischer Symp-
Es werden Therapieverfahren eingesetzt, die in den pathogene- tome, nicht das tatsächliche Erkrankungsalter mit »stummen«
tischen Mechanismus eingreifen. Dennoch ist man noch immer Herden wider, das etwa 10 Jahre früher anzunehmen ist. Mit-
weit davon entfernt, die Krankheit heilen zu können. teilungen über erste Schübe von MS unter 10 Jahren gehören
zu den absoluten Seltenheiten.
Vorbemerkung
In diesem Kapitel besprechen wir immunologisch vermittelte 3Geographische Verteilung. Die Erkrankungshäufigkeit
Erkrankungen des zentralen Nervensystems. Als wichtigste nimmt bei Angehörigen der weißen Rasse auf der nördlichen
Krankheitseinheit wird die Multiple Sklerose den größten Teil Halbkugel mit wachsender Entfernung vom Äquator zu. In
des Kapitels ausmachen. Danach werden eine Reihe von erst in Europa ist die MS oberhalb des 46. Breitengrades häufiger als
letzter Zeit verstandenen oder neu beschriebenen Krankheiten darunter. In den nördlichen Bundesstaaten der USA oberhalb
diskutiert, die zunehmend häufig diagnostiziert werden und des 38. Breitengrades ist sie stärker als in den Südstaaten ver-
auch therapeutische Konsequenzen haben. Für diese immun- treten. In südlichen Breitengraden ist die Prävalenz der Krank-
assoziierten zentralnervösen Entitäten ist die Besprechung heit sehr gering. Der Grund für diese geographische Verteilung
hier nicht vollständig, da ein Teil der auch im Kapitel der para- ist nicht bekannt. Australien hat eine Häufigkeit von etwa 10,
neoplastischen Syndrome behandelt werden. Andererseits sind Afrika nur von 0–4 auf 100.000 Einwohner. In Ägypten, Süd-
gewisse Wiederholungen unvermeidbar, beispielsweise bei der afrika, Südamerika, allerdings auch in Sibirien, ist die Krank-
Besprechung der limbischen Enzephalitis, die sowohl para- heit selten. Auch in Japan kommt sie nicht häufig vor.
neoplastisch als auch antikörperassoziiert ohne Malignom Einwanderer, die ihr Geburtsland im frühen Kindesalter
auftreten kann. verlassen, tragen das Erkrankungsrisiko ihres neuen Heimat-
Das Feld der immunvermittelten Enzephalitiden (in ihrer landes. Wechseln sie den Wohnort nach der Pubertät, nehmen
chronischen Form Enzephalopathien) und Myelitiden (Myelo- sie das Risiko ihres Geburtslandes mit. In der 2. Generation
pathien) ist in einem raschen Wandel: Noch in der letzten Auf- verwischt sich dieser Unterschied. Ob diese geographische
lage sah dieses Kapitel ganz anders aus, und die Wissenslage Verteilung mit der Exposition an bestimmte Infektionen oder
wird sich in den nächsten Jahren weiter verändern. Trotzdem mit den Bedingungen der Ernährungs- und Lebensweise zu-
ist die jetzt gewählte Einteilung schlüssig und berücksichtigt sammenhängt, ist nicht endgültig geklärt.
aktuelle pathogenetische Überlegungen.
Die Beteiligung des ZNS bei systemischen immunolo- 3Genetische Faktoren. Die Ursache der MS ist nicht be-
gischen Krankheiten, z.B. beim Lupus erythematodes oder im kannt. Wie bei vielen Krankheiten, sind auch bei der MS ge-
Rahmen von Vaskulitiden oder Kollagenosen, wird an anderer netische Faktoren in der Prädisposition wirksam, wobei meh-
Stelle besprochen, wie auch die chronischen Enzephalopathien rere Gene beteiligt sein müssen. Die Konkordanzrate ist bei
nach Infektionen, wie die Neuroborreliosen, Folgeerschei- monozygoten Zwillingen 25%, bei dizygoten 3%. Am besten
nungen der Lues oder die virusassoziierten akuten (VZV-Zere- gesichert ist die Assoziation mit humanem Leukozytenantigen
bellitits) und progredienten Enzephalopathien, wie die sub- HLA DR 2.
akut-sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) nach Maserninfek- Definierte, exogene Faktoren haben im Erwachsenenalter
22 tion oder andere verwandte, seltene Krankheiten. Auch diese auf Manifestation und Verlauf der MS keinen erkennbaren
Trennung ist willkürlich, da es sich auch hierbei um vergleich- Einfluss. Ob ein Patient kurz vor der Erkrankung schwer kör-
bare Pathogenesen handelt. perlich arbeitete oder eine sitzende Beschäftigung hatte, ob er
22.1 · Multiple Sklerose (MS)
503 22
sich ausreichend oder nur mangelhaft ernähren konnte, ob er
Temperatureinflüssen, allgemeinen Strapazen oder einem
Trauma mit Beteiligung des ZNS ausgesetzt war, spielt, soweit
wir jetzt wissen, keine Rolle für den Ausbruch der MS. Selbst
während der Bettruhe und Kortikoidbehandlung können aku-
te Schübe auftreten. Die MS ist nicht infektiös.

3Pathologische Anatomie. Die MS gehört zu den Entmar-


kungskrankheiten. Sie befällt deshalb ganz vorwiegend die
weiße Substanz des gesamten ZNS. Herdförmig kommt es zu
einer Schädigung oder Auflösung der Markscheiden. Ohne
intakte Markscheiden ist die Nervenleitung erschwert bis un-
möglich. Schon früh entstehen allerdings auch axonale Schä-
den. Größere Herde führen deshalb, je nach ihrer Lokalisation,
zu Funktionsstörungen. Kleinere Herde in »stummen Regio-
nen« können jedoch klinisch unerkannt bleiben. Im CT, mehr
noch im MRT und auch bei der Sektion, findet man das ZNS
stets schwerer befallen als klinisch zu vermuten war.
Die Entmarkungsherde (Plaques) sind in wechselnder
Größe, vom Durchmesser eines Stecknadelkopfes bis zu dem
einer Euromünze, über das ZNS verteilt. Sie sind um größere
Venen oder an diesen entlang angeordnet und können, beson-
ders in der Umgebung der Seitenventrikel, zu größeren Herden
konfluieren.
Im frühen Stadium sind die Markscheiden an umschriebe-
nen Stellen rötlich geschwollen und aufgelockert. Die Plaques
sind – je nach Alter – durch entzündliche Infiltrate mit Demye-
linisierung, durch Verlust von Axonen und gliotische Narben
charakterisiert. Die Infiltrate bestehen aus Lymphozyten und
. Abb. 22.1. Schematische Darstellung einzelner Teilschritte in
Monozyten. Frische und sklerotische Herde werden im ZNS
der Pathophysiologie der MS. 1. Aktivierung autoreaktiver T-Lym-
bunt nebeneinander angetroffen. phozyten in der Peripherie, 2. Durchwanderung der Blut-Hirn-Schran-
Prädilektionsstellen für die Lokalisation der Plaques sind: ke, 3. Lokale Antigenpräsentation durch Mikroglia (Micr.) oder Astro-
Sehnerven, Balken, Hirnstamm, insbesondere Brücke mit Au- zyten (AS). Produktion entzündungsfördernder Zytokine wie Tumor-
genmuskelkernen, Kleinhirn und Kleinhirnstiele, die Pyrami- nekrosefaktor (TNF) und Interferon-γ (IFN-γ); Oligo Oligodendrozyt,
denbahn, der Boden des IV. Ventrikels, Hinterstränge des Rü- 4. Myelinschädigung. AK Antikörper; M Makrophage

Facharzt
Pathophysiologisches Modell und immunpathogenetische Subtypen.
Zur Pathophysiologie gibt es folgende Vorstellungen, die in gliösen Vernarbung (»Sklerose« ) das Charakteristikum
. Abb. 22.1 erläutert sind. Autoreaktive T-Lymphozyten der MS ist.
werden, z.B. durch einen Virusinfekt, in der Peripherie des In den MS-Läsionen lassen sich mit immunhistochemi-
Körpers aktiviert. Sie docken an bestimmten Rezeptoren von schen und molekularbiologischen Methoden vier verschie-
Endothelzellen an und wandern unter chemotaktischen dene immunpathogenetische Subtypen differenzieren
Einflüssen durch die Blut-Hirn-Schranke ins Hirngewebe. Hier (. Tabelle 22.1). Muster I und II zeigen große Ähnlichkeiten
kommt es zu einer klonalen Proliferation der T-Zellen, die mit T-Zell- oder T-Zell-/Antikörper-mediierten autoimmunen
nach erneuter Aktivierung bestimmte Strukturen des ZNS Enzephalomyelitiden (EAE) der Maus bzw. der Ratte, dem
irrtümlich als Antigene erkennen. Unter diesen Strukturen ist Tiermodell der MS. Der primäre Oligodendrozytenschaden der
besonders das basische Myelinprotein (MBP) zu nennen, eine Muster III und IV ähnelt virus- oder toxininduzierten demyelini-
Komponente des Myelins. Aber auch andere Proteine, das sierten Läsionen in anderen Tiermodellen der Maus oder Ratte.
Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein (MOG), Myelin- In allen Mustern finden sich Makrophagen und T-Zellen. Im-
assoziiertes Glykoprotein (MAG), Proteolipoprotein (PLP) sind munglobulin- und Komplementablagerungen lassen sich nur
in den Prozess eingebunden. in Muster II nachweisen. Während in Muster III zumindest noch
Die Freisetzung von proinflammatorischen Zytokinen ein Teil der Oligodendrozyten im Plaque erhalten ist, zeichnet
aktiviert andere zelluläre Bestandteile des Immunsystems, sich Muster IV durch einen vollständigen Oligodendrozyten-
z.B. Makrophagen. Ferner werden B-Zellen aktiviert. Das verlust aus. Beim individuellen Patienten findet sich zu einem
Zusammenwirken von T- und B-Zellen führt zu der ent- Zeitpunkt in allen Läsionen dasselbe Muster. Unklar ist, ob sich
zündlichen Markscheidenschädigung, die neben der das Muster im Verlauf der Zeit ändert.
504 Kapitel 22 · Multiple Sklerose und andere immunvermittelte Enzephalopathien

ckenmarks. Seltener sind Hirnrinde, Basalganglien und Rü-


. Tabelle 22.1. Charakteristika der verschiedenen immunpatho-
genetischen Muster
ckenmarksgrau betroffen.

Muster Charakteristika
Muster I Oligodendrozytenerhalt 22.1.2 Symptome und Verlaufsformen
T-Zell- und Makrophageninfiltration
Schnelle und fast vollständige Remyelinisierung 3Klinisch isoliertes Syndrom. Oft findet man als erste
Muster II Oligodendrozytenverlust Krankheitsmanifestation das sog. klinisch-isolierte Syndrom
T-Zell- und Makrophageninfiltration (CIS), typische Frühsymptome, die an eine demyelinisierendes
Plasmazellen Krankheit denken lassen, diese erfüllen dann aber noch nicht
Immunglobulin- und Komplementablagerung die Kriterien der zeitlichen Dissemination (s. . Tab. 22.2 und
Rekrutierung von oligodendroglialen Vorläuferzellen
S. 505). Wenn zu diesem Zeitpunkt schon multiple MRT-Lä-
Muster III Oligodendrozytendystrophie, apoptotische Oligo- sionen gefunden werden, ist der Übergang zu einer MS sehr
dendrozyten wahrscheinlich. Ob beim klinisch isolierten Syndrom schon
Schwächere T-Zellinfiltration
mit einer immunmodulatorischen Therapie begonnen werden
Gestörte Myelinexpression: selektiver Verlust von
soll, ist umstritten.
MAG, Überexpression von MOG
Muster IV Primäre Degeneration von Oligodendrozyten in 3Verlaufsformen. Die wichtigsten Verlaufsformen der MS
der weißen Substanz
sind in . Abb. 22.2 erläutert. Wir unterscheiden
Vollständiger Oligodendrozytenverlust im Plaque
4 den schubförmigen Verlauf,
T-Zell- und Makrophageninfiltration
4 den schubförmig-progredienten Verlauf,

. Tabelle 22.2. McDonald-Diagnosekriterien


Subgruppe Diagnosekriterien Erläuterung
Sichere Multiple Sklerose
1 Mindestens zwei klinische Schübe und zwei Die räumliche und zeitliche Dissemination ist klinisch nachgewiesen.
oder mehr objektive Läsionen.
2 Mindestens zwei klinische Schübe und nur Nur eine zeitliche Dissemination ist klinisch nachgewiesen.
eine objektive Läsion. Die räumliche Dissemination muss zusätzlich durch ein »positives« MRT
(nach den McDonald Kriterien, 7 Exkurs unten) nachgewiesen werden
oder
es müssen ein »MS-typischer« Liquor und zwei, mit MS vereinbare Läsi-
onen im MRT vorhanden sein.
3 Nur ein klinischer Schub und zwei oder mehr Nur eine räumliche Dissemination ist klinisch nachgewiesen.
objektive Läsionen. Die zeitliche Dissemination muss im MRT (Verlaufsuntersuchungen mit
einem mindestens dreimonatigen Abstand) nachgewiesen werden oder
ein weiterer klinischer Schub
4 Monosymptomatische klinische Präsentation Räumliche und zeitliche Dissemination müssen durch Zusatzuntersu-
chungen nachgewiesen werden.
MRT (durch Verlaufsuntersuchungen im mindestens dreimonatigem
Abstand) nachgewiesene zeitliche Dissemination oder
Progression über ein Jahr und räumliche Dissemination im MRT oder
»positives« MRT und VEP und typische Liquorbefunde
5 Keine Schübe, von Beginn an Progression räumliche Dissemination im MRT oder
und eine objektive Läsion, d.h. primär pro- 2 oder mehr MS-typische Läsionen im MRT mit positivem Liquorbefund
grediente MS. UND
zeitliche Dissemination im MRT
Mögliche MS
6 Mindestens zwei klinische Schübe und nur Zusatzuntersuchungsbefunde sind nicht ausreichend für die Diagnose
eine objektive Läsion sichere MS.
7 Nur ein klinischer Schub, zwei oder mehr Zusatzuntersuchungsbefunde sind nicht ausreichend für die Diagnose
objektive Läsionen sichere MS.
8 Nur ein klinischer Schub und eine objektive Zusatzuntersuchungsbefunde sind nicht ausreichend für die Diagnose
Läsion sichere MS.
22 9 Kein Schub, von Beginn Progression. Zusatzuntersuchungsbefunde sind nicht ausreichend für die Diagnose
sichere MS. Spricht für mögliche spinale Verlaufsform
22.1 · Multiple Sklerose (MS)
505 22
4 den primär progredienten Verlauf und den aus den schub-
förmigen Verläufen entstehenden
4 sekundär progredienten Verlauf.

Schubförmiger Verlauf. Zum Verständnis der Einteilung ist die


Definition eines »Schubes« wichtig: Als Schub bezeichnet man
neue klinische Symptome, die subjektiv berichtet oder durch
die Untersuchung objektiviert werden und die mindestens
24 h anhalten. Ein zeitlicher Abstand von mindestens 30 Tagen
zu einem früheren Schub muss bestehen. Das neue Ereignis
muss unabhängig von einer Infektion mit Fieber einstanden
sein. Schübe entwickeln sich akut oder subakut innerhalb
von wenigen Tagen oder 1–2 Wochen. Nach einigen Tagen bis
Wochen tritt eine Rückbildung (Remission) der Symptome ein,
die vollständig oder unvollständig ist. Das Intervall zwischen
zwei Schüben variiert stark und lässt sich nur in Ausnahme-
fällen nach dem Verlauf vorhersagen. Klinisch beginnt die MS
bei über 80% der Patienten mit einem schubförmigen Verlauf.
Häufige Frühsymptome sind die einseitige Optikusneuritis,
Sensibilitätsstörungen oder eine belastungsabhängige Schwä-
che der Beine. Bei den meisten Patienten bilden sich die Symp-
tome eines Schubes innerhalb der ersten 6–8 Wochen zurück.
Beim natürlichen Verlauf der unbehandelten Erkrankung liegt
die Schubrate initial bei etwa 2 Schüben pro Jahr und nimmt
dann in den Folgejahren kontinuierlich ab. Eine hohe Anzahl . Abb. 22.2a–h. Schematische Darstellung der wichtigsten Ver-
von Schüben innerhalb der ersten beiden Krankheitsjahre ist laufsformen der MS. a Schubweiser Verlauf mit vollständigen Remis-
oft mit rascherer Progredienz verbunden. Der zweite Schub sionen, b schubweiser Verlauf mit unvollständigen Remissionen: zwi-
tritt bei 25–50% der Patienten innerhalb des ersten Jahres, bei schen zwei Schüben kein Fortschreiten der Symptomatik, aber im
60% innerhalb von 3 Jahren ein. Bei 50% der Kranken kommt Zeitverlauf nimmt die Behinderung zu, c primär fortschreitender Ver-
es innerhalb von 10 Jahren zum Übergang in eine der progre- lauf ohne Schübe und Remissionen, d primär fortschreitender Verlauf
dienten Verlaufsformen (. Abb. 22.2) mit Perioden von Stillstand und/oder gelegentlicher Besserung; e se-
kundär fortschreitender Verlauf: nach wenigen Schüben stellt sich ein
Selten kommen foudroyante Schübe vor, in denen die Pa-
chronisch fortschreitender Verlauf ein, f nach einigen Schüben chro-
tienten wenige Wochen nach der ersten Manifestation der
nisches Fortschreiten mit gelegentlichen Schüben und leichten Re-
Krankheit sterben. Solche Verläufe sieht man eher in jüngeren missionen, g fortschreitend schubweiser Verlauf: von der ersten Mani-
Jahren. Die Lebenserwartung wird durch die Krankheit kaum festation an chronische Verschlechterung mit dazwischen auftre-
verkürzt. 1/3 der Patienten haben über eine sehr lange Zeit tenden Schüben und Remissionen, h ähnlicher Verlauf wie g, aber
keine und 1/3 nur eine geringe Behinderung. keine vollen Remissionen. (Nach Lublin et al. 1996)

Exkurs
Die MRT-Kriterien der örtlichen und zeitlichen Dissemination
(McDonald-Klassifikation, in ihrer Modifikation aus dem Jahre 2005)
Entscheidend ist der Nachweis einer räumlichen und zeitlichen Dissemination:
5 Räumliche Dissemination: Erfüllung von mindestens 5 Zeitliche Dissemination:
drei der folgenden vier Kriterien für die radiologische 1. Nachweis einer KM-aufnehmenden Läsion mindestens
Diagnose (sog. McDonald-Kriterien) 3 Monate nach Beginn des initialen klinischen Ereig-
1. mindestens eine Läsion mit KM-Aufnahme oder, falls nisses. Es sei denn, die Lokalisation der Läsion korres-
keine Läsion KM aufnimmt, neun hyperintense pondiert mit der initialen Symptomatik oder
Läsionen auf T2- oder FLAIR-Bildern 2. Nachweis einer neuen Läsion auf T2-Bildern zu jedem
2. mindestens eine infratentorielle Läsion (Eine Rü- Zeitpunkt verglichen mit einer Referenzuntersuchung,
ckenmarksläsion ist einer infratentoriellen Läsion die mindestens 30 Tage nach Beginn des initialen
äquivalent.); klinischen Ereignisses angefertigt wurde.
3. mindestens eine subkortikale Läsion
4. mindestens drei periventrikuläre Läsionen, außer-
dem Nachweis einer zeitlichen Dissemination.
506 Kapitel 22 · Multiple Sklerose und andere immunvermittelte Enzephalopathien

Primär progredienter Verlauf. Etwa 10% der Patienten haben zelfalles, möglichst unter Berücksichtigung früherer Schwan-
von Beginn an keine abgrenzbaren Schübe, sondern ver- gerschaften, beantwortet werden. Bei Abwägung aller Faktoren
schlechtern sich langsam progredient. Dies wird als primär wird man dem Wunsch der Frau nach Schwangerschaftsun-
progredienter Verlauf bezeichnet. Es findet sich dann häufig terbrechung meist entsprechen.
eine über Jahre zunehmende spastische Gangstörung, seltener
> Die MS hat oft eine bessere Prognose als häufig ange-
auch ein progredientes zerebelläres Syndrom.
nommen wird. Medikamentöse und krankengymnas-
tische Behandlung können Schübe abkürzen und
3Diagnosekriterien. Die Diagnose ist klinisch sicher zu
Symptome bessern.
stellen, wenn wenigstens zwei Schübe aufgetreten sind, die
sich auf multilokuläre Läsionen im ZNS zurückführen lassen, 3Symptome. Für die Entwicklung der Symptome lassen
oder wenn multifokale Symptome mehr als ein Jahr chronisch sich keine festen Regeln aufstellen. Deshalb besprechen wir
progredient waren. Ein positiver Liquorbefund unterstützt die zunächst die wichtigsten Symptome im Einzelnen und erst da-
Diagnose. Positiv ist der Liquorbefund, wenn lokale IgG-Pro- nach einige typische Kombinationen, die den Verdacht auf MS
duktion im ZNS, oligoklonale Banden und/oder geringe, lym- lenken müssen.
phomonozytäre Pleozytose und leichte Eiweißvermehrung
nachgewiesen sind. Häufig findet man noch die alte Eintei- 4 Optikus- und Retrobulbärneuritis. Die Sehnervenneuritis
lung der Diagnosekriterien nach Poser, die die Kategorien kann einseitig oder doppelseitig den ganzen N. opticus ergrei-
»klinisch sichere MS«, »laborunterstützte MS« und »klinisch fen, so dass die Patienten vorübergehend erblinden oder trübe
wahrscheinliche MS« unterschied. Sie wurde inzwischen sehen, wie durch Milchglas oder durch einen Schleier. Am
durch die McDonald-Kriterien ersetzt (. Tab. 22.2). Sind die Augenhintergrund besteht dabei oft eine Anschwellung der
Kriterien bei Verdacht nicht erfüllt, lautet die Diagnose »Mög- Sehnervenpapille. Bildet sich die Neuritis N. optici ganz zu-
liche MS«. rück, haben die Patienten nach wenigen Wochen wieder ihren
Diese Kriterien tragen der Bedeutung der MRT-Befunde vollen Visus. Oft aber kommt es zu einer bleibenden Entmar-
(s.u.) Rechnung. Gleichzeitig wird die Diagnose einer »primär kung und sekundären Sklerose. Das betroffene Auge bleibt
chronisch progredienten MS« besser berücksichtigt. In den dann amblyop. Am Augenhintergrund findet man eine un-
neuen Diagnosekriterien wird ausdrücklich auf die Forderung scharf begrenzte Sehnervenpapille als Zeichen einer sekundä-
hingewiesen, dass die vorliegenden neurologischen Symp- ren Optikusatrophie.
tome durch »nichts besser als durch das Vorliegen einer MS« Noch typischer ist die retrobulbäre Optikusneuritis, bei der
erklärt werden können. nur das zentral gelegene papillomakuläre Bündel erkrankt. In
diesen Fällen leidet das zentrale Sehen, und die Patienten kön-
3Prognose. Eine individuelle Prognose ist am Anfang der nen z.B. kleine Druckschrift nicht mehr lesen. Die Sehstörun-
Krankheit nicht zu stellen. Nach einem Schub oder wenigen gen treten manchmal nur für kurze Dauer nach Anstrengungen
Schüben kann eine Remission von vielen Jahren eintreten, in oder bei Temperaturerhöhung auf. Im akuten Stadium ist die
denen der Patient fast unbehindert lebt und arbeitet. Deshalb Papille unauffällig. Bei Defektheilung bleibt ein Zentralskotom
waren wir in der Vergangenheit zurückhaltend damit, den bestehen. Jetzt kann man ophthalmoskopisch eine temporale
Kranken die Verdachtsdiagnose früh zu nennen. Viele Pa- Abblassung der Sehnervenpapille feststellen. Diese Lokalisation
tienten sehen sich, wenn die Diagnose genannt wird, in naher beruht darauf, dass die makulopapillären Fasern im temporalen
Zukunft im Rollstuhl. Dennoch hat sich die Situation geän- Sektor der Papille gelegen sind. In 20% findet sich in der Peri-
dert: Da bei sicherer Diagnose und Nachweis einer Krank- pherie des Augenhintergrundes eine Periphlebitis retinae.
heitsaktivität die sofortige Einleitung einer Schubprophylaxe
> Bei der akuten Retrobulbärneuritis sieht der Patient
indiziert ist, muss die Diagnosenennung bei Diagnosestellung
»nichts« (Visusverlust), und auch der Arzt sieht nichts
erfolgen.
(normaler ophthalmoskopischer Befund).
Prognostisch eher günstige Faktoren sind der monosymp-
tomatischer Beginn, überwiegend sensible Symptome, die kur- Der Befall des N. opticus kann sich wiederholen. Beide Nn. op-
ze Dauer und schnelle Rückbildung der einzelnen Schübe, die tici werden nicht selten in größerem Zeitabstand nacheinander
lange erhaltene Gehfähigkeit, ein Erkrankungsbeginn vor dem ergriffen. Auch bei scheinbar vollständiger Remission lässt sich
35. Lebensjahr und das Fehlen einer intrathekale IgG-Produk- die überstandene Optikus- oder retrobulbäre Neuritis bei den
tion. meisten Patienten durch eine Latenzverzögerung der visuell
Mit einer eher schlechten Prognose verbunden sind frühe evozierten Potentiale (VEP) nachweisen.
schwere Schübe langer Dauer und unvollständige Rückbil- Retrobulbäre Neuritis ist in etwa 30% der Fälle, d.h. keines-
dung, viele MRT-Läsionen zu Beginn der klinischen Sympto- wegs immer, ein Erstsymptom der MS. Das Risiko, später an
matik und eine intrathekale IgM-Produktion. MS zu erkranken, ist umso größer, je jünger die Patienten sind.
Andere Ursachen sind: Diabetes, Alkoholabusus, Nebenhöhlen-
3MS und Schwangerschaft. Während der Gravidität ist die entzündung. Viele Fälle bleiben unaufgeklärt. Wenn sich eine
Schubrate statistisch geringer als bei nicht schwangeren Pati- MS entwickelt, geschieht das in den ersten 4, ausnahmsweise
22 entinnen. Nach der Entbindung ist sie statistisch 2- bis 3-mal 6 Jahren. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Patienten mit Op-
höher. Die Frage, ob die MS ein Grund zur Schwangerschafts- tikusneuritis im Alter von 45 Jahren oder älter später noch eine
unterbrechung ist, kann nur nach den Bedingungen des Ein- MS bekommen.
22.1 · Multiple Sklerose (MS)
507 22
4 Okulomotorikstörungen. Charakteristisch sind flüchtige angeordnet. Es kommen aber auch fleckförmige Sensibilitäts-
Augenmuskellähmungen mit Doppelbildern, die ohne Kopf- störungen an den Extremitäten vor. Häufig ist das Nackenbeu-
schmerzen auftreten. Besonders häufig ist der N. abducens be- gezeichen nach Lhermitte positiv.
troffen, etwas seltener der N. trochlearis und, stets nur inkom-
plett, der N. oculomotorius. Sein parasympathischer Teil bleibt 4 Blasenstörungen. Diese sind häufig (20%) und äußern
meist frei. Die Lähmungen sind meist einseitig und nie symmet- sich als Retention oder als Dranginkontinenz (Urge-Inkonti-
risch. Es können auch mehrere Augenmuskelnerven ergriffen nenz), die, auch im Hinblick auf die Therapie, urologisch wei-
werden. Die internukleäre Ophthalmoplegie wird bei Multipler ter differenziert werden müssen. Der Restharn kann mit einer
Sklerose häufig beobachtet. Sie tritt oft doppelseitig auf. Ultraschall-B-Mode-Technik gemessen werden. Lähmungen
des M. sphincter ani kommen kaum vor.
4 Funktionsstörung anderer Hirnnerven. Während die kau-
dalen Hirnnerven fast immer frei bleiben, werden der N. facia- 4 Kleinhirnfunktionsstörungen. Der Befall des zerebellären
lis und der sensible Trigeminus befallen. Die MS kann Ursache Systems zeigt sich als Charcot-Trias: Nystagmus, Intentions-
einer Trigeminusneuralgie sein. Diese Form ist häufiger als die tremor, skandierendes Sprechen.
»idiopathische« Trigeminusneuralgie (7 Kap. 16). Unter den verschiedenen Formen des zentralen Nystag-
Hemifaziale Myokymie ist für MS sehr typisch. Andere mus sind der horizontale, besonders der dissoziierte und der
Ursachen (Brücken- oder Kleinhirnbrückenwinkeltumoren) vertikale Blickrichtungsnystagmus für MS besonders charak-
sind viel seltener. Manchmal sieht man auch die Symptom- teristisch. Außer der Charcot-Trias kommen alle weiteren,
kombination: halbseitige Gefühlsstörung im Gesicht und auf zerebellären Bewegungsstörungen vor, die im Abschnitt über
der Zunge mit halbseitiger Geschmacksstörung. das Kleinhirn beschrieben sind. Funktionell besonders behin-
dernd ist manchmal ein sehr ausgeprägter, zerebellärer Tre-
4 Paresen. Zentrale Paresen sind sehr häufig. Die distalen mor. Hierher gehört auch die Blickdysmetrie: überschießende
Gliedabschnitte sind stärker als die proximalen betroffen. Man Blickbewegungen mit anschließenden Korrekturrucken.
beobachtet alle Abstufungen der spastischen Lähmung von der
Beeinträchtigung der Feinmotorik und Steifigkeit des Ganges 4 Kognitive Veränderungen und psychische Veränderun-
bis zur kompletten Para-, Tetra- oder Hemiplegie. Die Muskel- gen. Bei etwa 50–70% der Patienten findet man in Abhängig-
eigenreflexe sind meist gesteigert. Spastische Tonuserhöhung keit vom Verlaufstyp kognitive Beeinträchtigungen. Vor allem
und Kloni treten im Verlauf hinzu. Die Spastik kann extreme Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsdefizite sowie Beeinträch-
Ausmaße annehmen und den Patienten funktionell unbeweg- tigungen der kognitiven Flexibilität sind häufig und können
lich machen. In 70% der Fälle sind die BHR abgeschwächt oder auch schon in der Frühphase der Erkrankung messbar vorhan-
erloschen. Dies ist ein wichtiges Frühsymptom. den sein. Im weiteren Verlauf kann es zu einer allgemeinen
Ein weiteres Frühsymptom ist eine allgemeine Mattigkeit intellektuellen Nivellierung kommen. Einzelne kognitive Teil-
und rasche Ermüdbarkeit. Die Ursachen dafür sind im Einzelfall leistungsstörungen sind dabei durch die Wirkung von Läsio-
nicht immer aus dem neurologischen Untersuchungsbefund ab- nen in für diese Leistungen wichtigen kortikalen Arealen zu
zuleiten. Dennoch ist das Symptom häufig frühzeitig anzutref- erklären (so genannte »strategische Läsionen«). Eine allge-
fen und begrenzt die Leistungsfähigkeit der Kranken stark. meine intellektuelle Beeinträchtigung ist dagegen eher die
Folge der kumulierten Wirkung kortexnaher Läsionen. Man
4 Sensibilitätsstörungen. Die Patienten klagen über an- spricht hier von einem multiplen Diskonnektionssyndrom, das
dauernde Missempfindungen, über Taubheit, Pelzigkeit oder auftritt, sobald eine gewisse quantitative Schwelle an Läsionen
Kribbeln, vor allem in Händen und Füßen. Schmerzen sind überschritten ist.
sehr selten. Im psychischen Befund sind Kranke, die an MS mit zere-
Bei der Untersuchung findet man die Berührungsempfin- braler Lokalisation leiden, oft durch eine Euphorie auffällig.
dung vermindert. Selten ist das Tasterkennen aufgehoben. Diese äußert sich nicht immer als durchgehend heitere Grund-
Durch Beeinträchtigung der Lageempfindung kommt es zur stimmung. Häufiger ist das Fehlen einer Betroffenheit über die
sensiblen Ataxie. Dadurch wird auch die Feinmotorik erheb- Krankheit, eine optimistische Einstellung, selbst wenn der Ver-
lich gestört. Schmerz- und Temperaturempfindung sind meist lauf bisher chronisch fortschreitend war. Mit der ausgeprägten
intakt. Die Gefühlsstörungen sind an Armen und Beinen Euphorie bzw. Anosognosie gehen eigentlich immer aus-
handschuh- und strumpfförmig, am Rumpf querschnittsartig geprägte kognitive Defizite (vor allem auch exekutiver Funk-

Exkurs
MS-Skalen für Studien und Dokumentation (7 Anhang)
EDSS (Encephalomyelitis-disseminata-Symptom-Skala). rungen von leichten Symptomen über begrenzte Gehstrecke,
Die EDSS-Skala erfasst auf 11 Stufen von 0–10 den Grad der Benötigen von Gehstützen, Rollstuhlpflichtigkeit bis hin zu
Behinderung von MS-Patienten. Sie ist stark auf die moto- völliger Abhängigkeit und Bettlägerigkeit.
rischen Funktionen, vor allem das selbstständige Gehen
gewichtet. Der Skalenwert 1 beschreibt einen fast normalen MS-functional-composite Skala. Diese berücksichtigt die
Befund, der Wert 10 den Tod. Dazwischen liegen Graduie- Fingerfeinmotorik und kognitive Symptome.
508 Kapitel 22 · Multiple Sklerose und andere immunvermittelte Enzephalopathien

tionen) einher, so dass man diese »Wesensänderung« als Aus- Die Leitfähigkeit der zentralen Nervenbahnen bei MS
druck einer komplexeren neuropsychologischen Syndroms hängt übrigens stark von der Temperatur ab (Uthoff-Phäno-
begreifen sollte und nicht als isolierte Symptomatik. Aber auch men). Wärme führt zu einer Verschlechterung, Abkühlung zu
depressive Verstimmungen, Antriebsarmut und ein recht ty- einer Besserung der Symptome.
pisches Syndrom des Überfordertseins mit Abgeschlagenheit
und Müdigkeit (Fatigue) kommen häufig vor. Gerade das letz-
tere findet man nicht selten bei Patienten mit hoher Läsions- 22.1.3 Diagnostik
last, aber relativ gering ausgeprägten neurologischen Herd-
symptomen. Liquor
In schweren Fällen reagieren die Patienten auf jede Zuwen- Der Liquor ist in mehr als 90% der Fälle pathologisch verän-
dung mit flacher Heiterkeit und Lachen, selbst dann, wenn sie dert. Man findet eine leichte Vermehrung der Lymphozyten
durch ihre Ataxie das Gleichgewicht verlieren. Die Euphorie auf 10–20, selten bis zu 30 Zellen pro μl. Weiter ist das Auftre-
tritt besonders gemeinsam mit einer zerebellären Bewegungs- ten von Plasmazellen, die sich beim Gesunden im Liquor nicht
störung auf (»wer wackelt, lacht« ). Im späteren Verlauf entwi- finden, für MS charakteristisch, aber nicht pathognomonisch.
ckeln sich, wie bei allen organischen Hirnkrankheiten, kogni- Sie kommen auch bei anderen entzündlichen Krankheiten des
tive Einbußen bis zur Demenz. ZNS, seiner Häute und der Nervenwurzeln vor.

4 Typische Symptomkombinationen. Grundsätzlich kön- Lokale IgG-Produktion und oligoklonale Banden. Das Gesamt-
nen alle diese Symptome ganz wahllos miteinander auftreten. eiweiß kann auf Werte zwischen 0,60–0,80 g/l erhöht sein. Bei
Es gibt aber doch einige typische Kombinationen, die häufiger höheren Zell- und Eiweißwerten muss man an der Diagnose
wiederkehren und die Diagnose wahrscheinlich machen: zweifeln. Oft ist die Gesamtmenge des Eiweiß aber normal,
4 Gefühlsstörungen an den Händen und spastische Parapa- und es besteht nur eine relative Vermehrung der IgG-Fraktion.
rese der Beine, Die IgG-Vermehrung im Liquor wird durch den Eiweißquoti-
4 spastisch-ataktischer Gang mit Missempfindungen und enten (. Abb. 3.2) erfasst. Sehr nützlich ist die zusätzliche, gra-
Blasenstörungen, phische Darstellung der Liquorproteinprofile, die es erlaubt,
4 inkomplettes Querschnittssyndrom mit Nystagmus und Schrankenstörungen und autochthone IgG-Produktion in
skandierendem Sprechen, Kombination oder isoliert zu erfassen.
4 rezidivierende, flüchtige Lähmungen wechselnder Augen- Ein IgG-Quotient über 0,8 QAlb zeigt eine lokale IgG-Pro-
muskelnerven. duktion im ZNS an und ist bei entsprechender klinischer
Symptomatik ein starker Hinweis auf MS. Es muss berücksich-
Pathognomonisch für Multiple Sklerose soll das Syndrom tigt werden, dass auch andere Krankheiten, wie SSPE, chro-
»paroxysmale Dysarthrie und Ataxie« sein: täglich mehrmals nische Virusenzephalitis, entzündliche Polyradikulitis, Borre-
einsetzende Anfälle von bulbärer Dysarthrie und schwerer liose des ZNS und Neurosyphilis zu einer autochthonen IgG-
Ataxie, die bis zu 15 s dauern und manchmal von Gefühlsstö- Produktion im ZNS führen. Die Differentialdiagnose ist aber
rungen im Trigeminusgebiet begleitet sind. klinisch und mit Labormethoden gut möglich.
Mit der Methode der isoelektrischen Fokussierung lässt
4 Weitere Symptome. Es werden auch halbseitige, tonische sich qualitativ eine vermehrte IgG-Produktion nachweisen in
Anfälle beobachtet, ferner flüchtige Doppelbilder, paroxysmale Form eines oligoklonalen Banden-Musters (OKB). Die Sensi-
Akinese, paroxysmale Gefühlsstörungen und Schmerzen. tivität dieser Methode liegt bei Patienten mit MS bei ca. 98%.
Diese intermittierenden Funktionsstörungen beruhen darauf, Bei ihnen finden sich isoliert im Liquor als Ausdruck einer
dass bei einem beginnenden Entmarkungsprozess die Axone autochtho-nen IgG-Produktion oligoklonale Banden. Das
in ihrer Funktion labil sind. Ihre Leitfähigkeit ist gerade noch parallel untersuchte Serum zeigt ein normales polyklonales
erhalten, kann aber bei Veränderungen des inneren Milieus Muster. Bei der MS liegt eine polyspezifische Immunreaktion
vorübergehend zusammenbrechen. vor mit einer Vermehrung verschiedener Antikörperspezies.

Exkurs
Autoantikörper bei Multipler Sklerose
Bei einigen MS-Patienten lassen sich Antikörper- und Kom- genen T-Zellen erzeugt in der experimentellen autoimmunen
plementablagerungen oder eine astrozytäre Synthese von Enzephalomyelitis (EAE) einen schwereren Krankheitsverlauf.
BAFF (B-Zell-Wachstumsfaktor) in ZNS-Läsionen nachweisen. Contactin-2/TAG-1 (transiently expressed axonal glycopro-
Einige serologisch bei MS-Patienten nachweisbare Antikör- tein) ist in den juxtaparanodalen Regionen myelinisierter
per haben noch eine mögliche pathogene Bedeutung für Fasern lokalisiert und wird durch Oligodendrozyten,
einen axonalen Schaden. Dies gilt für Antikörper gegen Schwann-Zellen und Axone exprimiert. Contactin-2/TAG-1-
Neurofascin und Contactin-2/TAG-1. Neurofascin wird u.a. spezifische T-Zellen verursachen ebenfalls schwere Verläufe in
an den Ranvier`schen Schnürringen myelinisierter Axone der EAE. Die klinische Bedeutung dieser und anderer seltener
22 exprimiert und der Cotransfer-Komplement-bindender- MS-assoziierter Autoantikörper ist noch nicht geklärt.
Neurofascin-Antikörper mit MOG-spezifischen enzephalito-
22.1 · Multiple Sklerose (MS)
509 22
Eine besondere Position nimmt die Kombination der Ver-
mehrung der Antikörper gegen Masern, Röteln und Herpes
zoster (MRZ) ein, die bei ca. 90% der MS-Patienten nachge-
wiesen werden kann (MRZ-Reaktion).
Die beschriebenen Liquorveränderungen sind oft auch
während der klinischen Remission nachzuweisen. Dies zeigt
deutlich, dass der Krankheitsprozess auch bei scheinbarem
Stillstand weiter abläuft.
> Die oligoklonalen Banden sind zwar sehr empfind-
liche, aber wenig spezifische Indikatoren. Sie lassen
sich bei vielerlei Infektionen des ZNS, bei Vaskulitis
und auch ohne erkennbare Beziehung zu einem
Krankheitsprozess nachweisen.

Elektrophysiologie. Mit Hilfe der sensiblen und sensorischen


Reaktionspotentiale, des Blinkreflexes sowie der transkrani-
ellen Magnetstimulation lassen sich subklinische Läsionen oft
erkennen (. Abb. 22.3). Dies gilt vor allem für den Nachweis
verzögerter VEP bei Patienten, die nicht über aktuelle oder
frühere Sehstörungen klagen.
Die elektrophysiologische Untersuchung schließt neben
den VEP den Blinkreflex, akustischen und sensiblen evozierten
Potentiale und die motorischen Potentiale nach kortikale Mag-
netstimulation ein. Sie hat große Bedeutung für den Nachweis
multipler Läsionen im ZNS.

CT. Das CT hat keine diagnostische Bedeutung bei der MS-


Abklärung. Wenn es dennoch, meist aus differentialdiagnosti-
. Abb. 22.3. a Pathologisch verzögerte Muskelantworten aus der schen Gründen, angefertigt wurde, findet man am häufigsten
linken Thenarmuskulatur nach kortikaler Magnetstimulation.
eine über die Altersnorm hinausgehende Minderung des Hirn-
Oben: Normalbefund. Patientin mit Multipler Sklerose, bei der die
neurologische Untersuchung keine Pyramidenbahnschädigung auf-
volumens.
deckte. Unten: b Registrierung der frühen akustischen Hirnstamm-
potentiale (FAHP) bei einer Patientin mit gesicherter MS. Obere MRT. Entscheidende diagnostische Bedeutung kommt heute
Ableitung: Stimulation von rechts, normales Potential. Untere Ablei- der MRT zu. Mit der MRT konnte gezeigt werden, dass die
tung: Stimulation von links, pathologisch verzögertes Potential Aktivität der MS in jedem Stadium weit größer ist als man nach

a b c

. Abb. 22.4. Multiple Sklerose mit typisch lokalisierten Herden im ventrikelnahen Marklager (FLAIR, sagittal) (a), infratentoriell im Klein-
hirnstil rechts (b) und im Zervikalmark (c)
510 Kapitel 22 · Multiple Sklerose und andere immunvermittelte Enzephalopathien

Virchow-Robin-Räume und vaskuläre Läsionen bei zerebraler


Mikroangiopathie.

22.1.4 Therapie und Prophylaxe

Akuter Schub
4 Im akutem Schub ist die hochdosierte Kortisonpulsthera-
pie (je 1.000–2.000 mg Methylprednisolon über 3 Tage bis
5 Tage, . Tab. 22.5) das Mittel der Wahl. Sie verkürzt die Dauer
der Schübe.
4 Manchmal wird anschließend über mehrere Wochen mit
oralem Kortison ausschleichend weiterbehandelt. Die be-
kannten Kautelen bei Kortikoidbehandlung sind zu berück-
sichtigen (Magenschutz).
4 Initiale orale Dosen von 100 mg pro Tag haben auf die
Schübe keine bessere Wirkung als Plazebo.

. Abb. 22.5. Sehnerv. Retrobulbärneuritis rechts in koronarer Dar- Eskalationstherapie. Nach Versagen der initialen Steroidbe-
stellung nach Kontrastmittelverstärkung. (B. Kress, Frankfurt) handlung Folgebehandlung mit höherer Dosis, danach ggf.
Plasmapherese (s. . Abb. 22.7).

dem neurologischen Status annehmen würde. Beispiele für Cyclophosphamid. Bei sehr schweren, lebensbedrohlichen
MRT-Befunde bei MS gibt . Abbildung 22.4. Auch den Befall Schüben, die auf Steroide nicht ansprechen, geben wir Cyclo-
des Sehnerven kann man darstellen (. Abb. 22.5) Mit KM las- phosphamid (Endoxan®), entweder als Stoßtherapie (1-mal 1 g
sen sich Schrankenstörungen in Entzündungsherden nachwei- i.v.) oder kontinuierlich (50–100 mg/Tag). Die Stoßtherapie er-
sen. Frische Läsionen nehmen für eine Zeit von 3 Wochen bis folgt monatlich bis zur Befundstabilisierung über 3–6 Monate.
3 Monaten Kontrastmittel auf (. Abb. 22.6). Läsionen ohne Regelmäßige Kontrollen von Blutbild, Infektparameter und
KM-Aufnahme sind wahrscheinlich durch ein vasogenes Urinstatus sind unter der Therapie unbedingt erforderlich.
Ödem entstanden. Auch länger bestehende Läsionen können
im Verlauf wieder KM aufnehmen. Plasmapherese. In verzweifelten Fällen mit schwerster, lebens-
Eine unmittelbare Beziehung zwischen den abgebildeten bedrohlicher Symptomatik wird manchmal eine Plasmapherese
Läsionen und dem neurologischen Befund besteht nicht, aber (5 Zyklen) eingesetzt.
dennoch erlaubt der MRT-Befund (»Läsionslast«) anlässlich
der ersten Manifestationen eine grobe Voraussage auf den zu Schubprophylaxe bei schubförmigem Verlauf
erwartenden Krankheitsverlauf. In der Schubprophylaxe bei noch schubförmig verlaufender MS
Die Erfahrung lehrt, dass kleinere multilokuläre Herde gibt man Interferone, Glatirameracetat, selten noch Azathi-
und größere Bezirke veränderter Signalintensität, die nach opren und auch Immunglobuline. Die Auswahl der geeigneten
Lokalisation und formalen Charakteristika nicht für MS spre- Prophylaxe sollte in einer Spezialambulanz mit fester Zuord-
chen, häufig irrtümlich als MS-Herde angesprochen werden. nung der Patienten zu den einzelnen Ärzten stattfinden. Appli-
Hierzu gehören u.a. die (nichtpathologischen) perivaskulären kationsform und Nebenwirkungen bestimmen die Wahl.

. Abb. 22.6a,b. MS Herd vor und nach Gadoliniumgabe


mit deutlicher Kontrastmittelaufnahme. (B. Kress, Frankfurt)

22
a b
22.1 · Multiple Sklerose (MS)
511 22

. Abb. 22.7. Eskalationstherapie bei MS-Schub

Leitlinien Diagnostik und Therapie der MS*


4 Gemäß den neuen Diagnosekriterien kann bei objekti- 4 Bei nicht ausreichendem Ansprechen auf die Basistherapie
viertem initialem Schubereignis bereits nach 31 Tagen durch wird zunehmend Tysabri als erstes Präparat der Eskalations-
Nachweis neuer T2-Läsionen und damit der zeitlichen und therapie vor Mitoxantron bei hochaktiver schubförmiger MS
örtlichen Dissemination in der MRT die Diagnose MS gestellt eingesetzt (C).
werden (A). 4 Bei Therapie mit Natalizumab (Tysabri) sollte im Sinne
4 Für die Frühtherapie mit s.c. IFN-β1b nach dem ersten der Pharmakovigilanz nach Hinweisen auf mögliche Neben-
Schub konnte erstmalig auch eine positive Wirkung auf den wirkungen einer intensiven Immunintervention (wie z.B. op-
Behinderungsgrad, gemessen im EDSS nach 3 Jahren, doku- portunistische Infektionen) gesucht werden.
mentiert werden (A). 4 Wegen beschriebener seltener Leberfunktionsstörungen
4 Bei funktionell beeinträchtigenden Schüben, die nicht ist bei Natalizumab ein gezieltes Labormonitoring angezeigt.
ausreichend auf hochdosierte Kortisonstoßtherapien an- 4 Der therapeutische Nutzen der immunmodulatorischen
sprechen, lässt sich durch eine Plasmapherese innerhalb von Therapie kann klinisch im Allgemeinen frühestens nach ca. 12
4 (–6) Wochen nach dem Schub bei bis zu 70% der Patienten Monaten abgeschätzt werden.
doch noch eine weitgehende oder komplette Rückbildung 4 Die quantitative Erfassung klinischer Befunde anhand
der Schubsymptome erreichen (B). etablierter Skalen (EDSS und MSFC) sollte unter der Therapie
4 Die Therapie mit Natalizumab (Handelsname: Tysabri) in den ersten beiden Jahren alle 3 Monate und bei Stabilisie-
hat in den Zulassungsstudien zu einer deutlich stärkeren rung im Weiteren alle 6 Monate erfolgen (B).
Schubreduktion geführt als die Basistherapeutika (A). Aller- 4 Patientenschulung, Injektionstraining und konsequente
dings existiert kein direkter Vergleich und die MS-Patienten- Behandlung von Nebenwirkungen der Basistherapie verbes-
kollektive dieses Jahrzehnts sind weniger schwer erkrankt sern die Adhärenz.
als bei den IFN-β-Studien der 90er Jahre. 4 MRT-Kontrolluntersuchungen sollten als ergänzende
4 Aufgrund potenzieller schwerer Nebenwirkungen von Untersuchung bei Verdacht auf Therapieversagen durchge-
Tysabri, die allerdings nur in der Kombinationstherapie mit führt werden (B).
anderen immunmodulierenden bzw. immunsuppressiven
Substanzen auftraten, wurde das Präparat von den Zulassungs-
behörden ohne direkte Studienergebnisse nur für die Therapie
der nicht ausreichend auf Basistherapie ansprechenden MS-
Patienten sowie der unbehandelten Patienten mit hoher
Krankheitsaktivität als Monotherapie zugelassen (B). * Nach den Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)
512 Kapitel 22 · Multiple Sklerose und andere immunvermittelte Enzephalopathien

. Tabelle 22.3. Prognostische Faktoren für den Übergang einer


die Wirksamkeit der betreffenden Substanz. Ein Wechsel auf
Neuritis nervi optici (ON) in eine klinisch sichere MS Copaxone oder Natalizumab ist dann notwendig.
Hohes Risiko – MRT: mehr als 3 Läsionen
Mitoxantron. Alternativ zu Cyclophosphamid kann auch Mi-
– ON-Rezidive
– Erhöhter IgG-Index oder oligoklonale Banden
toxantron, 20 mg i.v. in Kombination mit 1.000 mg Methyl-
im Liquor prednisolon gegeben werden. Die Therapie wird monatlich
– Weibliches Geschlecht über 6 Monate durchgeführt. Dies stellt schon den Übergang
– Frühes Erwachsenenalter zur Langzeittherapie dar.
– Frühere unspezifische Symptome
Geringes – Normales MRT Glatiramiracetat. Alternativ wird Glatiramiracetat (Copaxo-
Risiko – Gleichzeitig bilaterale ON ne®), täglich 20 mg s.c. eingesetzt. Seine prophylaktische Wir-
– ON im Kindesalter oder nach dem 50. Lebens- kung gleicht der von β-Interferonen. Details siehe Exkurs
jahr Immunmodulatorische Substanzen.

Natalizumab. Natalizumab (Tysabri®) ist ein neues Medika-


Interferone. In mehreren, multizentrischen Doppelblindstu- ment, das seit 2006 zugelassen ist. Es ist ein rekombinanter hu-
dien an MS-Patienten mit schubweisem Krankheitsverlauf ist manisierter, monoklonaler Antikörper, der Adhäsionsmole-
die Wirksamkeit von Interferon β, einem gentechnisch in Bak- küle (α4β1- und α4β7-Integrin) auf der Oberfläche von
terien hergestellten Zytokin mit immunmodulierenden Eigen- Immunzellen bindet.
schaften, nachgewiesen worden. Voraussetzungen waren Le- 4 Natalizumab verhindert effektiv die Einwanderung von
bensalter unter 50 Jahre und Fehlen einer schweren Gehbehin- Entzündungszellen aus dem Blutstrom in das ZNS.
derung. 4 Es senkt die Schubrate um über 70% verglichen mit Plaze-
bo und um mehr als 50% in Kombination mit Avonex, verg-
4 Interferon β-1b (Betaferon®, Etavia®) wird in Dosen von lichen mit Avonex-Monotherapie. Aufgrund gravierender
8 Mio. IE s.c. alle 2 Tage für die Dauer von 2 Jahren gegeben und Nebenwirkungen ist eine strenge Indikationsstellung not-
reduziert nach einer Latenz von 2 Monaten Zahl und Schwere wendig.
der Schübe und Anzahl der aktiven Läsionen im MRT.
4 Die Interferon β-1a Präparate Avonex® (22 μg i.m. 1-mal/ Weitere Substanzen in der klinischen Entwicklung. Cladribin
Woche) und Rebif® 22 μg/44 μg s.c. 3-mal/Woche haben einen (2-CdA) ist ein synthetisches Purinnukleosid-Analogon (vgl.
vergleichbaren Effekt. Unerwünschte Wirkungen waren vor Exkurs S. 515).
allem »grippale« Beschwerden und Depressivität bis zur Sui- Auch zu Fingolimod (FTY720) liegen erste, allerdings
zidgefährdung. In der Schwangerschaft darf die Behandlung noch unvollständige Ergebnisse der großen randomiserten
nicht gegeben werden. TRANSFORMS-Studie vor (7 Exkurs S. 515).

In letzter Zeit kommt der Induktion von neutralisierenden An- Kosten. Die Prophylaxe ist sehr teuer. Monatsbehandlungskos-
tikörpern gegen das Interferon eine zunehmende Bedeutung zu. ten liegen bei über 1000 € pro Patient, und das für eine prophy-
Neutralisierende Antikörper (NAB) gegen IFN-β finden sich in laktische Therapie, deren Effektgröße sicher noch verbessert
zunehmender Häufigkeit bei Avonex®, Rebif® und Betaferon®. werden kann. Der Markt ist entsprechend heiß umkämpft, und
Bei anhaltend hochtitrigen NAB treten wieder vermehrt Schübe die Hinweise auf gewisse Vorteile der einen oder anderen Subs-
auf. Die niedrigste AK-Rate hat Avonex. Antikörper verhindern tanz sind mit Vorsicht zu beurteilen. Andererseits führt diese

Leitlinien Beginn und Dauer der immunmodulatorischen Therapie*


1. Beginn einer immunmodulatorischen Therapie mit und umgekehrt) bzw. Therapieeskalation, wobei Nata-
einem rekombinanten Interferon-ß-Präparat oder Glati- lizumab hierfür an erster Stelle steht (B).
rameracetat, möglichst frühzeitig nach Diagnosestellung 4. Bei nicht tolerablen, lokalen Nebenwirkungen an der
einer schubförmigen MS (McDonald-Kriterien) bei ak- Haut bei s.c. applizierten Präparaten Umstellung auf die
tivem Verlauf (A). zugelassene i.m. Applikationsform oder eines der unter
2. In Abhängigkeit von der individuellen Situation des 2. genannten Präparate (C).
Patienten (z.B. begleitende Autoimmunerkrankungen, 5. Die Entscheidung zur Eskalation der Therapie durch Um-
Kontraindikationen oder ablehnende Haltung gegen- stellung auf Natalizumab (Tysabri) oder Mitoxantron (Rale-
über regelmäßigen i.m./s.c.-Injektionen) kommen wei- nova) sollte immer in Rücksprache mit einem MS-Zentrum
tere Substanzen wie Azathioprin für die Basistherapie durchgeführt werden (C)
infrage (B).
3. Bei anhaltender oder zunehmender Krankheitsaktivität
22 unter der begonnenen Basistherapie Umstellung auf ein * Modifiziert nach Leitlinien der DGN 2008
anderes Wirkprinzip (beispielsweise von IFN-β auf GA (www.dgn.org/leitlinien.html)
22.1 · Multiple Sklerose (MS)
513 22
Exkurs
Natalizumab und PML
Die Wirksamkeit von Natalizumab ist mit hoher Evidenz gesi- Es besteht noch keine Notwendigkeit die Indikation von
chert. Inzwischen gibt es weltweit 10 bestätigte Fälle einer Natalizumab bei Patienten mit mehr als 2 Schüben unter
PML (7 Kap. 19.4.2) unter Monotherapie mit Natalizumab, was bisheriger immunmodulatorischer Therapie zu modifizieren.
einer Inzidenz von einem Fall pro 5.000 Patienten entspricht. Die Dauer der Behandlung ist vor dem Hintergrund der le-
Manche Patienten erkrankten schon im ersten Jahr der Thera- bensbedrohlichen PML bedeutsam, allerdings gibt es hierzu
pie. Patienten mit langem Krankheitsverlauf und multipler noch keine belastbaren Daten. Bei Verdacht auf eine PML
Vorbehandlung scheinen besonders gefährdet zu sein. sollte die Therapie bis zum sicheren Ausschluss unterbrochen
Entscheidend ist die Früherkennung einer PML: sie entwi- werden.
ckelt sich in der Regel subakut, schreitet über mehrere Wo- Nach Absetzen von Natalizumab kommt es zur allmäh-
chen voran und unterscheidet sich so in ihrer zeitliche Ent- lichen Rückkehr der Krankheitsaktivität, aber nicht zu einem
wicklung von einem MS-Schub. Kortikale Sehstörungen, Rebound mit erhöhter Schubrate.
Aphasie und epileptische Anfälle sind typische Symptome
der PML, nicht der MS.

Konkurrenz auch zu positiven Effekten. Verbesserte Injekti- 4 An der Skelettmuskulatur und an den Muskelspindeln
onsbestecke zur Selbstbehandlung und Schwesternschulungen wirkt Dantrolen (z.B. Dantamacrin® 2-mal 25–200 mg/Tag).
gehören hierzu. Die Lebertoxizität macht strenge Überwachung der Enzymak-
Näheres zu den Medikamenten zeigt der nachfolgende Ex- tivitäten notwendig.
kurs und die . Tabelle 22.4a,b. 4 Die zentralnervöse, synaptische Gaba-Hemmung soll
durch Benzodiazepine und Baclofen verstärkt werden (z.B. Li-
Behandlung bei chronisch progredienter MS oresal® bis zu 150 mg/Tag).
Aus den letzten Jahren kommen vermehrt Hinweise auf die 4 Eine mögliche Dämpfung erregender Überträgersubstan-
Wirksamkeit von Mitoxantron, das alleine oder zusammen zen im Zentralnervensystem wird dem Tizanidin zugeschrie-
mit hochdosierten Steroiden gegeben werden kann. Wir set- ben (z.B. Sirdalud® 3-mal 2 mg bis 3-mal 4 mg).
zen heute Cyclophosphamid (Endoxan) oder Mitoxantron 4 Wenn eine schwere Paraspastik mit schmerzhaften Beuge-
(s.o.) ein, wenn Patienten einen schnell progredienten, chro- oder Streckspasmen auf orale, medikamentöse Therapie nicht
nischen Verlauf haben. genügend anspricht, kann man eine kontinuierliche, intrathekale
Für den primär chronischen Verlauf ist ein Einfluss von Baclofen-Therapie über einen implantierten Katheter ausführen.
Immunmodulatoren bisher nicht überzeugend nachgewiesen Die Dosis wird mit einer subkutan implantierten Pumpe regu-
worden. Sekundär chronische Verlaufsformen können dage- liert. Diese Behandlung ist Zentren mit größerer Erfahrung vor-
gen beeinflusst werden. behalten. Manchmal kommt auch eine Botolinumtoxintherapie
Bei den sekundär chronischen Verlaufsformen konnte für für besonders ausgeprägte fokale Spastik in Frage.
die Interferone gezeigt werden, dass sie die Frequenz der auf-
gesetzten Schübe reduzieren, aber den Grad der Behinderung Fatigue. Diese sehr beeinträchtigende Symptomatik kann man
nicht beeinflussen können. Mitoxantron hat einen Effekt auf durch Aktivierungsmaßnahmen, Amantadin p.o. (100–200
die Progression. Die Substanz wird in einer Dosierung von mg/Tag), Modafinil p.o. (200–400 mg/Tag) oder 3,4-Aminopy-
12 mg/qm Körperoberfläche alle 3 Monate bis zur Erreichung ridin (10–30 mg/Tag) versuchen zu beeinflussen. Modafinil, 3,
einer Kumulationsdosis von 140 mg/qm Körperoberfläche ge- 4-Diaminopyridin und Fampridine sind off-label-Indikati-
geben. Möglicherweise sind auch niedrigere Einzeldosen onen.
(8 mg/qm Körperoberfläche) effektiv.
Die Substanz ist potentiell kardiotoxisch, weshalb eine Ge- Zerebellärer Tremor. Medikamentös Carbamazepin, Primi-
samtdosis von 100 mg/m2 Körperoberfläche nicht überschrit- don, Propranolol. Einige Zentren behandeln den therapieresis-
ten werden sollte. tenten zerebellären Tremor operativ mit gezielten Läsionen im
Thalamus oder mit Pallidumstimulation.
Symptomatische Therapie
Blasenstörungen. Patienten mit Blasenstörungen sollen, wie Parästhesien. Behandlung der Parästhesien mit Carbamaze-
alle Kranken mit neurogener Blasenstörung, eingehend urody- pin, Gabapentin oder Pregabalin.
namisch untersucht (Blasendruckmessung, Urogramm, Uro-
flowmetrie) und behandelt werden. Zur Übungsbehandlung Zusätzliche Maßnahmen
gehört die Stimulation der Blase durch Beklopfen der Bauch- Krankengymnastik und Ergotherapie. Diese soll früh einset-
haut oder Crédé-Handgriff. Zur medikamentösen Behandlung zen. Bewegungen und Zielübungen werden im Liegen und
der Blasenstörungen 7 Kap. 1.12.3. Sitzen ausgeführt. Die Kranken lernen im Laufbad und Geh-
apparat und später in der Gymnastikgruppe, die spastisch ge-
Spastik. Folgende Medikamente stehen zur Behandlung der lähmten Gliedmaßen flüssiger zu bewegen und die Störung der
Spastik zur Verfügung: Tiefensensibilität wenigstens teilweise zu kompensieren. Weil
514 Kapitel 22 · Multiple Sklerose und andere immunvermittelte Enzephalopathien

Exkurs
Immunmodulatorische Substanzen zur Schubprophylaxe der Multiplen Sklerose*
Betainterferone. Der Wirkmechanismus beruht auf der Anta- logien zu dem basischen Myelinprotein nimmt man an, dass
gonisierung von Interferon-induzierten proinflammatorischen Glatiramiracetat über eine Interaktion mit HLA-Molekülen auf
Effekten. Darüber hinaus wirken sie möglicherweise über eine der Oberfläche von antigenpräsentierenden Zellen die Aktivie-
Induktion antiinflammatorischer Zytokine, Hemmung der T- rung GLAT-reaktiver Zellen induziert, die ihrerseits myelinreak-
Zell-Proliferation, Steigerung der T-Suppressorzell-Aktivität tive T-Lymphozyten blockieren. Glatiramiracetat supprimiert
und Blockade der Metalloproteinasen und Chemokine. auch T-Zellklone mit Spezifität für Proteolipidprotein und
Die Wirksamkeit von 3 verschiedenen Betainterferonen ist Oligodendrozyten-Glykoprotein und induziert spezifische
durch Studien belegt. Schubfrequenz, die Progression des T-Suppressorzellen. Die Behandlung mit Copolymer 1 ist ver-
Behinderungsgrades und die kernspintomographische fass- gleichsweise gut verträglich. Hautreaktionen an der Einstich-
bare Krankheitsaktivität werden positiv beeinflusst. Indikatio- stelle kommen vor. Mehrere Studien haben bewiesen, dass
nen für eine Behandlung mit Betainterferonen ist ein schub- die Substanz bei schubförmig verlaufender MS etwa gleich
förmiger Verlauf der MS bei noch erhaltener Gehfähigkeit. wirksam ist wie die Interferone
Avonex®, gentechnisch hergestelltes Interferon Beta 1a, Die klinische Wirksamkeit hinsichtlich Schubreduktion,
30 μg (6 Mio. Einheiten), wird einmal pro Woche intramusku- Progression der Behinderung und kernspintomographischer
lär injiziert. Die lokale Verträglichkeit ist sehr gut. Krankheitsaktivität ist durch große, randomisierte Studien
Betaferon, Etavia®, gentechnisch hergestelltes Beta 1b, belegt. Der positive Effekt von Glatiramiracetat verstärkt sich
250 μg (8 Mio. Einheiten) wird jeden zweiten Tag subkutan mit der Dauer der Gabe und ist bei Patienten mit geringer
gespritzt. Zu Beginn der Behandlung treten an der Injektions- Behinderung am größten.
stelle häufig lokale Hautreaktionen (Rötung, Induration) auf, Glatiramiracetat wird täglich subkutan injiziert (1 ml =
im weiteren Verlauf nimmt die Häufigkeit etwas ab. Selten 20 mg/Tag). Lokale Hautreaktionen an der Einstichstelle sind
(bis zu 3%) kommt es zu Hautnekrosen. häufig (Rötung, Entzündung, Papeln, Juckreiz), Hautnekrosen
Rebif ®, gentechnisch hergestelltes Interferon Beta 1a, sind nicht beschrieben. Änderungen der Laborparameter
ist in 2 Dosierungen erhältlich, 22 μg (6 Mio. Einheiten) und treten nicht auf. Systemische Nebenwirkungen sind selten und
44 μg (12 Mio. Einheiten). Rebif wird 3-mal in der Woche bestehen in gelegentlich auftretender »systemischer Postin-
subkutan appliziert. Die lokalen Hautreaktionen sind weni- jektionsreaktion«, bei der unmittelbar nach der Injektion Dys-
ger ausgeprägt. Hautnekrosen sind seltener. pnoe, Tachykardie, Thoraxengegefühl und Gesichtsrötung
Die systemischen Nebenwirkungen sind bei den drei auftreten. Diese Reaktion klingt nach 20–30 min folgenlos ab.
Substanzen ähnlich, treten meist nur zu Beginn der Therapie
auf und sistieren innerhalb der ersten Wochen. Sie bestehen Natalizumab (Tysabri®). Rekombinanter humanisierter, mono-
in grippeähnlichen Symptomen mit Glieder- und Kopfschmer- klonaler Antikörper, der Adhäsionsmoleküle (α4β1- und
zen, Übelkeit, Schüttelfrost und leichter Temperaturerhö- α4β7-Integrin) auf der Oberfläche von Immunzellen bindet.
hung. Weitere Nebenwirkungen sind eine Transaminasener- Diese Adhäsionsmoleküle sind für die Bindung von Lympho-
höhung und eine leichte Lymphozytopenie, die meist keine zyten an die Endothelzellen der Blutgefäße wichtig. Nata-
Änderung der Therapie erfordern. Betainterferone können lizumab stört diese Interaktion und verhindert damit effektiv
Depressionen auslösen, Depressionen in der Vorgeschichte die Einwanderung von Entzündungszellen aus dem Blutstrom
stellen daher eine relative Kontraindikation dar. Menstrua- in Gewebe, auch in das ZNS. Dieser Wirkmechanismus erzielte
tionsstörungen treten in bis zu 20% auf. Wegen der noch in Phase II und nach den bislang ausgewerteten 1-Jahresdaten
nicht sicher auszuschließenden teratogenen Wirkung der der Phase-III-Studien einen drastischen Rückgang neu aufge-
Betainterferone oder Auswirkungen auf die Embryonalent- tretener oder sich vergrößernder Läsionen im MRT und eine
wicklung wird eine wirksame Kontrazeption unter dieser Schubreduktion von 66%.
Therapie empfohlen. Die Substanz hat keinen Effekt auf einen bereits vorhande-
Vergleichende Untersuchung der drei Betainferone zur nen Schub. Auch liegen noch keine Daten vor über den Ein-
klinischen Wirksamkeit sind sehr widersprüchlich und Ge- fluss auf die Behinderungsprogression oder den Effekt auf
genstand subtiler Subgruppenanalysen und Detaildiskus- eine primär chronisch progrediente MS. Natalizumab wird in
sionen, die oft stark emotional und parteiisch geführt einer festen Dosis von 300 mg alle 4 Wochen intravenös gege-
werden. Es lassen sich keine Empfehlungen für oder gegen ben. Die Verträglichkeit der Substanz war innerhalb der Einjah-
die eine oder andere Substanz geben. Aus Betaferon®- und resbeobachtung gut. Die häufigsten schwerwiegenden Neben-
Rebif®-Studien ist eine dosisabhängige Steigerung der Wirk- wirkungen waren Infektionen (2,1% vs. 1,3% bei Plazebo),
samkeit erkennbar, so dass eine der Krankheitsaktivität ange- Hypersensitivitätsreaktionen (1,3%) und Depression (0,8%)
passte Dosierung rational begründbar ist. einschließlich Suizidversuch (0,5%) und Cholelithiasis (0,8%).
Auch die Applikation von Natalizumab kann zur Antikörperbil-
Glatiramiracetat (Copaxone®). Glatiramiracetat ist ein dung führen. Bei 10% der Patienten in den bisherigen Studien
synthetisches Polypeptid aus den L-Aminosäuren Glutamin- wurden zumindest einmal Antikörper nachgewiesen, bei 6%
22 säure, Lysin, Alanin und Tyrosin (GLAT). Aufgrund der Homo- persistierten sie. Klinisch führt das Vorhandensein von Antikör-
6
22.1 · Multiple Sklerose (MS)
515 22

pern zu einem erheblichen Wirkungsverlust und zu einer these, verursacht Strangbrüche, hemmt die DNA-Reparatur,
höheren Häufigkeit von Infusionsreaktionen. aktiviert PARP, führt darüber zum ATP-Verlust und leitet Apop-
Anaphylaktische Reaktionen traten in <1% auf (inner- tose in proliferierenden und ruhenden Lymphozyten ein. Es
halb von 2 Stunden nach der Infusion, am häufigsten nach resultiert eine dosisabhängige Lymphozytendepletion, die
der 2. Infusion). Zu den häufigen, im Allgemeinen milden auch nach Beendigung der aktiven Behandlungsphase über
Nebenwirkungen gehörten leichte Infektionen, Kopfschmer- einige Monate anhält.
zen, Depressionen, Gelenkschmerzen, Fatigue und Menstru- Es ist oral einsetzbar und muss nur an wenigen Tagen
ationsunregelmäßigkeiten. Zu den PML-Fällen siehe Exkurs entsprechend eines relativ anschaulichen Dosierungsregimes
auf der vorherigen Seite. eingenommen werden. Es ist bereits zur Behandlung von
Haarzellleukämie und chronisch lymphatischer Leukämie
Immunglobuline. Mehrere Studien legen nahe, dass auch zugelassen.
die monatliche Behandlung mit i.v.-Immunglobulinen eine In einer Studie mit über 1.300 Patienten, die an einer
positive Wirkung auf Schubfrequenz und -schwere haben schubförmigen MS erkrankt waren, wurden 2 Dosierungen
können. Eine kürzlich publizierte, randomisierte und dop- von Cladribin gegen Placebo über 2 Jahre getestet (CLARITY).
pelblinde Studie mit einjähriger Beobachtungszeit konnte In dieser Studie wurden alle primären und sekundären End-
zeigen, dass auch IVIg nach dem ersten Schub die Zeit bis punkte durch die aktive Behandlung signifikant und positiv
zum Auftreten einer klinisch definitiven MS und die Zunah- beeinflusst: Die Schubrate war niedriger, Schubfreiheit häufi-
me kernspintomographisch nachweisbarer Läsionen signifi- ger und auch der Behinderungsgrad war niedriger. Auch im
kant gegenüber Plazebo verzögert. MRT wurden signifikant weniger aktive Läsionen gesehen. Es
folgte eine Extensionsphase mit 2 weiteren Jahren, in denen
Azathioprin. Manche Neurologen geben noch immer Aza- alle Patienten Cladribine erhielten. Die Ergebnisse dieser Ex-
thioprin per os, 2–3 mg/kg am Tag für wenigstens 2 Jahre. Der tensionsphase sind noch nicht bekannt. Die Nebenwirkungen
immunologische Effekt tritt allerdings erst nach 3–6 Monaten waren unter der Therapie häufiger, etwas Anlass zur Sorge
ein, was die Beurteilung dieser Medikation erschwert. Ein geben 5 Malignomfälle bei den behandelten Patienten (keine
Beweis für einen günstigen Langzeiteffekt steht allerdings aus. bei Placebo). Opportunistische Infektionen wurden bislang
Die Zahl der Leukozyten soll 3000–5000/Mikroliter betragen. nicht beobachtet. Es gab nur 5,8% therapiebedingte Abbrüche
Sinkt sie unter 3000, muss die Dosis reduziert werden. unter Cladribin.
Neben dem Blutbild sollen die Transaminasen regelmä- Mit einer Zulassung von Cladribin ist zu rechnen, wenn
ßig kontrolliert werden (Gefahr der intrahepatischen Choles- auch noch weitere Sicherheitsdaten notwendig scheinen. Die
tase). Die Behandlung bringt ein erhöhtes Risiko mit sich, an Vorteile der oralen Behandlung für viele Patienten liegen auf
Non-Hodgkin-Lymphom oder Karzinom zu erkranken (Cave: der Hand.
Fruchtschädigung). Azathioprin hat eigentlich keinen wirk- Fingolimod (FTY720). Auch zu dieser Substanz liegen erste,
lichen Stellenwert, da kontrollierte Studien fehlen, die seine allerdings noch unvollständige Ergebnisse einer großen rando-
Effektivität belegen würden. misierten Studie (TRANSFORMS) vor. Bei der Substanz handelt
es sich um einen oralen Sphingosin 1-Phosphat (S1P)-Rezeptor-
Mitoxantron (Ralenova®). Dosis: 12 mg/qm Körperoberfläche Modulator. Er verhindert das Auswandern der Lymphozyten
i.v. alle 3 Monate bei Versagen der Basistherapie). Die Wirksam- aus Lymphknoten. Gewebsständige Memory T-Zellen sind nicht
keit von Mitoxantron bei rasch progredienter schubförmiger betroffen. Es resultiert eine lang anhaltende Depletion der
und sekundär chronisch progredienter MS ist in mehreren zirkulierenden Lymphozyten.
Studien belegt, die eine signifikante Reduktion der Schubzahl In der TRANSFORMS-Studie wurden ebenfalls fast 1.300
und auch eine Verminderung der Krankheitsprogression und Patienten mit schubförmiger MS untersucht, die zu 2 unter-
der kernspintomographischen Verlaufsparameter aufzeigten. schiedlichen Dosen FTY und Interferon (Avonex) randomisiert
Die Einschränkung der Substanz liegt in ihrer Kardiotoxizität. wurden. Die Beobachtungszeit war ein Jahr, und auch hier
Bei Beachtung der kumulativen Grenzdosis von 140 mg/qm wurde eine Extensionsphase von einem Jahr angeschlossen.
Körperoberfläche (KOF) liegt das Kardiomyopathierisiko unter Nach den vorläufigen Ergebnissen war die Schubrate unter
0,2%. Da das Kardiotoxizitätsrisiko auch mit der Peak-Plasma- beiden Dosen von FTY signifikant niedriger als mit Avonex.
Konzentration korreliert, darf eine Mindestinfusionsdauer von Einige Sorgen bereitet noch das Sicherheitsprofil mit Leber-
30 min nicht unterschritten werden Zugelassen ist Mitoxantron enzymerhöhung, Hautkrebserkrankungen und zwei tödlichen
unter dem Namen Ralenova® zur Behandlung der progressiv- zerebralen Virusinfektionen. Die Drop-out-Rate lag bei 13%.
schubförmigen oder sekundär-progredienten MS (EDSS 3–6) Auch hier sind mehr Sicherheitsdaten erforderlich.
bei Versagen oder Unverträglichkeit einer Vortherapie mit
Immunmodulatoren, obwohl die Substanz in der Eskalations- * Für alle Therapien ist eine Teratogenität nicht auszuschließen.
therapie bisher gar nicht in prospektiven Studie getestet wurde. Daher ist bei allen Therapien ein zuverlässiger Konzeptions-
schutz unerlässlich. (Ausnahme: intravenöse Immunglobu-
Cladribin (2-CdA). Hierbei handelt es sich um ein synthe- line, die während Schwangerschaft und in der Stillzeit ein-
tisches Purinnukleosid-Analogon. Es hemmt die DNA-Syn- gesetzt werden können).
516 Kapitel 22 · Multiple Sklerose und andere immunvermittelte Enzephalopathien

. Tabelle 22.4a. Verlaufsmodifizierende Therapie der schubförmigen MS (basierend auf Klasse I Evidenzstudien)
Stellenwert Präparat Dosierung
Basistherapie Interferon beta-1b Betaferon®: 8 MIU jeden 2. Tag
Basistherapie Interferon beta 1a Avonex®: 30 μg 1-mal/Woche i.m.
Rebif‚: 22 μg oder 44 μg 3-mal/Woche s.c.
Basistherapie Glatiramiracetat Copaxone®: 20 mg täglich s.c.
Basistherapie bei fulminantem Natalizumab Tysabri®: 300 mg p.inf. alle 4 Wochen
Verlauf und Alternative bei Unver-
träglichkeit/Versagen der Basis-
therapie
Alternative bei Unverträglichkeit Azathioprin Empfohlene Dosierung 2 mg/kg KG, Anpassung nach Blutbildkontrolle
der Basistherapie (Lymphozytenzahl 600–1000/μl))
Alternative bei Unverträglichkeit Intravenöse Keines der auf dem Markt befindlichen Präparate ist für diese Indikation
der Basistherapie, besonders in Immunglobuline (IVIG) zugelassen.
der Schwangerschaft Die in Studien eingesetzten Dosierungen variieren erheblich zwischen
0,15–0,2 g/kg KG alle 4 Wochen und 1 g/kg KG an 2 aufeinander folgenden
Tagen alle 4 Wochen
Eskalationstherapie bei Versagen Mitoxantron Ralenova®: 12 mg/qm Körperoberfläche p.inf. alle 3 Monate (max. kumula-
der Basistherapie tive Gesamtdosis: 140 mg/qm Körperoberfläche)
In der Diskussion sind »Deeskalationsdosierungen« mit absteigender
Dosierung und größer werdenden Intervallen
Zusätzliche Indikation: Sekundär- Cyclophosphamid 800–1000 mg alle 4 Wochen für ca. 6 Monate
chronisch progrediente MS

körperliche Belastung das Auftreten von Schüben nicht nach- Trigeminus, aber auch der kaudalen Hirnnerven mit Sprech-
weisbar begünstigt, ist strenge Bettruhe auch im akuten Schub und Schluckstörung, vestibuläres Erbrechen, schwere, zere-
nicht notwendig. belläre Ataxie, so dass die Patienten sich nicht aufsetzen und
kaum den Kopf bewegen können. Auch sensible und Pyrami-
denbahnstörungen können durch Läsion der medialen Schlei-
22.1.5 Encephalitis pontis et cerebelli fe und des Brückenfußes eintreten.
Ergreift die Krankheit die vegetativen Regulationsgebiete
Dies ist eine besonders bösartige Form der MS, die akut Kin- der Medulla oblongata, kann innerhalb von wenigen Tagen der
der und Jugendliche befällt. Die Symptomatik entspricht der Tod eintreten. Bei dieser Form ist eine Intensivbehandlung mit
Lokalisation: Augenmuskel- und Blickparesen, grober Spon- Überwachung der Vitalfunktionen, Sondenernährung und
tannystagmus, Lähmungen des sensiblen und motorischen parenteralen Elektrolytlösungen angezeigt, denen man Antie-

Exkurs
Andere Autoimmunerkrankungen
Hurst-Enzephalitis. Ob dies eine eigenständige Krankheit und IgG-Vermehrung im Liquor charakterisieren auch die
ist, ist umstritten. Sie vereint Elemente der ADEM und der seltene Behçet-Krankheit, auch eine Autoimmunkrankheit. Die
Enzephalitis cerebelli et pontis. Phänomenologisch handelt Stomatitis aphthosa und skrotale Ulzerationen können fehlen,
es sich um eine besonders schwere, hyperakut auftretende, jedoch ist die Uveitis mit Hypopyon pathognomonisch. Im
lebensbedrohliche Enzephalitis, die mit ausgedehnten, Liquor ist die Zahl der Lymphozyten, gelegentlich auch die der
konfluierenden Marklagerläsionen in den Hemisphären und segmentkernigen Zellen höher als bei MS, gewöhnlich mehre-
im Kleinhirn einhergeht. Hämorrhagische Umwandlungen re 100 Zellen pro μl. Der Zucker ist normal, was für die Abgren-
sind typisch. Die Hurst-Enzephalitis ist selten und betrifft zung gegenüber der tuberkulösen Meningitis wichtig ist.
Kinder und junge Erwachsene. Fast immer ist eine intensiv- Andere systemische Autoimmunerkrankungen können
medizinische Behandlung erforderlich. Unbehandelt ist klinische Symptomatik, MRT- und Liquorveränderungen der
die Letalität hoch, man schätzt sie auf etwa 50%. Die The- MS imitieren und – wenn auch selten – mit einer primär neu-
rapie besteht in Kortisonpulstherapie und Plasmapherese rologischen Symptomatik beginnen. Insbesondere Lupus
(. Tab. 22.5). erythematodes, Sjögren-Syndrom und systemische Vaskuliti-
den sollten durch anamnestisch fehlende weitere Organmani-
22 Behçet-Krankheit. Remittierende Hirnstamm- und Rücken- festationen, und Bestimmung antinukleärer Faktoren ausge-
marksymptome mit entzündlichen Liquorveränderungen schlossen werden.
22.2 · Akute immunvermittelte Enzephaitiden
517 22

. Tabelle 22.4b. Nebenwirkungen der Behandlung der schubförmigen MS


Präparat Nebenwirkungen Maßnahmen
Interferon Beta Grippeähnliche Symptome (meist nur zu Beginn der Nichtsteroidale Antiphlogistika (0,5–1 g Paracetamol,
Therapie) mit Fieber, Schüttelfrost, Myalgien; 400–800 mg Ibuprofen), einschleichende Dosierung
Depression; Thymoleptische Therapie, ggf. Absetzen
milde Leukopenie, Transaminasenanstieg; Meist nicht behandlungsbedürftig
Schilddrüsenfunktionsstörungen Bei Wirkungsverlust Absetzen
Bildung neutralisierender Antikörper Sachkundige Einweisung in die Injektionstechnik
Avonex® < Rebif® < Betaferon®
Bei den subkutanen Präparaten:
Lokale Reizungen an den Einstichstellen (Schmerzen,
Rötungen, Verhärtungen), selten Hautnekrosen
Glatiramiracetat Lokale Reizungen an den Injektionsstellen (Rötungen, Sachkundige Einweisung in die Injektionstechnik, harmlos,
Verhärtungen, Lipodystrophie) Lymphknotenschwel- meist spontane Rückbildung
lungen Sistiert spontan innerhalb von 30 sec bis 30 min
Selten: »systemische Postinjektionsreaktion« mit
»Flush«, Herzrasen, Luftnot
Natalizumab Leichte Infektionen, Kopfschmerzen, Gelenkschmerzen, Symptomatische Therapien
Depressionen, Fatigue, Menstruationsunregelmäßig- Kontinuierliche Überwachung des Patienten während der
keiten Infusion und mindestens 1 Stunde nach Infusionsende
Hypersensitivitätsreaktionen (1,3%), PML (1 Fall pro 5.000 notwendig
Behandlungen)
Azathioprin Gastrointestinale Beschwerden Einschleichende Dosierung, Verteilung der Dosis auf
Leukopenie, Thrombopenie 2–3 Tagesgaben
Rezidivierende Infekte Regelmäßige BB-Kontrollen, Dosisanpassung
Dosisanpassung, Therapiepause
Mitoxantron Gastrointestinale Beschwerden Antiemetische Therapie
Kardiomyopathie Dosiabhängig, bei Beachtung der Maximaldosis von
Leukopenie, Thrombopenie, erhöhte Infektanfälligkeit 140 mg/qm Körperoberfläche Risiko <0,2%
Amenorrhoe, Aspermie, Leukämie, myelodysplastische Vor Therapie und vor jeder 4. Gabe:
Syndrome Transthorakales Herzecho (quantitative Bestimmung der
linksventrikulären Ejektionsfraktion), EKG, Rö-Thorax
BB, Urinstatus, CRP vor jeder Gabe,
BB 1- bis 2-mal/Woche innerhalb der ersten 3 Wochen
nach jeder Gabe; Dosisanpassung nach Werten im Nadir
Aufklärung der Patienten, ggf. Samenspende
Cyclophos- Gastrointestinale Beschwerden Antiemetische Therapie
phamid Leukopenie, Thrombopenie BB-, CRP-Kontrollen, Dosisanpassung
Blasenepitheldysplasie 2,5–3 l Flüssigkeitszufuhr, Urinstatus, bei Hämaturie
Blasenschutz mit Uromitexan

metika, Sedativa und hochdosierte Kortikoide oder Endoxan akuten Krankheit sind vielfältig: Am häufigsten findet man
zufügt. Plasmapherese kann lebensrettend sein. Hirnstamm- oder zerebelläre Funktionsstörungen, Hirnner-
Übergänge zur Hurst-Enzephalitis (s. Exkurs S. 516) sind venausfälle oder eine Myelitis transversa. Aber auch kortikale
offensichtlich. Im MRT findet man, dass entmarkte und intakte und subkortikale Symptome mit Hemiparese, Hemihypästhe-
Schichten abwechseln. Daneben finden sich an anderen Stellen sie, selten auch Aphasie und fokalen epileptischen Anfällen
des ZNS typische MS-Herde. können vorkommen. Selten sind auch frontale Symptome wie
Apathie und Antriebsarmut. Die ADEM kann ähnliche Symp-
tome wie ein Schub einer MS zeigen. Manchmal ist eine vor-
22.2 Akute immunvermittelte Enzephaitiden ausgegangene Infektion oder Impfung eruierbar.

22.2.1 Akut demyelinisierende Enzephalomyelitis 3Diagnostik. Im MRT findet man relativ typische, wenn
(ADEM) auch nicht beweisende Veränderungen: multifokale Läsionen
im Kleinhirn, der Brücke, Balken oder ausgedehnt im Markla-
3Epidemiologie und Symptome. Meist erkranken Jugend- ger, die im T2-Bild hyperintens sind (. Abb. 22.8) und typi-
liche und junge Erwachsene. Junge Frauen sind viel häufiger scherweise deutlich Kontrastmittel aufnehmen. Die Kontrast-
betroffen als Männer. Die Symptome dieser sehr variablen, mittelaufnahme ist wenige Tage nach Kortisonbehandlung
518 Kapitel 22 · Multiple Sklerose und andere immunvermittelte Enzephalopathien

. Abb. 22.8. Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM). Hyperintense Läsion im T2-Bild (Pfeil)

nicht mehr nachweisbar. Die Veränderungen im MRT sind oft 22.2.2 Akutes Posteriores (reversibles)
viel ausgedehnter als bei Multiple Sklerose. Leukenzephalopathie-Syndrom (PRES)
Im Liquor findet man meist eine mononukleäre Pleozyto-
se mit bis zu einigen 100 Zellen/μl, ein erhöhten Eiweißwert, Diese heterogene Gruppe von akuten Enzephalopathien
eine autochthone IgG-Erhöhung und selten auch oligoklonale hat bislang ihren Namen von den typischen CT und MRT-
Banden. Serologische Tests und molekularbiologische Unter- Befunden erhalten: Die posteriore reversible (PRES) Leuken-
suchungen auf verschiedene Viren sind praktisch immer nega- zephalopathie geht praktisch immer mit posterior betonten,
tiv, allerdings kann die MRZ-Reaktion positiv sein. Manchmal aber nicht ausschließlich dort lokalisierten, ausgedehten Ver-
gelingt der Nachweis eines IgG-Titer-Anstiegs bei Kontrollpunk- änderungen in der weißen Substanz (CT: Hypodensität,
tion. MRT: hyperintense Veränderungen in T2 und FLAIR) ein-
her.
3Therapie und Prognose. Man behandelt wie bei den meis-
ten akuten autoimmunologischen Krankheiten zunächst mit 3Definition und Pathogenese. Bei der posterioren Leu-
4 Kortisonstoßtherapie wie in Tabelle 22.5 beschrieben, z.B. kenzephalopathie handelt es sich um eine ätiologisch unein-
Methylprednisolon 1.000–2.000 mg/Tag über 3–5 Tage. Eine heitliche Gruppe von meist reversiblen Krankheiten mit neu-
ausschleichende Behandlung (5 Tage 100 mg, weitere 5 Tage rologisch-neuropsychologischen Symptomen. Diese Syndrome
80 mg usw.) wird oft empfohlen. sind erst seit Einführung der MRT-Diagnostik bekannt gewor-
4 Bei ausgedehnten Hirnstammläsionen kann Beatmung den. Tatsächlich handelt es sich um eine heterogene Gruppe
und intensivmedizinische Behandlung notwendig werden. In von Krankheiten, deren gemeinsames Zeichen die Verände-
diesen Fällen geben wir Cyclophosphamid 1g i.v. (wiederholt rung in der Signalgebung meist des Okzipitallappens ist. Die
in Abständen von 4 Wochen). Pathogenese nicht geklärt. Oft ist eine Assoziation mit hyper-
4 Auch die Plasmapherese oder Immunadsorption kann tensiven Krisen gegeben. Pathogenenetisch wird eine rever-
dann versucht werden. sible Erhöhung der Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke
vor allem im hinteren Hirnkreislauf, der hierfür prädestiniert
3Verlauf. Die ADEM ist oft (etwa in 50% der Fälle), aber zu sein scheint, diskutiert. Möglicherweise ist die häufige tran-
leider nicht immer monophasisch. Übergänge zur MS kom- siente Gesichtsfeldstörung und Verwirrtheit nach Herzkathe-
men häufig vor, vor allem wenn beim ersten Ereignis schon teruntersuchung, bei der größere Mengen an Kontrastmittel
oligoklonale Banden nachgewiesen werden. Trotzdem ist es, eingesetzt wurden, eine gering ausgeprägte Variante des Syn-
nicht nur aus psychologischen Gründen, akzeptabel, bei der droms und Ausdruck der Vulnerabilität dieser Region. Auch in
Erstmanifestation einer ADEM darauf zu hoffen (und es auch solchen Fällen sind milde Veränderungen in der Bildgebung
22 dem Patienten zu kommunizieren), dass es sich um ein einma- beobachtet worden.
liges Ereignis handeln könnte, obwohl Rezidive nicht auszu- Allerdings gibt es immer häufiger Berichte von Verände-
schließen sind. rungen, die nicht auf die posterioren Hirnabschnitte begrenzt
22.2 · Akute immunvermittelte Enzephaitiden
519 22

. Tabelle 22.5. Immunsuppressive Therapie

Substanzklasse Intervention Dosierung Anmerkung

Akutintervention Kortikosteroide Hochdosispulstherapie 1-2 g Methylprednisolon z.B. 3-mal 1 g Urbason i.v.;


(Urbason) i.v. über 3-5 Tage ggf. bei Versagen 3-mal 2 g
Urbason i.v

Standardtherapie 0,5-1,5 mg/kg/KG/Tag Prednison Magenschutz, Osteoporo-


(Decortin), Prednisolon (Decor- seprophylaxe (Vitamin D,
tin H) i.v. oder oral Calcium)

Standardtherapie Reduktion in 20 mg Schritten


mit Ausschleichen (80, 60, 40 mg alle 5 Tage, da-
nach 10 mg und 5 mg)

Cyclophosphamid Pulstherapie 500-1.000 mg/m2 Urometixanschutz,


(Endoxan) KÖF(entspricht 10-15 mg/kg/ Antiemese
KG) in 500 ml 0,9% NaCl i.v.

Intravenöse Immun- 0,4 g/kg /KG an auf einander fol-


globuline (IVIG) genden 5 Tagen

Plasmapherese/ 5 Plasmaaustausche/ Immunab- Plasmapherese jeden zwei-


Immunabsorption sorptionen (bis zu 10) über 1–2 ten Tag, Immunadsorption
Wochen täglich

Dauertherapie Azathioprin 1-3 (-4) mg/kg/KG/Tag, Erhal- Zielparameter: Leukozyten-


(außer MS) (Imurek) tung 1-2,5 mg/Tag supression

Cyclophosphamid 1-2 (-4) mg/kg /KG/Tag s.o.


(Endoxan)

Methotrexat 7,5-15 mg/kg/KG einmal pro


(z.B. Metex) Woche, maximal 25 mg/Woche

Ciclosporin 2-(5) mg/kg/KG/Tag Serumspiegel


(z.B. Sandimmun)

Mycophenolatmofetil 2-mal 1.000 mg/Tag (ca. 20 mg/


(Cell Cept) kg/KG)

Rituximab 2-mal 1.000 mg i.v. im Abstand Wiederholung ca. alle 6-9


von 14 Tagen Monate

sind, assymetrisch sind und an unterschiedlichen Stellen rezi- enten mit hypertensiver Krise bei Eklampsie und akuter Glo-
divieren können. merulonephritis gesehen. Manchmal tritt sie im Zusammen-
hang mit einem lange andauernden fokalen epileptischen Sta-
3Ursachen. Eine immunologische Reaktion als Mitursache tus auf, wobei diskutiert werden kann, ob die MR-Verände-
ist sehr wahrscheinlich, weswegen wir diese Krankheitsgruppe rungen Folge des Status oder der Status Folge der Enzephalo-
hier besprechen. Vermutlich ist dies aber nicht die volle Erklä- pathie ist. Auch nach Impfungen wurden solche Verände-
rung. Unklar ist, warum sich eine solche Störung so überwie- rungen beschrieben.
gend in nur einer Hirnregion, dort allerdings meist bilateral
bemerkbar macht. Vielleicht spricht dies doch für eine toxische 3Symptome. Klinisch imponieren die Zeichen einer aku-
Blut-Hirn-Schranken-Theorie (s.o.) ten Enzephalopathie mit Verwirrtheit, Unruhe, Gesichtsfeld-
Es ist bemerkenswert, dass dem Auftreten des PRES in den störungen, Halluzinationen, kortikaler Blindheit, Anfällen,
vielen Fällen zytostatische, immunologische oder experimen- Somnolenz und anderen neuropsychologischen Symptomen.
telle Therapien mit partiell humanen Antikörpern vorausge- Die Patienten können intensivpflichtig werden. Über Tage und
hen. Das Syndrom wurde so im Zusammenhang mit Immun- Wochen bilden sich die Symptome langsam zurück.
suppression nach Transplantationen und bei Behandlung mit
Zytostatika und Antikörpern in der Tumor- oder Immunthe- 3Diagnostik.
rapie beobachtet. Relativ häufig findet man die PLE bei Be- 4 MRT: Charakteristisch sind ausgedehnte Hyperintensi-
handlung mit Cyclosporin A, Cisplatin, Tacrolimus und re- täten in T2- oder FLAIR-Sequenzen im Okzipital- und Parie-
kombinantem Erythropoetin. Das PRES wurde auch bei Pati- tallappen beidseits, die sich nicht an vaskuläre Territorien hal-
520 Kapitel 22 · Multiple Sklerose und andere immunvermittelte Enzephalopathien

ten. In seltenen Fällen können die Veränderungen auch multi- haben zu der Auffassung geführt, dass diesen zentralnervösen
pel in anderen Hirnregionen wie Frontallappen, Corpus callo- Komplikationen eine immunpathologische Reaktion zugrun-
sum oder Kleinhirn/Hirnstamm auftreten. de liegt. Die Ähnlichkeit der experimentell allergischen Enze-
4 Liquor: Der Liquor ist oft normal, manchmal findet sich phalomyelitis mit der akuten disseminierten Enzephalomyeli-
eine leichte Eiweißerhöhung. Es gibt auch keine spezifischen tis (ADEM) legt eine ähnliche Pathogenese, d.h. einen zellver-
Laborkonstellationen. mittelten Autoimmunprozess, nahe.
4 Das EEG ist meist schwer allgemeinverändert, die Befunde
sind allerdings unspezifisch. 3Pathologische Befunde. Wenn die Krankheit mehrere
Tage angehalten hat, bietet sie das charakteristische Bild einer
3Therapie und Prognose. Eine spezielle Therapie existiert perivenösen Enzephalitis vorwiegend der weißen Substanz.
nicht. Wenn eine Chemotherapie o.Ä. vorausgegangen ist, wird Subkortikal in den Großhirnhemisphären, im Hirnstamm,
man in der Regel die Behandlung unterbrechen oder umstellen, Kleinhirn und Rückenmark finden sich disseminiert kleine
wenn dies von der Situation des Grundleidens her möglich ist. Entmarkungsherde, die jeweils um erweiterte Venen oder Ka-
Es gibt tödliche Verläufe. Viel häufiger ist aber die langsame pillaren angeordnet sind und mononukleäre Zellen enthalten.
Rückbildung von Symptomen und MR-Befund. Im Verlauf kann Reaktiv kommt es zur Gliawucherung. Die Gliazellen sind, als
völlige Normalisierung eintreten. Rezidive sind möglich, die sich Zeichen der Phagozytose, mit Lipoidsubstanzen beladen. Die
manchmal auch in anderen Hirnregionen manifestieren. generalisierte Schädigung des Gefäßendothels führt über diese
Reaktionen hinaus zum Hirnödem.
22.2.3 Parainfektiöse Enzephalomyelitis
und impf-assoziierte Enzephalitiden 3Symptome und Diagnostik. Mit erneutem Fieberanstieg,
epileptischen Anfällen und den allgemeinen Zeichen einer En-
Parainfektiöse Enzephalomyelitis zephalitis werden die Kinder oder jungen Erwachsenen nach
3Epidemiologie. Nach Virusinfektionen wie Masern, durchgemachtem Virusinfekt wieder auffällig.
Windpocken, Herpes zoster, Mumps, Influenza, Röteln oder
infektiöser Mononukleose und auch nach Pocken- und Toll- 3Diagnostik. Der Liquor ist nicht von einer Virusenzepha-
wutschutzimpfung können akute Enzephalopathien auftreten. litis zu unterscheiden. CT und das MRT zeigen eine Hirn-
In Anbetracht der Häufigkeit einiger dieser Kinderkrankheiten schwellung, im weiteren Verlauf multiple kleine Marklagerlä-
sind Inzidenzen dieser para-/postinfektiösen Enzephalitiden sionen, selten Einblutungen. Der Verlauf kann in einzelnen
zwischen 1:1.000 und 1:5.000 zu beachten (vgl. auch SSPE und Fällen ausgesprochen schwer sein. . Tabelle 22.6 fasst einige
Rötelnpanenzephalitis, s.u.). der Charakteristika wichtiger parainfektiöser und postvakzi-
naler Enzephalitiden zusammen.
3Pathogenese. Das Auftreten der parainfektiösen Enze-
phalomyelitis hängt nicht von der Schwere der Grundkrank- Impfenzephalitis
heit ab. Die regelhafte, zeitliche Bindung an den Ausbruch der 3Epidemiologie. Impfenzephalitisfälle sind heutzutage sel-
Grundkrankheit und die pathologisch-anatomischen Befunde ten geworden. Nach Pockenschutzimpfung kann es mit einer

. Tabelle 22.6. Parainfektiöse und postvakzinale Enzephalomyelitis (vgl. auch Fortsetzung S. 483)
Ursache Latenz Besondere Symptome und Prognose
Masern 3.–4. Tag nach Exanthem Häufigkeit 1:1000 Fälle. Letaler Ausgang am 1. bis 3. Tag in
(auch 2–10 Tage und länger) etwa 10%, etwa 50% Defektheilungen
Röteln 2.–5. Tag nach Exanthem Letaler Ausgang am 1.–4. Tag in 6–10%, sonst gute
(selten 19.–33. Tag) Prognose
Windpocken 3.–4. Tag nach Hauteruptionen Gute Prognose
(selten 5.–15. Tag)
Pfeiffersches Drüsenfieber Vor, mit oder kurz nach den Drüsenschwellungen Gute Prognose
Pockenschutzimpfung 11.–12. Tag nach der Impfung Häufiger bei Erstimpfung, besonders vor dem 1. und nach
(8–15 Tage) dem 2. Lebensjahr. Häufigkeit 1:30.000.
Symptome: Meningoenzephalitis, Myelitis, Polyradikulitis.
Letalität um 50%, Defektsymptome in 10%
Rabies-Schutzimpfung 13.–15. Tag nach der Injektion Allgemeine Prodromi, dann Meningomyelitis, auch Land-
ry-Verlauf, Letalität ca. 25%

22 Papilomvirus vermutlich nach Auffrischimpfung selten; Bei MS-Vorgeschichte neue Schübe.


Einzelbeobachtungen: schwere Verläufe mit ADEM-ähn-
lichem Bild
22.2 · Akute immunvermittelte Enzephaitiden
521 22
Latenz von etwa 1–2 Wochen bei Kleinkindern zu einer Me- 3Differentialdiagnose. Oft ist es schwierig, zwischen einer
ningoenzephalitis mit Myelitis und Polyradikulitis kommen, erregerbedingten Meningoenzephalitis und einer mit den glei-
die eine hohe Mortalität (40–50%) hat. Von den Überlebenden chen Symptomen auftretenden Impfkomplikation zu unter-
bleiben 10–20% behindert. Man muss mit etwa 3 Fällen auf scheiden. In den letzten Jahren haben sich Verdachtsfälle auf
100.000 Impfungen rechnen. Auch etwa 2 Wochen nach einer eine Meningoenzephalitis nach FSME-Impfung gehäuft. Von
Tollwutschutzimpfung kann eine Meningoradikulitis auftre- den Herstellern der Seren wird dieser Zusammenhang für un-
ten, die eine Mortalität von 25% haben soll. wahrscheinlich gehalten, aber dies ist kein Beweis. Erste Be-
richte über die Assoziation schwerer enzephalitischer Syn-
3Symptome. Es ist nicht überraschend, dass die Symptome drome mit massiven MR-Veränderungen sind auch nach Imp-
vielfältig und uncharakteristisch sind. Das Spektrum reicht fung gegen das humane Papillomvirus (Prophylaxe des Zervix-
von Paresen, epileptischen Anfällen über Hemianopsie bis zu karzinoms) beobachtet worden.
rein neuropsychologischen Symptomen. Auch die zeitliche
Verbindung zu Impfungen ist nicht immer evident, hier muss 3Therapie. Es ist nicht überraschend, dass es auch für diese
präzise nachgefragt werden. seltenen Krankheiten keine evidenzbasierten Therapien gibt.

Facharzt
Bickerstaff-Enzephalitis
Dies ist keine Krankheitseinheit, sondern beschreibt die Sensibilitätsstörungen. Die Symptomatik entwickelt sich fort-
Verlaufsform einer Enzephalitis unbekannter Ätiologie. Im schreitend über eine oder mehrere Wochen. In aller Regel
Gegensatz zu den meisten infektiösen oder parainfektiösen bilden sich die Lähmungen dann über Wochen wieder zurück.
Enzephalitiden ist hier vorwiegend der Hirnstamm befallen. In der Rückbildungsphase kann für etwa 2 Wochen ein Parkin-
Die Krankheit ergreift bevorzugt Personen unter 25 Jahren. son-Syndrom auftreten, das sich spontan wieder zurückbildet.

Symptome. Nach einem uncharakteristischen Vorstadium Diagnostik. Im Liquor findet man eine leichte Pleozytose in
mit Krankheitsgefühl über 1–3 Wochen trübt sich das Be- der Größenordnung von 15 Lymphozyten und eine leichte
wusstsein. Die Patienten klagen über Kopfschmerzen und Eiweißvermehrung auf 0,6–0,8 g/l. Der Liquor kann aber auch
entwickeln Lähmungen der motorischen Hirnnerven vom normal sein.
N. oculomotorius abwärts bis zum N. hypoglossus. Entspre-
chend sind Ptose, Doppelbilder, Nystagmus, Blickparesen, Therapie. Die Behandlung ist symptomatisch und auf Vermei-
motorische Trigeminuslähmung, dysarthrisches Sprechen dung von Komplikationen ausgerichtet. Glukokortikoide kön-
und Schluckstörung die führenden Symptome, die zusam- nen nützlich sein. Sekundäre Infektionen der Luftwege werden
men mit der Bewusstseinsstörung den Eindruck eines le- antibiotisch behandelt. Eine Rückbildung ist immer zu erwar-
bensgefährlichen Krankheitszustands hervorrufen. Es kommt ten. Die Prognose ist gut.
nicht zu Extremitätenlähmungen und nur zu geringfügigen

Exkurs
Rasmussen-Enzephalitis
derlich. Dann findet man typischerweise eine Enzephalitis mit
Definition und Pathogenese. Dies ist eine durch zytoto- T-Zellinfiltraten mit aktivierten Mikrogliazellen mit Mikroglia-
xische T-Lymphozyten verursachte, gegen Neurone und knötchen. Plasmazellen , Makrophagen oder virale Einschluss-
Astrozyten gerichtete Krankheit des Kindes-und Jugendal- körperchen sprechen gegen die Diagnose einer Rasmussen-
ters, die aus völlig unklaren Gründen nur eine Hemisphäre Enzephalitis.
zerstört.
Therapie. Wie bei den meisten seltenen Erkrankungen basie-
Symptome. Charakteristisch und Krankheitsdefinierend sind ren die Therapieempfehlungen auf Einzelfällen. Die antikon-
pharmakoresistente, fokale, oft kontinuierliche Anfälle. Dazu vulsive Therapie orientiert sich an den allgemeinen Therapie-
kommen typische kortikale Symptome wie Hemiparese oder prinzipien der Epilepsiebehandlung (7 Kap. 14). Neben der
Aphasie, die auf die betroffene Hemisphäre zurückzuführen immer noch praktizierten, heute modifizierten Hemisphärek-
sind. tomie versucht man heute auch immunsupprimierende Thera-
pien. Nach neueren Untersuchungen wird hier, abweichend
Diagnostik. Man findet eine halbseitige Verlangsamung und/ von den sonstigen Behandlungsschemata, Tacrolimus empfoh-
oder kontinuierliche epileptische Aktivität im EEG. Im MRT len. Wir geben keine Dosierungsempfehlungen ab, da dieser
kann eine kortikale Hemiatrophie gefunden werden, meist Ansatz noch sehr experimentell ist und verweisen auf die
verbunden mit hyperintensem T2- oder FLAIR-Signal in der entsprechende aktuelle Literatur. IVIG, Dauerbehandlung mit
betroffenen Hemisphäre oder lyperintensem Signal des Steroiden, Plasmapherese oder Immunadsorption sind andere
ipsilateralen Kaudatuskopfes. Oft wird eine Hirnbiopsie erfor- experimentelle Optionen.
522 Kapitel 22 · Multiple Sklerose und andere immunvermittelte Enzephalopathien

Es liegt nahe, eine Steroidtherapie einzuleiten, im Wesentlichen identifiziert worden, nachdem sie lange als eine besondere
beschränkt sich die Behandlung allerdings auf die Vermeidung Form der MS aufgefasst wurde. Seit dies bekannt ist, wird die
und Behandlung von Komplikationen, die bei diesen oft inten- NMO viel häufiger diagnostiziert.
sivstationspflichtigen Behandlungen unausweichlich sind.
3Pathogenese. Wie die MS ist dies eine Autoimmunkrank-
heit, allerdings mit dem Nachweis spezifischer Antikörper.
22.3 Chronische immunvermittelte
Enzephalitiden 3Symptome. Die Krankheitsbezeichnung ist charakteris-
tisch: Akut kommt es zur (manchmal doppelseitigen) Neuritis
22.3.1 Nicht-paraneoplastische limbische nervi optici mit begleitendem Papillenödem und schwerer Vi-
Enzephalitis (LE) susstörung. Oft entwickelt sich gleichzeitig, vorher oder kurz
darauf eine hohe Querschnittslähmung. Durch Parese der
3Definition. Die limbische Enzephalitis wurde schon bei Atemmuskulatur kann die Krankheit lebensgefährlich werden.
den Paraneoplasien besprochen (s. Kap. 13.3.1). Zusammen- Wird der Schub überlebt, bleibt oft eine mehr oder weniger stark
fassend handelt es sich um eine meist im Erwachsenenalter ausgeprägte Querschnittslähmung oder erhebliche Visusstörun-
auftretende, chronische, nicht infektiös bedingte, lymphozytär- gen zurück. Die Krankheit kann rezidivieren und einen schub-
mikroglial assoziierte autoimmunologische Enzephalitis, die haften Verlauf, allerdings fast immer mit bleibenden Defiziten,
präferentiell temporomedialer Strukturen befällt. Neben der nehmen. Es gibt auch monosymptomatische Varianten.
mit Tumoren assoziierten paraneoplastischen LE existiert auch
eine nicht-paraneoplastische Variante, die ebenfalls autoim- 3Diagnostik.
munologisch erklärt wird. 4 MRT: Die myelitischen Veränderungen sind oft sehr aus-
gedehnt und gehen über das hinaus, was man bei myelitischen
3Pathogenese und Prognose. Bei dieser subakuten LE ist Herden bei MS kennt. Im Verlauf resultiert eine Atrophie des
eine Assoziation mit Serumautoantikörpern gegen spannungs- Myelons. Dagegen sind die Veränderungen der Sehnerven
abhängige Kaliumkanäle (voltage gated potassium channel an- nicht von denen bei MS unterscheidbar.
tibodies, VGKC-Ak) gesichert. Ihre Prognose ist günstiger als 4 Liquor: Der Liquor ist entzündlich und erlaubt in der Regel
in der paraneoplastischen Variante. keine Differenzierung von anderen autoimmunologischen Er-
krankungen.
3Symptome. Der Verdacht auf eine limbische Enzephalitis 4 Labor: Bei etwa 70% der Patienten findet man Serum-An-
sollte aufkommen, wenn bei den Patienten subakut Gedächt- tikörper gegen Aquaporin-4, einem Wasserkanal auf Astro-
nisstörungen, komplex-fokale Anfälle oder affektive und psy- zyten.
chotische störungen auftreten .
3Therapie. Auch hier gelten in der Akuttherapie alle Anga-
3Diagnostik. ben, wie sie bei MS gemacht wurden. Allerdings wirken pro-
4 MRT: temporomesiale FLAIR-/T2-Signalanhebung, teil- phylaktische Maßnahme, die bei MS erfolgreich sind, nicht.
weise mit Kontrastaufnahme, nicht selten auch bilateral. Hier wird man eher zu Azathioprin oder Endoxan greifen.
4 Liquor: unspezifisch, das Spektrum reicht von (fast) nor- Auch versucht man Immunadsorption und Plasmapherese,
mal mit geringer Pleozytose und Eiweißerhöhung bis zu deut- manchmal auch IVIG. Diskutiert wird auch der Einsatz von
licher Zellzahlerhöhung und dem Nachweis von intrathekaler Rituximab, einem CD20-Antikörper, der zu einer lang anhal-
Immunglobulinerhöhung. tenden B-Zell-Depletion führt.
4 EEG und MEG: fokale Verlangsamung und interiktale
Spikes können gefunden werden.
4 Labor: charakteristisch ist der Nachweis der VGKC-AK. 22.3.3 Hashimoto-Enzephalitis
Wenn typische onko-neurale AK (Anti-Hu-Ak, Ma/Ta-Ak, (steroidresponsive Enzephalopathie
CV2/CRMP5-Ak, Amphiphysin-Ak) auftreten ist die Diagno- mit Autoimmunthyreoiditis (SREAT))
se einer paraneoplastischen LE naheliegend.
3Definition und Pathogenese. Die Hashimoto-Enzepha-
3Therapie. Bereits bei klinischem und MR-morpholo- litis, heute häufig auch als steroidresponsive Enzephalo-
gischem Verdacht wird eine Steroid-Pulstherapie, gefolgt von pathie mit Autoimmunthyreoiditis (SREAT) bezeichnet, ist
einer oralen Langzeitsteroidtherapie eingeleitet. Plasmaphere- eine nichtinfektiöse autoimmunologische Enzephalopathie,
se, Immunadsorbtion und ggf. i. v. Immunglobuline sind die die mit einer autoimmunen Thyreoiditis mit Schilddrüsen-
üblichen Alternativen. autoantikörpern (Hashimoto-Thyreoiditis) assoziiert ist. Die
Pathogenese ist unklar, es bleibt umstritten, ob die gleichen
Antikörper auch neuronales Gewebe angreifen. Eine kausale
22.3.2 Neuromyelitis optica (NMO) Verknüpfung scheint nicht zu bestehen, und es gibt auch kei-
22 nen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Schilddrü-
3Definition. Die Neuromyelitis optica (Devic-Syndrom) ist senfunktionsstörung und dem Ausmaß der Enzephalopathie.
in den letzten Jahren als pathogenetisch distinkte Krankheit Wahrscheinlich ist die SREAT ein Sammelsyndrom, hinter
22.4 · Neurosarkoidose
523 22
Exkurs
Aquaporin-Antikörper
2004 gelang der Nachweis eines Biomarkers für die Neuromy- me die Diagnosesicherung einer NMO und verwandten Erkran-
elitis optica (NMO). Dieser ist bei bis zu 80% der NMO-Patien- kungen (langstreckige Querschnittsmyelitis, Opticusneuritis,
ten serologisch Autoantikörper nachweisbar. Er bindet an Hirnstammenzephalitis) erheblich vereinfacht. AQP4-Antikör-
Aquaporin-4 (AQP4), einem im ZNS als integraler Bestandteil per sind nicht nur diagnostisch, sondern auch pathophysiolo-
der Blut-Hirn-Schranke exprimierten Wasserkanal. Hiermit gisch bedeutsam. Es gibt Hinweise,dass die Erkrankung durch
steht erstmalig ein Marker zur Verfügung, der eine laborge- humorale Immunreaktionen ausgelöst wird und Krankheits-
stützte Unterscheidung zwischen NMO und Multiple Sklerose aktivität bevorzugt durch hierauf abzielende Therapieansätze
(MS) erlaubt und mittels neu entwickelter sensitiver Testsyste- (Plasmapherese, Rituximab) stabilisiert werden kann.

dem sich noch einige eindeutiger definierte Entitäten verber- dings selten, oft sind die Lungenhili und die Augen befallen,
gen könnten. allerdings können die neurologischen Symptome bei der Hälf-
te der Fälle mit initialem Hirnnervenbefall die Erstmanifesta-
3Symptome. Die SREAT manifestiert manchmal mit tion darstellen.
plötzlich einsetzenden fokalen, z.T. multiplen, neurologischen
Ausfällen. Diese Variante kommt bei etwa einem Viertel 3Symptome. Am häufigsten sind rezidivierende, multiple
der Patienten vor. Häufiger ist eine langsam progrediente Hirnnervenausfälle. Hinzu kann eine aseptische basale Menin-
Enzephalopathie mit partiellen Anfällen, Gedächtnisstörung, gitis mit Kopfschmerzen, Erbrechen, Meningismus und Papil-
Sprachstörung, Akalkulie bei sonst erhaltenen kognitiven lenödem treten. Nicht selten ist ein obstruktiver Hydrozepha-
Funktionen. Die Kriterien einer Demenz werden selten er- lus , bedingt durch ventrikelnahe Granulome. Da sich häufig
füllt. Granulome im Hypothalamus und der Hypophyse finden,
kommen Diabetes insipidus, Bulimie und Hypersomnie vor.
3Diagnostik. Auch spinale Strukturen (Myelopathie, intramedulläre Granu-
4 MRT und PET: Die morphologische Bildgebung ist oft lome) und periphere Nerven (Mononeuritis multiplex) kön-
normal, im FDG-PET können Zonen von Hypometabolis- nen betroffen werden.
maus, oft fromtotemporal betont beschrieben werden.
4 Liquor: Der Liquor ist uncharakteristisch und oft normal. 3Diagnostik.
4 EEG: Im EEG können epilepsietypische Potentiale gefun- 4 MRT: Knotige oder auch flächige Verdickungen überwie-
den werden, zur Diagnose trägt dies allerdings nicht bei. gend der basalen Meningen, mit deutlicher Kontrastmittelauf-
4 Labor: Charakteristisch sind erhöhte Schilddrüsenautoan- nahme, zum Teil nach intraaxial reichend oder die Liquorräu-
tikörpertiter (thyroid peroxidase-(TPO) Antikörper oder Thy- me komprimierend (Hydrozephalus).
reoglobulin-Antikörper (TAK, TG antibodies) im Serum 4 Labor: Das ACE (Angiotensin-konvertierendes Enzym) ist
nachweisbar. Auch die namensgebende schnelle Besserung auf oft in Serum und Liquor erhöht, hat aber nur eine geringe Spe-
Steroide hat einen diagnostischen Wert, wie beim Polymyalgie- zifität.
Arteriitis-cranialis-Komplex (7 Kap. 5.9.1) 4 Biopsie: Letztendlich beweisend ist die meningeale Biop-
sie, die allerdings wegen der Lage der Läsionen oft problema-
3 Therapie. Therapie der Wahl sind Kortikosteroide, ent- tisch ist.
weder als Hochdosispulstherapie (bei akuten schlaganfallähn- 4 Suche nach der Beteiligung anderer Organsysteme:
lichen Symptomen oder schweren progredienten Enzephalo- 5 Augenärztliche Untersuchung
pathien) oder in der üblichen Dosierung von 1–2 mg/kg KG 5 Thorax- und Abdomen-CT, ggf. Biopsie
über 5–7 Tage, gefolgt von einer ausschleichenden Therapie. 5 Untersuchung von Haut und Lymphknoten
Bei Rezidiven langsameres Ausschleichen und ggf. Azathi-
opren in üblicher Dosierung. IVIG und Cyclophyosphamid Oft bleibt die Diagnose Sarkoidose übrig, wenn verschiedene
sowie Plasmapherese und Immunadsorption können als zwei- Differentialdiagnosen ausgeschlossen wurden: Bei parenchy-
te Wahl diskutiert werden. Die Behandlung der epileptischen matöser Beteiligung, speziell ventrikelnah, müssen Lymphome,
Anfälle unterscheidet sich nicht von der Behandlung anderer M. Whipple und andere granulomatöse Läsionen ausgeschlos-
symptomatischer Epilepsien. sen werden. Dazu gehören auch Meningeosen, Tuberkulose
und Pilzinfektionen.

22.4 Neurosarkoidose 3Therapie und Verlauf. Wieder stehen Steroide, entweder


als Hochdosispulstherapie oder als ausschleichende Dosierung
3Epidemiologie und Leitsymptome. Zahlen über die Prä- (. Tabelle 22.5), an erster Stelle. Alternativ werden bei feh-
valenz der Neurosarkoidose schwanken zwischen 2 und 15% lender Wirkung und frühem Rezidiv verschiedene andere Im-
der an einer systemischen Sarkoidose (Lunge, Haut, Augen) munsuppressiva empfohlen (Methotrexat, Azathioprin, Ciclos-
Erkrankten. Es erkranken vor allem jüngere Patienten, Männer porin, Cyclophosphamid). Die größten Erfahrungen bestehen
etwas häufiger als Frauen. Isolierte Neurosarkoidose ist aller- mit Methotrexat und Azathioprin. Strahlentherapie wurde in
524 Kapitel 22 · Multiple Sklerose und andere immunvermittelte Enzephalopathien

seltenen verzweifelten Fällen versucht. Bei Verschluss-Hydro- Mofetil eingesetzt. Das Vorgehen wird durch die Schwere der
zephalus kommt ein ventrikulo-atrialer Shunt in Frage, wobei Symptome und den Verlauf bestimmt.
hier die systemischen Ausbreitung der Sarkoidose befürchtet
wird. Der klinische Verlauf ist nicht vorhersehbar, in zwei Drit-
tel der Fälle ist er monophasisch, in einem Drittel treten Rezi- 22.5 Stiff-person-Syndrom (SPS)
dive, manchmal auch mehrfach, auf.
Dieses heterogene Syndrom wird hier wegen seiner häufig zu
Susac-Syndrom beobachtenden Autoimmungenese besprochen. Das paraneo-
Wir besprechen das Susac-Syndrom an dieser Stelle, obwohl plastische SPS wurde bereits in 7 Kap. 13 erwähnt.
es noch keine erkennbare autoimmunologische Ursache hat.
Allerdings sind die klinischen Befunde und auch die Befunde 3Symptome. Die seltene Krankheit beginnt oft mit Rü-
der Bildgebung so, dass es nicht selten zu Verwechslungen mit ckenschmerzen. Dann entwickeln sich fluktuierende, bis brett-
der multiplen Sklerose kommt. harte Dauerkontraktionen der Rumpf- und rumpfnahen Ex-
tremitätenmuskeln, überlagert von schmerzhaft einschießen-
3Symptome. Das Susac-Syndrom ist charakterisiert durch den Muskelspasmen. Letztere werden häufig ausgelöst durch
die Trias Hörstörung, -Sehstörung und enzephalopathische banale Außenreize, aber auch durch Emotionen oder willkür-
Befunde. Sehr häufig werden Hörstürze mit dauerhafter Hör- liche Bewegungen. Eine ausgeprägte Ängstlichkeit dieser Pati-
minderung oder Ertaubung berichtet. Auch Sehstörungen mit enten in Verbindung mit der bizarren Symptomatik und meist
bleibenden Gesichtsfelddefekten, selten bis hin zur Erblindung fehlenden »harten« neurologischen Befunden führt häufig zur
eines Auges, kommen vor. Fehldiagnose einer psychogenen Störung.

3Ätiologie. Zugrunde liegt eine vermutlich entzündliche 3Diagnose. Sie kann durch reflexelektromyographische
Mikroangiopathie der kleinen Gefäße der Retina, des Vestibu- Untersuchungen und durch Nachweis von Autoantikörpern
larorgans und subkortikaler Arteriolen. gegen Glutamat-Decarboxylase (GAD, das GABA-synthetisie-
rende Enzym) gesichert werden. Pathogenetisch nimmt man
3Bildgebung. Die bildgebende Diagnostik zeigt Befunde, eine immunologisch vermittelte Funktionsstörung GABA-er-
die nicht selten mit MS-Befunden verwechselt werden. Cha- ger Hemmungsneurone an. Paraneoplastische und symptoma-
rakteristisch sind multiple subkortikale und auch balkenas- tische Fälle sind beschrieben worden. Bei dem seltenen para-
soziierte Signalveränderungen im MRT, die, im Gegensatz zur neoplastischen Stiff-man-Syndrom kann man Amphiphysin-
MS, nicht radiär und ovalär, sondern eher rundlich anmuten. AK nachweisen (7 Kap. 13.3.5).
Der Begriff »snowball-like lesions« beschreibt sehr schön das
Erscheinungsbild im MRT. Auch die Balkenläsionen gehen 3Therapie. Die Symptome lassen sich mit
nicht von der Basis des Balkens aus, sondern liegen mehr mit- 4 Benzodiazepinen (mit zum Teil extrem hohen Dosen, aber
ten im Balken, also typisch für periarterioläre Läsionen anstel- kaum Nebenwirkungen und keiner Gewöhnung) und Anti-
le von perivenösen Läsionen. spastika (Baclofen, Tizanidin) unterdrücken.
4 Manchmal wird auch eine Baclofenbehandlung mit intra-
3Therapie. Empirisch wird niedrig dosiertes Aspirin gege- thekaler Pumpe erforderlich.
ben sowie immunsuppressiv behandelt. Erfolgreich in Mono- 4 Immunsuppressive Maßnahmen sind versucht worden.
oder Kombinationstherapie wurden Kortikosteroide, intrave- Oft hilft eine Kortisontherapie kurzfristig, auch Immunab-
nöse Immunglobuline, Cyclophosphamid und Mycophenolat sorption und Plasmapherese können versucht werden.

In Kürze

Multiple Sklerose

Prävalenz: 30–60/100.000 Einwohner. Betroffen ist v.a. die Verlaufsformen und Prognose: Klinisch sichere Diagnose
weiße Rasse der nördlichen Halbkugel zwischen dem 20. nach Auftreten von ≥2 Schüben aufgrund multilokulärer Läsi-
und 40. Lebensjahr. onen im ZNS, oder multifokale Symptome waren >1 Jahr
chronisch progredient.
Ätiologie und Pathogenese: MS als Entmarkungskrankheit Schubförmiger Verlauf: Akute oder subakute Entwicklung
befällt vorwiegend die weiße Substanz des ZNS mit herd- innerhalb von max. 2 Wochen. Rückbildung der Symptome
förmiger Schädigung oder Auflösung der Markscheiden, innerhalb der ersten 6–8 Wochen, natürlicher Verlauf der
dadurch Funktionsstörungen. Prädilektionsstellen für Lokali- unbehandelten Erkrankung mit initial 2 Schüben/Jahr nimmt
sation der Entmarkungsherde: Sehnerven, Balken, Hirn- kontinuierlich in Folgejahren ab. Primär progredienter Ver-
stamm, v.a. Brücke mit Augenmuskelkernen, Kleinhirn und lauf ohne abgrenzbare Schübe mit zunehmender spastischer
22 -stiele, Pyramidenbahn, Hinterstränge des Rückenmarks. Gangstörung.
6
22.5 · Stiff-person-Syndrom (SPS)
525 22

Symptome: Sehstörungen. Optikus- und Retrobulbär- Differentialdiagnose: Chronische, zervikale Myelopathie,


neuritis oft als Erstsymptom der MS, die dann in den ersten spinales Angiom oder Durafistel, Behçet-Krankheit, syste-
4–6 Jahren mit Visusverlust, Anschwellung der Sehnerven- mische Autoimmunerkankungen.
papille, sekundärer Sklerose und vorübergehender Erblin-
dung auftritt. Okulomotorikstörungen: Flüchtige einseitige Therapie: Akuter Schub. Keine kausale Therapie, Kortikoide
Augenmuskellähmungen mit Doppelbildern ohne Kopf- zur Schubdauerverkürzung und Stabilisierung der Blut-Hirn-
schmerzen; Funktionsstörung der übrigen Hirnnerven, hemi- Schranke. Bei lebensbedrohlichen Schüben Cyclophosphamid,
faziale Myokymie. Tysabri, Plasmapherese.
Schubförmiger Verlauf: Interferone bei <50 Jahren und
Motorische Symptome. Paresen mit Beeinträchtigung der fehlender schwerer Gehbehinderung; Immunoglobuline sen-
Feinmotorik und Gangsteifigkeit bis zur kompletten Para-, ken Wahrscheinlichkeit neuer Schübe nach klinisch isoliertem
Tetra- oder Hemiplegie, allgemeine Mattigkeit, rasche Er- Syndrom; Natalizumab verhindert Einwanderung von Entzün-
müdbarkeit. dungszellen aus Blutstrom in das ZNS.
Chronisch progrediente MS: Interferone reduzieren Frequenz
Sensibilitätsstörungen. Andauernde Missempfindungen, der aufgesetzten Schübe, Grad der Behinderung wird nicht
Taubheit, Pelzigkeit, Kribbeln v.a. in Händen und Füßen, beeinflusst; Mitoxantron mit Effekt auf Progression.
verminderte Berührungsempfindung, sensible Ataxie, Fein- Symptomatische Therapie bei Blasenstörungen mit Medika-
motorikstörung. menten und Stimulation durch Beklopfen der Bauchhaut oder
Crédé-Handgriff, bei Spastik medikamentöse Therapie, bei
Blasenstörungen. Als Retention oder Dranginkontinenz. zerebellärem Tumor medikamentöse Therapie und Operation.
Krankengymnastik.
Kleinhirnfunktionsstörungen. Nystagmus, Intentionstremor,
skandierendes Sprechen. Sonderformen der MS

Kognitive und psychische Veränderungen. Gedächtnis-, Encephalitis pontis et cerebelli: Bösartige Form der MS,
Aufmerksamkeitsdefizite, intellektuelle Nivellierung, Beein- befällt akut Kinder und Jugendliche. Symptome: Augenmus-
trächtigung der kognitiven Flexibilität, heitere Grundstim- kel-, Blickparesen, grober Spontannystagmus, Lähmungen des
mung, Demenz. sensiblen und motorischen Trigeminus, der kaudalen Hirnner-
Typische Symptomkombinationen ven mit Sprech- und Schluckstörung, vestibuläres Erbrechen,
4 Gefühlsstörungen an den Händen und spastische Para- schwere, zerebelläre Ataxie. Bei Beteiligung der vegetativen
parese der Beine, Regulationsgebiete der Medulla oblongata tritt Tod innerhalb
4 spastisch-ataktischer Gang mit Missempfindungen und von wenigen Tagen ein.
Blasenstörungen,
4 inkomplettes Querschnittssyndrom mit Nystagmus und Andere immunvermittelte Enzephalitiden
skandierendem Sprechen, Akute disseminierte Enzephalomyelitis (ADEM)
4 rezidivierende, flüchtige Lähmungen wechselnder
Augenmuskelnerven. Symptome: Hirnstamm- oder zerebelläre Funktionsstörungen,
Kopfschmerzen, Nackensteifigkeit, Fieber, Myelitis transversa,
Diagnostik: Liquor. Pathologisch verändert mit leichter Hirnnervenausfälle v.a. bei Jugendlichen und jungen Erwach-
Lymphozytenvermehrung, Plasmazellen, intrathekale IgG- senen.
Produktion und oligoklonale Banden, Liquorveränderun- Diagnostik: MRT: Kontinuierlich auftretende multifokale
gen während der klinischen Remission zeigen weiteren Läsionen im Kleinhirn, Balken oder Brücke; Liquor: Mononuk-
Ablauf des Krankheitsprozesses auch bei scheinbarem Still- leäre Pleozytose, erhöhtes Eiweiß, oligoklonale Banden.
stand. Therapie: medikamentöse Therapie; Beatmung und intensiv-
medizinische Behandlung bei ausgedehnter Hirnstammläsion.
Elektrophysiologie. VEP, Blinkreflex, sensible und senso-
rische Reaktionspotentiale, transkranielle Magnetstimulation. Parainfektiöse Enzephalomyelitis: nach Virusinfektion
oder Impfung
Bildgebende Verfahren. CT: Minderung des Hirnvolumens, Parainfektiöse Enzephalomyelitis. Akute Enzephalopathien
intensive Kontrastmittelaufnahme bei frischen Herden durch nach Virusinfektionen wie Masern, Windpocken, Herpes zoster,
Schrankenstörung, gliöse Vernarbung der Entzündungs- Mumps.
herde. MRT: MS-Aktivität in jedem Stadium größer als nach Erneuter Fieberanstieg, epileptische Anfälle, allgemeine
neurologischem Status vermutet. Zeichen einer Enzephalitis.

6
526 Kapitel 22 · Multiple Sklerose und andere immunvermittelte Enzephalopathien

CT/MRT: Hirnschwellung, multiple kleine Marklagerläsionen. mit Kopfschmerzen. Intrakranielle Granulome. Systemische
Impfenzephalitis. Meningoenzephalitis mit Myelitis und Manifestationen vor allem in Lunge, Lymphknoten. Therapie:
Polyradikulitis, nach Pockenschutzimpfung mit Latenzzeit Kortisonpulstherapie und Immunsuppression.
von 1–2 Wochen, Mortalität von 40–50%.
Stiff-person-Syndrom (SPS): Autoimmune spinale
Chronische immunvermittelte Enzephalitis Übererregbarkeit

Nicht-paraneoplastische limbische Enzephalitis. Seltenere Symptome: Rückenschmerzen, fluktuierende bis brettharte


Variante mit besserer Prognose und charakteristischen Anti- Dauerkontraktionen der Rumpf- und rumpfnahen Extremitä-
körpern gegen Kaliumkanäle. tenmuskeln, schmerzhaft einschießende Muskelspasmen.
Neuromyelitis optica (NMO): Autoimmunkrankheit, mit Diagnose durch reflexelektromyographische Untersu-
dem Nachweis spezifischer Antikörper gegen Aquaporine. chungen.
Therapieansätze: Plasmapherese, Rituximab.
Hashimoto-Enzephalitis (Steroidreponsive Enzephalopa- (Akutes) posteriores reversibles Leukenzephalopathie-
thie mit Autoimmunthyreoiditis (SREAT)): Charakteristisch Syndrom (PRES)
sind erhöhte Schilddrüsenautoantikörpertiter (thyroid pero-
xidase (TPO)-Antikörper oder Thyreoglobulin-Antikörper Heterogenes Syndrom mit subkortikalen Signalveränderungen
(TAK, TG antibodies). Therapie der Wahl sind Kortikosteroide. im Okzipitallappen, aber auch an anderen Stellen. Oft nach
hypertensiver Krise, aber auch bei Immuntherapien und Che-
Neurosarkoidose: Symptome sind rezidivierende, multiple motherapien zu finden.
Hirnnervenausfälle und eine aseptische basale Meningitis

22
VI Bewegungs-
störungen und
degenerative
Krankheiten
des Zentralnerven-
systems
23 Krankheiten der Basalganglien – 529

24 Degenerativ bedingte Ataxien – 563

25 Demenzkrankheiten – 569
23

23 Krankheiten der Basalganglien


23.1 Parkinson-Syndrome – 530
23.1.1 Idiopathische Parkinson-Krankheit – 530
23.1.2 Multisystematrophien (MSA) mit Parkinson-Symptomen – 540
23.1.3 Parkinsonsyndrome bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen – 542

23.2 Choreatische Syndrome – 544


23.2.1 Chorea Huntington – 544
23.2.2 Chorea minor – 545
23.2.3 Schwangerschaftschorea – 546

23.3 Ballismus – 546

23.4 Dystonien – 547


23.4.1 Fokale und segmentale Dystonien – 547
23.4.2 Generalisierte Dystonien – 551

23.5 Tremor – 553


23.5.1 (Verstärkter) physiologischer Tremor – 555
23.5.2 Essentieller Tremor – 555
26.5.3 Psychogener Tremor – 557
23.5.4 Alkoholbedingte Tremorformen – 557

23.6 Myoklonien – 558

23.7 Restless-legs-Syndrom – 559

23.8 Tics – 560


23.8.1 Tourette-Syndrom – 560
530 Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

> > Einleitung Klassifikation


23 Parkinson-Syndrome (PS) werden in vier Gruppen klassifi-
Jeder angehende Neurologe, eigentlich auch jeder Medizin- ziert:
student sollte den Oscar-gekrönten Film »Awakenings« (»Zeit 4 idiopathisches Parkinson-Syndrom (IPS) (ca. 75% aller
des Erwachens« ) gesehen haben. In ihm wurde eindrucksvoll PS),
gezeigt, wie eine postinfektiöse Bewegungsstörung, das enze- 4 familiäre Parkinsonformen
phalitische Parkinson-Syndrom, und die daran gekoppelte 4 symptomatische (sekundäre) Parkinson-Syndrome
Verlangsamung aller motorischen und expressiven psychischen 4 atypische Parkinson-Syndrome (Parkinson-Syndrome
Abläufe durch eine medikamentöse Behandlung mit einem im Rahmen anderer neurodegenerativer Erkrankungen)
Vorläufer der defizienten Transmittersubstanz gebessert werden
kann. Der Film endet tragisch: die wiedergewonnene geistige Symptomatische Parkinsonsyndrome können vaskulär bedingt
und körperliche Aktivität verschwindet wieder, und der stu- sein (subkortikale vaskuläre Enzephalopathie), bei Norm-
poröse, akinetische Zustand kehrt, jetzt unwiderruflich, zurück. druckhydrozephalus, posttraumatisch, metabolisch, medika-
Weitaus positiver ist die Entwicklung von Diagnose und menten- oder toxininduziert und entzündlich bedingt sein.
Therapie des M. Parkinson und anderer Bewegungsstörungen in Atypische Parkinson-Syndrome treten metabolisch (z.B.
der Folgezeit gewesen: Parallel zur Aufklärung der Funktion der M. Wilson, Hypoparathyreoidismus), bei Multisystematrophie
Basalganglien in der Regulation der Motorik (7 Kap. 1.7) sind (MSA) vom Parkinson-Typ (MSA-P), bei progressiver supra-
Genetik, Pathophysiologie und Therapie auch anderer Bewe- nukleärer Blickparese (PSP), kortikobasaler Degeneration
gungsstörungen intensiv erforscht worden. Den Patienten kön- (CBG), Demenz vom Lewy-Körper-Typ und einigen Formen
nen heute differenzierte Behandlungsprogramme angeboten spinozerebellärer Atrophien auf.
werden, die die Prognose gegenüber der jüngeren Vergangenheit
erheblich verbessern. Dies schließt sogar die elektrische Stimula-
tion von extrapyramidalen Kernen (z.B. Ncl. subthalamicus) ein. 23.1.1 Idiopathische Parkinson-Krankheit

3Epidemiologie und Genetik. Die Prävalenz der Parkin-


23.1 Parkinson-Syndrome son-Krankheit nimmt mit dem Lebensalter zu. Sie ist mit 100-
200 Kranken/100.000 Einwohnern eine der häufigsten neuro-
Leitsymptome logischen Krankheiten. Bei 60-Jährigen beträgt die Prävalenz
Ein Parkinson-Syndrom liegt vor, wenn eine Akinese/Brady- 0,2%, bei über 80-Jährigen etwa 2,5%. Sie hat in den letzten
kinese mit mindestens einem der folgenden Symptome auftritt: 30 Jahren nicht zugenommen. Weltweit hat man keine Häu-
Ruhetremor (4–8 Hz), Rigor und Haltungsinstabilität (postu- fung der Krankheit in bestimmten Regionen gefunden.
rale Störung). Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen. Das Er-
Fakultative Begleitsymptome sind sensorische Sympto- krankungsalter liegt jenseits des 40. Lebensjahres, meist zwi-
me (Dysästhesien und Schmerzen), vegetative Symptome (Stö- schen 40 und 60 Jahren. Etwa 20–25% der Patienten haben
rungen von Blutdruck, Temperaturregulation, Harnblasen- wenigstens einen Verwandten I. Grades, der ebenfalls die Par-
funktion und sexuelle Funktionen), psychische Symptome (vor kinson-Krankheit hat.
allem Depression, Angststörungen und Schlafstörungen, sel- Es gibt Familien, in denen der Parkinsonismus autosomal-
tener Suchtverhalten) und kognitive Symptome (frontale Stö- dominant oder auch rezessiv vererbt wird. Die Betroffenen
rungen, in fortgeschrittenen Stadien Demenz). erkranken dann meist vor dem 40. Lebensjahr. Für die Mehr-

Facharzt
Detaillierte Klassifikation der Parkinsonsyndrome
1. Das idiopathische Parkinson-Syndrom (Parkinson-Krank- 4 Posttraumatisch
heit). Weitere Unterteilung nach Verlaufsformen: 4 Toxininduziert (z. B. Kohlenmonoxid, Mangan)
4 Akinetisch-rigider Typ 4 Metabolisch (z. B. Morbus Wilson, Hypoparathyreoidis-
4 Äquivalenz-Typ mus)
4 Tremordominanz-Typ 4. Parkinson-Syndrome im Rahmen anderer neurodege-
4 Monosymptomatischer Ruhetremor (seltene Variante) nerativer Erkrankungen (atypische Parkinson-Syndrome):
2. Familiäre Formen des Parkinson-Syndroms 4 Multisystematrophie (MSA): Parkinson-Typ (MSAP)
3. Symptomatische (sekundäre) Parkinson-Syndrome oder zerebellärer Typ (MSA-C)
4 Vaskulär (subkortikale vaskuläre Enzephalopathie) 4 Progressive supranukleäre Blickparese (PSP)
4 Normaldruckhydrozephalus 4 Kortikobasale Degeneration (CBD)
4 Medikamenteninduziert: 4 Spinozerebelläre Atrophien (einige Subtypen)
– Klassische Neuroleptika, Antiemetika, Reserpin 4 Demenz vom Lewy-Körper-Typ (DLB)
– Lithium
– Kalziumantagonisten: Cinnarizin, Flunarizin
– Valproinsäure
23.1 · Parkinson-Syndrome
531 23
zahl der Kranken nimmt man einen polygenen Erbgang an. sem Stadium depressive Verstimmungen, die für die psy-
Es sind derzeit 13 Genloci beschrieben (Park1–13) die auto- chische Verfassung der Patienten während des weiteren
somal-dominant, autosomal-rezessiv oder X-chromosomal Verlaufs sehr charakteristisch sind. Langsam fortschreitend,
vererbt werden und häufig mit einem frühen Erkrankungsbe- entwickelt sich dann das Parkinson-Syndrom mit Tremor,
ginn und/oder Demenz vergesellschaftet sind. Insgesamt ist Verarmung der Ausdrucks- und Mitbewegungen, Erschwe-
Erblichkeit kein starker Faktor bei der Entstehung der Parkin- rung der intendierten Bewegungen, rigider Erhöhung des
son-Krankheit. Muskeltonus, typischer Körperhaltung (. Abb. 23.2a) und
vegetativen Begleitsymptomen. Die Symptome sind anfangs
3Ätiologie. Die Ätiologie ist noch unbekannt. Es gibt keine meist asymmetrisch, später ergreifen sie die Extremitäten bei-
Befunde, die eine immunologische oder virale Ursache nahe- der Körperseiten.
legen. Alter selbst ist kein ursächlicher Faktor. Die Krankheit Die Stimme wird leiser und auch heiser (Hypophonie)
ist nicht kontagiös. Sie tritt selbst bei jahrzehntelanger Lebens- und in der Lautstärke monoton, die Schluckmotorik ver-
gemeinschaft nicht häufiger als zu erwarten beim gesunden langsamt sich. Weil das reflektorische Schlucken beeinträchtigt
Partner auf. Umwelteinflüsse spielen eine untergeordnete Rol- ist, läuft der Speichel aus dem Mund. Viele tägliche Verrich-
le, allerdings können Herbizide und Pestizide wie Rotenon und tungen, wie Hinsetzen, Aufstehen, An- und Auskleiden, Ge-
Paraquat im Tierversuch reproduzierbar ein Parkinson-Syn- brauch des Bestecks beim Essen werden langsamer ausgeführt
drom auslösen. Kopftraumen lösen die Parkinson-Krankheit (Bradykinese) oder nach einem verzögerten Beginn nicht zu
nicht aus. Eine Ausnahme wird nach sehr häufigen, rasch auf- Ende geführt. Die Schrift wird kleiner, besonders am Ende
einanderfolgenden schweren Kopftraumen unterstellt, wenn längerer Wörter, wie »Zusammenhang« oder »Sonnenunter-
diese zum Krankheitsbild der Boxerenzephalopathie mit Par- gang« (Mikrographie, . Abb. 23.2b). In späteren Stadien ha-
kinson und Demenz führen. ben die Patienten Start- und Umkehrschwierigkeiten, bleiben
plötzlich stehen und trippeln auf der Stelle, z.B. wenn sie durch
> Bei der Parkinson-Krankheit tritt das Parkinson-Syndrom
eine geöffnete Tür gehen wollen. Beim Stehen und Gehen neh-
als Ausdruck eines degenerativen Prozesses der kleinen,
men die Kranken eine starre, vornüber geneigte Körperhaltung
dopaminergen Zellen in der Substantia nigra auf.
mit adduzierten und im Ellenbogengelenk gebeugten Armen
sowie gebeugten Hüft- und Kniegelenken ein.
3Pathophysiologie. Im Zentrum der Pathophysiologie Rigor zeigt sich bei der Untersuchung als ein wächserner
steht der Dopaminmangel an den striären Rezeptoren. Er be- Widerstand gegen passive Bewegungen, der für Beugung und
ruht auf der Degeneration der dopaminergen, melaninhaltigen Streckung sowie in jedem Augenblick der Bewegung gleich ist
Zellen in der Substantia nigra. Außerdem sind bei der Krank- (Zahnrad-Phänomen). Eine völlige Entspannung der vom Ri-
heit auch andere Neurotransmitter vermindert: Noradrenalin gor betroffenen Muskeln ist nicht möglich. Der Rigor beginnt
und Serotonin im Raphekern, Acetylcholin im Nucleus basalis oft in proximalen Muskelgruppen und kündigt sich dort durch
Meynert und GABA. Die motorischen Symptome beruhen auf ziehende Schmerzen an, die oft fehlgedeutet werden.
dem Dopaminmangel. Der Acetylcholinmangel soll mit De- Der Tremor nimmt bei Anspannung und Erregung an
menz, der Serotoninmangel mit Depression assoziiert sein. Die Amplitude, aber nicht an Frequenz zu. Dies gilt für alle Tremor-
Verschaltung der Stammganglien ist in . Abbildung 23.1 in formen, ist also kein Kriterium für die Unterscheidung gegen-
stark vereinfachter Form wiedergegeben. über dem verstärkten physiologischen Tremor. Wenn man den
Tremor an einer Extremität durch Festhalten unterdrückt, ver-
3Symptome: Die Krankheit beginnt oft mit Schmerzen stärkt er sich an einer anderen. Der Parkinson-Tremor nimmt
in den Extremitäten. Sie werden anfangs oft irrtümlich mit bei Willkürbewegungen der betroffenen Extremität ab oder
Abnutzungsvorgängen an der Wirbelsäule in Zusammen- setzt ganz aus. Bereits zu Krankheitsbeginn oder im weiteren
hang gebracht, die im mittleren Lebensalter häufig als Neben- Verlauf kann ein höherfrequenter Halte- und Aktionstremor
befund vorliegen. In vielen Fällen zeigen sich bereits in die- von 5-8 Hz auftreten.

Exkurs
Pathologisch-anatomische Befunde
Beim idiopathischen Parkinson-Syndrom entwickelt sich eine tiven Krankheiten. Ihr Nachweis in dieser Lokalisation ist Vor-
fortschreitende, zunächst asymmetrische Degeneration vor aussetzung für die histopathologische Diagnose der Krankheit.
allem der kleinen, melaninhaltigen Zellen in der Pars com- Lewy-Körper sind auch an anderen Orten, im Hirnstamm
pacta der Substantia nigra. Zelluntergang und Gliose finden und auch in der Hirnrinde beschrieben worden. Sie finden sich
sich auch in dem noradrenergen Locus coeruleus, im dorsa- auch bei 10% der gesunden älteren Menschen und bei an-
len Vaguskern und in der cholinergen Substantia innominata deren Gehirnkrankheiten. Sie sind also ein quantitatives, nicht
sowie im serotonergen Raphekern. Gleichzeitig treten in den ein qualitatives Merkmal der Parkinson-Krankheit. Jedoch
überlebenden Nervenzellen sog. Lewy-Körper auf (runde, findet sich im Sektionsgut bei fortgeschrittener Parkinson-
eosinophile, konzentrische, zytoplasmatische Einschlüsse). Erkrankung nicht selten diffus verteilte Lewy-Körper. Dies stellt
Sie unterscheiden sich nach Struktur und Zusammensetzung wahrscheinlich ein fließender Übergang zur Lewy-Körperchen-
von den neuronalen Einschlüssen bei anderen degenera- Krankheit dar.
532 Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

23

. Abb. 23.1. Modell der Verschaltung der Basalganglien unter Berücksichtigung


der Transmitter. Offene Pfeile: exzitatorisch; gefüllte Pfeile: hemmend. Links: Lage der Basal-
ganglien im menschlichen Gehirn. (Nach Dudel, Menzel, Schmidt 2001)

Die Störung gleichgewichtserhaltender Reflexe zeigt sich,


wenn der Patient im Gehen plötzlich stehen bleiben will oder
wenn man ihm von vorne, hinten oder von der Seite einen
leichten Stoß versetzt. Dies führt zum Leitsymptom der postu-
ralen Instabilität. Der Patient geht dann, z.B. an einer roten
Ampel, einige Schritte weiter oder kann nach dem Stoß die
Auslenkung nicht durch Gegeninnervationen ausgleichen, so
dass er umzufallen droht (Pro-, Retro- und Lateropulsion). Bei
Patienten, die bereits in einer frühen Phase vordergründig eine
Standunsicherheit aufweisen, muss differentialdiagnostisch an
eine progressive supranukleäre Lähmung (PsP, P für engl. palsy)
gedacht werden.
Nichtmotorische Symptome: Unter diesen stehen Stim-
mungsveränderungen und kognitive Leistungsminderungen
im Vordergrund. Depressivität ist in der Frühphase häufig und
wird nicht als Reaktion auf die motorische Behinderung auf-
gefasst. Neuropsychologische Leistungsmängel werden als Stö-
rungen im planenden Denken und als Schwierigkeiten beob-
achtet, die Aufmerksamkeit von einer Anforderung auf eine
andere zu wenden. Ferner klagen viele Kranke über Schmerzen
und Parästhesien in den betroffenen Extremitäten. Schließlich
beobachtet man vegetative Regulationsstörungen besonders
des Blutdrucks und der Blasenentleerung.
Psychische Symptome: Demenz und affektive Nivellie-
a rung bilden sich bei etwa 30–40% der Patienten aus. Die
meisten Patienten erleben ihr Schicksal leidend und bei voller
Einsicht, zumal Depression die motorischen Symptome in
einem hohen Prozentsatz begleitet. Bei aufmerksamer Beob-
achtung lässt sich die erhaltene geistige Beweglichkeit am leb-
haften Spiel der Augen ablesen, deren Motorik weniger von der
Akinese betroffen wird.

9 . Abb. 23.2. a Typische Körperhaltung bei Parkinson-Syndrom,


b b Längere Schriftprobe mit Mikrographie bei Parkinson-Syndrom
23.1 · Parkinson-Syndrome
533 23

Facharzt
Klinische Skalen
Hoehn-Yahr-Skala. Die Schwere der Behinderung durch das 4. mit Hilfe geh- und stehfähig
Parkinson-Syndrom lässt sich anhand der 5-Punkte-Skala von 5. an den Rollstuhl gefesselt oder bettlägrig,
Hoehn und Yahr dokumentieren:
1. einseitige Symptomatik, ohne oder allenfalls mit gering- Unified Parkinsons Disease Rating Scale. Diese sehr aufwän-
gradiger Behinderung dige Skala wird heute oft in Parkinson-Therapiestudien be-
2. beidseitige Symptomatik, keine Haltungsinstabilität nutzt. Sie erfasst das Syndrom multidimensional, ist aber
3. leichte Haltungsinstabilität, Arbeitsfähigkeit noch zum zu detailliert, als dass sie hier vorgestellt werden könnte
Teil erhalten (7 Anhang).

Verlaufsformen des idiopathischen Parkinson- Der Äquivalenz-Typ enthält Aspekte beider Subtypen in
syndroms etwa gleichem Ausmaß. Übergänge vom z.B. Tremor-domi-
Das idiopathische Parkinson-Syndrom wird entsprechend der nanten Typ in den Äquivalenz Typ sind möglich.
Ausprägung der klinischen Symptome in folgende Verlaufs-
formen eingeteilt: 3Verlauf. Mehrere Jahre vor Krankheitsbeginn kommt es
4 akinetisch-rigider Typ, zu einem Verlust des Geruchssinnes, dem bereits diagnostische
4 Äquivalenztyp, Bedeutung zukommt. Der Krankheitsverlauf ist in den ersten
4 Tremordominanztyp, Jahren rascher, nach etwa 9 Jahren langsamer progredient.
4 monosymptomatischer Ruhetremor (seltene Variante). Durchgehende rasche Progredienz wird v.a. bei hohem Er-
krankungsalter und akinetischer Symptomatik mit Demenz
Tremordominanter Typ: Bei einer Untergruppe steht der beobachtet. Im fortgeschrittenen Stadium treten Gleichge-
Tremor, vor allem der Supinatoren und Pronatoren, im Vor- wichtsstörungen auf.
dergrund. Es resultiert eine motorisches Muster, das auch als Die 10-Jahres-Mortalität lag bei etwa 35%, die Überlebens-
»Pillendreher«- oder »Geldzähler«-Phänomen bezeichnet wird. zeit bei etwa 13 Jahren (2–32 Jahre). Unter L-Dopa-Therapie
Die Verlangsamung der Motorik (Bradykinesie) ist hierbei erreicht die Lebenserwartung annähernd die von Normalper-
weniger stark ausgeprägt. Diese Patienten sind bei Krankheits- sonen. Ungünstige Faktoren sind höheres Alter bei Erkran-
beginn oft jünger, sie haben häufiger eine positive Familien- kungsbeginn, Begleiterkrankungen und nur mäßiges Anspre-
anamnese und bleiben lange frei von psychischen Verände- chen auf L-Dopa. Der Verlauf bis zur Pflegebedürftigkeit liegt
rungen. Diese Untergruppe zeigt die langsamste Krankheits- im Mittel bei 20 Jahren. Alle anderen neurodegenerativen
progression, aber auch ein relativ schlechtes Ansprechen auf Krankheiten haben weit kürzere Überlebenszeiten. Der Tod
dopaminerge Therapie. tritt meist durch Pneumonie infolge Aspiration bei Dysphagie
Akinetischer Typ: Bei anderen Fällen ist die Symptomatik oder Bettlägerigkeit ein.
von Akinese und Rigor beherrscht. Zuerst verarmen die Be-
wegungen, v.a. unbewusste Mitbewegungen, z.B. das Mit- 3Diagnostik. Das Parkinson-Syndrom ist eine klinische
schwingen der Arme beim Gehen. Die Körperhaltung ist Diagnose. Sie wird unterstützt durch den L-Dopa-Test (7 Ex-
vornüber gebeugt, mit hängenden Schultern. Die Schritte kurs) und apparative Zusatzdiagnostik. Beim L-Dopa-Test wird
werden langsam, die Schrittlänge kürzer, die Stimme leise die klinische Beeinflussung der Symptome nach einmaliger
und monoton (Hypophonie), Folgebewegungen der Arme Gabe einer sicher wirksamen L-Dopa-Gabe beurteilt.
werden träge (Bradykinese). Bald schränken Pulsionsphäno- CT oder MRT sind meist unauffällig oder unspezifisch
mene die Beweglichkeit der Kranken so ein, dass sie es nicht volumenvermindert, die Untersuchungen dienen dem diffe-
mehr wagen, das Haus zu verlassen, weil sie im Straßenver- rentialdiagnostischem Ausschluß anderer Ätiologien.
kehr nicht mehr in der Lage wären, plötzlich stehen zu blei- Funktionelle bildgebende Verfahren (SPECT) (. Abb.
ben. Andererseits tritt manchmal akut vor plötzlichen moto- 3.23): Die Kombination prä- und postsynaptischer SPECT-
rischen Anforderungen der sog. freezing effect auf, eine Se- Tracer kann eine ätiologische Zuordnung eines Parkinson-
kunden dauernde Immobilität, die den Kranken etwa daran Syndroms im Frühstadium erleichtern. Es kann bei besonde-
hindert, durch eine Tür zu gehen. Die start hesitation kann ren diagnostischen Problemen und nach Durchführung eines
das Losgehen erschweren. Diese Phänomene dürfen nicht mit L-Dopa-Tests indiziert sein und sollte von spezialisierten Neu-
den länger dauernden und erst später unter Therapie auftreten- rologen indiziert werden.
den On-Off-Perioden verwechselt werden (s.u.). Später fällt Mehrere nuklearmedizinische Untersuchungen stehen zur
es den Patienten immer schwerer, sich auch nur vom Stuhl zu Verfügung, die an den membranständigen Dopamin-Trans-
erheben, sich an- und auszukleiden oder die Speisen zum porter (z.B. DAT-SCAN®) binden und somit ein Maß für die
Mund zu führen. Durch die Erstarrung ihrer Motorik geraten Anzahl der präsynaptischen dopaminergen Neurone darstellt.
viele Patienten in einen äußerlich verwahrlosten Zustand. Elektrophysiologie: Mit der Tremoranalyse im EMG kann
Hypersalivation wird oft nur durch Akinese für Schluckbe- in unklaren Fällen der Tremor besser klassifiziert werden. Das
wegungen vorgetäuscht. EEG bleibt normal.
534 Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

Exkurs
23 L-Dopa-Test
Das Ansprechen auf L-Dopa gehört zu den bestätigenden wirkungen jedoch besondere Erfahrungen des Arztes voraus-
diagnostischen Kriterien für eine idiopathische Parkinson- setzt.
Erkrankung. Dies kann durch optimale Einstellung auf L-Dopa
innerhalb weniger Tage oder durch den L-Dopa-Test geprüft Bewertung des L-Dopa-Tests oder des Apomorphin-Tests.
werden. Der L-Dopa-Test (oder der seltener durchgeführte Als Messparameter wird der Teil III der »Unified Parkinson’s
Apomorphin-Test) werden als spezielle neurologische Funkti- Disease Rating Scale« (UPDRS) vor und eine halbe Stunde
onstests bei Parkinson-Patienten eingesetzt, um festzustellen, nach Medikamenteneinnahme (am besten zum Zeitpunkt des
ob ein Symptom L-Dopa-sensitiv ist und daher auf die nigros- besten »ON« (nach Meinung von Patient und Arzt) herange-
triatale Funktionsstörung zurückgeht. Er kann zur Frühdiag- zogen.
nose und in jedem Stadium der Erkrankung indiziert sein,
wenn unklare oder atypische Symptome auftreten. Hinweise zur Interpretation. Ein positiver Test (>30% Verbes-
serung der UPDRS-III-Scores) stützt, beweist jedoch nicht die
Durchführung des L-Dopa-Tests (oder des Apomorphin- klinische Diagnose eines IPS. Bei sehr ausgeprägter Verbesse-
Tests). rung (>50%iger Verbesserung) ist mit größter Wahrscheinlich-
4 Vorbehandlung mit Domperidon 3-mal 20 mg (nicht keit von einer idiopathischen Parkinson-Krankheit auszugehen
Metoclopramid) über 24 h, mindestens aber 30 mg ca. Das Symptom Tremor muss nicht auf den L-Dopa-Test
1 Stunde vor der L-Dopa-Gabe. ansprechen, obwohl ein IPS vorliegen kann.
4 Gabe der 1,5fachen Morgendosis L-Dopa plus DDCI Trotz eines negativen Tests kann sich bei einem Teil zuvor
(Dopa-Decarboxylase-Inhibitor) p.o., bei De-novo-Patienten unbehandelter Parkinson-Patienten eine L-Dopa-Langzeitbe-
200 mg L-Dopa. handlung als effektiv erweisen.
4 Alternativ ist die Gabe von Apomorphin möglich
(50–150 μg/kg KG s.c.) was wegen z.T. erheblicher Neben-

Facharzt
Fakultative Zusatzdiagnostik
Autonome Testung. Bei V.a. MSA oder klinischen Symp- 4 sympathische Hautantwort (SSR) (ist bei Parkinsonsyn-
tomen, die für eine autonome Störung sprechen, ist die drom mit vegetativer Beteiligung verlängert).
Durchführung spezieller Tests indiziert.
Eine posturale Hypotension lässt sich mit dem Schel- Funktionelle bildgebende Verfahren (SPECT). Mit verschie-
long-Test nachweisen. Pathologisch ist ein systolischer denen nuklearmedizinischen Untersuchungen kann ein Maß
Blutdruckabfall von mehr als 20 mmHg im Stehen. Bei spe- für die Anzahl der präsynaptischen dopaminergen Neurone
ziellen Problemen kann eine Untersuchung mit dem Kipp- gefunden werden. Hiermit lässt sich z.B. der essentielle Tremor
tisch sinnvoll sein. Urodynamische Untersuchungen sind bei vom tremordominanten PS abgrenzen oder eine Lewy-Körper-
klinisch manifesten Blasenstörungen bei allen Parkinson- chen-Demenz von der Alzheimer-Demenz. Andere kommer-
Syndromen indiziert. ziell verfügbare radioaktive Tracer binden an den postsynap-
Weitere Untersuchungen, die der Quantifizierung von tischen D2-Rezeptor (z.B. IBZMSpect), was ein Maß für die
einzelnen Symptomen dienen, sind: postsynaptische Rezeptordichte ist und damit hilft, die idio-
4 olfaktorische Untersuchung (Nachweis der Riechstö- pathische Parkinson-Erkrankung von Multisystematrophien
rung), abzugrenzen (. Abb. 3.2.3). Im PET findet man eine vermin-
4 quantitative Tremormessung (Tremoranalyse), derte Aufnahme von 18-Flurodopa in der Substantia nigra, bei
4 Habituation des Blink Reflex (ist bei Parkinsonsyndrom halbseitiger Symptomatik kontralateral betont.
aufgehoben),
4 Habituation der auditorischen Schreckreaktion (ist bei
Parkinsonsyndrom aufgehoben),
23.1 · Parkinson-Syndrome
535 23
Therapie
Die Therapie der Parkinson-Krankheit sollte rechtzeitig und
altersgerecht beginnen. Es gibt heute eine Reihe von Medika-
mente mit verschiedenen Ansätzen im Dopa-Stoffwechsel beim
Parkinsonsyndrom (. Abb. 23.3, . Tab. 23.1). Hierzu zählen:
4 Dopamin-Präkursoren: Vorstufen des defizienten Trans-
mitters Dopamin. Dopamin selbst dringt nicht durch die Blut-
Hirn-Schranke. Daher nimmt man L-Dopa, das wegen der
starken systemischen Wirkungen mit einem peripher wirk-
samen Dekarboxylasehemmer kombiniert wird.
4 COMT-Inhibitoren: Der Abbau von L-Dopa zu seinem
Metaboliten 3-Methyl-Dopa kann durch Inhibitoren des inak-
tivierenden Enzyms verhindert werden, was zur Verlängerung
der Wirkung von L-Dopa führt.
4 Dopaminagonisten sind direkte Stimulatoren der post-
synaptischen Dopamin-Rezeptoren. . Abb. 23.3. Dopa-Stoffwechsel. (M. Krause, Sydney)
4 Anticholinerge Medikamente sind inzwischen weniger
bedeutsam, werden aber immer noch adjuvant gegeben.
4 Amantadin, eigentlich als Virustatikum entwickelt, ist ein dikamenten zu behandeln (7 Kap. 23.5 und . Tab. 23.9). Bei
NMDA-Antagonist, der glutamaterge Neurone im Nucl. schwerem behindernden bilateralen Tremor ist eine tiefe Hirn-
subthalamicus hemmen soll. stimulation im Nucleus subthalamicus zu erwägen.
4 Monoaminooxidase-B-Hemmer erhöhen die Verfügbar-
keit von Dopamin im Striatum. 3Fluktuationen: Im fortgeschrittenen Krankheitsstadium
stellen Fluktuationen die Hauptkomplikation dar. Dieser ist
Individualisierte Therapieschemata durch langwirksame Substanzen (z.B. Dopaminagonisten)
3Akinetisches PS. Die initiale Therapie der Bradykinese oder durch Substanzen zu begegnen, die die Halbwertszeit von
sollte vom Alter des Patienten und damit von der Wahrschein- Dopamin verlängern wie z.B. COMT- oder MAO-B-Inhibito-
lichkeit, an motorischen Spätkomplikationen zu leiden, ab- ren. Auch Amantadin hat einen Effekt auf Hyperkinesien und
hängig gemacht werden. »Junge« Patienten (biologisch jünger Fluktuationen. Ebenfalls kann es wegen seiner psychotropen
als 70 Jahre bei Erkrankungsbeginn) sollten primär mit einem Wirkung Einsatz finden. Als ultima ratio ist die tiefe Hirn-
Dopaminagonisten (DA) behandelt werden. Wegen der langen stimulation des Nucleus subthalamicus (STN-Stimulation)
Halbwertszeit muss Cabergolin nur 1- bis 2-mal pro Tag ein- beidseits oder alternativ eine kontinuierliche Applikation von
genommen werden. Welchen DA man wählt hängt von dem L-Dopa in Gelform (Duodopa) über eine PEG zu erwägen.
Nebenwirkungsprofil, der Compliance des Patienten, Begleit-
erkrankungen und nicht zuletzt von der eigenen Erfahrung ab. 3Behandlung der Begleitdepression. Eine Depression
Die sehr kurzwirksamen Dopaminagonisten Lisurid und Apo- findet man im Mittel bei 40% aller Parkinsonpatienten. Es be-
morphin haben unserer Ansicht nach nur selten eine Indika- steht keine klare Korrelation zwischen dem Grad der moto-
tion. Uns liegen gute Erfahrungen neben Cabergolin mit Per- rischen Störung und der Ausprägung der Depression. Die de-
golid, Ropinirol und Pramipexol, weniger auch mit α-DHC pressive Symptomatik kann somit auch nach Einleiten einer
vor. Bromocriptin ist in einzelnen Studien etwas geringer wirk- dopamimetischen Therapie fortbestehen. Bei der häufigen
sam gewesen als modernere Dopaminagonisten, jedoch wesent- Depression im Zusammenhang mit »off«-Phasen steht jedoch
lich preiswerter. eine Optimierung der dopaminergen Therapie im Vorder-
Moderne slow-release Agonisten scheinen eine niedrigere grund. Häufig wird eine zusätzliche antidepressive Therapie
Dyskinesierate zu haben. notwendig:
Sollte diese Therapie nicht mehr hinreichend wirksam 4 Trizyklische Antidepressiva: Morgens: antriebssteigern-
sein, so ist eine Kombinationstherapie von DA und L-Dopa des Antidepressivum, z.B. Imipramin (25 mg). Abends: se-
indiziert. Bei älteren Patienten, oder wenn schnell eine Wirk- dierende Medikamente wie Amitriptylin (25–150 mg) oder
samkeit gefordert ist (z.B. bei Erhalt der Berufsfähigkeit), soll- Doxepin (10–100 mg). Cave: Trizyklische Antidepressiva kön-
te eine initiale Therapie mit L-Dopa erfolgen. Diese ist vor nen wegen der anticholinergen Nebenwirkung schlecht ver-
allem am Anfang (»Honeymoon-Phase« ) sehr gut verträglich träglich sein.
und schnell wirksam. 4 Selektive Serotonin-Re-uptake-Inhibitoren (SSRI): Flu-
oxetin, Citalopram oder Paroxetin können gegeben werden.
3Tremordominanter PS. Der Tremor stellt bei der medika- SSRI besitzen keine anticholinergen Nebenwirkungen (Cave:
mentösen Therapie häufig ein Problem dar. Anticholingerika Kombination mit MAO-B Hemmern kontraindiziert).
wie aber auch dopaminerge Substanzen können initial eine Wir- 4 Bei schlechter Verträglichkeit der genannten Stoffgrup-
kung zeigen. Dem atypischen Neuroleptikum Clozapin (Le- pen: Mirtazapin (bis 45 mg) oder Edronax (bis 8 mg). Als Ul-
ponex®) wird eine gute Wirkung auf den Tremor zugeschrieben. tima Ratio hat sich vor allem bei wahnhaften Depressionen die
Dauerhaft ist der Tremor jedoch oft nicht befriedigend mit Me- Elektrokrampftherapie als wirksam erwiesen.
536 Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

. Tabelle 23.1. Substanzgruppen zur Therapie des M. Parkinson


23
Substanz HWZ [h] Startdosis Steigerung Zieldosis [mg/ Handelsname Bemerkung
[mg/Woche] Tag]
L-Dopa 1–2 3-mal Alle drei Tage Enddosis indivi- Madopar Einnahme ½ h vor oder ½ h nach
50 mg um 50 mg duell bis Nacom den Mahlzeiten
steigern ca.:1000 mg/Tag Isicom u.v.m
Ergoline DA
Bromocriptin 3–6 1,25 mg 1,25–5 mg 7,5–30 Pravidel billigster DA
Kirim u.v.m.
Cabergolin 24–65 0,5–1,0 mg 1 mg 3–9 Cabaseril Längste HWS
α-DHC 10–16 2-mal 5 mg 5 mg 60–120 Almirid Geringe NW
Cripar
Lisurid 2 0,1 mg 0,1–0,2 mg 0,6–4,5 Dopergin kurze HWS
Cuvalit
Pergolid 7–14 0,05 0,05 mg 1,5–6 Parkotil Rezeptoraffinität
ähnlich L-Dopa
Non-ergoline DA’s
Pramipexol 8–12 3mal 2. Woche: 1,05–4,5 Sifrol Ceiling-Effekt bei etwa 4,5 mg
0,088 mg 3-mal 0,18 mg hohe D2 und D3 Affinität
3. Woche:
3-mal 0,35 mg
usw.
Ropinirol 6–9 1 mg 1 mg 6–24 Requip hohe D2 und D3 Affinität
Ropinirol re- 16 2 mg 2 mg 6–24 mg Requip modutab
tardiert morgens
Rotigotin 12–18 2 mg/Tag 2 mg 4–8 (16) mg Neupro Pflaster
Apomorphin 0,5 1–4 mg Nach Bedarf 30–100 mg ApoGo u.a. nur s.c. als Pen oder Pumpe
und NW
COMT-Inhibitor
Entacapon 1–2 200 mg zu jeder Comtess häufig Diarrhoe
L-Dopa- Gabe Urinverfärbung
MAO-B-Hemmer
Selegilin Wochen 5 mg 5–10 mg Antiparkin Cave: Interaktion
Movergam u.v.m.
AnitACH
Biperiden 2-mal 1 mg 6–10 mg Akineton neg. psychotrop
Bornaprin 1-mal 2 mg 8–12 mg Sormodren neg. psychotrop
u.v.m. neg. psychotrop
NMDA- Antagonisten
Amantadin 10–30 100 mg tgl. 100 mg 300–600 mg/d nicht abends
Budipin 31 3-mal 10 2 Woche 60 mg – QT-Zeit-Verlängerung, einge-
mg 3-mal 20 mg schränkter Vertrieb, Verordnung
nur nach schriftlicher Verpflich-
tung Vorsichtsmaßnahmen wie
regelmäßige EKG-Kontrollen
durchzuführen.
* Die Kosten sind berechnet für einen mittleren Dosisbereich von 500 mg L-Dopa jeweils in der größten und günstigsten Packungseinheit,
die noch teilbar ist. Die Dopaminagonisten sind in Äquivalenzdosen ( . Tabelle 23.2) angegeben, entsprechend 500 mg L-Dopa.
23.1 · Parkinson-Syndrome
537 23
Exkurs
Parkinsonmedikamente im Detail (. Tabelle 23.1 und 23.2a und b)
L-Dopa geschrittenen Stadium treten diese Fluktuationen unabhängig
Die größte Bedeutung in der Behandlung der Parkinson- vom Wirkspiegel auf (so genannte random fluctuations).
Erkrankung kommt dem Dopamin zu, auch wenn die Spät- Hyperkinesen zwingen zur Reduktion der Dosis. On-Off-
komplikationen dieser Therapie den frühen Einsatz von Perioden können durch Verteilung der Gesamtdosis auf viele
Dopamin in den Hintergrund drängen. kleine Dosen (Tabletten zu 50 mg L-Dopa) oft nicht befriedi-
gend ausgeglichen werden. Wie auch die anderen Medika-
3Pharmakologie. Dopamin selbst dringt nicht durch die mente, kann L-Dopa psychotische Episoden mit Halluzinati-
Blut-Hirn-Schranke. Man verabreicht deshalb einen Dopamin- onen, Unruhe, Angst und Aggressivität auslösen, die ebenfalls
vorläufer L-Dopa, der die Blut-Hirn-Schranke überwinden manchmal eine Dosisreduktion erforderlich machen. Da man
kann L-Dopa wird allerdings fast zu 99% bereits in der Peri- in der großen Mehrzahl der Fälle mit diesen drei uner-
pherie durch Decarboxylierung und Meythylinisierung ver- wünschten Wirkungen nach Langzeitbehandlung mit L-Dopa
stoffwechselt. Daher gibt man einen nur peripher wirksamen rechnen muss, soll die Therapie sorgfältig, auch unter Berück-
Decarboxylase-Inhibitor (Benserazid oder Carbidopa), um sichtigung anderer Stoffklassen, aufgebaut werden.
die Bioverfügbarkeit von L-Dopa auf 5–10% zu steigern. Gibt
man zusätzlich einen Catechol-o-Methyltransferaseinhibitor Dopaminagonisten (DA)
(COMT-Inhibitor, Entacapone oder Talcapone, s.u.) hinzu, Diese Wirkstoffe stimulieren postsynaptisch die Dopaminre-
kann die Verfügbarkeit von Dopamin im Gehirn auf etwa zeptoren, haben aber auch eine präsynaptische Wirkung auf
20–25% gesteigert werden (. Abb. 23.3). die D2-Rezeptoren.

3Präparate. L-Dopa steht als Kombinationspräparaten 3Pharmakologie. Man unterscheidet Ergotamin-Abkömm-


mit Benzerazid (Madopar® als 62,5, 125 oder 250 mg) zur linge wie Bromocriptin, Pergolid, Dihydroergocriptin und
Verfügung (Cave: beinhaltet jeweils nur 50 mg, 100 mg oder Cabergolin von Nonergot-Derivaten wie Ropinirol und Prami-
200 mg L-Dopa pro Tablette) oder mit Carbidopa (z.B. pexol. Dopaminagonisten binden kompetitiv an die verschie-
Isicom®, Nacom®, u.v.m.) oder mit Carbidopa und Entaca- denen Dopaminrezeptoren (D1–D5). Es gibt experimentelle
pone (Stalevo®). Hinweise auf eine neuroprotektive Wirkung der Dopaminago-
Inzwischen stehen auch schnell anflutende Präparate nisten; bisher konnte diese Protektion am Menschen nicht
(z.B. Madopar LT®) und Retard-Tabletten (z.B. Nacom ret®) zweifelsfrei nachgewiesen werden.
zur Verfügung. Die orale Einnahme von L-Dopa soll nicht mit
proteinreichen Mahlzeiten zusammenfallen, weil Proteine 3Präparate. Es stehen eine Reihe von Dopaminagonisten
die Bioverfügbarkeit von L-Dopa verringern. (5 Ergot- und 3 Non-ergot-Derivate) zur Verfügung (. Tabel-
le 23.1). Die Dopaminagonisten unterscheiden sich v.a. durch
3Nebenwirkungen. Als Nebenwirkung einer Langzeit- ihre Halbwertszeit und die Rezeptoraffinität sowie nicht zuletzt
behandlung mit L-Dopa treten choreatiforme Überbewegun- durch den Preis.
gen (Hyperkinesen) auf, die solche Ausmaße annehmen
können, dass Patienten infolge dessen keine normalen Be- 3Nebenwirkungen. Dopaminagonisten verursachen
wegungen mehr durchführen können. Besonders häufig seltener motorische Komplikationen (Fluktuationen, Hyper-
sind choreatische Hyperkinesen vorwiegend der Gesichts-, kinesien) im Vergleich zu Dopamin und können auch in einer
Hals- und Schultermuskulatur. Sie sind sozial sehr auffällig, Kombinationstherapie mit L-Dopa diese verringern.
werden aber von den Patienten selbst erstaunlich gut tole- Dopaminagonisten sind etwas weniger wirksam als L-Dopa
riert. Schließlich stellen sich bei vielen Patienten sog. On- und haben häufiger gastrointestinale Nebenwirkungen oder
Off-Perioden ein: Ein- oder zweimal am Tag fällt der Kranke induzieren Psychosen. Häufiger als unter Dopamin sind u.a.
für Stunden in einen akinetischen Zustand zurück, der für Pramipexol und Ropinirol, aber auch für andere Dopamin-
häufig von trauriger Verstimmung begleitet ist und der agonisten, eine vermehrte Tagesmüdigkeit und als seltene
dem Zustand eines unbehandelten Parkinson-Patienten Nebenwirkungen imperative Einschlafattacken beschrieben,
gleicht. auf die die Patienten in der Eindosierungsphase auch im
Eine weitere Nebenwirkung einer Langzeitbehandlung Hinblick auf die PKW-Fahrtauglichkeit hingewiesen werden
mit L-Dopa sind so genannte Fluktuationen. Diese On-Off- müssen. Die Hoffnung, dass die non-ergolinen DA weniger
Phasen zunächst jeweils am Ende der Dosiswirkung lassen Nebenwirkungen aufweisen als die älteren ergolinen DA hat
die Beweglichkeit des Erkrankten unberechenbar werden. sich nicht bestätigt. Bei den ergotbasierten DA sind retro-
Aus einem On-Zustand, in dem der Patient sich gut bewegen peritoneale und pleuropulmonale Fibrosen eine sehr seltene,
kann, verfällt er teilweise innerhalb von Sekunden in einen aber ernste Nebenwirkung. Aktuell erregt die Beobachtung
akinetisch-rigiden Zustand, ohne die Fähigkeit, eine Bewe- einer Häufung von Herzklappenveränderungen Aufsehen.
gung zu initiieren. Dieser Zustand kann ebenso schnell wie- Regelmäßige kardiologische Untersuchungen mit TTE sind
der in einen beweglichen On-Zustand »fluktuieren«. Im fort- erforderlich. Patienten mit vorbestehenden Herzklappenkrank-
6
538 Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

23 heiten sollten nicht mit ergolinen Agonisten behandelt same COMT-Inhibitoren zusätzliche den Abbau von Dopamin
werden. zu 3-MT.
Im Gegenzug schränken die nonergolinen DA wegen
des Auftretens von so genannten Schlafattacken die 3Präparate. In Deutschland ist der peripher wirksame
Fahrfähigkeit ein. Das Auftreten von Schlafattacken ist COMT-Inhibitor Entacapone (Comtess®) und das auch liquor-
wahrscheinlich jedoch ein krankheitsimmanentes Phä- gängige Tolcapon (Tasmar®) erhältlich. Die Einnahme erfolgt
nomen. mit jeder L-Dopa-Gabe, maximal 2000 mg/Tag für Comtess,
Mit der Kombinationstherapie von Levodopa + Carbi- max. 3-mal 200 mg/Tag für Tasmar®.
dopa + Entacapon in einer Tablette steht ein für die Tablet-
teneinnahme des Patienten vereinfachtes Therapieregime 3Nebenwirkungen. Als Nebenwirkungen treten häufig
bei fluktuierenden Parkinson Patienten zur Verfügung. Dyskinesien, gastrointestinale Symptome wie Übelkeit, Erbre-
chen, Diarrhoe sowie eine rötlich-braune Urinverfärbung auf.
Amantadin Entacapone kann nicht die Blut-Hirn-Schranke überwinden und
Bei diesem Virustatikum wurde die Wirkung auf das Parkin- hemmt daher nur die periphere COMT. Tolcapone führt zu einer
son-Syndrom zufällig entdeckt. Zum Mechanismus gibt es effektiveren Hemmung der COMT im Vergleich zu Entacapone
die Hypothese, dass Amantadin als NMDA-Antagonist gluta- (Tasmar®) und ist liquorgängig, so dass auch die zentrale COMT
materge Neurone im Nucl. subthalamicus hemmt. Es soll inhibiert wird. Trotz des Auftretens von teils tödlich verlaufen-
auch eine geringe anticholinerge Wirkung haben. den Hepatitiden besitzt das Präparat seit 2005 in der EU erneut
In Dosen zwischen 100 mg/Tag und 300 mg/Tag wirkt eine eingeschränkte Zulassung. Seither sind regelmäßige labor-
es, wenn auch schwächer als Levodopa, auf Rigor und Akine- chemische Kontrollen der Leberfunktion vorgeschrieben.
se. Amantadin-Sulfat (z.B. Pk-Merz®) scheint besser verträg-
lich zu sein als Amantadin-Hydrochlorid. Sie wird ohne Ver- Monoaminooxidase-B-Hemmer
stoffwechselung durch die Nieren ausgeschieden. Vor allem 3Pharmakologie. Selegelin ist ein selektiver, irreversibler
spielt Amantadin wegen der intravenösen Applikationsform Inhibitor der Monoaminooxidase B (die MAO-B muss neu
(200–600 mg in Infusionen von 500–1000 ml) eine wichtige synthetisiert werden). Hierdurch wird die Bioverfügbarkeit von
Rolle bei der Behandlung der akinetischen Krise. Amantadin Dopamin verlängert. Selegelin wird in der Leber u.a. zu Am-
unterscheidet sich lediglich durch eine Methylgruppe von phetamin verstoffwechselt und hat daher einen geringen
Memantin und weist daher auch einen psychotropen Effekt psychotropen Effekt. Selegilin, in der Dosis von 10 mg pro Tag,
auf. Probatorisch wird es daher auch bei gesteigerter Ermüd- hat eine ähnliche Wirkung wie Levodopa. Es soll die Verfüg-
barkeit bei Multiple Sklerose und zur Steigerung der Vigilanz barkeit von Dopamin im Striatum erhöhen. Selegilin ist als
bei postkomatösen Zuständen eingesetzt. Dies kann nützlich Monotherapie am Anfang der Behandlung bei Patienten ge-
bei einem demenziellen Syndrom sein, kann aber auch als eignet, die nicht stark behindert sind. Später wird es zur Kom-
unerwünschte Nebenwirkung in Form von Psychosen auftre- binationstherapie verwendet.
ten. Eine Indikation besteht als add-on-Therapie beim Auf-
treten von Dyskinesien im Krankheitsverlauf. Anticholinerge Medikamente
Diese Substanzgruppe hat nur noch untergeordnete Bedeu-
COMT-Inhibitoren tung. Medikamente wie Bornaprin (Sormodren), Trihexipheni-
3Pharmakologie. Die Catechol-o-Mythyltransferase dyl (Artane®) oder Metixen (Tremarit®) werden manchmal
metabolisiert alle Katecholamine, also auch L-Dopa zu 3-O- hinzugegeben, wenn der Tremor durch die Dopabehandlung
Methyl-Dopa (3 OMD) und Dopamin zu 3-Methoxytyramin nicht ausreichend beeinflusst wird. Anticholinergika haben
(3-MT). Somit hemmen periphere COMT-Inhibitoren nur den einen negativen psychotropen Effekt und verschlechtern die
Abbauschritt von L-Dopa zu 3OMD, hingegen zentralwirk- kognitive Leistungsfähigkeit.

3Behandlung der dopamininduzierten Psychose. Die All- stärkung der Parkinson-Symptomatik zur Folge zu haben.
gemeinmaßnahmen sind: Suche nach Zweiterkrankung, Hy- Hierzu liegen nur offene, keine randomisierten, kontrollierten
dratation und Elektrolyte überprüfen, frühzeitige antibiotische Studien vor. In Deutschland ist die Substanz für diese Indika-
Behandlung bei einem Verdacht auf einen bakteriellen Infekt. tion nicht zugelassen.
Zunächst werden Anticholinergika, Amantadin, Antidepres-
siva und Dopaminagonisten deutlich reduziert. Man gibt Chirurgische Therapie
L-Dopa, möglichst auch in reduzierter Dosis weiter, um eine Bei der neurochirurgischen Behandlung des Parkinson-Syn-
akinetische Krise bzw. ein Dopa-Entzugssyndrom (s.u.) zu ver- droms unterscheidet man läsionelle Verfahren, die tiefe Hirn-
meiden. Die klassischen Neuroleptika sind parkinsonverstär- stimulation und die Transplantation fetalen Gewebes. Die tiefe
kend. Deshalb gibt man zunächst Clozapin (Leponex®, Son- Hirnstimulation (tHS) hat die funktionelle neurochirurgische
derrezept nötig! Cave: Agranulozytoserisiko), 12,5–50 mg. Behandlung von Bewegungsstörungen revolutioniert. Bei den
Quetiapin (Seroquel®) scheint ebenfalls keine relevante Ver- ersten beiden Verfahren kommen drei Zielgebiete in Betracht:
23.1 · Parkinson-Syndrome
539 23
3Läsionelle Verfahren der ersten beiden Lokalisationen
. Tabelle 23.2a. Äquivalenzdosen der Dopaminagonisten
sind schon lange bekannt. Sie können aber in der Regel nur
Äquivalenzdosen Einzeldosis einseitig und hauptsächlich gegen das Symptom Tremor einge-
L-Dopa 100 mg setzt werden. Operative Komplikationen und Nebenwirkun-
Apomorphin 3–5 mg (40–50 μg/kg) gen, vor allem die Sprechstörung, sind häufiger als bei der
Bromocriptin 10–15 mg tiefen Hirnstimulation und vor allem irreversibel. Seit Ein-
Cabergolin 2 mg führung der tiefen Hirnstimulation werden die läsionellen
Lisurid 1 mg Verfahren nur noch für Sonderindikationen durchgeführt. Der
Pergolid 1 mg
VIM hat sich als bevorzugtes Zielgebiet für Tremorerkran-
Pramipexol 0,7–1 mg (freie Base)
kungen erwiesen. So kann damit der medikamentös meist
Ropinirol 3–5 mg
Rotigotin 2 mg
unbefriedigende behandelbare Tremor gut supprimiert wer-
den. Dies trifft sowohl für den Parkinson-Tremor wie auch für
den essentiellen Tremor (s.u.) zu. Weniger gut spricht der ze-
rebelläre Tremor auf diese Behandlung an.
. Tabelle 23.2b. Pharmakologische Eigenschaften der Dopanmi-
Das GPi als Zielgebiet von stereotaktischen Operationen
nagonisten*
fand zunächst vor allem bei Parkinson-Erkrankungen Anwen-
Substanz Gruppe HWZ (h) Elimination dung, da hiermit die Dopamintoleranz deutlich erhöht werden
und Hyperkinesen gut kontrolliert werden konnten. Darüber
Apomorphin s.c. Non-Ergot 0,5
hinaus zeigte es sich als das bevorzugte Zielgebiet bei Dysto-
Bromocriptin Ergot 6 Hepatisch nien.
Bei den Ausschaltungsoperationen (Pallidotomie und
Cabergolin Ergot 65 Hepatisch Thalamotomie) soll die gestörte Balance der Transmittersyste-
Lisurid Ergot 2–3 Heptatisch/renal me, die durch den Dopaminmangel entsteht, durch Läsion der
beim Patienten überwiegenden GABA-Seite auf einem nied-
Pergolid Ergot 7–16 Heptatisch/renal rigeren Niveau ausgeglichen werden. Obwohl diese Opera-
Pramipexol Non-Ergot 8–12 Renal
tionen, besonders die Thalamotomie bei Tremor, gute Erfolge
zeigten, besteht das Risiko, dass eine ungewollte Verletzung der
Ropinirol Non-Ergot 6 Renal Pyramidenbahn zu einer zentralen Lähmung führt.
Rotigotin Non-Ergot 5–7 Renal
transdermal
3Tiefe Hirnstimulation. Die Ausschaltungsoperationen
wurden durch die nebenwirkungsarme stereotaktische Im-
* modifiziert nach den Leitlinien der DGN, 2008 plantation von Stimulationssonden (Stimulation des ventra-
len Intermediärkerns (VIM) des Thalamus bei Tremor und
des inneren Pallidums bei Akinese) ersetzt. Die funktionelle
4 Teile des Thalamus vor allem der ventrale intermediärer Inhibition des Ncl. subthalamicus führt zu einer deutlichen
Thalamuskern (VIM), Besserung aller Parkinson-Symptome, so dass er heute zum
4 der mediale Teil des Globus pallidus internus (GPi), Zielgebiet der ersten Wahl in der operativen Behandlung der
4 der Nucleus subthalamicus (STN). Parkinson-Erkrankung wurde, da im Vergleich zur GPi-Sti-
mulation die dopaminerge Medikation im Mittel um die Hälf-

Empfehlungen Diagnose und Therapie des M. Parkinson*


4 Parkinson Patienten unter 70 Jahren ohne wesentliche 4 Bei Patienten, die neu auf eine Therapie mit einem Ergot-
Komorbidität: Therapieeinleitung der ersten Wahl ist die Dopaminagonisten eingestellt werden, ist eine kardiovasku-
Monotherapie mit einem Non-Ergot-Dopaminagonisten (A). läre Untersuchung durch einen Kardiologen, einschließlich
Bei unzureichender Wirkung einer Monotherapie mit Dopa- transthorakaler Echokardiographie, durchzuführen. Hierdurch
minagonisten oder Unverträglichkeit von Dopaminagonis- soll eine bereits vorbestehende Herzklappenerkrankung aus-
ten, bevor eine ausreichende Dosis erreicht wurde, wird zur geschlossen werden (A).
weitergeführten Agonistentherapie eine Kombinationsthera- 4 Patienten unter einer Therapie mit Ergot-Dopaminagonis-
pie mit L-Dopa eingeleitet (A). ten sollten halbjährlich einer körperlichen Untersuchung mit
4 Parkinson Patienten über 70 Jahre oder multimorbide Auskultation des Herzens und der Lunge, jährlich einer trans-
Patienten: Therapieeinleitung der ersten Wahl ist die Mono- thorakalen Echokardiographie unterzogen werden (A).
therapie mit L-Dopa (A). Bei älteren und multimorbiden 4 Patienten mit medikamentös ausbehandelten Fluktua-
Patienten sollte eine Monotherapie mit L-Dopa fortgesetzt tionen profitieren unter der tiefen Hirnstimulation bezüglich
werden, solange keine Wirkungsfluktuationen oder andere Beweglichkeit und Lebensqualität (A).
Therapiekomplikationen auftreten (A).
* Nach den Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)
540 Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

te reduziert werden kann und der Verbrauch der Batteriekapa- Verhinderung sekundärer Gelenkversteifung, aktive Übungen
23 zität auf Grund niedrigerer Stimulationsstärke geringer ist. mit dem Ziel, die Akinese wenigstens teilweise durch inten-
Allerdings treten etwas häufiger reizbedingte Nebenwirkungen dierte Motorik zu ersetzen, und Spiele oder handwerkliche
wie Sprach- oder Sensibilitätsstörungen auf. Übungen, die der Patient gemeinsam mit einem Gesunden
4 Bei der tiefen Hirnstimulation werden Elektroden stereo- ausführt.
taktisch implantiert, die mit einem unter dem Schlüsselbein
oder subkutan im Bauchfett implantierten Stimulator zur re- Komplikationen der Parkinsontherapie
versiblen und individuell anpassbaren elektrischen Stimula- Wenn ein behandelter Parkinson-Patient wegen einer inter-
tion verbunden werden. Alle vier motorischen Kernsymptome kurrenten Krankheit in ein Krankenhaus kommt, wird manch-
der Parkinson-Krankheit können durch die tiefe Hirnstimula- mal unwissentlich die Dosis der dopaminergen Substanzen
tion beeinflusst werden. abrupt reduziert. Dabei kann es zu zwei Komplikationen kom-
4 Es handelt sich um eine der potentesten Behandlungsme- men:
thoden des fortgeschrittenen Stadiums der Parkinson-Krank-
heit. Das Ausmaß der Besserung der Off-Symptome liegt bei 3Akinetische Krise. Die Kranken, die unter der Behandlung
etwa 50–70% und erreicht die Wirkungsstärke von L-Dopa. halbwegs beweglich waren, werden vollständig akinetisch, ent-
Der Hauptvorzug liegt darin, dass die Wirkung über 24 h an- sprechend bettlägerig, schlucken nicht mehr, und ihre Atem-
hält. Die Wirkungsfluktuationen lassen unter der Behandlung exkursionen werden flach. Sie geraten bald in einen Zustand
nach oder verschwinden. Einzelsymptome wie ein Freezing der Exsikkose. Es bildet sich eine hypostatische oder eine As-
oder eine Parkinson-Dysarthrie sprechen manchmal schlech- pirationspneumonie aus. Selbst wenn nach einigen Tagen unter
ter an. Das Verfahren ist für die Behandlung der Parkinson- intensivmedizinischen Maßnahmen die Parkinson-Therapie
Krankheit zugelassen. Alle operativen Verfahren haben das mit Amantadin-Infusionen wieder einsetzt, gelingt es manch-
Risiko einer ernsten Komplikation wie Hirnblutung, Lungen- mal nicht mehr, den Kranken zu retten oder gar die frühere
embolie oder Entzündungen. Die tiefe Hirnstimulation ist vom Mobilität wieder herbeizuführen. Therapeutisch gibt man
Risiko mit etwa 1–2% für gravierende Nebenwirkungen pro 4 Amantadin-Infusionen 2- bis 3-mal 500 mg/Tag, L-Dopa
Seite am niedrigsten. (wasserlöslich (Madopar LT 4- bis 6-mal 1 Tbl.)) über Magen-
4 Es können damit bis zu 50% der Parkinson-Medikamente sonde,
eingespart werden und eine gleich bleibend gute Beweglich- 4 subkutane Dauerinfusionen von Apomorphin 30–100 mg/
keit den ganzen Tag über erzielt werden. Vorraussetzung für Tag z.B. mit ApoGo® Pumpe (ggf. zusammen mit Antiemeti-
eine erfolgreiche Operation ist das Vorliegen eines dopamin- kum Domperidon 20 mg).
responsiven Parkinson-Syndroms (s.o.). Aufgrund des Opera- 4 Schließlich kann auch L-Dopa zur Infusion über die inter-
tionsrisikos sollten nur Patienten mit medikamentös unbe- nationale Apotheke bestellt werden, wie auch i.v. gängiges Li-
friedigend einstellbarem M. Parkinson, vor allem mit Fluktu- surid über den Hersteller bezogen werden kann.
ationen und Hyperkinesien für die Operation ausgewählt
werden. Fortgeschrittene kognitive Störungen und Depression 3Dopa-Entzugssyndrom. In seltenen Fällen tritt das sog.
sind Kontraindikationen. maligne Dopa-Entzugssyndrom auf, das eine gewisse Ähn-
lichkeit mit der malignen Hyperthermie nach Gabe von Anäs-
3Zelltransplantation. Die Transplantation fetaler Substan- thetika und Muskelrelaxanzien und mit dem malignen neuro-
tia-nigra- und Nebennierenmarkzellen ist rein experimentell. leptischen Syndrom nach Gabe oder Steigerung von Neurolep-
Die Überlebensraten dieser Zellen nach Transplantation liegen tika hat. Die Leitsymptome sind Hyperthermie, Rigor, Akinese,
derzeit bei nur 10%. Zudem wirft die Entnahme von fetalem Bewusstseinsstörungen bis zum Koma, Erhöhung der CK und
Gewebe ethische Fragen auf. Die Transplantation fetaler dopa- der Transaminasen sowie Leukozytose ohne Erregernachweis.
minerger Stammzellen erbrachte in zwei großen prospektiven, Die Behandlung erfolgt mit Amantadin, L-Dopa und Apomor-
plazebokontrollierten Studien sehr enttäuschende Ergebnisse. phin wie bei der akinetischen Krise, zusätzlich gibt man Dan-
Zwar gelang es diese Nervenzellen, ins Striatum zu transplan- trolen-Na (besonders bei deutlicher CK-Erhöhung). Dosie-
tieren, auch überlebt ein Teil der Zellen, jedoch scheinen diese rung: 2,5 mg/kg Startdosis i.v., danach 5–10 mg/kg/Tag als
Zellen sich nicht sinnvoll in das neuronale Netzwerk zu inte- Dauerinfusion.
grieren. Sie setzen Dopamin offensichtlich nicht bedarfgerecht
frei und führen hierdurch zu so genannten Off-Hyperkinesen.
Abgesehen davon wirft die Transplantation fetaler Stammzellen 23.1.2 Multisystematrophien (MSA)
viele ethische Fragen auf. Interessante neue Entwicklungen sind mit Parkinson-Symptomen
immortalisierte, adulte, dopaminerge Stammzellen aus der Re-
tina, die in einer gelatineartigen Verpackung ins Striatum im- 3Definition. Eine Parkinson-Symptomatik gehört zum
plantiert werden sollen und dort angeblich Dopamin kontrol- Bild verschiedener neurodegenerativer Krankheiten vom Typ
liert freisetzten. Studien müssen deren Wertigkeit zeigen. der Multisystematrophie (MSA). Unter MSA werden die frü-
her verwendeten Diagnosen »striatonigrale Degeneration«,
Krankengymnastik »Olivo-ponto-zerebelläre Atrophien« und »Shy-Drager-Syn-
Jede medikamentöse Therapie muss durch Krankengymnastik drom« zusammengefasst. Da bei allen MSA-Typen die auto-
ergänzt werden: passive Bewegungen der Extremitäten zur nome Dysregulation im Vordergrund steht, hat man den Be-
23.1 · Parkinson-Syndrome
541 23
Exkurs
Primäre, orthostatische Hypotension (Shy-Drager-Syndrom)
Obwohl diese Diagnose jetzt in der MSA-Gruppe unterge- 3Diagnostik und pathologisch-anatomische Befunde.
gangen ist, besprechen wir das Syndrom getrennt, da es in Im MRT findet man im T2-gewichteten Untersuchungsmodus
der Klinik immer noch häufig genannt wird. bilaterale Hypodensität im Putamen sowie einen hyperinten-
Das Erkrankungsalter liegt bei 35–75 Jahren, Männer sen Saum an der Grenze zwischen Putamen und Capsula exter-
sind häufiger als Frauen betroffen. na. Pathologisch-anatomisch findet man Nervenzellschwund in
der Substantia nigra und in der intermediolateralen Säule des
3Symptome. Beim Aufrichten schon in die 45-Grad- Rückenmarks (dem Kerngebiet der präsynaptischen, sympa-
Position sinkt der Blutdruck bedrohlich ab, während weder thischen Neurone) und im Nucleus dorsalis des Vagus.
Herzfrequenz noch Schlagvolumen zunehmen. In schlei-
chendem Verlauf erlöschen ferner das thermoregulatorische 3Therapie. Zur Behandlung werden adrenerge Substan-
Schwitzen und die Potenz, und es stellen sich Harn- und zen, wie Isoproterenol und Methoxamin, in Ergänzung auch
Stuhlinkontinenz ein. Atemstörungen während des Schlafes L-Dopa mit Benserazid und Hydrocortison empfohlen, diäte-
sind häufig. Schließlich entwickelt sich ein akinetisches tisch kochsalzreiche Ernährung. Die Überlebensdauer beträgt
Parkinson-Syndrom. durchschnittlich 7–8 Jahre. Im Endstadium können auch pyra-
midale, zerebelläre Symptome und Zeichen der Vorderhorn-
schädigung hinzutreten.

griff der Shy-Drager-Erkrankung aufgegeben. Die Einteilung und ein Parkinson-Syndrom, das nicht auf L-Dopa anspricht,
berücksichtigt neben diesem Hauptkriterium derzeit noch das oder eine zerebelläre Dysfunktion. Die Diagnose ist unwahr-
prädominate Nebensymptom. So wird die prädominante Par- scheinlich, wenn der Beginn der Symptomatik vor dem 30. Le-
kinson-Variante der autonomen Dysregulation als MSA-P bensjahr liegt, eine positive Familienanamnese besteht und
(vormals striatonigrale Degeneration) bezeichnet und diejeni- Halluzinationen, die nicht in Bezug zur Medikation stehen
ge mit hauptsächlich zerebellärer Störung als MSA-C (vormals oder eine Demenz auftreten.
olivo-ponto-zerebelläre Atrophie).
Bei diesen Krankheiten ist die Parkinson-Symptomatik 3Epidemiologie. MSA sind seltene sporadisch auftre-
rascher progredient als bei »idiopathischem« M. Parkinson. tenden und chronisch progrediente Erkrankungen mit einer
Prävalenz von etwa 4,4 pro 100.000. Der Erkrankungsbeginn
3Diagnostische Kriterien. Folgende Kriterien (. Tabel- ist meist in der 6. Lebensdekade. Die mittleren Überlebens-
le 23.3) erlauben die Diagnose und Einteilung der MSA. Die zeiten liegen knapp unter 10 Jahren bei einer sehr hohen Vari-
vegetativen Symptome sind obligat, die anderen fakultativ. anz. Die Todesursache sind meist krankheitsimmanente Be-
Eine MSA gilt danach als möglich, wenn ein Kriterium gleiterkrankungen wie Pneumonien.
erfüllt ist und zwei Symptome aus einer anderen Domäne vor- Histologische gliale zytoplasmatische Einschlüsse in Oligo-
liegen. Wahrscheinlich liegt eine MSA vor, wenn das Kriterium dendrozyten sind in den Basalganglien, in den Olivenkernen
für die autonome Störung erfüllt ist, also entweder eine ortho- und zerebellären Purkinje-Zellen sowie in den autonomen
statische Hypotension vorliegt oder eine Blaseninkontinenz Kerngebieten typisch. Man fand sowohl α-Synuclein als auch

. Tabelle 23.3. Domänen, Symptome und Kriterien der MSA


Domänen Symptome Kriterien
I Autonome Störung RR Abfall > 20 mmHg systolisch oder >10 mmHg RR Abfall > 30 mmHg systolisch oder >15 mmHg
diastolisch beim Aufrichten diastolisch beim Aufrichten
Blasen-Inkontinenz oder inkomplette Blasen- Blasen-Inkontinenz und/oder erektile Dysfunktion
entleerung
II Parkinsonsyndrom Bradykinese Bradykinese und zwei von folgenden:
Rigor Rigor
Posturale Störung Posturale Störung
Tremor Tremor
III Zerebelläre Symptome Gangataxie Gangataxie und zwei der folgenden:
Dysarthrie Dysarthrie
Rumpfataxie Rumpfataxie
Anhaltender Blickrichtungsnystagmus Blickrichtungsnystagmus
IV kortikospinale Symptome Babinski-Reflex Keine
Hyperreflexie
542 Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

Facharzt
23 Andere Parkinson-Syndrome
Enzephalitischer Parkinsonismus. Ein Parkinson-Syndrom selektiv die nigralen, dopaminergen Zellen und wird seither
kann das führende Symptom einer akuten Virusenzephalitis tierexperimentell zur Auslösung eines Parkinson-Modells
sein. Diagnose 7 Kap. 19. benutzt.

Postenzephalitisches Parkinson-Syndrom. Der postenze- Posthypoxisches Parkinson-Syndrom. Ein akinetisches


phalitische Parkinsonismus als Nachkrankheit der Encephali- Parkinson-Syndrom kann sich nach akuter, globaler Mangel-
tis lethargica (von Economo), wahrscheinlich verursacht durchblutung des Gehirns einstellen, z.B. nach Narkose-
durch gegen Basalganglien gerichtete Antikörper nach einer zwischenfällen oder nach Strangulation. Weitere Ursachen
Streptokokken-Infektion, spielt heute keine Rolle mehr. Nach sind die CO- und die Manganvergiftung. Dabei kommt es
Enzephalitis anderer Ätiologie, z.B. nach postvakzinaler oder zu hypoxisch bedingten, symmetrischen Erweichungen im
Fleckfieberenzephalitis, ist er äußerst selten. Pallidum, die man computertomographisch gut nachweisen
kann. Das Parkinson-Syndrom tritt erst einige Wochen nach
Medikamentös-toxisch induziertes Parkinsonsyndrom. der Hypoxie auf. Anstelle des Parkinson-Syndroms können
Viele Psychopharmaka, besonders Neuroleptika, führen zu sich aber auch choreatische und ballistische Symptome oder
einem vorwiegend akinetischen Parkinson-Syndrom. Einzel- ein posthypoxischer Myoklonus (Lance-Adams-Syndrom)
heiten 7 Kap. 30. MPTP, ein Bestandteil von so genannten entwickeln.
Designerdrogen, hat in den 70er Jahren zu einer Endemie Parkinsonähnliche Bewegungsstörungen treten im
von Parkinson-Syndromen bei jungen Drogenabhängigen, Anfangsstadium der hepatolentikulären Degeneration auf
vor allem in Kalifornien geführt. Diese Substanz schädigt (7 Kap. 28.2).

Tau- und Ubiquitin-positive Einschlusskörperchen. Es kommt Bei Dranginkontinenz gibt man Oxybutynin (2-mal 2,5–
zu einer Verminderung striatalen Dopaminrezeptoren. Eine 5 mg/Tag unter Kontrolle des Restharns). In der Frühphase
definitive Diagnose kann nur post mortem histologisch erfol- kommen bei erektiler Dysfunktion Sildenafil oder mecha-
gen. nische Implantate zur Anwendung.
Etwa ein Drittel der Patienten entwickeln einen inspirato-
3Klinische Einteilung rischen Stridor, der mit Botolinumtoxin behandelt werden
4 MSA-C (Olivopontozerebelläre Atrophie): Im Vorder- kann, manchmal aber auch die Diskussion über eine Tracheo-
grund stehen zerebelläre Funktionsstörungen. Ein akinetisches tomie erzwingt.
Parkinson-Syndrom ist häufig. Charakteristisch ist das feh-
lende Ansprechen auf L-Dopa.
4 MSC-P (Striatonigrale Degeneration): Im Vordergrund 23.1.3 Parkinsonsyndrome bei anderen
steht die Parkinson-Symptomatik mit starker orthostatischer neurodegenerativen Erkrankungen
Dysregulation. Die Wirkung der klassischen Parkinson-Medi-
kamente ist begrenzt, ein L-Dopa-Test sollte allerdings immer Diese Gruppe von Krankheiten ist einem starken Wandel un-
erfolgen. terzogen. Einige der hier besprochenen Entitäten wurden noch
vor kurzem als Multisystematrophien (MSA) klassifiziert,
3Verlauf und Therapie. Die Lebensqualität stark einschrän- passen aber in die neuen Klassifikationsmodelle nicht mehr
kend ist vor allem die orthostatische Hypotension. Dieser kann hinein. Sie werden allerdings klinisch weiterhin als Differen-
durch eine ausreichende Flüssigkeitssubstitution, kleine Mahl- tialdiagnose wichtig bleiben.
zeiten (Reduktion der postprandialen Hypotension) und Kom-
pressionsstrümpfe oder -Anzüge entgegengewirkt werden. Progressive Supranukleäre Blickparese (PSP)
Pharmakologisch kommen Sympathikomimetika bis hin zur 3Definition und Pathogenese. Die progressive supra-
Noradrenalinpumpe zum Einsatz sowie Mineralkortikoide. nukleäre Blickparese (PSP, historisch auch Steele-Richard-
Für die orthostatische Hypotension werden Stützstrümpfe, son(-Olzewski)-Syndrom genannt) gehört zur Gruppe der
erhöhte Salzzufuhr und Fludrocortison (0,05–0,3 mg) emp- degenerativen Hirnerkrankungen mit atypischen Parkinson-
fohlen. Syndrom. Sie ist ein weiteres Beispiel für eine neurodegenera-
Die Parkinson-Symptomatik kann initial bei einem Teil tive Krankheit auf der Basis einer Mutation des Tau-Protein-
der Patienten durch L-Dopa gebessert werden, teilweise soll Gens mit konsekutiver subkortikaler Anhäufung von patholo-
dies aber zu einer Verschlechterung der autonomen Dysfunk- gischen Tau-Proteinaggregaten.
tion und zu Dyskinesien mit deutlichen dystonen Elementen
führen. Für die zerebelläre Symptomatik existiert derzeit kei- 3Epidemiologie. Die PSP ist häufiger als früher angenom-
ne wirksame Therapie. Ein Therapieversuch mit Amantadin men. Man geht von etwa 5 bis 10 Neuerkrankungen pro 100.000
3-mal 100–200 mg hat in Einzelfällen positive Effekte auf Einwohner aus. Damit ist es die häufigste Ursache eines aty-
Ataxie bewirkt. pischen Parkinson-Syndroms. Die Krankheit beginnt meist
23.1 · Parkinson-Syndrome
543 23
um das 60. Lebensjahr, die Krankheit verläuft progredient und Die Ganginstabilität kann medikamentös nicht beein-
führt innerhalb einer Dekade nach Diagnosestellung zum flusst werden. Prismengläser für die Doppelbilder und die
Tode. Die Patienten sind oft früh bettlägerig und sterben oft an vertikale Blickparese sind wenig hilfreich. Von der Gabe von
einer Aspirationspneumonie. cholinergen Substanzen bei Demenz wird abgeraten. Bei be-
stehendem Acetylcholin-Mangel erscheint ein Therapiever-
3Symptome. Das führende Symptom ist die initiale verti- such mit Cholinesterasehemmern zwar sinnvoll, eine kleine
kale Blickparese (oft mehr nach unten als nach oben), dazu randomisierte, placebokontrollierte Studie zeigte jedoch nur
treten ein akinetisches Parkinson-Syndrom mit im Gegensatz bescheidene pos. Effekte auf die Kognition bei deutlicher Ver-
zum M. Parkinson axial betontem Rigor, welches nur schlecht schlechterung der Mobilität und den Aktivitäten des täglichen
auf L-Dopa oder Dopaminagonisten reagiert, posturale Insta- Lebens. So dass dieser Ansatz nicht mehr empfohlen werden
bilität mit gestörte Gang- und Standsicherheit und, später auf- kann.
tretend, eine Demenz.
Weitere seltene Symptome sind Dysphagie und Dysarthrie, Kortikobasale Degeneration (CBD)
pathologisches Lachen und Weinen und horizontale Blick- 3Pathophysiologie. Bei der kortikobasalen Degeneration
bewegungsstörungen ein. Die wesentlichen Kriterien zur (CBD) ist eine progrediente neurodegenerative Erkrankung
Diagnose der progressiven supranukleären Lähmung sind in mit Parkinson-Symptomen und Demenz und nach der PSP das
. Tabelle 23.4 zusammengefasst. zweithäufigste atypische Parkinson-Syndrom. Molekulargene-
Neben dem akinetisch-rigiden, kaum auf L-Dopa anspre- tisch sind bisher zwei Mutationen im Tau-Gen beschrieben.
chenden Parkinson-Syndrom gibt es auch eine Variante, die Postmortal zeigt die Autopsie eine asymmetrische Atrophie
initial besser auf L-Dopa anspricht (PSP-Parkinson-Syndrom) des Cortex im Bereich des Sulcus centralis und der Substantia
und eine Variante, bei der die Akinese und die Gangstörung nigra. Diese Aggregate wirken neurotoxisch und führen zu
mit starkem Freezing im Vordergrund stehen, in deren Folge deutlichem Zellverlust in den genannten Strukturen. Postmor-
es charakteristischerweise bereits im ersten Krankheitsjahr tal zeigt die Autopsie eine asymmetrische Atrophie des Cortex
im Gegensatz zu anderen Parkinson-Syndromen zu Stürzen im Bereich des Sulcus centralis und der Substantia nigra. His-
kommt. tologisch findet sich in diesen Arealen eine Gliose und ein Un-
tergang achromatischer, ballonierter Neurone infolge Tau-po-
3Diagnostik. Der L-Dopa-Test ist meist negativ. sitiver Ablagerungen.
Im MRT sieht man typischerweise die Atrophie der Mit-
telhirnregion mit normal großen Crura cerebri im Vorder- 3Epidemiologie. Die frontobasale Degeneration ist selten
grund (sogenanntes Micky-Maus-Muster). Nuklearmedi- und beginnt meist nach dem 60. Lebensjahr. Männer und
zinische Untersuchungen bringen nicht entscheidend weiter, Frauen sind gleichhäufig betroffen. Nur wenige Patienten
der Liquor ist normal. Ob der Nachweis veränderter Tau- überleben die Krankheit länger als 8–10 Jahre.
Proteinfraktionen im Liquor zur Diagnosestellung beiträgt, ist
noch unklar. 3Symptome. Bei der kortikobasalen Degeneration handelt
es sich um ein meist asymetrisches akinetisch rigides Parkin-
3Therapie. Die dopaminerge Therapie mit L-Dopa oder son-Syndrom. Weitere Symptome sind Dystonien und Myo-
Dopaminagonisten ist in der Regel nicht wirksam. Eine Besse- klonien, und posturale Instabilität mit Stand- und Gangun-
rung des Parkinson-Syndroms soll bei wenigen Patienten mit sicherheit und verschiedenen kortikal-neuropsychologischen
trizyklischen Antidepressive (Amitriptylin) erreicht worden Symptomen, wie Apraxie. Dystone Elemente finden sich bei
sein. der Mehrzahl der Patienten. Dieses Parkinson-Syndrom hat
keinen Ruhetremor. Als relativ typisch gilt auch das »Alien
Limb«-Phänomen, eine kortikale sensible Deaffarenzierung,
. Tabelle 23.4. Diagnostische Kriterien der progressiven supra- die dazu führt, dass die eigenen Gliedmaße als fremd empfun-
nukleären Blickparese (PSP) den werden. Im Verlauf kommt eine progrediente Demenz
Mögliche PSP Primär progredienter Krankheitsverlauf mit hinzu.
Erkrankungsalter jenseits des 40. Lebenslaufes Weitere, nicht obligate Symptome sind: Blickparesen und
5 Vertikale supranukleäre Blickparese als Doppelbilder. In seltenen Fällen kann es früh zu einer Demenz
Erstsymptom kommen, die schwer von einer frontotemporalen Demenz zu
5 Ausgeprägte Gangunsicherheit mit Stürzen unterscheiden ist (Kapitel 25.3.1).
Gesicherte PSP Klinisch neuropathologische Diagnose mit
typischer Histopathologie
3Diagnostik. Über die Basisdiagnostik bei extrapyramida-
len Bewegungsstörungen hinausgehende diagnostische Ver-
Unterstützende 5 Symmetrische Akinesie fahren existieren nicht.
Zusatz- 5 Fehlendes Ansprechen auf L-Dopa-Therapie
symptome 5 Kognitiver Abbau 3Therapie. Initial kann eine symptomatische Therapie
5 Dysarthrophonie mit L-Dopa oder Dopaminagonisten eine geringgradige Ver-
5 Dysphagie
besserung erreichen, ansonsten gilt ähnliches wie für die
5 Aspiration
progressive subranukleäre Blickparese, dass nämlich die Par-
544 Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

kinsonsymptome nur schlecht beeinflussbar sind. Dystonien dass die Patienten hilflos werden können. Besonders stark ist
23 können mit Botulinumtoxin behandelt werden, Myoklonien das Gehen erschwert.
reagieren nur inkonstant auf Benzodiazepine, Valproat oder
Piraczetam.
23.2.1 Chorea Huntington
Demenz mit Lewykörperchen
Diese Entität wird in Kapitel 25 besprochen, obwohl sie auch 3Epidemiologie und Genetik. Die 1872 von Huntington
unter die Parkinsonsyndrome bei neurodegenerativen Krank- beschriebene Chorea der Erwachsenen ist nicht selten: Sie
heiten subsummiert werden kann. tritt mit einer Prävalenz von 2 bis 10 Fällen pro 100.000 Ein-
Charakteristisch sind frühe Demenz, Halluzinationen und wohner auf. Nur in Finnland, China und Japan ist sie mit 0,5
ein Parkinsonsyndrom, das mäßig auf dopaminerge Therapie auf 100.000 auffällig selten. Der Grund dafür ist nicht be-
anspricht. kannt.
Das Leiden ist autosomal-dominant erblich. Die Erban-
lage hat volle Penetranz. Das Gen ist auf dem kurzen Arm von
23.2 Choreatische Syndrome Chromosom 4 lokalisiert worden und besteht aus einer ab-
normen Vermehrung eines CAG-Triplet-Repeats (>38 Wie-
Bei einer choreatischen Bewegungsstörung handelt es sich um derholungen). Diese Region kodiert für ein ubiquitär expri-
unwillkürliche, plötzliche, rasche, unregelmäßige und nicht miertes Protein, das Huntingtin genannt wird. Kinder von
vorhersehbare distal betonte Bewegungen der Extremitäten, Genträgern haben ein Krankheitsrisiko von 50%. Männer und
des Gesichtes, des Halses und des Rumpfes. Die Bewegungen Frauen werden gleich häufig betroffen. Das Erkrankungsalter
können sowohl in Ruhe als auch während willkürlicher Bewe- liegt zwischen 30 und 50 Jahren mit einem Gipfel um das
gungen auftreten (7 Kap. 1.7.2). Unter besonders starker seeli- 45. Lebensjahr. Ein Beginn in der Jugendzeit oder Kindheit ist
scher Erregung können sie sich zum »choreatischen Bewe- sehr selten. Antizipation, d. h. frühere Manifestation bei den
gungssturm« steigern, der die Kranken völlig überwältigt und Nachkommen, erfolgt vor allem bei Vererbung der Mutation
jede geordnete Motorik unmöglich macht. Im Schlaf oder in durch den Vater.
der Narkose setzen die Hyperkinesen aus. Die choreatischen Genetische Beratung: Huntington-Kranke sollten wegen
Hyperkinesen wirken auf den Beobachter wie Bruchstücke von der hohen Penetranz der Erbanlage (bei jeder Schwangerschaft
intendierten oder von gestischen und mimischen Ausdrucks- besteht eine 50%ige Wahrscheinlichkeit, dass das Kind erkran-
bewegungen. Anfangs gelingt es den Patienten auch, die un- ken wird), aber auch wegen der individuell schlechten Progno-
willkürlichen motorischen Impulse in Verlegenheits- oder se auf Nachkommen verzichten.
Zielbewegungen einzufügen, so dass zunächst nur der Ein- Wegen der zu erwartenden psychischen Belastung darf die
druck einer allgemeinen Nervosität oder psychomotorischen genetische Beratung bei (noch) nicht erkrankten Familienmit-
Unruhe entsteht. In fortgeschrittenen Fällen beeinträchtigen gliedern nur durch ein erfahrenes Team mit gleichzeitiger neu-
die ständig einschießenden Impulse die Motorik aber so sehr, rologischer und psychotherapeutischer Betreuung erfolgen.

Empfehlungen Diagnostik und Therapie der Chorea*


Diagnostik symptomatischen Therapie beruhen zumeist auf offenen
Bei Patienten mit choreatischer Bewegungsstörung bislang Studien, Kasuistiken und Expertenwissen.
ungeklärter Ätiologie ist folgende diagnostische Untersu-
chung nötig: Behandlung der Hyperkinesen. Hyperkinesen werden ge-
4 Internistische Untersuchung bessert durch Antihyperkinetika (z.B. Tiaprid, Tetrabenazin),
4 Familienanamnese klassische Neuroleptika und atypische Neuroleptika. Aufgrund
4 Molekulargenetische Untersuchung (CAG-Blockexpansi- der Nebenwirkungen ist ein sparsamer Einsatz aller Substan-
on >39 im Huntingtin-Gen bestätigt die Diagnose; bei einem zen zu empfehlen (A).
Befund zwischen 36 und 39 liegt eine eingeschränkte Pene-
tranz vor) Behandlung von Verhaltensstörungen und psychiatrischen
4 Zerebrale Bildgebung (CCT, MRT) Symptomen.
4 Depression: selektive Serotonin-Reuptake-Hemmer;
Wenn nach dem molekulargenetischen Testergebnis keine Sulpirid (C)
Huntington-Erkrankung vorliegt, sollten eine umfangreiche 4 Psychosen: atypische Neuroleptika (C)
Labordiagnostik inklusive Liquoruntersuchung sowie eine 4 Angst/Schlafstörungen: pflanzliche Mittel, Benzodiaze-
neurophysiologische Diagnostik erfolgen (A). pine, Chloralhydrat, Benzodiazepinrezeptor-Agonisten (C)

Therapie
Bislang ist keine neuroprotektive Therapie der Huntington-
Erkrankung in Deutschland zugelassen. Empfehlungen zur * Nach den Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)
23.2 · Choreatische Syndrome
545 23
3Pathologisch-anatomische Befunde und Pathophysiolo- Die durchschnittliche Krankheitsdauer beträgt 12–15 Jahre.
gie. Pathologisch-anatomisch findet man eine erhebliche Das gilt auch bei jungem Erkrankungsalter. Selten wird das
Hirnatrophie. Das Corpus striatum (Caudatum und Putamen) 60. Lebensjahr erreicht. Im Endstadium kommt es auch zum
ist geschrumpft. Mikroskopisch sind vor allem die kleinen Zel- Übergang in athetotische Bewegungen. Meist tritt Rigidität
len betroffen. Halbseitiger Chorea entspricht eine Läsion im und Akinese mit Versteifung der Gelenke ein. Die juvenile
kontralateralen Striatum. Pallidum und Nucleus subthalami- Form (Westphal-Variante) ist gekennzeichnet durch ein akine-
cus sind weniger ergriffen. Außerdem besteht eine deutliche tisch-rigides Syndrom oft mit ausgeprägter Dystonie ohne
Atrophie der Rinde, besonders des Stirnhirns. Chorea, dementieller Entwicklung, Myokolonien und epilep-
Der wichtigste pathologisch-anatomische Befund ist ein tischen Anfällen.
Ausfall der kleinen Zellen im Corpus striatum. Dies führt zur
Verminderung GABAerger Projektionen auf Pallidum und 3Diagnostik.
Substantia nigra. Nicht nur klinisch, sondern auch patholo- 4 CT und MRT: Atrophie des Nucleus caudatus und eine
gisch-anatomisch und biochemisch ist das choreatische Syn- Verbreiterung der Rindenfurchen als Zeichen der Hirn-
drom das Gegenbild zum Parkinson-Syndrom. Das gilt auch atrophie.
für die Therapie. 4 Mit der PET findet man bei Risikopatienten mehrere Jahre
vor den neurologischen Auffälligkeiten und vor den CT-Ver-
3Symptomatik und Verlauf. Das Leiden setzt gewöhnlich änderungen Stoffwechselminderungen im Nucleus caudatus
mit psychischen Veränderungen ein: Die Kranken werden und Putamen.
reizbar und unverträglich, später haltlos, vor allem in sexueller 4 Die Diagnose kann mit molekular-genetischen Verfah-
Hinsicht. Sie wechseln häufig ihre Arbeitsstelle, arbeiten ren gesichert werden. Diese sollen aber nur zusammen mit
schließlich überhaupt nicht mehr regelmäßig und vernach- einer genetischen Beratung ausgeführt werden.
lässigen Haushalt und Familie. In fortgeschrittenen Stadien 4 Die SEP sind oft früh pathologisch. Auch die sog. Long-
werden sie affektiv so enthemmt, dass es zu Gewalttätigkeits- loop-Reflexe, sensomotorische, elektrophysiologisch ausge-
delikten und Verwahrlosung kommen kann. Diese Choreo- löste und registrierte Reflexe, die über supraspinale Relais-Sta-
phrenie kann sich auch in überwertigen oder paranoischen tionen im ZNS geleitet werden, sind vor Manifestation des
Ideen und selbst in symptomatischen, paranoiden Psychosen klinischen Syndroms ausgefallen.
äußern. Im weiteren Verlauf entwickelt sich eine Demenz. 4 Schwermetallbestimmung (Quecksilber, Magnesium, Thal-
Die Bewegungsstörung ist gröber und im Ablauf mehr dys- lium) im Serum und/oder Urin sind nur sinnvoll, wenn mole-
ton als bei den blitzartigen Hyperkinesen der Chorea minor kulargenetisch keine Chorea Huntington vorliegt.
(7 Abschn. 23.2.2). Besonders auffällig ist das Grimassieren der
mimischen Muskulatur. Werden die Muskeln, die von kaudalen 3Therapie. Eine kausale Therapie ist nicht bekannt. Im
Hirnnerven versorgt sind, besonders stark betroffen, wird das Rahmen einer experimentellen Studie erfolgt die embryonale
Sprechen verwaschen, schließlich kaum noch artikuliert. Die Stammzelltransplantation ins Striatum oder eine tiefe Hirnsti-
Phonation wechselt stoßweise, Kaumuskulatur und Zunge sind mulation im Globus pallidus internus. Die psychische Altera-
in ständiger Bewegung, und die Patienten können nur noch mit tion ist auch durch Neuroleptika nur vorübergehend zu beein-
größter Mühe breiige Nahrung zu sich nehmen, da ihnen die flussen.
Koordination der Kau- und Schluckbewegungen fast unmög- 4 Die Hyperkinese spricht vorübergehend auf Tiaprid an, das
lich wird und unwillkürliche Zungenbewegungen die Nahrung die D2-Dopaminrezeptoren blockiert (Dosis 2- bis 3-mal
immer wieder aus dem Munde stoßen. 200 mg).
Hat die Hyperkinese an den Extremitäten halbseitig be- 4 Eine Überaktivität des erregenden Neurotransmitters
gonnen, dehnt sie sich später auf die gegenseitigen Gliedmaßen Glutamat kann über eine Vermittlung von sog. NMDA- und
aus. Handfertigkeiten lassen nach, eine geordnete Motorik ist AMPA-Rezeptoren, die mit Kanälen für Kationen gekoppelt
bei den hyperkinetischen Impulsen kaum noch möglich. Sehr sind, zur exzitotoxischen Zellschädigung führen. Während
charakteristisch ist die schwere Zunahme der Hyperkinese Minocyclin in unterschiedlichen Tiernodellen der Nerurode-
beim Gehen, so dass die Patienten bald gestützt werden müs- generation einen protektiven Effekt zeigte, was es beim M. Hu-
sen. Der Muskeltonus ist nicht so gleichmäßig herabgesetzt wie tington ohne Effekt.
bei der Chorea minor. Häufig wechselt er unter dem Einschie-
ßen von Bewegungsimpulsen (Poikilotonus oder Spasmus mo- Deshalb wird zur Zeit eine »neuroprotektive« Behandlung mit
bilis). Bei der PSR-Prüfung sinkt das Bein nur langsam wieder Glutamat-Antagonisten erprobt. Die medikamentöse Ein-
ab (Gordon’sches Knie-Phänomen). stellung und Überwachung von Huntington-Patienten sollte
Bei 50% der Patienten liegen bereits im Frühstadium oku- nur durch einen Spezialisten oder eine erfahrene Klinik ge-
lomotorische Störungen vor, beispielsweise eine vertikale Blick- schehen.
parese nach oben und der Ausfall der schnellen, sakkadischen
Augenbewegungen.
23.2.2 Chorea minor
3Verlauf. Die Krankheit ist chronisch fortschreitend. Dabei
können aber schubweise Verschlechterungen mit stationären 3Epidemiologie. Die Chorea minor ist eine Manifestation
Zwischenphasen wechseln. Remissionen kommen nicht vor. des heute bei uns sehr selten gewordenen rheumatischen Fie-
546 Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

bers im Kindes- und Jugendalter. In den Entwicklungsländern 4 Auch Valproat, das den hemmenden Transmitter GABA
23 ist die Krankheit auch heute noch häufig. Die Krankheitsdauer aktiviert, ist mit Erfolg verabreicht worden.
beträgt wenige Wochen.
3Differentialdiagnose. In erster Linie muss eine psycho-
3Ätiologie und Pathogenese. Das rheumatische Fieber gene Bewegungsstörung abgegrenzt werden. Wichtige Krite-
entwickelt sich wenige Wochen nach einer Infektion mit β- rien der Chorea sind der blitzartige, grimassierende oder
hämolysierenden Streptokokken der Gruppe A. Ursache der schleudernde Charakter der Zuckungen, die im Schlaf sistie-
Chorea sind Antikörper, die mit körpereigenen Antigenen in ren und die ausgeprägte Hypotonie der Muskulatur (Chorea
den Basalganglien reagieren. Pathologisch-anatomisch fand mollis). Fehlt die Muskelhypotonie, soll man an der Diagnose
man in den wenigen Fällen, die während der Krankheit durch zweifeln. Ein sehr typisches Symptom ist die sog. Chamäleon-
Herzinsuffizienz oder andere Komplikationen ad exitum zunge, seltener findet man das Gordon-Kniephänomen. Die
kamen, perivaskuläre Infiltrationen, Endarteriitis und Zell- oben genannten Laborbefunde stützen bzw. sichern die
schwund. Diese Veränderungen waren im Corpus striatum am Diagnose.
stärksten ausgeprägt, fanden sich aber auch in der Großhirn- Chorea kann in jedem Alter auch Symptom einer akuten
rinde und im Kleinhirn. Enzephalitis sein. Besonders disponiert sind Patienten, bei de-
nen extrapyramidale Bewegungsstörungen in der Familie vor-
3Symptome und Verlauf. In manchen Fällen bestehen zu kommen. Bei Enzephalitis ist eine klinische Untersuchung mit
Beginn allgemeine Krankheitserscheinungen und Fieber. Die EEG, Liquorpunktion und die genaue Beobachtung des wei-
Hyperkinesen werden von den Kindern anfangs in mimische teren Verlaufs angezeigt.
und gestische Verlegenheitsbewegungen einbezogen. Die cho-
reatische Bewegungsunruhe nimmt, wie alle extrapyramidalen
Hyperkinesen, bei seelischer Erregung zu. Unter besonderer 23.2.3 Schwangerschaftschorea
psychischer Belastung kann sie sich bis zum sog. choreatischen
Bewegungssturm steigern. Oft sind die konjugierten Augenbe- Die Schwangerschaftschorea, die besonders im 3.–5. Monat
wegungen gestört, so dass die Fixation und das Lesen beein- der Gravidität vorkommt, gleicht der Chorea minor des Kin-
trächtigt sind. desalters in Symptomatik und Ätiologie. Heute eine Rarität,
tritt sie auch als Hemichorea auf. Bei wiederholten Schwanger-
3Diagnostik. CT und MRT sind unauffällig. Das EEG ist schaften kann sie jeweils rezidivieren. Etwa die Hälfte der
in 50–80% der Fälle unspezifisch verändert. Im EMG kann Frauen berichtet in der Anamnese über Chorea minor im Kin-
man abrupte hyperkinetische Aktivität auch in Muskeln desalter. Meist findet man eine rheumatische Herzkrankheit.
nachweisen, die bei der Betrachtung ruhig und entspannt er- Nach der Entbindung klingt die Chorea ab. Nicht selten tritt
scheinen. Im Serum findet man unspezifische Entzündungs- jedoch eine Fehlgeburt ein.
zeichen. Meist kann man die Gegenwart von hämolysierenden
Streptokokken der Gruppe A durch den Titeranstieg spezi-
fischer Antikörper, die vermutlich gegen Stammganglien- 23.3 Ballismus
proteine gerichtet sind, nachweisen. Der Liquor ist fast immer
normal. Diese seltene Hyperkinese wird hauptsächlich nach Infarkten
oder – seltener – Blutungen in den Nucleus subthalamicus
3Therapie und Prognose. Die Krankheit heilt klinisch fol- (Luys) oder seine Verbindung mit dem Pallidum beobachtet.
genlos, meist nach mehreren Wochen bis Monaten, aus. Man Auch Granulome oder Metastasen können sich in diesem Kern
muss aber damit rechnen, dass ein Drittel der Kinder einmal ansiedeln.
oder mehrmals ein Rezidiv bekommt. Für das spätere Leben ist
die Prognose günstig. Die Krankheit disponiert zwar zur 3Pathophysiologie. Pathologisch-anatomisch finden sich
Schwangerschaftschorea (und kann durch Kontrazeptiva pro- Läsionen im Nucl. subthalamicus (Corpus Luysii) oder in den
voziert werden), nicht aber zu anderen extrapyramidalen oder Bahnverbindungen zwischen diesem Kern und dem Pallidum.
überhaupt zentralnervösen Störungen. Ballismus tritt nur auf, wenn diese Läsionen akut einsetzen.
Bettruhe und Abgeschiedenheit von der Außenwelt sind Die Manifestation der Hyperkinese hat zur Voraussetzung,
die ersten Vorbedingungen für eine erfolgreiche Behandlung. dass das Pallidum internum, seine Verbindung zum Thalamus
Penicillin, initial 3-mal 1 Mega I.E. Penicillin oral für 10 Tage, (Ansa lenticularis), die prämotorische Rinde und die Pyrami-
soll über die akute Krankheit hinaus 5 Jahre prophylaktisch denbahn intakt sind. Man führt deshalb den Ballismus auf eine
weitergegeben werden. Enthemmung prämotorischer Rindenfelder zurück.
4 Zusätzlich werden die Kinder durch leichtere Sedativa, wie
z.B. Diazepam (3-mal 2–10 mg, je nach Körpergewicht und 3Symptome. Der Ballismus ist meist halbseitig armbetont
Wirkung) oder Chloraldurat gedämpft. (Hemiballismus). Die Läsion ist dann kontralateral. Die in pro-
4 In schwereren Fällen kann man auch Neuroleptika geben, ximalen Muskelgruppen betonten Hyperkinesien setzen plötz-
auch um der choreatischen Hyperkinese durch eine medi- lich ein, laufen rasch, aber nicht so blitzartig ab wie bei der
kamentös bedingte parkinsonistische Akinese entgegenzu- Chorea und sind schleudernd, weit ausfahrend. (Beschreibung
wirken. des Syndroms 7 Kap. 1.7.3).
23.4 · Dystonien
547 23
3Therapie und Prognose. Die Behandlung ist konservativ: Repräsentation im Gehirn als Folge von Übertraining (z.B.
Man verordnet v.a. Neuroleptika (Butyrophenone) oder Tia- Schreibkrampf, Golfer-Dystonie, Musiker-Dystonie). Hierbei
prid, einen Dopaminrezeptorenblocker. Mittel also, die als Ne- geht man davon aus, dass der Phänotyp aus einer genetischen
benwirkung eine Akinese verursachen. Präsdisposition plus äußeren Faktoren (Infektion, Trauma,
Die Prognose ist uneinheitlich: In manchen Fällen bildet Überbeanspruchung bei Berufsmusikern oder Profisportlern)
sich der Hemiballismus mit der Erholung der lokalen Durch- hervorgeht.
blutung wieder zurück, in anderen Fällen bleibt er lebenslang Eine normale Bewegung setzt eine aktive Inhibition be-
bestehen. nachbarter Muskelgruppen voraus, die nicht an der Bewegung
beteiligt sind. Diese Inhibition ist bei Dystonikern vermindert
oder fehlt. Die Bewegung ist gekennzeichnet durch eine Mitak-
23.4 Dystonien tivierung von Muskelgruppen, die normalerweise bei diesen
Bewegungen nicht beteiligt sind.
3Definition und Einteilung. Dystonien sind repetitive, un-
willkürliche Muskelkontraktionen, Bewegungen und Körper-
haltungen unterschiedlicher Dauer, die Rumpf, Kopf oder Ex- 23.4.1 Fokale und segmentale Dystonien
tremitäten in unnatürliche Haltungen zwingen (tonische Dys-
tonie) oder zu dystonen Bewegungen führen (phasische Dys- Die fokalen und segmentalen Dystonien stellen die am häu-
tonie). Die Klassifikation erfolgt nach der Topologie (fokal, figsten auftretenden Formen von dystonen Bewegungsstö-
segmental, multifokal, generalisiert, Hemidystonie), dem Er- rungen dar. Typischerweise liegt der Beginn der Erkrankung
krankungsalter, der zugrunde liegenden Ursache (primär oder im mittleren Erwachsenenalter. Die Tendenz zu einer Gene-
sekundär) (. Tab. 23.5) und nach der molekulargenetischen ralisierung zeigt sich im Gegensatz zu den im Kindes- und
Diagnostik (. Tab. 23.6). Jugendalter beginnenden Dystonien nicht. In den meisten
Fällen handelt es sich um kraniozervikale Dystonien, fokale
3Genetik und Pathophysiologie. Bei nahezu der Hälfte Dystonien der mimischen Muskulatur oder Beschäftigungs-
aller generalisierten Torsionsdystonien, die im Kindes-/Ju- dystonien.
gendalter beginnen, findet man eine Mutation im DYT-1-Gen.
Mikroableitungen aus den Basalganglien bei Patienten mit ge- Torticollis spasmodius (zervikale Dystonie)
neralisierten und fokalen Dystonien erbrachte eine Desinhibi- 3Definition. Der Torticollis spasmodicus, der auch als
tion des Globus pallidus internus. Allgemein geht man derzeit Schiefhals bezeichnet wird, ist eine segmentale Dystonie des
von einer Störung im Bereich der striato-pallido-thalamo-kor- Halsbereiches. Es wird unterschieden zwischen überwiegend
tikalen Schleife aus. Diese führt über eine gestörte absteigende tonischen (s.u.) und phasischen (tremolierendem) Tortikollis.
Modulation der reziproken Hemmung zu einer exzessiven Ko- Er setzt im mittleren Lebensalter zwischen dem 30. und 50. Le-
Kontraktion antagonistischer Muskeln. bensjahr ein. Beide Geschlechter sind gleichmäßig betroffen.
Es konnte durch PET-Untersuchungen bei Patienten mit Der Beginn kann schleichend und ohne erkennbaren Anlass
Beschäftigungsdystonien und anderen fokalen Dystonien eine sein.
Vergrößerung und teilweise Überlappung sensomotorischer
Felder im Gehirn gefunden werden. Dies stützt das Konzept 3Pathologische Anatomie. Selten findet man Läsionen in
der Dystonie als eine fehlerhafte Ausweitung sensomotorischer weit verstreuten Gebieten des ZNS: Corpus striatum, Substan-

. Tabelle 23.5. Einteilung der Dystonien


Nach Ätiologie
1. Primär (idiopathisch, hereditär) sporadisch, hereditär (DYT 1, 2, 4, 6, 7, 13, 16)
2. Sekundär (symptomatisch) degenerativ (z.B. M. Wilson, Hallervorden-Spatz-Erkrankung), vaskulär, medikamentös, metabolisch
3. Dystonie plus Syndrome: Segawa-Dystonie mit zusätzlichem akinetisch-rigidem Syndrom und andere Dystonie-Parkinson-Syn-
Myoklonus-Dystonie DYT 11, 15, drome (DYT 3, 5, 12)
Nach Erkrankungsalter
1. infantile Form 0–12 Jahre
2. adolszente Form 13–20 Jahre
3. adulte Form >20 Jahre
Nach Phänomenologie
1. fokal auf eine Körperregion begrenzt (Blepharospasmus)
2. segmental zwei benachbarte Körperregionen begrenzt (Tortikollis)
3. multifokal mehrere Körperregionen
4. generalisiert mehrere nicht benachbarte Körperregionen einschließlich mindestens einer der unteren Extremitäten
5. Hemidystonie nur eine Körperseite an der unteren und oberen Extremität betroffen
548 Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

. Tabelle 23.6. Monogene primäre Dystonien und Dystonie-plus Syndrome: Genetik


23
Abkürzung Dystonieform Klinische Zeichen Ergang Genort Genprodukt Gentest

DYT1 Generalisierte TD mit TD beginnt meist in einer Extre- Autosomal- 9q TorsinA Kommerziell
frühem Beginn mität und generalisiert oft dominant verfügbar

DYT2 Autosomal-rezessive Früh beginnende, generalisierte Autosomal- Unbe- Unbekannt Nicht verfügbar
TD oder segmentale TD rezessiv kannt

DYT3 X-chromosomales Generalisierte oder sementale X-chronoso- Xq Gentranskripti- Verfügbar in


Dystonie-Parkinson- TD mit Parkinsonismus bei mal-rezessiv onsfaktor TAF1 ausgewählten
Syndrom »Lubag« männlichem Philippinos Laboratorien

DYT4 »nicht-DYT1«-TD Häufig spasmodische Dysphonie Autosomal- Unbe- Unbekannt Nicht verfügbar
dominant kannt

DYT5a Doparesponsives Früh beginnende TD, häufig Autosomal- 14q GTP-Zyklohyd- Kommerziell
Dystonie-Parkinson- Parkinsonismus im Verlauf, tages- dominant roslase I verfügbar
Syndrom zeitliche Symptomschwankun-
DYT5b gen, L-Dopa-sensitiv Autosomal- 11p Tyrosinhydroxy- Verfügbar in
(DYt14) rezessiv lase ausgewählten
Laboratorien

DYT6 Gemischte TD mit Überwiegend segmentale TD Autosomal- 8p Unbekannt Nicht verfügbar


Beginn im frühen dominant
Erwachsenenalter

DYT7 Fokale TD mit Beginn Tortikollis, Schreibkrampf Autosomal- 18p Unbekannt Nicht verfügbar
im Erwachsenenalter dominant

DYT8 Paroxymale dystone Attacken von TD/Choroathetose Autosomal- 2q Myofibrilloge- Verfügbar in


Chroeoathetose ausgelöst durch Stress, Alkohol, dominant neseregulator I ausgewählten
Schokolade Laboratorien

DYT9 Paroxysmale dystone Attacken von TD/Dysarthrie/ Autosomal- 1p Unbekannt Nicht verfügbar
Chroeoathetose mit Doppelbilder, ausgelöst durch dominant
episodischer Ataxie Stress oder Alkohol, im Intervall
und Spastizität spastische Paraplegie

DYT10 Paroxysmale kine- Häufige kurze Attacken von TD/ Autosomal- 16p Unbekannt Nicht verfügbar
siogene dystone Choreoathetose, ausgelöst durch dominant
Chroeoathetose plötzliche Bewegung

DYT11 Myoklonusdystonie Myoklonien und TD der oberen Autosomal- 7q ε-Sarkoglykan Kommerziell


Körperhälfte, gutes Ansprechen dominant verfügbar
auf Alkohol

DYT12 Dystonie-Parkinson- Akuter und subakuter Beginn Autosomal- 19q α3-Untereinheit Verfügbar in
Syndrom mit plötz- von (generalisierter) TD in Kom- dominant einer NA+-K+- ausgewählten
lichem Beginn bination mit Parkinsonismus ATPase Laboratorien

DYT13 Segmentale TD mit Segmentale TD vorwiegend der Autosomal- 1p Unbekannt Nicht verfügbar
juvenilem Beginn oberen Körperhälfte dominant

DYT15 Myoklonusdystonie Myoklonien und TD der oberen Autosomal- 18p Unbekannt Nicht verfügbar
Körperhälfte, gutes Ansprechen dominant
auf Alkohol

DYT16 Generalisierte TD mit Generalisierte TD, selten Parkin- Autosomal- 2q Stressantwort- Verfügbar in
frühem Beginn sonismus rezessiv protein PRKRA ausgewählten
Laboratorien

TD Torsionsdystonie (Aus Schmidt et al. (2008) Nervenarzt Suppl. 2 79:53-66)


23.4 · Dystonien
549 23
Viele Patienten können die dystone Bewegung des Kopfes
durch bestimmte Hilfsgriffe mildern (»geste antagoniste«)
(. Abb. 23.4a,b). Im Verlauf der Wendebewegungen des Kopfes
tritt bald eine Hypertrophie der beteiligten Muskeln ein. Die
Extremitäten sind anfangs frei. Die Entwicklung der Krankheit
kann von langen Remissionen unterbrochen sein, ist aber auf
lange Sicht chronisch fortschreitend, kann aber auch über viele
Jahre unverändert in der Schwere sein. In selten Fällen kommt
es zu spontanen Remissionen. In fortgeschrittenen Fällen sind
Kopf und Schultergürtel ständig in der beschriebenen Endstel-
lung fixiert.

3Ätiologie. Diese ist meist ungeklärt. Sehr selten kann auch


eine fokale Dystonie Ausdruck einer Mutation sein (DYT 1–
a b 17). Hierbei herrschen generalisierte Formen vor. Selten wer-
den symptomatische Ursachen gefunden, wie Stoffwechsel-
. Abb. 23.4a,b. Wirkung des Hilfsgriffs bei Laterocollis. a Dystone
Seitwärtsbewegung, b geringere Ausprägung mit »geste antagoniste«
erkrankungen (M. Wilson, Fettstoffwechselerkrankungen,
(A. Ferbert, Kassel) M. Fahr) oder strukturelle Läsionen vor allem der Basalgang-
lien (z.B. Tumoren, Schlaganfälle, zerebraler Lupus erythema-
todes).
tia nigra, Nucleus dentatus des Kleinhirns, Medulla oblongata,
graue Substanz des Rückenmarks. Mikroskopisch erkennt man 3Therapie
Nervenzelldegenerationen und Anhäufungen von Lipochrom 4 Der Tortikollis wird mit lokaler Injektion von Botulinum-
und eisenhaltigem Pigment. toxin behandelt. Das Prinzip dieser Behandlung besteht in der
funktionellen Denervierung und damit Verminderung der
3Symptome und Verlauf. Der Torticollis spasmodius äu- Überaktivität in den dyston aktiven Muskeln. Die Auswahl der
ßert sich durch eine tonische oder phasische Drehbewegung zu injizierenden Muskeln wird bei komplexeren Formen auf-
oder Neigung des Kopfes, z.T. mit unterlagertem Tremor (dys- grund von EMG-Befunden getroffen (. Tab 23.7).
toner Tremor) (7 Kap. 1.7.4). Die Heftigkeit der Wendebewe- 4 Man verwendet ein kommerziell hergestelltes Präparat
gungen verstärkt sich bei emotionaler Erregung, oft beim (z.B. Botox®) und injiziert mit einer Tuberkulinspritze an meh-
Gehen oder dann, wenn die Kranken unter Menschen sind. reren Stellen in die betroffenen Muskeln. Unerwünschte Wir-

. Tabelle 23.7. Botulinumtoxin bei Dystonien und anderen Bewegungsstörungen

Indikation Ziel(muskel)/Auswahl Indikation für: Dosierung

Blepharospasmus M. orbicularis oculi/Orbitarand Botox®, Xeomin® 2–6 MU/Injektion 3-mal/Auge


Zusätzlich lidkantennah
Dysport® 20–40 MU/Injektion 3-mal/Auge

Hemispasmus facialis M. orbicularis oculi Botox®, Xeomin® 2–6 MU/Injektion 3-mal/Auge


ggf. weitere mimische Muskeln
Dysport® 20–40 MU/Injektion 3-mal/Auge

Zervikale Dystonie M. splenius capitis Botox®, Xeomin® 100–300 MU gesamt


M. sternocleidomastoideus
M. trapezius Dysport® 300–1.200 MU gesamt
M. levator scapulae
M. semispinalis capitis Neurobloc® 5.000-10.000 MU gesamt

Oromandibuläre Dystonien M. masseter Botox®, Xeomin® off label 10-40 MU/Muskel; gesamt 20-150 MU
(z.B. Kieferdystonien, M. temporalis
Bruxismus) M. pteygoideus lat. et med. Dysport® off label 20-150 MU/Muskel; gesamt 40-500 MU
M. digastricus
Platysma
550 Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

23 . Tabelle 23.7 (Fortsetzung)

Indikation Ziel(muskel)/Auswahl Indikation für: Dosierung

Hypersalivation Gl. Parotis und submandibularis Neurobloc® off-label Gesamt 5000 E MU

Botox®, Xeomin® off-label Gesamt bis 100 MU

Dysport® off-label Gesamt bis 400 MU

Hyperhidrosis axillaris Sub-/intracutan Botox® (axillär) Gesamt bis 100 MU

Hyperhidrosis palmaris Sub-/intracutan Botox®, Xeomin® off-label Gesamt bis 300 MU

Dysport® off label Gesamt bis 1.000 MU

Essentieller Kopftremor M. splenius capitis bds. Botox®, Xeomin® off label 40-70 MU/Seite
M. sternocleidomastoideus bds.
Dysport® off label 150–250 MU/Seite

Botox®, Xeomin® off label 20-40 MU/Seite

Dysport® off label 50–150 MU/Seite

Spastik untere Extremität M. soleus Botox® 50–150 MU/Muskel; gesamt 400 MU


M. gastrocnemius (Erwachsene bis 800 MU off label)
M. tibialis posterior
M. flexor digitorum longus
M. tibialis anterior
M. extensor hallucis
M. adductor magnus
M. biceps femoris
M. semitendinosus
M. semimembranosus

Spastik obere Extremität M. biceps brachii Botox®, Xeomin® 25–100 MU/Muskel; gesamt bis 400 MU
M. brachialis
M. brachiradialis Dysport® 150–400 MU/Muskel; gesamt
M. Flexor carpi ulnaris bis 1.000 MU
M. flexor carpi radialis
M. flexor digitorum profundus
M. flexor digitorum superficialis

MU = Mouse-Unit

kungen bei der Behandlung der zervikalen Dystonie sind 4 Bei der spasmodischen Dysphonie (s.u.) braucht man die
Schwäche der Nackenmuskeln oder Dysphagie. Bei mäßigem Hilfe eines HNO-Spezialisten. Die Behandlung ist verständli-
Ansprechen auf Botulinumtoxin kann zusätzlich Trihexiphe- cherweise um so wirksamer, je fokaler die Dystonie ist.
nidyl (Artane, Pakopan) gegeben werden.
4 Der Effekt tritt nach 1–2 Wochen ein. Über mehrere Wo- Blepharospasmus
chen kommt es zu einer Reinnervation des gelähmten Muskels. Bilaterale, symmetrische, meist tonische, aber auch klonische
So erklärt sich, dass die Wirkung nach 12–16 Wochen nachlässt Kontraktionen der Mm. orbiculares oculi sind das Charakteris-
und dann aussetzt. Die Injektion muss und kann dann wieder- tikum des Blepharospasmus. Wenn die Abgrenzung gegenüber
holt werden. Sofern sich keine Antikörper bilden, was sehr sel- einem psychogenen Gesichtstic Schwierigkeiten bereitet, kann
ten ist, kann man die Injektionen über Jahre mit gutem Erfolg die Diagnose durch die Untersuchung des Blinkreflexes und das
wiederholen. EMG des M. orbicularis oculi bestätigt. Die Behandlung durch
lokale Injektion von Botulinumtoxin ist sehr erfolgreich.
23.4 · Dystonien
551 23
Exkurs
Botulinumtoxin
Botulinumtoxin A (Botox®, Dysport®, Xeomin®) und Botuli- zur Aussprossung einer neuen Nervendigung mit Ausbildung
numtoxin B (Neurobloc®) wird von dem anaeroben grampo- einer neuen motorischen Endplatte. Die Folge ist eine Schwä-
sitiven Sporenbildner Clostridium botulinum gebildet. Botu- che und Atrophie der betroffenen Muskeln. Bei 3–10% der
linumtoxin bewirkt an motorischen Nervenendigungen eine Patienten mit Torticollis kommt es durch Bildung von Anti-
Hemmung der Freisetzung von Acetylcholin durch Abspal- körpern im mehrjährigen Therapieverlauf zu einem Wirkungs-
tung eines membranständigen Proteins (SNAP 25) bzw. verlust. In diesem Fall sollte auf das jeweils andere Botulinum-
Proteolyse von VAMP (vehicle associated membrane protein). Toxin gewechselt werden.
Da die Nervenendigung irreversibel geschädigt ist, kommt es

Beschäftigungsdystonien naue anatomische Lokalisation in den Basalganglien ist nicht


Diese Krankheiten zählen ebenfalls zu den fokalen Dystonien, bekannt.
sie sind aber aufgabenspezifisch (Schreiben, Musizieren,
Handdystonie beim Golfer). Zu diesen rechnet man vor allem 3Therapie. Die Behandlung ist schwierig. Versucht werden
den Schreibkrampf (. Abb. 23.5). Bereits vor über 100 Jahren neben Botulinumtoxin Trihexipheniyl oder Tetrabenazin.
wurde das Auftreten von aufgabenspezifischen Dystonien bei
Telegrafisten beschrieben. Selbst tierexperimentell lässt sich 3Differentialdiagnose
durch Übertraining einer bestimmten motorischen Aufgabe in 4 Beim Blepharospasmus und beim Meige-Syndrom muss ein
einem gewissen Prozentsatz der Versuchstiere eine Dystonie psychogener Gesichtstic abgegrenzt werden, der auch bilateral
induzieren. Es wird daher angenommen, dass neben einer Prä- ist.
disposition die häufige Wiederholung immer gleicher Bewe- 4 Der Spasmus hemifacialis ist einseitig.
gungsabläufe ursächlich verantwortlich für die Erkrankung ist. 4 Ein torsionsdystonisches Syndrom mit Bevorzugung von
Die Schwierigkeit einer Behandlung mit Botolinumtoxin liegt Gesichts-, Schlund-, Zungen- und Halsmuskulatur kann akut
in der Mitbeteiligung von mehreren Muskelgruppen am Un- infolge Überempfindlichkeit gegenüber verschiedenen extra-
terarm und an der Hand, was die Auswahl des Muskels er- pyramidal wirksamen Neuroleptika und Antivertiginosa ein-
schwert. Ergänzend ist die Ergotherapie mit z.B. probatorischer setzen (Frühdyskinesie). Zur Behandlung gibt man dann Bipe-
temporärer Immobilisierung der betroffenen Hand sinnvoll. riden (Akineton) i.v. oder Prothipendyl (Dominal) i.m. Diese
medikamentös ausgelösten Hyperkinesen sind prinzipiell
Meige-Syndrom rückbildungsfähig, jedoch können sie das Absetzen des Medi-
3Definition. Dies ist eine dystone Hyperkinese, die im kaments wochenlang überdauern (terminale Hyperkinesen
Gesicht mit einem Blepharopasmus beginnt. Die Hyperkinese 7 Kap. 30.7).
breitet sich dann zu symmetrischen, dystonen Kontraktionen
der mimischen Muskeln, der Zunge, der Schlund- und der
Phonationsmuskeln aus. Wenn dies der Fall ist, tritt eine spas- 23.4.2 Generalisierte Dystonien
modische Dysphonie mit gepresster Stimmgebung hinzu, die
auch als eigenständige Dystonie vorkommt. 3Formen und Verlauf. Es gibt eine idiopathische Form,
Elektrophysiologisch ist beim Meige-Syndrom ebenfalls die im Jugendalter beginnt und in wellenförmigem Verlauf
die zweite Komponente des Blinkreflexes verlängert. Die ge- langsam fortschreitet. Generalisierten Dystonien, deren Be-

. Abb. 23.5. Polygraphie bei Schreibkrampf mit Ableitung von traten bei diesem 38-jährigen Patienten nur beim Schreiben auf, be-
4 Muskeln der Hand und des Unterarms. Neben der tonischen An- reits wenn er eine Unterschrift leisten musste. Schreiben von längeren
spannung sieht man rhythmische, tremorartige EMG-Aktivität im Sätzen war ihm unmöglich. Feinmotorik für andere Verrichtungen
M. abductor pollicis brevis. Kasuistik: Die tonischen Verkrampfungen nicht beeinträchtigt. (A. Ferbert, Kassel)
552 Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

ginn in den ersten Lebensjahren liegt, sind in 90% der Fälle 3Therapie.
23 hereditär. Die Hälfte kann auf eine heterogene Mutation 4 Zum Ausschluss einer L-Dopa-sensitiven Dystonie sollte
auf dem langen Arm von Chromosom 9 (9q34.1, DYT 1) zu- ein medikamentöser Therapieversuch mit L-Dopa in einschlei-
rückgeführt werden, die autosomal- dominant vererbt wird chender Dosierung bis 500 mg/Tag erfolgen. Nachfolgend soll-
(. Tab. 23.6). te ein Therapieversuch mit Trihexyphenidyl in einschlei-
Das klinische Erscheinungsbild ist durch eine sehr hohe chender Dosierung/wöchentlicher Steigerung um 1 mg/Tag
Variabilität gekennzeichnet, was das Ausmaß der Betroffenheit erfolgen. Insbesondere bei Kindern werden teils extrem hohe
als auch die familiäre Häufung betrifft. So können einzelne Dosen (80 mg/Tag) bei funktionell befriedigender Besserung
Familienmitglieder schwer erkrankt sein und ein Höchstmaß in Einzelfällen toleriert. Für andere Wirkstoffe (Carbamaze-
an Behinderung aufweisen, während Geschwister entweder pin, Clonazepam, Tetrabenazin) liegen nur Einzelfallberichte
asymptomatisch oder lediglich an einer fokalen Dystonie lei- mit nur mäßigen Erfolg vor.
den. Das ist ein Hinweis für die geringe Penetranz und variab- 4 Botulinumtoxin kann bei den am stärksten betroffenen
le Expression der vorliegenden Mutation. Im Endstadium, das Muskeln eingesetzt werden.
um das 50. Lebensjahr erreicht wird, ist die Wirbelsäule in 4 Manchmal sind L-Dopa-Präparate nützlich, oder auch Clo-
skoliotischer und lordotischer Fehlstellung fixiert. Die Mus- nazepam (Rivotril® bis 4 mg/Tag) oder Trihexyphenidyl (Ar-
keln, die an der Hyperkinese am meisten beteiligt waren, sind tane® 30 mg/Tag).
hypertrophiert und die Gliedmaßen in bizarren Stellungen 4 Atypische Neuroloptika wie Tiaprid und Tetrabenazin
versteift. können in Einzelfällen eine Besserung bringen. Die Verord-
Symptomatische Formen werden nach perinataler Hirn- nung von Baclofen (auch als intrathekale Pumpe) vermindert
schädigung, besonders Icterus neonatorum, Enzephalitis, bei den Muskeltonus ohne die Krankheit ursächlich zu bessern.
hepatolentikulärer Degeneration und als akute Überempfind- 4 Bei Patienten mit generalisierten Dystonien und Versagen
lichkeit gegenüber Psychopharmaka beobachtet. der medikamentösen Therapie ist die beidseitige Implantation
Diagnostisch sollten daher durch die Bildgebendung von Stimulationselektroden in den posteriolateralen GPi zwi-
strukturelle ZNS-Läsionen und laborchemisch das Vorliegen schenzeitlich Therapie der ersten Wahl (. Abb. 23.6) Die bis-
eines M. Wilson ausgeschlossen werden. Beim Vorliegen einer herigen Erfahrungen mit der Tiefenhirnstimulation haben
positiven Familienanamnese sollte bei jeder Torsionsdystonie eine erhebliche postoperative Besserung bei durchschnittlich
mit Beginn vor dem 26. Lebensjahr eine DYT-1 Mutation aus- 70–90% der Patienten gezeigt, besonders bei Kindern mit
geschlossen werden. DYT-1 Mutation. Über die Tiefenhirnstimulation bei sekun-
dären Dystonien liegen nur einzelne Fallberichte vor, wobei die
Ansprechrate sehr variabel ist.

. Abb. 23.6. Generalisierte Dystonie vor


und 3 Monate nach Implantation einer
Stimulationselektrode im GPi: Der Vater
und der Bruder haben nur eine fokale Dysto-
nie einer Extremität. (M. Krause, V. Tronnier,
Heidelberg)
23.5 · Tremor
553 23

Leitlinien Therapie der Dystonien*


Therapie der Wahl bei fokalen Dystonien (Blepharospasmus, Bei schweren, medikamentös therapierefraktären Dysto-
zervikale Dystonie, u.a.) ist die selektive periphere Denervie- nien sollten operative Behandlungsmöglichkeiten (intrathe-
rung mittels Botulinumtoxin A oder B (A). kale Baclofengabe, selektive periphere Denervierung, tiefe
Bei generalisierten Dystonien mit Beginn im Kindes- Hirnstimulation) in einem Zentrum geprüft werden, das spezi-
oder Jugendalter sollte das Ansprechen auf L-Dopa in einem elle Erfahrung in der interventionellen Therapie von Bewe-
chronischen L-Dopa-Test untersucht werden (B) gungsstörungen besitzt (C).
Für das Anticholinergikum Trihexyphenidyl ist die Wirksam-
keit bei idiopathischen generalisierten Dystonien gut belegt
(A), die Effekte bei fokalen Dystonien sind jedoch schwächer
und der Behandlung mit Botulinumtoxin unterlegen (B). * Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)

Exkurs
Juvenile Dystonien
Dopasensitive Dystonie (Segawa-Syndrom) ger, nach körperlicher Anstrengung stärker ausgeprägt ist. Das
Die Störung ist selten. Genaue Zahlen zur Inzidenz liegen zweite diagnostische Merkmal ist das Ansprechen der Bewe-
nicht vor. Eine Geschlechtsbevorzugung ist nicht bekannt. gungsstörung schon auf niedrige Dosen Levodopa (einschlei-
chend mit 30 mg beginnend).
3Molekulargenetische Befunde. Der Genlokus ist auf
dem langen Arm des Chromosoms 14 lokalisiert, und der 3Therapie. L-Dopa: Die Behandlung wird über Jahre ohne
spezifische Gendefekt konnte als Mutation auf Chromo- die unerwünschten Wirkungen toleriert, die aus der Levodopa-
som 14q identifiziert werden. Die biochemischen Aspekte Behandlung des Parkinson-Syndroms bekannt sind.
der Pathophysiologie werden hier nicht erörtert.
Halbseitige, durch Bewegung ausgelöste Dystonie
3Symptome und Verlauf. Die Bewegungsstörung setzt Im Kindheits- oder Jugendalter setzen halbseitige, dystone
im ersten Lebensjahrzehnt, gelegentlich auch im Erwach- Verkrampfungen der Extremitäten ohne Bewusstseinsstörung
senenalter ein. Sie beginnt mit einer dystonen Flexions- ein, die weniger als 5 min andauern, sich viele Male am Tag
und Einwärtsstellung der Füße. Im Verlauf der Krankheit kann wiederholen können und in typischer Weise durch Bewegung
sich diese Fußstellung fixieren, so dass das Gehen kaum mehr der betroffenen Gliedmaßen ausgelöst werden. Das Auftreten
möglich ist, insbesondere bei Kindern mit DYT-1 Mutation ist häufig familiär (autosomal-dominant oder rezessiv erblich).
vor. Es kann auch zu einem Parkinson-Syndrom kommen. Therapeutisch sind Antiepileptika wirksam, speziell Carbama-
zepin, auch Valproat, das die GABA-Rezeptoren aktiviert.
3Diagnostik. Ein diagnostisch wichtiges Merkmal ist,
dass die Störung nach dem Nacht- oder Mittagsschlaf gerin-

23.5 Tremor syndromalen Zuordnung zusammengeführt, was eine rasche


Orientierung bei den verschiedenen Tremorformen erlaubt.
3Vorbemerkung und Einteilung. Der Tremor gehört zu den
häufigsten Bewegungsstörungen. Er ist definiert als rhyth- 3Allgemeine Symptome. Die Tremorsyndrome, ihre Ent-
mische, unwillkürliche Bewegung eines Körperteils. Die Eintei- stehung und Phänomenologie wurden in Kap. 1.8 vorgestellt.
lung kann nach phänomenologischen Kriterien (7 Kap. 1.8)
oder syndromal erfolgen. Phänomenologisch wird der Tremor
nach seinem Auftreten als Halte-, Ruhe oder Zielbewegungs- . Tabelle 23.8. Syndromale Klassifikation des Tremors (Move-
tremor beschrieben. Seine Frequenz wird als nieder- (2–4 Hz) ment Disorder Society 1998)
mittel- (4–7 Hz) oder hochfrequent (>7 Hz) angegeben. Seine 1. Verstärkter physiologischer Tremor
Bewegungsamplitude, als grob- oder feinschlägig bezeichnet, 2. Klassischer essentieller Tremor
beinhaltet auch einen Hinweis darauf, ob der Tremor durch 3. Orthostatischer Tremor
wechselnde Aktivierung antagonistischer Muskeln (grobschlä- 4. Dystoner Tremor
gig) oder Koinnervierung entsteht. 5. Parkinsontremor
Die in . Tabelle 23.8 wiedergegebenen syndromale Glie- 6. Zerebellärer Tremor
derung entspricht den Vorschlägen der Movement Disorders 7. Holmes-Tremor
Society von 1998. Bestimmte Tremorformen sind relativ ty- 8. Medikamentös induzierter und toxischer Tremor
9. Tremor bei peripheren Neuropathien
pisch für bestimmte Krankheiten (z.B. Parkinsontremor), da-
10. Psychogener Tremor
her wurde in . Abbildung 23.7 die Phänomenologie mit der
554 Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

. Abb. 23.7. Synopsis verschiedener


23 Tremorformen und Tremorfrequenzen.
(Nach Deuschl 1995)

. Abb. 23.8. EMG beim essentiellen


Tremor. Die Frequenz ist höher als beim
M. Parkinson

Wir besprechen hier ihre wesentlichen klinischen Charakteris- kung vorliegt (verstärkter physiologischer Tremor, essentieller
tika und die Therapie. Tremor).
4 Primidon hat bei manchen Formen des essentiellen Tre-
3Diagnostik. Elektrophysiologische Tremoranalyse: Eine mors eine gute Wirksamkeit. Dosierung 2-mal 250 mg/Tag.
gewisse diagnostische Hilfe kann bei der Differenzierung der 4 L-Dopa wirkt auf die reine Tremorsymptomatik des Par-
einzelnen Tremorformen das EMG geben. In der kontinuier- kinson nur beschränkt.
lichen Mehrkanaluntersuchung kann man Frequenz und Fre- 4 Anticholinergika haben eine bessere Wirkung beim Par-
quenzkonstanz des Tremors ebenso beurteilen wie das Vorlie- kinson-Tremor, sind jedoch mit erheblichen Nebenwirkungen
gen eines Antagonistentremors (mit oder ohne Lückenphäno- belastet und können psychische Störungen auslösen.
mene). Während leichter Willkürinnervation bleibt beim Par- 4 Auch Botulinumtoxin ist bei Tremor, besonders zusam-
kinsontremor und beim essentiellen Tremor die Rhythmik men mit Dystonien und ganz umschriebenen, essentiellen Tre-
zunächst der Willkürmotorik unverändert unterlagert. Dies ist morformen eingesetzt worden.
beim psychogenen Tremor nicht der Fall. Beim essentiellen 4 Sehr eindrucksvolle Ergebnisse erzielt man mit der stereo-
Tremor registriert man einen 6–12/s Halte- und Aktionstremor taktischen Stimulation des VIM-Kerns des Thalamus, eine Be-
mit Koaktivierung antagonistischer Muskeln (. Abb. 23.8). handlung, die v.a. bei Parkinson-Tremor, schwerem essentiellen
Tremor und, mit Einschränkungen, auch bei symptomatischem
3Therapieprinzipien. Die therapeutischen Möglichkeiten Tremor, z.B. Bindearmtremor bei MS, in Frage kommt.
für die Behandlung des Tremors sind vielfältig, leider aber auch
nur in beschränktem Maße wirksam (. Tab. 23.9).
4 Betablocker haben eine Wirksamkeit bei nahezu allen Tre-
morformen, bei denen eine adrenerge Auslösung oder Verstär-
23.5 · Tremor
555 23

. Tabelle 23.9. Behandlungsmaßnahmen bei verschiedenen Tremorformen (Mod. nach Deuschl 1995)
Tremorform 1. Wahl 2. Wahl 3. Wahl
Verstärkter physiologischer Tremor Propranolol 30–180 mg auch retard
Klassischer essentieller Tremor Propranolol: 30–300 mg Clonazepam 0,25–6 mg Stereotaktische
Primidon: 30–500 mg (am Abend) Kombination Propranolol und Primidon Operation
Gabapentin
Topiramat
Orthostatischer Tremor Primidon 30–500 mg (am Abend) Clonazepam 0,25–6 mg oder Kombina-
tion mit Primidon möglich
Dystoner Tremor Propranolol, Anticholinergika Lokale Behandlung mit Botulinumtoxin-
Injektionen
Parkinson-Tremor
Ruhetremor und niederfrequenter L-Dopa/Dopaminagonisten, Anti- Clozapin, Propanolol Stereotaktische
Haltetremor; hochfrequenter Hal- cholinergika, Propranolol, Primidon- Operation
tetremor Saft, langsam aufdosieren, mit 25
mg, morgens beginnen, maximal
2-mal 250 mg/Tag
Zerebellärer Tremor Clonazepam, Carbamazepin Stereotaktische
Operation

23.5.1 (Verstärkter) physiologischer Tremor Finger, im Gegensatz zum Supinations-Pronationstremor des


Parkinson-Syndroms. Er macht sich besonders beim Schrei-
Der physiologische Tremor ist feinschlägig, oft asymptoma- ben, Trinken und Essen bemerkbar und ist sozial sehr dis-
tisch und besitzt keinen Krankheitswert. Er tritt individuell kriminierend, weil die Betroffenen oft für Trinker gehalten
unterschiedlich stark auf und wird emotional verstärkt. Jeder werden. Aufregung und Kaffee verstärken ihn. Der Verlauf
Mensch kennt diesen Tremor bei Aufregung, Lampenfieber, ist meist langsam progredient, bei langjährigem Bestehen er-
bei und nach heftigen Auseinandersetzungen. Auch Hyper- reichen die Tremoramplituden ein behinderndes Ausmaß, so
ventilation verstärkt ihn. Der physiologische Tremor wird dass ca. 25% der Patienten ihre Erwerbstätigkeit aufgeben
auch bei Hyperthyreose und bei Einnahme verschiedener müssen.
Medikamente, die das (β-)adrenerge System stimulieren, ver-
stärkt, da sie die Aktivität, nicht jedoch die Frequenz des zen- 3Therapie. Der Tremor wird auf abnorme Empfindlich-
tralen Schrittmachers beeinflussen. keit betaadrenerger Rezeptoren zurückgeführt. Entsprechend
ist zur Behandlung häufig Propranolol (Dociton®) 3-mal
40–100 mg/Tag wirksam, das die β-Rezeptoren-stimulieren-
23.5.2 Essentieller Tremor de Wirkung des körpereigenen Adrenalins blockiert. Propra-
nolol kann Asthmaanfälle provozieren. Es sind auch Erfolge
Der essentielle Tremor ist die häufigste Tremorform. Bei 50% einer Behandlung mit dem kardioselektiven β-Blocker Meto-
der Betroffenen ist er familiär. Es gibt dominant-erbliche, aber prolol (100–200 mg/Tag) und mit Primidon berichtet wor-
auch sporadische Fälle. In der Mehrzahl der Fälle setzt der es- den (einschleichend 30 mg/Tag bis 500 mg/Tag, Cave: Mü-
sentielle Tremor vor dem 20. Lebensjahr ein. Ein zweiter Gipfel digkeit). Die Wirksamkeit von Primidon spricht für die Be-
liegt um das 60. Lebensjahr. Die Lebenserwartung ist nicht ver- teiligung zentraler Mechanismen. Auch Gabapentin (bis
kürzt. 3-mal 400 mg) und Topiramat sind in doppelblinden Stu-
dien erfolgreich getestet worden. Bei Tremor der Nacken-
3Symptome. In Ruhe liegt kein Tremor vor. Es handelt und Halsmuskulatur kann eine Behandlung mit Botulinum-
sich um ein kombiniertes Halte- und Aktionszittern in der toxin helfen.
Frequenz 6–12/s, hauptsächlich beider Hände, aber auch des In schwer verlaufenden Fällen kann der essentielle Tremor
Kopfes (als Ja-Ja- oder Nein-Nein-Tremor) und des Unter- allerdings so ausgeprägt sein, dass er den Patienten erheblich
kiefers sowie der Stimme, das bei Erregung zu-, nach Alko- behindert und pflegeabhängig macht. Dann kann mit Stimula-
holgenuss abnimmt. Im fortgeschrittenen Stadium kann er tion des VIM-Kerns des Thalamus bei etwa 70% der Patienten
mit einem Annäherungstremor (Zunahme des Tremors in der eine dramatische Besserung erzielt werden.
finalen Phase einer Zielbewegung) und einer leichten atak-
tischen Gangstörung einhergehen und sich auch mit nied- > Der essentielle Tremor ist die häufigste Tremorform.
rigerer Amplitude in Ruhe fortsetzen. An den Händen be- Er wird meist als Alkohol- oder als Parkinson-Tremor
steht er in alternierenden Beuge- und Streckbewegungen der fehldiagnostiziert und dann falsch behandelt.
556 Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

23 Facharzt
Weitere Tremorformen
Orthostatischer Tremor tremor bezeichnet): Je näher sich der Finger oder die Hand dem
Der orthostatische Tremor ist selten. Sobald die Patienten Ziel nähert, umso größer werden die groben Ausschläge des
stehen, tritt ein Tremor der Beine mit einer Frequenz von 13– Tremors.
18/s auf, der dazu führt, dass die Patienten schwanken und Der Tremor ist in Ruhe nicht vorhanden. Der Haltetremor
bei starker Ausprägung zu Fall kommen. Diese Unsicherheit ist gering ausgeprägt und nimmt bei Zielbewegungen zu.
beim Stehen und manchmal beim Gehen führt den Patienten Daher auch der Bezeichnung als Zieltremor. Er ist niederfre-
zum Arzt. quent (etwa 5 Hz) und grobschlägig. Diese Tremorform tritt,
In der Untersuchung können die Patienten nicht die wie der Name schon andeutet bei Kleinhirnerkrankungen auf.
Romberg-Stellung einnehmen und den Seiltänzergang Die Kleinhirnschädigung kann entzündlich (z.B. Multiple Skle-
ausführen. Man wird vergeblich nach einer zerebellären oder rose), degenerativ (z.B. MSA-C), ischämisch oder durch raum-
peripheren Läsion suchen. Der Tremor der Beine ist syn- fordernde Prozesse verursacht sein.
chron. Der Tremor ist mit dem bloßen Auge meist nicht Der zerebelläre Tremor lässt sich medikamentös kaum
erkennbar. Er kann mit Oberflächenelektroden registriert beeinflussen. Cholinerge Substanzen (Physostigmin, Lecitin-A)
werden. sowie 5- Hydroxytryptophan scheinen bei einigen Patienten
Zur Behandlung wird Clonazepam oder Gabapentin effektiv zu sein. Vereinzelt wurden Effekte von Propranolol,
empfohlen. Clonazepam, Carbamazepin und Trihexiphenidyl beschrieben.
Am erfolgsversprechendsten erscheint die tiefe Hirnstimulati-
Dystoner Tremor on im VIM-Kern des Thalamus, wobei die Erfolge sehr variabel
Der dystone Tremor tritt relativ niederfrequent (3–6 Hz) fokal sind und die Patientenselektion komplex ist, denn die Stimula-
in dem Körperteil auf, das von der Dystonie betroffen ist. tion reduziert ausschließlich den Tremoranteil des zerebellären
Ähnlich wie die Dystonie lässt sich auch der dystone Tremor Syndroms, die häufig mehr behindernde Ataxie bleibt unver-
häufig durch ein Trickmanöver (›geste antagonistique‹) ändert.
bessern. Darüber hinaus findet sich oft ein relativ symmet-
rischer höherfrequenter Haltetremor der Hände, auch wenn Holmes-Tremor
diese nicht von der Dystonie betroffen sind (›Tremor bei Der Holmes Tremor tritt bei kombinierter Läsion zerebellärer
Dystonie‹). und nigrostriataler Projektionsbahnen auf (früher auch als
Bei der Behandlung des dystonen Kopftremors hat sich »Ruber-Tremor« bezeichnet). Er ist ebenfalls schwer zu behan-
in den letzten Jahren zunehmend die lokale Behandlung deln, gute Therapieerfolge mit Levodopa oder Dopaminago-
mit Botulinumtoxin durchgesetzt. Dabei erfolgt, eine auf nisten werden aber regelmäßig beobachtet. Bei fehlendem
die Größe des betroffenen Muskels abgestimmte Injek- Ansprechen auf dopaminerge Substanzen ist ein Versuch mit
tion. Der therapeutische Effekt hält für die Dauer von ca. Anticholinergika oder Clonazepam grechtfertigt. Die Erfah-
3–4 Monaten. Anschließend ist eine erneute Behandlung rungen mit der tiefen Hirnstimulation sind limitiert, erfolg-
nötig. reiche tiefe Hirnstimulationen im VIM, VOP, auch VOA des
Eine etablierte Therapie des dystonen Tremors der Extre- Thalamus und Zona incerta wurden berichtet.
mitäten gibt es darüber hinaus nicht. Eine Doppel-Blind-
Studie hat die Wirksamkeit beim dystonen Handtremor Fragile-X-assoziierte Tremor-Ataxie-Syndrom (FXTAS)
demonstriert. Der Einsatz für diese Indikation ist jedoch Bei Männern, selten auch bei Frauen, kann hier die Kombina-
durch therapieassoziierte Lähmungen limitiert. Schwere tion von Tremor und Ataxie auftreten. Anzugrenzen ist der
Einzelfälle im Rahmen einer generalisierten Dystonie sind Tremor mit Ataxie bei weiteren Unterformen der spinozerebel-
erfolgreich durch tiefe Hirnstimulation des GPi therapiert lären Ataxien (SCA 12, 16, 21, 27) vor.
worden. Stimulation des ventrolateralen Thalamus kann
ebenfalls in Einzelfällen den Tremor drastisch bessern, jedoch Medikamenteninduzierter Tremor
gelegentlich zu einer Verschlechterung der Dystonie führen. Das Spektrum der klinischen Ausprägung eines medikamentös
Der Tremor assoziiert mit Dystonie spricht laut Einzelberich- oder toxisch bedingten Tremors kann sehr heterogen sein und
ten auf Clonazepam, Trihexyphenydidyl, Propanolol, Tetrabe- hängt von der Medikamentengruppe und den individuellen
nazin und Lioresal an. Dispositionen des Patienten ab. Die häufigste Form ist ein ver-
stärkter physiologischer Tremor, der unter Einnahme von Sym-
Parkinsontremor pathomimetika oder Antidepressiva auftritt. Eine weitere Tre-
Er wurde in 7 Abschnitt 23.1 besprochen. morform, die nicht selten nach der Einnahme von Neuroleptika
oder Dopaminrezeptorblockern auftritt, ist der klassische Par-
Zerebelläre Tremorformen kinson-Tremor.
Sie werden bei den Krankheiten des Kleinhirns besprochen. Das Auftreten eines zerebellären Tremors kann z.B. nach
Charakteristisch ist der Zieltremor (früher falsch als Intentions- einer Überdosierung von Lithium auftreten.
6
23.5 · Tremor
557 23

Eine Sonderform des Tremors stellt der tardive Tremor Tremor bei peripherer Neuropathie
dar, der nach langer Neuroleptika-Behandlung auftritt und Bei dieser Art des Tremors handelt es sich um eine sehr seltene
sich als Haltetremor, aber auch als Ruhe- und Intensiontre- Variante, die im Rahmen von schweren peripheren Neuropa-
mor manifestieren kann. thien auftritt. Die Ausbildung eines Tremors wurde gehäuft bei
demyelinisierenden Polyneuropathien, bei IgM- Paraproteinä-
mien und bei der HMSN Typ I beobachtet. Man sieht ihn auch
in der Regenerationsphase nach einem GBS.

26.5.3 Psychogener Tremor Die Behandlung des psychogenen Tremors ist schwer. Medika-
mentös kann höchstens eine antidepressive Begleittherapie
Der psychogene Tremor ist ein plötzlich einsetzender Halte- angeboten werden. Die Behandlung der zugrunde liegenden
und Bewegungstremor von wechselnder Stärke, oft grob aus- psychischen Störung ist auch für Psychiater und Psychothera-
fahrend. Er ergreift häufig synchron verschiedene Muskel- peuten nicht vorhersehbar. Die frühzeitige Diagnose hat ent-
gruppen, setzt sich auch auf proximale Gliedabschnitte fort scheidende Bedeutung, denn je länger die Anamnese desto
und hat vielfach Ausdruckscharakter. Er sistiert bei Ablenk- therapieresistenter der Tremor. Verhaltentherapeutische Tech-
bewegungen. Starke Schwankungen in der Ausprägung sind niken sollten im Vordergrund stehen.
charakteristisch.
Es gibt aber Fälle, in denen die Entscheidung über die diag-
nostische Zuordnung des Tremors erst nach der Beobachtung 23.5.4 Alkoholbedingte Tremorformen
des weiteren Verlaufes möglich ist.
Die folgenden Kriterien sprechen für einen psychogenen Eine Verwechslung mit dem unregelmäßigen groben Wackeln
Tremor: beim Delirium tremens ist nicht möglich, wenn man den zeit-
4 plötzlicher Beginn und plötzliche Remissionen, lichen Ablauf und die psychopathologischen und vegetativen
4 Kombination verschiedener Tremorcharakteristika, Begleitsymptome beachtet. Hierbei handelt es sich meist um
4 Sistieren bei Ablenkung, eine Asterixis, also einen Myoklonus, der bei metabolischen
4 Veränderung des Tremors bei kontralateralen Willkürbe- Syndromen vorkommt. Feiner Ruhe- und Intentionstremor ist
wegungen und ein regelmäßiges Symptom beim chronischen Alkoholismus,
4 Koaktivierung antagonistischer Muskelgruppen. besonders, aber nicht ausschließlich, in der Entziehungssitua-

Leitlinien zur Behandlung des Tremors*


4 Der verstärkte physiologische Tremor ist häufig. Seine 4 Beim orthostatischen Tremor werden Gabapentin (B),
Ursache sollte geklärt werden. Clonazepam (C) und Primidon (C) eingesetzt.
4 Die Behandlung des essentiellen Tremors sollte mit 4 Beim dystonen Tremor wird in Analogie zur Behandlung
Primidon oder Propranolol oder der Kombination erfolgen fokaler Dystonien mit Botulinumtoxin behandelt. Dies gilt vor
(A). Wirkung und Nebenwirkungen limitieren den Einsatz. allem für den Kopf- und Stimmtremor (B). Bei dystonem Tre-
Topiramat (B), Gabapentin (B), Clonazepam und Botuli- mor im Rahmen generalisierter Dystonien werden die Medika-
numtoxin stehen als Reservepräparate zur Verfügung (C). mente eingesetzt, die auch zur Behandlung der Dystonie
Die tiefe Hirnstimulation ist bei Therapieresistenz und herangezogen werden. Hier wird auch die tiefe Hirnstimulati-
schwer ausgeprägter Symptomatik sinnvoll (A). Beim Kopf- on des Globus pallidum internum eingesetzt (C).
tremor und beim Stimmtremor wird Botulinumtoxin einge- 4 Dopaminergika, Anticholinergika und Clozapin und die
setzt (A). tiefe Hirnstimulation waren in Einzelfällen beim Holmes-Tre-
4 Zur Behandlung des Parkinson-Tremors sollten zunächst mor wirksam (C).
die Akinese und der Rigor medikamentös optimal eingestellt 4 Je nach Symptomen kann der Ohrklick beim Gaumense-
werden, was in der Regel auch den Tremor verbessert (A). geltremor mit Botulinumtoxin (C) behandelt werden.
Wenn dann noch ein Tremor verbleibt, kann mit Anticholi- 4 Beim neuropathischen Tremor steht die Behandlung der
nergika (B) (cave: Kognition), Steigerung der Dopaminago- Grundkrankheit im Vordergrund. Falls dann ein Tremor ver-
nisten (B) oder Clozapin (B) behandelt werden. Budipin oder bleibt,wurde mit Primidon und Propranolol behandelt (C). Bei
Propranolol sind Reservepräparate (B). Die tiefe Hirnstimula- schwerster Ausprägung bleibt die tiefe Hirnstimulation als
tion (STN, nur ausnahmsweise VIM) ist wirksam und bei Option (C).
entsprechender Beschwerdeausprägung gerechtfertigt (A). 4 Es gibt keine etablierte Behandlung des psychogenen
4 Eine etablierte Pharmakotherapie des zerebellären Tre- Tremors.
mors gibt es nicht. Nach entsprechender Vorauswahl kann
die tiefe Hirnstimulation erwogen werden (B). * Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)
558 Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

tion, z.B. morgens. Ein wichtiges diagnostisches Kriterium ist Myoklonien lassen sich klinisch von anderen Bewegungs-
23 das Nachlassen dieses Tremors nach Alkoholgenuss im Laufe störungen unterscheiden, können aber zusammen mit anderen
des Tages (s. aber auch essentieller Tremor). Auch dieser Tre- unwillkürlichen Bewegungsformen auftreten (z.B. Myoklo-
mor soll ein verstärkter physiologischer Tremor sein. nus-Dystonie, kortikobasale Degeneration und andere akine-
tisch-rigide Syndrome). Sie unterscheiden sich von Dystonien
durch ihre sehr kurze Dauer und die häufig nur einzelne Ge-
23.6 Myoklonien lenke betreffenden Bewegungen.
Die Myoklonussyndrome, ihre Entstehungsorte und
3Definition. Myoklonien sind plötzlich auftretende unwill- Symptome wurden in 7 Kap. 1.9 besprochen. Wir stellen hier
kürliche, kurzdauernde Muskelkontraktionen (meist <100– die Therapiemöglichkeiten einzelner Krankheiten mit Myo-
200 ms), die entweder als positiver Myoklonus mit oder als klonien vor.
kurze Inhibition tonischer Muskelaktivität (negativer Myoklo-
nus, Asterixis) auftreten. Der Terminus Myoklonien beschreibt Primäre Myokloniesyndrome.
die klinischen Folgen einer Übererregung umschriebener Ner- Gehäuft auftretende Myoklonien, die nicht Ausdruck einer
venzellpopulationen. anderen zugrunde liegenden ZNS- oder Stoffwechselkrankheit
Phänomenologisch können Myoklonien unter Berücksich- sind, nennt man primäre oder essentielle Myoklonien. Hierzu
tigung ihres vermutlichen Entstehungsortes (kortikal, retikulär, gehören seltene Syndrome wie die familiäre Myoklonie, die
spinal), der Topographie (fokal, multifokal, generalisiert), ihres Hyperekplexie (startle disease) und Reflexmyoklonien bei sen-
Rekrutierungsmusters (kraniokaudal, retikulospinal, intraspi- siblen, akustischen oder visuellen Reizen. Für einige wenige
nal), des elektromyographischen Musters (Antagonistenver- genetisch determinierte, nicht primär-epileptische Erkran-
halten, negativer Myoklonus, Entladungsdauer), ihrer Provoka- kungen, bei denen Myoklonien zu den führenden klinischen
tionsmechanismen (spontan, aktionsinduziert, reflektorisch) Symptomen gehören, sind krankheitsspezifische Mutationen
sowie ihrer Dauer und Rhythmizität klassifiziert werden. nachgewiesen, z.B. familiäre Hyperekplexie (Startle-Erkran-

Facharzt
Andere Myoklonusformen
Gaumensegelmyoklonie Posthypoxischer Myoklonus. Nach Herz-Kreislauf-Stillstand
Als Gaumensegelmyoklonien bezeichnet man häufige, kurze und Reanimation findet man den posthypoxischen Myoklonus
myoklonische Kontraktionen des Gaumensegels, die den (Lance-Adams-Syndrom). Manchmal befinden sich die Patien-
Patienten vor allem durch ein störendes knackendes Ge- ten in einem Status myoklonischer Aktivität, der schwer zu
räusch irritieren. Sie treten rhythmisch, mit einer Frequenz durchbrechen ist. Er wird meist als prognostisch schlechtes
von 2–5/s auf und sind auf eine Läsion im unteren Hirn- Zeichen gewertet. Jedoch gibt es Patienten, die sich, bis auf
stamm zurückzuführen. Die essentielle (idiopathische Form) den Myoklonus, von der Hypoxie gut erholen und dann durch
zeigt keine morphologischen Veränderungen im dentato- den Myoklonus besonders behindert sind.
rubro-olivären Trakt. Sie sind schlecht behandelbar. Neben
Clonazepam und Valproinsäure wird man auch Carbamaze- Myoklonus bei metabolischen Enzephalopathien. Bei meta-
pin und Tetrabenazin versuchen. Botoxbehandlung in den bolischen Enzephalopathien verschiedenster Art (Nieren-,
M. tensor veli palatini zur Beseitigung des Ohrklick ist theo- Leberversagen, Hyponatriämie) werden Myoklonien beschrie-
retisch möglich, aber technisch schwierig. ben. Die Asterixis, die im Leberversagen auftritt, ist als »nega-
tive Myoklonie« eine Sonderform: Hier ist nicht die Muskelak-
Spinale Myoklonien tivität Ausdruck des Myoklonus, sondern eine kurze Unter-
Clonazepam in der oben angegebenen Dosierung, Baclofen, brechung der kontinuierlichen Muskelaktivität ist von einer
gegebenenfalls auch intrathekal über Baclofenpumpe, Tetra- Korrektur durch intermittierende Muskelzuckungen gefolgt.
benazin. Bei sehr schwer verlaufenden Formen der spinalen
Myoklonien kann auch eine intrathekale Clonazepambehand- Andere symptomatische Myoklonien. Auch bei entzünd-
lung durchgeführt werden (Cave: Gefahr der Atemlähmung lichen Krankheiten des Nervensystems sind Myoklonien nicht
bei Überdosierung). selten. Charakteristisch sind sie bei Prionerkrankungen
(Creutzfeldt-Jakob-Krankheit).
Symptomatische Myoklonien Es verwundert nicht, dass verschiedene toxische Substan-
Die (post-)synkopalen Myoklonien treten, wie der Name sagt, zen, Drogen und Medikamente Myoklonien hervorrufen kön-
bei oder im Anschluss an Synkopen, meist in der Wiederauf- nen. Genannt seien Schwermetalle, Kokain, LSD, Crack und an
wachphase auf. Sie sind ein häufiges differentialdiagnosti- Medikamenten Psychopharmaka, Lithium und L-Dopa.
sches Problem und werden von Nichtneurologen oft mit Im Rahmen der paraneoplastischen Syndrome (7 Kap. 1.3.3)
epileptischen Anfällen verwechselt. Der Hauptunterschied wird das Myoklonus-Opsoklonus-Syndrom besprochen.
ist, dass bei postsynkopalen Myoklonien die motorischen Bei Systemdegenerationen des ZNS (M. Huntington,
Aktionen meist im Anschluss an die Bewusstlosigkeit gesche- Parkinson-Syndrom, Multisystematrophie) und Dystonien
hen und nicht zu Beginn, wie dies bei Epilepsien der Fall ist. treten gelegentlich myoklonische Symptome auf.
23.7 · Restless-legs-Syndrom
559 23
kung, gesteigerte Schreckmyoklonien, bei denen es zu einer nutzten Medikamente muss man sich im Einzelfall informie-
überschießenden Schreckreaktion mit Hinstürzen kommen ren.
kann) mit einer Mutation im Gen für die α1-Untereinheit des
Glyzinreceptors.
23.7 Restless-legs-Syndrom
3Therapieprinzipien. Entsprechend der Vielzahl der myo-
klonischen Syndrome und Ursachen von Myoklonien gibt es 3Definition und Epidemiologie. Das Restless-legs-Syn-
sehr viele pragmatische Therapieansätze, aber kaum kontrol- drom (RLS) zählt mit einer mit zunehmendem Alter anstei-
lierte Studien. Aufgrund der biochemischen Heterogenität der genden Prävalenz von 5–10% der Bevölkerung zu den häufigs-
Myoklonien (Serotoninmangel oder -überschuss, GABA-Man- ten neurologischen Erkrankungen. Die Prävalenz des idio-
gel, Glyzinmangel) wird deutlich, dass nicht jedes Medikament, pathischen RLS ist unter Angehörigen ersten Grades von RLS-
das bei einer Form von Myoklonien wirksam ist, auch bei einer Patienten drei- bis fünfmal so hoch wie bei Personen ohne RLS.
anderen helfen muss. Beim sog. idiopathischen RLS kann keine auslösende Grund-
Für epileptische Myoklonien gelten die Regeln der Epilep- erkrankung diagnostiziert werden.
siebehandlung. Antiepileptika, die den Mangel an GABA kom-
pensieren (sog. GABAerge Substanzen, wie Valproinsäure oder 3Genetik. Die Häufigkeit einer genetischen Prädisposition
Benzodiazepine), sind auch bei Myoklonien die am häufigsten wird mit 40–80% angegeben, der Vererbungsgang ist autoso-
eingesetzten Medikamente. mal-dominant. Bisher sind drei Loci für das RLS auf Chromo-
4 Man beginnt zunächst mit Diazepam-Derivaten. som 12q, 9p und 14q kartiert worden, ein Gen ist bisher nicht
4 Bei leichten Myokloniesyndromen, die ambulant oder auf bekannt. Ätiologie und Pathophysiologie sind bisher nicht aus-
der Normalstation behandelt werden können, beginnt man rechend geklärt: Es ergeben sich Hinweis auf Beteiligung des
mit Clonazepam (Rivotril®) oral in langsam aufsteigender Do- dopaminergen und opiodergen Systems.
sierung, meist mit 2- bis 3-mal 0,5 mg pro Tag. Man kann sehr
hoch aufdosieren, bis zu 16–20 mg pro Tag werden gegeben. Es 3Symptome. Es besteht erheblichen Bewegungsdrang mit
ist erstaunlich, welche Dosen diese Patienten vertragen, ohne unangenehmen, oft quälenden Dys- oder Parästhesien der Bei-
dabei die sonst typischen Nebenwirkungen von Clonazepam ne, seltener auch der Arme, die ausschließlich in Ruhesitua-
(Rivotril®) (Sedierung, vermehrte Speichelbildung, Schwindel tionen, ganz besonders ausgeprägt in den Abend- und Nacht-
und Ataxie) zu entwickeln. stunden auftreten. Die Beschwerden können einseitig, beid-
4 Bei sehr massiven Myoklonien gibt man Clonazepam oder seitig oder alternierend auftreten und sind kurzfristig durch
Midazolam (z.B. Dormicum® i.v.), bei Kindern können Diaze- Bewegung oder Aktivität zu lindern bzw. zu beseitigen.
pam-Rektiolen versucht werden. Dies führt bei über 90% der Betroffenen zu erheblichen
4 Wenn der Effekt unbefriedigend ist, wird zunächst der Ein- und Durchschlafstörungen mit resultierender Tagesmü-
Tranquilizer ausgeschlichen und mit einer Monotherapie mit digkeit und Erschöpfung, die nicht selten der Grund für die
Valproinsäure begonnen. Da Valproinsäure gut vertragen wird, erste Konsultation eines Arztes sind. Das Schlafprofil eines
kann man relativ schnell aufdosieren. Auch hier werden Do- RLS-Patienten ist mit verlängerte Einschlaflatenz, häufigen
sierungen erreicht, die oberhalb der bei der Epilepsiebehand- Wachphasen, Verringerung der Tiefschlaf- und REM-Phasen
lung gegebenen Empfehlungen liegen (in Einzelfällen 3000– gestört. Periodische Beinbewegungen im Schlaf (periodic leg
5000 mg/Tag Valproinsäure). Man muss Geduld haben, da sich movements in sleep, PLMS) treten bei mindestens 85% der er-
die Therapieeffekte manchmal erst nach 2–3 Wochen einstel- wachsenen RLS-Patienten auf. PLMS können jedoch auch im
len. Die Bestimmung der Serumspiegel hat keine Bedeutung. Rahmen anderer Erkrankungen oder in höherem Lebensalter
Der dritte Schritt ist dann die Kombination von Diazepam mit vorkommen. Bei Kindern sind PLMS nicht so häufig wie bei
Valproinsäure, auch hier in hohen Dosierungen, soweit der Erwachsenen. Der Verlauf der Erkrankung ist uneinheitlich.
Patient sie toleriert. Bei jüngeren Patienten ist der Verlauf in der Regel schleichend.
4 Wenn auch mit dieser Kombinationstherapie kein deut- Treten die Symptome erstmalig nach dem 50. Lebensjahr auf,
licher Erfolg erzielt wird, ist man auf Versuche mit seltener zeigt der Verlauf häufig eine schnellere Progredienz. Bei man-
eingesetzten Medikamenten angewiesen. Pirazetam hilft bei chen Patienten mit mildem RLS kann das Syndrom für mehre-
generalisierten Myoklonien und beim posthypoxischen Myo- re Jahre spontan remittieren.
klonus. Die Dosierungen, die man dann wählen muss, sind
relativ hoch. Man gibt bis zu 24 g Pirazetam pro Tag. L-Tryp- 3Diagnostik. Elektrophysiologisch zeigt sich eine Über-
tophan, Primidon, Carbamazepin, Phenytoin, Vigabatrin, erregbarkeit spinaler Bahnen mit Disinhibition im Bereich des
Lamotrigin, Carbidopa oder Fluoxetin (Fluctin®) sind andere Hirnstammes. In der MR-Volumetrie ist eine Volumenzunah-
Substanzen, die gegeben werden. Es ist immer sinnvoll, auch me im Pulvinar thalami beschrieben, was entweder auf eine
einen Behandlungsversuch mit Baclofen durchzuführen, da Rolle in der Pathogenese oder auf einen erhöhten afferenten
bei symptomatischen Formen die Behandlung der Spastik das Input hinweist. Bildgebende Diagnostik und Elektrophysiolo-
Auftreten von Reflexmyoklonien verringern kann. Schließlich gie sind ansonsten unergiebig. Elektromyographisch und neu-
wird man auch noch Trihexyphenidyl (Artane®) oder Tetra- rographisch können Polyneuropathien als Ursachen eines
benazin (Nitoman®) versuchen. Ein Versuch mit Betablo- sekundären RLS ausgeschlossen werden. Die polysomnogra-
ckern ist sinnvoll. Zu den Dosierungen dieser seltener ge- phische Untersuchung (PSG) kann die Ausprägung der Schlaf-
560 Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

störung feststellen und weitere schlafbezogene Erkrankungen, zu Willkürbewegungen fehlen. Eine Beteiligung der Basal-
23 die Tagesmüdigkeit verursachen können ausschließen. ganglien ist wahrscheinlich. SPECT-Untersuchungen weisen
Labor: Zum Ausschluss sekundärer RLS-Formen sollten auf eine pathologische Dopamin-Transporter-Bindung in
folgende Werte bestimmt werden: Blutbild, Ferritin und Se- Kaudatum und Putamen hin.
rumeisen (meist erniedrigt), Nierenfunktionswerte, TSH, ggf. Tics können drogen- und medikamentös-induziert, pos-
Schilddrüsenhormone. tenzephalitisch oder posttraumatisch auftreten. Als Hinweis
L-Dopa-Test: Das Ansprechen auf L-Dopa wird zum auf eine autoimmune Genese lassen sich manchmal antineuro-
diagnostischen Nachweis eines RLS verwendet. (Durchfüh- nale Serumantikörper gegen Basalganglien nachweisen.
rung 7 S. 534) Durch den Test kann in 90% eine korrekte
Diagnose gestellt werden. 3Therapie
Eine medikamentöse Therapie wird in der Regel nur bei chro-
3Therapie. Nahezu alle RLS-Patienten zeigen einen zu- nischen Tics eingesetzt, die länger als 1 Jahr bestehen. Bei der
mindest initial positiven therapeutischen Effekt nach Gabe von Entscheidung zur Therapie sollten der oft benigne Charakter
L-Dopa oder niedrigen Dosen von Dopaminagonisten. Der der Erkrankung und mögliche Nebenwirkungen der Therapie
initiale Effekt bleibt jedoch nicht immer konstant. Auf Grund berücksichtigt werden. Im Einzelfall können therapeutisch
der guten therapeutischen Wirksamkeit von dopaminergen eingesetzt werden:
und opioidergen Substanzen geht man von einer Beteiligung 4 Tiaprid/Sulpirid (bei Kindern 5–10 mg/kg KG; Ewachsene
der entsprechenden Neurotransmittersysteme aus. 3-mal 100 bis 3-mal 200 mg/Tag),
4 L-Dopa in Kombination mit Benserazid in der Standard- 4 Risperidon (2-mal 1 mg/Tag; 4 mg/Tag),
und Retardform ist derzeit in Deutschland (und der Schweiz) 4 Clonidin (bei Erwachsenen: 2-mal 0,075 mg/Tag; max. 3-
als einzige Substanz für die Behandlung des RLS zugelassen mal 0,3 mg/Tag),
(Restex® und Restex® retard). 4 Olanzapin (Cyprexa, 2-mal 5 mg/Tag; max. 20 mg/Tag),
4 Dopaminagonisten stellen eine alternative, effektive und 4 Quetiapin/Seroquel,
insgesamt gut verträgliche Behandlungsmöglichkeit. Ropinirol 4 Haloperidol (3-mal 1 mg/Tag; max. 3-mal 4 mg/Tag),
und Pramipexol sind in Deutschland zur Therapie des mittel- 4 Erfolge wurden in kleinen offenen Studien auch für Ropi-
schweren und schweren RLS zugelassen. nirol berichtet.
4 Bei RLS mit Einschlafstörungen gibt man L-DOPA plus 4 In Einzelfällen ist eine Besserung von Tics und Verhaltens-
Decarboxylasehemmer 100/25 mg bis 200/50 mg etwa eine auffälligkeiten nach tiefer Hirnstimulation (bithalamisch) be-
Stunde vor dem Schlafengehen. schrieben.
4 Bei intermittierenden Beschwerden (z.B. Dialyse): 100 mg 4 Stimulanzien, die zur Behandlung eines Aufmerksam-
schnell anflutende, lösliche Tablette L-Dopa (z.B. Madopar keitsdefizit-Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) gegeben wer-
LT), eine halbe Stunde vor Dialysebeginn. den, scheinen Intensität und Häufigkeit von Tics nicht zu ver-
4 Magnesium wirkt beim RLS nicht. schlechtern.
4 Oft ist eine Verhaltenstherapie sinnvoll.

23.8 Tics
23.8.1 Tourette-Syndrom
3Definition. Tics sind einfache oder komplexe, plötzlich
auftretende, kurzdauernde, unwillkürliche Bewegungen, die Bei dieser Krankheit bestehen multiple motorische und vokale
für kurze Zeit unterdrückt werden können. Patienten empfin- Tics, meist negativ gefärbt. Sie beginnt bereits in Kindheit oder
den häufig unmittelbar vor der Bewegung ein Anspannungs- jungem Erwachsenenalter. Häufig ist das Tourette-Syndrom
gefühl. von Zwangssymptomen und einer Aufmerksamkeitsdefizit-
Hyperaktivitätsstörung begleitet, die den Grad der psychoso-
3Symptome. Man unterscheidet einfache Tics, die einzelne zialen Beeinträchtigung wesentlich mitbestimmen. Oft besteht
Muskelgruppen betreffen (Naserümpfen, Blinzeln, Schulter- auch eine schwere soziale Auffälligkeit bis hin zur Delinquenz.
zucken, Räuspern etc.) von komplexen Tics mit Beteiligung Die motorischen Tics können so gravierend sein, dass sie nor-
mehrerer Muskelgruppen und Auftreten scheinbar sinnvoller male Willkürmotorik in den Händen unmöglich machen. Etwa
Bewegungsabläufe (z.B. Rumpfbeugen, Fingergesten). Wenn 10% der Tourette-Patienten leiden auch unter einem Restless-
pharyngeale, laryngeale oder orale Muskelabschnitte betroffen legs-Syndrom. Die Erkrankung ist meist genetisch bedingt
sind, kann es zu Lautäußerungen kommen (vokale Tics). Die (autosomal-dominant mit unvollständiger Penetranz), es be-
Patienten sind meist in der Lage, unwillkürliche Bewegungen steht eine mögliche Assoziation mit einer Mutation des Gens
für eine gewisse Zeit zu unterdrücken. SLITRK1 auf dem Chromosom 13.

3Ätiologie und Diagnostik. In den meisten Fällen bleibt


die Ätiologie unklar (primäre, idiopathische Tics). Pathophy-
siologisch wird eine Störung im Bereich kortiko-striataler-
thalamisch-kortikaler Verbindungen angenommen. Ein EEG-
Bereitschaftspotential vor einfachen Tics kann im Gegensatz
23.8 · Tics
561 23

In Kürze

Parkinson-Syndrome

Akinese/Bradykinese mit mindestens einem der folgenden fortschreitend mit schubweisen Verschlechterungen ohne
Symptome: Ruhetremor, Rigor, Haltungsinstabilität. Remissionen. Diagnostik: CT/MRT: Atrophie des Nucleus
caudatus, Verbreiterung der Rindenfurchen als Zeichen der
Idiopathische Parkinson-Krankheit. Erkrankungsalter Hirnatrophie; PET: neurologische Auffälligkeiten. Therapie:
zwischen 40–60 Jahren. Parkinsonsyndrom als Ausdruck »neuroprotektive« Behandlung mit Glutamat-Antagonisten.
eines degenerativen Prozesses der kleinen, dopaminergen
Zellen in der Substantia nigra. Krankheitsverlauf anfangs Chorea minor. Manifestation des rheumatischen Fiebers im
rascher, nach 9 Jahren langsamer progredient. Frühsymp- Kindes- und Jugendalter. Symptome: Allgemeinsymptome,
tome: Vor Krankheitsbeginn Geruchsverlust; Schmerzen in Fieber, Hyperkinesen, konjugierte Augenbewegungen. Diag-
Extremitäten, Tremor, Verarmung der Ausdrucks- und Mit- nostik: CT/MRT sind unauffällig; Liquor ist normal; EEG ist
bewegungen, Erschwerung der intendierten Bewegungen, unspezifisch unverändert; EMG: Nachweis abrupter hyper-
rigide Erhöhung des Muskeltonus, starre, vornüber gebeugte kinetischer Aktivität auch in ruhig und entspannt wirkenden
Körperhaltung, depressive Verstimmung, vegetative Begleit- Muskeln; Serum: Unspezifische Entzündungszeichen. Thera-
symptome, Verlangsamung der Schluckmotorik, leise und pie: Bettruhe, Isolation, Penizillin zur Prophylaxe.
heisere Stimme. Rigor beginnt in proximalen Muskelgrup-
pen mit dort ziehenden Schmerzen, wächserner Widerstand Schwangerschaftschorea. Im 3.–5. Monat der Gravidität,
gegen passive Bewegungen, fehlende Entspannung der Abklingen der Symptome nach Entbindung, Gefahr einer
betroffenen Muskeln. Tremor nimmt bei Willkürbewegun- Fehlgeburt.
gen der betroffenen Extremität ab oder setzt ganz aus.
Störunggleichgewichtserhaltender Reflexe bewirkt plötz- Ballismus
liches Stehen bleiben im Gehen mit Gefahr des Umfallens.
Nichtmotorische Symptome wie kognitive Leistungsmin- Nach Infarkten oder Blutungen in Nucleus subthalamicus oder
derungen. Psychische Symptome wie Depression. Diagnos- seine Verbindung mit Pallidum.
tik: CT/MRT: Altersuntypische Volumenminderung des Symptome: Halbseitige, unwillkürliche, plötzlich einsetzende,
Gehirns; EEG ist normal; SPECT: Ätiologische Zuordnung des rasch ablaufende Bewegungen.
Parkinson-Syndroms im Frühstadium; EMG: Tremorklassifi-
zierung in unklaren Fällen. Therapie: Medikamentöse Thera- Dystonien
pie, Krankengymnastik, neurochirurgische Therapie als läsio-
nelles Verfahren, Tiefenhirnstimulation oder Transplantation Bewegungsstörungen durch Mitaktivierung von sonst nicht
fetalen Gewebes nur bei Vorliegen eines Dopamin-respon- beteiligten Muskelgruppen.
siven Syndroms.
Fokale und segmentale Dystonien. Krankheitsbeginn im
Multisystematrophien (MSA) mit Parkinson-Symptomen. mittleren Erwachsenenalter.
Voraussetzung: Orthostatische Hypotension oder Blasen- Schiefhals als segmentale Dystonie des Halsbereiches,
inkontinenz und Dopamin-responsives Parkinson-Syndrom setzt zwischen 30. und 50. Lebensjahr schleichend oder ohne
oder zerebelläre Dysfunktion. Symptomatik rascher pro- erkennbaren Anlass, chronisch fortschreitend mit tonischen
gredient als bei idiopathischem M. Parkinson. oder ruckartigen Drehbewegung, Kopfneigung, Hypertrophie
der beteiligten Muskeln ein. Blepharospasmus mit bilate-
Choreatische Syndrome ralen, symmetrischen, meist tonischen Kontraktionen der
Unwillkürliche, plötzliche, rasche, unregelmäßige, nicht Mm. orbiculares oculi. Beschäftigungsdystonien als häufige
vorhersehbare Bewegungen von Extremitäten, Gesicht, Hals Wiederholung immer gleicher aufgabenspezifischer Bewe-
und Rumpf. gungsabläufe wie Schreiben, Musizieren. Meige-Syndrom
Differentialdiagnose: Psychogene Bewegungsstörung, beginnt im Gesicht mit Blepharospasmus, danach symmet-
akute Enzephalitis. rische, dystone Kontraktionen der mimischen Muskeln, Zunge,
Schlund- und Phonationsmuskeln.
Chorea Huntington. Prävalenz: 2–10/100.000 Einwohner.
Symptome: Psychische Veränderungen wie Unverträglich- Generalisierte Dystonien. Nach perinataler Hirnschädigung,
keit, sexuelle Enthemmung, Bewegungsstörungen, ständige Enzephalitis, bei hepatolentikulärer Degeneration und als
Bewegung der Kaumuskulatur und Zunge, stoßweises Wech- akute Überempfindlichkeit gegenüber Psychopharmaka.
seln der Phonation, Hyperkinesen beim Gehen. Chronisch Beginnt im Jugendalter, in wellenförmigem Verlauf langsam
6
562 Kapitel 23 · Krankheiten der Basalganglien

23 fortschreitend, Endstadium um das 50. Lebensjahr. Symp- (Serotoninmangel oder -überschuss, GABA-Mangel, Glyzin-
tome: Wirbelsäule in skoliotischer und lordotischer Fehl- mangel) verhindert einheitliche Medikamententherapie.
stellung fixiert, hypertrophierte Muskeln, Gliedmaßen in
bizarren Stellungen. Medikamentöse Therapie. Restless-legs-Syndrom (RLS)

Tremor Idiopathisches RLS ohne auslösende Grunderkrankung, jedoch


familiär gehäuft auftretend, mit schleichendem oder progre-
Rhythmische, unwillkürliche Bewegung eines Körperteils. dientem Verlauf.
Diagnostik: EMG zur Differenzierung der Tremorformen. Symptome: Bewegungsdrang mit quälenden Dys- oder Paräs-
thesien der Beine, ausschließlich in Ruhesituationen, einseitig,
Physiologischer Tremor. Bei Aufregung, Lampenfieber, beidseitig oder alternierend auftretend, Ein- und Durchschlaf-
heftigen Auseinandersetzungen als feinschlägig, oft asymp- störungen.
tomatisch, ohne Krankheitswert. Medikamentöse Therapie mit L-Dopa oder Dopaminagonisten.

Essenzieller Tremor. Kombiniertes Halte- und Intentions- Tics


zittern in 6–12/s-Frequenz beider Hände, des Kopfes (als
Ja-Ja- oder Nein-Nein-Tremor) und Unterkiefers. Medika- Einfache oder komplexe, plötzlich auftretende, kurzdauernde,
mentöse Therapie. unwillkürliche Bewegungen.
Ursache: Medikamentös-induziert, postenzephalitisch oder
Psychogener Tremor. Plötzlich einsetzender Halte- und posttraumatisch.
Bewegungstremor synchron verschiedener Muskelgruppen Symptome: Einfache Tics betreffen einzelne Muskelgruppen
von wechselnder Stärke. Antidepressive Begleittherapie. (Naserümpfen, Blinzeln), komplexe Tics mit Beteiligung mehre-
rer Muskelgruppen und Auftreten scheinbar sinnvoller Bewe-
Alkoholbedingte Tremorformen. Ruhe- und Intentions- gungsabläufe (Rumpfbeugen).
tremor, Nachlassen nach Alkoholgenuss. Therapie: Verhaltenstherapie, medikamentöse Therapie bei
chronischen Tics >1 Jahr.
Myoklonien
Tourette-Syndrom. Multiple motorische und vokale Tics,
Plötzlich auftretende unwillkürliche, kurzdauernde Muskel- meist negativ gefärbt, beginnen in Kindheit oder jungem
kontraktionen, entweder als positiver Myoklonus mit oder als Erwachsenenalter. Symptome: Zwangssymptome, Auf-
kurze Inhibition tonischer Muskelaktivität (negativer Myoklo- merksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, soziale Auffällig-
nus). Therapie: Biochemische Heterogenität der Myoklonien keit.
24

24 Ataxien
24.1 Erbliche, degenerative Ataxien – 564
24.1.1 Friedreich-Ataxie – 564
24.1.2 Andere, autosomal-rezessive Krankheiten mit Ataxie – 566
24.1.3 Autosomal-dominant erbliche zerebelläre Ataxien (spinozerebelläre Ataxien, SCA) – 566
24.1.4 Episodische Ataxien – 567

24.2 Nichterbliche, degenerative Ataxien – 567

24.3 Erworbene Ataxien – 567


24.3.1 Alkoholische Kleinhirndegeneration – 567
24.3.2 Andere erworbene Kleinhirndegenerationen – 567
564 Kapitel 24 · Ataxien

> > Einleitung

Bis vor wenigen Jahren wurden die degenerativen Ataxien nach


neuropathologischen Gesichtspunkten klassifiziert und beschrie-
24 ben. Drei Krankheiten wurden besonders herausgestellt: die
spinozerebelläre Friedreich-Ataxie (. Abb. 24.1), die in der Klinik
nach Nonne und Pierre Marie benannte zerebelläre Heredoataxie
und die olivopontozerebelläre Atrophie.
Diese Einteilung war sehr unbefriedigend: In einer Kategorie
wurden ätiologisch und in Symptomatik und Verlauf unterschied-
liche Krankheiten zusammengefasst. Innerhalb einer betroffenen
Familie konnten unterschiedliche Syndrome und Verlaufsformen
beobachtet werden. Aus Genetik und Molekulargenetik, in deren
Folge auch neue diagnostische Methoden eingeführt wurden,
ergibt sich heute eine ganz neue Einteilung der Ataxien.

Vorbemerkungen
Die Leitsymptome der Ataxien sind in 7 Kap. 1 ausführlich
beschrieben. Im Folgenden werden die Leitsymptome bei den
einzelnen Krankheitsentitäten kurz wiederholt und auf beson-
dere Symptomkonstellationen hingewiesen.
. Abb. 24.2. MRT (T2 axial) eines Patienten mit zerebellärer
Ataxie im Erwachsenenalter, Parkinsonismus und okulomotorischen
3Einteilung. Man unterscheidet zwischen erblichen, nicht-
Symptomen (Multisystematrophie-C, Typ olivopontozerebeelläre
erblichen, degenerativen und erworbenen Ataxien. Die nach- Atrophie). (H. Zeumer, Hamburg)
folgende Darstellung beschränkt sich auf klinisch besonders

wichtige Formen der Ataxien. Bei Patienten mit Krankheits-


beginn im jungen Erwachsenenalter kommen vor allem gene-
tisch bedingte Ataxien in Betracht. Bei späterem Krankheits-
beginn kommen sowohl erworbene Ataxien (alkoholische
Kleinhirndegeneration, paraneoplastische Kleinhirndegene-
ration (PCD)) und sporadische degenerative Ataxien wie bei
Multisystematrophie (MSA) in Frage. . Tabelle 24.1 listet die
sporadischen und erblichen degenerativen Ataxien auf.

3Diagnostik. Die verschiedenen Laboruntersuchungen,


die bei der Ursachenforschung symptomatischer Ataxien sinn-
voll sind, sind in . Tabelle 24.2 zusammengestellt.
Die bildgebende Diagnostik mit CT und MRT ist eben-
falls unerlässlich zum Ausschluss anderer Kleinhirnkrank-
heiten. Oft sind CT oder MRT allerdings normal oder zeigen
eine oft nicht einmal besonders eindrucksvolle Kleinhirnatro-
phie (. Abb. 24.2).
Auch die Liquoruntersuchung und elektrophysiologische
Untersuchungen sind erforderlich. Die Labordiagnostik mit
molekulargenetischen Tests spielt heute die entscheidende
Rolle, da sich nachweislich bei bis zu 20% der Patienten mit
sporadischer, im Erwachsenenalter beginnender Ataxie trotz
negativer Familienanamnese eine Genmutation nachweisen
lässt (vgl. . Tab. 24.1 und Tab. 3.2).

24.1 Erbliche, degenerative Ataxien

24.1.1 Friedreich-Ataxie

. Abb. 24.1. Friedreich-Fuß. Originalphotographie eines sog. 3Epidemiologie und Molekulargenetik. Die Prävalenz be-
»Friedreich-Fußes«, beschriftet von Erb (Heidelberg, 1903) trägt 1–2 auf 100.000 Neugeborene. Der Krankheit liegt der
24.1 · Erbliche, degenerative Ataxien
565 24

. Tabelle 24.1. Einteilung der degenerativen Ataxien (Auswahl)


Gruppe Unterform Symptome Besondere
Autosomal- Spinozerebelläre Ataxien (SCA)
dominante SCA1 Ataxie + O + S + PNP CAG-Repeat im Ataxin-1-Gen
Ataxien SCA2 Ataxie + O + PNP CAG-Repeat im Ataxin-2-Gen
SCA3 (Machado-Joseph) Ataxie + EP + S + PNP CAG-Repeat im Ataxin-3-Gen
SCA6 Ataxie CAG-Repeat im P/Q-Calciumkanal
SCA7 Ataxie und Retinadegeneration CAG-Repeat im Ataxin-7-Gen
SCA17 Ataxie, Chorea, Dystonie, Spastik, Demenz, CAG-Repeat im TATA- bindendem
Parkinson-Syndrom Protein
Episodische Ataxie Episodische Ataxie, Dysarthrie, Nystagmus Mutation in Ionenkanälen
Autosomal- Friedreich-Ataxie Ataxie, Polyneuropathie, Areflexie, Pyramiden- GAA-Repeat im Frataxin-Gen
rezessive bahnzeichen, Slelettdeformitäten
Ataxien Zerebrotendinöse Xanthomatose Ataxie + S + PNP + Katarakt + Diarrhoe Cholestanol i.S. erhöht. Th: Chenode-
Ataxie mit Teleangiektasien oxycholsäure + Statin
(Louis Bar)
Refsum Krankheit Ataxie und Polyneuropathie, Seh und Hörver- Phytanol-CoA-Hydroxylase
lust
Autosomal rezessive Ataxie mit wie im Namen beschrieben Aprataxin und Senataxin Gene
okulomotorischer Ataxie Typ 1
und 2
Ataxie mit isoliertem Vitamin E Mikrosomales Triglyzerid-Transfer-
Defizit protein
O Störung der Okulomotorik, S Spastik, PNP Polyneuropathie, EP extrapyramidale Symptome.

. Tabelle 24.2. Nicht-molekulare Labordiagnostik bei degenerativen Ataxien (Nach Klockgether et al. 1995)
Krankheit Laborparameter
Abetalipoproteinämie Vitamin E; Lipide (β-Lipoprotein)
Ataxie bei Vitamin-E-Mangel Vitamin E
Ataxie bei Malabsorptionssyndrom Vitamin E
Akanthozytose Lipide (β-Lipoprotein)
M. Refsum Phytansäure
Ataxie-Teleangiektasie α-Fetoprotein
Adrenoleukodystrophie Überlangkettige Fettsäuren
GM2-Ganglosidosen Hexosaminidase A
Ataxie alkoholtoxischer Genese MCV, γ-GT, CDT
Ataxie bei Hypothyreose Schilddrüsenwerte
PCD (Paraneoplastische Kleinhirndegeneration) Anti-Yo
Mitochondriale Zytopathien Laktat (Serum, Liquor)

autosomal-rezessive Erbgang zugrunde. Das Erkrankungsrisi- 4 langsam fortschreitende Ataxie mit Beginn um die Pubertät
ko für Geschwister eines Erkrankten beträgt also 25%. (vor dem 25. Lebensjahr),
Das Gen für die Friedreich-Ataxie wurde auf Chromo- 4 Beeinträchtigung der Vibrationsempfindung,
som 9 lokalisiert. Bei 90% der Kranken liegt eine Repeat-Ver- 4 Areflexie der Beine und Fehlstellung der Zehen mit Über-
mehrung eines im Intron 1 des X-25-Gens gelegenen GAA- streckung im Grundgelenk – Pyramidenbahnzeichen
Repeats auf das 20- bis 40fache vor. Diese Expansion vermin- 4 Skelettdeformitäten und
dert oder verhindert die Synthese eines Proteins, das Frataxin 4 Kardiomyopathie.
genannt wurde. Frataxin spielt eine Rolle im mitochondrialen
Eisenmetabolismus. Seine physiologische Funktion scheint in Die ersten Symptome setzen früh in der Pubertät ein. Die volle
der Regulation von Redox-Reaktionen zu liegen. Symptomatik entwickelt sich über mehrere Jahrzehnte. Die
Krankheit beginnt mit einer sensiblen Ataxie, d.h. einer Gang-
3Symptome. Die Diagnose der Friedreich-Ataxie stützt unsicherheit, die sich besonders bei fehlender Augenkontrolle
sich auf folgende Leitsymptome: manifestiert. Die Muskulatur der Beine wird hypoton, die Eigen-
566 Kapitel 24 · Ataxien

reflexe erlöschen. Distale Sensibilitätsstörungen sind strumpf- 3Therapie. Es gibt erste Hinweise aus einer kleinen rando-
förmig begrenzt. Das Vibrationsempfinden ist an den Beinen misierten Studie darauf, das die Substanz Idebenon in höheren
vermindert. Dosen (15–45 mg/kg/Tag) die Ataxie (und die Kardiomyopa-
Als Folge der Muskelhypotonie und der unphysiologischen thie) verbessert. Auch berichten sehr kleine unkontrollierte
24 Tonisierung der Muskulatur entwickeln sich Skelettdeformi- Serien über Effekte von Coenzym Q10.
täten: Hohlfuß mit Überstreckung im Grundgelenk und Beu-
gung in den Interphalangealgelenken der Zehen, außerdem
Kyphoskoliose infolge mangelhafter Stabilisierung der Wirbel- 24.1.2 Andere, autosomal-rezessive Krankheiten
säule durch die Rückenmuskulatur. Im weiteren Verlauf wird mit Ataxie
die Ataxie immer mehr zerebellär: Über etwa 5 Jahre entwi-
ckeln sich Dysdiadochokinese, Intentionstremor, Nystagmus In diese heterogene Gruppe von Krankheiten gehören rezessiv
und Dysarthrie. erbliche Stoffwechselkrankheiten, wie die Abetalipoproteinä-
Fakultativ findet man Optikusatrophie (bei etwa 50%), pa- mie und die Refsum-Krankheit, die auf einer Störung des
thologische Glukosetoleranz, seltener Nystagmus, Sehstörun- Phytansäurestoffwechsels beruht.
gen oder Schwerhörigkeit. Etwa 30% der molekulargenetisch
gesicherten Friedreich-Patienten erkranken nach dem 25. Le- Refsum-Krankheit
bensjahr oder haben erhaltene Muskeleigenreflexe. Beim Morbus Refsum kommt es neben Ataxie auch zu einer
Internistisch tritt bei 20% der Patienten ein Diabetes melli- schweren Neuropathie und zu Seh- und Hörverlust. Die
tus auf. Viele Kranke haben eine Kardiomyopathie und sterben Krankheit ist durch eine Erkrankung im Phytansäurestoff-
an Herzversagen. Das Spektrum der Symptomatik ist also weit. wechsel bedingt. Die Refsum-Krankheit ist auch aus thera-
Anderseits ist bei etwa 10% der molekulargenetisch (s.u.) nach- peutischen Gründen wichtig: Phytansäurearme Diät und regel-
gewiesenen Fälle der Katalog der Leitsymptome nicht erfüllt. mäßige Plasmapheresen bessern die Symptome deutlich. Wei-
tere stoffwechselbedingte, erbliche Ataxien sind in . Tabel-
3Diagnostik. Elektrophysiologie: Während das EMG nor- le 24.1 und 24.2 aufgeführt.
mal ist, finden sich in der sensiblen Elektroneurographie sehr
niedrige und verzögerte Nervenpotentiale. Die motorische 3Abetalipoproteinämie. Hierfür ist eine Mutation des mi-
NLG bleibt lange Zeit normal. krosomalen Triglyzerid-Transferprotein-Gens verantwortlich.
MRT von Schädel und oberen Halsmark: Im MRT stellt sich Die Therapie erfolgt mit einer fettarmen Diät, überwiegend mit
in einem fortgeschrittenen Stadium das Halsmark atrophisch mittellangkettigen Triglyzeriden, dazu Vitamin E, K und A.
dar. Aufgrund der häufigen internistischen Begleiterkrankungen
(Kardiomyopathie, Diabetes) sind kardiologische Untersu-
chungen wie EKG und Echokardiographie indiziert. Im Labor 24.1.3 Autosomal-dominant erbliche zerebelläre
sollte Serumglukose im Tagesverlauf und das HbA1c untersucht Ataxien (spinozerebelläre Ataxien, SCA)
werden.
Molekulargenetische Diagnostik: 95% aller Friedreich- Inzwischen kennt man eine Reihe von Unterformen der SCA,
Patienten sind homozygot für eine GAA-Repeat-Expansion im die alle durch die Lokalisation des Gendefekts definiert sind. In
ersten Intron des Frataxin-Gens, andere haben eine repeat- . Tabelle 24.1 sind die in Mitteleuropa häufigsten 6 Unterfor-
Mutation auf einem Allel und eine Punktmutation auf dem men erwähnt. Die Zahl der Unterformen steigt allerdings stän-
anderen. dig an.

Facharzt
Weitere autosomal-rezessive Ataxien
Autosomal-rezessive Ataxie mit okulomotorischer Apra- Ataxie bei Vitamin D-Mangel (AVED). Hierbei handelt es sich
xie Typ 1 und 2. Die schwere Okulomotorikstörung ist na- um eine Störung im Lipidstoffwechsel durch eine Mutation im
mensgebend. Zwei Genprodukte sind identifiziert, Senotaxin Tocopherol-Transferprotein-Gen. LDL und Vitamin E Spiegel
und Aprataxin. Behandlungsversuche erfolgen mit Coenzym sinken. Die Symptome entsprechen einer isolierten Ataxie.
Q10 (wie bei Mitochondriopathien beschrieben). Therapie : Vitamin D-Substitution

Exkurs
Geschlechtsgebundene erbliche Ataxie:
Das fragile X-Tremor-Ataxie-Syndrom (FXTAS) tritt im Diagnostik. MRT: hyperintense Läsionen (T2, FLAIR) der mitt-
hohen Alter ausschließlich bei Männern auf, die eine Hetero- leren Kleinhirnstiele, und im Marklager. Die Penetranz der
zygotie für das FMR1-Prämutation Gen haben. Sie entwickeln FMR1-Prämutation besteht erst jenseits des 80. Lebensjahrs.
eine zerebelläre Ataxie, einen essentiellen Tremor ähnlichen Molekulargenetische Untersuchung.
Aktionstremor und kognitive Störungen.
24.3 · Erworbene Ataxien
567 24
Facharzt
Klinisch definierte Unterformen der SCA
Nach dem Vorliegen von zusätzlichen Symptomen können auf, ferner fakultativ pathologische Reflexe, Symptome einer
die Formen der SCA in drei Gruppen unterteilt werden Funktionsstörung der Basalganglien, Sensibilitätsstörungen.
4 Autosomal-dominante Ataxie Typ I, bei der in variabler Bei manchen Kranken entwickelt sich eine Demenz
Weise verschiedene neuronale Systeme mit betroffen sind: 4 Autosomal-dominante Ataxie Typ II, die mit einer pig-
SCA1, SCA2, SCA3 und SCA 17. Dies sind Plusformen der mentösen Retinadegeneration einhergeht: SCA7
SCA. Bei den betroffenen Patienten treten etwa 4 Jahre nach 4 Autosomal-dominante Ataxie Typ III, bei der keine
Einsetzen der Ataxie okulomotorische Symptome, wie Ver- anderen Symptome auftreten: z.B. SCA6
langsamung der Sakkaden oder Augenmuskellähmungen

3Symptomatik und Verlauf. Die Symptome setzen meist 24.2 Nichterbliche, degenerative Ataxien
nach dem 25. Lebensjahr ein. In einer Entwicklung über viele
Jahre bis Jahrzehnte treten die Symptome einer zerebellären Daneben gibt es noch eine Reihe von sporadischen zerebel-
Ataxie auf, Gangstörung steht mehr im Vordergrund als die lären Atrophien, die vorläufig als idiopathisch bezeichnet wer-
Standataxie. Die verschiedenen Unterformen der SCA unter- den. Eine rezessiv vererbte Form muss ausgeschlossen werden.
scheiden sich im Ausmaß des Nystagmus und der dysarth- Bis zu 20% der Patienten mit sporadischer Ataxie und nega-
rischen Sprechstörung, die neben der Artikulation auch tiver Familienanamnese haben doch SCA-Mutationen.
Stimmgebung und Sprechatmung betrifft und sich durch raue Einem Teil der sporadischen Ataxien liegt eine Multisyste-
und unkontrollierte Stimmgebung und Sprechen mit Luftver- matrophie (MSA, (7 Kap. 23.1.2) zugrunde. Bei diesen sind
schwendung äußert. Die Muskulatur wird nicht hypoton, Nys- neben der Ataxie autonome Dysfunktion und/oder ein Parkin-
tagmus ist selten und dann nur gering ausgeprägt. Eine The- son-Syndrom vorhanden.
rapie existiert noch nicht.

3Molekulargenetische Untersuchung. Bei den meisten 24.3 Erworbene Ataxien


Formen der spinozerebellaren Ataxie wurde das Krankheits-
gen entdeckt und eine Expansion einer Trinukleotid-Repeatse- 24.3.1 Alkoholische Kleinhirndegeneration
quenz als Mutation identifiziert. Der molekulargenetische
Nachweis einer Mutation ist heute ein wesentlicher Beitrag zur Die alkoholische Kleinhirndegeneration ist eine Manifestation
Diagnosestellung. der chronischen Alkohol-Krankheit. Innerhalb weniger Mona-
te entwickelt sich eine Stand- und Gangataxie. Ein Nystagmus
wird praktisch nie gefunden. Neben der direkten neurotoxi-
24.1.4 Episodische Ataxien schen Wirkung von Alkohol kann auch ein Vitamin B1-/Thia-
min-Mangel als Ursachen gefunden werden. Eine alkoholische
Auch diese sind autosomal-dominant vererbt. Namensgebend Polyneuropathie ist oft, aber nicht zwingend vergesellschaftet.
sind kurze Episoden von Ataxie, die durch Stress oder kör-
perliche Anstrengung ausgelöst werden. Wir unterscheiden 3Diagnostik. Neben der Basislaboruntersuchung ist die
bislang zwei Unterformen mit definierten Mutationen. Bestimmung der Vitamine der B-Reihe und des Carbohydrat-
Die episodische Ataxie Typ 1 (EA-1) ist auf eine Mutation defizienten Transferrins (CTD) sinnvoll.
in einem Kaliumkanal-Gen zurückzuführen. Die ataktischen
Episoden dauern einige Sekunden bis Minuten. Unabhängig 3Therapie. Nach Alkoholabstinenz kann sich das Syndrom
von den Attacken können spontane Bewegungen in der Ge- stabilisieren. Ohne Beweis durch größere Studien gibt man
sichts- und Handmuskulatur auftreten. Vitamin B1/Thiamin 100 mg/Tag parenteral, später oral.
Bei der episodischen Ataxie Typ 2 (EA-2) liegen die Mu-
tationen in einem Gen für einen Kalziumkanal. Hier sind die
Perioden länger anhaltend und können Tage dauern. Schwin- 24.3.2 Andere erworbene
del und Übelkeit begleiten die Attacke. Bei vielen Patienten Kleinhirndegenerationen
besteht zudem eine Migräne (7 episodische Migräne, Kap. 6)
Hierzu gehören Kleinhirndegenerationen nach Medikamen-
3Diagnostik. Molekulargenetische Diagnostik. teneinnahme, exemplarisch Phenytoin (7 Kap. 4) und die para-
neoplastische Kleinhirndegeneration (7 Kap. 3). Gerade die
3Therapie. Vermeidung von auslösenden Faktoren, auch letztere ist eine wichtige Differentialdiagnose zur alkoholischen
von Alkohol. Die Behandlung mit Acetazolamid (62,5–700 Kleinhirndegeneration, da sie oft bei Bronchialkarzinomen
mg/Tag p.o.) ist nach mehreren Fallberichten bei der EA-2 auftritt und diese Patienten oft neben einem Alkohol- auch
wirksam. einen Nikotinabusus betreiben.
568 Kapitel 24 · Ataxien

In Kürze

Erbliche, degenerative Ataxien


24
Friedreich-Ataxie. Prävalenz: 1–2/100.000 Neugeborene, Spinozerebelläre Ataxien (SCA). Treten nach dem 25. Le-
durch autosomal-rezessive Vererbung. Symptome setzen in bensjahr auf. Entwicklung der Symptome über viele Jahre bis
der Pubertät ein, entwickeln sich über Jahrzehnte: langsam Jahrzehnte: Gangstörungen, Nystagmus, dysarthrische Sprech-
fortschreitende Ataxie, Beeinträchtigung der Vibrationsemp- störung. Diagnostik: Molekulargenetischer Nachweis. Thera-
findung, Areflexie der Beine und Fehlstellung der Zehen pie: Physiotherapie, Logopädie.
mit Überstreckung im Grundgelenk, Skelettdeformitäten,
Kardiomyopathie, Optikusatrophie, pathologische Reflexe Episodische Ataxien. Mehrere Unterformen bekannt, eben-
und Glukoseintoleranz. Diagnostik: EMG ist normal; sen- falls autosomal dominant vererbt. Teilweise allelisch mit
sible ENG: sehr niedrige und verzögerte Nervenpotenziale; anderen erblichen Erkrankungen auftretend, deshalb ent-
MRT: Im fortgeschrittenen Stadium atrophisches Halsmark. sprechende Zusatzsymptome im Intervall möglich.
Medikamentöse Therapie ist nicht bekannt. Differential- Therapie: Acetazolamid oder 4-Aminopyridin.
diagnose: Hereditäre motorisch und sensible Neuropathie
(HMSN). Nichterbliche, erworbene oder degenerative Ataxien

Andere, autosomal rezessive Krankheiten mit Ataxie. Ataxien bei alkoholbedingter Kleinhirnatrophie, medikamen-
Rezessiv erbliche Stoffwechselkrankheiten wie Abetalipopro- tös-toxisch ausgelöste und paraneoplastische zerebelläre
teinämie und Refsum-Krankheit. Degeneration.
25

25 Demenzkrankheiten
25.1 Alzheimer-Krankheit (Demenz vom Alzheimertyp, DAT) – 572

25.2 Vaskuläre Demenz – 576

25.3 Frontotemporale Demenzen (Pick-Komplex) – 579


25.3.1 Fronto-temporale Demenz vom Verhaltenstyp (FTD; Pick-Syndrom) – 579
25.3.2 Primär progressive Aphasie – 580

25.4 Andere Formen degenerativer Demenzkrankheiten – 580


25.4.1 Demenz mit Lewy-Körpern (DLK) – 580

25.5 Normaldruckhydrocephalus (Hydrocephalus communicans,


normal pressure hydrocephalus, NPH) – 581
570 Kapitel 25 · Demenzkrankheiten

> > Einleitung lungsfähigkeit lassen nach. Die Gemütsregungen werden


flacher, und der Interessenkreis engt sich ein.
Die Menschen werden immer älter. In den letzten 30 Jahren ist Eine Erweiterung der inneren oder äußeren Liquorräume
die mittlere Lebenserwartung bei Männern wie Frauen um über berechtigt nicht zu unmittelbaren Schlüssen auf Persönlichkeit
5 Jahre gestiegen. Heute 50-Jährige haben eine mittlere Lebens- und Intelligenz. Die Nervenzellen sind in großer, numerischer
erwartung von 85 (Männer) und 90 Jahren (Frauen). Mit zuneh- Überzahl vorhanden, so dass auch bei einem gewissen Grad
25 mendem Alter nimmt die Inzidenz demenzieller Störungen zu. von Hirnatrophie zunächst genügend Substanzreserve zur
Ab dem 50. Lebensjahr verdoppelt sich die Häufigkeit mit jedem Sicherung der Leistungsfähigkeit vorhanden ist. Zudem haben
Jahrzehnt. Der zu erwartende große Zuwachs an über 90-Jäh- neuere quantitative morphologische Untersuchungen gezeigt,
rigen wird mit einer exponentiellen Steigerung der Demenzkran- dass die altersphysiologischen Verluste an kortikalen Nerven-
ken in dieser Altersgruppe beantwortet. Nach Schätzungen sind zellen geringer sind als bisher geglaubt wurde. Eine Korrelation
30–60% der über 90-Jährigen dement. Dies wird sich zu einem zwischen CT-Befund und Intelligenzleistungen lässt sich nicht
medizin-ökonomischen Problem ersten Ranges in den nächsten nachweisen.
zwei Jahrzehnten entwickeln. Pathologisch-anatomisch findet man im höheren Lebens-
Es ist seit langem bekannt, dass Demenzkrankheiten mit alter eine allgemeine Atrophie des Gehirns mit Ablagerung von
dem Lebensalter und mit bestimmten vaskulären Risikofaktoren Stoffwechselprodukten, die weiter unten bei der Alzheimer-
assoziiert sind. Gegenwärtig hat sich die Forschung neben der Krankheit besprochen werden. In diesen Fällen sprechen wir
Epidemiologie auf die molekularbiologischen Grundlagen ver- aber nicht von Demenz oder hirnatrophischem Prozess, zu-
schiedener Formen von Demenz konzentriert. Dabei hat sich das mal diese pathologisch-anatomischen Veränderungen auch
Spektrum der degenerativen Demenzen erweitert. Andererseits bei voller intellektueller Leistungsfähigkeit vorliegen können.
erkennt man Gemeinsamkeiten zwischen den früher als streng Übersteigt der kognitive Abbau in Teilleistungen das alters-
gegensätzlich gesehenen großen Gruppen der vaskulären und entsprechende Maß, ohne dass die Lebensführung wie bei
degenerativen Demenzen. einer Demenz wesentlich eingeschränkt wäre, so spricht man
Den Fortschritten in der Diagnostik entsprechen zurzeit noch von einer milden kognitiven Beeinträchtigung (engl. Akro-
nicht die erhofften Fortschritte in der Therapie, wenngleich nym MCI). Ist vor allem das Gedächtnis betroffen, besteht ein
erfolgversprechende Medikamente in der Erprobung und teilwei- deutlich erhöhtes Risiko, in den nächsten 5 Jahren an einer
se auch in der Anwendung sind. Dazu gehört auch die Behand- Alzheimer Demenz zu erkranken.
lung der nichtkognitiven Symptome, die die persönlichen und
sozialen Auswirkungen der demenziellen Symptome im engeren 3Allgemeine Epidemiologie der Demenzkrankheiten.
Sinne verstärken. Man schätzt, dass in der westlichen Welt 5–10% der Menschen
über 65 Jahre und 30–40% der Menschen über 80 Jahre durch
Vorbemerkungen: Demenz Demenz in ihrer Lebensführung beeinträchtigt sind. Die Prä-
3Definition. Unter Demenzkrankheiten versteht man valenz, d.h. die Häufigkeit der Fälle zum Zeitpunkt einer Un-
klinisch und pathologisch-anatomisch definierte Krankheiten, tersuchung, nimmt mit dem Lebensalter exponentiell zu, und
die durch ein Nachlassen kognitiver Leistungen gekennzeich- es wird geschätzt, dass sie sich alle 4–5 Jahre verdoppelt. Für
net sind, durch die die gewohnte Lebensführung beeinträchtigt die Bundesrepublik schätzt man die gegenwärtige Prävalenz
wird. Bei Patienten mit einem Intelligenzmangel im mittleren der Demenzkrankheiten auf 1,3 Mio. Personen.
und höheren Lebensalter muss entschieden werden, ob eine Die beiden wichtigsten Krankheitsgruppen, degenerative
Debilität, d.h. ein angeborener, oder eine Demenz, d.h. ein er- (speziell M. Alzheimer) und vaskuläre Demenz, kommen in
worbener Intelligenzdefekt vorliegt. den westlichen Ländern gleich häufig vor. Bei asiatischen Völ-
Für die erste, grobe Unterscheidung orientiert man sich kern soll die vaskuläre Demenz überwiegen. M. Alzheimer
am Wissensbestand und an schriftlichen Äußerungen, falls und zerebrale Mikroangiopathie kommen nach Autopsiebe-
diese möglich sind. funden in bis zu 18% der Fälle gemeinsam vor. Ob dies ein
4 Ein Mensch mit angeborenem Intelligenzmangel hat seine zufälliges Zusammentreffen von zwei häufigen Alterskrank-
Intelligenz nie voll entwickeln können. Seine Persönlichkeit ist heiten anzeigt oder auf gemeinsame, ätiologische Faktoren
oft undifferenziert, sein Wissensbestand eng und sein Interes- schließen lässt, wird gegenwärtig lebhaft diskutiert. Unter Be-
senkreis auf die konkreten Bedürfnisse seines täglichen Lebens rücksichtigung ihrer deutlich höheren Lebenserwartung er-
begrenzt. Satzbau und Orthographie sind mangelhaft. kranken Frauen, relativ gesehen, etwas seltener an Demenz-
4 In der Demenz sind noch lange Zeit Reste der früheren krankheiten, v. a. an M. Alzheimer.
Persönlichkeit mit ihren Interessen, ihrem Wissen und ihrem
> Demenzkrankheiten nehmen mit dem Alter exponen-
sozialen Verhalten zu erkennen.
tiell zu. Die wichtigsten Krankheiten sind die Alzhei-
mer-Krankheit und die vaskuläre Demenz. Beide
3Normale Hirninvolution im Alter. Demenzkrankheiten
Krankheiten können gemeinsam vorkommen und
müssen von der normalen (Involution) der Hirnleistung im
überlappen.
höheren Lebensalter unterschieden werden. Oberhalb eines
gewissen, individuell variablen Alters nimmt bei allen Men-
schen neben der körperlichen auch die geistige Leistungsfähig- 3Diagnostische Kriterien und Elemente. Die Diagnose soll
keit ab. Merkfähigkeit, Auffassung und intellektuelle Umstel- nicht nach einem Eindrucksurteil sondern nur aufgrund von
25 · Demenzkrankheiten
571 25
standardisierten Untersuchungsverfahren gestellt werden, de- Orientierung der Handlungen an sozialen Normen, gehobene
ren Validität nachgewiesen ist. Folgende Elemente werden für Grundstimmung oder Gedrücktheit, affektive Labilität oder
die Einordnung einer Demenz erfasst: Nivellierung der Affekte. Solche Veränderungen des Verhal-
4 Gedächtnis: Das Gedächtnis ist keine einheitliche Funk- tens und Erlebens werden nach Läsionen im limbischen Sys-
tion. Es wird nach verschiedenen Dimensionen beschrieben: tem beobachtet und sind in dem entsprechenden Abschnitt
5 zeitlich (Kurzzeit- oder Arbeitsgedächtnis, Langzeitge- beschrieben. Sie können aber auch psychiatrische oder psycho-
dächtnis), logische Gründe haben. Sie sind schwer zu objektivieren und
5 nach dem zu merkenden Material (verbal, bei Läsionen kein konstitutives Merkmal von Demenz.
der sprachdominanten Hemisphäre beeinträchtigt, oder nicht-
verbal durch Läsionen der nichtdominanten Hemisphäre) Für den klinischen Alltag kann als einfaches, standardisiertes
und Verfahren der Mini Mental Test (MMT) als erste Orientierung
5 nach den Kategorien deklarativ (wissen, dass sich etwas vor einer aufwändigen neuropsychologischen Testbatterie ein-
ereignet hat) oder prozedural (wissen, wie Handlungsabläufe gesetzt werden.
ausgeführt werden).
4 Sprache: Aphasien sind häufige Symptome bei fortschrei- Kortikale Demenz
tender Demenz. Bei Krankheitsprozessen, die die kortikalen Areale oder die
4 Aufmerksamkeit und Konzentration: Diese wurden be- Assoziations- und Kommissurenbahnen zwischen diesen Are-
reits oben besprochen (7 Kap. 2). alen betreffen, werden umschriebene neuropsychologische
4 Störungen der Planung und Kontrolle von Handlungen Syndrome, wie Aphasie oder räumliche Orientierungsstörung,
und Verhalten: Auch diese sind in Kap. 2 besprochen worden. sowie oft auch mehr generelle kognitive Leistungsstörungen,
Auch Apraxien und räumliche Störungen sind charakteristi- wie Beeinträchtigung von Aufmerksamkeitsfunktionen oder
sche Frühsymptome mancher Demenzen. Einschränkung des Arbeitsgedächtnisses in verschiedenen
4 Psychomotorische Funktionen: Diese werden als senso- Kombinationen, beobachtet. Die klassischen Paradigmen sind
motorische Koordination und als einfache oder komplexe Re- die Alzheimer-Krankheit und die vaskuläre Demenz (bei mul-
aktionen getestet. Einfache sensomotorische Funktionen mit tiplen kortikalen Infarkten; 7 Kap. 5).
den kontralateralen Extremitäten sind nach rechtshemisphä-
rischen Läsionen, mit kontra- und ipsilateralen Extremitäten Subkortikale Demenz
nach linkshemisphärischen Läsionen beeinträchtigt. Kom- Unter der Bezeichnung subkortikale Demenz wird ein Syn-
plexe sensomotorische Leistungen sind vor allem nach links- drom beschrieben, das durch folgende Merkmale charakteri-
hemisphärischen Läsionen gestört. siert sein soll:
4 Persönlichkeitsveränderungen: Es handelt sich dabei um 4 Verlangsamung gedanklicher Abläufe,
eine sehr unscharfe Kategorie. Die ältere Neurologie verstand 4 eingeschränkte Verfügbarkeit erworbenen Wissens sowie
darunter das Auftreten von Auffälligkeiten im Verhalten, z.B. 4 emotionale und Stimmungsveränderung in Richtung Apa-
Verminderung oder Enthemmung des Antriebs, mangelnde thie oder Depression, auch Reizbarkeit.

Exkurs
Demenzmodelle
Die globale Konzeption von Demenz ist an einem Stadien- angemessen ist, um demente Patienten zu beschreiben.
modell orientiert. Demenz wird nach diesem Modell als ein Funktionell unterschiedliche Untergruppen können nicht
homogenes, quantitativ fortschreitendes Nachlassen kogni- makroanatomischen Strukturen wie etwa dem Parietallappen
tiver Leistungen verstanden, und beobachtete Unterschiede zugeordnet werden, weil sich die funktionellen Einheiten
zwischen Patienten und Patientengruppen werden auf Un- nicht mit den Grenzen der Hirnlappen decken und in einem
terschiede im Zeitablauf des unterstellten »globalen zere- Hirnlappen eine Vielzahl von unterschiedlichen Funktionen
bralen Abbauprozesses« zurückgeführt. organisiert ist. Sie können auch nicht mit umschriebenen
Die Neuropsychologie zeigt aber, dass psychologische kortikalen Zentren in Beziehung gesetzt werden, deren Läsion
Funktionen, die heute sehr viel differenzierter als früher – und nur diese – bestimmte Symptome und Syndrome zur
beschrieben werden (s.u.), eine differentielle Hirnlokalisation Folge hat. Auch für psychische Funktionen gilt das Prinzip der
haben. Das gilt nicht nur für die Seitenlokalisation (linke oder multiplen Repräsentation und der Netzwerkorganisation, d.h.
rechte Hemisphäre) – denn die Hemisphären haben ja keine eine Funktion ist an mehreren Orten des Cortex repräsentiert,
einheitliche Funktion –, sondern auch für die Lokalisation und an einem Ort sind mehrere Funktionen repräsentiert.
innerhalb einer der Hirnhemisphären. Diese Repräsentationsorte sind dynamisch miteinander ver-
Degenerative, entzündliche oder metabolische Hirn- netzt. Dynamisch bedeutet, dass die Verschaltung nicht starr
krankheiten sind nicht diffus oder global, sondern fokal ist, sondern nach funktionellen Anforderungen aktiviert wird.
oder multifokal lokalisiert. Die Neuropsychologie deckt bei Daraus folgt: Eine umschriebene Hirnläsion kann unterschied-
unterschiedlichen Patienten oder Patientengruppen unter- liche funktionelle Folgen haben und ein gegebenes Symptom
schiedliche Cluster von Beschwerden und Leistungsstörun- kann die Folge unterschiedlich lokalisierter Läsionen sein. Der
gen auf. Daraus folgt, dass ein Modell mit Leitsymptomen alte Zentrenbegriff verliert damit seinen Sinn.
572 Kapitel 25 · Demenzkrankheiten

4 Das Syndrom ist bei M. Parkinson, Chorea Huntington, 3Pathologie. Makroskopisch findet man eine Atrophie der
M. Wilson, bei der subkortikalen arteriosklerotischen Enzepha- Hirnrinde, die besonders die Frontal-, Temporal- und Parietal-
lopathie und bei der progressiven supranukleären Lähmung lappen betrifft, ferner in fortgeschrittenen Stadien auch eine
beschrieben worden. Die Zuordnung als eine Form der De- Atrophie des Marklagers. Im CT stellen sich diese Verände-
menz ist nicht unwidersprochen geblieben, weil sich die rungen als globale äußere und innere Hirnvolumenminderung
meisten Symptome auch durch eine Antriebsstörung erklären dar (. Abb. 25.2).
25 lassen. Subkortikal findet sich regelmäßig eine Degeneration des
Nucl. basalis Meynert, der breitgefächert cholinerge Neurone
zur Rinde des Großhirns projiziert. Ferner sind das aus dem
25.1 Alzheimer-Krankheit Locus coeruleus aufsteigende noradrenerge System und das
(Demenz vom Alzheimertyp, DAT) serotonerge System geschädigt, das aus dem Nucl. raphe dor-
salis unter anderem in den Hippocampus und den Neocortex
3Definition. Mit diesem Namen bezeichnet man eine dege- projiziert. Diese Veränderungen sollen die nichtkognitiven
nerative Hirnkrankheit, die zur Demenz führt. In der anglo- Symptome erklären.
amerikanischen Literatur ist auch die Bezeichnung SDAT (se- Mikroskopisch sind die frühesten Veränderungen eine Ab-
nile Demenz vom Alzheimer-Typ) üblich. nahme der Synapsendichte, insbesondere im frontalen und
temporoparietalen Assoziationskortex, im entorhinalen Kor-
Epidemiologie. Das Erkrankungsalter streut zwischen dem tex und im Hippocampus. Diese Veränderungen korrelieren
7. und 8. Lebensjahrzehnt und darüber. Die Prävalenz nimmt mit den Einbußen an kognitiven Leistungen und mit einer
mit fortschreitendem Lebensalter kontinuierlich von 1–4% der Minderutilisation von Glukose, die sich in der Positronenemis-
56–70 Jährigen mit einer Verdoppelung pro 5-Jahresschritt zu. sionstomographie darstellen lässt.
Frauen sind häufiger als Männer betroffen, aber nur, weil ihr In späteren Stadien findet man neurofibrilläre Degenera-
Anteil an dieser Altersklasse viel größer als der der Männer ist. tion und die Bildung von Plaques (. Abb. 25.1). Die Fibrillen
Die Krankheit nimmt meist einen raschen Verlauf und führt liegen intrazellulär und bestehen aus dem Protein τ. Plaques
nach 4–5 Jahren zur schweren Demenz. Die seltene, familiäre sind extrazellulär im Hippocampus, im Cortex und in anderen
Form hat ein jüngeres Erkrankungsalter. Hirnregionen gelegene Ablagerungen, die neben anderen Pro-

a b

c d

. Abb. 25.1. Amyloidplaques im Gehirn von AD-Patienten (a) un- lust in dieser Hirnregion (d). In c und d sind APP-exprimierende Zellen
terscheiden sich morphologisch nicht von Plaques im Gehirn einer braun gefärbt, während Aβ-Peptide durch eine grüne Färbung dar-
APP/PS1-trangenen Maus (b). Während die Anzahl der Nervenzellen gestellt werden. (Aus Bayer und Wirths (2008), Nervenarzt, Suppl 3
im CA1-Feld des Hippocampus in jungen APP/PS1Kl-Mäusen normal 79:121)
ist (c), zeigt sich im Alter von 10 Monaten ein deutlicher Nervenzellver-
25.1 · Alzheimer-Krankheit (Demenz vom Alzheimertyp, DAT)
573 25
teinen βA4-Protein (Aβ-42) enthalten. Die neurofibrilläre De- len durch Wortfindungsstörungen auf. Bald sind sie nicht
generation und die Bildung von Amyloidplaques treten auch bei mehr in der Lage, ihren Beruf auszuüben oder den Haushalt zu
der normalen Alterung auf. Während man in der Vergangenheit führen. Persönlichkeit, äußere Haltung und gemüthaftes Erle-
große Aufmerksamkeit den unlöslichen Amyloidplaques ge- ben bleiben in eindrucksvollem Gegensatz dazu lange erhalten.
widmet hat, scheint jetzt auch den löslichen Aβ-Oligomeren Auch Affektlabilität stellt sich nicht ein.
eine Bedeutung zuzukommen. Diese sind als starke synaptoto- Bei der Untersuchung findet man die Patienten meist zeit-
xische Moleküle identifiziert worden und jüngste Forschungs- lich, oft auch örtlich, selten persönlich nicht voll orientiert. Sie
ergebnisse deuten auf eine Interaktion zwischen den Aβ-Oligo- haben eine hochgradige Störung der Merkfähigkeit. Auch die
meren und dem normalen Prionprotein PrPC hin. Durch diese Auffassung und der Wechsel der Einstellung von einem Thema
Affinität scheint die Wirkung der Aβ-Moleküle auf eine Unter- auf das andere sind erheblich vermindert. Die Kranken perse-
drückung der synaptischen Plastizität gesteigert zu werden. verieren stark, d.h. sie bleiben bei einem gedanklichen Inhalt,
manchmal sogar bei einem Wort, hartnäckig haften. Aufgrund
> Die intrazelluläre sog. Alzheimer-Fibrillenverände-
der ausgeprägten kognitiven Einschränkungen besitzen die Pa-
rung und die extrazellulären Amyloidplaques sind in
tienten allenfalls ein oberflächliches Krankheitsbewusstsein.
einer bestimmten, quantitativ noch nicht genau be-
Andere neuropsychologische Störungen sind:
stimmbaren Menge für die Alzheimer-Krankheit cha-
4 aphasische Sprachstörungen,
rakteristisch, aber nicht spezifisch.
4 bilaterale Apraxie,
3Molekulargenetik. Das Gen, das das Amyloid-Präkursor- 4 räumlich-konstruktive Störung und
protein (APP) kodiert, ist auf dem langen Arm von Chromo- 4 räumliche Orientierungsstörungen.
som 21 lokalisiert. Interessanterweise finden sich bei Patienten
mit Down-Syndrom (Trisomie 21), wenn sie etwa 35 Jahre alt Die Leistungen können in Situationen von unterschiedlicher
werden, ganz ähnliche histopathologische und histochemische affektiver Tönung erheblich wechseln. Im Laufe einer längeren
Veränderungen wie bei der Alzheimer-Krankheit. Das Apoli- Untersuchung ermüden die Patienten rasch und geraten in
poprotein-E4-Allel wird von einem Gen auf dem langem Arm eine ratlos-traurige Verstimmung oder sogar in eine Katastro-
von Chromosom 19 kodiert. phenreaktion, in der keine Aufgabe mehr gelöst wird.
Bei Patienten mit familiärem M. Alzheimer (etwa 5–6%) Nicht kognitive Veränderungen werden häufig weniger
finden sich Hinweise auf Mutationen im Gen des Amyloid- berücksichtigt, obwohl sie einer Therapie besser zugängig sind
Vorläuferproteins auf Chromosom 21, im Presenilin-1-Gen als die kognitiven. Antriebsmangel findet man bei etwa 70%
auf Chromosom 14 oder im Presenilin-2-Gen auf Chromo- der Kranken, psychomotorische Unruhe mit Umherwandern,
som 1. auch Rufen und Schreien bei etwa 60%, Schlafstörungen mit
häufigem Aufwachen und nächtlichen Unruhezuständen bei
3Symptome. Die ersten Erscheinungen sind oft uncharak- 70%, Ängstlichkeit, auch Depressivität mit sozialem Rückzug
teristische Kopfschmerzen, unsystematischer Schwindel und bei etwa 40%, Wahnbildung bei etwa 30%, Halluzinationen bei
allgemeine Leistungsschwäche. In diesem Stadium lässt sich 10% und Aggressivität selbst gegen Bezugspersonen bei 30–
noch keine Diagnose stellen. 40%. Zum Teil lassen sich diese Arten des Erlebens und Ver-
Bald setzen aber sehr charakteristische, neuropsycholo- haltens aus perzeptiven Mängeln und aus falschen Interpreta-
gische Ausfälle ein: Die Patienten werden vergesslich und ver- tionen erklären, die durch die Merkstörung begünstigt werden.
lieren den Überblick selbst über vertraute Situationen und Im Auftreten, in der Kleidung und im sozialen Kontakt wirken
Aufgaben (minimal cognitive impairment). Sie bekommen die Patienten gepflegt, »die Fassade ist gut erhalten«. Auch die
Schwierigkeiten beim Rechnen, Lesen und Schreiben und fal- emotionalen Reaktionen sind nicht grob gestört.

Exkurs
Pathogenese und Immunologie
Die extrazellulären Amyloidplaques bestehen überwiegend Immunologische Aspekte. Neben den genannten Verände-
aus Aggregaten von Aβ-Proteinen. Aβ-Proteine entstehen rungen findet man in der Spätphase der Plaquemorphologie
durch Spaltung des Amyloid-Präkursor-Proteins (APP). Ver- in den Plaques und im Randsaum von großen kortikalen Gan-
schiedene Sekretasen spalten das APP in unterschiedliche glienzellen als Folge von Mikrogliaaktivierung Interleukin-6.
lange, lösliche Aβ-Proteine auf, wobei die Bezeichnung der Dieses ist im Gehirn von nichtdementen alten Menschen nicht
Aβ-Proteine als Aβ40 oder Aβ42 die Zahl der Aminosäuren nachzuweisen. Man sieht in diesem Befund einen Hinweis
des Fragmentes angibt. Unterschiedliche Fragmentlängen darauf, dass immunologische Prozesse in der Pathogenese der
haben ein unterschiedliches aggregatives Potential: Aβ42 Alzheimer-Krankheit mitwirken.
aggregiert stärker. In den Plaques findet man auch Apolipo-
protein E, ein Transportprotein, das die Aggregation von Impfung. Die ersten klinischen Anwendungen von Impfungen
βA4-Protein zu neurotoxischem Amyloid stimuliert. In der zur Unterdrückung der immunologischen Prozesse sind leider
Folge dieses Prozesses gehen in der Umgebung von Plaques gescheitert: Enzephalitische Herde wurden beobachtet, und
Nervenzellen zugrunde. Darüber hinaus kommt es zu einer die Entwicklung der Impfung gegen Alzheimer ist zunächst in
neuritischen Degeneration von Axonen. die experimentelle Phase zurückgedrängt.
574 Kapitel 25 · Demenzkrankheiten

Exkurs
Diagnosewahrscheinlichkeit bei DAT*
Klinisch mögliche DAT: Alltagsaktivitäten, Verhaltensänderungen, positive Familien-
4 Demenzielles Syndrom ohne alternative Ursache, aber anamnese, normaler Standardliquorbefund, normales oder
mit Abweichen vom typischen klinischen Bild der DAT, unspezifisch allgemeinverändertes EEG, Hirnatrophie.
4 bei Vorliegen einer alternativen Ursache, die aber die
25 Demenz nicht hinreichend erklärt. Sichere DAT:
4 histologisch (Autopsie oder Biopsie)
Klinisch wahrscheinliche DAT: 4 im Falle autosomal-dominanter Vererbung: durch Muta-
4 Progrediente kognitives Defizit tionsanalyse
4 Aktuell Demenz mit Gedächtnisstörung plus Defizit in
einem anderen kognitiven Bereich
4 Ausschluss alternativer Ursachen. * Nach Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)
4 Unterstützung der Diagnose durch progredientes Defizit
speziell von Sprache, Praxis und visueller Gnosis; Defizit von

Neurologisch findet man leichte Reflexdifferenzen und


Zeichen von Parkinsonismus. Häufig kann man pathologische
Hand-, auch Mundgreifreflexe auslösen. Epileptische Anfälle
(einfach und komplex partielle Anfälle mit sekundärer Gene-
ralisierung) und Myoklonien kommen vor.
Im Spätstadium zeigt sich ein Abbau aller höherer kogni-
tiver Funktionen, Mutismus und Inkontinenz.

3Diagnostik und Bildgebung. Neuropsychologisch lässt


sich das AD-typische Profil einer kortikalen Demenz nachwei-
sen. Das EEG ist uncharakteristisch.
4 Im CT und MRT zeigt sich, je nach Stadium, eine Volumen-
minderung besonders der mediobasalen temporalen Hirn-
rinde (. Abb. 25.2).
4 In der PET gibt es charakteristische Veränderungen des
Glukosemetabolismus temporal und parietal (. Abb. 25.3).
. Abb. 25.2. Morbus Alzheimer. Globale Hirnvolumenminderung Das 18F-FDG-PET erzielt eine hohe Sensitivität in der Abgren-
mit Betonung temporal beidseits im MRT (T1 ohne KM) zung der Lewy-Körperchen-Demenz von DAT.

. Abb. 25.3. a FDG-PET bei Normalperson (links) und Patienten mit id-Imaging mit 11C-PIB bei einem Gesunden und fortgeschrittener
fortgeschrittener Alzheimer-Demenz mit beidseitiger massiver Ver- Alzheimerdemenz: Deutliche vermehrte Amyloidablagerungen sind
minderung des Metabolismus temporoparietal und frontal. b Amylo- sichtbar. (Aus Jessen (2008), Nervenarzt, Suppl. 3 79:134)
25.1 · Alzheimer-Krankheit (Demenz vom Alzheimertyp, DAT)
575 25
4 Die Darstellung von Amyloid-Plaques (Plaque-Imaging) 3Verlauf. Der Verlauf ist unaufhaltsam progredient. Die
ist ebenfalls möglich, aber noch nicht Routine. Auch findet Sprache verarmt immer mehr bis zu bestimmten Verfalls-
man solche Plaques bei Gesunden, sodass noch in Diskussion formen: stereotype Wiederholung von Redensarten oder Wor-
ist, wo die diagnostischen Cut-off-Werte liegen (. Abb. 25.3). ten, Echolalie (automatenhaftes oder reflektorisches Wieder-
4 In der Liquordiagnostik gelingt es heute über Spezialun- holen von Wörtern oder Sätzen, die der Kranke gehört hat),
tersuchungen auf Tau-Protein, Amyloid-Präkursor-Protein Neologismen bis zum Kauderwelsch und schließlich Logoklo-
und andere assoziierte Proteine die Diagnose wahrscheinlicher nien (rhythmisches, sinnloses Wiederholen einzelner Silben).
zu machen. Man findet eine Erniedrigung von Amyloid-Peptid Nach längerer Krankheitsdauer geht den Kranken auch das
Aβ42, Erhöhung von Aβ40 sowie von phosphoryliertem und Sprachverständnis verloren. Selbst das sinnlose, rhythmische
Gesamt-Tau-Protein. Die Bestimmung von Phospho-Tau soll Gemurmel, das ein letzter Rest des expressiven Sprachvermö-
zur Abgrenzung zu den frontotemporalen Demenzen dienen. gens war, kann völlig versanden. Manchmal führen die Patien-
Die Validität der Proteinmarker in der differentialdiagnosti- ten nur noch stumme, rhythmische Bewegungen der Sprech-
schen Abgrenzung anderer Demenzen ist jedoch noch unklar. muskulatur aus.
Bei Verdacht auf Morbus Creutzfeldt-Jakob: Nachweis der Pro- Die stets gleichförmigen, automatenhaften Iterationen zei-
teine 14–3–3, Tau, S 100 und NSE. gen sich auch in der Motorik: Die Kranken führen im Endsta-
4 Für die klinische Diagnose sind entscheidend: dium stereotyp Wischbewegungen, Nesteln, Zupfen, Reiben,
5 Nachlassen des Gedächtnisses, Pendelbewegungen des Kopfes, Kletterbewegungen aus, die
5 Beeinträchtigung anderer kognitiver Leistungen, z. B. man als freigesetzte, angeborene, motorische Schablonen auf-
Sprachfunktionen, Wahrnehmung, Praxie und räumliche Ori- fasst.
entierung,
5 Schleichender Beginn und langsame Progredienz, 3Therapie. Aufgrund der Hypothese, dass ein Mangel an
5 Ausschluss anderer Ursachen für Demenz. Acetylcholin in Folge der cholinergen Deafferentierung des

Facharzt
Demenzmarker/Destruktionsmarker in der Liquordiagnostik
Serumbestimmungen solcher neurochemischer Marker liegen je nach Labor bei etwa 500 pg/ml Liquor. Neben
sind noch in der Entwicklung. dem ELISA gibt es auch in Speziallaboratorien Aβ-Immuno-
blots.
Tau-Protein und Phospho-Tau. Das Tau-Protein ist der
Hauptbestandteil intrazellulärer Neurofibrillen. Diese stabili- p-Tau 181/Aβ1-42 Verhältnis. Dieses Verhältnis kann gra-
sieren und polymerisieren Mikrofibrillen. Das Ausmaß der phisch dargestellt werden und scheint eine höhere Spezifität
Phosphorilierung des Tau-Proteins scheint mit der Neigung in der Frühdiagnostik zu haben. Der positive prädiktive Wert
zur Aggregation der Proteine zusammenzuhängen. Die manifest an DAT zu erkranken lag bei 85%. Normalpersonen
Bestimmung erfolgt über ELISA. haben einen Quotienten von ca 0,5. Bei DAT liegt der Quotient
Tau und Phospho-Tau sind bei DAT und anderen Demen- bei etwa 0,25, mit erheblicher Streubreite.
zen erhöht, die Phospho-Tau-Erhöhung ist spezifischer für
die DAT. Normalwerte für das Tau-Protein gehen bis 450 pg/ 14-3-3-Proteine. Dies ist eine Proteinfamilie, die eine Rolle in
ml, Alzheimer-Patienten haben Werte über 450–800 pg/ml der Signaltransduktion spielt. Sie werden zu den Chaperonen
und bei CJK findet man Werte über 1.000 pg/ml. gezählt. Der Nachweis erfolgt mit Western Blot. 14-3-3-Protei-
Die erhöhte Konzentration vom p-TAU im Liquor erreicht ne sind besonders bei CJD-Patienten erhöht und in die Dia-
eine Spezifität von etwa 90 und eine Sensitivität von etwa gnosekriterien der CJD aufgenommen worden (Sensitivität
80% in der Diagnose der manifesten DAT im Vergleich zu 95%, Spezifität 93%).
nicht-dementen Kontrollpersonen.
Inzwischen gibt es auch ELISA-Verfahren für verschie- S-100 Protein. Das S-100-Protein bindet Kalzium und wird in
dene Phospho-Tau (p-Tau)-Untergruppen. Für die Früh- zwei Untereinheiten (A und B) in neuronalen Zellen gefunden.
diagnostik ist die Empfindlichkeit noch nicht hoch genug. Erhöhte S100-B Werte, deutlich höher als bei anderen Demen-
zen, wurden auch bei CJD (Sensitivität 84%, Spezifität 91%).
Aβ-Peptide. Die extrazellulären Amyloidplaques bestehen Allerdings findet man auch unspezifische Erhöhungen bei
überwiegend aus Aggregaten von Aβ-Proteinen, meist aus anderen Krankheiten mit massivem neuronalen Untergang
der Untergruppe Aβ42. Unterschiedliche Fragmentlängen wie großen Infarkten oder Tumoren.
haben ein unterschiedliches aggregatives Potential, Aβ42
aggregiert stärker. NSE (neuronenspezifische Enolase). Ähnliches gilt für die
Eine erniedrigte Konzentration von Aβ42 kann DAT- NSE, die weniger bei Demenzen (bei denen sie auch erhöht
Patienten von Normalpersonen mit einer Sensitivität und sein kann) als bei hypoxischen Hirnschäden (Bestimmung im
Spezifität von etwa 81% differenzieren, leider gelingt dies Serum) prognostisch eingesetzt wird. Auch sie ist am besten
nicht in der Abgrenzung zu anderen Demenzen oder in bei der CJD im Liquor untersucht und hat dort eine relativ
der Frühdiagnostik. Grenzwerte (ELISA) für Aβ42 im Liquor gute Sensitivität (78%) und Spezifität (88%).
576 Kapitel 25 · Demenzkrankheiten

Kortex durch neuronale Degeneration im Nucleus basalis 25.2 Vaskuläre Demenz


Meynert eine wichtige Rolle in der Pathogenese der kognitiven
Symptome spielt, wurde eine Behandlung mit reversiblen 3Definition und Formen. Die häufigste Form der vaskulären
Cholinesterasehemmern vorgeschlagen. Sie soll zu einer mäßi- Demenz ist die subkortikale arteriosklerotische Enzephalopathie
gen Verlangsamung des kognitiven Abbaus führen, kann je- (SAE) oder Binswanger-Krankheit. Diese Mikroangiopathie ist
doch den zugrundeliegenden degenerativen Prozess nicht auf- die typische zerebrale Gefäßkrankheit infolge lange bestehender
25 halten. arterieller Hypertonie (7 Kap. 5.3.4). Durch Infarkte an strate-
4 Bei leichter bis mittelschwerer Demenz gibt man Donepe- gisch wichtigen Stellen (bilateraler Thalamus, hinteres Kapsel-
zil (Aricept®), Rivastigmin (Exelon®) oder Galantamin (Remi- knie, frontales Marklager) kommt es zur Unterbrechung von
nyl®), Leitungsbahnen und zu Störungen wie bei großen Territorialin-
4 bei schwerer Demenz den NMDA-Antagonisten Meman- farkten. Besondere Bedeutung hat die vaskuläre Demenz durch
tine, der auch mit einem Cholinesterasehemmer kombiniert ihre Behandelbarkeit der zugrunde liegenden Risikofaktoren.
werden kann. Pathologisch-anatomisch sieht man eine ausgedehnte De-
myelinisierung des Marklagers sowie lakunäre Infarkte (zur
Die Verordnung von sog. psychotropen Medikamenten muss Mikroangiopathie 7 Kap. 5). Im Krankheitsverlauf erkennt
sehr genau überwacht werden, weil deren unerwünschte Wir- man eine fortschreitende Demenz und Persönlichkeitsverän-
kungen bei Alzheimer-Patienten stark ausgeprägt sind. Dies derung sowie wiederholte, oft ganz oder teilweise reversible
gilt besonders für Benzodiazepine. Gefäßinsulte, meist mit motorischen Halbseitensymptomen.
4 Gegen Depressivität gibt man SSRIs. Trizyklische Antide- Bei den vaskulären Demenzen ist der Nachweis vaskulärer
pressiva sind wegen ihrer anticholonergen Wirkung kontrain- Hirnveränderungen in CT oder MRT erforderlich.
diziert. Die vaskuläre Demenz wird häufig als Multiinfarktdemenz
4 Bei Unruhe können Clomethiazol (Distraneurin®, 25 mg), bezeichnet. Es sind aber nicht die Lakunen (kleine Infarkte) in
Butyrophenone oder atypische Neuroleptika eingesetzt. Viele Strukturen mit motorischer oder sensibler Funktion, die zur
dieser Substanzen werden allerdings von Alzheimerpatienten Demenz führen. Eine naheliegende Hypothese führte die De-
nicht gut vertragen. menz auf die ausgedehnte Demyelinisierung des Marklagers
zurück, das zweite morphologische Kriterium der zerebralen
Zum sog. Gehirnjogging werden viele Methoden angeboten, Mikroangiopathie (. Abb. 25.4). Dadurch sollten Assoziations-
bei denen die Patienten aber bestenfalls Items, nicht aber Stra- fasern geschädigt und so die »Kommunikation« zwischen
tegien erlernen. Sinnvoller erscheint das Training von Alltags- kortikalen Assoziationsfeldern beeinträchtigt werden, die die
funktionen in der familiären Umgebung. Genauso wichtig wie Grundlage kognitiver Leistungen ist.
eine Behandlung der Patienten wird mittlerweile eine Beratung Größere Untersuchungsreihen haben aber gezeigt, dass die
und Training der Angehörigen erachtet. Wesentliches Ziel da- Demenz bei Mikroangiopathie nicht mit der Marklagerschädi-
bei ist es, die eingeschränkte Lebenswelt der Patienten verste- gung, sondern mit Alzheimer-artigen neuropathologischen
hen zu lernen, um eine Überforderungen zu vermeiden und Veränderungen in der Hirnrinde korreliert ist. Das wirft die
sinnvolle Tätigkeiten für die Patienten zu finden. Frage auf, ob die vaskuläre Demenz eine eigenständige Form

Exkurs
Posterior-kortikale Atrophie
Symptomatik und Verlauf. Die posterior-kortikale Atrophie Neuropathologie und Diagnostik. Patienten mit PCA weisen
(engl. Akronym: PCA) ist ein bislang seltenes, aber wahr- meist eine alzheimertypische Histopathologie auf, weswegen
scheinlich unterdiagnostiziertes Demenzsyndrom, dem die PCA als häufigste Sonderform des M. Alzheimer betrachtet
zumeist eine Alzheimerpathologie zugrunde liegt. Im Unter- wird. Jedoch sind auch Fälle mit den neuropathologischen
schied zum M. Alzheimer sind zunächst nicht der mediale Veränderungen einer kortiko-basalen Degeneration beschrie-
Temporallappen (Gedächtnis) und frontale Hirnregionen ben. Aufgrund der typischen Symptomkonstellation und des
(Einsicht) betroffen, sondern die Atrophie befällt okkzipitale Verlaufs ist die Diagnose meist schon durch eine klinisch-
und parietale Gebiete. Die Patienten berichten über Schwie- neuropsychologische Untersuchung zu stellen. CT/MRT zeigen
rigkeiten beim Lesen, dem Erkennen von Objekten oder der eine parieto-occipitale Atrophie.
räumlichen Orientierung als Ausdruck einer Störung der
höheren visuellen Verarbeitung. Ist die primäre Sehrinde Therapie. Medikamentös orientiert sich die Therapie an den
mitbetroffen, kann es auch zu Gesichtsfelddefekten kom- Vorgaben bei M. Alzheimer, wobei besonderes Augenmerk auf
men. Mit Fortschreiten des Krankheitsprozesses von posteri- eine antidepressive Therapie gelegt werden sollte. Aufgrund
or nach anterior kommen Defizite des Gedächtnisses, der der lange Zeit intakten Krankheitseinsicht sind die Patienten
Sprache und exekutiver Funktionen hinzu, bis sich das Voll- zudem psychotherapeutischen und neuropsychologisch-
bild einer Demenz entwickelt. Im Unterschied zum klassi- kompensatorischen Therapien zugänglich.
schen M. Alzheimer ist die Krankheitseinsicht der Patienten
in den ersten Jahren gut erhalten. Daher kommt es häufig zu
Begleitdepressionen.
25.2 · Vaskuläre Demenz
577 25
. Abb. 25.4. CT bei zerebraler Mikroan-
giopathie. Konfluierende Dichteminde-
rung des Marklagers, die einer subkortika-
len, arteriosklerotischen Enzephalopathie
entspricht. Zusätzlich Nachweis multipler,
liquorisodenser Formationen im Stamm-
ganglienareal bilateral, die lakunären In-
farkten entsprechen. Die lakunären Infarkte
weisen in Verbindung mit der subkortikalen
Dichteminderung auf eine zerebrale
Mikroangiopathie hin

von Demenz oder ob sie Ausdruck eines Zusammentreffens gische Herdsymptome auftreten, unter denen zentrale Hemi-
von zwei häufigen Gehirnkrankheiten ist, der Alzheimer- paresen aus anatomischen Gründen an erster Stelle stehen.
Krankheit und der zerebralen Mikroangiopathie. Viel seltener Gedächtnisstörungen und Aphasie. Sehr auffällig sind die
ist eine Demenz bei multiplen kortikalen (territorialen) In- Störung der Merkfähigkeit bei besser erhaltenem Altgedächtnis
farkten. Sie kommt vor nach multiplen Embolien oder bei und das Nachlassen von Aufmerksamkeit und Konzentra-
Vaskulitis. tionsvermögen. Die Patienten haben Schwierigkeiten, sich Na-
men, Zahlen und einzelne, verwechselbare Fakten und Vorha-
3Verlauf und neurologische Symptome. Es besteht keine ben zu merken. Die Kranken wenden sich immer mehr der
Parallelität zwischen dem Ausmaß der morphologischen Ver- Vergangenheit zu, deren Ereignisse ihnen jetzt oft weit besser
änderungen und der Schwere der klinischen Erscheinungen. erinnerlich sind als in jüngeren Jahren. Der Interessenkreis engt
Die Krankheit setzt aus kaum merklichen Anfängen schlei- sich ein. Vorausschauendes Denken, Urteilskraft und Über-
chend ein und schreitet schubweise fort. In manchen Fällen schau versiegen. Sie haben Schwierigkeiten, sich auf neue Situ-
werden die ersten psychopathologischen Auffälligkeiten im ationen einzustellen und neue geistige Inhalte aufzunehmen
Anschluss an ein äußeres Ereignis manifest, das den gewohnten und zu verarbeiten. Gewohnte Verrichtungen gelingen den
Lebensgang unterbricht oder verändert; so kommt es nach ei- Kranken dagegen noch flüssig, und sie verfolgen Routinear-
ner körperlichen Krankheit, nach der Pensionierung, nach beiten mit besonderer Ausdauer und Beharrlichkeit.
dem Tod des Ehepartners plötzlich oder innerhalb weniger Zur Unterscheidung zwischen generellen Merkstörungen
Wochen zu einer »Dekompensation« , in der die psychopatho- und amnestischer Aphasie hilft folgende Faustregel: Bei am-
logischen Veränderungen in rascher Entwicklung hervor- nestischer Aphasie fallen im spontanen Sprechen Wortfin-
treten. dungsstörungen auf, die im Benennungstest noch deutlicher
Motorische Symptome. An erster Stelle der Symptome werden. Bei genereller Merkstörung fehlt in der Spontanspra-
besteht fast immer eine apraktische Gangstörung. Zusätzlich che häufig das richtige Wort, bei Benennungstests sind die
können, abhängig von der Lokalisation der Lakunen, neurolo- Leistungen jedoch gut.
578 Kapitel 25 · Demenzkrankheiten

Leitlinien Prophylaxe und Therapie der DAT*


Prophylaxe
4 Körperliche Aktivität bei Personen ohne kognitive Ein- 4 Für fortgeschrittene Stadien der Erkrankung wurde zwar
schränkungen kann das Risiko des Auftretens eines demen- in klinischen Studien ein Nutzen einer Cholinesterase-Hem-
ziellen Syndroms signifikant senken (A) und ist deshalb zu mung (Donepezil) nachgewiesen, allerdings besteht hierfür in
25 empfehlen (B). Europa keine Zulassung.
4 Im Gegensatz zu Vitaminergänzungspräparaten, deren 4 Der Glutamat-Modulator Memantin ist im mittleren und
Wirkung (mit Ausnahme der Supplementierung von Folsäu- schweren Stadium der AD wirksam und hierfür zugelassen.
re) bei Personen ohne Mangelzustände nicht belegt wurde 4 Eine Therapieevaluation der Antidementativa ist beim
(B), kann eine vitaminreiche und ausgewogene Ernährung individuellen Patienten auch durch standardisierte kognitive
als Prophylaxe empfohlen werden (C). oder nichtkognitive Skalen nur begrenzt oder nicht möglich
4 Die Konversion von einem MCI1 zu einer Demenz kann und kann ggf. nur aus anamnestischen oder fremdanamnesti-
nach gegenwärtigem Stand des Wissens mit keinem der schen Angaben abgeleitet werden.
Acetylcholinesterase-Hemmer verhindert werden (B). 4 Ein Wechsel des Präparats kann bei unbefriedigender
4 Hypertonus, Hypercholesterinämie und Übergewicht Wirkung im Einzelfall erfolgreich sein (C).
sind Risikofaktoren für die Alzheimer Krankheit (AD) und die 4 Evidenz zu der Frage, wann Acetylcholinesterase-Hemm-
vaskuläre Demenz, die – auch aufgrund gesamtgesundheit- stoffe abgesetzt werden sollen, gibt es nicht. Pragmatischer-
licher Überlegungen – konsequent behandelt werden sollen weise ist in Absprache mit Patient und Betreuer ein Absetzver-
(C). Da sie wahrscheinlich bereits im mittleren Lebensab- such empfehlenswert,wenn aus klinischer Warte Zweifel an
schnitt zur Pathophysiologie der demenziellen Erkrankungen einem günstigen Verhältnis zwischen Nutzen und Nebenwir-
beitragen, sollten sie zu jedem Zeitpunkt bestmöglich einge- kungen auftreten (C).
stellt werden (C). 4 Für den Wert einer Kombination von Acetylcholinesterase-
4 Es gibt Hinweise dafür, dass sich eine diätetische oder Hemmern mit antiglutamaterger Therapie spricht eine pros-
medikamentöse Einstellung des Diabetes mellitus günstig pektive Studie. Für eine diesbezügliche allgemeine Empfeh-
auf die Demenzentwicklung auswirkt (C). lung muss der Ausgang weiterer laufender Studien abgewar-
4 Übermäßiger Alkoholkonsum ist mit einem erhöhten tet werden (C).
Demenzrisiko verbunden und sollte vermieden werden (C).
Ein protektiver Effekt auch von kleineren Mengen Alkohol Neuroprotektive und sonstige Therapien
wurde bislang nicht bewiesen. 4 Für »Nootropika« wie Pirazetam, Nicergolin, Hydergin,
Gingko oder Nimodipin gibt es in der Therapie der AD bislang
Symptomatische Therapie keine ausreichende Evidenz.
4 Acetylcholinesterase-Hemmstoffe sind bei Patienten mit 4 Der Effekt von Vitamin E ist weiterhin unklar, weshalb
leichter bis mittelschwerer AD wirksam und zugelassen. angesichts des potenziell erhöhten kardiovaskulären Risikos
4 Für jede der heute zugelassenen Substanzen ist eine bei Dosierungen > 400 I.E. hierfür keine Empfehlung gegeben
Wirksamkeit hinsichtlich kognitiver Leistungen, Verhal- werden kann (B).
tensauffälligkeiten, klinischem Globalurteil sowie Verminde- 4 Vitamin E schützt auch nicht vor der Konversion einer MCI
rung der Belastung pflegender Angehöriger belegt. zur AD.
4 Es besteht keine eindeutige Evidenz für Überlegenheit 4 Die Anwendung von Selegilin ist nicht effektiv.
eines Acetylcholinesterase-Hemmers gegenüber anderen.
4 Für Rivastigmin wurde ein dosisabhängiger Effekt be-
schrieben. * Gekürzt nach den Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitli-
4 Nebenwirkungen sind u.a. abhängig von der Geschwin- nien.html)
digkeit der Aufdosierung und pharmakokinetischen Beson- 1 MCI = Mild Cognitive Impairment

derheiten der Einzelsubstanzen.

Affektive Symptome. Gleichzeitig tritt eine sehr bezeich- Mangelnde Steuerung für heitere, affektive Regungen ist
nende affektive Veränderung ein: Eine traurige Nachricht, etwa ungleich seltener. Diese Gemütsbewegungen setzen ganz
eine Todesanzeige in der Zeitung, die Erinnerung an ein be- abrupt ein, sind aber nur flach und durch Ablenkung rasch
trübliches Ereignis in der Vergangenheit oder eine gefühlsbe- wieder zu unterbrechen. Im Ganzen verliert das emotionelle
tonte Szene im Radio, Film oder Fernsehen lösen plötzlich eine Leben an Tiefgang, wodurch sich auch die mitmenschlichen
solche Gemütswallung in den Patienten aus, dass sie ihre Trä- Beziehungen lockern.
nen nicht mehr zurückhalten können. In schweren Fällen kann Weitere psychopathologische Symptome. In etwas weiter
man diese Affektdurchlässigkeit (oder affektive Labilität) in fortgeschrittenen Stadien wird die Grundstimmung häufig
der Exploration fast beliebig oft durch entsprechende Bemer- mürrisch oder depressiv, ohne dass dies ganz als Reaktion auf
kungen auslösen und sieht dann, dass den Patienten immer das Erleben der eigenen psychischen Veränderung zu verste-
wieder für Sekunden die Augen feucht werden. hen wäre. In schweren Fällen entwickelt sich ein depressiver
25.3 · Frontotemporale Demenzen (Pick-Komplex)
579 25
Exkurs
Vaskuläre Veränderungen bei DAT und DAT-Veränderungen bei vaskulärer Demenz (VD)
So streng, wie die Definitionen es suggerieren, lassen sich Dazu kommt, das phänomenologisch und neuropsycho-
DAT und VD nicht von einander trennen. logisch Gesunde in zum Teil erheblichem Maße neuropatholo-
Viele Alzheimerpatienten haben vaskuläre Risikofak- gische Veränderungen beider Unterformen haben können, wie
toren, und bei vielen Patienten mit »typischer« vaskulärer eine bemerkenswerte autoptische Studie aus England bei
Demenz und dem passenden Imaging-Befund lassen sich verstorbenen Altenheimbewohnern zeigte. Große Unterschie-
autoptisch Alzheimer-Veränderungen in großem Umfang de bestanden nicht zwischen Ausmaß der Veränderungen bei
nachweisen. Es gibt Mischformen, die etwa gleich viele Patienten, die zu Lebzeiten als demenzkrank diagnostiziert
Aspekte beider großen Demenzformen haben. Man neigt worden waren und solchen Bewohnern, die psychopatholo-
dazu, DAT und VD als die Pole eines Kontinuums der De- gisch als altersentsprechend galten.
menzkrankheiten zu sehen.

Versagenszustand, der hier nicht im Einzelnen besprochen 25.3 Frontotemporale Demenzen


wird. (Pick-Komplex)
In der Persönlichkeit der Kranken spitzen sich bestimmte
Charakterzüge zu, die früher nur angedeutet oder ausgewogen 25.3.1 Fronto-temporale Demenz vom
waren: Die Patienten werden starrsinnig, geizig, reizbar, Verhaltenstyp (FTD; Pick-Syndrom)
herrschsüchtig u.Ä. Nicht wenige Kranke entwickeln eine Hy-
pochondrie, in der gewisse, leichtere Altersbeschwerden oder 3Epidemiologie und Ätiologie. Die Krankheit ist mit
Funktionsstörungen, besonders Kopfschmerzen, Ohrensau- einem Anteil von 1–2% unter den Demenzkrankheiten sehr
sen u.Ä. mit unkorrigierbarer Gewissheit als Symptome von selten. Sie setzt im Präsenium ein, meist zwischen dem 50. und
schweren körperlichen Krankheiten gedeutet werden. Im Ex- 60. Lebensjahr. Die Krankheitsdauer beträgt im Mittel 7 Jahre
tremfall kann sich die depressiv-hypochondrische Verstim- (Extremwerte 1 Jahr und 15 Jahre). Die Ätiologie ist noch nicht
mung bis zum nihilistischen Wahn steigern. genau bekannt. In 20% der Fälle lässt sich dominante Erblich-
In späteren Stadien können nächtliche Verwirrtheitszu- keit mit mehr als 30 verschiedenenen Mutationen des Gens für
stände mit Unruhe, Desorientiertheit und Verkennung der Um- das Tau-Protein auf Chromosom 17 bei familiärer Form der
welt und delirante Episoden auftreten. Als Delir bezeichnet FTD mit Parkinson-Symptomatik nachweisen.
man ein Syndrom aus Bewusstseinstrübung, psychomoto-
rischer Unruhe, Merkstörung und Denkstörung, häufig ängst- 3Pathologie. Makroskopisch ist die Rinde des Stirn- und
licher Erregung und illusionärer Verkennung der Umwelt oder oft auch des Schläfenlappens stark geschrumpft (»Walnussre-
halluzinatorischen Trugwahrnehmungen. In diesem Zustand lief«). Die Veränderungen betreffen den phylogenetisch und
drängen die Kranken aus dem Bett und können zu Fall kommen ontogenetisch spät reifenden frontalen und basalen Neokortex.
und sich verletzen oder Wohnung und Haus verlassen und sich Ein Teil der betroffenen Gebiete gehört zum limbischen Sys-
im Freien gefährden. tem, woraus sich die affektiven Symptome erklären. Die Ver-
Im Endstadium sind die Patienten antriebslos, mit andau- änderungen sparen Projektionsareale aus. Fakultativ ist eine
ernder Desorientiertheit und Versiegen der Sprache. Beteiligung von Caudatum und Substantia nigra mit resultie-
rendem Parkinson-Syndrom möglich. Das histopathologische
3Diagnose. Im CT und MRT sind die ausgedehnte vasku- Bild ist wie bei allen Formen des Pick-Komplexes uneinheit-
läre Demyelinisierung des Marklagers und die lakunären In- lich. Beim klassischen M. Pick findet man mikroskopisch ei-
farkte zu erkennen (. Abb. 25.4). Wir zeigen hier mit Absicht nen primären Schwund des Nervenparenchyms mit argento-
ein CT, da im MRT die oft vorkommenden unspezifischen Al- philen Einschlüssen (Pick-Körper) in Ganglienzellen, aber
tersveränderungen der weißen Substanz meist als Zeichen ohne Alzheimer-Fibrillenveränderung oder Plaques.
eines Multiinfarktsyndroms fehlinterpretiert werden. Das EEG
trägt nicht zur Diagnose bei. 3Symptome und Verlauf. Wie der Name schon sagt, ist das
erste Symptom eine ausgeprägte Wesensänderung der Pati-
3Therapie. Die Therapie muss sich auf die Sekundär- enten. Diese kann sowohl als Negativsymptomatik (z.B. emo-
prävention weiterer ischämischer Ereignisse wie die Behand- tionale Verflachung, soziales Desinteresse, Antriebsmangel)
lung des Bluthochdrucks oder die Gabe von Statinen und als auch als Positivsymptomatik (Antriebssteigerung, Aggres-
damit auf die Vermeidung weiterer subkortikaler Läsionen sivität, Triebverhalten, Tics) in Erscheinung treten, so dass die
richten. Einige vorläufige Studien deuten an, dass auch bei der Erkrankung nicht selten zunächst als Schizophrenie oder De-
vaskulären Demenz die Cholinesterasehemmer, speziell Done- pression fehldiagnostiziert wird.
zepil, wirksam sind. Eine Zulassung ist allerdings noch nicht Die Patienten vernachlässigen sich und ihre Familie, sie
erfolgt. verlieren die vorausschauende und geordnete Initiative und
leben nur noch für ihre elementaren Bedürfnisse. In diesem
Stadium der Erkrankung ist eine gute Fremdanamnese wichtig,
580 Kapitel 25 · Demenzkrankheiten

da die Patienten selbst keine Krankheitseinsicht aufweisen Bei der primär progressiven Aphasie entwickelt sich lang-
(Anosognosie). Passend zu den Verhaltensänderungen betref- sam fortschreitend eine Aphasie mit nichtflüssiger Sprachpro-
fen die kognitiven Einschränkungen zunächst vor allem exeku- duktion, vielen phonematischen Paraphasien und agramma-
tive Funktionen (z.B. Planung, Verhaltenskontrolle, Flexibili- tischer Syntax. Das Einwortverständnis bleibt lange Zeit gut er-
tät). Im Gegensatz zum M. Alzheimer bleiben die Gedächtnis- halten. Auch bleiben soziales Verhalten, räumliche Orientierung,
leistungen länger erhalten und sind im frühen Stadium eher episodisches Gedächtnis und Problemlösen lange intakt. Man-
25 durch frontale Fehlfunktionen (Aufmerksamkeitsdefizite, che Patienten entwickeln parallel zum Sprachverlust künstleri-
Konfabulationstendenzen) beeinträchtigt. sche Aktivitäten. Eine Variante der primär progressiven Apha-
Bei größerer Ausdehnung des Prozesses werden patholo- sie, die mit einer Atrophie linksseitiger temporo-parietaler Are-
gische Handgreifreflexe auslösbar. Auch Greifreflexe des Mun- ale einhergeht, ist durch Wortfindungsschwierigkeiten und ein
des (Ansperren, Schnappen, Saugen) treten oft auf. Von der gestörtes syntaktisches Sprachverständnis gekennzeichnet (lo-
Fresssucht als allgemeinem Enthemmungssymptom muss das gopenic progressive aphasia). Sie erweist sich in nicht wenigen
zwanghafte Greifen und In-den-Mund-Stecken von beliebigen, Fällen als Sonderform der M. Alzheimer mit typischen Liquor-
auch nicht essbaren Gegenständen unterschieden werden, das veränderungen und der charakteristischen Histopathologie.
ein Teil des Klüver-Bucy-Syndroms ist (7 Kap. 1.5). Diese orale Im Verlaufe der Krankheit kommt es auch zum Nachlassen
Tendenz tritt auf, sobald beiderseits der mediobasale Schläfen- kognitiver Leistungen in anderen Bereichen. Es gibt auch lang-
lappen ergriffen ist. Im Endstadium entwickelt sich meist ein sam fortschreitende Apraxie, visuokonstruktive Störungen,
akinetisches Parkinson-Syndrom mit schwerer Demenz. visuelle Agnosie, Gesichtsagnosie und Amusie (Störung des
Musikerkennens). Seit die Untersucher ihr Augenmerk darauf
3Diagnostik. CT und MRT zeigen Atrophien der fontalen richten und diese Patienten nicht einfach als atypische Alz-
und temporalen Hirnlappen sowie eine innere und äußere heimer-Krankheit diagnostizieren, werden immer neue Beob-
Hirnvolumenminderung mit Hydrocephalus e vacuo. achtungen mitgeteilt, aus denen sich ein ganzes Spektrum von
Im Liquor können verschiedene Destruktionsmarker er- degenerativen Krankheiten des Assoziationskortex ergibt, die
höht sein. fokal, d. h. monosymptomatisch, beginnen und sich erst spät
generalisieren
3Therapie.
4 Acetylcholinesterasehemmer und Antidementiva sind 3Diagnostik. Die Diagnose ist auf Grund des neuropsycho-
nicht gesichert wirksam, können aber off label versucht werden. logischen Bildes und des Verlaufs zu stellen. Bildmorpholo-
Eine verlässlich wirksame Therapie gibt es nicht. An einigen gisch findet man bei der primär progressiven Aphasie eine
Zentren werden neuropsychologische Trainingsmethoden er- linksseitige frontolaterale Atrophie.
probt.
4 Man soll versuchen, durch körperliche Übung die Bett- 3Therapie. Siehe 25.3.1.
lägerigkeit so lange wie möglich hinauszuschieben. Wenn aber
eine Beschäftigungsunruhe überhand nimmt, muss man die
Kranken durch Prothipendyl (Dominal®, 20–80 mg), Clo- 25.4 Andere Formen degenerativer
methiazol (Distraneurin®, 3–6 Dragees), Butyrophenon (Hal- Demenzkrankheiten
dol®) oder ein ähnliches Mittel dämpfen.
4 Mit dem Fortschreiten der Krankheit kann man oft die 25.4.1 Demenz mit Lewy-Körpern (DLK)
Unterbringung in einer geschlossenen Abteilung nicht um-
gehen. 3Symptomatik und Verlauf. Dies ist mit 10–15% die zweit-
häufigste Form degenerativer Demenz. Sie ist gekennzeichnet
durch fortschreitendes Nachlassen kognitiver Leistungen, wo-
25.3.2 Primär progressive Aphasie bei visuokonstruktive und frontal-exekutive Störungen stärker
als Gedächtnisstörungen ausgeprägt sind. Charakteristisch ist
3Symptomatik und Verlauf. Es kommt zu einem fortschrei- ein Fluktuieren der Kognition mit häufigen luziden Interval-
tenden Verlust an semantischer Information, anfangs nur in len. Ein zweites Merkmal sind komplexe, bedrohlich erlebte,
den lautsprachlichen Modalitäten. Das heißt, die Patienten er- visuelle Halluzinationen von Menschen und Tieren. Ohne stär-
kennen die Bedeutung von Nomina nicht mehr. Sie können kere emotionale Beteiligung entwickeln die Patienten systema-
weder Objekte noch Tatbestände benennen noch die entspre- tisierte Wahnideen. Hinzu tritt ein rigides Parkinsonsyndrom,
chenden Wörter verstehen. Dabei bleibt die Sprache lange Zeit das mäßig auf dopaminerge Therapie anspricht. Das Auftreten
flüssig, gut artikuliert und syntaktisch korrekt, aber inhaltsleer. der Demenz vor den extrapyramidalen Symptomen differen-
Im weiteren Verlauf ergreift die Störung auch die Schriftspra- ziert die DLK von der sekundären Parkinsondemenz.
che. Im fortgeschrittenen Stadium werden auch visuell und
taktil wahrgenommene Objekte nicht mehr erkannt. Das Ge- 3Neuropathologie und Diagnostik. Neuropathologisch
dächtnis für Ereignisse (episodisches Gedächtnis) und die findet man in der Substantia nigra, im limbischen System und
räumliche Orientierung bleiben erhalten. Im Endstadium er- der Hirnrinde, Lewy-Körper. Diese lassen sich auch im Nucle-
löschen Sprachproduktion und -verständnis. Emotionale Indif- us dorsalis Meynert und N. coeruleus mit der Folge einer aus-
ferenz und soziale Auffälligkeiten sind häufig. geprägten noradrenergen und acetylcholinergen Deafferentie-
25.5 · Normaldruckhydrocephalus (Hydrocephalus communicans, normal pressure hydrocephalus NPH)
581 25
Exkurs
Semantische Demenz
Die semantische Demenz ist gekennzeichnet durch eine Psychisch werden die Patienten reizbar, aber auch apa-
flüssige Aphasie, bei der zunächst semantische Defizite durch thisch, in ihren Interessen eingeengt und zeigen Verhaltens-
Umformulierungen oder Füllworte überbrückt werden. Es perseverationen. Sie können distanzlos und sozial auffällig
kommt in der Folge zu einer langsam progredienten Aphasie werden. Es kommt zu Verhaltensauffälligkeiten. In seltenen
mit Störung von Objekterkennung, Benennen und immer Fällen, wenn der Beginn des degenerativen Prozesses auf der
weiter reduziertem Sprachschatz, bis nur noch einzelne stereo- rechten Hirnhälfte liegt, kann es zu Schwierigkeiten beim
type Floskeln übrig bleiben. Im Endstadium ist die Sprache Erkennen von Gesichtern (Prosopagnosie), von Emotionen
versiegt und Inhalte können nicht mehr vermittelt werden. oder der Zuordnung von Stimmen kommen.
Dann liegen ausgeprägte Störungen im Sprachverständ- In der MRT findet man eine Atrophie der Temporallappen-
nis vor, so dass auch die Kommunikation auf rezeptiver pole, wo es auch zur Abnahme des Glukosemetabolismus
Ebene immer stärker gestört wird. Interessant ist, dass zu im PET kommt. Pathologisch findet man Ablagerungen von
Beginn der Symptomatik keine apraktischen Störungen TDP-43 (TAR-DNA-bindendes Protein 43). Eine Therapie exis-
vorliegen, während später eine zunehmende ideatorische tiert nicht. Auch Übergänge zur progredienten nicht-flüssigen
Apraxie auffällt. Aphasie sind beschrieben.

rung des Cortex nachweisen. Es handelt sich um eosinophile, häuft assoziiert mit arteriellem Bluthochdruck, zerebrovasku-
intraneurale Einschlüsse mit Immunoreaktion auf Ubiquitin. lären Veränderungen und Diabetes mellitus auftreten.
CT- und MRT-Befunde sind unspezifisch.
4 In der SPECT/PET zeigt sich eine charakteristische Perfu- 3Pathophysiologie. Nicht ausreichende Resorption des
sionsminderung/Hypometabolismus parietooccipital mit ho- Liquors führt zu Erweiterung des Ventrikelsystems. Hand in
her Spezifität in der DD gegenüber anderen Demenzformen. Hand hiermit gehen Diffusion von Liquor durch die Ventrikel-
4 Die Liquordiagnostik hilft bislang nicht weiter. Die Diag- wände (Liquordiapedese) mit periventrikulärer Ödembildung,
nose wird bioptisch oder autoptisch bestätigt. Verschlechterung der lokalen zerebralen Blutversorgung im
periventrikulären Marklager und schließlich Läsion von Fa-
3Therapie. Man gibt man Cholinesterasehemmstoffe wie sern der Corona radiata. Der nur minimal erhöhte intraventri-
Galantamin oder Donezepil (off-label). L-Dopa wird eher kuläre Druck führt im Rahmen von pulsatilen Schwankungen
niedrig dosiert. Dopaminagonisten werden wegen der höheren zur langsamen Kompression der oft ischämisch vorgeschä-
Gefahr der Exazerbation von Halluzinationen nicht gegeben. digten weißen Substanz und drückt den Cortex gegen die Ka-
Viele Patienten haben eine starke, auch lebensbedrohliche lotte. Hierdurch werden subkortikale Bahnen und Cortexfunk-
Überempfindlichkeit gegen Neuroleptika, dennoch werden bei tion (Blasenzentrum, Gangsteuerung) geschädigt. Eine andere
ausgeprägten Halluzinationen atypische Neuroleptika wie Clo- Möglichkeit, die bei der Entstehung des idiopathischen NPH
zapin, 12,5 bis 50 mg gegeben. diskutiert wird, ist die primäre Affektion des periventrikulären
und des tiefen Marklagers durch eine funktionelle Minderper-
fusion, insbesondere etwa 1 cm periventrikulär im Bereich der
25.5 Normaldruckhydrocephalus Wasserscheide zwischen menigialer Gefäßperfusion und dem
(Hydrocephalus communicans, normal Mediastromgebiet. Sowohl Läsionen des tiefen als auch des
pressure hydrocephalus, NPH) periventrikulären Marklagers fanden sich bei MRT-Unter-
suchungen bei Patienten mit idiopathischem NPH weitaus
3Definition und Epidemiologie. Die Inzidenz wird auf etwa häufiger als bei altersgleichen Kontrollkollektiven
2% bei Menschen über 65 Jahren geschätzt. Symptomatische
Formen kommen nach SAB und Traumen sowie Meningitis vor. 3Symptome. Diese Krankheit, die überwiegend ältere
Unterschieden wird ein primärer oder idiopathischer (iNPH) Menschen betrifft, ist durch die Symptomtrias
und ein sekundärer Normaldruckhydrocephalus (sNPH). Wäh- 4 Demenz,
rend sich der erstere typischerweise ab der 6. Lebensdekade ma- 4 Inkontinenz (frontales Blasenzentrum) und
nifestiert, kann der sekundäre NPH in jedem Lebensalter, ge- 4 Gangstörung

Exkurs
Differentialdiagnose der Demenzerkrankungen
Primäre Demenzerkrankungen sind abzugrenzen gegen die 4 dem AIDS-Demenz-Komplex.
symptomatische Demenz bei 4 Auch Alkohol und andere Drogen können Demenz verur-
4 Normaldruckhydrozephalus, sachen.
4 Chorea Huntington, 4 Stirnhirntumor: Der Verlauf ist rasch, oft ist das Bewusst-
4 Parkinson-Demenz, sein leicht getrübt. Apathie und Antriebsminderung sind weit
4 Creutzfeldt-Jacob-Krankheit und häufiger als flach-euphorische Enthemmung.
582 Kapitel 25 · Demenzkrankheiten

Leitlinien Therapie des NPH*


4 Bei kompletter klinischer Trias und eindeutiger Bildge- 4 Aufgrund seiner Einfachheit sollte der Spinal-Tap-Test
bung (Hydrozephalus mit engem Windungsrelief über der großzügig indiziert werden. Im positiven Fall unterstützt er die
Mantelkante und keiner ausgeprägten subkortikalen vasku- Indikation zur Shunt-Implantation, im negativen Fall ist er
lären Enzephalopathie) ist im Wesentlichen die Indikation zur nicht weiter verwertbar (B).
25 Shunt-Implantation gegeben. Aufgrund seiner Einfachheit 4 Bei Patienten mit zu hohem Operationsrisiko (selten)
und Komplikationsarmut sollte der Spinal-Tap-Test (einma- sollten zumindest wiederholte therapeutische Lumbalpunk-
lige/wiederholte Liquorpunktion und Entnahme von 30–50 tionen, bei Patienten mit nicht eindeutig zu stellender Opera-
ml Liquor) auch hier durchgeführt werden, wobei die Liquor- tionsindikation eine erneute diagnostische Lumbalpunktion
untersuchung zudem zum Ausschluss entzündlicher Ursa- im Verlauf erfolgen (C).
chen, zur Differenzialdiagnose gegenüber dem Morbus 4 Grundsätzlich ist ein positiver Effekt vorwiegend auf die
Alzheimer und ggf. ergänzend zur lumbalen Druckmessung Gangstörung und die Urininkontinenz, weniger aber auf die
dient (A). Demenz zu erwarten (B).
4 Bei weniger eindeutiger Operationsindikation (insbeson- 4 Verstellbare und/oder gravitationsgesteuerte Ventile schei-
dere inkomplette Trias ohne Gangstörung) sollten ergänzend nen durch Senkung der Ventiltechnologie-assoziierten Kompli-
eine lumbale Liquordrainage für mehrere Tage und/oder eine kationen von Vorteil zu sein und sollten bei Patienten mit idio-
Langzeitliquordruckmessung für mehrere Tage und/oder pathischem NPH vorzugsweise zur Anwendung kommen (B).
Liquorinfusionstests erfolgen (B).
* Leitlinien der DGN 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html)

gekennzeichnet. Sie ist oft mit einer zerebralen Mikroangiopa- nur eine leichte Unsicherheit vorliegen, die von den Patienten
thie verbunden. gelegentlich als Schwindel bezeichnet wird. Später entwickelt
Das – sehr variable – mentale Defizit von NPH-Patienten sich der typische »frontale Abasie/Astasietyp« mit Gleichge-
ist eine subkortikalen Demenz mit Antriebsmangel, Verlang- wichtsstörungen, verkürzter Schrittlänge, Start, Tonuserhö-
samung, affektiver Indifferenz, fehlender Störungsreflexion hung bis hin zur spastischen Paraparese. Ein vergeblicher Ver-
sowie Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen. such des Starts, gait ignition failure, wird bei 30% von NPH
Die Harninkontinenz ist nicht Ausdruck der beginnenden Patienten gefunden, und ein freezing bei über 50%. Dagegen
Demenz, sondern ein motorisches Symptom. Zu dem impera- können die Patienten im Liegen die Beine glatt bewegen und
tiven Harndrang gesellt sich die Gangbehinderung, die ein auch komplexere Aufgaben (Knie-Hacken-Versuch, Zahlen
rasches Aufsuchen der Toilette erschwert. In späteren Stadien schreiben) ausführen. Stürze sind häufig.
verhindert eine Frontallappeninkontinenz das Bewusstwerden
des Harndranges. Stuhlinkontinenz findet sich nur in schweren 3Diagnostik. In CT (. Abb. 25.5) und MRT sieht man eine
Fällen. Aufweitung der Seitenventrikel und eine Verminderung der
Der Gang ist kleinschrittig, schlurfend, langsam und breit- Rindenfurchenzeichnung über den apikalen Hemisphärenan-
basig. Die Füße scheinen am Boden zu kleben. Anfangs kann teilen. Es finden sich eine Ballonierung der Vorderhörner der

a b c

. Abb. 25.5. Axiales CT mit Schichten durch die Ventrikel und auf nern. Die kortikalen Furchen parasagittal am Vertex sind eng gestellt
Vertexniveau. Erweiterte Seitenventrikel mit verplumpten Vorderhör- mit einzelnen erweiterten Furchentaschen an der Konvexität
25.5 · Normaldruckhydrocephalus (Hydrocephalus communicans, normal pressure hydrocephalus NPH)
583 25
Seitenventrikel, Ausweitung der Temporalhörner, und die kor- nur minimal erhöht. Kontrastmitteluntersuchungen oder szin-
tikalen, apikalen Sulzi sind verstrichen. Oft sieht man perivent- tigraphische Untersuchungen zeigen eine Umkehr des Liquor-
rikuläre Hypodensitäten frontal betont, die wahrscheinlich flusses zurück in die Seitenventrikel, aber auch diese setzen wir
durch transependymale Liquodiapedese und funktionelle nicht in der Diagnostik ein.
Minderperfusion entstehen. Alle Ventrikel können betroffen
sein, was im MRT deutlicher zu erkennen sind. Mikroangiopa- 3Therapie. Die Kenntnis des Normaldruckhydrocephalus
thische Veränderungen sind praktisch immer, oft sehr ausge- ist wegen der potentiellen Therapierbarkeit besonders wichtig.
prägt vorhanden. Mit speziellen Sequenzen kann der Fluss im 4 Wenn wiederholte Liquorpunktion eine Besserung der kog-
Aquädukt beurteilt werden (z.B. Aquäduktstenose). nitiven Funktionen oder des Ganges bewirkt, wird eine ventri-
Nach einer ausgiebigen (>30 ml) Liquorpunktion oder kuloperitoneale Shuntoperation durchgeführt.
lumbalen Liquordrainage kann sich die Symptomatik dras- 4 Sehr lange bestehende Symptome bessern sich oft nicht
tisch bessern. Wir führen keine kontinuierlichen Liquordruck- mehr gut.
messungen durch. Der Liquoröffnungsdruck ist normal oder

In Kürze

Demenzkrankheiten Therapie: Sekundärprävention weiterer ischämischer Ereig-


nisse und subkortikaler Läsionen.
Klinisch und pathologisch-anatomisch definierte Krank-
heiten, gekennzeichnet durch Nachlassen kognitiver Leistun- Frontotemporale Demenz
gen bei längerem Beibehalten von Resten der früheren
Persönlichkeit. Prävalenz nimmt mit zunehmenden Alter Frontotemporale Demenz (Pick Syndrom). Starke Schrump-
exponentiell zu. fung der Rinde des Stirn- und Schläfenlappens. Symptome:
Differentialdiagnose: Normaldruckhydrocephalus, Chorea Allgemeines Nachlassen der Leistungsfähigkeit, Persönlich-
Huntington, M. Parkinson, Creutzfeldt-Jacob-Krankheit, AIDS- keitsveränderung, Verflachen der emotionellen Regungen,
Demenz. pathologische Handgreifreflexe. Endstadium: Akinetisches
Parkinson-Syndrom mit schwerer Demenz. Diagnostik: CT/
Demenz vom Alzheimertyp (DAT) MRT: Atrophien der frontalen und temporalen Hirnlappen,
innere und äußere Hirnvolumenminderung mit Hydrozephalus
Degenerative Hirnkrankheit mit raschem Verlauf führt nach e vacuo. Therapie: Medikamentöse Therapie, Training von
4–5 Jahren zur schweren Demenz. Symptome: Nachlassen Alltagsaktivitäten.
des Gedächtnisses; Beeinträchtigung anderer kognitiver
Leistungen wie Sprachfunktionen, räumliche Orientierung; Primär progressive Aphasie. Symptome: Nichtflüssige
Schleichender Beginn und langsame Progredienz. Sprachproduktion, phonematische Paraphasien, agramma-
Diagnostik: EEG ist uncharakteristisch; CT: Volumenminde- tische Syntax. Therapie: Keine wirksame Therapie, neuropsy-
rung der Hirnrinde; PET: Hohe Sensitivität in Abgrenzung zur chologische Trainingsmethoden, mit Fortschreiten Unterbrin-
Lewy-Körperchen-Demenz. gung in geschlossener Abteilung.
Medikamentöse Therapie zur Verlangsamung des dege-
nerativen Prozesses, Training von Alltagsfunktionen. Lewy-Körper-Demenz

Vaskuläre Demenz Symptome: Fortschreitendes Nachlassen kognitiver Leistun-


gen, komplexe, bedrohlich erlebte, visuelle Halluzinationen
Fortschreitende Demenz mit Persönlichkeitsveränderung von Menschen und Tieren; Bradykinese, Rigor.
sowie wiederholte, ganz oder teilweise reversible Gefäßin-
sulte, meist mit motorischen Halbseitensymptomen. Normaldruckhydrozephalus
Symptome: Schubweiser Verlauf von Parkinsonismus, zen-
trale Hemiparesen, Störung der Merkfähigkeit, Nachlassen Symptome setzen nach SAB, Traumen, Meningitis ein: Subkor-
von Aufmerksamkeit und Konzentrationsvermögen, Versie- tikale Demenz mit Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörun-
gen von vorausschauendem Denken, affektive Veränderung, gen, Verlangsamung und Antriebsmangel, Gangstörung, Inkon-
mürrische oder depressive Grundstimmung, Zuspitzung tinenz als motorisches Symptom, zerebrale Mikroangiopathie.
bestimmter Charakterzüge. Später nächtliche Verwirrtheits- Diagnostik: CT/MRT: Verminderung der Rindenfurchenzeich-
zustände, delirante Episoden. Endstadium: Andauernde nung über apikalen Hemisphärenanteilen, Aufweitung der
Desorientiertheit, Versiegen der Sprache. Seitenventrikel, Ballonierung der Vorderhörner der Seitenvent-
Diagnose: CT/MRT: Ausgedehnte vaskuläre Marklagerdemy- rikel, Ausweitung der Temporalhörner.
elinisierung, lakunäre Infarkte. Therapie: Ventrikuloperitonealer Shunt.
VII Traumatische
Schädigungen des
Zentralnerven-
systems und seiner
Hüllen
26 Schädel- und Hirntraumen – 587

27 Wirbelsäulen- und Rückenmark-


traumen – 605
26

26 Schädel- und Hirntraumen


26.1 Schädeltraumen – 588
26.1.1 Schädelprellung – 588
26.1.2 Schädelfraktur – 589

26.2 Hirntraumen – 590


26.2.1 Leichtes Schädel-Hirn-Trauma (SHT) – 590
26.2.2 Mittelschweres und schweres SHT – 592
26.2.3 Offene Hirnverletzung – 599

26.3 Traumatische intrakranielle Hämatome – 600


26.3.1 Epidurales Hämatom – 600
26.3.2 Akutes Subduralhämatom (SDH) – 600
26.3.4 Traumatische Subarachnoidalblutung – 601
26.3.5 Intrazerebrales Hämatom – 601
26.3.6 Traumatische Raumforderungen im Bereich der hinteren Schädelgrube – 601

26.4 Spätkomplikationen – 601


26.4.1 Chronisches posttraumatisches Syndrom – 601
26.4.2 Chronisches, subdurales Hämatom – 602
26.4.3 Spätabszess – 602
26.4.4 Traumatische Epilepsie – 602
26.4.5 Traumatische Sinus-cavernosus-Fistel – 603
26.4.6 Traumatische arterielle Dissektionen – 603
588 Kapitel 26 · Schädel- und Hirntraumen

> > Einleitung Beim mittelschweren SHT können Herdsymptome vorliegen,


das Bewusstsein ist länger gestört und der GCS-Score liegt zwi-
Traditionell wurden Schädel-Hirntraumen in die Kategorien Schä- schen 9 und 12.
delprellung/Schädelbruch, Commotio und Contusio eingeteilt. Ein schweres SHT liegt bei initialem GCS-Score von 3-8
Zu häufig gibt es Divergenzen zwischen Verlauf, neurologischem vor. Die posttraumatische Bewusstlosigkeit dauert länger als 24
Befund und dem Befund im CT oder MRT. Diese Einteilung war h und es kommt zum Auftreten von Hirnstammzeichen.
unbefriedigend. Anstelle von Commotio und Contrusio treten jetzt Eine besonders schwere Ausprägung ist die Hirnstamm-
die Kategorien leichtes, mittelschweres und schweres Schädel- kontusion.
Hirntrauma (SHT). Durch bildgebende Verfahren kann die morpho- Alle Schweregrade des Hirntraumas, also auch das leichte
26 logische Diagnose von traumatischen Substanzschädigungen des SHT, können mit einer intrakraniellen Blutung (epidural, sub-
Großhirns in vivo ohne invasive Diagnostik getroffen werden, dural oder intrazerebral) kombiniert sein. Dabei kann es im
sofern die Untersuchung zu einem geeigneten Zeitpunkt erfolgt. Verlauf zu einer Verschlechterung des initialen GSC-Scores
Nicht jedes Kopftrauma führt zu andauernden Beschwerden kommen. Die größte praktische Bedeutung unter den trauma-
und Funktionsstörungen. Da viele Unfälle entschädigungspflich- tischen intrakraniellen Blutungen haben das epidurale und das
tig sind, kann die Symptomatik durch nichtmedizinische Fakto- subdurale Hämatom, die unten besprochen werden.
ren beeinflusst werden.
Gute Behandlungsmöglichkeiten bestehen bei epi- und 3Allgemeines zur Diagnostik. Die Ergebnisse von CT und/
subduralen Hämatomen, während die schweren, multilokulären, oder MRT sind bei allen Schweregraden des SHT entschei-
intrazerebralen Kontusionen, v.a. die traumatischen Hirnstamm- dend. Das EEG hat für die Feststellung morphologischer Ver-
läsionen, trotz der Fortschritte in der Akutversorgung am Unfall- änderungen des Gehirns keine Bedeutung mehr. Im Verlauf ist
ort und des schnellen Transports in ein Traumazentrum noch es für die Beurteilung einer erhöhten Krampfbereitschaft von
immer eine schlechte Prognose haben. Bedeutung. Für Röntgen-Nativaufnahmen gibt es keine Indi-
Traumatische Dezerebration und dissoziierter Hirntod sind in kation mehr, das gilt auch für manche ältere Spezialaufnahmen
diesem Kapitel behandelt. Elektrotrauma und Strahlenschäden der Schädelbasis.
des Nervensystems werden ebenso wie Folgen einer mecha- 4 Wenn man die Notwendigkeit einer bildgebenden Diag-
nischen Gewalteinwirkung auf Wirbelsäule und Rückenmark in nostik sieht (s.u.), dann ist auch immer eine CCT notwendig.
7 Kap. 27 besprochen. Speziell beim leichten SHT stellt sich häufig die Frage nach der
Indikation zur initialen CCT.
Vorbemerkungen 4 Bei älteren Patienten, wenn Alkohol oder Drogen im Spiel
3Epidemiologie. Man schätzt, dass sich in der BRD jährlich sind, die anterograde Amnesie länger als 60 min andauert,
auf 100.000 Einwohner etwa 200 Hirntraumen aller Schwere- wenn deutliche Weichteilverletzungen vorliegen oder der Ver-
grade ereignen. Von diesen Patienten erleidet etwa ein Zehntel dacht auf knöcherne Verletzungen besteht oder wenn ein epi-
ein schweres Hirntrauma. Etwa 30% der Patienten mit schwerem leptischer Anfall auftritt oder Ursache des Traumas war, wird
Hirntrauma verstirbt in den ersten 30 Tagen nach dem Trauma. man immer ein CT veranlassen.
4 Gleiches gilt für jeden persistierenden Kopfschmerz, län-
3Einteilung und Definitionen. Bei Kopftraumen unter- ger andauerndes Erbrechen (DD contusio labyrinthi) oder eine
scheiden wir zwischen Schädeltraumen, die nur den knöcher- Verschlechterung des GSC-Scores. Neurologische Herdsymp-
nen Schädel betreffen (Schädelprellung, Schädelbruch) und tome verlangen immer nach einem CT oder einem MRT.
Schädel-Hirntraumen, die auch zu einer Funktionsstörung 4 Das CT des Schädels sollte immer auch im Knochenfenster
und/oder Substanzschädigung des Gehirns führen. beurteilt werden.
Schädel-Hirntraumen (SHT) werden nach dem Schwere- 4 Ein CT der HWS erfolgt beim Ansatz eines Verdachts auf
grad klassifiziert. Es gibt keine voll befriedigende Einteilung, eine begleitende HWS-Verletzung, nicht zuletzt auch aus ver-
die die Vorgeschichte, den neurologischen Befund und das Er- sicherungstechnischen Erwägungen.
gebnis der Untersuchung mit bildgebenden Verfahren glei-
chermaßen erfasst und dabei so deskriptiv ist, dass sie nicht Auf die speziellen Anforderungen der Diagnostik bei Poly-
sozialmedizinische Aspekte (Begutachtung) vorwegnimmt. traumen wird hier nicht eingegangen.
Die alte Einteilung in Commotio cerebri (Gehirnerschütte-
rung) und Contusio cerebri (Gehirnquetschung) ist heute über-
holt. Die SHT werden heute in leichtes SHT (engl. mild trau- 26.1 Schädeltraumen
matic brain injury TBI), mittelschweres SHT und schweres
SHT (engl. severe TBI) eingeteilt, entscheidend für die Eintei- 26.1.1 Schädelprellung
lung ist in erster Linie das initiale Ergebnis des Glasgow Coma
Score (GSC, siehe Anhang). Dieser beträgt beim leichten SHT 3Ätiologie. Die leichteste Form des Kopftraumas ist die
zwischen 13 und 15. Weitere Kriterien des leichten SHT sind: Schädelprellung, die durch stumpfe Gewalt (Schlag, Stoß oder
4 Kurzzeitige Veränderung des Bewusstseins (weniger als Sturz) eintritt.
15 min)
4 Retro-oder anterograde Amnesie von weniger als 24 h 3Symptome. Ein plötzlicher, lokaler oder diffuser Kopf-
4 Fehlen fokaler neurologischer Symptome. schmerz kann Minuten bis Stunden andauern. Es kommt nicht
26.1 · Schädeltraumen
589 26
zu einer Störung des Bewusstseins, wie sie für das SHT charak- bei frühzeitiger Untersuchung im CT blutiges Sekret in den
teristisch ist. Schwindel, Nystagmus, Übelkeit und Erbrechen, Siebbeinzellen und Luftperlen im frontalen Subarachnoidal-
aber auch sofort oder mit Latenz einsetzende und selbst fort- raum. Am besten kann man diese Region mit koronaren CT-
schreitende Hörstörungen können darauf beruhen, dass Aufnahmen in Knochentechnik beurteilen. Bei Felsenbein-
gleichzeitig eine Schädigung des Innenohrs eingetreten ist. Das frakturen findet man Luftperlen in der hinteren und mittleren
ist auch ohne Felsenbeinbruch möglich. Weitere neurologische Schädelgrube. Über die »wachsende Fraktur« mit Auseinan-
Störungen treten nicht auf. derdrängen des Frakturspalts durch einen Hirn-Dura-Prolaps
s. Lehrbücher der Kinderheilkunde.
> Schwindel, Übelkeit und Erbrechen nach einer
Schädelprellung sind kein Beweis für eine Hirnbetei-
3Komplikationen. Dennoch darf man auch bei scheinbar
ligung.
nur leichter Kopfprellung nicht auf eine radiologische Unter-
suchung des Schädels verzichten, da ein positiver Befund für
3Diagnostik. Ein CT des Schädels wird meist aus Sicher- die Diagnose von eventuellen Komplikationen sehr wichtig
heitsgründen zum Ausschluss von Schädelfrakturen durchge- ist:
führt. 4 Bei Kalottenfrakturen kann die A. meningea media zer-
reißen, so dass ein epidurales Hämatom entsteht.
3Therapie 4 Bei Impressionsfrakturen bewirkt gelegentlich das einge-
4 Die Behandlung besteht in einer kurzen Schonung von drückte Knochenfragment eine lokale Irritation der Hirnrinde
1–2 Tagen, aber nicht Bettruhe (!), und löst epileptische Anfälle aus (traumatische Frühanfälle).
4 gegebenenfalls unter Verordnung leichter Kopfschmerz- Sie erhöhen das Risiko einer traumatischen Spätepilepsie.
mittel wie Ibuprofen 400 mg oder Paracetamol 500 mg mehr- 4 Nach Frakturen der Siebbeinplatte oder Stirnhöhlen-
mals täglich. hinterwand besteht die Gefahr aufsteigender Infektionen,
4 Gegen Erbrechen und Übelkeit gibt man Domperidon die selbst nach Jahren noch zu rezidivierender Meningitis,
(Motilium®) 2- bis 3-mal 15 Tropfen. Meningoenzephalitis und zum Hirnabszess führen können.
Dieselben Komplikationen muss man auch bei Frakturen des
Eine länger dauernde Ruhe ist nicht indiziert, sondern für die Felsenbeins befürchten. Die nasale Liquorfistel muss früh-
Rückbildung der Beschwerden psychologisch ungünstig. zeitig operiert werden, ebenso die Querfraktur des Felsen-
Krankenhausaufnahme ist in der Regel nicht erforderlich. beins.
Neurologische Dauerfolgen bleiben nicht bestehen. 4 Felsenbeinlängsfrakturen zerreißen meist das Trommel-
fell und führen, wenn auch die Dura verletzt ist, zum Liquorab-
fluss aus dem Ohr. Nach Querfrakturen kann der Liquor in die
26.1.2 Schädelfraktur Tuba Eustachii übertreten, so dass eine »pseudonasale Liquor-
fistel« entsteht. In diesen Fällen sind Computertomographie,
Bei entsprechender Gewalteinwirkung kann es auch ohne ohrenärztliche Untersuchungen, Konsultation eines Neuro-
Kommotionssyndrom zum Schädelbruch kommen. Je nach chirurgen und gegebenenfalls im weiteren Verlauf die Lumbal-
Art und Ort der Gewalteinwirkung sowie der altersabhängigen punktion angezeigt.
Elastizität liegt eine von drei Formen vor: 4 Dissektionen der A. carotis interna im Hals oder im
4 reine Kalottenfraktur (Impressions-, Biegungs-, Berstungs- knöchernen Karotiskanal.
bruch), 4 Schädelbruch mit Hirnnervensymptomen. Die Hirnner-
4 Fortsetzung der Bruchlinie in die Schädelbasis und venausfälle werden oft irrtümlich auf eine Kontusion der orbi-
4 reiner Schädelbasisbruch. talen (basalen) Stirnhirnrinde oder des Hirnstamms zurück-
geführt. Tatsächlich werden die Nerven in ihrem Verlauf (Sub-
Nichtimprimierende Frakturen der Kalotte erlauben, entgegen arachnoidalraum, Schädelbasis, Peripherie) geschädigt.
einer weit verbreiteten Meinung von Laien und Ärzten, keine 4 Die Nn. oculomotorius und abducens können bei Schädel-
Schlüsse auf die Schwere des SHT und kommen auch als Ursa- basisbruch sowie der N. trochlearis bei Frakturen der medialen
che für spätere, chronische Beschwerden nicht in Betracht. Die Orbitawand mit Dislokation der Trochlea peripher geschädigt
Heilungstendenz ist im Allgemeinen ausgezeichnet, und schon werden.
nach wenigen Wochen sind radiologisch keine Frakturlinien 4 Eine posttraumatische Fazialislähmung zeigt immer eine
mehr zu erkennen. Impressionsfrakturen führen dagegen oft Läsion im Felsenbein an. Hörstörungen kommen nach Kopf-
zu einer lokalen Substanzschädigung der Hirnrinde. traumen mit und ohne Schädelbruch durch Innenohrverlet-
zungen vor. In schweren Fällen sind dies Blutungen in das In-
3Diagnostik. Schädelbasisbrüche können oft schon aus nenohr, in leichteren Fällen kommt es zu Funktionsstörungen
klinischen Zeichen vermutet werden: Brillen- oder Monokel- einzelner Abschnitte der äußeren Haarzellen mit einem Hör-
hämatom, lageabhängiges Auslaufen von Flüssigkeit aus einem verlust in Form der C5-Senke, die durch einen hydrodyna-
Nasengang (Liquorfistel), Hämatotympanon, Blutung oder Li- misch bedingten Schaden im Transformationsgebiet der Fre-
quorabfluss aus dem äußeren Gehörgang. quenzen zwischen 4000 Hz und 6000 Hz entstehen soll. Auch
Im Computertomogramm sind Schädelbasisfrakturen der Vestibularapparat kann traumatisch geschädigt werden.
meist gut zu erkennen. Bei frontobasalen Frakturen findet man Die kaudalen Hirnnerven werden fast nie betroffen.
590 Kapitel 26 · Schädel- und Hirntraumen

Exkurs
Posttraumatische Anosmie
Die posttraumatische Anosmie ist meist Zeichen einer peri- In 1/3 der Fälle bildet sich die posttraumatische Anosmie
pheren Schädigung des I. Hirnnerven (Abriss der Fila olfacto- über einen variablen Zeitraum, längstens bis zu einem Jahr,
ria oder lokales Hämatom in der Gegend des Bulbus oder zurück. Nur in 4% der Fälle ist danach noch Restitution mög-
Tr. olfactorius). lich. Eine Korrelation zwischen der Schwere des Traumas und
Kopftraumen mit Gewalteinwirkung auf das Hinterhaupt der Dauer der Anosmie hat sich nicht nachweisen lassen.
sind 5-mal so häufig von Anosmie gefolgt als wenn das
Trauma die vordere Schädelhälfte trifft.
26

26.2 Hirntraumen eignisse vor dem Unfall sind nicht völlig aus der Erinnerung
ausgelöscht, sie sind nur nicht abrufbar. Dies wird dadurch
26.2.1 Leichtes Schädel-Hirn-Trauma (SHT) bewiesen, dass sich die retrograde Amnesie spontan auf-
hellen kann und dass manche Verletzte in Hypnose in der
3Definition. Das leichte Schädel-Hirn-Trauma (SHT) wird Lage sind, den Ablauf der Ereignisse bis zum Trauma zu
durch nachstehende Kriterien definiert: schildern. Ursache der retrograden Amnesie ist wahrschein-
4 kurzzeitige Bewusstlosigkeit oder qualitative oder quanti- lich eine Funktionsstörung in basalen Anteilen des Schläfen-
tative Veränderung der Bewusstseinslage <15 min, lappens.
4 Erinnerungslücke (retro-/anterograde Amnesie) <24 h, Weitere klinische Charakteristika sind:
4 Fehlen neurologischer Herdsymptome, 4 Schmerzsyndrom (Kopfschmerz, Nackenschmerz/-steife),
4 Score der Glasgow Coma Scale 13–15 (meist 15). 4 vegetatives Syndrom (Übelkeit/Erbrechen, Schwindel, or-
thostatische Dysregulation),
Die jährliche Inzidenz des leichten SHT liegt bei 10/100.000. 4 Lichtempfindlichkeit
80% der in eine Klinik überwiesenen Schädel-Hirn-Traumata 4 Nicht selten beginnt früh ein »neurasthenisches« Syndrom
sind leichtgradig, 10% mittelschwer und 10% schwer. mit depressiver Verstimmung oder Reizbarkeit.

3Symptome. Das Kardinalsymptom ist die sofort ein- Meist wird das Kommotionssyndrom von vestibulären Symp-
setzende Bewusstseinsstörung. Sie tritt meist als Bewusstlo- tomen begleitet: Schwindel, Erbrechen, Nystagmus.
sigkeit auf. Die sehr seltenen amnestischen Zustände nach
Kopftraumen setzen ohne vorangegangene Bewusstseins- 3Diagnostik. Bei leichtem SHT ist neben allgemein-kör-
störung ein. Mehrere Minuten nach einem Kopftrauma stellt perlicher und neurologischer Untersuchung die bildgebende
sich dabei eine Erinnerungsstörung ein, die bis zu einer Diagnostik (CCT) erforderlich.
Stunde rückwärts reichen kann. Während dieser Zeit kön- 4 Das CT des Hirnparenchyms ist in der Regel normal.
nen die Personen einfache Aufgaben lösen, und der neuro- Selten können aber doch Kontusionsblutungen oder kleinere
logische Status ist normal. Die Erinnerung hellt sich über 1 epi- oder subdurale Hämatome gefunden werden.
bis 2 Stunden wieder auf. Solche Fälle sind wiederholt bei 4 Eine Kontroll-CT oder eine MRT vom Schädel ist indi-
Fußballspielern beschrieben worden, die sich manchmal nicht ziert, wenn die Klinik doch auf eine fokale Läsion hindeutet,
mehr an ein durch Kopfball erzieltes Tor erinnern konnten der Bewusstseinszustand sich verschlechtert oder ein Herdbe-
oder das Spielergebnis nicht kannten. fund im EEG besteht. Die MRT der Wirbelsäule ist notwendig
Die Dauer der Bewusstlosigkeit beträgt beim leichten bei Verdacht auf spinales Trauma.
SHT zwischen wenigen Minuten und einer Stunde. Nach 4 Die Dopplersonographie ist bei Hinweisen auf ein Hals-
statistischen Untersuchungen an größeren Gruppen von Pa- trauma oder Symptomen einer Karotisdissektion (Horner-
tienten sind Tiefe und Dauer der posttraumatischen Be- Syndrom, seitlicher Hals oder Retroorbitalschmerz) sinn-
wusstseinsstörung ein empfindlicher und verlässlicher Indika- voll.
tor für die Schwere eines Kopftraumas. Sie müssen, auch 4 Das EEG ist nur im ganz frischen Stadium, d.h. innerhalb
aus versicherungsrechtlichen Gründen, exakt dokumentiert der ersten Stunden nach dem Trauma, allgemein oder selten
werden. auch herdförmig verändert, ohne dass dies Schlüsse auf mor-
Die Bewusstseinsstörung führt zu Erinnerungsstörungen. phologische Veränderungen des Hirngewebes gestattet.
Der Verletzte hat eine Amnesie für den Augenblick des Traumas 4 Eine HNO-Untersuchung ist bei Verdacht auf Schädel-
und eine gewisse Zeit danach (anterograde oder posttrau- basisbeteiligung, Rhino-/Otoliquorrhö, Hämatotympanon
matische Amnesie). Meist liegt auch eine retrograde Amnesie indiziert. Eine leichte kochleäre Schädigung lässt sich durch
vor, d.h. der Patient ist unfähig die letzten Ereignisse vor überschwellige Hörprüfung nachweisen.
dem Unfall zu reproduzieren. Die zeitliche Ausdehnung 4 Neuropsychologische Untersuchungen zur Objektivierung
der retrograden Amnesie ist nicht proportional zur Schwere eines Hirnleistungsdefizits sollten früh, aber nicht am Unfall-
und Dauer der Bewusstseinsstörung: Es gibt Fälle mit langer tag, innerhalb der ersten Wochen ohne den Einfluss zentral
Bewusstlosigkeit und nur kurzer retrograder Amnesie. Die Er- wirksamer Medikamente durchgeführt werden.
26.2 · Hirntraumen
591 26
3Therapie und Prognose lauflabilität. Da diese Beschwerden unspezifisch sind, soll man
Nach einem Hirntrauma mit Kommotionssyndrom wird heu- sie nicht als postkommotionelles Syndrom bezeichnen. Sie
te leider immer noch wochenlange Bettruhe verordnet. Zur können auch Folge der überflüssigen Immobilisierung sein.
Behandlung werden dazu Sedativa und angeblich die Hirn- Die Rückbildung der Beschwerden hängt vom Lebensalter
durchblutung fördernde Medikamente gegeben. Dies alles ist des Verletzten, aber auch ganz erheblich von seiner psychi-
unnötig und nicht sinnvoll. schen, sozialen und versicherungsrechtlichen Situation sowie
4 Bei Schmerzen ist kurzfristig die Gabe von Paracetamol den ängstlichen Befürchtungen ab, mit denen die meisten
oder Ibuprofen am unbedenklichsten (Paracetamol Supp. o. Menschen die möglichen Folgen eines Kopftraumas ansehen.
Tbl. 3-mal 500 mg/Tag, Ibuprofen 3-mal 400 mg/Tag oder Me- Diese Befürchtungen sind jedoch meist ungerechtfertigt. In
tamizol-Natrium 1- bis 4-mal 1–2 Tbl. a 500 mg). fortschrittlichen Unfallkrankenhäusern lässt man die Pati-
4 Bei anhaltenden Schmerzen mit der Gefahr einer Chroni- enten, wenn sie nicht allzu kreislauflabil sind, bereits am ersten
fizierung empfiehlt sich unter Umständen die Verordnung Tag nach dem Trauma wieder aufstehen. Die Beschwerden
eines trizyklischen Antidepressivums (z.B. Amitriptylin initial klingen bei diesem Vorgehen rasch ab, und die Patienten sind
25, dann 50–75 mg zur Nacht), eventuell auch von Physiothe- bald wieder voll leistungsfähig. Es wäre zu wünschen, dass
rapie. diese Art der Behandlung allgemein eingeführt wird.
4 Dagegen ist die dauerhafte Gabe konventioneller Schmerz- Bei starker vestibulärer Übererregbarkeit verordnet man
mittel kontraindiziert, ein analgetikainduzierter Dauerkopf- Sulpirid (Dogmatil® 100 mg i.m.) oder Dimenhydrinat (z.B.
schmerz ist leider viel zu häufige Folge eines solchen Behand- Vomex®) als Antivertiginosum. Wenn sich ein peripherer,
lungsfehlers. paroxysmaler Lagerungsschwindel entwickelt, wird er nach
4 Bei Nackenschmerz hilft Physiotherapie mit Anleitung zu den in 7 Kap. 17.1.1 angegebenen Regeln durch Lagerungs-
aktiven schmerzfreien Bewegungsübungen des Schultergürtels training behandelt.
und des Nackens. Zusätzlich kann mit Myotonolytika Tetraze-
pam 2-mal 50 mg/Tag p.o. (sedierenden Effekt) oder Tizanidin 3Sozialmedizinische Aspekte. Nach längstens 2 Wochen,
4 mg p.o. nachts gegeben werden. besser früher, wird der Verletzte wieder arbeitsfähig geschrie-
4 Beim traumatischen paroxysmalen Lagerungsschwindel ben. Eine längere Verordnung von Kopfschmerzmitteln sollte
helfen auch die Lagerungsmanöver (7 Kap. 17.1) und die me- vermieden werden, weil man die Beschwerden dadurch leicht
dikamentöse Behandlung mit Dimenhydrinat 3-mal 150 mg/ fixiert. Die Diagnose »vasomotorische Kopfschmerzen nach
Tag Supp. (kurzfristig!) Kopftrauma« entbehrt jeder Grundlage: Kopftraumen labili-
4 Gegen Übelkeit/ Brechreiz, Erbrechen helfen Domperi- sieren die Vasomotorik nicht dauerhaft. Höheres Lebensalter
don-Tropfen 3-mal 10 mg/Tag p.o. verzögert die Rückbildung der Kommotionsfolgen nicht. Eine
rentenberechtigende Erwerbsminderung ist nach Wiederauf-
Nach dem Aufstehen klagen viele Patienten über Kopfschmer- nahme der Arbeit nicht gegeben. Dauerfolgen sind nach un-
zen, allgemeine Leistungsschwäche, gesteigerte affektive Reak- kompliziertem Hirntrauma mit Kommotionssyndrom nicht
tivität, Sonnenempfindlichkeit, Alkoholintoleranz und Kreis- zu erwarten.

Exkurs
Dokumentation der Bewusstlosigkeit
Da die Beurteilung der Unfallfolgen von einer genauen Wert erhält, hat immer noch 3 Punkte, ist aber eigentlich be-
Kenntnis der initialen Symptomatik abhängt, muss der zuerst reits hirntot.
behandelnde Arzt möglichst genaue Feststellungen über Allerdings hat die GCS international breite Verwendung
Einsetzen und Dauer der Bewusstseinsstörung, über das gefunden und sollte deshalb im Interesse eines standardisier-
Verhalten des Verletzten nach dem Unfall und über seine ten, die Verständigung erleichternden Vorgehens bei der
Erinnerung an das Trauma selbst sowie an den unmittelbar Traumaversorgung benutzt werden. Damit dies für die thera-
vorangehenden Zeitabschnitt treffen. Dabei ist eine an- peutische Entscheidungsfindung und die prognostische Ein-
schauliche Beschreibung des Verhaltens wichtiger als die schätzung Sinn machen kann, ist es erforderlich, dass sie vom
diagnostische Schlussfolgerung. erstversorgenden Arzt (also vor einer Gabe von Medikamenten
oder einer Intubation) erhoben wird und dass alle bei der
Glasgow-Koma-Skala (s. Anhang, Skalen) Betreuung des Patienten Mitwirkenden imstande sind, sie
Die Glasgow-Koma-Skala (besser: Glasgow-Reaktionsskala) unmissverständlich anzuwenden.
dient zur Einschätzung der Schwere eines Schädel-Hirn- Ebenso ist es falsch, die Schwere eines Kopftraumas allein
Traumas und ist in die Definitionen von leichtem, mittel- nach den Beschwerden des Patienten einzuschätzen. Diese
schwerem und schwerem SHT eingebracht. sind in erheblichem Maße von der psychischen Situation, von
Sie ist nicht in jeder Hinsicht befriedigend: Die Punkt- Befürchtungen, Erwartungen, dem biographischen Stellenwert
werte für ein leichtes SHT, bei dem ja kein Koma vorliegt, des Traumas als Ereignis und ähnlichen Faktoren abhängig. Ein
sind die Werte von Gesunden. Andererseits ist die Skala bei Blick in das Notarztprotokoll oder die polizeilichen Dokumen-
intubierten und beatmeten Patienten nicht problemlos tationen kann solche Diskrepanzen aufklären.
anwendbar. Wer in jedem der 3 Teilaspekte den niedrigsten
592 Kapitel 26 · Schädel- und Hirntraumen

Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie des leichten SHT*


4 Die Basisdiagnostik bei einem leichten SHT besteht aus 4 Bei Nachweis von Zusatzverletzungen/Auftreten von
neurologischem und allgemein-körperlichem Status, bildge- Komplikationen ist abhängig von Unfallmechanismus und
bender Abklärung (im Wesentlichen natives Schädel-CT mit Begleitschädigung eine additive fachspezifische Therapie
Knochenfenster und, wenn verfügbar, HWS-Rekonstruktion) (Neurochirurgie, Unfallchirurgie, Orthopädie) erforderlich (A).
sowie laborchemischen Untersuchungen (insbesondere 4 Risikopatienten sind in der Akutphase zum Ausschluss
Blutbild und Gerinnungsparameter) (A). möglicher, teils subakut auftretender Traumafolgen stationär
4 Im Einzelfall ist eine weiterführende Abklärung unter zu beobachten (A).
26 Berücksichtigung von Anamnese und Symptomkonstellation 4 Eine Chronifizierung des posttraumatischen Syndroms ist
erforderlich (EEG, Schädel-MRT, Neurosonologie, Neurophysi- zu vermeiden, hervorzuheben ist hier der Stellenwert einer
ologie, HNO, Ophthalmologie, Kieferchirurgie) (A). frühzeitigen Patienteninformation und -aufklärung (A).
4 Die Behandlung des akuten posttraumatischen Syn-
droms (Kopfschmerz, Nackenschmerz, vegetatives Syndrom)
erfolgt multimodal (medikamentös, Physiotherapie, physika- * modifiziert nach Empfehlungen der DGN, 2008
lische Therapie, Entspannungstechniken) (B). (www.dgn.org/leitlinien.html)

26.2.2 Mittelschweres und schweres SHT Pupillomotorik und Hirnstammzeichen müssen geprüft und
bei Atemstillstand oder Aspirationsgefahr sofort intubiert und
3Definitionen und Epidemiologie. Ein mittelschweres beatmet werden. Ergänzt wird die allgemeine körperliche Un-
SHT liegt vor, wenn der GCS-Score zwischen 9 bis 12 liegt. tersuchung mit dem Ausschluss zusätzlicher Verletzungen
Neurologische Herdsymptome sind hierbei möglich. Eine Ver- (z.B. Wirbelsäulentrauma, Polytrauma).
schlechterung in Richtung eines schweren SHT ist immer Zur Intubation sind Etomidat (0,2–0,3 mg/kg i.v.), Propo-
möglich. fol (1–2,5 mg/kg i.v.), Midazolam (0,15–0,35 mg/kg i.v.) oder
Ein schweres SHT liegt vor, wenn der initiale GCS Score Ketamin (0,5–1 mg/kg i.v.) wegen der kurzen Halbwertzeit zu
8–3 beträgt bzw. die posttraumatische Bewusstseinsstörung bevorzugen. Analgetika und Morphine sollten zunächst nicht
länger als 24 h andauert und/oder es zum Auftreten von eingesetzt werden. In der Regel sind zur Intubation keine Mus-
Hirnstammzeichen kommt. kelrelaxantien notwendig.
Die Inzidenz des schweren SHT wird in Deutschland auf Hypotension mit systolischen Blutdruckwerten <90 mmHg,
ca. 15 bis 20 Patienten pro 100000 Einwohner pro Jahr ge- muss mit adäquater Volumentherapie verhindert werden. Da-
schätzt. Hiervon versterben etwa 30% noch am Unfallort oder bei ist die Gabe von isotonen oder hypertonen kristalloiden
in den ersten Stunden nach dem Unfall. oder kombiniert kristalloidkolloidalen Lösungen (z.B. Hyper-
Ursachen sind in Friedenszeiten in erster Linie Verkehrs- Hes) gleichwertig. Vasopressoren können erforderlich wer-
unfälle und schwere Arbeitsunfälle. Schussverletzungen und den. Details siehe Lehrbücher der Intensivmedizin.
Schlägereien mit stumpfen Waffen spielen in manchen Län- Bei initialen Einklemmungszeichen (Anisokorie, Streck-
dern eine nicht geringe Rolle. Isolierte Verletzungen (Motor- synergismen und Cushing-Reflex) in der Prähospitalphase ist
rad-, Reit -und Fahrradunfälle) und Schussverletzungen halten nach Intubation eine moderate Hyperventilation und die ra-
sich bei den schweren SHT die Waage mit Polytraumen unter sche Gabe von 250 ml Mannitol 20% bzw. 30 ml NaCl 23,4%
Mitbeteiligung des ZNS (schwere Autounfälle, Motorradun- indiziert .
fälle, Sturzverletzungen, Suicide). Patienten mit einem schweren SHT und/oder primär of-
fenen SHT sind unverzüglich in ein Krankenhaus mit perma-
3Symptome. Die klinischen Zeichen des mittelschweren nentem CT-Betrieb, Intensivstation und 24-stündiger neuro-
und schweren SHT sind: chirurgischer Operationsbereitschaft zu transportieren.
4 posttraumatische Bewusstseinsstörung länger als 1 h,
4 zerebrale Herdsymptome (z.B. Lähmung, epileptischer 3Diagnostik. Bildgebende Diagnostik mit CCT oder
Anfall) und Ganzkörper-CT bei Verdacht auf Polytrauma.
4 traumatische Psychose. 4 Im CT findet man bei Hemisphärenkontusion im typi-
schen Falle rindennahe gelegene oder tief ins Marklager
reichende hypodense, nicht gefäßabhängige Läsionen, in die
3Diagnostik. Prähospitalphase: Am Unfallort muss der sehr unterschiedlich große, blutisodense Bezirke eingestreut
neurologische Zustand des Patienten mit der GCS dokumen- sind, die auch zu großen Blutungen konfluieren. Frontobasale
tiert werden. Der GCS-Score definiert den Schweregrad des und temporolaterale Hirnanteile sind am häufigsten betroffen
SHT: (. Abb. 26.1).
4 Leichtes SHT: GCS 15–13 4 CT-Verlaufskontrollen können auch in kurzfristigem
4 Mittelschweres SHT: GCS 12–9 Abstand sinnvoll sein. Dank der gut organisierten Rettungs-
4 Schweres SHT: GCS 8–3 dienste und der Notarzt/Helikoptertransporte gelangen viele
26.2 · Hirntraumen
593 26
Exkurs
Globale traumatische Hirnschwellung
Besonders im Kindesalter werden auch ohne im CT nach- des Marklagers. Die Diagnose muss zunächst klinisch gestellt
weisbare Kontusionsherde sehr rasch entstehende globale, werden. Zur Behandlung gibt man Osmodiuretika über eine
traumatische Hirnschwellungen beobachtet, die durch Ein- variable Dauer. Induzierte Hypothermie kann sinnvoll sein. Oft
klemmung des Hirnstamms sehr schnell zum Tode führen wird die Diagnose erst nachträglich nach Normalisierung des
können. Im CT sieht man meist nur sehr schmale Seitenvent- Hirnvolumens im Computertomogramm bestätigt.
rikel und verlegte Zisternen, selten eine Dichteminderung

4 Weitere Kontrollen sind nach klinischem Verlauf, be-


sonders bei extra- oder intraduralen raumfordernden Häma-
tomen und raumfordernden Kontusionen sowie bei Vorliegen
eines Hirnödems und bei Anstieg des ICP nötig.
4 Ohne Blutung erkennt man kleine bis mittelgroße Kontusi-
onen erst nach 24–48 h im CT. Große Läsionen führen zudem
zu einer Massenverlagerung, die ebenfalls computertomo-
graphisch darstellbar ist. Defektzustände entsprechen nicht
Gefäßterritorien. CT-Beispiele geben die . Abb. 26.1 und 26.2.
4 Hirnstammkontusionen werden im Computertomogramm
selten, im MRT meist zuverlässig, auch noch nach langer Zeit
nachgewiesen.
4 Die MRT kann darüber hinaus diffuse axonalen Verlet-
zungen und Verletzungen im Hirnstamm nachweisen, die auf
Beschleunigungsschertraumen zurückzuführen sind und die
. Abb. 26.1. Traumatische Substanzschädigung des Gehirns. CT Ursache für länger andauernde Bewusstlosigkeit sein können
auf temporalem Niveau. Frische intrazerebrale Kontusionsblutung. (. Abb. 26.3). Sie ist weiterhin indiziert, wenn die CT trotz
Rechts temporal gelegene, irregulär begrenzte, blutisodense Formati- bleibender Bewusstlosigkeit auch in der Kontrolluntersuchung
on, die von einem perifokalen, hypodensen Randsaum umgeben ist keine pathologischen Befunde zeigt.
4 Die MR-Angiographie ist indiziert, wenn der Verdacht
auf eine Dissektion der Halsarterien oder eine Sinus caver-
Patienten mit mittelschwerem oder schwerem SHT sehr früh nosus-Fistel besteht. Bei ausgedehnten traumatischen Suba-
in die Klinik. Oft ist das initiale CT noch normal oder zeigt erst rachnoidalblutungen können Vasospasmen entstehen, die mit
sehr kleine intrazerebrale Blutungen an typischer Stelle. Hier- Dopplersonographie oder MRA/CTA dokumentiert werden
zu kontrastiert der klinische Befund. Wenn das CT wenige können.
Stunden später kontrolliert wird, sieht man dann die massive 4 Das EEG ist im akuten Stadium verlangsamt und kann
Ausweitung und Vergrößerung der Läsionen, die jetzt auch einen Herdbefund zeigen. Innerhalb von wenigen Wochen be-
raumfordernd wirken und schon viel besser mit dem klinischen schleunigt sich der Grundrhythmus wieder, und der Herdbe-
Bild korreliert. Bei allen Patienten, bei denen das initiale CT fund bildet sich zurück. Die EEG-Veränderungen normalisie-
innerhalb der ersten 1–3 h durchgeführt wurde, ist eine Kon- ren sich meist innerhalb von 6 Monaten. In 20% der Fälle sind
trolluntersuchung nach weiteren 3–6 h erforderlich. sie 1 Jahr, in 10% 2 Jahre nach dem Trauma noch nachweisbar.

. Abb. 26.2. Schädelfraktur und


traumatische SAB. a Multiple Kalot-
ten- und Schädelbasisfrakturen
(Pfeile) mit perimesenzephaler trau-
matischer SAB. b Traumatische SAB
über der linken Inselrinde, dazu
Subdurales Tentoriumhämatom
(Pfeil)

a b
594 Kapitel 26 · Schädel- und Hirntraumen

gerung der Extremitäten auch auf periphere Lähmungen


achten.

3Verlauf. Die Rückbildung der initialen Symptomatik er-


folgt beim Hirntrauma mit Kontusionssyndrom meist verzö-
gert. Die Beschwerden sind schwerer und länger dauernd.
Neurologische Ausfälle, wie Hemiparese, Sensibilitätsstörun-
gen, Aphasie u.a. können für Wochen und Monate oder sogar
dauernd bestehen bleiben. Viele Kranke haben vorübergehend
26 Fusionsstörungen oder eine Ermüdbarkeit bei längerem, an-
gestrengten Sehen (kortikale Asthenopie).
Nicht selten entwickelt sich bei schwerem Hirntrauma
nach dem Erwachen aus der initialen Bewusstlosigkeit eine
traumatische Psychose. Interessanterweise sind Psychosen
nach Schädigung der sprachdominanten Hemisphäre weit
häufiger als nach Läsion der nichtdominanten.
Im Verlauf lassen sich drei Stadien unterscheiden:
4 initiales Koma,
4 delirantes Syndrom und
4 Korsakow-Syndrom.

. Abb. 26.3. Scherverletzungen. Ausgedehnte kontusionelle Läsio- Das delirante Syndrom ist durch eine oft fluktuierende Be-
nen und Scherverletzungen (Pfeile) subkortikal bei scherem SHT wusstseinstrübung und Desorientiertheit, psychomotorische
Unruhe, ängstliche Erregung, Neigung zu illusionärer Verken-
nung der Umgebung und gelegentlich auch halluzinatorische
Nur selten bleiben sie dauernd bestehen. Das EEG ist für die Trugwahrnehmungen gekennzeichnet. Dieses Stadium kann
Therapieüberwachung und -steuerung bei Barbituratnarkose Stunden, Tage und selbst Wochen andauern. Es macht die Zu-
und für den Nachweis eines nicht-konvulsiven Status epilep- ziehung eines Neurologen oder Psychiaters und, wenn mög-
ticus wichtig. lich, die Verlegung auf eine geschlossene Abteilung oder Inten-
4 Die Untersuchung der somatosensibel (SEP), weniger der sivstation erforderlich.
motorisch evozierten Potenziale (MEP) kann zur Prognose- Klingt das akute, traumatische Delir ab, schließt sich oft
stellung eingesetzt werden. das traumatische Korsakow-Syndrom an, bei dem der Patient
4 Laborchemische Untersuchungen: Blutbild, Gerinnungs- bewusstseinsklar, aber wechselnd desorientiert ist und eine
status, Blutglukose und Elektrolyte. Störung der Merkfähigkeit hat. Im Gegensatz zum alkoholi-
schen Korsakow ist die Suggestibilität der Kranken in der Regel
3Komplikationen. Oft treten erschwerend extrazerebrale, nicht auffällig gesteigert, auch ist die Stimmungslage häufiger
intrakranielle Blutungskomplikationen hinzu. Epi- und sub- indifferent-apathisch oder moros-dysphorisch. Je nach der
durale Hämatome müssen oft operiert werden, traumatische Schwere des Traumas und dem Lebensalter des Verletzten
SABs verlangen eine vergleichbare intensivmedizinische Be- mündet die Kontusionspsychose nach Tagen oder Wochen in
handlung wie die spontane SAB. einem psychopathologischen Defektzustand, wie er unten be-
Nach schweren Verkehrsunfällen muss man mit Viel- schrieben ist.
fachverletzungen (Polytraumen) rechnen (zusätzlich zum
> Der Begriff »Durchgangssyndrom« ist eine unanschau-
Hirntrauma: Zerreißungen innerer Organe, innere Blutun-
liche Leerformel, mit der in der Praxis auch Defekt-
gen, Pneumothorax, Frakturen mit Verletzungen peripherer
zustände belegt werden. Er sollte vermieden werden.
Nerven). Im Initialstadium soll man deshalb häufig das Ab-
domen sonographisch kontrollieren, nach Möglichkeit einen Hirnstammkontusion. Eine schwere, primäre, traumatische
Unfallchirurgen und Anästhesisten hinzuziehen und bei La- Hirnstammschädigung wird oft nicht überlebt. Sie entsteht

Exkurs
Monitoring des intrakraniellen Drucks
Die Indikation zur Anlage einer ICP1-Sonde bei Patienten ist denzen oder Pupillenabnomalitäten beobachtet wurden. Eine
mit einem schweren SHT gegeben, wenn ein intrakranielles intraventrikuläre ICP-Sonde hat den Vorteil, über Ablassen von
Hämatom oder ein Hirnödem mit komprimierten basalen Liquor zumindest kurzfristig den ICP zu senken. Heute wird
Zisternen im CT gefunden wurde. Die Anlage einer ICP- dennoch meist eine intraparenchymale Druckmessung durch-
Sonde bei Patienten mit einem schweren SHT ist auch bei geführt.
wenig eindrucksvollen CT-Veränderungen indiziert, wenn
zumindest uni- oder bilaterale Beuge- und/oder Streckten- 1 ICP = Intracerebral pressure
26.2 · Hirntraumen
595 26
Facharzt
Intensivmedizinische Aspekte bei schwerem SHT
Allgemeine Intensivtherapie. Patienten mit mittelschwe- 4 Adrenalin (z.B. Suprarenin®) 0,01–0,4 μg/kg/min
rem und schwerem SHT müssen auf Intensivstationen be- 4 Dobutamin 2–10 μg/kg/min
handelt und überwacht werden. Verschlechterungen mit 4 Noradrenalin (Arterenol®) 0,05–0,3 μg/kg/min
sekundärer Einklemmung und Beatmungspflichtigkeit bei 4 Phenylephrin (z.B. Neosynephrine®) 1–10 μg/kg/min und
initialem leichten und mittelschweren Traumen sind auch 4 Vasopressin (z.B. Pitressin®) 0,01–0,04 I.E./min
ohne extrazerebrale, intrakranielle Blutungen möglich. Die
Aufnahme auf eine neurologisch-neurochirurgische Intensiv- Eine routinemäßige CPP-Steuerung auf Werte über >70 mmHg
station mit Möglichkeiten zur Beatmung, invasivem hämo- ist nicht sinnvoll, da bei Patienten mit gestörter Autoregulati-
dynamischen Monitoring (PiCCO-System) und Monitoring on der neurologische Status negativ beeinflusst werden kann.
des intrakraniellen Drucks (ICP-Sonde) ist erforderlich. Das Monitoring der zerebralen Autoregulationskapazität
könnte eine individuelle Therapieoptimierung ermöglichen.
Beatmungstherapie. Die Patienten werden alle kontrolliert Neben der MAP-Steuerung kommt auch der ICP-Senkung
beatmet und analgosediert. Die Beatmung folgt beim isolier- bei der Erreichung eines adäquaten CPP eine wichtige Rolle zu.
ten SHT den üblichen intensivmedizinischen Voraussetzungen. Wichtig ist, das alle diese Maßnahmen nur eine kurzfristige Kon-
Anders ist die Situation bei Polytraumen mit Lungenkontu- trolle des ICP erlauben, und sich in ihrer Wirkung erschöpfen.
sion. Eine frühe Tracheotomie (in der ersten Woche) ist bei Die lange propagierte Oberkörperhochlagerung um
jüngeren Patienten und schwerem SHT sinnvoll. Die Beat- 30–35° ist nicht belegt, allerdings ist eine länger andauernde
mungsdauer wird hierunter verkürzt, die sekundäre Pneumo- Tieflagerung und eine andersartige Behinderung des venösen
nierate allerdings nicht gesenkt. Entgegen früherer Meinung Ausflusses aus dem Schädelinneren zu vermeiden.
stellt ein schweres SHT bei Oxygenierungsproblemen keine Wenn eine Ventikeldrainage platziert ist, kann durch
Kontraindikation gegen eine moderate PEEP-Beatmung intermittierendes Ablassen von Liquor eine kurzdauernde
(10–14 mbar) dar, solange ICP und CPP kontinuierlich über- Senkung des Hirndrucks erreicht werden.
wacht und gesteuert werden.
Osmotherapie. Mannitol 20% 0,25–1 g/kg i.v., die wiederholte
Temperaturmanagement. Fieber verstärkt die zerebralen Applikation alle 4–6 h ist möglich (Serumosmolarität über-
Schäden und muss konsequent behandelt werden. Neben wachen, sollte 320 mosmol/l nicht übersteigen). Die Dauerbe-
physikalischen Methoden können folgende Antipyretika handlung mit Glycerol hat keine positiven Effekte auf das
eingesetzt werden: Outcome. Hypertone Kochsalzlösungen: Bolusinjektion (über
4 Paracetamol 1 g i.v. bis zu 4-mal täglich 2 min) von 30 ml NaCl 23,4% oder Hyper-HAES, was gleichzei-
4 Metamizol 1 g i.v. bis zu 4-mal täglich tig auch über einen Volumeneffekt auf den MAP wirkt.
4 Pethidin 50–100 mg i.v. bis zu 3-mal täglich Die moderate Hyperventilation mit Ziel PaCO2 von 30–
35 mmHg wird immer wieder empfohlen, eine Studienbeleg
Die prophylaktische und therapeutische Hypothermie nach für einen positiven Effekt auf das Outcome gibt es nicht. Dies
einem schweren SHT ist trotz guter experimenteller Daten in gilt auch für die manchmal empfohlene kurzfristige forcierte
klinischen Studien gescheitert. Man kann sie als verzweifelte Hyperventilation (PaCO2 < 30 mmHg), bei der es durch die
letzte Rettung bei ansonsten therapieresistenten Hirndruck- resultierende Vasokonstriktion zu einer zerebralen Minderper-
krisen diskutieren. fusion kommen kann.

Ernährung. Patienten nach schweren SHT haben schon Barbituratkoma. Thiopental (Bolusinjektion von 10 mg/kg,
initial einen sehr hohen Kalorienbedarf. Die frühe enterale danach kontinuierlichen Infusion mit 3–5 mg/kg/h). Das Barbi-
Ernährung sollte etwa 1/3 über dem Grundumsatz liegen, turatkoma soll mit EEG-Überwachung gesteuert werde, das
allerdings sollen Hyperglykämien vermieden werden. immer genannte »burst-surpression-Muster«, das die optimale
Komatiefe zeigen soll, wird im Alltag nicht regelmäßig erreicht.
Therapie des erhöhten intrazerebraler Drucks Nebenwirkungen des Barbituratkomas sind die nicht er-
(intracerebral pressure, ICP) wünschte arterielle Hypotension und ein erhöhtes Sepsisrisiko.
Ein durch den ICP mitbestimmter, wichtiger Zielparameter ist Auch das Barbituratkoma ist nicht durch klinische Studien als
der zerebrale Perfusionsdruck (cerebral perfusion pressure, mortalitätssenkend oder outcome-verbessernd bewiesen.
CPP). Der CPP errechnet sich aus der Differenz aus arteriellem Wie beim malignen Mediainfarkt wird besonders bei ein-
Mitteldruck und intrakraniellem Druck (CPP = MAP – ICP). Ziel seitigen Läsionen die dekompressive Kraniotomie mit Dura-
der ICP-Behandlung ist es, sehr hohe ICP-Werte (über 20 erweiterungsplastik diskutiert. Diese Methode wird zur Zeit in
mmHg ) und zu niedrige CPP-Werte (<50 mmHg) zu vermei- zwei prospektiven Studien (RESCUEicp, DECRAN) getestet.
den. Ein CCP von 50–70 (80) mmHg sollte angestrebt werden. Auf die Rolle der Hypothermie (33°C über mehrere Tage)
Neben gezielter Volumentherapie werden Vasopressoren wurde schon beim Temperaturmanagement hingewiesen. Eine
zur Blutdrucksteigerung angewandt. Folgende Vasopres- ICP-Senkung kann gemessen werden, aber die klinischen
soren finden, manchmal in Kombination, Anwendung: Studien zur Hypothermie beim SHT waren nicht erfolgreich.
596 Kapitel 26 · Schädel- und Hirntraumen

Facharzt
Pathophysiologie der Hirnkontusion
Die traumatische Substanzschädigung des Gehirns wird oft delinnenwand und Gehirn ein, so dass subdurale Hämatome
als »Gehirnquetschung« bezeichnet. Pathophysiologisch (durch Einriss von Brückenvenen), Subarachnoidalblutungen
spielt aber die direkte, mechanische Substanzschädigung und auch Gefäßeinrisse in den äußeren Schichten der Hirnrin-
des Gehirns durch den Aufprall der stumpfen Gewalt nur de entstehen.
eine untergeordnete Rolle. Experimentell ist nachgewiesen
worden, dass der traumatischen Substanzschädigung des Pathologie
26 Gehirns einer von vier im folgenden geschilderten Mechanis- Pathologisch-anatomisch findet man neben den primären,
men zugrunde liegt. mechanisch bedingten Läsionen auch sekundäre, reaktive
Gewebsschädigungen in Form von Diapedesisblutungen,
3Beschleunigungs- oder Verzögerungstrauma nach Ödem, Parenchymnekrosen und anderen Gewebsalterationen.
breitflächig auf den Schädel einwirkender Gewalt. Während Anämische und hämorrhagische Nekrosen sind an vielen
die Knochenschale des Kopfes in der Stoßrichtung beschleu- Stellen des Gehirns lokalisiert. Prädilektionsorte sind: Hirnrin-
nigt oder durch den Aufprall plötzlich gebremst wird, bleibt de, Balken, Basalganglien, Hirnstamm und Kleinhirn.
das Gehirn durch seine Massenträgheit zurück. Es drängt Die sekundären Gewebsschäden werden auf arterielle und
sich am Stoßpol zusammen: Hier entsteht ein momentaner venöse Zirkulationsstörungen zurückgeführt. Da die Läsionen
Überdruck. An der gegenüberliegenden Seite entfernt es ein unterschiedliches Entstehungsalter haben, darf man fol-
sich kurz von der Schädelinnenwand: Es entsteht ein kurz gern, dass die Zirkulationsstörungen nach einem Hirntrauma
dauernder Unterdruck. Das durchblutete Gehirn lässt sich für eine eng begrenzte Zeit protrahiert auftreten. Hierzu trägt
physikalisch als eine Flüssigkeit auffassen, in der sich Gas intrazerebral das Ödem (s.u.) bei. Das traumatische Ödem
befindet. Beim Auftreten eines Sogs reißt die Flüssigkeit bildet sich vor allem im Marklager aus.
unter Bildung kleinster Gasblasen auf. Diese Gasbläschen Wichtige, extrazerebrale Faktoren sind: Herzleistung,
drängen beim Erreichen einer kritischen Größe des Unter- Systemblutdruck (z.B. bei Schock) und Sauerstoffsättigung des
drucks das Gewebe auseinander und sprengen die feinen Blutes (mechanisch oder zentral behinderte Atmung).
Kapillaren. Auf diese Weise entstehen Substanzschäden, Nach neuen Untersuchungen sind etwa 80% der Hirnlä-
die wir unkorrekt mit dem eingebürgerten Namen Rinden- sionen nach schweren Traumen ischämisch bedingt. In den
prellungsherde (coup und contre coup) bezeichnen. ersten Stunden nach dem Trauma ist der zerebrale Blutfluss
Akuter Unterdruck ist auch die Ursache von Hirnstamm- massiv reduziert. Mikrodialysedaten zeigen in dieser Phase
läsionen und periventrikulären Scherverletzungen. Bei sagit- einen starken Anstieg des exzitatorischen Transmitters Gluta-
tal angreifender Gewalt liegt die Stoßrichtung im großen mat (7 Kap. 5).
Schädeldurchmesser. Dabei wird die Schädelhöhle defor-
miert, die bitemporale Achse vergrößert sich. Die Ventrikel Pathophysiologie des traumatischen Hirnödems
werden dadurch in seitlicher Richtung ausgeweitet, ihr Diese ist noch nicht genau bekannt. Es gibt jedoch viele Hin-
Rauminhalt wird vergrößert. Während der kurzen Stoßzeit weise darauf, dass es sich hierbei vornehmlich um einen zyto-
kann jedoch nicht genügend Liquor in die Gehirnkammern toxischen und weniger um einen vasogenen Mechanismus
nachfließen. Es resultiert ein Unterdruck im Ventrikelsystem, handelt. Hieraus erklärt sich auch, dass Kortikosteroide bei
der sich auf die ventrikelnahen Venen als tangentialer Zug traumatischem Ödem wirkungslos und deshalb nicht indiziert
auswirkt, so dass sie einreißen. Hauptsitz dieser primär trau- sind. Das Ödem komprimiert das Hirngewebe (s. . Abb. 26.2)
matischen Blutungen sind ventrikelnahe Balkenanteile, die und führt so zur Hypoxie infolge Mangeldurchblutung. Da-
Umgebung der Seitenventrikel und der obere Hirnstamm. durch aber wird die Ödemproduktion weiter angeregt, so
dass sich ein Circulus vitiosus schließt.
3Umschriebener Stoß gegen den Schädel: Hierbei bleibt Nach etwa 6 Wochen ist ein morphologischer Defektzu-
der Kopf in Ruhe, die Gewalt drückt an der Stoßstelle den stand eingetreten. Das generalisierte Hirnödem führt oft zu
Knochen ein. Der Knochen kehrt aber rasch wieder in seine einem ausgedehnten Markschwund, der sich im Computerto-
Ausgangsposition zurück. Dabei bildet sich an dieser Stelle mogramm als Hydrocephalus internus und Vergröberung vor
ein Unterdruck aus, der auf die oben geschilderte Weise zur allem der frontalen Rindenfurchen darstellt. Umgekehrt darf
umschriebenen Hirnrindenschädigung führt. man aber aus einer Erweiterung der inneren oder äußeren
Liquorräume ohne harte Kriterien einer traumatischen Subs-
3Rotationstrauma: Wird der Schädel in eine Drehbewe- tanzschädigung nicht auf die Schwere eines vorangegan-
gung versetzt, kann das Gehirn durch seine Massenträgheit genen Hirntraumas schließen, weil solche morphologischen
dieser Bewegung nicht rasch folgen. Durch Zug- und Scher- Veränderungen unspezifisch sind und selbst angeboren oder
kräfte reißen die verbindenden Blutgefäße zwischen Schä- frühkindlich erworben sein können.
26.2 · Hirntraumen
597 26
dadurch, dass Nervenfasern und kleine Blutgefäße Scherungs- noidalblutung notwendig werden, den intrakraniellen Druck
verletzungen erleiden, mit der Folge von Infarkten und Blu- kontinuierlich zu messen (sog. ICP-Monitoring).
tungen in der Haube von Mittelhirn und Brücke. Meist liegen 5 Grundsätzlich ist die Anlage einer Ventrikelsonde wün-
gleichzeitig ausgedehnte Großhirn- und Kleinhirnkontusi- schenswert, da hiermit neben der Möglichkeit einer Druck-
onen vor. messung gleichzeitig die einer Liquordrainage, so diese er-
Viele Patienten sind sofort bewusstlos und erreichen meist forderlich wird, besteht. Allerdings ist häufig aufgrund des
das Wachbewusstsein nicht wieder. Sie sterben gewöhnlich in- Schwellungszustandes des traumatisierten Gehirns eine Son-
nerhalb der ersten 12 bis 24 Stunden. Neurologisch finden deneinlage in die Ventrikel nicht möglich, so dass alternativ
sich alle jene Symptome, die beim Dezerebrationssyndrom eine Messung im Hirnparenchyms erfolgt.
(7 Kap. 2.6) beschrieben sind. 5 Die Registrierung erleichtert die Beurteilung, ob die gege-
bene Behandlung wirksam ist oder nicht. Druckniveaus über
Sekundäre Hirnstammkompression. Eine sekundäre, trauma- 15 mmHg oder 20 mmHg kommen unter normalen Verhält-
tische Hirnstammschädigung entwickelt sich in der Folge eines nissen nicht vor. Wenn der intrakranielle Druck den arte-
sehr ausgedehnten Hemisphärenödems oder eines intrazere- riellen Mitteldruck übersteigt, tritt der Hirntod ein. Die Indi-
bralen oder extrazerebralen Hämatoms (s.u.). Oft sind die Pa- kation für eine intrakranielle Druckmessung ist bei jedem
tienten schon vorher sediert und beatmet, so dass die klinische Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma und patholo-
Untersuchung erschwert ist. Pupillenstörungen (oft wird die gischem CCT-Befund gegeben.
ipsilaterale Pupille zuerst weit, Erklärung 7 Kap. 11.2), Ausfall 5 Das pathophysiologisch relevante und damit vordringliche
der Schutzreflexe und Streck- und Beugeautomatismen sind Ziel bei der Behandlung eines erhöhten intrakraniellen Drucks
bei leichter Sedierung aber zu erfassen. ist die Aufrechterhaltung eines zerebralen Perfusionsdrucks
Eine Hirnstammläsion lässt sich heute auch durch Regis- (CPP; CPP = mittlerer arterieller Blutdruck – ICP) von min-
trierung der somatosensibel evozierten Potentiale und der aku- destens 50–70 mmHg. Hierzu kommt eine Volumenexpansion
stischen Hirnstammpotentiale erfassen. Diese Untersuchungen und gegebenenfalls zusätzlich eine vasopressorische Medika-
geben auch im Frühstadium nach einem Trauma Anhalts- tion mit Katecholaminen zum Einsatz.
punkte für die Prognose einer Hirnstammläsion.
3Prognose. Das Outcome von Patienten mit einem schwe-
3Therapie ren SHT wird von Faktoren wie Alter, initialem GCS-Score,
4 Alle Patienten mit einem GCS-Score von 8 oder weniger maximalem ICP, Begleitverletzungen und Komplikationen
werden intubiert und beatmet, sofern dies ohne zusätzliche während der Intensivtherapie bestimmt. Die Prognose des
Gefährdung möglich ist. schweren SHT ist weiterhin schlecht: Immer noch sterben etwa
4 Bei Werten über 8 und zusätzlichen Verletzungen, die die 1/3 der Patienten, die die Klinik erreichen, dazu kommen
Atmung gefährden können, sind Intubation und Beatmung noch die, deren Verletzungen so katastrophal sind, dass sie
ebenfalls indiziert. am Unfallort versterben. Wenn Streckkrämpfe auftreten, be-
4 Die Intubation erfolgt orotracheal in leichter Reklination trägt die durchschnittliche Letalität 50%. Die Prognose ist fer-
des Kopfes, der durch einen Helfer fixiert wird. Anteflektion ner schlecht, wenn beiderseits reaktionslose, weite Pupillen
oder Seitwärtsdrehung sind zu vermeiden, da man bei 10% der länger als 4 h bestehen. Die Überlebensrate bei länger dau-
Verletzten mit einer begleitenden Wirbelsäulenverletzung erndem Koma nimmt in Abhängigkeit vom Lebensalter rasch
rechnen muss. Die HWS muss deshalb immobilisiert werden. ab: Für 15-Jährige liegt die Grenze bei 20 Tagen Bewusstlosig-
Nicht intubationspflichtige Patienten erhalten O2. Die Sauer- keit; 40-Jährige überleben gewöhnlich eine 12-tägige Bewusst-
stoffsättigung soll mindestens 95% betragen. losigkeit nicht. Bei 50- bis 60-Jährigen ist die Überlebensprog-
4 Eine sekundäre Hirnschädigung kann auch durch arteriel- nose nach 7 Tagen und bei über 60-Jährigen nach 5 Tagen
le Hypotonie zustande kommen. Man schätzt, dass 15–20% der schlecht.
Patienten mit einem akuten Hirntrauma eine Hypoxämie und Jeder 7. Unfalltote, der am Unfallort oder auf dem Trans-
10–15% eine Hypotonie haben. port stirbt, geht an Erstickung zugrunde. In einer beträcht-
4 Bei schwerem und mittelschwerem Hirntrauma werden lichen Anzahl von Fällen ist die Aspiration von Blut oder Spei-
zwei venöse Zugänge gelegt. Der mittlere, arterielle Blutdruck seresten eine wesentliche Mitursache des Todes. Mechanische
soll 90 mmHg betragen. Arterielle Hypertonie beruht meist Atemstörungen beeinträchtigen über die Hypoxämie auch die
auf unzureichender Analgesie bzw. Sedierung. Volumenthera- O2-Versorgung des Gehirns und verschlechtern dadurch die
pie, Analgesie und Sedierung werden nach den Regeln der primär traumatische, zerebrale Schädigung.
Intensivtherapie ausgeführt, Anamnese, Befunde und Maß- Wird eine Hirnstammkontusion überlebt, behalten die Pa-
nahmen werden – unter Angabe von Zeitpunkt und Beteiligten tienten schwere Ausfallssymptome zurück, wie Dysarthropho-
– auf Formblättern dokumentiert. nie, okulomotorische und Pupillenstörungen, Ataxie und Tre-
4 Die weitere Behandlung richtet sich in erster Linie gegen mor. Etwa 10% überleben in einen schweren Defektzustand,
die Folgen der sekundären, gefäßbedingten Gehirnverände- dem permanenten vegetativen Zustand (state, PVS) oder im
rungen nach den Regeln der Intensivmedizin (siehe Facharzt- apallischen Syndrom.
Box). Die Prognose verschlechtert sich mit steigendem Lebens-
4 Zur Kontrolle des intrakraniellen Drucks kann es nach alter und zunehmender Dauer der Bewusstlosigkeit. Ein ent-
Kopftraumen, aber auch bei Enzephalitis oder nach Subarach- scheidender Faktor ist die Dauer der Rehabilitationsbehand-
598 Kapitel 26 · Schädel- und Hirntraumen

Exkurs
Wieviel Hoffnung ist beim apallischen Syndrom berechtigt?
Die immer wieder genannten Einzelfälle, bei denen es nach oder Beweise für bewusste Vorgänge in der funktionellen
Monaten und Jahren im PVS zu dramatischen Verbesse- Bildgebung beschreiben. Wieder sind es Einzelfälle, die nicht
rungen gekommen ist, sind leider selten und mehr Ausdruck selten auf einer Fehldiagnose des PVS beruhen, auch wenn sie
nicht enden wollender Hoffnung der Angehörigen. Auch hochrangig wie z.B. im vergangenen Jahr in Science publiziert
sind Zweifel an Berichten angeraten, die kognitive Potentiale wurden.

26 lung, die mit den üblichen 4–6 Wochen viel zu kurz bemessen Persönlichkeit mit Verlust individueller Züge und Feinheiten
wird. äußert. Dabei sind die Betroffenen oft reizbar. Expansive (ma-
niforme) Zustände sind seltener. Es ist allerdings sehr schwer,
3Spätfolgen. Nach schwerer Substanzschädigung des hier psychoreaktive Verhaltensweisen von organisch bedingten
Gehirns kann eine körperliche oder psychische Dauerschä- zu differenzieren.
digung zurückbleiben, die bei entschädigungspflichtigen 4 Meist lässt sich auch ein Nachlassen der kognitiven Leis-
Unfällen zu berücksichtigen ist. Keineswegs hat aber jede Hirn- tungen feststellen, und zwar unterschiedlicher Leistungen bei
substanzschädigung eine andauernde, fassbare Funktions- Läsion unterschiedlicher Anteile der linken oder der rechten
störung und andauernde Beschwerden zur Folge. Trotz patho- Hemisphäre. Diese müssen mit standardisierten Methoden
logisch-anatomisch nachweisbarer Hirnläsion kann klinisch testpsychologisch festgestellt und detailliert beschrieben wer-
eine Restitutio ad integrum eintreten. Die Tatsache wird oft den. Die Diagnose »psychoorganisches Syndrom« verschleiert
durch den Wunsch des Verletzten nach Bestrafung des Schul- die tatsächlichen Befunde und sollte zugunsten einer differen-
digen und nach materieller Entschädigung überdeckt. Die zierten Analyse von Leistungseinbußen und verbliebenen Leis-
Begutachtung verlangt deshalb eine sorgfältige Analyse von tungsmöglichkeiten verlassen werden.
initialer Symptomatik, Verlauf, gegenwärtiger Symptomatik
und eine kritische Prüfung, ob geklagte Beschwerden plausi- Auch neurologische Herdsymptome können zurückbleiben.
bel sind. Die weit verbreitete Meinung, Hirntraumafolgen Sie sind gewöhnlich geringer ausgeprägt als die psychopatho-
seien beim alten Menschen generell schwerer und länger dau- logischen und kognitiven Veränderungen. Zur traumatischen
ernd als in jüngeren Jahren, ist bisher durch exakte Untersu- Epilepsie als Spätfolge 7 26.4.4.
chungen nicht gestützt worden, ausgenommen nach Hirn- Das Spätstadium einer traumatischen Substanzschädigung
stammkontusion mit tagelangem Koma. der Großhirnhemisphären lässt sich fast immer mit bildge-
Das Syndrom der neuropsychologischen Dauerschädi- benden Verfahren erfassen. Verwertbar für die Diagnose eines
gung nach Substanzschädigung des Gehirns ist durch folgende Zustandes nach traumatischer Substanzschädigung des Groß-
Erscheinungen charakterisiert: hirns ist v.a. der Nachweis eines oder mehrerer lokalisierter,
4 Erschwerte Umstellung und Schwierigkeiten der Bewälti- nicht gefäßabhängiger Defekte in der Substanz der Hemisphä-
gung von komplexen Situationen, die zur generellen Leistungs- re und/oder einer lokalen Ausweitung des Ventrikelsystems.
einbuße und geringeren Belastbarkeit führen.
4 Verhaltensänderung, die sich im Extremfall als Stumpfheit,
Antriebsarmut, affektive Nivellierung, Entdifferenzierung der

Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie des mittelschweren und schweren SHT*
4 Patienten mit einem schweren SHT sind nach ausrei- die Applikation von hyperosmolaren Substanzen wie z.B.
chender Analgosedierung und Relaxierung zu intubieren Mannitol (B) und die moderate Hyperventilation (PaCO2
und kontrolliert zu beatmen (A). 30–35 mmHg) (B).
4 Hypotension (systolischer Blutdruck < 90 mmHg) und 4 Bei therapierefraktärer intrakranieller Hypertension sind
Hypoxie (PaO2 < 60 mmHg bzw. SaO2 <90%) müssen ver- folgende Behandlungsversuche zulässig: forcierte Hyperventi-
mieden bzw. so rasch wie möglich therapiert werden (A). lation (PaCO2 < 30mmHg) (C), Hochdosis-Barbiturattherapie
4 Eine auf Aufrechterhaltung eines adäquaten CPP ausge- (C), dekompressive Entlastungskraniotomi (C), therapeutische
richtete Therapie ist nur unter Kenntnis des ICP möglich. Dies Hypothermie (C).
erfordert die Anlage einer ICP-Sonde (A). Ein CPP-Abfall auf 4 Die Anwendung von Kortikosteroiden und Magnesium-
Werte < 50 mmHg muss vermieden werden (A). Eine Bestim- salzen bei Patienten mit einem schweren SHT ist nach aktu-
mung des im Einzelfall »optimalen« CPP setzt die Kenntnis eller Datenlage nicht indiziert (A). Dies gilt auch für die pro-
von Hirndurchblutung, Sauerstoffversorgung und Sauerstoff- phylaktische Applikation von Antiepileptika zur Vermeidung
bedarf und/oder Hirnstoffwechsel voraus. Die Schwankungs- von posttraumatischen epileptischen Anfällen (B).
breite des Ziel-CPP wird mit 50–70 mmHg angegeben (C).
4 Bevorzugte Maßnahmen zur ICP-Kontrolle sind Liquor- * Modifiziert nach den Leitlinien der DGN 2008
drainage bei Vorhandensein einer Ventrikelsonde (B), (www.dgn.org/leitlinien.html)
26.2 · Hirntraumen
599 26
> Kognitive Folgen von Hirntraumen müssen neuropsy- letzungen und andere Verletzungen bei (versuchten) Tötungs-
chologisch mit standardisierten Verfahren erfasst delikten führen auch zu offenen Hirnverletzungen.
werden. Eindrucksurteile sind sehr unzuverlässig. Der Im Frühstadium besteht durch Infektion die Gefahr einer
Begriff der traumatischen Hirnleistungsschwäche Hirnphlegmone. Im weiteren Verlauf sind Spätabszesse und
sollte aufgegeben werden, weil er Eindrucksurteile die Entwicklung einer traumatischen Epilepsie zu befürchten.
und Vorurteile (was ist Hirnleistung?) widerspiegelt,
nicht jedoch nachprüfbare Feststellungen. 3Therapie. Eine offene Hirnverletzung liegt auch bei Schä-
delbasisbrüchen mit Durazerreißung vor. Der Verdacht ergibt
sich entweder aus der klinischen Untersuchung (massive äuße-
26.2.3 Offene Hirnverletzung re Verletzung, sichtbare Knochenfragmente, austretender
Liquor oder Hirngewebe) oder im Schädel-CT nachweisbare
Hier ist nicht nur die Schädeldecke, sondern, als entschei- intrakranielle Lufteinschlüsse.
dendes Kriterium, auch die Dura eröffnet. Diese Verletzungen Rhino- und/oder Otoliquorrhö können durch die Bestim-
sind in Kriegszeiten häufig, nach Unfällen seltener. Schussver- mung von beta-2-Transferrin im austretenden Nasen- und/

Exkurs
Traumatische Dezerebration
3Definition. Unter den Folgen von Hirntraumen nimmt drom oder im « Locked-in-Syndrom« (7 Kap. 2.6) und kommen
die traumatische Dezerebration klinisch und pathophysio- dann entweder mittelfristig ad exitum oder in einen Zustand
logisch eine Sonderstellung ein. Wie bereits im 7 Kap. 2 von chronischem geistigen und körperlichen Siechtum mit
besprochen, wird als Dezerebration ein neurologisches Pflegebedürftigkeit. Es werden aber auch Verläufe beobach-
Syndrom bezeichnet, bei dem durch Krankheitsprozesse tet, in denen sich das Dezerebrationssyndrom relativ rasch,
verschiedener Art eine funktionelle Trennung von Hirn- selbst schon nach einigen Tagen wieder zurückbildet.
mantel und Hirnstamm eingetreten ist. Man spricht deshalb Günstigere Verläufe werden besonders bei Jugendlichen
auch vom apallischen Syndrom (Pallium = Hirnmantel). beobachtet.
In der Rückbildungsphase lassen sich zunächst mehrere
3Pathogenese. Die Enthirnungsstarre kann unmittelbar Stadien der Wiederherstellung motorischer Leistungen unter-
nach einem Kopftrauma eintreten. Diese Fälle sind als primä- scheiden: automatische Wälz- und Laufbewegungen, reflek-
re Hirnstammkontusion einzuordnen. Die sekundäre Ent- torisches Gegenhalten, Greifen und Saugen, undifferenzierte
hirnungsstarre entwickelt sich mit wechselnder Latenz als Spontanbewegungen, wandernde Blickbewegungen und
Folge einer traumatischen, intrakraniellen Blutung oder einer schließlich optisches Fixieren.
schweren, bilateralen Schädigung des Marklagers. Während das Sprachverständnis wieder zurückkehrt, bleibt
lange Zeit ein traumatischer Mutismus bestehen, der auf
3Pathologie. Ausgedehntere, akute Zerstörungen in fehlender motorischer Kontrolle über die Kehlkopfmuskeln
Brücke und Mittelhirn werden nur wenige Stunden überlebt. beruht. Die Sprechfunktionen stellen sich dann über affektive
Meist liegen multiple, sekundäre Gewebsschäden in den Lautäußerungen und Flüstern wieder her.
Basalganglien, im limbischen System, auf verschiedenen Nicht selten zeigen die Kranken ein Fluktuieren zwischen
Ebenen des Hirnstamms und im Marklager der Hemisphären den einzelnen Restitutionsphasen, und bei interkurrenten
vor. Manchmal findet man lediglich kleine, petechiale Blu- Infekten kann die Entwicklung wieder rückläufig sein, so dass
tungen oder multiple, kleine Erweichungen in der Brücke erneut eine Dezerebrationshaltung und tiefere Bewusstseins-
und im Mittelhirn. Diese Läsionen werden durch die sum- trübung eintritt. Das in 7 Kap. 1.3.5 beschriebene »ocular
mierte Wirkung von Hirnödem und traumatischen Zirkula- bobbing« zeigt eine schlechte Prognose an.
tionsstörungen erklärt. Eine besondere Rolle spielen dabei
die orokaudale Verschiebung des Hirnstamms mit Zerrung 3Therapie. Die Behandlung entspricht in groben Zügen
seiner versorgenden Gefäße und die Herniation medioba- der bei allen schweren Hirntraumen mit länger dauernder
saler Teile des Temporallappens in den Tentoriumschlitz mit Bewusstlosigkeit. Die Streckkrämpfe werden nicht mit Phe-
Kompression des oberen Hirnstamms. Beides kommt durch nytoin, sondern durch Injektion von Clonazepam (Rivotril,
supratentiorelle Volumen- und damit Druckvermehrung 3- bis 4-mal 1–2 mg/Tag) behandelt.
zustande. Wie bei Hirntumoren, kann es auch zur Einklem-
mung der Kleinhirntonsillen in das Foramen occipitale Dissoziierter Hirntod
magnum mit Druck auf die Medulla oblongata kommen Er ist in 7 Kap. 2.17. detailliert besprochen. Nach Traumen
(7 Kap. 11.2.3). kommt er primär, d.h. nach massivster Zerstörung des gesam-
ten Gehirns, nach schwerster Hirnstammschädigung mit sofor-
3Symptomatik und Verlauf. Ein Teil der Patienten stirbt tigem Ausfall der Spontanatmung und sekundär durch
in den ersten Stunden und Tagen nach dem Trauma. An- Hirnstammausfall infolge der transtentoriellen, seltener auch
dere bleiben bis zu mehreren Monaten im apallischen Syn- der transforaminalen Herniation (7 Kap. 11.2.3) zustande.
600 Kapitel 26 · Schädel- und Hirntraumen

oder Ohrsekret gesichert werden. Da jede offene Hirnwunde


als infiziert angesehen werden muss, kann die Behandlung nur
chirurgisch sein: Ausräumen der Wunde und Verschluss der
Duralücke unter hohen Dosen von Antibiotika. Bei solchen
offenen Hirnverletzungen besteht ein hohes Infektionsrisiko,
daher wird eine intravenöse antibiotische Therapie mit einem
liquorgängigen Breitbandantibiotikum (z.B. Cefotaxim 2-mal
1–2 g i.v.) empfohlen. Zu Einzelheiten s. Lehrbücher der Trau-
matologie und der Neurochirurgie.
26
26.3 Traumatische intrakranielle
Hämatome

Wir unterscheiden epidurale, subdurale und intrazerebrale


Hämatome. Traumatische Hämatome treten nach etwa 10% . Abb. 26.4. Epidurales Hämatom. (Erläuterungen siehe Text)
aller Schädeltraumen auf. Zu allen Formen sind besonders
Alkoholkranke und Patienten die unter Antikoagulanzien-
behandlung stehen disponiert. Traumatische extrazerebrale, 3Diagnostik. Schnell und sicher ist das epidurale Hämatom
intrakranielle Hämatome können mit jeder Art des SHT, leicht im CT nachzuweisen. Meist stellt es sich als hyperdense, bikon-
bis schwer, kombiniert sein und deren Verlauf mit beeinflus- vexe (spindelförmige oder elipsoide), raumfordernde Läsion
sen. Sie können auch für sekundäre Verschlechterungen ver- unter der parietalen Schädelkalotte dar, die gegen das Hirn
antwortlich sein. Andererseits können chronisch subdurale (Dura) sehr scharf abgegrenzt ist (. Abb. 26.4). Die Dichte ist oft
Hämatome gefunden werden, ohne dass ein Trauma erinner- inhomogen (frisches neben bereits geronnenem Blut unter-
lich ist. schiedlicher Dichte). Lage, Größe und günstigster Trepana-
tionsort sind mit der CT schnell darzustellen. Dabei lassen sich
auch eventuell vorliegende Kontusionsherde des Gehirns nach-
26.3.1 Epidurales Hämatom weisen.
Die Ableitung eines EEGs bringt nur Zeitverzögerung.
3Pathologie. Das epidurale Hämatom ist eine arterielle,
extradurale Blutung im Frühstadium nach einem Kopftrauma. 3Therapie. Die einzig sinnvolle Therapie ist die Schädeltre-
Seine Ursache ist eine Zerreißung der A. meningea media oder panation mit Ablassen des Hämatoms. Selbst die rasche chir-
eines ihrer Äste. Diese entsteht oft durch eine Fraktur der urgische Intervention kann aber manchmal die Entwicklung
temporoparietalen Schädelkalotte. Das Hämatom tritt meist eines Dezerebrationssyndroms oder des Hirntodes nicht ver-
gleichseitig zur Fraktur auf. Das Fehlen eines Kalottenbruchs hindern.
schließt aber ein epidurales Hämatom nicht aus.
Operation bei Epiduralhämatom. Trepanation und Entlastung
3Symptome. Das auslösende Trauma kann gering sein und ist bei einem Volumen >30 ml angezeigt, unabhängig vom
braucht nicht einmal zur Hirnbeteiligung zu führen. Man darf GCS. Abwartendes Verhalten ist möglich bei Hämatomvolu-
aber auch bei einem Trauma mit initial schwerer Symptomatik men <30 ml, einer Mittellinienverlagerung von weniger als
die Möglichkeit des epiduralen Hämatoms nicht außer acht 5 mm und GCS >8. Dann sind kurzfristige CT-Kontrollen er-
lassen. Nicht wenige Patienten kommen ad exitum, weil bei forderlich.
ihrer schweren Bewusstseinsstörung neurologische Kontroll- Bei Auftreten von Hirndruckzeichen unverzügliche Ope-
untersuchungen versäumt werden, so dass das sich entwickeln- ration unabhängig vom Hämatomvolumen.
de Hämatom unerkannt bleibt und nicht operativ entleert
wird. 3Prognose. Wird die Diagnose nicht gestellt, dehnt sich
War das Trauma leicht, schließt sich an die initiale Symp- das Hämatom weiter in die Breite und Tiefe aus, führt zu einer
tomatik zunächst ein symptomarmes, sog. freies Intervall von extremen Seitwärtsverlagerung des Gehirns und durch Druck
einigen Minuten bis Stunden an. Danach verschlechtert sich nach kaudal zur Einklemmung des Hirnstamms im Tentori-
der Zustand des Kranken wieder progredient: Das Bewusstsein umschlitz. Es tritt eine Enthirnungsstarre ein, und der Patient
trübt sich ein, und es bildet sich durch Kompression einer stirbt am Versagen der medullären Kreislauf- und Atemregu-
Hirnhälfte eine kontralaterale Hemiparese aus. Auf der Seite lation. Die Letalität liegt bei 20%.
des Hämatoms wird die Pupille durch Okulomotoriuslähmung
mydriatisch. Dieses wichtige Symptom kann aber auch fehlen
oder auf die falsche Seite hinweisen, weil durch den nach me- 26.3.2 Akutes Subduralhämatom (SDH)
dial gerichteten Hirndruck gelegentlich der kontralaterale
N. oculomotorius an den Klivus gepresst wird. Basale Häma- Dieses ist viel seltener und klinisch kaum von einem epidu-
tome können zur Abduzenslähmung führen. ralen Hämatom zu unterscheiden (. Abb. 26.5). Wegen der
26.4 · Spätkomplikationen
601 26
Entsprechend der vorwiegend temporalen oder auch
frontalen Lokalisation der Blutungen tritt eher selten eine He-
miparese auf. Das Hämatom führt in rascher Entwicklung auch
zu Allgemeinsymptomen: Kopfschmerzen, Erbrechen, Blut-
druckanstieg, Atemstörungen, Bewusstseinstrübung bis zum
Koma. Weite, lichtstarre Pupillen zeigen eine beginnende
Einklemmung des Mittelhirns, d.h. die drohende Dezerebra-
tion an.

3Therapie und Prognose. Primär konservatives Vorgehen


mit ICP-Monitoring wird empfohlen bei Läsionen (<20 ml)
ohne wesentlichen raumfordernden Effekt.
Operative Behandlung von traumatischen intrazerebra-
len Blutungen. Bei Größenprogredienz (Volumen > 20 ml)
und zunehmender Raumforderung, Mittellinienverlagerung
(> 5 mm) oder Kompression der basalen Zisternen) kann eine
. Abb. 26.5. Akutes Subduralhämatom. (Erläuterungen siehe Text)
Operation indiziert werden. Allerdings wird dies meist nicht
bei einem GCS von unter 6 bzw. fortgeschrittenem Einklem-
mungssyndrom empfohlen. Traumatische Hämatome mit
begleitenden Hirnschwellung ist oft auch bei kleinen SDH eine einem Volumen >50 ml sollten operativ entlastet werden.
erhebliche Massenverlagerung vorhanden. Es entwickelt sich, Tief liegende Hämatome über 2 cm Durchmesser werden
da venös, etwas langsamer. Die Blutung stammt aus eingeris- stereotaktisch punktiert.
senen Brückenvenen. Im CT findet man oft nur schmale, weit
ausgedehnte Blutablagerungen zwischen Gehirn und Schädel-
kalotte. Sie können auch im Interhemisphärenspalt und in der 26.3.6 Traumatische Raumforderungen im Be-
hinteren Schädelgrube vorkommen. reich der hinteren Schädelgrube

Operation bei akutem Subduralhämatom. Unverzügliche Auch raumfordernde traumatische Hämatome und Kontu-
Entlastung ist nötig bei bei Hämatomdicke >10 mm oder Mit- sionen in der hinteren Schädelgrube, die zur Kompression des
tellinienverlagerung >5 mm unabhängig vom GCS. Bei nur 4. Ventrikels, der basalen Zisternen mit beginnende Liquor-
geringem raumforderndem Effekt und GCS ≥9 kann abge- zirkulationsstörung führen, werden, wenn möglich, operiert,
wartet werden. Bei ICP-Anstieg (>20 mmHg) oder Auftreten zumindest aber mit einer Ventikeldrainage versorgt.
von Einklemmungszeichen muss operiert werden.

26.4 Spätkomplikationen
26.3.4 Traumatische Subarachnoidalblutung
Für die Behandlung und Begutachtung spielt die Frage eine
Sie kommt praktisch nie isoliert vor, sondern ist meist mit große Rolle, welche Dauerfolgen und Spätkomplikationen nach
einem subduralen oder einem intrazerebralen Hämatom ver- einer Schädel- und Hirnverletzung möglich sind. Einige Dauer-
bunden. Bei großen, subarachnoidalen Blutmengen drohen, folgen sind oben bereits besprochen worden.
wie bei der aneurysmatischen SAB, Gefäßspasmen, die man
mit transkraniellem Doppler erfassen kann. Therapie der Ge-
fäßspasmen: Nimodipin, Dosierung 7 Kap. 9.3.4. 26.4.1 Chronisches posttraumatisches Syndrom

Das chronische posttraumatische Syndrom wird diagnosti-


26.3.5 Intrazerebrales Hämatom ziert, wenn nach einem leichten SHT länger als 3–6 Monate
persistierende zervikozephale Schmerzen mit fakultativ beglei-
Das traumatische, intrazerebrale Hämatom ist etwa genauso tenden vegetativen und/oder »neurasthenisch«-depressiven
häufig wie das epidurale. Es kommt immer gemeinsam mit Beschwerden bestehen.
einer Hirnkontusion und oft mit sub- oder epiduralen Blu- Die Entstehung eines chronischen posttraumatischen Syn-
tungen kombiniert vor. droms wird durch zusätzliche unfallbedingte Verletzungen,
eine positive Kopfschmerzanamnese, Neigung zu depressiver
3Symptome. Wie bei den extrazerebralen Hämatomen, ist Verstimmung, und sekundäre soziale Probleme und anhängige
ein freies Intervall zwischen dem Trauma und der progre- Rechtsstreitigkeiten erleichtert.
dienten Entwicklung eines raumfordernden intrakraniellen Beim chronifizierter posttraumatischer Kopfschmerz
Hämatoms nicht selten, weil sich kleine Einblutungen in Hirn- besteht die medikamentöse Therapie mit Trizyklika Amitrip-
kontusionen zu großen, raumfordernden Hämatomen auswei- tylin 25–100 mg/Tag p.o. in einschleichender Dosierung (pro
ten können. Woche Steigerung um 25 mg/Tag) sowie wie in der Akutphase
602 Kapitel 26 · Schädel- und Hirntraumen

Physiotherapie/physikalische Therapie. Nichtmedikamentöse 4 Die primär erhöhte Dichte geronnenen Blutes nimmt im
Therapie mit Entspannungstechniken, z.B. muskelzentrierte Laufe von Wochen ab. Das Hämatom kann dann hirnisodens
Relaxationstechnik, können angewandt werden. und schließlich hypodens werden.
Beim »neurasthenisch«-depressives Syndrom ist eine 4 Oft findet man auch unterschiedliche Dichten, vor allem
psychiatrische Therapie mit Anwendung psychotherapeu- dann, wenn bei langsamem Wachstum kleine, frische Blutun-
tischer Verfahren (u.a. Verhaltenstherapie, Stressbewältigungs- gen vorliegen.
training, Gesprächstherapie, neuropsychologische Therapie 4 Insbesondere bei doppelseitiger Ausprägung kann ein chro-
mit neuropsychologischem Leistungstraining (Aufmerksam- nisches, hirnisodenses SDH im CT leicht übersehen werden.
keit/Konzentration, Kognition, Mnestik) sowie Ausdauertrai- Eine altersuntypische, schlechte Abgrenzbarkeit der Gyrierung
26 ning bei eingeschränkter Hirnleistung) sinnvoll. Soziothera- und enge äußere Liquorräume sollten bei älteren Patienten den
peutische Maßnahmen mit möglichst frühzeitigem Arbeits- Verdacht auf ein chronisches SDH lenken.
versuch und Wiedereingliederung in das Berufsleben sind
wichtig. Die Behandlung mit SSRIs oder trizyklischen Antide- 3Therapie. Deutlich raumfordernde SDH müssen rasch
pressiva kann erforderlich werden. operativ entfernt werden. Weniger ausgedehnte, subdurale Hä-
matome werden auch konservativ behandelt, allerdings häufig
im CT kontrolliert.
26.4.2 Chronisches, subdurales Hämatom

Beim chronischen SDH setzen die Symptome erst Tage, oft 26.4.3 Spätabszess
auch Wochen und Monate nach einem Trauma ein. Der Kopf-
unfall liegt manchmal so lange zurück, dass der Patient oder Nach Schädelfraktur besteht die Gefahr eines traumatischen
seine Angehörigen nicht spontan davon berichten. Bei jedem Spätabszesses, wenn ein Schädelbasisbruch oder eine Verlet-
Fall von langsam zunehmender Bewusstseins- oder Antriebs- zung der Nebenhöhlen bzw. des Innenohres vorgelegen haben
störung mit oder ohne Halbseitenzeichen sollte man deshalb (7 Kap. 26.1.2).
nach einem vorangegangenen Trauma fragen und an die Mög-
lichkeit eines subduralen Hämatoms denken.
Die sog. Pachymeningeosis haemorrhagica interna, die 26.4.4 Traumatische Epilepsie
vorwiegend bei chronischem Alkoholmissbrauch auftritt
(7 Kap. 29.2.6), ist mit dem SDH morphologisch und klinisch Bei gedeckter Hirnverletzung mit Substanzschädigung kann
identisch. sich im Abstand von Monaten bis zu vielen Jahren eine trauma-
tische Epilepsie entwickeln. Das Risiko einer traumatischen
3Symptome. Die Symptomatik ist weniger dramatisch, Spätepilepsie ist nach früh (Stunden bis Tage) auftretenden An-
aber qualitativ ähnlich der beim epiduralen Hämatom. fällen signifikant erhöht, besonders bei Kindern. Die Häufigkeit
wird bei geschlossener Hirnverletzung mit etwa 5% angegeben.
3Diagnostik. Die Diagnose wird durch die CT gestellt Die traumatische Spätepilepsie manifestiert sich bei 50% der
(. Abb. 26.6). Das Erscheinungsbild des chronisch-subduralen Patienten im ersten Jahr, bei 70–80% in den ersten 2 Jahren nach
Hämatoms hängt wesentlich von seinem Alter ab. dem Trauma. Für die folgenden 10 Jahre rechnet man mit 3–5%
erstmalig auftretender Epilepsie. Bei etwa 15% der Patienten ma-
nifestiert sich die traumatische Epilepsie später als 5 Jahre nach
dem Trauma, gleich ob dies eine gedeckte oder penetrierende
Hirnverletzung (Schussverletzung) war. Das Epilepsierisiko liegt
nach traumatischer Substanzschädigung des Gehirns 3- bis
4fach höher als das Risiko in der Gesamtbevölkerung.
Allerdings sollte vor Annahme einer traumatischen Gene-
se der Anfallskrankheit durch Computertomographie ausge-
schlossen werden, dass es sich um eine Epilepsie aus anderer
Ursache, z.B. bei einem gutartigen Hirntumor, handelt. Die
Behandlung soll hier ausnahmsweise bereits nach dem ersten
Anfall einsetzen, weil die Gefahr einer chronischen Epilepsie
sonst sehr groß ist. »Prophylaktische Behandlung« ohne Auf-
treten eines Anfalls ist bei geschlossener Hirnverletzung über-
flüssig: Bis zu 90% dieser Patienten nehmen ihre Medikamente
ohne Notwendigkeit ein. Eine Beobachtung des EEG-Verlaufs
. Abb. 26.6. Chronisch subdurales Hämatom. Der 80-jährige Patient
ist ausreichend, weil im EEG vor dem ersten Anfall einer trau-
stellte sich mit einer Hemiparese rechts vor. Das CT-Bild zeigt eine sub- matischen Epilepsie oft Spitzenpotentiale auftreten.
durale Raumforderung über der linken Hemisphäre, teilweise mit hy- Offene Hirnverletzungen sind zu 35% von traumatischer
perdensen (frischere Einblutungen), teilweise mit isodensen Anteilen Epilepsie gefolgt, daher ist eine vorbeugende Verordnung von
(chronische Sickerblutungen) Antiepileptika gerechtfertigt.
26.4 · Spätkomplikationen
603 26
26.4.5 Traumatische Sinus-cavernosus-Fistel lokalisiert sind. An diesen Dissekaten können sich Thromben
bilden. Von diesen können, mit Latenz von Tagen, Emboli in
Besonders nach Schädelbasisbrüchen ist die Entwicklung einer die A. cerebri media bzw. die Kleinhirnarterien oder die A. ba-
traumatischen Carotis-sinus-cavernosus-Fistel möglich. Symp- silaris eingespült werden, die dann zu schwierig aufzuklären-
tomatik und Behandlung 7 Kap. 8.3.2. den, akuten Gefäßinsulten führen. Der Zusammenhang mit
dem Trauma ist nur durch sehr sorgfältige dopplersonogra-
phische und angiographische Untersuchung mit speziellem
26.4.6 Traumatische arterielle Dissektionen Augenmerk auf den basisnahen Abschnitt der A. carotis inter-
na bzw. A. vertebralis zu belegen.
Nach Traumen, die den Hals treffen oder bei denen der Kopf
akut maximal nach dorsal flektiert wird oder rotiert, kann es Pseudoaneurysmenbildung nach Dissektion. Es drohen nicht
zu Einrissen in der Wand der A. carotis interna oder A. verte- nur lokal-raumfordernde Komplikationen, sondern bei intra-
bralis kommen, die gewöhnlich dicht unter der Schädelbasis duralen Aneurysmen eine Subarachnoidalblutung.

In Kürze

Schädeltraumen

Schädelprellung. Durch stumpfe Gewalt (Schlag, Stoß) verlangsamt. Komplikationen: Extrazerebrale, intrakranielle
ausgelöst. Symptome: plötzlicher, lokaler oder diffuser Blutungen, Vielfachverletzungen wie Pneumothorax, Zerreißen
Kopfschmerz, bei Schädigung des Innenohrs Schwindel, innerer Organe. Verlauf: Initiales Koma; delirantes Syndrom
Nystagmus, Übelkeit. Diagnostik durch Röntgenaufnahme. mit fluktuierender Bewusstseinstrübung, psychomotorischer
Therapie: Schonung, Kopfschmerzmittel. Unruhe; traumatisches, bewusstseinsklares Korsakow-Syndrom
mit Desorientiertheit, Störung der Merkfähigkeit. Intensivme-
Schädelfraktur. Formen: Reine Kalottenfraktur, Fortsetzung dizinische Therapie mit Intubation, Volumentherapie, Anal-
der Bruchlinie in Schädelbasis, reiner Schädelbasisbruch. gesie, Sedierung. Überlebensrate bei länger dauerndem Koma
Diagnostik oft nur aus klinischen Zeichen erkennbar: Brillen- nimmt mit Lebensalter ab. Tod durch Aspiration von Blut oder
oder Monokelhämatom, lageabhängiges Auslaufen von Speiseresten. Spätfolgen: Neuropsychologische Dauerschädi-
Flüssigkeit aus Nasengang, Hämatotympanon, Blutung aus gung wie Leistungseinbußen, geringere Belastbarkeit, Ver-
äußerem Gehörgang; CT: blutiges Sekret in Siebbeinzellen, haltensänderung.
Luftperlen im frontalen Subarachnoidalraum. Komplika-
tionen: epidurales Hämatom nach Kalottenfrakturen; Offene Hirnverletzung. Öffnung der Schädeldecke und Dura
Impressionsfrakturen: durch eingedrücktes Knochenfrag- durch Verletzungen bei (versuchten) Tötungsdelikten. Gefahr
ment lokale Irritation der Hirnrinde, epileptische Anfälle; einer Hirnphlegmone durch Infektion im Frühstadium. Chirur-
nach Frakturen der Siebbeinplatte oder Stirnhöhlenhin- gische Therapie zum Ausräumen der Wunde, Verschluss der
terwand Gefahr aufsteigender Infektionen; Felsenbein- Duralücke.
längsfrakturen zerreißen Trommelfell, führen bei Verletzung
der Dura zum Liquorabfluss aus Ohr; Schädelbruch mit Traumatische Hämatome
Hirnnervensymptomen.
Epidurales Hämatom. Arterielle, extradurale Blutung im
Hirntraumen Frühstadium nach Kopftrauma infolge Zerreißung der A. me-
ningea media oder der Äste. Symptome: Minuten- bis stun-
Leichtes Schädel-Hirn-Trauma (SHT). Symptome: GSC denlanges symptomarmes Intervall, progrediente Verschlech-
13-15. Sofort einsetzende Bewusstseinsstörung <1 h, Erinne- terung mit Bewusstseintrübung, kontralateraler Hemiparese,
rungslücke < 24 h; posttraumatische Symptome wie Kopf-, mydriatischer Pupille. Diagnostik: CT: Hyperdense, raumfor-
Nackenschmerz, Nystagmus, Schwindel, Licht-, Geräusch- dernde Läsion mit inhomogener Dichte. Therapie: Schädeltre-
empfindlichkeit, depressive Verstimmung. Diagnostik: CT ist panation mit Ablassen des Hämatoms. Bei fehlender Diagnose
normal. Medikamentöse Therapie. Tod durch Versagen der medullären Kreislauf- und Atemregu-
lation.
Mittelschweres und schweres SHT. Symptome: GSC 9-12
(mittelschwer), 3-8 (schwer). Posttraumatische Bewusstseins- Akutes Subdural-Hämatom (SDH). Massenverlagerung durch
störung >1 h, traumatische Psychose, zerebrale Herdsymp- begleitende Hirnschwellung, Blutung aus eingerissenen
tome. Diagnostik: CT: Rindennah gelegene oder tief ins Brückenvenen. Diagnostik: CT: Schmale, weit ausgedehnte
Marklager reichende hypodense, nicht gefäßabhängige Blutablagerungen zwischen Gehirn und Schädelkalotte.
Läsionen; MRT: Zentrale, kleinere Blutungen unter anderem Chirurgische Therapie.
im Mittelhirn und Zwischenhirn; EEG im akuten Stadium
6
604 Kapitel 26 · Schädel- und Hirntraumen

Traumatische Subarachnoidalblutung. Immer mit sub- geronnenen Blutes. Therapie: Chirurgische Therapie bei raum-
duralem oder intrazerebralem Hämatom verbunden. Medi- fordernden Hämatomen.
kamentöse Therapie.
Traumatische Epilepsie. Bei gedeckter Hirnverletzung mit
Intrazerebrales Hämatom. Symptome: Hemiparese, Allge- Substanzschädigung. Diagnostik: EEG mit Spitzenpotenzialen
meinsymptome wie Kopfschmerzen, Erbrechen, Blutdruck- vor 1. Anfall. Medikamentöse Therapie spätestens nach 1. An-
anstieg, Atemstörungen, Bewusstseinstrübung. Chirurgische fall.
Therapie.
26 Weitere Spätkomplikationen. Spätabszesse nach Schädel-
Spätkomplikationen basisbruch oder Verletzung von Nebenhöhlen bzw. Innenohr;
traumatische arterielle Dissektionen nach Traumen, die Hals
Chronisches, subdurales Hämatom. Symptome erst Tage treffen oder bei denen der Kopf akut maximal nach dorsal
bis Monate nach Trauma: Langsam zunehmende Bewusst- flektiert wird. Sinus-cavernosus-Fistel v.a. nach einem
seins- oder Antriebsstörung mit oder ohne Halbseitenzei- Schädelbasisbruch.
chen. Diagnostik: CT: Abnahme der primär erhöhten Dichte
27

27 Wirbelsäulen- und Rückenmark-


traumen
27.1 Funktionelle, traumatische Rückenmarkschädigung – 606

27.2 Traumatische Substanzschädigung des Rückenmarks – 606

27.3 HWS-Distorsion (Beschleunigungstrauma, sog. Schleudertrauma) – 608

27.4 Elektrotrauma und Strahlenschäden des Rückenmarks – 611


27.4.1 Elektrotrauma – 611
27.4.2 Spätschäden des zentralen und peripheren Nervensystems durch ionisierende
Strahlen – 611
606 Kapitel 27 · Wirbelsäulen- und Rückenmarktraumen

> > Einleitung wieder völlig zurückbilden. Eine andauernde Funktionsstö-


rung tritt nicht ein. Bildgebende Verfahren zeigen keinen pa-
Er war Supermann, und er drehte mehrere erfolgreiche Filme, in thologischen Befund im Rückenmark. Die Diagnose kann also
denen er übernatürliche Kräfte einsetzen konnte und zum Retter erst im Verlauf gestellt werden. Eine Ähnlichkeit mit dem
der Welt (natürlich mehrfach …) wurde. Dann kam dieser dum- leichten SHT ist, was die Flüchtigkeit der Symptome und die
me Reitunfall. Ganz plötzlich war alles anders. Er konnte Arme fehlende morphologische Schädigung angeht, nicht zu ver-
und Beine nicht mehr bewegen, selbst die Atemmuskulatur kennen. Man spricht daher früher auch von einer »Commotis
konnte nicht mehr gesteuert werden. Ein hoher traumatischer spinalis«, heute von einem leichten spinalen Trauma.
Querschnitt zwischen dem ersten und zweiten Nackenwirbel
koppelte den Kopf vom restlichen Körper ab. 3Pathogenese. Die Pathogenese dieser Funktionsstörun-
Aus dem Superhelden, der fliegen konnte, wurde ein Mensch, gen ist nicht einheitlich: Die reversible Funktionsstörung in
27 der in allen Belangen des Lebens auf Hilfe angewiesen war, der den Bahnen bzw. Kerngebieten des Rückenmarks soll, ähnlich
aber dieses Schicksal, wie viele andere Querschnittgelähmte, mit einer Gehirnerschütterung, mechanisch ausgelöst sein. Auch
erstaunlicher Geduld und Energie annahm und schließlich bei flüchtige, lokale Zirkulationsstörungen (Ischämie, Ödem)
einer Oskarverleihung in einem bewegenden Auftritt zurück auf können zugrunde liegen.
die Bühne kehrte. Nur am Rande sei vermerkt, dass sein Schicksal
einen Schub für die Forschung auf diesem Gebiet gab. Angeblich 3Therapie. Eine spezielle Behandlung ist nicht erforder-
soll er kurz vor seinem Tod im Jahr 2004, fast 5 Jahre nach dem lich.
Unfall, erste Reinervierungszeichen gezeigt haben.
Die Verletzungen der Wirbelsäule gehören im Allgemeinen in
das Fachgebiet der Unfallchirurgie und Orthopädie. Sie können 27.2 Traumatische Substanzschädigung
aber neurochirurgische und neurologische Bedeutung bekom- des Rückenmarks
men, wenn die Gewalteinwirkung auf die Wirbelsäule auch zu
einer vorübergehenden, funktionellen Rückenmarkschädigung 3Epidemiologie. Die Inzidenz traumatischer Querschnitts-
führt, wenn Luxationen und Frakturen die Nervenwurzeln lädie- lähmungen liegt in industrialisierten Staaten bei 10–30 Fällen
ren oder wenn das Rückenmark direkt mechanisch bzw. indirekt pro 1 Million Einwohner. Die häufigsten Ursachen in Frie-
vaskulär eine Substanzschädigung erleidet. Unfallmechanisch denszeiten sind Verkehrs- und Sportunfälle.
handelt es sich meist um Stürze, oft mit Stauchung der Wirbel-
säule, seltener um die Folgen von Schlag oder Stoß auf die Wir- 3Definition und Pathophysiologie. Unter diesem Ober-
belsäule und um Verschüttungen. begriff fasst man eine Gruppe von traumatischen Funktions-
Eine große Aufmerksamkeit haben in letzter Zeit die Be- störungen des Rückenmarks zusammen, die in Symptomatik,
schleunigungsverletzungen der Halswirbelsäule bei Verkehrs- Pathogenese und pathologisch-anatomischen Befunden unter-
unfällen gewonnen. Dabei wird der Kopf bei unerwarteten Auf- schiedlich sind. Gemeinsam ist allen diesen Fällen das Auftre-
fahrunfällen von rückwärts plötzlich nach hinten und dann, ten von spinalen, neurologischen Symptomen in unmittel-
relativ energiearm, nach vorn bewegt. Hierfür ist im Amerikani- barem zeitlichen Zusammenhang mit dem Trauma und deren
schen der suggestive Begriff des whiplash injury (Peitschenschlag- verzögerte, oft nur unvollständige Rückbildung.
verletzung) geprägt worden. Das Rückenmark wird direkt mechanisch oder indirekt
In Deutschland hat es sich eingebürgert, für jede mechanische vaskulär oder durch beide Mechanismen geschädigt. Durch
Einwirkung auf die Wirbelsäule den dramatisierenden Begriff des direkte Quetschung der Marksubstanz kommt es zu lokaler
Schleudertraumas anzuwenden, auch wenn von Schleudern beim Zerstörung von Nervengewebe, auch zur Zerreißung von Ge-
jeweiligen Mechanismus gar keine Rede sein kann. Offensichtlich fäßen, Blutaustritten und Ödembildung. Das Ödem kann sich
gibt es auch keine »leichten« Zerrungen: Der Zerrung wird in aller innerhalb der ersten Tagen noch ausdehnen, was bei inkom-
Regel noch das Adjektiv »schwer« hinzugefügt. Patienten, denen pletten Läsionen zur Verschlechterung des Befundes führt.
man nur eine einfache, harmlose Zerrung der Nackenmuskulatur Die geschädigten Rückenmarksbezirke können später gliös
attestiert, fühlen sich meist nicht richtig wahrgenommen. vernarben oder sich verflüssigen (traumatische Höhlenbil-
dung, Liquefaktionsnekrose).
Eine besondere Rolle spielen Durchblutungsstörungen in
27.1 Funktionelle, traumatische der vorderen Spinalarterie (7 Kap. 10), die besonders bei Über-
Rückenmarkschädigung streckung der Wirbelsäule eintreten. Sie führen zur Ischämie
oder Erweichung der Rückenmarkssubstanz, weit seltener zu
3Definition und Symptome. Das Syndrom ist nicht ein- Rhexisblutungen.
deutig definiert und in seiner Pathophysiologie auch deshalb
nicht gut verstanden, weil die Symptome nur leicht und flüch- 3Symptome. Die Symptomatik einer akuten Rückenmarks-
tig sind. Man spricht dann von einer funktionellen, trauma- verletzung ist abhängig von der Höhe und dem Ausmaß der
tischen Rückenmarkschädigung, wenn bei einem Patienten Schädigung. Die neurologischen Ausfälle setzen im zeitlichen
nach Wirbelsäulentrauma Gefühlsstörungen in den Extremi- Zusammenhang mit dem Trauma ein und bilden sich im wei-
täten, Reflexdifferenzen ohne Lähmungen, auch einmal Bla- teren Verlauf zum Teil nur unvollständig zurück. Die Einteilung
senstörungen auftreten, die sich nach Minuten bis Stunden der Rückenmarkssyndrome erfolgt anhand der neurologischen
27.2 · Traumatische Substanzschädigung des Rückenmarks
607 27
Ausfälle, die von funktioneller und prognostischer Bedeutung 4 Steroide:
sind. 5 Früh, d.h. in den ersten 6–12 Stunden hochdosierte Me-
4 komplette Durchtrennung des Rückenmarks: komplettes thylprednisolonbehandlung, z.B. initial 30 mg/kg KG, dann
Querschnittsyndrom (QS) mit motorischer, sensibler und ve- 3-mal 1–2 g über 3 Tage. Die Therapie ist allerdings umstritten
getativer Symptomatik; und die berichteten Verbesserungen der Funktion erscheinen
4 vorderes Rückenmark-(Anterior-Cord-)Syndrom: QS minimal.
(komplett/inkomplett sowie Konus-Kauda-Syndrom) mit Ver- 5 Einige Autoren befürworten die hoch- bis höchstdosierte
letzung der vorderen zwei Drittel des Rückenmarks mit Aus- Kortisongabe in den ersten Stunden (bis 10 g), möglichst noch
fällen der Motorik sowie der Schmerz-/und Temperaturwahr- am Unfallort, um das traumatische Rückenmarksödem – und
nehmung, ggf. Blasenstörung; damit Folgeschäden – zu verhindern.
4 Brown-Sequard-Syndrom: spinale Halbseitenlähmung; 4 Allgemeine Intensivmedizin: Das akute QS bedarf auf-
4 zentrales Rückenmark-(Central-Cord-)Syndrom: Verlet- grund der möglichen Komplikationen der intensivmedizini-
zung der zentralen Rückenmarkanteile (meist im HWS-Be- schen Überwachung. Die Behandlung des Rückenmarksverletz-
reich) mit vorwiegend Ausfällen im Bereich der Arme. ten ist spezialisierten Querschnittzentren vorbehalten. Durch
operative Dekompression und Stabilisierung der Wirbelsäule
3Verlauf wird das Rückenmark mechanisch entlastet. Unmittelbar post-
4 Im Anfangsstadium besteht oft ein spinaler Schock mit Er- operativ beginnt die Rehabilitation, in der durch intensive
löschen aller Rückenmarkfunktionen. Aus diesem Stadium bil- Krankengymnastik und Pflegemaßnahmen Restfunktionen des
det sich erst nach einigen Tagen eines der oben genannten Syn- Rückenmarks aufrechterhalten und gefördert sowie Komplika-
drome heraus. tionen verhindert werden
4 Der Verlauf hängt von Lokalisation und Schwere der Schä- 4 Funktionelles Training: Zur Verbesserung der Handfunk-
digung ab: Sensible Störungen bilden sich im Allgemeinen tion und zur Erlangung der Gehfähigkeit hat sich ein frühzei-
besser zurück als motorische. Symptome der langen Bahnen tiges funktionelles Training bewährt. Die Handfunktion kann
haben eine bessere Prognose als nukleäre Lähmungen. Ner- in Kombination mit funktioneller elektrischer Stimulation und
venwurzeln, auch die Kaudafasern, sind dank ihrer Schwann- die Gehfähigkeit mit Hilfe des Lokomotionstrainings verbes-
Scheide widerstandsfähiger als das Rückenmarksgrau. Die sert werden.
Rückbildung der Symptome ist am Stamm meist in kraniokau-
daler Richtung zu verfolgen. An den Extremitäten kann sie von 3Vermeidung und Behandlung von Komplikationen
proximal oder von distal aus erfolgen und über handschuh- Zu den Komplikationen nach schwerem Rückenmarktrauma
oder strumpfförmige Verteilungsmuster verlaufen. zählen: Beinvenenthrombosen, Lungenembolien, Pneumonien,
4 Bei unvollständiger Restitution bleiben spastische oder Blasen- und Nierenentzündung, Nierenschädigung durch in-
schlaffe Paresen, Gefühlsstörungen und Schwierigkeiten der travesikale Drucksteigerung, autonome Dysreflexie mit anfalls-
Blasen- und Darmentleerung zurück. Oft kommt es zu Potenz- weise auftretenden hypertonen Krisen als Überreaktion des von
störungen. Nach schwerer Schädigung mit vollständiger Quer- seiner supraspinalen Kontrolle abgetrennten spinalen sympa-
schnittsläsion bildet sich in wenigen Wochen die Eigentätigkeit thischen Nervensystems und die posttraumatische Syringo-
des Rückenmarks aus: Es kommt zur Beuge- oder Streckspastik myelie.
der Extremitäten mit spontanen oder reflektorischen, unwill- Andere häufige frühe Komplikationen sind autonome
kürlichen Bewegungen, später oft auch zu Kontrakturen und Dysreflexie mit hypertonen Krisen, Hypothermie und die trau-
zu automatischer Blasenentleerung. matische Syringomyelie.
4 Thromboseprophylaxe mit z.B. niedermolekularem Hepa-
3Diagnostik. rin für mindestens 3–6 Monate.
4 Anamnese: Zeitpunkt, Unfallhergang, Beginn der neuro- 4 Spastik und Blasenstörungen werden symptomatisch me-
logischen Defizite, Fluktuationen. dikamentös behandelt (Baclofen (Lioresal®) oder andere anti-
4 Neurologische Untersuchung. spastisch wirksame Substanzen).
4 Bildgebende Diagnostik: Bildgebung von Rückenmark 4 Die Indikation zum suprapubischen Katheter (geringere
und Wirbelsäule mit MRT, ggf. mit MRA und/oder CT ersetzt Infektionsgefahr, Vermeidung einer Detrusorüberdehnung
heute meist die Nativdiagnostik, besonders beim Polytrauma. mit der Folge von Zystitiden, Pyelonephritiden und damit Nie-
4 Im Verlauf neurophysiologische Untersuchungen (SEP, renschäden) wird früh gestellt. Später Blasentraining zur Ent-
TKMS). wicklung einer reflektorischen Blasenentleerung, Selbstkathe-
4 Bei Polytrauma zusätzlich noch thorakale und abdomi- terismus, evtl. sakrale Deafferenzierung und Implantation
nelle Diagnostik, bei Schädel-Hirn-Beteiligung Diagnostik wie eines Vorderwurzelstimulators.
in 7 Kap. 26 beschrieben. 4 Häufige Drehung des Patienten, verbunden mit kranken-
4 Bei Verdacht auf Vertebralisdissektion: Ultraschalldi- gymnastischem Durchbewegen zur Vermeidung von Kontrak-
agnostik oder MR-Angiographie. turen. Bei jeder Querschnittslähmung, besteht die Gefahr des
Dekubitus.
3Therapie 4 Magenulcus-Prophylaxe (bei fehlender sensibler Schmerz-
4 Bei Kompression von Rückenmark oder Kauda möglichst afferenz können warnende Schmerzen nicht bemerkt wer-
rasche chirurgische Dekompression. den).
608 Kapitel 27 · Wirbelsäulen- und Rückenmarktraumen

Facharzt
Experimentelle Therapien bei QS
Neurorestauration. Hierbei erhofft man sich, die axonale zung für eine Remyelinisierung liefern. Auch die Transplanta-
Konduktion (Signalweiterleitung) zu verbessern. Da es bei tion von Gliazellen ist in Erprobung.
einem Trauma auch zu einer Verletzung der Myelinscheide
kommt, werden an dieser Stelle Ionenkanäle freigelegt, so Regeneration/Plastizität. Verschiedene experimentelle An-
dass ein Ausgleich des Ionenmilieus stattfinden kann und sätze versuchen, das natürliche »Sprouting« bei Durchtren-
somit trotz intaktem Axon zu einem Leitungsblock führt. Ein nung eines Axons zu verbessern. Dieses wird unter normalen
therapeutischer Ansatz könnte in der Hemmung dieser Umständen durch chemische (inhibitorische Proteine) und
Ionenkanäle liegen. Ein weiterer therapeutischer Ansatz zur mechanische (Narbenbildung) Barrieren in der Umgebung der
Verbesserung der axonalen Konduktion könnte in der Trans- Läsion gehemmt.
27 plantation von Makrophagen bestehen unter der Vorstel- Weitere experimentelle Ansätze umfassen die Beeinflus-
lung, diese würden zu einer schnellen Reinigung des geschä- sung der Axonlenkungsmoleküle sowie den Zellersatz durch
digten Areals führen und somit eine wesentliche Vorausset- Stammzellen.

Leitlinien Behandlung der akuten Querschnittlähmung*


4 Die akute traumatische und nicht-traumatische Quer- 4 Thromboembolieprophylaxe mit niedermolekularen He-
schnittlähmung erfordert eine intensivmedizinische Über- parinen (A).
wachung, da sie zu kardiovaskulären, pulmonalen und 4 Bei zervikalen und hoch-thorakalen Läsionen Entwicklung
gastrointestinalen Komplikationen führen kann (A). einer Beatmungspflichtigkeit beachten. Gestörte sympa-
4 Bei isolierter traumatischer Rückenmarkschädigung: thische Innervation und verstärkter Vagotonus führen zur
Steroidbehandlung (NASbIS-III-Schema, Methylprednisolon- Bradykardie.
Bolus 30 mg/kg KG i.v. über 1 h, dann Erhaltungsdosis 5,4
mg/kg KG/h über 23 h innerhalb von 8 h nach Trauma (B).
4 Frühzeitig kontrollierte Blasendrainage (meist über * in Anlehnung an die Leitlinien der DGN 2008
suprapubische Ableitung) (A). (www.dgn.org/leitlinien.html)

Eine weitere schwerwiegende Komplikation sind periartiku- benutzt wird, um den Mechanismus einer Gewalteinwirkung,
läre Weichteilverkalkungen in querschnittsgelähmten Glied- den Schweregrad, aber auch deren mögliche Folgen, d.h. eine
maßen. Davon werden besonders Knie- und Hüftgelenke, an eventuell resultierende Konstellation von Beschwerden und
den Armen die Ellenbogen- und Schultergelenke befallen. Der Symptomen, zu bezeichnen. Der Begriff sollte nur für den
neugebildete Knochen kann zur Ankylose des betroffenen Ge- Unfallmechanismus verwendet werden, durch den eine Schä-
lenks führen, die es unmöglich macht, die Patienten zu mobi- digung eintreten kann, aber nicht eintreten muss. Die Hals-
lisieren. Derartige Verkalkungen/Verknöcherungen treten auch wirbelsäulendistorsion (HWS-D) tritt häufiger als andere Ver-
aus anderer Ursache auf, z. B. beim apallischen Syndrom letzungen bei entschädigungspflichtigen PKW-Heck-Auffahr-
(7 Kap. 2.16.1). Die kausale Genese ist noch nicht bekannt, unfällen auf und hat daher eine besondere sozialmedizinische
ebenso wenig wie eine wirkungsvolle Verhütung oder The- Bedeutung, da es nicht selten um Schadensersatzansprüche
rapie. Die in der Orthopädie manchmal geübte Bestrahlung geht. Erhebliche nationale Unterschiede in der Inzidenz chro-
solcher Verkalkungen hat keinen Effekt auf die Bewegungs- nifizierter HWS-D deuten den Einfluss gesetzlicher Regelun-
einschränkung, kann aber beim inkompletten Querschnitt gen und daraus abgeleiteter Erwartungshaltungen an. Die
Schmerzen lindern. Kortison ist wirkungslos. große Mehrzahl, etwa 90–95%, dieser Verletzungen sind als
leicht bis mäßig einzustufen. Für die Einstufung des Schwere-
grades eignet sich die international akzeptierte Quebec-Task-
27.3 HWS-Distorsion (Beschleunigungs- Force-(QTF-)Klassifikation weit besser als die in Deutschland
trauma, sog. Schleudertrauma) energisch von bestimmten Richtungen propagierte Erdman-
Klassifikation, die schon aufgrund unhaltbarer anatomischer
Das Konzept des Schleudertraumas wurde 1953 unter der Be- Kausalitätsvorstellungen zumindest von Neurologen nicht ge-
zeichnung whiplash injury (Peitschenschlagverletzung) entwi- nutzt werden sollte.
ckelt. Zu dieser Zeit waren weder Nackenstützen noch Sicher-
heitsgurte generell eingeführt. Schon aus diesem Grunde sind Unfallmechanismus. Auslösend ist die beschriebene brüske,
Zweifel angebracht, ob der postulierte Unfallmechanismus bei meist unerwartet einwirkende Beschleunigung von hinten,
Auffahrunfall von rückwärts – zunächst Überstreckung des vorne oder der Seite, die eine relevante Translations- oder Re-
frei beweglichen Kopfes, dann maximale Beugung –, wenn er tro/Anteroflexionsbewegung der HWS auslöst, die über Mus-
denn damals zutreffend war, heute noch immer gültig ist. Der kelreflexe nicht ausreichend gedämpft werden kann. Dadurch
Begriff »Schleudertrauma« ist unglücklich, weil er gleichzeitig zerren und distortieren der passive Halteapparat mit Sehnen,
27.3 · HWS-Distorsion (Beschleunigungstrauma, sog. Schleudertrauma)
609 27
Exkurs
Beschleunigungstrauma
Nach einem unerwarteten Heckanprall kann in einer ersten nicht, wie manchmal berichtet, mehrmals hin- und herge-
Phase ein Schub des Rumpfes nach vorn und eine Bewegung schleudert werden.
des Kopfes nach hinten stattfinden. Sie ist manchmal gefolgt Im Tiermodell kommt es nach Weichteilverletzungen an
von einer Hyperflexion in den oberen HWS-Segmenten. In Hals und Nacken zu einer kurzen Periode von weniger als 72 h
einer zweiten Phase kommt es vor allem zu einer axialen mit akuter Entzündungsreaktion, gefolgt von einer Wiederher-
Kompression und Dekompression der Halswirbelsäule. Auf stellungsphase, die 72 h bis 6 Wochen dauert. Beim Menschen
diese Stauchung und Zerrung der HWS werden die Haupt- stehen Zerrungsschädigungen der Weichteile im Vordergrund.
symptome Nacken- und Hinterkopfschmerz zurückgeführt. Vernünftigerweise nimmt man Perioden zwischen 4 und 6 Wo-
Die Crash-Phase dauert 1/10 s. In dieser Zeit kann der Kopf chen für die Restitution an.

Bandapparat der HWS, die Muskelstränge selbst und manch- 4 Sehr selten werden Missempfindungen geklagt, die in Un-
mal auch die knöcherne HWS. Die Beschleunigung kann terarm und Hände ausstrahlen. Dass die Beschwerden oft erst
durch simultane Rotation bzw. Torsion um die Körperlängs- mit einer Latenz von Stunden auftreten und über Tage langsam
achse kompliziert werden. abklingen, wird mit muskelkaterartigen Nackenschmerzen
Die HWS-D geht nicht mit Bewusstlosigkeit einher. Tritt und einer muskulären Verspannung als Folge der Zerrung des
objektiv beobachtet Bewusstlosigkeit ein, so liegt zusätzlich Halteapparates erklärt.
ein Hirntrauma vor. Die wichtigsten Daten zur Vorgeschichte 4 Bei der körperlichen Untersuchung findet man eine Steil-
sind die Angaben des Betroffenen unmittelbar nach dem Er- haltung der Halswirbelsäule. Sie ist schmerzempfindlich für
eignis. Dabei ist zu erfragen, ob ein Überraschungsmoment Stauchung und die aktive Beweglichkeit der Halswirbelsäule ist
vorlag, ob das Bewusstsein unterbrochen war, ob ein Kopfan- in alle Richtungen eingeschränkt. Passiven Bewegungen setzt
prall vorn stattfand, ob der Betroffene das Fahrzeug selbstän- sich oft, besonders in den Endstellungen, ein muskulärer Wi-
dig verlassen konnte und wann welche Symptome zum ersten derstand entgegen.
Mal auftraten. Es gibt klare biomechanische Vorstellungen zu 4 Die grobe Kraft wird, besonders für das Seitwärtsheben
der Frage, ab welchen Beschleunigungen oder Geschwindig- der Arme, nicht voll eingesetzt. Reflexdifferenzen findet man
keiten eine solche relevante Zerrung auftreten kann. Viele nur in Ausnahmefällen. Manche der Betroffenen klagen über
milde Auffahrunfälle die später zu jahrelangen Prozessen mit Schmerzen, die vom Nacken diffus in die Arme ausstrahlen.
Teilinvalidisierung führen, erreichen solch Schwellen bei wei- 4 Segmental begrenzte Sensibilitätsstörungen sind extreme
tem nicht. Beschleunigungs- oder Verzögerungskräfte, wie sie Seltenheiten.
bei einer Vollbremsung auftreten, sind nicht geeignet, eine 4 Zerebrale und vor allem neuropsychologische Störungen
HWS-D hervorzurufen. Dazu kommt, das Sicherheitsgurte sind als organisch bedingte Folgen eines Schleudertraumas
und Kopfstützen die Auswirkung der Beschleunigung deut- nicht vorstellbar.
lich einschränken.
3Diagnostik. Ob heute noch Röntgenaufnahmen der
3Symptome. Nur in der Hälfte der Kollisionsfälle treten HWS in zwei Ebenen mit Darstellung aller Segmente und
Beschwerden auf. Bei ganz ähnlichen Ausgangsbedingungen Dens-Spezialaufnahme, wie in den Leitlinien und von Unfall-
hat häufig nur einer der Fahrzeuginsassen Beschwerden. versicheren gefordert, bei allen Patienten mit einer HWS-Zer-
4 Diese bestehen in schmerzhafter Einschränkung der Be- rung sinnvoll sind, ist nicht belegt. Bei persistierender Schmerz-
weglichkeit in der HWS, besonders für Drehbewegungen. symptomatik über mehrere Tage und pathologischer HWS-
4 Spontane Nackenschmerzen können in den Hinterkopf Beweglichkeit und Hinweisen auf eine schwerwiegendere
und in die Schultern ausstrahlen. HWS-D ist die spinale MRT oder CT einzusetzen.

Exkurs
Das sogenannte »zervikozerebrale« Syndrom nach HWS-Distorsion
Es gibt kein zervikozerebrales Syndrom, durch das manche schenden erheblichen Beschleunigung, initial sehr schmerz-
Spezialisten psychovegetative Symptome, Dauerkopfschmer- haft sein kann. Dass dies bei vorgeschädigter oder auch nur
zen, Schwindel und Hörstörungen und sogar neuropsycho- normal gealterter HWS noch mehr ins Gewicht fällt, überrascht
logische Einschränkungen wie Konzentrations- und Gedächt- nicht. Auch sollen die zum Glück wenigen, dann aber um so
nisstörungen für den Laien eindrucksvoll erklären wollen. schlimmeren, massiven HWS-Traumen, die zu Densabriss,
Vorstellungsbedingte Beschwerden, wie sie auch in Kapitel traumatischen Bandscheibenvorfällen, intraspinalen Blutun-
36 besprochen werden, sind hier mit im Spiel. Solche Sugges- gen, Dornfortsatz- und Wirbelkörperfrakturen (vergleiche
tionen sind die Basis für eine unnötige, den Patienten beein- Querschnittsabschnitt) führen können (und von denen einige
trächtigende und das Sozialsystem belastete Chronifizierung. bei hohen Läsionen sogar tödlich sein können), nicht unter-
Damit soll keineswegs bestritten werden, dass die HWS-D, schlagen werden. Sie sind auch der Grund für die grundsätz-
genau wie die Zerrung der Halsmuskulatur bei einer überra- lich HWS-schonenden Transportmaßnahmen beim Polytrauma.
610 Kapitel 27 · Wirbelsäulen- und Rückenmarktraumen

Man findet in der Regel eine Steilstellung, abhängig vom Vorschub zu leisten. Übertriebene Vorsichtsmaßnahmen, Ver-
Alter des Betroffenen auch degenerative Veränderungen. Die ordnung von Halskrawatten, wochenlange Krankschreibung,
Festlegung des initialen Röntgenbefunds ist versicherungs- Fehlinterpretationen der Röntgennativaufnahmen und die
rechtlich (es handelt sich fast immer um Verkehrsunfälle) von Andeutung der Gefahr von Dauerschäden machen es den Pa-
großer Bedeutung. tienten schwer, keine Dauerbeschwerden zu entwickeln. Der
Sind die Befunde so wie hier beschrieben, sind weitere tech- konsequente Hinweis auf die Reversibilität der Beschwerden ist
nische Untersuchungen nicht notwendig. Aus der Befürchtung zur Vermeidung der Chronifizierung nötig. Dazu gehört auch
der Mediziner, sie könnten juristisch in Anspruch genommen die schnelle Regulierung eventueller Schadensersatzansprüche.
werden, wurden allerdings im Lauf der Jahre immer aufwen- Es ist psychologisch schwer gesund zu werden und zu wirken,
digere technische Untersuchungsverfahren in solchen Fällen wenn man noch auf eine Entschädigung wartet. Entsprechend
eingesetzt. Der Wert technischer Untersuchungen bei der un- sollten die Patienten auch nicht länger krankgeschrieben
27 komplizierten Halswirbelsäulendistorsion ist nicht erwiesen. werden.
Die Methoden (z.B. MRT der HWS) sollen nur eingesetzt wer- Schließlich werden die Patienten auch von anderer Seite
den, wenn pathologische neurologische Befunde vorliegen. schnell darauf hingewiesen, dass bei chronischen Beschwer-
den Schmerzensgeld und Schadensersatz winken. Es ist psy-
3Therapie. Die Therapie ist praktisch immer konservativ, chologisch nachvollziehbar, dass dies der Besserung im Wege
eine Immobilisierung ist fast nie sinnvoll. Der Patient muss steht.
schon früh in aktive Therapie eingebunden werden.
4 Man verordnet bei Schmerzen nichtsteroidale Analgetika , 3Verlauf und Prognose. Vernünftiges Verhalten der Ärzte
(z.B. Paracetamol bis 1,5 g/Tag, Diclofenac 150 mg/Tag oder und gute Mitarbeit der Patienten vorausgesetzt, ist die Progno-
Ibuprofen 3-mal 400 mg/Tag). Metamizol ist nicht gut wirk- se der unkomplizierten HWS-Distorsion gut. Wenn keine Ent-
sam. schädigungsansprüche interferieren, ist die überwiegende
4 Kurzfristig werden Muskelrelaxanzien wie Tetrazepam Mehrzahl der Patienten mit leichten bis mittelschweren HWS-
(100 mg/Tag), Musaril® oder Sirdalud® gegeben. D nach einem Monat weitgehend beschwerdefrei. Nur ca. 10%
4 Bei Chronifizierung werden trizyklische Antidepressiva der Betroffenen haben nach 6 Monaten noch Beschwerden.
(z. B. Amitriptylin® 25–150 mg/Tag) eingesetzt. Dazu kom- Weibliches Geschlecht, hohes Lebensalter, vorbestehende
men Wärmeanwendung, aktive Krankengymnastik und Lo- HWS-Beschwerden und starke initiale Schmerzen sind Prä-
ckerungsübungen. diktoren für späte Remission. Depressive Vorerkrankungen
4 Die wichtigste ärztliche Maßnahme ist es, den Betroffenen begünstigen die Chronifizierung. Nicht selten sind chronische
über die Harmlosigkeit der HWS-Distorsion aufzuklären, sich Verläufe durch falsche initiale Betreuung, Schüren übertrie-
ermutigend zu verhalten und frühzeitige Aktivierung und bener Befürchtungen oder Hoffen auf unangemessene Ent-
Rückkehr in den Arbeitsprozess zu empfehlen. schädigungen, nicht zuletzt in juristischen Auseinanderset-
zungen, bedingt. Schließlich gibt es chronisch-posttrauma-
Leider ist das Verhalten der Ärzte in der Praxis meist anders und tische HWS-Beschwerden nur in Ländern mit hohem Versiche-
dazu geeignet, einer Chronifizierung der initialen Beschwerden rungsstandard.

Facharzt
Therapeutische Polypragmasie nach HWS-Distorsion und ihre Kosten
Der Wert von Behandlungsmaßnahmen nach HWS-Distor- würdig, ebenso transkutane elektrische Nervenstimulation,
sion ist in einer Publikation aus der Provinz Quebec aufgrund gepulste elektromagnetische Behandlung, elektrische Stimu-
der Auswertung von mehr als 10.000 Publikationen sehr lation, Ultraschall, Laser, Kurzwelle, Diathermie, Wärme, Eis,
skeptisch beurteilt worden. Nur wenige Publikationen hiel- Injektionen von Lokalanästhetika in die Weichteile oder
ten den Anforderungen an Wissenschaftlichkeit stand. Physio- die Gegend der kleinen Wirbelgelenke, Akupunktur und Phar-
therapie wurde im Wert von 1.500 Millionen US$ verordnet, maka.
obwohl keine wissenschaftliche Studie vorliegt, die über die Diese Aufzählung erläutert die moderne Tendenz, Gesun-
Bedeutung aktiver Übungen hinaus einen Wert der Physio- dung und Gesundheit mit Wohlbefinden oder mit dem Mode-
therapie bei den Folgen eines HWS-Beschleunigungstraumas wort »Wellness« gleichzusetzen. Es soll nicht bestritten wer-
nachweist. den, dass viele der genannten Maßnahmen das Wohlbefinden
Die Immobilisierung der HWS durch Nackenkrawatten erhöhen. Aufgabe der Medizin ist aber die Heilung von Krank-
aus Schaumstoff schränkt die Beweglichkeit der HWS nur heiten und, wo das möglich ist, die Beseitigung krankhafter
gering ein. Eine Beschleunigung des Heilungsvorgangs tritt Störungen der Befindlichkeit. In diesem Zusammenhang ist
dadurch nicht ein, eher eine Verzögerung, weil der Patient die WHO-Definition von Gesundheit als »ein Zustand des voll-
zur Schonung der Nackenmuskeln angehalten wird. ständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens
Der Nutzen chiropraktischer Maßnahmen ist nicht und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen«
erwiesen, dagegen ist aktive Übungsbehandlung wahr- nicht wirklich hilfreich und vermutlich nur in Einzelfällen zu
scheinlich nützlich. Die sog. Traktionsbehandlung ist frag- erreichen.
27.4 · Elektrotrauma und Strahlenschäden des Rückenmarks
611 27
27.4 Elektrotrauma und Strahlenschäden Strahlenenzephalopathie
des Rückenmarks Sie hat eine Latenz von Wochen bis Jahren (Nachweis von
Strahlenschäden in den Hemisphären durch CT und MRT),
27.4.1 Elektrotrauma Hirnstammläsionen haben meist eine kürzere Latenz. Der
Hirnstamm verträgt fraktioniert maximal 45 Gy, die Hemis-
Nach Starkstromverletzungen werden akute und chronisch pro- phären 60 Gy.
grediente neurologische Symptome beobachtet, die eine Schädi- Markscheiden und Oligodendrogliazellen sind selektiv
gung des Gehirns oder, besonders häufig, des Rückenmarks strahlenempfindlich, ebenso der Gefäßapparat – im Gegensatz
anzeigen. Die Ätiologie ist im akuten Stadium gewöhnlich an zu den weitgehend strahlenresistenten Nervenzellen. Wenn
den Strommarken (umschriebene Verbrennung an der Ein- und man sich der Höchstdosis genähert hat, findet man mit Latenz
Austrittsstelle des Stroms) zu erkennen. Chronische Schädigun- von einigen Monaten bei vielen Patienten im MRT eine diffuse,
gen, die mit einer Latenz von vielen Monaten einsetzen und sehr fleckige, manchmal konfluierende Signalveränderung des
protrahiert verlaufen, sind dagegen nur schwierig aufzuklären. Marklagers. Diese ist besonders häufig, wenn vor oder nach
der Bestrahlung eine intrathekale Chemotherapie erfolgte.
Akutes Elektrotrauma Wurde die individuelle Höchstdosis überschritten, was manch-
3Symptome. Initial kommt es oft zur Bewusstseinstrübung mal auch bei stereotaktischer Einzeitbestrahlung der Fall sein
oder Bewusstlosigkeit, manchmal auch zu epileptischen Anfäl- kann, kommt es zu Entmarkungen mit Kolliquationsnekrosen
len, selbst wenn das Gehirn außerhalb der Durchflussbahn des und anschließender Zystenbildung, ferner durch Gefäßwand-
Stroms lag. Diese zerebralen Symptome beruhen auf einem schädigung und Gefäßobliteration (v.a. der Venen) zu Extra-
Hirnödem, das in wenigen Tagen zum Tode führen kann. vasaten, größeren Ödemen, auch zu Stauungshämorrhagien
Kammerflimmern kann zu einer hypoxischen Hirnschädigung (raumfordernde Strahlennekrose).
führen. Die Latenz der neurologischen Symptomatik wird da-
In leichteren Fällen haben die Patienten Kopfschmerzen, durch erklärt, dass die Gliazellen zunächst nur potentiell ge-
Ohrgeräusche, Hörverlust oder Gleichgewichtsstörungen. schädigt sind und erst nach einer Zeit absterben, die durch
Auf vaskulärer Grundlage (Intimaschädigung, auch mit arte- ihre Mauserungsrate bestimmt wird, sowie dadurch, dass
rieller Thrombose) kann es aber akut oder als Spätlähmung zu die Gefäßwandschädigung nur langsam zu einer verstärkten
Halbseitensymptomen kommen. Von Seiten des Rückenmarks Durchlässigkeit oder zum thrombotischen Verschluss des
tritt eine vorübergehende, vorwiegend sensible Querschnitts- Lumens führt. Strahlenspätschäden der Großhirnhemisphä-
symptomatik auf. ren können als raumfordernde Prozesse wirken und Anfälle,
Halbseitenlähmung, andere Herdsymptome und die Zeichen
3Diagnostik. Der akute Durchgang von Starkstrom führt des Hirndrucks hervorrufen. Dann liegt die Fehldiagnose
zum Zerfall von Muskelgewebe mit starkem Anstieg der Se- eines Tumorrezidivs nahe, die auch durch Computertomo-
rum-Kreatinphosphokinase und zur intravasalen Hämolyse. graphie oder MRT nicht sicher zu vermeiden ist. Die Behand-
Deshalb wiederholte Bestimmung von CK, Myoglobin, Elek- lung der raumfordernden Strahlennekrosen ist, wenn mög-
trolyten und Kreatinin und Überwachung der renalen Aus- lich, operativ. Daneben gibt man Steroide und Heparin.
scheidung. Ein Crush-Syndrom kann entstehen. Hirnstammschäden sind einer unmittelbaren Behandlung
nicht zugänglich.
Spätschädigung des Rückenmarks nach Elektrotrauma
Bei Durchströmung von einer Hand zur anderen kann das Strahlenschäden des Rückenmarks
Rückenmark so geschädigt werden, dass irreversible Vorder- Die Toleranz des Rückenmarks ist geringer als die des Ge-
hornnekrosen und dadurch Muskelatrophien eintreten. Sie hirns. Sie liegt etwa bei einer Rückenmarkherddosis von
entwickeln sich mit wochenlanger Latenz und bleiben dann 40 Gy. Rückenmarkschädigungen treten durchschnittlich 6–
stationär. Fortschreitende Prozesse mit dem Symptomenbild 16 Monate nach Bestrahlung des Spinalkanals, aber auch in
der amyotrophen Lateralsklerose (7 Kap. 33.4) sollen ebenfalls längerem Abstand auf. Vor allem bei der Bestrahlung von
möglich sein, jedoch ist der Nachweis eines Zusammenhangs Ösophagustumoren kann durch Pendelbestrahlung die Ge-
sehr problematisch. fahr für das Rückenmark wesentlich vermindert werden. Das
Strahlenrisiko wächst mehr mit der Größe der Einzeldosen als
mit der Gesamtstrahlenbelastung.
27.4.2 Spätschäden des zentralen Neurologisch findet man ein partielles zervikales oder tho-
und peripheren Nervensystems rakales Querschnittssyndrom, auch vom Typ Brown-Séquard
durch ionisierende Strahlen (7 Kap. 1.13.2). Sehr typisch sind brennende Par- und Dysäs-
thesien, dissoziierte Empfindungsstörungen und Blasenstö-
Sie kommen am Zentralnervensystem, im Gehirn, Hirnstamm rungen. Die Symptomatik kann sich schubweise entwickeln,
und Rückenmark sowie auch an den peripheren Nerven (Hirn- bleibt aber immer auf eine Region des Rückenmarks be-
nerven und Cauda equina) vor. Insgesamt sind sie trotz zuneh- schränkt. Der Liquor ist meist normal. MRT oder Myelogra-
mender Bestrahlungsfrequenz viel seltener geworden. Wir phie/CT zeigen in der Regel eine spinale Passagebehinderung.
besprechen hier nicht nur die Schäden am Rückenmark, son- Die Prognose ist schlecht. Kortikoide helfen nur vorüber-
dern auch im Gehirn und an den Plexus. gehend. Oft wird die Diagnose verkannt. Man bezieht dann die
612 Kapitel 27 · Wirbelsäulen- und Rückenmarktraumen

neurologische Symptomatik der Strahlenmyelopathie auf die pherer Nerven und des Plexus brachialis sowie lumbosacralis
Grundkrankheit und schließt eine Chemotherapie an. sind seltener. Hier stellt sich die Differentialdiagnose zur un-
Konus-Kauda-Syndrome kommen nach Bestrahlung para- mittelbaren, karzinomatösen Infiltration der geschädigten Ge-
aortaler Lymphknoten vor. Schädigungen extraspinaler, peri- gend.

In Kürze

Funktionelle, traumatische Rückenmarkschädigung HWS-Distorsion (Beschleunigungstrauma)

Reversible Funktionsstörungen in den Bahnen bzw. Kernge- Symptome: Schmerzhafte Einschränkung der HWS-Beweg-
bieten des Rückenmarks. lichkeit für Drehbewegungen durch Steilhaltung der Halswir-
27 Symptome sind nur leicht und flüchtig: Gefühlsstörungen in belsäule, Ausstrahlen spontaner Nackenschmerzen in Hinter-
Extremitäten, Reflexdifferenzen ohne Lähmungen, vorüber- kopf und Schultern, verursacht durch Heckkollision mit über-
gehende Blasenstörungen. raschendem Anstoß und ohne Kopfanprall meist nach Auto-
Therapie ist nicht erforderlich. unfall.
Diagnostik: Spinale CT, MRT.
Traumatische Substanzschädigung des Rückenmarks Therapie: Frühe Aktivierung, medikamentöse Therapie
(Querschnittssyndrom) gegen Schmerzen.

Rückenmark wird direkt mechanisch oder indirekt vaskulär Elektrotrauma und Strahlenschäden des Rückenmarks
oder durch beide Mechanismen durch Verkehrs- oder Sport-
unfall geschädigt. Direkte Quetschung der Marksubstanz Elektrotrauma. Schädigung des Gehirns oder Rückenmarks
verursacht lokale Zerstörung von Nervengewebe, Blutaustrit- nach Starkstromverletzungen. Symptome: Initial Bewusst-
ten, Ödembildung. Überstreckung der Wirbelsäule führt zu seinstrübung oder Bewusstlosigkeit, Krämpfe, Kopfschmerzen,
Durchblutungsstörungen im Gebiet der vorderen Spinalarterie Ohrgeräusche, Hörverlust, Gleichgewichtsstörungen, Halbsei-
und zu Ischämie oder Erweichung der Rückenmarksubstanz. tensymptome. Spätschädigung: Irreversible Vorderhornne-
Symptome: Spinaler Schock mit Erlöschen aller Rückenmark- krosen mit Muskelatrophien aufgrund schwerer Schädigung
funktionen im Anfangsstadium, Verlauf hängt von Lokalisa- des Rückenmarks nach Stromdurchleitung von einer Hand zur
tion und Schwere der Schädigung ab. Verzögerte, unvoll- anderen.
ständige Rückbildung der neurologischen Ausfälle führen zu
spastischen oder schlaffen Paresen, Gefühlsstörungen, Spätschäden des zentralen und peripheren Nervensystems
Schwierigkeiten der Blasen- und Darmentleerung. Bessere durch ionisierende Strahlen. Strahlenenzephalopathie:
Rückbildung der sensiblen als motorischen Störungen. Symptome: Anfälle, Halbseitenlähmung, Zeichen des Hirn-
Diagnostik: Neurologische Untersuchung; MRT: umschrie- drucks. Diagnostik: MRT: Diffuse, fleckige, manchmal konflu-
bener Herd oder mehrerer Herde erhöhter Signalintensität. ierende Signalveränderung des Marklagers. Therapie: Medika-
Therapie: Allgemeine Intensivmedizin, funktionelles Trai- mentöse und operative Therapie.
ning, Thromboseprophylaxe, suprapubischer Katheter, Strahlenschäden des Rückenmarks: Symptome treten nach
Blasentraining, Drehung zur Vermeidung von Dekubitus. 6–16 Monaten auf: partielles zervikales oder thorakales Quer-
Komplikationen: periartikuläre Weichteilverkalkungen in schnittssyndrom, brennende Par- und Dysästhesien, dissoziier-
querschnittsgelähmten Gliedmaßen, autonome Dysreflexie te Empfindungs- und Blasenstörungen. Diagnostik: MRT oder
mit hypertonen Krisen, Hypothermie, traumatische Syringo- Myelographie/CT: Spinale Passagebehinderung; Liquor ist
myelie. normal.
VIII Metabolische
und toxische
Schädigungen des
Nervensystems
28 Stoffwechselbedingte (dystrophische)
Prozesse des Nervensystems – 615

29 Alkoholschäden und -krankheiten


des Nervensystems – 629

30 Neurologische Störungen als


Medikamentennebenwirkungen
und bei chronischen Intoxikationen – 641
28

28 Stoffwechselbedingte (dystrophische)
Prozesse des Nervensystems
28.1 Funikuläre Spinalerkrankung – 616

28.2 Hepatolentikuläre Degeneration (M. Wilson) – 617

28.3 Hepatische Enzephalopathie (HE) – 619

28.4 Neurologische Symptome bei akuter und chronischer


Niereninsuffizienz – 620
28.4.1 Urämische Enzephalopathien – 620

28.5 Akute, intermittierende Porphyrie – 621

28.6 Leukodystrophien – 622


28.6.1 Metachromatische Leukodystrophie – 622
28.6.2 Andere Leukodystrophien – 623

28.7 Mitochondriale Krankheiten – 623


28.7.1 Chronisch progressive externe Ophthalmoplegie (CPEO) – 625
28.7.2 MELAS-Syndrom – 625
28.7.3 MERRF-Syndrom – 625

28.8 Morbus Fabry – 626


616 Kapitel 28 · Stoffwechselbedingte (dystrophische) Prozesse des Nervensystems

> > Einleitung Der Untersuchungsbefund kann, je nach der Verteilung


des Prozesses auf die Längenausdehnung und den Querschnitt
In diesem Kapitel werden die Auswirkungen systemischer meta- des Rückenmarks, sehr mannigfaltig sein.
bolischer Krankheiten auf das Nervensystem besprochen. Die 4 Meist besteht eine diffuse Schwäche der Gliedmaßen ohne
diagnostische Aufklärung verlangt gute Kenntnisse der Inneren Bevorzugung einzelner Muskelgruppen. Der Muskeltonus ist
Medizin und die enge Zusammenarbeit mit einem Internisten. meist vermindert. Unabhängig davon sind die Eigenreflexe
Die Bezeichnung als dystrophische Prozesse bezieht sich auf die bald gesteigert, bald nicht auslösbar. Oft sind pathologische
neuropathologischen Gewebsveränderungen, die nicht entzünd- Reflexe zu erhalten, auch in solchen Fällen, bei denen die Eigen-
lich und nicht degenerativ sind. Vielmehr findet man zumeist reflexe fehlen.
eine schwammartige (»spongiöse« ) Auflockerung des Gewebes. 4 Regelmäßig ist die Lagewahrnehmung gestört und die
Bei einem Teil dieser Krankheiten ist eine kausale Therapie Vibrationsempfindung herabgesetzt oder aufgehoben. Oft sind
möglich. auch die übrigen sensiblen Qualitäten beeinträchtigt.
4 Gelegentlich fällt eine Schleimhautatrophie des oberen
Intestinaltraktes mit geröteter Zunge (Hunter-Glossitis) auf.
28 28.1 Funikuläre Spinalerkrankung 4 Rund 75% der Patienten mit neuropsychiatrischen Symp-
tomen haben auch hämatologische Veränderungen (v.a. makro-
3Definition und Ätiologie. Bei Mangel an Vitamin B12 zytäre hyperchrome Anämie und hypersegmentierte Granulo-
(extrinsic factor), gleich welcher Ursache, kann es zu einem zyten).
degenerativen Entmarkungsprozess in den Strangsystemen des 4 Häufig kommt zu den spinalen Symptomen eine Poly-
Rückenmarks kommen. Die funikuläre Spinalerkrankung, neuropathie hinzu. Es ergibt sich dann ein entsprechend buntes
gelegentlich kombiniert mit Megaloblastenanämie (perniziöse Bild mit Kombination von Reflexausfällen und Pyramiden-
Anämie), beruht in erster Linie auf dem Fehlen von intrinsic bahnzeichen. Der Angelsachse spricht daher auch nicht von
factor bei Autoantikörperbildung gegen die Intrinsic-Faktor- funikulärer Spinalerkrankung, sondern von subacute combined
bildenden Belegzellen, nach Gastrektomie, bei alkoholbe- tract degeneration.
dingter Gastritis oder bei Magenkarzinom. Andere, wesentlich 4 Augenmuskellähmungen und Optikusatrophie sind sehr
seltenere Ursachen sind: mangelnde Resorption von Vita- selten. Eine Sonderform ist die sog. Tabak-Alkohol-Amblyopie
min B12 bei Dünndarmresorptionsstörungen, relative B12-Hy- (B12-Mangelschädigung der Sehnerven). Die Enzephalopathie
povitaminose bei der sog. Schwangerschaftsperniziosa, Zerstö- durch Vitamin-B12-Mangel in Form eines hirnorganischen
rung des Vitamins durch bakterielle Fehlbesiedelung beim Psychosyndroms oder als paranoider Psychose, Delir oder
Syndrom der »blinden Schlinge« , ferner durch Medikamente Depression ist eine Rarität.
verursachter B12-Mangel nach Hydantoinen, Primidon, Pheno-
barbital, Phenylbutazon, Nitrofurantoin, Zytostatika und kal- 3Diagnostik. Elektrophysiologisch sind die motorische
ziumbindenden Substanzen sowie nach Lachgasnarkosen. und sensible Nervenleitgeschwindigkeit vermindert. Früh sind
auch die SEP pathologisch verändert.
3Pathogenese. Die Pathogenese ist nicht aufgeklärt. Vita- Im spinalen MRT können sich in den T2-gewichteten
min B12 spielt eine Rolle bei der Synthese der Ribonukleinsäu- Sequenzen Signalsteigerungen der Hinterstränge finden, die
ren. Wie dies zu einer Störung der Markscheiden führt, ist un- nach Substitution reversibel sind. Das Myelon ist zum Teil auf-
klar. Man kann eine Störung im Kohlenhydrat- und Fettstoff- getrieben, Kontrastmittelaufnahme ist untypisch.
wechsel vermuten. Die Symptomatik folgt dem B12-Mangel mit Labor: In der Blutuntersuchung sind eine makrozytäre
großer Verzögerung, weil die körpereigenen Depots etwa 2 Jah- hyperchrome Anämie und hypersegmentierte neutrophile
re lang ausreichen. Die paraneoplastische, kombinierte Strang- Granulozyten wegweisend. Die direkte Messung des Vitamin-
degeneration tritt ohne B12-Resorptionsstörung auf. B12-Spiegels im Blut ist nur als Screening-Test geeignet. Bei
grenzwertigen Befunden oder bei dringendem klinischem Ver-
3Symptome und Verlauf. Im mittleren oder höheren Le- dacht müssen die Metaboliten Homocystein und Methylma-
bensalter entwickeln sich subakut innerhalb weniger Wochen lonsäure im Serum oder Methylmalonsäure im Urin bestimmt
und Monate oder langsam progredient Symptome, die vom werden, die bei Vitamin-B12-Mangel ansteigen und den Ver-
Befall der Hinterstränge, der Kleinhirnseitenstränge und der sorgungsstatus im Gewebe widerspiegeln.
Pyramidenseitenstränge bestimmt werden. Die funikuläre Fehlt die Bestätigung durch die Laboruntersuchung, muss
Spinalerkrankung muss nicht zwangsläufig mit einer megalo- man auf Folsäuremangel untersuchen. Liegt auch dieser nicht
zytären Anämie einhergehen. vor, muss man die Diagnose revidieren oder ex juvantibus zu
Die Patienten klagen über brennende, unangenehme Miss- einer Diagnose kommen. Auch auf Kupfermangel untersu-
empfindungen in den Füßen und Händen, die sich später auch chen. Kupfermangel kann ganz ähnliche Symptome hervorru-
auf die Unterschenkel und Unterarme ausbreiten oder eine fen wie ein Vitamin B12-Mangel; beide Mangelzustände kom-
abnorme Ermüdbarkeit beim Gehen. Später bildet sich eine men auch miteinander kombiniert vor.
Paraparese der Beine mit sensibler Ataxie aus. Diese ergreift in
geringerem Maße auch die Arme. Die Blasenentleerung ist ge-
legentlich gestört. Unbehandelt führt die Krankheit in wenigen
Jahren zur partiellen Querschnittslähmung.
28.2 · Hepatolentikuläre Degeneration (M. Wilson)
617 28
Exkurs
B12-Stoffwechsel und pathologisch-anatomische Befunde
Der Minimalbedarf an Vitamin B12 pro Tag beträgt etwa 1 μg. den, später auch die Axone zugrunde. Das histologische Bild
Bei normaler Ernährung nimmt ein Mitteleuropäer etwa wird dann durch sekundäre Waller-Degeneration kompliziert.
4–20 μg/Tag auf. Mehr als 50 μg werden nicht gespeichert, Schließlich kommt es zur gliösen Vernarbung (Sklerose). Die
sondern ausgeschieden. Der Gesamtkörpergehalt an B12 Veränderungen sind fast ganz auf das Rückenmark beschränkt.
beträgt 3–5 mg. Entsprechend lange halten die B12-Vorräte. Hals- und Brustmark sind stärker als die unteren Abschnit-
te des Rückenmarks betroffen. Die Veränderungen erstrecken
Pathologisch-anatomische Befunde bei funikulärer sich nach rostral nur bis zur Höhe der Hinterstrangkerne und
Spinalerkrankung der Pyramidenkreuzung. In geringem Maße finden sich spon-
Man findet anfangs multiple, unscharf begrenzte Entmar- giöse Herde auch im Marklager des Großhirns und im Fasziku-
kungsherde in den Hintersträngen, den Kleinhirnseitensträn- lus und Tractus opticus. Die graue Substanz ist nur gering
gen und Pyramidenseitensträngen. Diese fließen beim Fort- betroffen. Auch in den peripheren Nerven findet man Mark-
schreiten des Prozesses zu schwammartigen (»spongiösen«) scheidenzerfall, zunächst ohne Axondegeneration. Diese
Lückenfeldern zusammen, die die Grenzen der einzelnen peripheren Veränderungen sind reversibel.
Stränge überschreiten. Zunächst gehen nur die Markschei-

3Therapie gerung des resorbierten Kupfers in der Leber, in den Basal-


4 Frühzeitige Behandlung mit Vitamin-B12-Präparaten kann ganglien und anderen Hirnstamm- und Kleinhirnstrukturen
den degenerativen Prozess zum Stillstand und in vielen Fällen sowie in der Cornea und zum Mangel an funktionsfähigem
zur Rückbildung bringen. Sobald eine nennenswerte Degene- Coeruloplasmin. Die Prävalenz liegt bei rund 1: 30.000, die
ration von Axonzylindern vorliegt, darf keine Heilung mehr Häufigkeit heterozygoter Merkmalsträger wird auf 1:100 bis
erwartet werden. 1:200 geschätzt. Die Krankheit setzt bevorzugt zwischen dem
4 Dosierung: 1–2 Wochen täglich 1000 μg B12 i.m. oder i.v., 15. und 20. Lebensjahr ein (Extremwerte um 4 Jahre und
dann 1–6 Monate wöchentlich 1000 μg, dann eine Injektion 40 Jahre).
alle 1–3 Monate. Der Erbmodus ist autosomal-rezessiv. Männer erkranken
4 Von größter Bedeutung ist die langfristige Therapiecom- häufiger als Frauen. In den betroffenen Familien lässt sich die
pliance, da andernfalls unweigerlich Rezidive drohen. Stoffwechselstörung auch bei Personen nachweisen, die keine
hepatischen oder neurologischen Symptome zeigen. Gegen-
3Differentialdiagnose. Bei chronischer Polyneuropathie wärtig sind mehr als 250 Mutationen (Übersicht in www.uofa-
sind die Lähmungen auf distale oder proximale Muskelgrup- medical-genetics.org/wilson/index.php) im Wilson-Gen be-
pen beschränkt und nicht so diffus verteilt wie bei funikulärer kannt, eine Genotyp-Phänotyp-Korrelation konnte nicht ge-
Spinalerkrankung. Atrophien sind bei Polyneuropathie meist funden werden
zu finden, bei funikulärer Spinalerkrankung sind sie sehr sel-
ten. Pyramidenbahnzeichen kommen bei Polyneuropathie 3Pathophysiologie. Die Krankheit beruht auf einer gene-
selbstverständlich nicht vor. Die Missempfindungen und sen- tisch bedingten Störung im Kupferstoffwechsel. Coeruloplas-
siblen Ausfälle gestatten keine verlässliche Differenzierung. Im min ist für die Kupferausscheidung essentiell. Ein geringer Teil
Zweifel entscheiden die Elektroneurographie sowie die Labor- des resorbierten Kupfers ist notwendig als integraler Bestand-
befunde. teil von Metalloproteinen, der überschüssige potentiell toxische
Ein Kupfermangel (s.u.) ist eine weitere, vermutlich unter- Anteil wird hepatobiliär eliminiert. Die pathologische Cu-Ab-
schätzte, behandelbare Ursache einer subakuten Myelopathie, lagerung im Gehirn und in der Leber führt zur Degeneration
die der funikulären Spinalerkrankung täuschend ähnlich sein vor allem des Linsenkerns und zur Leberzirrhose. Diese hat
kann. Diagnose: Coeruloplasmin im Serum. eine Verminderung der Albuminproduktion zur Folge, wo-
Die Kombination von Hypotonie der Beine mit positivem durch sekundär auch die Ersatzbindung des Kupfers beein-
Babinski-Reflex und Störung der Tiefensensibilität ist auch für trächtigt wird.
die Friedreich-Heredoataxie (7 Kap. 24.1.1) typisch. Diese
Krankheit tritt aber im Kindes- und Jugendalter auf, entwickelt 3Symptome und Verlauf. Allgemein lassen sich zwei Ver-
sich wesentlich langsamer als die funikuläre Spinalerkrankung laufstypen unterscheiden: während eine Krankheitsmanifesta-
und führt später auch zu zerebellärer Ataxie und Wirbelsäulen- tion bei Kindern in der Regel von der teils dramatisch ver-
veränderungen. laufenden Hepatopathie geprägt ist, dominieren im jüngeren
Erwachsenenalter neurologisch-psychiatrische Störungen das
Bild.
28.2 Hepatolentikuläre Degeneration 4 Psychisch werden die Patienten zunächst affektlabil, reiz-
(M. Wilson) bar, aggressiv und unstet. Im späteren Verlauf verfallen sie
einer stumpfen oder euphorischen Demenz.
3Definition und Epidemiologie. Diese genetisch bedingte 4 Die extrapyramidale Bewegungsstörung hat meist den
Störung im Kupferstoffwechsel führt zur pathologischen Abla- Charakter eines akinetisch-rigiden Parkinson-Syndroms. Es
618 Kapitel 28 · Stoffwechselbedingte (dystrophische) Prozesse des Nervensystems

treten aber auch choreatische, athetotische und dystone Hy- munologischen Bestimmung (unter 30 U/l enzymatisch). Im
perkinesen auf. Urin wird Kupfer stark vermehrt ausgeschieden (Normalwerte
4 Sehr charakteristisch ist eine verwaschen-dysarthrische unter 40 μg/dl/24 h). Daneben besteht eine pathologische Aus-
Sprache mit Schluckstörung. scheidung von Aminosäuren, auch von solchen, die normaler-
4 Im Laufe der Jahre lässt die rigide Erhöhung des Muskel- weise nicht im Urin erscheinen. Sie beruht auf mangelhafter
tonus wieder nach, und es entwickelt sich eine zerebelläre Bewe- Rückresorption in den durch Kupferablagerung geschädigten
gungsstörung mit Nystagmus und skandierendem Sprechen. Nierentubuli. Wenn die Ergebnisse der Urin- und Serumunter-
4 Ein wichtiges Symptom ist die Asterixis oder der flapping suchungen nicht eindeutig sind, muss bei fortbestehendem
tremor. klinischem Verdacht eine Leberbiopsie erfolgen.
> Die primäre Stoffwechselstörung bei Wilson-Patien-
Der Verlauf ist in schweren Fällen tödlich. Die Krankheits-
ten liegt in der Leber: Nach Lebertransplantation
dauer beträgt in der Regel nur wenige Jahre (Grenzwerte 5–
haben Wilson-Patienten keine Kupferstoffwechsel-
6 Monate und 3–4 Jahrzehnte). Der Tod erfolgt in akuten Fäl-
störung mehr.
len an Massennekrose der Leber, bei chronischem Verlauf an
28 Dekompensation der Leberzirrhose.
3Therapie. Die Therapie hat eine Normalisierung der Kup-
> Bei jeder extrapyramidalen Bewegungsstörung vor
ferbilanz zum Ziel.
dem 45. Lebensjahr muss ein M. Wilson ausgeschlos-
4 Die Basis ist kupferarme Diät.
sen werden!
4 Um die intestinale Kupferaufnahme zu vermindern, gibt
man Zinksulfat per os, 3- bis 5-mal 100 mg/Tag, 30 min bis 1 h
3Diagnostik. Ophthalmologie. In wenigstens 60% der vor den Mahlzeiten.
Fälle findet man den pathognomonischen Kayser-Fleischer- 4 Zur Ausscheidung des Kupfers: D-Penicillamin einschlei-
Hornhautring. Dies ist ein 1–2 mm breiter, bräunlich grüner chend, initial 150 mg/d, als Erhaltungsdosis 750–1600 mg/Tag
Streifen an der Peripherie der Hornhaut in der Descemet- in 3–4 Einzeldosen. Die Metallbindung erfolgt über lösliche
Membran, der bei durchfallendem Licht gold-gelb aufleuchtet. Chelatkomplexe.
Er ist manchmal erst unter der Spaltlampe zu erkennen. Die 4 Vitamin B6 substituieren, da DPA einen Vitamin-B6-Man-
Pigmentierung beruht auf Kupfereinlagerungen. Der Kayser- gel verursachen kann.
Fleischer-Ring findet sich manchmal auch bei anderen Leber-
erkrankungen. Wenn diese Behandlung erfolgreich ist, kann man außer der
Elektrophysiologie und neuroradiologische Befunde sind klinischen Besserung auch einen Rückgang des Hornhautrings
nicht richtungsweisend. Internistisch findet sich in der Mehr- erkennen. Nach der Natur des Leidens muss die Therapie le-
zahl der Fälle eine grobknotige Leberzirrhose mit Stauungs- benslang erfolgen. Nebenwirkungen der D-Penicillamin-The-
milz. Wichtig ist eine Erhöhung des Leberkupfers im Blind- rapie sind: toxische Ageusie, Hautausschlag, Fieber, Leukope-
punktat auf > 250 μg/g Trockengewicht. nie und Thrombozytopenie. Sie treten in den ersten 3–6 Wo-
Im Serum ist der Cu-Spiegel abnorm erniedrigt (Normal- chen der Behandlung auf. In diesen Fällen soll man das Mittel
werte <60 μg/100 ml). Pathologisch vermindert ist auch das absetzen, vorübergehend Kortikoide geben und die Therapie
Coeruloplasmin. Man findet Werte unter 0,20 g/l bei der im- langsam wieder aufbauen. Unter der Therapie mit D-Penicilla-

Facharzt
Kupferstoffwechsel und pathologisch-anatomische Befunde bei Morbus Wilson
Biochemie den. Steht dieser Eiweißkörper nicht zur Verfügung, kann das
Zentral ist die hepatozelluläre ATPase 7B als intrazellulärer Kupfer nur eine lockere Ersatzbindung an Albumin eingehen.
Kupfertransporter mit spiegelabhängiger Modifikation ihrer Aus dieser wird es zum Teil von Proteinen in den Basalganglien
Aktivität. Sie erfüllt dabei zwei Funktionen, den Kupferein- und der Leber aufgenommen, zum Teil durch den Urin ausge-
bau in Apo-Coeruloplasmin bei niedrigem Kupferspiegel und schieden.
die biliäre Exkretion bei erhöhtem Spiegel zum Erhalt der
Kupferhomöostase. Pathologie
Infolge Mutation des ATP-7B-Proteins kommt es zu Am Gehirn ist bereits makroskopisch eine bräunliche bis zie-
dessen Funktionsverlust mit Coeruloplasminsynthesestörung gelrote Verfärbung und Schrumpfung des Corpus striatum mit
und der krankheitsentscheidenden verminderten biliären Zerfallsherden zu erkennen. Mikroskopisch findet man einen
Kupferexkretion. Nach einer individuell unterschiedlich Status spongiosus mit Lückenfeldern und pathologischer
langen Phase der Kompensation durch Bindung an hepa- Gefäßwucherung, v.a. im Putamen, geringer auch in den üb-
tisches Metallothionin führt der erhöhte intrazelluläre Kup- rigen Basalganglien und im Nucleus dentatus des Kleinhirns.
fergehalt über oxidativen Stress wahrscheinlich zur Induktion Sekundär ist das Brachium conjunctivum degeneriert. Im
der Apoptose der Hepatozyten. Putamen und in der zirrhotisch veränderten Leber ist Kupfer in
Physiologischerweise wird das aus dem Darm resorbier- größeren Mengen gespeichert.
te Kupfer im Serum zu über 90% an Coeruloplasmin gebun-
28.3 · Hepatische Enzephalopathie (HE)
619 28

Empfehlungen Diagnostik und Therapie des M. Wilson*


4 Frühzeitiger Therapiebeginn und lebenslange Kontrolle 4 D-Penicillamin (DPA) ist Mittel der Wahl zur Initialtherapie
(ca.1½ jährlich) sind erforderlich (A). Wichtigster Erfolgs- bei hepatisch und neurologisch symptomatischen Patienten,
parameter der Therapie ist die Kupferausscheidung im bei Unverträglichkeit Trien (B).
24 h-Urin. 4 Eine Pyridoxinsubstitution (20 mg pro Tag) ist bei DPA-
4 Ein Familienscreening mittels Haplotypendiagnostik Medikation zu ergänzen (A).
eines diagnostizierten Wilsonpatienten ist notwendig und 4 Präsymptomatische Patienten können von Beginn an eine
betrifft alle Geschwister und Kinder (A). Zinkmedikation erhalten (B).
4 Ab einem Alter von 4–5 Jahren kann die Diagnostik bei
Verdacht bzw. positiver Familienanamnese erfolgen (A). * Empfehlungen nach den Leitlinien der DGN 2008

min kann sich initial eine neurologische Verschlechterung ein- nensäurezyklus und damit zu einer Beeinträchtigung der aero-
stellen. Auch heterozygote Familienmitglieder, die lediglich ben Glykolyse. Allerdings korrelieren die individuellen Ammo-
eine positive Kupferbilanz haben, sollen mit Diät behandelt niakwerte nicht gut mit der Schwere der HE. Normale Ammo-
werden. niakwerte schließen das Vorliegen einer HE nicht aus. Oft
Die Steigerung der Kupferausscheidung durch DPA wird kommt es bei chronischer HE zu akuten Exazerbationen, wenn
in zweifelhaften Fällen auch als Provokationstest zur Sicherung der Patient etwa eine Infektion oder gastrointestinale Blutung
der Diagnose verwendet. Trien, ein weiterer Chelatbildner, erleidet, oder aber wenn die Entgiftungskapazität der Leber
scheint in der Dauertherapie ebenfalls hochwirksam zu sein durch Diätfehler oder Medikamente überbeansprucht wird.
und besitzt ein weitaus günstigeres Nebenwirkunsprofil (leich- Neben dem Ammoniak spielen aber auch toxische Spaltpro-
ter Eisenmangel, Hypersensitivitätsreaktion) als DPA. Tetrathi- dukte des Aminosäurestoffwechsels eine Rolle, die zur Hem-
omolybdat, ein intestialer Hemmer der Kupferresorption und mung der Dekarboxylierung wichtiger Aminosäuren führen.
Chelatbildner, kann Bedeutung zur Initialtherapie erlangen. Der chronischen, hepatischen Enzephalopathie scheint
Eine Zulassung steht noch aus. Tetrathiomolybdat zeigt ge- ätiologisch eine Akkumulation von Mangan in den Basal-
ringe Nebenwirkungen, kann aber eine toxische Knochen- ganglien zugrunde zu liegen. Nach Lebertransplantation ist
markdepression auslösen. bei etwa 20% der Patienten mit ernsten, neurologischen
Die kurative Lebertransplantation ist meist erkrankten Komplikationen zu rechnen. Epileptische Anfälle und eine
Kindern mit fulminantem Leberversagen vorbehalten. Sie ist Verstärkung der schon vorbestehenden hepatischen Enze-
jedoch grundsätzlich auch bei neurologischem Verlaufstyp phalopathie können unter Immunsuppression (Ciclosporin)
aussichtsreich. auftreten.

3Symptome und Verlauf. Das klinische Syndrom ist durch


28.3 Hepatische Enzephalopathie (HE) die Trias
4 psychische Veränderung,
Unter diesem Oberbegriff werden neurologische und psychia- 4 Asterixis (7 Kap. 23.6) und
trische Störungen bei chronischen Leberkrankheiten zusam- 4 abnormes Hirnstrombild
mengefasst, die auf einer mangelnden Entgiftungsfunktion der gekennzeichnet.
Leber beruhen (s.u.).
Langsam zunehmend, stellen sich Müdigkeit, emotionale La-
3Pathophysiologie. Der hepatoportalen Enzephalopathie bilität, depressive Verstimmung, Störung im Schlafrhythmus
liegt eine insuffiziente Entgiftungsfunktion der geschädigten und Nachlassen von Antrieb und Auffassung ein. Das Vollbild
Leber zugrunde. Akute Krankheitsbilder ergeben sich bei un- ist durch Bewusstseinstrübung mit Stupor oder ein delirantes
mittelbarem Versagen der Leberfunktion selbst (Leberzerfalls- Syndrom gekennzeichnet. Im Endstadium bildet sich ein Koma
koma oder HE Typ A). aus.
Beim Leberausfallskoma (HE Typ B) ist die Ausbildung Neben der Asterixis findet man einen Rigor der Muskula-
eines Kollateralkreislaufs mit intra- und extrahepatischen por- tur, gelegentlich extrapyramidale Hyperkinesen, besonders im
tokavalen Anastomosen ätiologisch entscheidend. Über diese Gesicht, artikulatorische Sprechstörung, Reflexsteigerung und
Kollateralen, die sich bei Leberzirrhose entweder spontan bil- Enthemmung von Greifreflexen der Hand und des Mundes
den oder operativ zur Vermeidung von Varizenblutungen ange- (7 Kap. 1.5.4). Ein sehr feiner Indikator für die Beeinträchti-
legt werden, erreichen toxische Substanzen aus dem Darm den gung der Bewegungskoordination ist die Handschrift. Poly-
großen Kreislauf und damit das Gehirn, ohne in der Leber ent- neuritische Symptome sind selten.
giftet zu sein. In erster Linie handelt es sich um Ammoniak, der
unter der Einwirkung von Darmbakterien aus stickstoffhaltigen 3Diagnostik. Bei akuter, hepatoportaler Enzephalopathie
Nahrungsbestandteilen gebildet wird. Das Ammoniak wirkt findet man das EEG stets entsprechend dem klinischen
nicht nur direkt toxisch, sondern es führt durch gesteigerte Schweregrad leicht, mäßig oder schwer pathologisch verän-
Glutaminbildung zum Mangel an α-Ketoglutarsäure im Zitro- dert: Innerhalb einer sog. Allgemeinveränderung enthält das
620 Kapitel 28 · Stoffwechselbedingte (dystrophische) Prozesse des Nervensystems

28.4 Neurologische Symptome bei akuter


und chronischer Niereninsuffizienz

Beim akuten und chronischen Nierenversagen, aber auch als


Komplikation der Dialysebehandlung können Symptome von-
seiten des zentralen und peripheren Nervensystems auftreten.

28.4.1 Urämische Enzephalopathien

Akutes Nierenversagen
3Symptome. Die zentralnervösen Symptome hängen vor
allem von der Akuität der Niereninsuffizienz ab. Bei gleichen
Serumwerten etwa von Kreatinin oder Harnstoff sind die neu-
28 rologischen Symptome schwer, wenn die renale Funktions-
störung plötzlich eingesetzt hat, und nur wenig ausgeprägt,
wenn die Nierenfunktion nur langsam dekompensiert ist.
4 Psychopathologisch kommt es beim akuten Nierenver-
sagen zur Bewusstseinstrübung bis zum Koma und zur Psy-
. Abb. 28.1. Hepatische Enzephalopathie Signalveränderung der chose, vor allem vom deliranten Typ (7 Kap. 29.1.3).
Stammganglien (Pfeil) bei hepatischer Enzephalopathie. Details 4 Neurologisch können epileptische Anfälle auftreten, wie
7 Text. (B. Kress, Frankfurt) sie auch von der Eklampsie bekannt sind. Flüchtige Halbseiten-
symptome (Lähmungen, Hemianopsie) werden auf vorüber-
gehende Durchblutungsstörungen zurückgeführt.
Kurvenbild eine symmetrische, abnorme Rhythmisierung im 4 Die Eigenreflexe sind entweder gesteigert, besonders bei
Frequenzbereich der α-, Zwischen- oder δ-Wellen. Im chro- Hyperkaliämie, oder abgeschwächt bis erloschen (bei Hypernat-
nischen, irreversiblen Stadium der lebertoxischen Hirnschädi- riämie). Dabei liegt nicht notwendig eine Polyneuropathie vor,
gung hat sich das EEG wieder normalisiert. sondern es handelt sich um eine Membranstoffwechselstörung.
Im Serum findet man zunächst eine Erhöhung des Biliru- Faszikuläre Zuckungen dagegen zeigen eine Funktionsstörung
bins und der Transaminasen und später eine Verminderung des peripheren, motorischen Neurons an. Ähnlich wie bei der
der hepatischen Syntheseleistung, also eine Verminderung der hepatoportalen Enzephalopathie kann Asterixis auftreten.
Cholinesteraseaktivität unter 1500 mU/ml, pathologische Ge-
rinnungswerte und Erhöhung des Ammoniak im arteriellen 3Diagnostik. Das EEG zeigt, wie bei jeder hier besproche-
Blut über 200 μg/dl. nen Stoffwechselstörung, Allgemeinveränderung und abnorme
In der MRT sieht man oft eine T1-Signalhyperintensität in Rhythmisierung der Hirnstromtätigkeit, etwa in Abhängigkeit
den Stammganglien, die auf eine vermehrte Ablagerung von von der Schwere des Syndroms. MRT. Unspezifische Befunde.
Mangan zurückzuführen ist (. Abb. 28.1).
Chronisches Nierenversagen
3Therapie 3Symptome. Die Symptome sind bei chronischem Nieren-
4 Reduktion der Eiweißzufuhr auf anfangs 20–30 g/Tag, versagen weniger dramatisch: Kopfschmerzen, Stimmungs-
dazu allerdings Aminosäurensubstitution, v.a. von verzweigt- schwankungen, vor allem zum Depressiven hin, reizbare Leis-
kettigen Aminosäuren. tungsschwäche, Merkfähigkeitsstörungen und schlechter Schlaf
4 Medikamentöse Regulierung der Darmentleerung (1-mal werden berichtet.
täglich). Oral gibt man Laktulose 20–30 g/Tag. Laktulose ver- 4 Neurologisch sind epileptische Anfälle weit häufiger als
schiebt den pH-Wert des Darms in den sauren Bereich und beim akuten Nierenversagen. Sie werden auf die oft extreme
erleichtert dadurch die Ausscheidung von Stickstoff. arterielle Hypertonie zurückgeführt. Interessanterweise treten
4 Gabe von Ornithinaspartat (20 mg/Tag) zur Stimulation die Anfälle stets im Zustand der metabolischen Azidose auf,
der Ammoniumentgiftung. die sonst der Manifestation epileptischer Anfälle entgegen-
4 Bleibt die Besserung unbefriedigend, gibt man schwer re- wirkt. Die Azidose ist jedoch metabolisch partiell kompensiert,
sorbierbare Antibiotika, z.B. Paromomycin oder Neomycin dagegen liegen andere anfallsbegünstigende Faktoren vor: hy-
über Magensonde. Auf diese Weise werden eiweißspaltende pertensive Krisen, Überwässerung des ZNS, Hypokalzämie.
und ammoniakbildende Darmbakterien eliminiert. 4 Nicht selten entwickelt sich beim chronischen Nierenver-
sagen zusätzlich eine sensomotorische Polyneuropathie, die
Leberausfallskoma distal symmetrisch an den Beinen beginnt (s.u.).
Die chronische, hepatische Enzephalopathie geht unbehandelt
in ein Leberausfallskoma über. Neurotoxische Substanzen wer- Dysequilibriumsyndrom bei Dialysebehandlung
den in der Leber nicht mehr entgiftet, da sie die Leber nicht Bei Hämodialyse werden osmotisch wirksame Substanzen, in
mehr erreichen. erster Linie Harnstoff, rasch aus dem Blutkreislauf entfernt.
28.5 · Akute, intermittierende Porphyrie
621 28
Facharzt
Dialyseenzephalopathie
Diese progrediente und häufig letale Enzephalopathie bei auch paranoid-halluzinatorische Psychosen beherrscht. Neuro-
Patienten, die über lange Zeit hämodialysiert wurden, sieht logisch treten Myoklonien und Asterixis auf, gelegentlich auch
man heute praktisch nicht mehr. Die Krankheit beruhte auf fokale oder generalisierte epileptische Anfälle.
einer Ablagerung von Aluminium aus der Dialyseflüssigkeit Das EEG zeigt bilateral synchrone Ausbrüche hochge-
im zerebralen und zerebellären Cortex, die zu spongiöser spannter, langsamer Wellen, auch bi- oder triphasische Wellen.
Gewebsveränderung führt. Die Symptomatik wird durch Im CT finden sich meist Zeichen einer deutlichen Hirnvolu-
Sprech- und Sprachstörungen bis zum Mutismus, Perzep- menminderung. Eine kausale Therapie wäre die Nierentrans-
tionsstörungen, Erregungszustände mit Verwirrtheit und plantation.

Die Elimination des Harnstoffs aus dem Liquor und dem Ner- > Schwere, renale Retentionsstörungen können zur
vengewebe kann damit nicht Schritt halten. Dies führt nicht Enzephalopathie und Polyneuropathie führen.
selten dazu, dass osmoregulativ Wasser in das Hirngewebe ein-
strömt. Bei der protrahiert verlaufenden Peritonealdialyse ist
diese Komplikation seltener. 28.5 Akute, intermittierende Porphyrie

3Symptome. Klinisch kommt es zu Kopfschmerzen, psy- 3Epidemiologie und Ätiologie. Neurologische Komplika-
chotischen Episoden, Reflexdifferenzen, zentralen Lähmungen tionen treten in etwa 50% der Fälle von akuter, intermittie-
und epileptischen Anfällen. Im EEG finden sich viele tripha- render Porphyrie, der häufigsten Porphyrinkrankheit auf. Sie
sische Wellen. wird dominant vererbt. Frauen erkranken wesentlich häufiger
als Männer. Die ersten Symptome zeigen sich oft in der Schwan-
Nephrogene Polyneuropathie gerschaft. Das mittlere Lebensalter ist bevorzugt. Die Präva-
Die nephrogene Polyneuropathie tritt vor allem bei chro- lenz wird auf zwischen 1:10.000 bis 1:50.000 geschätzt.
nischer Niereninsuffizienz auf. Sie ist gewöhnlich früher zu Der zugrunde liegende Enzymdefekt betrifft die Uropor-
beobachten als die zentralnervösen Komplikationen der Nie- phyrinogensynthetase. Die Stoffwechselstörung tritt krisenhaft
renfunktionsstörung. Ursache der Polyneuropathie soll nicht (»akut intermittierend« ) auf. Der Nachweis erhöhter Urinkon-
nur die Wirkung von Urämietoxinen, sondern auch die Blo- zentrationen der Porphyrinvorläufer δ-Aminolävulinsäure
ckierung bestimmter Enzyme, z.B. der Pyruvat-Carboxylase, und Porphobilinogen ist vor allem im »porphyrischen Anfall«
sein. Im Ganzen ist die Pathogenese der nephrogenen Poly- möglich.
neuropathie noch nicht ganz aufgeklärt. Sie tritt gewöhnlich
bei stark erhöhten Retentionswerten auf, besonders wenn 3Pathogenese. Bei den Patienten liegt ein Mangel an Por-
gleichzeitig eine Oligurie besteht. phobilinogen-Desaminase vor. Dadurch kommt es zur ausge-
dehnten, axonalen Schädigung im zentralen und peripheren
3 Symptome. Es bestehen unangenehme Missempfin- sympathischen Nervensystem, in den peripheren somatischen
dungen in den distalen Abschnitten der Beine. Im Initialsta- Nerven und im Großhirn sowie zur Nervenzellschädigung in
dium sind auch Muskelkrämpfe der Beine häufig. Es folgen den motorischen Vorderhörnern des Rückenmarks und in der
Parästhesien, distal betonte Schwäche, Verminderung der ASR, Hirnrinde.
später der PSR, womit die zentralnervös bedingte Reflexsteige-
rung an den Armen eindrucksvoll konstrastieren kann. Hirn- 3Symptome und Verlauf. Der vollen Symptomatik der
nervenlähmungen sind sehr selten, proximale Paresen kom- akuten porphyrischen Krise gehen häufig jahrelang psychische
men praktisch nicht vor. Auffälligkeiten voraus, die von abnormen, »hysterischen« Ver-
Im EMG findet man als Zeichen des chronischen Verlaufs haltensweisen und depressiven Verstimmungen bis zu akuten,
Symptome der Denervierung und der Reinnervation neben- deliranten Psychosen reichen können. Fast immer erfährt man
einander. In vielen Fällen ist die Nervenleitgeschwindigkeit zur Vorgeschichte von akuten, kolikartigen abdominellen Kri-
besonders stark verlangsamt, so dass man hier eine Stoffwech- sen, besonders im Frühjahr und Herbst, die nicht selten Anlass
selstörung der Schwann-Zellen annehmen muss. Diese Inter- zu Bauchoperationen waren.
pretation wird durch die geringe Ausprägung von Schwäche Neurologische Symptome treten akut und schubweise
und Muskelatrophien in solchen Fällen gestützt. Neben den nach vorangehenden diffusen Muskelschmerzen mit vegeta-
Missempfindungen im Rahmen einer nephrogenen PNP lei- tiven Reizsymptomen, peripheren Lähmungen und Dysästhe-
den bis zu 30% der chronisch Nierenkranken an einem symp- sien und zerebralen Symptome auf. Das typische, akute, neuro-
tomatischen Restless leg-Syndrom (RLS) mit ausgeprägter logische Syndrom äußert sich entsprechend der oben gegebe-
Bewegungsunruhe der Beine im Liegen. Neben der Nieren- nen Einteilung in folgender Weise:
transplantation als kurativer Therapie wird ebenso wie für das 4 Vegetative Symptome: Singultus, Obstipation, kolikartige
idiopathische RLS eine Therapie mit Dopaminergika empfoh- intestinale Dyskinesen, Übelkeit und Erbrechen, Tachykardie,
len (vergl. Kap. 23.7). Schweißausbruch, Oligurie, flüchtige Amaurose und arterielle
622 Kapitel 28 · Stoffwechselbedingte (dystrophische) Prozesse des Nervensystems

Facharzt
Prophylaxe der Porphyrieattacke
Verboten sind folgende Medikamente: Barbiturate, Sulfona- Erlaubt sind bei Schmerzen Acetylsalicylsäure, Parazeta-
mide, Sulfonylharnstoffe, Valproinsäure, Phenytoin, bestimm- mol, Morphin und Morphinderivate, Methadon, und zur Se-
te Antibiotika, Pyrazolonderivate, Phenylbutazon (Butazoli- dierung Promethazin, Codein, Paraldehyd und Nitrazepam, bei
din®), Pethidin, Meprobamate, Chlordiazepam, Antikoagu- Anfällen Gabapentin.
lanzien, Hydantoine, Steroide (Östrogene, Progesteron), In der Roten Liste erscheint eine jährlich aktualisierte
Sekalealkaloide, Procain, Chloroform, Quecksilber-, Blei-, Aufzählung der verbotenen und erlaubten Medikamente.
Zink-, Phosphor-, Arsen-Verbindungen. Grundsätzlich keine
Mischpräparate! Auch Alkoholzufuhr ist untersagt.

Hypertension als Symptome von Angiospasmen. Häufig ist die grau) u.a. der M. Tay-Sachs (amaurotische Idiotie; GM2-Gang-
Temperatur leicht erhöht, die Leukozytenzahl vermehrt. liosidosen), Niemann-Pick-Krankheit, die Mucopolysacchari-
28 4 Peripheres Nervensystem: Typisch sind v.a. proximale Pa- dosen und der M. Gaucher, werden hier nicht behandelt, da sie
resen, meist symmetrisch, zum Teil aber auch asymmetrisch in das Gebiet der Pädiatrie gehören und in der Erwachsenen-
oder in Form einer Mononeuritis multiplex. neurologie kaum eine Rolle spielen. Die zentrale, pontine
4 Die zerebralen Symptome bestehen in fokalen oder ge- Myelinolyse wird bei den Alkoholkrankheiten besprochen.
neralisierten Anfällen, Halbseitenlähmung, neuropsychologi-
schen Störungen und Psychosen, häufig vom deliranten Typ. 3Ätiologie und Pathogenese. Das pathologisch-anato-
mische Substrat der Leukodystrophie ist eine fortschreitende,
3Attackenauslösung: Attacken der akut intermittierenden diffuse, symmetrische Markscheidendestruktion mit reaktiver
Porphyrie werden durch eine Reihe verschiedener Medikamen- Gliawucherung, vor allem im Marklager des Großhirns und
te oder Drogen ausgelöst. Auch hormonelle Faktoren spielen in den Kleinhirnhemisphären. Besonders schwer sind die kor-
eine Rolle, vermutlich sind deshalb Frauen häufiger betroffen. tikospinalen Bahnen befallen. Regelmäßig sind auch Faszi-
kulus und Tractus opticus ergriffen. Entzündliche Verände-
3Diagnostik. Die BSG ist beschleunigt. Der Liquorbefund rungen finden sich in der Regel nicht. Nach histologischen und
ist uncharakteristisch. Die Nervenleitgeschwindigkeit ist nor- histochemischen Kriterien werden mehrere Formen unter-
mal bei reichlicher Denervierungsaktivität im Nadelmyo- schieden.
gramm als Zeichen einer primär axonalen Schädigung.
In der porphyrischen Krise ist der Urin stets dunkel ver-
färbt. Urobilinogen im Urin ist stets in der Kälte positiv. Die 28.6.1 Metachromatische Leukodystrophie
Diagnose kann in wenigen Minuten durch den positiven Aus-
fall des einfachen Schwartz-Watson-Tests (Rotfärbung des 3Pathophysiologie. Die Krankheit beruht auf einem gene-
Urins nach Zugabe eines Aldehydreagens) zum Nachweis von tisch bedingten Mangel an Aktivität der Arylsulfatase A. Dieser
Porphobilinogen gesichert werden. Enzymmangel führt zur Speicherung von Zerebrosidsulfat in
Ein negativer Ausfall des Tests schließt eine Porphyrieatta- den Markscheiden des zentralen und peripheren Nervensys-
cke als Ursache einer akuten neurologischen Symptomatik tems sowie in den Nierentubuli.
(fast) sicher aus. Bei positivem Ausfall müssen Porphobilino-
gen und δ-Aminolävulinsäure sowie Uro- und Koproporphy- 3Symptome und Verlauf. Die neurologischen Symptome
rine quantitativ bestimmt werden, die in der porphyrischen setzen gewöhnlich im Säuglings- oder im frühen Kindesalter
Krise so gut wie immer stark erhöht sind. ein, d.h. in einer Periode, in der die Markreifung stattfindet.
Die Aktivität der Uroporphyrinogen-I-Synthetase in den Die Kinder fallen zunächst dadurch auf, dass ihre geistige und
Erythrozyten ist stark vermindert. Diese Enzymbestimmung motorische Entwicklung stehen bleibt. Dann bildet sich, chro-
eignet sich übrigens auch zur Erfassung von krankheitsgefähr- nisch fortschreitend, die typische Trias aus:
deten Genträgern. 4 doppelseitigen, spastischen Lähmungen,
4 doppelseitiger Optikusatrophie mit Blindheit und
3Therapie. Vermeidung aller Substanzen, die eine Über- 4 Demenz.
produktion der δ-Aminolävulinsäure in der Leber und damit
die akute, porphyrische Krise auslösen können. Je nach der Lokalisation treten weitere Symptome einer Lei-
tungsunterbrechung hinzu: Nystagmus, Taubheit und Ataxie,
28.6 Leukodystrophien extrapyramidale Hyperkinesen, epileptische Anfälle und – bei
etwas älteren Kindern – neuropsychologische Störungen, wie
3Definition. Leukodystrophien als Erkrankungen der wei- Aphasie oder Apraxie. Sehr selten erkranken auch Erwachsene.
ßen Substanz (griech. leukos, weiß) sind selten. Sie treten meist Sie werden zunächst durch Persönlichkeitsverfall und intellek-
familiär, bei mehreren Geschwistern oder anderen Familien- tuelle Leistungsminderung auffällig. Danach entwickeln sie
mitgliedern auf. Die Poliodystrophien, d.h. die Speicherkrank- extrapyramidale Bewegungsstörungen, epileptische Anfälle
heiten, die die graue Substanz des ZNS betreffen (griech. polios, und eine schwere Demenz.
28.7 · Mitochondriale Krankheiten
623 28

a b c

. Abb. 28.2a–c. Ausgeprägte Leukodystrophie im MRT bei meta- Veränderung der Signalgebung im kompletten hemisphärischen Mar-
chromatischer Leukodystrophie. In allen Sequenzen zeigt sich die klager, während die graue Substanz (Rinde, Basalganglien) normal ist

Der Befall der peripheren Nerven bei metachromatischer 28.6.2 Andere Leukodystrophien
Leukodystrophie bringt zwei Besonderheiten mit sich: Trotz
spastischer Lähmung fehlen oft die Eigenreflexe, und die Kin- Obwohl manchmal Leukodystrophien im jungen Erwachse-
der leiden periodisch unter heftigsten Schmerzen. nenalter auftreten, verzichten wir hier auf die Besprechung
dieser sehr seltenen und heterogenen Krankheiten und verwei-
3Diagnostik. Wie bei allen Markscheidenprozessen, findet sen auf Lehrbücher der pädiatrischen Neurologie. Allerdings
man die motorische und sensible NLG vermindert. Das EEG sollte erwähnt werden, dass es für die Adrenoleukodystrophie
ist uncharakteristisch allgemeinverändert, was zur Abgrenzung jetzt erstmalig gelungen ist, den Gendefekt in Blutstammzellen
von der subakuten, sklerosierenden Panenzephalitis wichtig von betroffenen Kindern durch einen HI-Virus-Vektor zu re-
ist. Der Liquor enthält in der Regel eine Vermehrung des Ge- parieren und diese Stammzellen zu reimplantieren. Zumindest
samteiweiß auf Werte um 1,00–2,00 g/l. nach etwas mehr als einem Jahr ist die Progredienz der ALD
Im Urin sind histochemisch metachromatische Substan- noch immer angehalten.
zen nachweisbar. Ferner findet man die Sulfatidausscheidung
im Urin vermehrt. Man bestimmt die Sulfatid-Konzentration
im Urin und die der Arylsulfatase A in Leukozyten und Fibro- 28.7 Mitochondriale Krankheiten
blasten.
Im MRT findet man eine symmetrische Signalsteige- 3Definition und Erbgang. Mitochondriale Erkrankungen
rung der weißen Substanz im Marklager der Hemisphären sind häufiger als angenommen. Die Prävalenz wird auf etwa
(. Abb. 28.2). 12/100.000 geschätzt und ist größer als bislang vermutet. Die
In der Biopsie des N. suralis stellt sich histologisch mitochondriale DNA, etwa 1% der gesamten zellulären DNA,
oder elektronenoptisch ein ausgeprägter Markscheidenzerfall erfährt 10-mal häufiger Mutationen als die nukleäre DNA. Die
dar. Histochemisch findet man Sulfatidablagerungen in den Bedeutung der Mitochondrien für den oxidativen Stoffwechsel
Schwann-Zellen und den Makrophagen des Bindegewebes. (oxidative Phosphorylierung) praktisch aller Gewebe hat zur
Folge, dass diese Mutationen bei einer Vielzahl von Krank-
3Therapie und Prognose heiten eine Rolle spielen. Einen wichtigen Hinweis auf das
Eine gesicherte Therapie existiert noch nicht. Die Enzymsubs- Vorliegen einer mitochondrialen Krankheit entnimmt man
titution ist in Erprobung ebenso wie verschiedene Verfahren bereits dem mütterlichen Erbgang: Mitochondrien werden
der Stammzelltransplantation. Die Therapie ist symptoma- fast ausschließlich über die Eizelle, nicht aber über das Sper-
tisch, vorwiegend antiepileptisch. Es gibt erste Hinweise, dass mium, weitergegeben. Mütter vererben die Krankheit an ihre
bei metachromatischer Leukodystrophie mit Arylsulfatase-A- Kinder, aber nur die Töchter vererben sie weiter. Häufig er-
Mangel eine Stammzelltransplantation wirksam ist. fährt man, dass mehrere Mitglieder der Familie mit ähnlichen
Die Prognose ist umso ungünstiger je früher die Krankheit Symptomen erkrankt sind.
beginnt. Bei spätjuvenilem oder adultem Beginn kann sie sich
über Jahrzehnte hinziehen. Bei den rasch verlaufenden infan- 3Symptome und Verläufe. Mitochondriopathien präsen-
tilen Formen besteht am Ende eine Enthirnungsstarre, in der tieren sich klinisch häufig mit neurologischer Symptomatik.
mit den Kranken kein Kontakt mehr möglich ist. Mitochondriale Zytopathien führen zu Krankheiten, die durch
624 Kapitel 28 · Stoffwechselbedingte (dystrophische) Prozesse des Nervensystems

Facharzt
Biochemische und genetische Grundlagen
Die mitochondriale DNA besteht aus einem zirkulären DNA- Befunde (sog. ragged red fibers (RRF)) und Cytochrom-c-
Molekül aus 16.569 Basenpaaren und kodiert für Proteine Oxidase (COX).
der Atmungskette. Das mitochondriale Genom wird nahezu
ausschließlich maternal vererbt. Die Erbinformation für die Molekulargenetische Diagnostik
mitochondrialen Proteine selbst sind nukleär kodiert. Die Primäre mitochondriale DNA-Analysen aus Muskelgewebe,
Proteine werden nach ihrer Synthese in die Mitochondrien nicht aus dem aus Blut (mtDNA-Deletionsscreening). Zuerst
aufgenommen. Ursache mitochondrialer Funktionsstörungen sucht man nach häufigen Punktmutationen wie 3243A>G,
können sowohl Defekte in nukleären Genen oder mtDNA- 8344A>G, 8993T>C/G). Die nächste Stufe umfasst die Sequen-
Mutationen sein. Am häufigsten treten singuläre mtDNA- zierung der mtDNA-tRNA-Gene, des mitochondrialen Genoms
Deletionen und mtDNA-tRNA-Punktmutationen auf. Histolo- oder die Untersuchung der mitochondriale Proteine kodieren-
gisch zeigen sich häufig charakteristische muskelbioptische de nukleäre DNA.
28
Beginn im Jugend- oder frühen Erwachsenenalter und sehr Komplex I, III und IV, Citratsynthase oder Coenzym-Q10-Be-
langsame Progredienz ausgezeichnet sind. Die ubiquitäre Be- stimmung).
deutung der Mitochondrien für den oxidativen Stoffwechsel 4 Molekulargenetische Diagnostik: DNA-Analyse aus Ske-
der Zellen hat zur Folge, dass die Symptomatik der entsprechen- lettmuskelgewebe zum Nachweis der häufigsten mtDNA-Mu-
den Krankheiten vielfältig, andererseits von einer Krankheit tationen, insbesondere Deletionen der mtDNA.
zur anderen ähnlich ist. 4 MRT: Man findet manchmal Basalganglienverkalkung,
4 Das Spektrum der klinischen Symptomatik reicht von mil- fokale ischämische Läsionen speziell in der weißen Substanz
den, monosymptomatischen Verläufen mit gewebsspezifischer oder ausgedehnte, zusammenhängende Signalveränderungen
Beteiligung im Erwachsenenalter bis zu schweren Multiorgan- in Hirnstamm, Thalamus und den Stammganglien sowie im
affektionen im frühesten Kindesalter. Marklager.
4 Erwachsene zeigen meist Zeichen einer Myopathie, oft as- 4 Kardiologische Untersuchung mit TTE und Langzeit-
soziiert mit einer Beteiligung des ZNS. EKG: Suche nach Herzmuskelbeteiligung und Reizleitungsstö-
4 Die häufigsten Symptome bei Kindern sind eine generali- rung. Suche nach Beteiligung anderer Organsysteme: Ophtal-
sierte Muskelhypotonie (floppy infant), psychomotorische Ent- mologischer Status, HNO-ärztliche Untersuchung, Diabetes
wicklungsverzögerung, Laktatazidose und kardiopulmonales melitus-Screening.
Versagen.
4 Die wichtigsten Krankheiten in der Neurologie haben als 3Allgemeines zur Therapie (nach den Leitlinien der DGN
Leitsymptome ophthalmologische Funktionsstörungen und 2008). Es gibt keine kausale Behandlung der Mitochondriopa-
Myopathie mit belastungsabhängiger und dann schmerzhafter thien. Experimentelle Ansätze einer Gentherapie sind noch
Muskelschwäche. nicht klinisch relevant. Die Therapie zielt auf Prävention und
symptomatische Behandlung typischer Komplikationen.
. Tabelle 28.1 listet allgemeine und spezielle Symptome auf, 4 Bei der Ernährung achtet man auf kalorienreiche Kost mit
die sich in verschiedenen Kombinationen bei mitochondri- mehreren kleinen, kohlenhydratreichen Mahlzeiten pro Tag.
alen Krankheiten finden. Die Diagnose kann zum Teil durch Körperliches Training soll regelmäßig und leicht aerob ohne
den Nachweis verschiedener, für die einzelnen Krankheits- Ausreizen der Belastungsgrenze sein.
bilder typischer Mutationen in der mitochondrialen DNA 4 Bei fieberhaften Infekten droht die Gefahr der krisen-
gestellt werden. Aus dem großen Spektrum der mitochondri- haften Verschlechterung, daher rasche Fiebersenkung und
alen Krankheiten werden einige praktisch wichtige bespro- ggf. antibiotische Behandlung, adäquate Flüssigkeitszufuhr.
chen. Bei ihnen sind Funktionsstörungen in verschiedenen Die bevorzugten Antipyretika sind Paracetamol umd Ibu-
Komplexen der mitochondrialen Atmungskette identifiziert profen.
worden, auf die wir nicht eingehen. 4 Bei kardialen Komplikationen kann die frühzeitige Herz-
schrittmacherimplantation notwendig werden. Selten werden,
3Diagnostische Prinzipien v.a. im Kindesalter bei monosymptomatischen Erkrankungen,
4 Labor: Neben dem Basislabor CK, CK-MB, LDH, Ruhe- Herztransplantationen durchgeführt.
laktat und Pyruvat im Serum. Ergometrie (Laktatanstieg?). 4 Bei der symptomatischen medikamentösen Therapie lie-
4 Muskelbiopsie mit histologischer, enzymhistochemischer gen Hinweise vor, dass Patienten mit einer Coenzym Q10- De-
und immunhistochemischer (Antikörper gegen Untereinheiten fizienz von einer Substitution profitieren. Immer wieder disku-
der Atmungskettenkomplexe) Untersuchung. Typisch, wenn- tiert wird bei verschiedenen Mitochondiopathien auch der
gleich nicht völlig spezifisch, ist der Nachweis von sog. »Ragged- Einsatz von Substanzen wie Idebanon (Quinonderivat) L-Car-
red-fibers« (RRF), Aggregaten mitochondrialer Debris mit nitin, Kreatin und Riboflavin (Vitamin B2).
einem speziellen Färbeverhalten. Zusätzlich biochemische 4 Die Behandlung der epileptischen Anfälle erfolgt mit Car-
Analytik (Bestimmung von verschiedenen Aktivitäten wie bamazepin, Lamotrigin, Levetiracetam und Gabapentin.
28.7 · Mitochondriale Krankheiten
625 28
4 Medikamente, die vermieden werden sollten sind: Valproat, 28.7.2 MELAS-Syndrom
volatile Anästhetika bei Narkosen, Statine, Resochin, Barbitu-
rate, Aminoglykosid-Antibiotika (Ototoxizität) und Chloram- Die Bezeichnung MELAS steht für mitochondrial myopathy,
phenicol. encephalopathy, lactic acidosis and stroke-like episodes. Die cha-
4 Die Prophylaxe besteht in einer humangenetischen Bera- rakteristische Befundkonstellation ist das wiederholte Auftre-
tung der Patientinnen und eventueller Pränataldiagnostik ten von schlaganfallähnlichen Episoden vor dem 40. Lebens-
(nicht für alle Erkrankungen möglich) bei Kinderwunsch. jahr, die mitochondrialen Myopathie mit RRF und die Laktata-
zidose im Blut. Das MELAS-Syndrom tritt in der ersten bis
zweiten Lebensdekade auf. Spätmanifestationen sind möglich.
28.7.1 Chronisch progressive externe Bei ca. 80% der Patienten liegt eine heteroplasmische 3243A>G
Ophthalmoplegie (CPEO) mtDNA-Punktmutation im tRNALys-Gen vor.

Man kennt die monosymptomatische Form der CPEO mit rein 3Symptome. Die Symptomatik setzt in der Kindheit ein.
ophthalmischen Symptomen, die im späten Jugendalter begin- Charakteristisch ist folgende Kombination:
nen und nur langsam progredient sind und Formen, die als 4 belastungsabhängige und dann schmerzhafte Muskel-
CPEOplus bezeichnet werden. schwäche,
4 tonisch-klonische epileptische Krampfanfälle,
3Symptome. Die langsam fortschreitende Lähmung der 4 fortschreitende Demenz und
äußeren Augenmuskeln setzt vor dem 20. Lebensjahr mit dop- 4 rezidivierende Schlaganfälle.
pelseitiger Ptose ein. Wegen des protrahierten Verlaufs führen
die Augenmuskellähmungen nur in geringem Maße zu Dop- Manche Patienten leiden unter periodischem Erbrechen. An-
pelbildern. Eine Pigmentdegeneration der Retina bleibt lange dere entwickeln eine Hypakusis und/oder Makuladegenera-
Jahre ohne funktionsbehindernde Sehstörungen. tion.
Zusätzliche Symptome bei der Plusvariante sind: leichte
Spastik und Ataxie, beidseitige Innenohrschwerhörigkeit, eine 3Diagnostik
proximale Myopathie ohne andauernde, nur mit belastungs- 4 MRT mit multiplen fokalen Läsionen, die keinem vasku-
abhängiger Muskelschwäche und mit nur geringen, myopa- lären Territorium entsprechen, manchmal Veränderungen wie
thischen EMG-Veränderungen, Eiweißvermehrung im Liquor, bei CPEO.
Demenz und Störungen der kardialen Überleitungszeit bis 4 Muskelbiopsie und molekulargenetische Diagnostik
zum AV-Block. (3243A>G-Punktmutation der mtDNA).
Sehr schwer verlaufende Fälle werden auch heute noch als 4 Bei der Laboruntersuchung findet man eine Laktatazidose.
Kearns-Sayre-Syndrom bezeichnet. Diese Patienten entwickeln Im Muskelbiopsat ist Coenzym Q vermindert.
neben der Ophthalmoplegie schon früh eine Pigmentdegene-
ration der Retina, haben eine Innenohrschwerhörigkeit, sind 3Therapie. Zur Behandlung wird eine glukose- und kalorien-
kleinwüchsig und untergewichtig. Hinzu kommen endokrino- arme Diät empfohlen. Medikamentös soll Prednison nützlich
logische Störungen (Hypothyreose, Unterfunktion der Sexual- sein. Arginin soll die anfallsähnlichen Symptome vermindern.
organe) und eine intellektuelle Minderbegabung. Die Mehr-
zahl der CPEOplus-Patienten sind sporadische Erkrankungs-
fälle (mtDNA-Deletionen). 28.7.3 MERRF-Syndrom

3Diagnostik. In der endokrinologische Untersuchung über- Die Abkürzung MERRF steht für myoclonus epilepsy with
prüft man die Wert der Schilddrüse und Hypothalamus-Hypo- ragged red fibers. Bei ca. 80% der Patienten liegt eine Punktmu-
physen-Achse. tation an Position 8344 der mtDNA vor. Es gibt Überlappungen
4 Molekulargenetik aus dem Muskel (mtDNA-Deletions- mit dem MELAS-Syndrom.
screening) zur Untersuchung von POLG1, Twinkle-Gen.
4 Die Mehrzahl der Patienten sind sporadische Fälle auf- 3Symptome. Die Symptomatik entwickelt sich im Jugend-
grund von singulären mtDNA-Deletionen. oder frühen Erwachsenenalter mit sehr langsamer Progredi-
4 Beim Kearns-Sayre-Syndrom kann auch eine Liquorunter- enz. An Symptomen des ZNS treten auf:
suchung (Eiweisserhöhung) und eine MRT des Kopfes (Signal- 4 Myoklonien,
veränderungen im Marklager, Thalamus und Stammganglien) 4 generalisierte, epileptische Krampfanfälle,
durchgeführt werden. 4 zerebelläre Ataxie und
4 In der Muskelbiopsie kann man herdförmige Ausfälle der 4 progrediente Demenz.
Cytochrom-C-Oxidase und die oben erwähnten ragged red
fibers (RRF) finden. Manchmal besteht Spastik, Optikusatrophie, Schwerhörigkeit,
Beeinträchtigung der Tiefensensibilität und/oder Zeichen der
Polyneuropathie mit belastungsabhängiger Schwäche.
Mit dem MERRF-Syndrom ist das Ramsay-Hunt-Syndrom
verwandt. In der Pubertät entwickelt sich eine progrediente, ze-
626 Kapitel 28 · Stoffwechselbedingte (dystrophische) Prozesse des Nervensystems

Facharzt
Andere seltene Mitochondriopathien des Jugend- und Erwachsenenalters
Leber’sche hereditäre Optikusneuropathie. Zunächst Mitochondriale Myopathie (MM). Leitsymptom ist die be-
unilaterale, im Verlauf von Wochen bis Monaten bilaterale, lastungsabhängige Muskelschwäche mit Rhabdomyolysen.
progressive schmerzlose und die zentralen Gesichtsfelder Augenmuskeln sind nicht betroffen. Die Mutationen betreffen
betreffende Visusminderung, vorwiegend bei jungen Män- Gene, die für die Atmungskette kodieren.
nern. Selten findet man weitere neurologische Auffälligkeiten
und Bewegungsstörungen wie Ataxie und Dystonie. Kardiale Coenzym-Q10-Defizienz. Diese Gruppe von autosomal-
Arrhythmien sind häufig. Neben Erkrankungsfällen mit mater- rezessiv vererbten Störungen umfasst verschiedene Manifesta-
nalem Erbmodus gibt es auch häufig sporadische Fälle. tionen, die meist im Säuglings und Kindesalter relevant wer-
den. Betroffen sind verschiedenste Organsysteme (Muskeln,
Neuropathie, Ataxie und Retinitis pigmentosa (NARP). Leber, Kleinhirn, Auge, extrapyramidalmotorisches System).
Zu diesen Symptomen treten Kleinwuchs und Entwicklungs- Näheres in der Spezialliteratur der Kinderneurologie und der
28 verzögerung, Anfälle und Myopathie. Auch hier liegt eine
mtDNA-Punktmutation zugrunde (8993T>G/C). Schwerer
genetisch bedingten Stoffwechselstörungen.

verlaufende Formen beginnen schon im Kindesalter.

rebelläre Ataxie mit stimulusinduzierten Myoklonien und sel- asymptomatische, aber pathognomonischen Augenbeteiligung
tenen generalisierten, epileptischen Anfällen. Demenz tritt nicht (Cornea verticillata).
ein.
3Diagnostik. Im kranialen MRT zeigt sich im Verlauf eine
Leukenzephalopathie. Die »Small-fiber-Neuropathie« kann
28.8 Morbus Fabry sich dem Nachweis mit konventionellen elektrophysiolo-
gischen Methoden entziehen. Der klinische Verdacht kann nur
3Definition und biochemische Grundlagen. Beim M. Fa- durch eine genetische Untersuchung bestätigt werden.
bry handelt es sich um eine seltene, X-chromosomal vererbte Bei Männern kann auch die Bestimmung der α-Galak-
lysosomale Speicherkrankheit, bei der Veränderungen des tosidase A-Aktivität im Serum zur Diagnose beitragen. Bei
GAL-Gens zu einer verminderten Aktivität des Enzyms α-Ga- Frauen ist diese Untersuchung wegen eventuell heterozygotem
laktosidase A führen. Daraus resultiert eine generalisierte Ab- Status nicht zuverlässig, es ist primär eine Gensequenzierung
lagerung von Glycosphingolipiden vor allem im Endothel der notwendig, da sie den genetischen Defekt »mosaikartig« in
Gefäße, in Neuronen, im Herzmuskel, den Nieren und in der verschiedenen Körpergeweben exprimieren.
Haut.
3Therapie und Prognose. Ohne Therapie ist die Lebenser-
3Symptome. Die Erkrankung manifestiert sich meist wartung insbesondere wegen der zerebrovaskulären, kardialen
schon im Kindes- und Jugendalter mit chronischen akrodista- und renalen Manifestationen um 15 bis 20 Jahre reduziert.
len Schmerzen, die durch eine Polyneuropathie der kleinen 4 Seit einiger Zeit steht jedoch eine intravenöse rekombi-
Schmerzfasern bedingt sind. Es kann zu akuten Exazerbatio- nante Enzymersatztherapie zur Verfügung, so dass eine früh-
nen der Schmerzen kommen (»Fabry-Krise«). Eine Hörmin- zeitige Diagnosestellung der Erkrankung wichtig ist, um das
derung und vermindertes Schwitzen mit erhöhter Hitzeemp- Fortschreiten der Erkrankung aufzuhalten.
findlichkeit werden vermutlich ebenfalls durch eine Beteili- 4 Trotz Enzymersatztherapie können Symptome bestehen
gung des peripheren Nervensystems verursacht. bleiben, die einer zusätzlichen Therapie bedürfen.
Das Risiko für das Auftreten eines Schlaganfalls ist auf- 4 Neuropathischen Schmerzen sprechen auf eine Therapie
grund der Beteiligung der zerebralen Gefäße und auch von mit Carbamazepin, Gabapentin, Phenytoin, Oxcarbazepin oder
Embolien infolge der der kardialen Beteiligung erhöht. Bei jun- Topiramat an.
gen Patienten mit einem Schlaganfall sollte nach zusätzlichen 4 Die Sekundärprophylaxe nach Schlaganfall unterschei-
Symptomen eines M. Fabry gefahndet werden. Diese bestehen det sich ansonsten nicht von Patienten ohne Vorliegen eines
neben der Herzbeteiligung (Herzvitien, hypertrophe Kardio- M. Fabry und richtet sich nach der zugrunde liegenden Ur-
myopathie, kardiale Arrhythmien bis hin zur Schrittmacher- sache (kardiogen oder atherothrombotisch).
pflicht, Vorhofflimmern) in einer Niereninsuffizienz, gastro- 4 Eine Dialysetherapie bei Niereninsuffizienz und eine Schritt-
intestinalen Syndromen, Hautbeteiligung (Angiokeratome im macherimplantation bei kardialen Arrhythmien können not-
periumbilikalen und genitalen Bereich) und einer klinisch wendig werden.
28.8 · Morbus Fabry
627 28

In Kürze

Funikuläre Spinalerkrankung Neurologische Symptome bei akuter und chronischer


Niereninsuffizienz
Degenerativer Entmarkungsprozess in Strangsystemen des
Rückenmarks durch Vitamin-B12-Mangel, meist kombiniert Urämische Enzephalopathien. Akutes Nierenversagen
mit perniziöser Anämie. verursacht Bewusstseinstrübung bis Koma oder Psychose mit
Symptome setzen subakut innerhalb von Wochen oder gesteigerten oder abgeschwächten Eigenreflexen, Asterixis.
langsam progredient ein: Brennende Missempfindungen Chronisches Nierenversagen wird begleitet von Kopf-
in Füßen, Händen, Unterschenkel und -arme, abnorme Er- schmerzen, Stimmungsschwankungen bis zur Depression,
müdbarkeit beim Gehen, Paraparese der Beine mit sensibler Merkfähigkeits- und Schlafstörungen, epileptischen Anfällen,
Ataxie. Unbehandelt: partielle Querschnittslähmung. sensomotorischer Polyneuropathie. Dysequilibriumsyndrom
Diagnostik: meist makrozytäre und hyperchrome Anämie bei Dialysebehandlung mit psychotischen Episoden, Kopf-
und hypersegmentierte Granulozyten, bei grenzwertigen schmerzen, Reflexdifferenzen, zentralen Lähmungen, epilep-
Vitamin B12-Spiegeln, Bestimmung von Methylmalonsäure tischen Anfällen. Nephrogene Polyneuropathie bei chro-
und Homocystein nischer Niereninsuffizienz: Restless-legs-Syndrom, Muskel-
Therapie: Stillstand des degenerativen Prozesses und Rück- krämpfe der Beine, distal betonte Schwäche, Verminderung
bildung durch B12-Präparate. des Achilles-, später Patellarsehnenreflexes.
Differentialdiagnose: Chronische Polyneuropathie, Fried-
reich-Heredoataxie. Akute, intermittierende Porphyrie

Hepatolentikuläre Degeneration (M. Wilson) Mangel an Porphobilinogen-Desaminase bewirkt neurolo-


gische Komplikationen mit jahrelang vorausgehenden psy-
Störung im Kupferstoffwechsel durch pathologische Ablage- chischen Auffälligkeiten. Attacken werden durch Medika-
rung resorbierten Kupfers in Leber, Basalganglien, mente, Drogen oder Hormone ausgelöst. Neurologische
Hirnstamm-, Kleinhirnstrukturen, Cornea. Tritt zwischen Symptome: Akut und schubweise nach vorangehenden dif-
15. und 20. Lebensjahr auf. fusen Muskelschmerzen mit vegetativen Reizsymptomen,
Symptome: Aggressivität, stumpfe oder euphorische De- peripheren Lähmungen und Dysästhesien. Vegetative Symp-
menz, choreatische, athetotische und dystone Hyperkinesen, tome: Singultus, Obstipation, kolikartige intestinale Dyskine-
verwaschen-dysarthrische Sprech- und Schluckstörung, sen, Übelkeit, Tachykardie, Schweißausbruch, Oligurie. Zere-
zerebelläre Bewegungsstörung mit Nystagmus. In schweren brale Symptome: Fokale oder generalisierte Anfälle, Halb-
Fällen Tod durch Massennekrose der Leber, bei chronischem seitenlähmung, neuropsychologische Störungen, Psychosen.
Verlauf durch Dekompensation der Leberzirrhose. Diagnostik: BSG ist beschleunigt; Liquor ist uncharakteris-
Diagnostik: Pathognomonischer Kayser-Fleischer-Hornhaut- tisch; Urin stets dunkel gefärbt.
ring; EEG bleibt uncharakteristisch; Serum: Niedriger Cu- Medikamentöse Therapie zur Schmerzlinderung.
Spiegel; Urin: vermehrtes Ausscheiden von Kupfer.
Lebenslange medikamentöse Therapie zur Normalisie- Leukodystrophien
rung der Kupferbilanz, kupferarme Diät.
Fortschreitende, diffuse, symmetrische Markscheidendestru-
Hepatoportale Enzephalopathie ktion mit reaktiver Gliawucherung, vor allem in Marklager des
Großhirns und Kleinhirnhemisphären.
Neurologische und psychiatrische Störungen bei chroni-
schen Leberkrankheiten durch mangelnde Entgiftungsfunk- Metachromatische Leukodystrophie. Symptome: Doppel-
tion der Leber bei portokavalem Shunt. seitige, spastische Lähmungen, doppelseitige Optikusatrophie
Symptome: Psychische Veränderung, Asterixis und abnor- mit Blindheit und Demenz; Nystagmus, Taubheit, Ataxie, extra-
mes Hirnstrombild; langsam zunehmende Müdigkeit, emo- pyramidale Hyperkinesen, epileptische Anfälle, neuropsycho-
tionale Labilität, depressive Verstimmung, Störung im Schlaf- logische Störung. Endstadium: Enthirnungsstarre, in der kein
rhythmus, Rigor der Muskulatur, extrapyramidale Hyperkine- Kontakt mehr möglich ist. Diagnostik: EEG ist uncharakteris-
sen, Sprechstörung. tisch allgemeinverändert, Liquor: Gesamteiweißvermehrung;
Diagnostik: EEG stets leicht, mäßig oder schwer patholo- CT/MTRT: Symmetrische Dichteminderung weißer Substanz
gisch verändert; Serum: Erhöhung von Bilirubin und Trans- im Marklager der Hemisphären; Biopsie des N. suralis: Histo-
aminasen, Verminderung der hepatischen Syntheseleistung. logisch oder elektronenoptisch ausgeprägter Markscheiden-
Therapie: Reduktion der Eiweißzufuhr, medikamentöse zerfall.
Regulierung der Darmentleerung. Symptomatische, antiepileptische Therapie.
6
628 Kapitel 28 · Stoffwechselbedingte (dystrophische) Prozesse des Nervensystems

Mitochondriale Krankheiten Chronisch Progressive Externe Ophthalmoplegie. Symp-


tome: Chronisch verlaufende Lähmung äußerer Augenmus-
Prävalenz: 12/100.000 Einwohner. Beginn im Jugend- oder keln mit neurologischen und nichtneurologischen Symptome
frühen Erwachsenenalter, langsame Progredienz, milde wie leichte Spastik und Ataxie, beidseitige Innenohrschwer-
Verläufen mit gewebsspezifischer Beteiligung im Erwachse- hörigkeit, proximale Myopathie.
nenalter bis zu schweren Multiorganaffektionen im frühesten
Kindesalter. MELAS-Syndrom. Symptome: Belastungsabhängige, schmerz-
Symptome: Myopathien bei Erwachsenen, generalisierte hafte Muskelschwäche, tonisch-klonische epileptische Krampf-
Muskelhypotonie, psychomotorische Entwicklungsver- anfälle, fortschreitende Demenz, rezidivierende Schlaganfälle.
zögerung, Laktatazidose, kardiopulmonales Versagen bei
Kindern. MERRF-Syndrom. Symptome: Myoklonien, generalisierte,
Diagnostik: Labor; Muskelbiopsie mit histologischer, en- epileptische Krampfanfälle, zerebelläre Ataxie, progrediente
zymhistochemischer und immunhistochemischer Untersu- Demenz, Spastizität bei Jugendlichen und jungen Erwachse-
28 chung; DNA-Analyse; MRT: Basalganglienverkalkung, fokale nen.
ischämische Läsionen oder ausgedehnte, zusammenhän-
gende Signalveränderungen in Hirnstamm, Thalamus, Leber’sche hereditäre Optikusneuropathie. Symptome:
Stammganglien und Marklager. Unilaterale, später bilaterale, progressive schmerzlose Visus-
Keine kausale Therapie: Prävention und symptomatische minderung bei jungen Männern.
Behandlung typischer Komplikationen, kalorienreiche Kost, M. Fabry: lysosomale Speicherkrankheit mit schmerzhafter
körperliches Training. Neuropathie und erhöhen Schlaganfall-Risiko. Es gibt eine
Enzymersatztherapie bei jungen Menschen.
29

29 Alkoholassoziierte Psychosen und


Alkoholschäden des Nervensystems
29.1 Alkoholassoziierte Psychosen – 630
29.1.1 Akute Alkoholintoxikation (Rausch) – 630
29.1.2 Pathologischer Rausch – 630
29.1.3 Alkoholdelir (Entzugsdelir, Delirium tremens) – 630
29.1.4 Alkoholhalluzinose – 633

29.2 Alkoholschäden des Nervensystems – 634


29.2.1 Alkoholbedingte Polyneuropathie – 634
29.2.2 Wernicke-Korsakow-Syndrom – 635
29.2.3 Zentrale, pontine Myelinolyse (CPM) – 637
29.2.4 Lokalisierte, sporadische Spätatrophie der Kleinhirnrinde – 637
29.2.5 Hirnrindenatrophie und Alkoholdemenz – 638
29.2.6 Andere alkoholassoziierte Krankheiten und Syndrome – 638
630 Kapitel 29 · Alkoholassoziierte Psychosen und Alkoholschäden des Nervensystems

> > Einleitung 3. Stadium: Narkotisches Stadium. Bei 2–3‰ kommt es zur
Bewusstseinstrübung und Bewegungsarmut. Sie kann
Es wird ja seit vielen Jahren sehr darüber geklagt, dass Deutsch- durch Unterzuckerung und Unterkühlung des reglosen
land in vielen Bereichen führende Positionen verloren habe. Das Patienten auch bei Temperaturen über 0°C tödlich enden.
gilt für die Wissenschaft, den Sport, die Kultur und vor allem auch 4. Stadium: Koma und Asphyxie. Bei Alkoholspiegeln von
für die Schulbildung. Die PISA-Studien haben dies im internatio- 4–6‰ besteht bei den bewusstlosen Intoxizierten akute
nalen Vergleich bestätigt. Gleichzeitig kamen aber auch Daten, Lebensgefahr durch erloschene Schutzreflexe, Atem-, Herz-
die belegen, dass die deutsche Jugend doch in einigen Berei- und Kreislaufversagens.
chen international eine Spitzenposition einnimmt. Solche Spitzen-
leistungen erreichen unsere Nachwuchshoffnungen im Anteil der 3Alkohol und Medikamente. Alle Pharmaka, die zentral-
Raucher bei unter 16-Jährigen (speziell Mädchen) und beim nervöse Effekte haben, vor allem Psychopharmaka und Anti-
Konsum alkoholischer Getränke. Dies ist keine erfreuliche Aus- epileptika, können die Wirkung alkoholischer Getränke ver-
sicht, hat doch der gesundheitsschädliche Alkoholgebrauch in stärken sowie durch Alkohol in ihrer eigenen Wirkung ver-
Deutschland insgesamt zugenommen. Hinter Tschechien sind wir stärkt werden.
Nummer 2 weltweit im Bierkonsum und liegen auch bei harten
Drinks nur knapp hinter den wodkatrinkenden Weltmeistern aus 3Therapie. Beim unkomplizierten Alkoholrausch ist die
Verlaufsbeobachtung das Vorgehen der Wahl. Eine Beschleu-
29 Russland.
Pathologischer Alkoholkonsum führt zu einer großen Zahl nigung des Alkoholabbaus über ca. 0,13‰ pro Stunde ist nicht
von Störungen des Nervensystems, deren Kenntnis zum Wissens- möglich.
stand eines jeden Arztes gehören muss. Deshalb werden die 4 Zur Dämpfung erregter Patienten Haloperidol oder ande-
alkoholbedingten Erkrankungen hier in einem eigenen Kapitel re Neuroleptika.
zusammengefasst und in anderen Kapiteln, z.B. bei den Polyneu- 4 Die Überwachung und Behandlung auf der Intensivstation
ropathien, nur mit kurzen Hinweisen erwähnt. ist besonders in den Stadien 3 und 4 der Alkoholintoxikation
Die Feststellung eines Alkoholismus ist nicht immer einfach. notwendig. Bei Alkoholspiegeln über 4‰ ist die Dialyse zu er-
Bei der Erhebung von Anamnese und Fremdanamnese ist die wägen.
Neigung der Betroffenen und oft ihrer Angehörigen, den Alko-
holkonsum zu bagatellisieren, besonders zu berücksichtigen.
Hinweise auf einen Alkoholismus sind soziale Faktoren wie 29.1.2 Pathologischer Rausch
Arbeitsplatzverlust und Vereinsamung, wiederholte Führer-
scheinentzüge, vor allem aber die klinischen Zeichen wie ein Beim pathologischen Rausch entstehen bereits bei geringer
feiner Tremor der vorgestreckten Hände, ein Foetor alcoholicus, Alkoholaufnahme schwere Intoxikationssymptome. Dies wird
Zeichen der Leberdysfunktion, eine globale Muskelverschmäch- auf eine verminderte Alkoholtoleranz zurückgeführt, die bei
tigung verbunden mit Stammfettsucht, faziale Teleangiektasien Hirnerkrankungen unterschiedlicher Art, bei schweren All-
und eine typische Laborkonstellation: hyperchrome Anämie; gemeinerkrankungen und bei körperlicher und seelischer Er-
erhöhte Werte für Alkohol, GGT, S-GOT, S-GPT, CDT, AP, Gesamt- schöpfung entstehen soll. Er ist wegen der mit ihm verbunde-
stickstoff, Bilirubin, Kreatinin; bei schweren Leberfunktionsstö- nen (und manchmal nur behaupteten) Amnesie von besonde-
rungen erniedrigte Cholinesterase. rer forensischer Bedeutung.

3Symptomatik. Es handelt sich um eine toxische Psychose,


29.1 Alkoholassoziierte Psychosen die abrupt einsetzt und gewöhnlich nicht mehr als eine Stunde
dauert. Die Patienten sind psychomotorisch erregt, ängstlich
29.1.1 Akute Alkoholintoxikation (Rausch) oder aggressiv, neigen zu Wutausbrüchen und anderen, ge-
wöhnlich persönlichkeitsfremden Handlungen. In der Regel
3Symptomatik. Schon der einfache Alkoholrausch ist eine schlafen die Patienten danach ein. Nach dem Erwachen ver-
leichte toxische Psychose. Die Alkoholintoxikation lässt sich in bleibt eine Amnesie.
vier Stadien einteilen:
1. Stadium: Die euphorische Phase (Alkoholrausch). Es 3Therapie. Eine Therapie ist wegen der kurzen Dauer oft
kommt bei einem Blutalkohol von 0,5 bis 1‰ zur Hebung weder erforderlich noch möglich. Bei Fremd- oder Selbstge-
der Stimmung, des Selbstwertgefühls und zu vermehrtem fährdung sind parenteral Benzodiazepine (z.B. Valium®) oder
Rededrang, Erscheinungen, die beim gesellschaftlichen Butyrophenone (Haldol®) indiziert, Opioide dagegen, wie
Trinken durchaus toleriert werden. beim Alkoholdelir (s.d.), streng kontraindiziert.
2. Stadium: Erregungsstadium. Bei 1–2‰ Blutalkohol kommt
es zu Denkstörungen, zur Enthemmung, oft mit Fahrten
unter Alkohol, und zur Aggressivität, die nicht selten in 29.1.3 Alkoholdelir (Entzugsdelir,
Wirtshausschlägereien endet. In diesem Stadium treten Delirium tremens)
Doppelbilder und Gangstörungen als Ausdruck einer ze-
rebellären Intoxikation hinzu; zudem kommt es zur Min- 3Definition und Epidemiologie. Das Delirium tremens ist
derung der Schmerzempfindung. die häufigste Alkoholpsychose. Es trifft etwa 15% der Alko-
29.1 · Alkoholassoziierte Psychosen
631 29
Facharzt
Pathogenese des Delirs
Die jahrelange und regelmäßige Zufuhr der global das Zen- 2-Rezeptoren gipfelt in einer vegetativen Fehlregulation mit
tralnervensystem dämpfenden Droge Äthylalkohol führt zu Tachykardie, Hypertonie, Hyperthermie, Tremor, Hyperhidrose
Kompensationsmechanismen auf verschiedenen Ebenen. (»Noradrenalinsturm«). Die nach drei bis fünf Tagen einset-
Die wichtigsten sind die herunter regulierte GABA-erge zende überschießende Bildung der Dopaminrezeptoren er-
Hemmung, die Aktivitätsvermehrung des Glutamat-ergen klärt das verzögerte Auftreten von produktiv psychotischen
Systems, die Reduktion der inhibitorischen Alpha-2-Rezep- Symptomen mit Halluzinationen, Suggestibilität und illusio-
toren und die Verminderung der vom Alkohol aktivierten närer Verkennung. Hieraus ergibt sich die Therapie mit
Dopaminrezeptoren. Fällt die global hemmende Droge GABAergen Substanzen (Clomethiazol, Benzodiazepine), anti-
Alkohol weg, führen GABA-erge Insuffizienz und überschie- Glutamatergen Mitteln (Carbamazepin), mit Alpha-2-Rezep-
ßende Glutamat-erge Aktivität zu Unruhe, Agitiertheit, Angst toren-Agonisten (Clonidin) und anti-Dopaminergen Pharmaka
und zu hirnorganischen Anfällen. Die Insuffizienz der Alpha- (klassische Neuroleptika).

holkranken und folgt meist einem unbeabsichtigtem oder


beabsichtigten Entzug nach monate- oder jahrelanger, regel-
mäßiger Zufuhr von mindestens 80 bis 120 g reinem Alkohol
täglich. »Kontinuitätsdelirien« oder Delirien auf dem Höhe-
punkt von Trinkexzessen sind dagegen selten. Typischerweise
zwei bis drei Tage nach Unterbrechung oder drastischer Ver-
minderung der Alkoholzufuhr, kann bei Alkoholkranken
ein manifestes Alkoholdelir ausbrechen. Warum nur etwa 15%
der Alkoholiker überhaupt Delirien erleiden, aber etwa 20%
der Betroffenen wiederholt, ist nicht bekannt. Der Spontan-
verlauf des unbehandelten Delirs ist selbstlimitierend mit
einer spontanen Erholung nach 5–7 Tagen. Die Letalität des
unbehandelten Delirs liegt bei 15%, unter optimaler Therapie
bei 2%.

3Symptomatik. Das Alkoholdelir ist eine delirante Psy-


chose mit besonders ausgeprägter vegetativer Symptomatik. a
Psychopathologisch besteht das delirante Syndrom aus der
Symptomkombination:
4 Vigilanzstörung,
4 Desorientiertheit,
4 psychomotorische Unruhe mit meist ängstlicher Erre-
gung,
4 illusionäre Verkennung von Gegenständen (Lüftungsab-
zug → Fernsehkamera oder Infusionsständer → bedrohliche
Person)
sowie
4 Halluzinationen, meist visueller oder haptischer Natur, in
denen kleine, bewegte Objekte oder Tiere, z.B. auf dem Fuß-
boden oder auf der Bettdecke, gesehen werden.

Typisch sind Schreckhaftigkeit, motorischer Unruhe (Nesteln,


Bettflucht), Heiterkeit oder panischer Angst mit Selbst- und b
Fremdgefährdung, epileptischen Anfällen, in schweren Ver-
läufen Bewusstseinstrübung und Koma. Diese Symptome sind . Abb. 29.1. Das Alkoholdelir, gezeichnet von Wilhelm Busch.
a Der Trinker fühlt sich von einer Person bedroht, die nur eine illu-
nicht spezifisch und kommen ebenso bei organischen Psy-
sionäre Verkennung des Kleiderständers ist. Er fürchtet sich, wehrt
chosen anderer Ursache vor. Hinzu kommen produktiven
sich vehement, zerwühlt sein Bett und wird gleichzeitig von hap-
Symptome: Aufgrund illusionärer Verkennungen werden Arzt tischen Halluzinationen (ein Hummer zwickt ihn in den verlängerten
und Pflegepersonen zum Beispiel als Kellner verkannt, Ge- Rücken) gequält, b Andere optische und haptische Halluzinationen
genstände im Krankenzimmer werden als bedrohlich erlebt. sind in dieser Abbildung dargestellt. Häufig werden Insekten ge-
Die Halluzinationen sind in der Regel optisch-szenisch (hal- sehen und gefühlt. Die berühmten weißen Elefanten sind dagegen
luzinierter Besuch der Trinkkumpanen am Bett) oder optisch- selten
632 Kapitel 29 · Alkoholassoziierte Psychosen und Alkoholschäden des Nervensystems

haptisch (der Patient sieht und fühlt kleine Tierchen auf der Entzugsdelirien beim gleichzeitigen Missbrauch mehrerer Subs-
Haut, die er aufzunehmen trachtet). Die Kranken sind sugges- tanzen.
tibel und lesen vom leeren Blatt ab (. Abb. 29.1), sie telefonie-
ren durch das Stethoskop des Arztes oder manipulieren mit ä Der Fall
einem imaginären Faden, den ihnen der Untersucher in Bis zu seinem Arbeitsunfall, bei dem er sich eine komplizierte
die Hand gibt. Die vegetative Entgleisung manifestiert sich Unterschenkelfraktur zugezogen hatte, sei der 35-jährige Bau-
mit einem groben Zittern der Extremitäten und des ganzen arbeiter immer gesund gewesen. Am dritten postoperativen Tag
Körpers, mit Tachykardie, Hypertonie, Fieber und profusem wurde der neurologische Konsiliarius in die Chirurgie gebeten,
Schwitzen. da der Patient einen von den Schwestern auf der Station beob-
Bei der Untersuchung des Delirkranken ist besonders auf achteten epileptischen Anfall erlitten hatte. Bei der Untersu-
Begleiterkrankungen und Komplikationen zu achten, die bei chung war er wieder bewusstseinsklar, er hatte einen Zungenbiss
Alkoholikern gehäuft auftreten: Schädel-Hirn-Traumen, Frak- und wirkte nervös und fahrig. Seine Bewegungen waren unsi-
turen, Pneumonie, Pankreatitis, Gastritis, Ösophagusvarizen, cher, überschießend, die Stimme etwas zittrig. Die Hände zeigten
Hypoglykämie, Leberparenchymerkrankungen, Gerinnungs- ein leichtes Zittern, der Patient schwitzte stark, war tachykard
störungen, Anämie, alkoholtoxische Kardiomyopathie. und sehr unruhig.
Zur Person war er orientiert, die Situation erfasste er nicht
3Zusatzdiagnostik.
29 4 Röntgenuntersuchung des Thorax wegen besonderer In-
im ganzen Zusammenhang, und den Neurologen behauptete er
zu kennen. Immer wieder unterbrach er den Blickkontakt und
fektgefährdung schaute im Zimmer herum, manchmal machte er Handbewegun-
4 EKG und Echokardiographie (alkoholische Kardiomyo- gen, als wolle er etwas wegwischen oder verscheuchen. Darauf
pathie) angesprochen, erwähnte er Schmetterlinge und fliegende Blät-
4 Labor: Leukozyten, BSG, CRP, Blutalkohol, CDT, Leber- ter. Auf die Aufforderung, von einem unbeschriebenen weißen
werte, Gerinnungsparameter und Cholinesterase (Leberfunk- Blatt die Speisekarte vorzulesen, »las« er einige Wörter vor, brach
tion), die Elektrolyte, (Serum-Natrium wegen der Gefahr ei- dies jedoch schnell ab. Auch nach einem nicht vorhandenen
ner zentralen pontinen Myelinolyse (CPM)), CK wegen Ge- Faden, den der Untersucher ihm vorzuhalten vorgab, griff er
fahr der Rhabdomyolyse (CK-Werte, bis zu 100.000 U/l.) wiederholt und schien sich zu ärgern, dass er den Faden nicht
4 CCT oder MRT bei Verdacht auf Verletzungen, Anfälle, erfassen konnte.
Myelinolyse, V.a. Wernicke-Enzephalopathie Zur Anamnese war zu erfahren, dass der Patient an seiner
4 Ein EEG sollte nach dem Auftreten von Anfällen bzw. bei Arbeitsstelle schon tagsüber bis zu 5 Flaschen Bier trinke, zu
komatösen Patienten zum Ausschluss eines nichtkonvulsiven Hause abends dann noch 2–3 weitere Flaschen, »aber keinen
Status epilepticus durchgeführt werden Schnaps« .
4 LP zum Ausschluss einer Meningoenzephalitis, die auch Bei diesem Patienten, der einen Alkoholabusus betrieb,
delirante Symptome machen kann (Vorsicht bei Gerinnungs- bisher aber nicht als Alkoholkranker auffällig geworden war, hat
störungen, vorher CT). sich in einer ungewollten Entzugssituation nach einem Arbeits-
unfall das Vollbild eines Alkoholentzugsdelirs mit Entzugskrampf,
Andere Entzugsdelire produktiven, psychotischen Symptomen, motorischer Unruhe,
Entzugsdelirien gibt es nicht nur beim Alkoholismus, sondern vegetativer Symptomatik, Desorientiertheit und Suggestibilität
auch bei chronischer Einnahme von sedierend wirkenden Me- eingestellt. Die Behandlung mit oralem Clomethiazol ließ die
dikamenten, vor allem von Benzodiazepinen – auch in mäßigen Symptomatik im Verlauf von 4 Tagen abklingen
Dosen. In diesen Fällen sind die vegetativen Symptome wenig
ausgeprägt, (trockenes Delir). Das Medikamentendelir dauert 3Therapie. Die Therapie des Alkoholdelirkranken soll se-
oft länger als das Alkoholdelir. Es wird durch Substitution zum dieren, ohne die vitalen Schutzreflexe zu beeinträchtigen, ve-
Beispiel mit einem leicht dosierbaren Benzodiazepin und lang- getativ stabilisieren, antikonvulsiv und antipsychotisch effektiv
samem Ausschleichen behandelt. Besonders schwer verlaufen sein. Die antidelirante Medikation sollte generell nicht nach

Exkurs
Differentialdiagnose des deliranten Syndroms
4 Medikamentenentzugsdelir, Drogenentzug 4 posthypoxische, posthypoglykämische Bewusstseins-
4 pharmakogene (L-Dopa) und toxische Psychosen, anti- störung
cholinerges Syndrom 4 metabolische (hepatische) und endokrine (hyperthyreote)
4 floride schizophrene Psychose, Manie Enzephalopathien
4 Alkoholfolgeerkrankungen: Wernicke-Korsakow-Syn- 4 Status komplex-partieller Anfälle, nicht-konvulsiver Status
drom, Alkoholhalluzinose epilepticus
4 Verwirrtheitszustände bei vorbestehender kognitiver 4 bakterielle und virale Meningoenzephalitiden, septische
Störung oder Delir bei Demenz Enzephalopahtie
4 posttraumatische Bewusstseinsstörung (Hirnkontusion,
subdurales Hämatom)
29.1 · Alkoholassoziierte Psychosen
633 29
festen Schemata sondern bedarfsadaptiert ausgewählt und do- plizierten vollständigen Delirs nimmt in der Regel sieben bis
siert werden. Jeder Alkoholkranke sollte ergänzend zur Pro- 10 Tage in Anspruch, Entlassungen vor dem vollständigen Ab-
phylaxe einer Wernicke-Enzephalopathie Vitamin B1 100 mg/ klingen der Symptomatik sind wegen der Gefahr des Wieder-
Tag p.o. oder i.v. erhalten. Neurologen und Psychiater behan- aufflackerns gefährlich.
deln in der Regel Alkoholdelirpatienten anders als die meisten 4 Bei schweren Delirverläufen mit bedrohlicher vegetativer
Internisten und Anästhesisten. Hierbei könnte eine Rolle spie- Entgleisung, Bewusstseinstörungen und vitalen Komplika-
len, dass die Patienten zum Neurologen und Psychiater wegen tionen ist die Überwachung und Behandlung auf der Intensiv-
eines initialen Anfalls oder wegen des bereits manifesten Delirs station notwendig. Die parenterale, z.B. mit 120–240 mg/Tag
kommen, die Verläufe primär also eher schwerer sind. In inter- Diazepam i.v. plus Haloperidol 3- bis 6-mal 5 (in Ausnahmen
nistischen Kliniken und anästhesiologischen Abteilungen wer- 10) mg/Tag initial, fakultativ zusätzlich Clonidin, initial 15–
den die Alkoholkranken dagegen meist wegen anderer Leiden 30 μg/h über den Perfusor.
behandelt, das delirante Syndrom entwickelt sich während 4 Füssigkeitsbilanzierung (hypertherme und stark schwit-
deren Behandlung und kann in einem frühen Stadium abge- zende Patienten), Elektrolytkontrolle (Hyponatriämie mit Ge-
fangen werden. Die Medikation richtet sich dabei nach dem fahr der zentralen pontinen Myelinolyse) überwachen (Cave:
Schweregrad des Delirs. Die Medikamentengabe sollte symp- Hypokaliämie).
tomorientiert erfolgen, Über- sowie Unterdosierungen sollten 4 Nach dem Abklingen des Delirs, für das der Patient in der
vermieden werden. Regel eine Amnesie hat, ist eine dauerhafte Entwöhnung anzu-
4 Die Therapie des Alkoholentzugs ohne vegetative oder streben, z.B. in einer mehrmonatigen Entziehungskur, wenigs-
psychotische Symptomatik kann unter klinischer Beobachtung tens aber die Anbindung an eine Selbsthilfegruppe (Anonyme
abgewartet werden. Bei Kranken, die in ähnlicher Situation Alkoholiker, AA, www.anonyme-alkoholiker.de). Leider er-
bereits Deliri durchgemacht haben, ist eine – hier prophy- reicht nur ein kleiner Teil der Kranken eine dauerhafte Absti-
laktische – Behandlung wie beim unvollständigen Delir sinn- nenz.
voll.
4 Behandlungsversuche des beginnenden oder voll ausge-
prägten Delirs mit Alkohol sind kontraindiziert. 29.1.4 Alkoholhalluzinose
4 Bei vegetativer Symptomatik, flüchtigen Wahnwahrneh-
mungen oder nach Anfällen (unvollständiges Delir, sog. Prä- Die Alkoholhalluzinose ist selten. Sie tritt nach jahrelangem,
delir), ist eine stationäre Versorgung indiziert. Medikamentös schweren Alkoholabusus meist akut auf und ist durch produk-
wird Clomethiazol eingesetzt (4-mal 2 Kapseln à 192 mg/Tag) tiv-psychotische Symptome gekennzeichnet, während die ve-
oder ein Benzodiazepin (z.B. Diazepam 4- bis 6-mal 10 mg/Tag getativen Symptome des Delirs fehlen.
p.o., gegebenenfalls oder initial eine loading dose; alternativ
Chlordiazepoxid), bei milden Verläufen Cabamazepin (4-mal 3Symptome und Verlauf. Das Wachbewusstsein ist ge-
200 mg/Tag, 3-mal 200 mg/Tag, 2-mal 200 mg/Tag jeweils für wöhnlich klar, die Orientierung ist erhalten. Die Patienten sind
zwei Tage). ängstlich erregt und haben akustische Halluzinationen be-
4 Beim voll ausgebildeten Delir mit Agitiertheit und affek- drohlichen Inhaltes, gelegentlich auch szenisch-optische Trug-
tiven Störungen, vegetativer Entgleisung und produktiv psy- wahrnehmungen. Sie schließen sich ein, verbarrikadieren sich.
chotischer Symptomatik gibt man GABAergen Substanzen Es kann zu Aggression, Flucht- und Suizidhandlungen kom-
p.o. (z.B. Clomethiazol 4-bis 8-mal 2 Kapseln initial oder Dia- men. Nach Abklingen der Psychose verbleibt, im Gegensatz
zepam 6-mal 10 mg/Tag) in Kombination mit einem Neuro- zum Alkoholdelir, keine Amnesie.
leptikum (z.B. Haloperidol 3- bis 6-mal 5 (–10) mg p.o.). Zunächst tritt die Symptomatik nur nachts und intermit-
4 Wegen des hohen Suchtpotentials sollte sowohl die Clome- tierend auf. Bei fortgesetztem Trinken entwickelt sich das Voll-
thiazol- als auch Benzodiazepingabe unter stationären Bedin- bild, das Tage, selten Wochen anhält. In 80% der Fälle klingt die
gungen beendet werden. Die Akutbehandlung des nicht kom- akute Alkoholhalluzinose unter neuroleptischer Behandlung

Empfehlungen Alkoholdelir*
4 Die Diagnose Alkoholdelir setzt eine genaue klinische sam (A), die Kombination mit einem Neuroleptikum, z.B. Halo-
und ggf. apparative Diagnostik voraus, damit organische peridol, ist zu empfehlen (A).
Hirnerkrankungen, die ebenso das Bild des deliranten Syn- 4 Sehr schwere Verläufe machen eine parenterale Therapie
droms bieten, nicht verkannt werden (A). auf der Intensivstation notwendig. Untersucht sind die Kom-
4 Das unvollständige Delir, sog. Prädelir (vegetative Symp- binationen Diazepam/Haloperidol, Diazepam/Droperidol,
tomatik oder Halluzinationen), ist mit oralen GABAergen Midazolam/Droperidol (A). Zusätzlich kann Clonidin gegeben
Substanzen zu behandeln: Clomethiazol, Benzodiazepine (A). werden (B).
Bei milder Ausprägung ist ein 6-tägiges Regime mit Carba- 4 Behandlungsversuche des Delirs mit Alkohol sind kontra-
mazepin möglich (B). indiziert (A).
4 Beim Vollbild des Delirs sind Benzodiazepine und Clome-
thiazol, bevorzugt in symptomgetriggerter Dosis, gut wirk- * Nach den Leitlinien der DGN 2008
634 Kapitel 29 · Alkoholassoziierte Psychosen und Alkoholschäden des Nervensystems

Exkurs
Prophylaktische Alkoholgabe in der Klinik
Zu der Frage, ob man alkoholabhängigen Patienten, die we- Entzugserscheinungen. Eine verbindliche Lösung für dieses
gen anderer Krankheiten in eine Klinik aufgenommen werden, Problem gibt es nicht, und so werden manche Kollegen wei-
ggfs. operiert und postoperativ auf der Intensivstation behan- terhin Alkohol verabreichen, während andere es den Patienten
delt werden müssen, zur Vermeidung eines Entzugdelirs vorenthalten werden.
Alkohol oral oder Alkoholinfusionen verabreichen soll, gibt es Unter keinen Umständen sollte in dieser Situation dann
lebhafte Diskussionen zwischen Vertretern der einzelnen »prophylaktisch« schon Distraneurin oder Diazepamabkömm-
Fachgebieten. Wie immer sind die starken Meinungen, die linge gegeben werden. Andererseits ist hoher Alkoholge-
dann vertreten werden ein Ausdruck dafür, dass es keine brauch ein verbreitetes Phänomen und liegt oft auch bei
belastbaren Daten gibt. Chirurgen, Hals-Nasen-Ohrenärzte Personen vor, die sozial gut integriert sind, beruflich erfolg-
und Orthopäden schwören darauf, dass mit diesem Regime reich und auch sonst in keiner Weise dem Bild eines Alkohol-
manifeste Delire selten seien. Internisten, Psychiater und kranken zu entsprechen scheinen. Erfahrungsgemäß gehören
Neurologen lehnen dem gegenüber die Gabe von Alkohol ab. in diese Kategorie viele Akademiker, besonders Ärzte. Die
Es gibt keinen Beleg dafür, dass mit einer solchen prophylak- wahren Alkoholmengen, die sie täglich zu sich nehmen, ver-
tischen Behandlung tatsächlich Delire verhindert werden schweigen sie aus einer gewissen Scham heraus, wie dies auch
29 können, oder ob die Patienten nicht auch ohne Alkohol den
kurzfristigen Entzug in der Klinik hätten überstehen können.
die Angehörigen tun. Deshalb ist es wichtig, die Patienten
(oder die Familie) ohne erhobenen Zeigefinger vorher zu
Nicht jeder Mensch, der regelmäßig in größeren Mengen befragen, wie die individuellen Alkoholgewohnheiten sind.
Alkohol zu sich nimmt, bekommt in der Abstinenzsituation Wenn man vorbereitet ist, bleiben Überraschungen aus.

Exkurs
Prädelir und Entzugsanfälle
Prädelir kommt es zu Serien von Grand-mal-Anfällen oder zu einem
Dem manifesten Delir geht nicht selten Tage bis ausnahms- Status epilepticus. Der Alkoholismus ist die häufigste Ursache
weise Wochen oder Monate eine intermittierende milde des Status epilepticus. Anfallsauslösend ist der Abfall des
vegetative Symptomatik voraus mit morgendlichem Zittern, Alkholblutspiegels, hierzu kann die im Nachtschlaf unterbro-
Schwitzen oder nächtlichen Schlafstörungen, alternativ eine chene Alkoholzufuhr ausreichen. Deshalb werden beim Alko-
milde psychotische Symptomatik mit flüchtigen, typischer- holkranken Anfälle sowohl isoliert als auch im unvollständigen
weise optischen, oft szenischen Halluzinationen. Wir spre- wie im anlaufenden manifesten Entzugsdelir beobachtet.
chen vom beginnenden Delir (sog. Prädelir); wenn ein mani- Differentialdiagnostisch sind – selbstverständlich auch beim
festes Delir nicht folgt, vom unvollständigen Alkoholdelir. Alkoholkranken – andersartige Erkrankungen zu erwägen, die
mit hirnorganischen Anfällen einhergehen: eine Epilepsie,
Entzugsanfälle Hirntraumen, Hirninfarkte, Gefäßmissbildungen, Hirnmetasta-
Isolierte, zumal morgendliche Grand-mal-Anfälle (Gelegen- sen bei Bronchialkarzinom und anderen Malignomen, Menin-
heitskrämpfe) sind bei Alkoholkranken häufig. Gelegentlich gitiden, Hirnblutungen.

ab. Rückfälle sind häufig. Die Alkoholhalluzinose kann in eine 29.2 Alkoholschäden des Nervensystems
chronische Korsakow-Psychose (s. u.) übergehen.
Ein Teil der schwer Alkoholgeschädigten entwickelt einen 29.2.1 Alkoholbedingte Polyneuropathie
Eifersuchtswahn, der in seiner Entstehung vielschichtig ist.
Eine wesentliche Rolle dürften neben der organischen Hirn- 3Epidemiologie. Die Alkholpolyneuropathie ist die häu-
schädigung die soziale Inkompetenz als auch die häufige Im- figste Alkoholfolgeerkrankung. Die alkoholische Schädigung
potenz des chronisch Alkoholkranken spielen. des peripheren Nervensystems setzt einen jahrelangen Alko-
holabusus voraus. Nur eine geringe Zahl der Alkoholiker be-
3 Therapie kommt eine voll ausgebildete Polyneuropathie, und auch abor-
4 Neuroleptika, z.B. Butyrophenon (Haldol®) 1–2 Amp. i.v. tive Formen sind nicht regelmäßig zu finden. Über 10% der
oder i.m., Alkoholkranken sind von einer Alkholpolyneuropathie betrof-
4 bei im Vordergrund stehender Angst Tavor® 2,5 mg p.o., fen, wobei der Anteil der Erkrankten mit der Genauigkeit der
zusätzlich Vitamin B1, klinischen Untersuchung und der Elektrodiagnostik zunimmt.
4 ggf. Einweisung in eine geschlossene psychiatrische Ein- Die Alkholpolyneuropathie ist mit 15% aller Polyneuropathien
richtung. zudem die häufigste Polyneuropathieform.

3Ätiologie und Pathogenese. Die Pathogenese ist nicht


endgültig geklärt. Angeschuldigt wird eine direkte Wirkung
29.2 · Alkoholschäden des Nervensystems
635 29
des Alkohols und seiner Metaboliten am peripheren Nerven- Prozesses dar. Beide sind Folgeerscheinungen des mit der
system, hierbei dürfte die Art der alkoholischen Getränke kei- Mangelernährung des Alkoholikers verbundenen Vitamin-B1-
ne Rolle spielen. Hinzu kommt die langjährige Mangelernäh- Mangels.
rung, besonders eine Unterversorgung mit B-Vitaminen und
hier vor allem mit Vitamin B1. Histologisch und vor allem elek- Wernicke-Enzephalopathie
tronenoptisch findet man in einem großen Teil der Fälle eine Viele Alkoholkranke decken ihren Kalorienbedarf allein durch
primäre, axonale Degeneration, weniger ausgeprägt dagegen den Alkohol, und manche haben für Monate keine normal zu-
eine segmentale Entmarkung. sammengesetzte Mahlzeit mehr zu sich genommen. Sowohl
Eine Leberfunktionsstörung, erkennbar an pathologischen die Wernicke-Enzephalopathie als auch das Korsakow-Syn-
Transaminasewerten, liegt meist vor. Die Syntheseleistungen drom sind allerdings keine nosologischen Einheiten, sondern
der Leber müssen aber nicht beeinträchtigt sein. Syndrome, die auch bei Hungerzuständen und anderen Er-
nährungsstörungen mit Vitamin-B1-Mangel auftreten können.
3Symptomatik und Verlauf. Das klinische Bild ist geprägt Die pathologisch-anatomischen Veränderungen bei der Wer-
durch ein Polyneuropathiesyndrom mit atrophischen Paresen, nicke-Enzephalopathie und dem Korsakow-Syndrom zeigen:
symmetrischen, strumpf- und handschuhförmig verteilten spongiöse Auflockerung, Gewebsuntergang und Kapillarver-
Sensibilitätsstörungen und abgeschwächten oder erloschenen mehrung um den IV. Ventrikels und den Aquädukt, den Cor-
Muskeleigenreflexen, durch Ausfälle des autonomen Nerven- pora mamillaria, im Thalamus, den hinteren Vierhügeln, im
systems mit beeinträchtigter Schweißsekretion, atrophischer dorsalen Vagus- und Okulomotoriuskern.
und hyperpigmentierter Haut, Störungen der Speiseröhrenpe-
ristaltik und der Potenz. Für die alkoholische Polyneuropathie 3Epidemiologie. Die Wernicke-Enzephalopathie ist eine
charakteristisch sind die frühe Verschmächtigung der Bein- seltene, unbehandelt tödliche Erkrankung. Sie macht nur etwa
muskulatur, Muskelkrämpfe, Missempfindungen (burning 3% der mit dem Alkoholismus assoziierten Leiden aus. Ihre
feet) und vor allem die quälenden Schmerzen mit dumpf-drü- klinische Bedeutung liegt aber in den hervorragenden prophy-
ckender, reißender, ziehender oder blitzartig lanzinierender laktischen und, bei frühem Behandlungsbeginn, guten thera-
Ausprägung. Typisch sind zusätzliche Druckläsionen der neu- peutischen Möglichkeiten mit Reduktion der Letalität auf 10–
ropathisch vorgeschädigten Nerven. Sensibel ist besonders die 20%. Die Krankheit setzt akut ein. Sie entwickelt sich meist aus
Lagewahrnehmung gestört. einem Alkoholdelir oder bricht unter einer enteralen oder par-
enteralen Glukosebelastung aus. Hierzu kann schon eine kalo-
3Diagnostik. Elektrodiagnostisch folgt die Alkholpolyneu- rienreiche Mahlzeit ausreichen. Das Fehlen von Vitamin B1 als
ropathie einem axonalen Muster mit sekundärer Entmarkung. essentiellen Coenzym des oxidativen Glukoseabbaus führt bei
Die motorischen und sensiblen Nervenleitgeschwindigkeiten außergewöhnlicher Glukosebelastung zu Laktatbildung und
sind mit distaler Betonung nur leicht oder mäßiggradig verzö- Zellnekrosen.
gert.
Der Liquor bleibt normal oder zeigt nur eine leichte Ei- 3Symptome. Die Wernicke-Enzephalopathie bietet eine
weißvermehrung. charakteristische Trias:
4 okulomotorische Störungen,
3Therapie und Prognose 4 zerebelläres Syndrom,
4 Die Behandlung der Alkoholpolyneuropathie besteht pri- 4 psychische Störungen.
mär in absoluter Alkoholkarenz, einer ausreichenden, kalori-
enreichen Ernährung und einer täglichen Substitution von Unter den okulomotorischen Symptomen stehen an erster
Vitaminen [Thiamin (B1) 25 mg, Niacin 100 mg, Riboflavin Stelle ein horizontaler, gelegentlich vertikaler Blickrichtungs-
10 mg, Panthothensäure 10 mg, Pyridoxin (B6) 5 mg, Folsäure]. nystagmus, eine ein- oder beidseitige Parese des M. rectus
4 Alternativ: Behandlung mit dem sehr gut resorbierbaren lateralis, häufig eine internukleäre Ophthalmoplegie sowie
Thiaminderivat Benfotiamin (320 mg/Tag für 4 Wochen, dann Pupillenstörungen. Das zerebelläre Syndrom manifestiert
120 mg/Tag über 4 Wochen). sich mit Rumpf-, Gang- und Standataxie. Entsprechend ist
4 Die Schmerzen und Missempfindungen werden mit Anti- der Gang breitbeinig, wenn er überhaupt noch möglich ist.
epileptika (Carbamazepin, Gabapentin) und trizyklischen An- Der Knie-Hacken-Versuch ist stärker hypermetrisch als
tidepressiva (Amitryptilin) behandelt. der Finger-Nase-Versuch. Die psychischen Ausfälle können
allein in Verwirrtheit und Gedächtnisstörungen bestehen (Kor-
Die Prognose der Alkholpolyneuropathie ist, über drei bis fünf sakow-Syndrom, s.u.), in schweren Verläufen kommt es zur
Jahre gesehen, bei absoluter Alkoholkarenz nicht ungünstig. Bewusstseinstrübung oder zum Koma. Hinzu treten häufig
autonome Regulationsstörungen mit Hypothermie und Hypo-
tension.
29.2.2 Wernicke-Korsakow-Syndrom Da monosymptomatische Verläufe allein mit psychischen
Symptomen vorkommen, muss bei jeder unklaren Bewusstseins-
Die Wernicke-Enzephalopathie (Polioencephalopathia haemor- störung eines Alkoholkranken an die Wernicke-Enzephalopa-
rhagica superior) und das Korsakow-Syndrom stellen zwei thie gedacht und eine Vitamin-B1-Substitution – auch prophy-
Manifestationsformen eines gemeinsamen pathogenetischen laktisch – durchgeführt werden.
636 Kapitel 29 · Alkoholassoziierte Psychosen und Alkoholschäden des Nervensystems

3Differentialdiagnose
4 Komplexe okulomotorische und zerebelläre Ausfälle wer-
den zusammen mit Bewusstseinsstörungen bei Hirnstamm-
prozessen, insbesondere der A.-basilaris-Thrombose beobach-
tet, die die wichtigste Differentialdiagnose zur Wernicke-En-
zephalopathie darstellt.
4 Bei der zentralen pontinen Myelinolyse (CPM, s.u.) findet
sich ebenso ein schweres Hirnstammsyndrom (s.u.).
4 Akute zerebelläre Syndrome mit Augenmuskelparesen
kommen beim seltenen Miller-Fisher-Syndrom zusammen
mit einer Areflexie vor, es handelt sich um eine besondere Ver-
laufsform der akuten Polyneuritis (7 Kap. 32.6.3).
4 Virale oder bakterielle Hirnstammenzephalitiden können
ähnliche klinische Befunde bieten.

Korsakow-Syndrom
Das mit dem Alkoholismus assoziierte Korsakow-Syndrom
29 wird als die chronische Phase des Thiaminmangels aufgefasst,
wobei allerdings neben dem Mangel an Vitamin B1 zusätzlich
. Abb. 29.2. Wernicke-Enzephalopathie. Bilaterale Signalhyper-
intensität in Projektion auf die Corpora mammilaria (Pfeil) nach KM-
ein genetischer Faktor gefordert wird. Typischerweise folgt das
Gabe. Im Nativ-MRT zeigten sich keine Blutungen Korsakow-Syndrom der Wernicke-Enzephalopathie oder
einem Alkoholdelir (grundsätzlich handelt es sich beim Korsa-
kow-Syndrom jedoch um eine von der Ätiologie unabhängige
3Diagnostik. Die Diagnose der Wernicke-Enzephalopa- organische Psychose, die auch nach Schädelhirntraumen, Sub-
thie wird klinisch gestellt. Das MRT kann in T2-Gewichtung arachnoidealblutungen und Enzephalitiden vorkommt, hie-
hyperintense Bezirke um den Aquädukt und den dritten Vent- raus ergibt sich die Differentialdiagnose).
rikel sowie eine Volumenminderung der Corpora mamillaria
(. Abb. 29.2) zeigen. Das EEG ist meist unspezifisch diffus ver- 3Symptome. Die Korsakow-Psychose der Alkoholiker ist
langsamt und zeigt häufig eine bilaterale Deltaaktivität. Der Li- durch die Trias geprägt:
quor bleibt normal oder bietet allenfalls eine geringe, ebenso 4 Desorientiertheit,
unspezifische Eiweißerhöhung. 4 Sekundengedächtnis,
4 Konfabulationen, die die Gedächtnislücken füllen.
3Therapie
4 Die Therapie der Wahl ist die parenterale Gabe von Vita- Die Patienten verkennen die aktuelle Umgebung, nehmen
min B1 (Thiamin), Vitamin-B-Komplex und Magnesium. Die aber in der fehlgedeuteten Situation eine passende Rolle ein.
Literaturangaben zur Vitamin-B1-Dosierung sind sehr unein- Eine gewisse Plausibilität bleibt auch in der Verkennung ge-
heitlich. wahrt: Das Arztzimmer wird z.B. als Büro eines Rechtsanwalts
4 Wir geben bei eindeutigen klinischen Verläufen bewusst – und der Arzt als Anwalt gedeutet. Die Merkstörung betrifft
sehr hohe Dosen mit initial 100 mg B1 langsam (!) i.v., danach stärker kurz zurückliegende oder gegenwärtige Ereignisse und
1000 mg i.v. innerhalb der nächsten 12 h, anschließend für eine neue Lerninhalte, während weiter zurückliegende Ereignisse
Woche 200 mg/Tag als Kurzinfusion und für die nächsten Wo- oft gut reproduziert werden können. Die oft lebhaften und
chen 100 mg/Tag oral. Thiamingaben in den angegebenen Do- auf den ersten Blick plausiblen Konfabulationen füllen die Ge-
sen sind unbedenklich, Thiamin wirkt erst in um ein Vielfaches dächtnislücken. Sie können durch suggestive Fragen gelenkt
höheren Dosen toxisch. werden: Bettlägerige Patienten berichten über Einkäufe in
4 Stationär behandelte Alkoholkranke sollten generell pro- der Stadt, auf denen sie angeblich den Untersucher getroffen
phylaktisch Vitamin B1 erhalten. haben.
4 Patienten mit einer Wernicke-Enzephalopathie sind initial
auf der Intensivstation zu behandeln. 3 Therapie
4 Eine Behandlung mit Vitamin B1 erscheint plausibel für
In Anbetracht der sehr ungünstigen Spontanprognose der die alkoholassoziierten Korsakow-Syndrome, da bei ihnen der
Wernicke-Enzephalopathie ist die extrem seltene, dosisunab- Vitamin-B1-Mangel pathogenetisch bedeutsam ist.
hängige anaphylaktische Reaktion auf Vitamin B1 von sekun- 4 Die Dosierung orientiert sich an der Behandlung der Wer-
därer Bedeutung. Mildere Unverträglichkeitsreaktionen sind nicke-Enzephalopathie.
häufiger, machen aber eine prophylaktische Kortikoidgabe
nicht erforderlich. Durchgreifende Besserungen werden nur für etwa ein Siebtel
der Behandelten beschrieben. Besonders lange bestehende
Korsakow-Syndrome mit schweren Defekten dürften kaum
beeinflussbar sein.
29.2 · Alkoholschäden des Nervensystems
637 29
Exkurs
Vitamin B1 und Wernicke-Enzephalopathie
Das Wernicke-Syndrom beruht auf Thiamin-(Vitamin- Aquädukt lokalisiert. Regelmäßig sind die Corpora mamillaria
B1-)Mangel. Auf welche Weise dieser die pathologisch-anato- betroffen. Weitere Lokalisationen sind die Gegend des Vestibu-
mischen Veränderungen herbeiführt, ist noch ungeklärt. laris- und des dorsalen Vaguskerns. Die Läsionen sind bemer-
Histologisch findet man einen spongiösen Zerfall des Ge- kenswert symmetrisch in ihrer Anordnung und Schwere. Ihre
webes mit Proliferation und Dilatation der Kapillaren und Lokalisation erklärt die neurologischen und vegetativen Symp-
häufig auch petechialen Blutungen. Die Läsionen sind haupt- tome und die Somnolenz.
sächlich im Höhlengrau des III. und IV. Ventrikels und um den

29.2.3 Zentrale, pontine Myelinolyse (CPM) 29.2.4 Lokalisierte, sporadische Spätatrophie


der Kleinhirnrinde
Die CPM ist eine seltene, akute und durchaus gefährliche Er-
krankung, die beim Alkoholismus, aber auch anderen Leiden Die alkoholbedingte Ataxie wurde im Kapitel 24 besprochen.
wie Lebererkrankungen, M. Wilson und malignen Tumorlei- Einige charakteristische Details werden hier zusätzlich er-
den vorkommt. Die Brücke zum Alkohol stellt die Hyponatri- wähnt. Die Krankheit setzt zwischen dem 50. und 60. Lebens-
ämie von meist unter 110 mmol/l dar, die bei Alkholkranken jahr akut oder chronisch ein. Männer sind weit häufiger als
gehäuft vorkommt (Diätfehler, exzessives Schwitzen im Delir). Frauen befallen.
Hyponatriämie und sehr starke, kurzfristige Änderungen der Langsam bis subakut entwickelt sich eine Ataxie vor-
Gewebsosmolarität im Gehirn – vor allem durch den zu wiegend der Beine mit breitbeinigem, schleuderndem, später
schnellen therapeutischen Ausgleich des Natriummangels – torkelndem Gang. In fortgeschrittenen Krankheitsstadien
führen zur Demyelinisierungen und zu Nekrosen in ventralen ist auch das Stehen unsicher mit Vorwärts-Rückwärts-
Anteilen des Pons sowie gelegentlich extrapontin im Thala- Schwanken. Manche Patienten schwanken schon beim
mus, dem Corpus callosum, der inneren Kapsel und dem Sitzen. An den Armen ist die Ataxie wesentlich geringer, le-
Kleinhirn. Die heute allgemein akzeptierte Therapie kann diglich die Schrift wird frühzeitig verzittert. Diese unter-
schwere (therapieassoziierte) Schäden verhindern, besonders schiedliche Ausprägung der Ataxie an Armen und Beinen
bei den in den letzten Jahren dank MRT vermehrt beobachte- beruht auf der somatotopischen Gliederung des Kleinhirnvor-
ten leichteren Verläufen. derlappens.

3Symptomatik. Typisch für die CPM ist ein ausgeprägtes


akutes Hirnstammsyndrom mit Augenmotilitätsstörungen
und anderen Hirnnervensyndromen, schweren para- und te-
traparetischen Syndromen bis hin zum Locked-in-Syndrom,
mit Bewusstseinsstörungen verschiedener Schwere, nicht sel-
ten einem Koma.

3Diagnostik. Diagnostisch wegweisend sind Hinweise auf


einen Alkoholismus oder ein soeben durchgemachtes Alko-
holdelir. Die diagnostische Methode der Wahl ist die MRT mit
Nachweis von Entmarkungen der ventralen Brücke unter Aus-
sparung des Tractus corticospinalis (. Abb. 29.3) und mögli-
cherweise der genannten extrapontinen Lokalisationen.

3Therapie. Die Behandlung dieses bedrohlichen Leidens


besteht in allgemein-intensivmedizinischen Maßnahmen ein-
schließlich Substitution von Vitamin B1.
4 Die NaCl-Infusionen sollten so dosiert werden, dass An-
stiege des Serumnatrium über 0,6 mmol/h vermieden wer-
den.
4 Besondere Vorsicht ist bei chronischen Hyponatriämien
geboten.
4 Ist ein Natriumspiegel von 125 mmol/l erreicht, ist die par-
enterale NaCl-Gabe zu stoppen.

. Abb. 29.3. CPM. Zentrale pontine Myelinolyse (MRT T2-Sequenz) Un-


scharfe, mitpontine Signalhypointensität (Pfeile)
638 Kapitel 29 · Alkoholassoziierte Psychosen und Alkoholschäden des Nervensystems

Das Sprechen wird erst im späteren Verlauf leicht skandie- Alkoholepilepsie


rend. Nystagmus tritt kaum auf. Die Folgebewegungen der Bei der Alkoholepilepsie kommt es aufgrund einer substanti-
Augen können sakkadisch werden. Demenz gehört nicht zum ellen Hirnschädigung durch die chronische Alkoholeinwir-
Krankheitsbild. kung, unabhängig vom aktuellen Alkoholspiegel, zu wieder-
Mikroskopisch findet man vor allem einen Untergang der holten symptomatischen epileptischen Anfällen. Diese sind
Purkinje-Zellen mit »leeren Körben«, während das Marklager also von den Gelegenheitsanfällen beim Alkoholentzug ab-
relativ gut erhalten bleibt. zugrenzen.
Die Behandlung der Alkoholepilepsie folgt den üblichen
Behandlungsregeln symptomatischer Epilepsien. Auch bei der
29.2.5 Hirnrindenatrophie und Alkoholdemenz Alkoholepilepsie ist eine absolute Alkoholkarenz zu fordern,
die Antikonvulsivatherapie ist nur bei zuverlässiger Mitarbeit
Ein langjähriger schwerer Alkoholismus führt in der Regel zur des Patienten sinnvoll.
Verwahrlosung mit Verlust der sozialen Bezüge und bei einem
wesentlichen Teil der Betroffenen zu einer »Alkohol«-Demenz. »Pachymeningeosis haemorrhagica interna«
Diese geht in der Regel mit einer im CT oder MRT nachweis- Nach leichten Kopftraumen kann sich bei Alkoholikern über
baren Hirnatrophie einher. Wochen und Monate ein chronisches, subdurales Hämatom
Der chronische Alkoholismus ist die häufigste Ursache ausbilden, das klinisch zu den Symptomen führt, die in
29 einer gravierenden, computertomographisch nachweisbaren 7 Kap. 26.3 für das traumatische, subdurale Hämatom be-
Hirnvolumenminderung im jüngeren und mittleren Lebens- schrieben sind. Wie das traumatische Hämatom, kann auch die
alter. Man findet eine gleichmäßige Verteilung der Hirnvo- Pachymeningeosis doppelseitig sein. Oft sieht man im CT oder
lumenminderung, die fast regelmäßig auch das Kleinhirn be- MRT Hämatome unterschiedlichen Alters und Organisations-
trifft. Bei Abstinenz kann beobachtet werden, dass das Hirn- grades. Dann wird die klinische Symptomatik von Antriebs-
volumen wieder zunimmt. Sie gleicht morphologisch und mangel und affektiver Nivellierung beherrscht.
wahrscheinlich auch in der Pathogenese der prinzipiell rever- Als wichtiger, ätiologischer Kofaktor wird ein Vitamin-B1-
siblen Hirnvolumenminderung bei Anorexia nervosa und bei Mangel angesehen.
anderen Formen von Kachexie. Bei 3/4 der Patienten besteht
ein schwerer Ernährungsmangel. Alkoholmyopathie
Die alkoholische Demenz ist gekennzeichnet durch eine Zwei Drittel der Alkoholkranken entwickeln eine in der Regel
Verflachung aller kognitiven Funktionen, fortbestehendem milde chronische alkoholische Myopathie mit schmerzloser
Suchtverhalten, Anfällen, einhergehend mit deutlicher Ver- Verschmächtigung und Schwäche der proximalen Muskulatur,
wahrlosung und früher sozialer Isolierung. die meist mit einer Kardiomyopathie einhergeht. Von dieser ist
die akute hypokaliämische Alkoholmyopathie abzugrenzen.
Alkohol ist zudem der häufigste Auslöser der akuten Rhab-
29.2.6 Andere alkoholassoziierte Krankheiten domyolyse, die sich mit Muskelschwellung, Schmerzen, Be-
und Syndrome wegungseinschränkung und Myoglobinurie bis zum Nieren-
versagen manifestiert. Die Therapie erfolgt symptomatisch
Marchiafava-Bignami-Syndrom intensivmedizinisch mit forcierter Diurese, bei schweren Ver-
Von der Alkoholdemenz und der zentralen pontinen Myelino- läufen mit Dialyse.
lyse ist die Corpus callosum-Degeneration, das Marchiafava-
Bignami-Syndrom abzugrenzen. Betroffen sind vornehmlich Alkoholembryopathie
ältere Männer, besonders Rotweintrinker. Die ätiologisch un- Bei chronischem und exzessivem Alkoholabusus der Mutter
geklärte Erkrankung führt zu Demenz, organischer Wesensän- während der Schwangerschaft, besonders im ersten Trimenon,
derung, hirnorganischen Anfällen, spastischen und zerebel- werden 30–50% der Nachkommen geschädigt. Charakteris-
lären Symptomen. Eine Therapie ist nicht bekannt, Vitamin B1 tisch für diese Form der Embryopathie sind Minderwuchs,
ist unwirksam, Remissionen kommen vor. Mikrozephalie, Rückstand in der geistigen Entwicklung sowie
kraniofaziale Missbildungen: Mikrozephalus, Epikanthus, Pto-
Alkoholbedingte Schädigung des N. opticus se, verkürzter Nasenrücken. Das Geburtsgewicht der Kinder
(»Tabak-Alkohol-Amblyopie« ) ist mehr als 1200 g leichter als das von gesunden Kindern.
Bei manchen chronischen Alkoholkranken entwickelt sich Auch postnatal bleiben die Kinder etwa bis zum 7. Jahr min-
eine Degeneration der zentralen Fasern des N. opticus (papil- derwüchsig und untergewichtig. Ein Substrat der statomoto-
lomakuläres Bündel) mit Verfall der Sehschärfe. Ursache ist rischen und geistigen Entwicklungsverzögerung ist der Hydro-
eine Vitamin-B12-Resorptionsstörung infolge Schleimhauter- cephalus internus. Unter den weiteren Missbildungen sind
krankung des oberen Dünndarms. Entsprechend gibt man angeborene Herzfehler und andere kardiale Missbildungen zu
Vitamin B12 (7 Kap. 28.1). Tabak spielt ätiologisch keine Rolle. erwähnen. Die Alkoholembryopathie ist eine der häufigsten,
Die falsche Namensgebung wird leider immer noch weiter erkennbaren intrauterinen Schädigungen im Kindesalter.
tradiert. Das Syndrom hat Gemeinsamkeiten mit der funiku-
lären Myelose (7 Kap. 28).
29.2 · Alkoholschäden des Nervensystems
639 29

In Kürze

Alkoholassoziierte Psychosen

Akute Alkoholintoxikation. Symptome: I. Stadium oder störungen, frühe Verschmächtigung der Beinmuskulatur,
euphorisches Stadium: 0,5–1‰ Blutalkohol, bei Kindern Muskelkrämpfe. Therapie: Alkoholkarenz, kalorienreiche
entstehen durch Hypoglykämie schwerste bis tödliche Ver- Ernährung, tägliche Substitution von Vitaminen, medika-
läufe. II. Stadium oder Erregungsstadium: 1–2‰ Blutalko- mentöse Schmerztherapie.
hol, Denkstörungen, Enthemmung, Aggressivität, Doppel-
bilder, Gangstörungen, Minderung der Schmerzempfindung. Wernicke-Enzephalopathie. Folgeerscheinungen einer Un-
III. Stadium oder narkotisches Stadium: 2–3‰, Bewusst- terversorgung mit Vitamin B1. Symptome: Okulomotorische
seinstrübung, Bewegungsarmut. IV. Stadium oder asphyk- Störungen wie horizontaler Blickrichtungsnystagmus, Pupil-
tisches Stadium: 4–6‰ Blutalkohol, Bewusstlosigkeit, akute lenstörungen; zerebelläres Syndrom mit Rumpf-, Gang- und
Lebensgefahr durch erloschene Schutzreflexe, Atem-, Herz- Standtaxie; psychische Störungen als Verwirrtheit, Gedächtnis-
und Kreislaufversagen. Therapie: Verlaufsbeobachtung, störungen, Bewusstseinsstörung, Koma. Therapie: Substitu-
Behandlung auf Intensivstation bei III. und IV. Stadium. tion von Vitamin B1, medikamentöse Therapie. Differentialdi-
agnose: A.-basilaris-Thrombose, zentrale pontine Myelinolyse,
Pathologischer Rausch. Verminderte Alkoholtoleranz bei Miller-Fisher-Syndrom.
Hirnerkrankungen, körperlicher und seelischer Erschöpfung,
schweren Allgemeinerkrankungen. Symptome: Abrupt Korsakow-Psychose. Chronische Phase des Vitamin-B1-Man-
einsetzende, schwere Intoxikationssymptome, psychomoto- gels. Symptome: Desorientiertheit, Sekundengedächtnis,
rische Erregung, Amnesie. Therapie: Wegen der kurzen Konfabulationen zum Füllen der Gedächtnislücken. Therapie:
Dauer oft weder erforderlich noch möglich. Substitution von Vitamin B1.

Alkoholdelir (Delirium tremens). Meist Folge eines unbe- Zentrale, pontine Myelinolyse (CPM). Symptome: Ausge-
absichtigten oder beabsichtigten Entzuges nach monate- prägtes akutes Hirnstammsyndrom mit Augenmotilitätsstö-
oder jahrelanger Zufuhr von ≥80–120 g/Tag reinem Alkohol. rungen, schweren para- und tetraparetischen Syndromen bis
Symptome: Vigilanzstörung, Desorientiertheit, psychomoto- hin zum Locked-in Syndrom, Bewusstseinsstörungen bis
rische Unruhe mit meist ängstlicher Erregung, illusionäre Koma. Therapie: Intensivmedizinische Therapie, Substitution
Verkennung von Gegenständen und Halluzinationen. Diag- von Vitamin B1. Differentialdiagnose: A.-basilaris-Thrombose,
nostik: Röntgen, Labor, MRT. Therapie: Antidelirante Medi- Wernicke-Enzephalopathie, Hirnstammenzephalitis.
kation, ausreichende Flüssigkeitszufuhr, dauerhafte Entwöh-
nung. Differentialdiagnose: Medikamentenentzugsdelir, Lokalisierte, sporadische Spätatrophie der Kleinhirnrinde.
pharmakogene und toxische Psychosen, Manie, Demenz, Setzt zwischen 50. und 60. Lebensjahr akut oder chronisch v.a.
posttraumatische und epileptische Durchgangssyndrome, bei Männern ein. Symptome: Ataxie der Beine mit breitbei-
Enzephalopathien. nigem, torkelndem Gang, Vorwärts-Rückwärts-Schwanken,
skandierendes Sprechen. Therapie: Substitution von Vita-
Alkoholhalluzinose. Nach jahrelangem, schwerem Alkohol- min B1.
abusus akut einsetzende toxische Psychose. Symptome:
Klares Wachbewusstsein, ängstliche Erregung, akustische Hirnrindenatrophie und Alkoholdemenz. Hirnvolumenmin-
Halluzinationen, keine Amnesie. Therapie: Medikamentöse derung im jüngeren und mittleren Lebensalter durch chro-
Therapie, evtl. Einweisung in Psychiatrie. nischen Alkoholismus. Symptome: Psychisch bedingte Ver-
wahrlosung, Demenz, Ernährungsmangel. Therapie: Ausrei-
Alkoholschäden des Nervensystems chende Ernährung, Substitution von Vitaminen.

Alkoholbedingte Polyneuropathie. Symptome: Atrophi- Andere alkoholassoziierte Krankheiten und Syndrome.


sche Paresen, symmetrische Sensibilitätsstörungen, abge- Marchiafava-Bignami-Syndrom, alkoholbedingte Schädigung
schwächte oder erloschene Muskeleigenreflexe, Ausfälle des des N. opticus, Alkoholepilepsie, Pachymeningeosis haemor-
autonomen Nervensystems, atrophische und hyperpigmen- rhagica interna, Alkoholmyopathie, Alkoholembryopathie.
tierte Haut, Störungen der Speiseröhrenperistaltik, Potenz-
30

30 Neurologische Störungen
als Medikamentennebenwirkungen
und bei chronischen Intoxikationen
30.1 Kopfschmerzen – 642

30.2 Störungen von Antrieb, Gedächtnis und Stimmung – 642


30.2.1 Medikamenteneinnahme in therapeutischer Dosierung – 642
30.2.2 Chronischer Medikamentenabusus – 643

30.3 Bewusstseinsstörungen – 643

30.4 Entzugssymptome – 644


30.4.1 Delir – 644
30.4.2 Somnolenz und narkoleptische Anfälle – 644

30.5 Psychotische Episoden und Halluzinationen – 644

30.6 Epileptische Anfälle – 644


30.6.1 Medikamente mit krampfschwellensenkender Wirkung – 644
30.6.2 Entzugskrämpfe – 644

30.7 Extrapyramidale Syndrome – 645


30.7.1 Medikamentös ausgelöstes Parkinson-Syndrom – 645
30.7.2 Hyperkinesen und Dystonien – 645
30.7.3 Spätdyskinesien – 645
30.7.4 Tremor – 645

30.8 Hirnstamm- und zerebelläre Symptome – 645


30.8.1 Hirnstammsymptome – 645
30.8.2 Zerebelläre Symptome – 646

30.9 Hirnnervensymptome – 646


30.9.1 Riechstörungen – 646
30.9.2 Sehstörungen – 646
30.9.3 Pupillenstörungen – 646
30.9.4 Schädigung des N. stato-acusticus – 647
30.9.5 Geschmacksstörungen – 647
30.9.6 Andere Hirnnerven – 647

30.10 Neuromuskuläre Störungen – 647


30.10.1 Medikamentös ausgelöste Polyneuropathie – 647
30.10.2 Läsionen einzelner peripherer Nerven – 647
30.10.3 Störung der neuromuskulären Überleitung – 647
30.10.4 Muskuläre Störungen – 647
642 Kapitel 30 · Neurologische Störungen als Medikamentennebenwirkungen und bei chronischen Intoxikationen

> > Einleitung pertensiven Krise mit Nifedipin. Das in der Sekundärpräven-
tion eingesetzte Kombinationspräparat Aggrenox® (2-mal täg-
Arzneimittelwirkungen und -vergiftungen können alle Ebenen lich eingenommen) enthält Dipyridamol, welches insbesonde-
des Nervensystems, von der Hirnrinde bis zur neuromuskulären re zu Beginn der Therapie häufig zu Kopfschmerzen führt.
Überleitung und den Muskeln betreffen. Nicht immer sind ab- Hier hat sich eine einschleichende Therapie (in den ersten Ta-
norm hohe Dosierungen (Intoxikationen) nötig, um die Symp- gen morgens Acetylsalicylsäure 100 mg und abends Aggrenox®)
tome hervorzurufen. Oft reicht auch die Gabe einer »therapeuti- bewährt. Kopfschmerzen sind häufig der Grund dafür, dass
schen« Dosis aus. Bei Patienten mit eingeschränkter Nieren- oder Patienten die Substanz absetzen. Eine ganze Reihe anderer
Leberfunktion kann es zu einer Akkumulation und verstärkter Medikamente, wie Nitropräparate, Hormonpräparate (Östro-
Wirkung/Nebenwirkung kommen. Vor allem bei älteren Men- gene), auch Glukokortikoide, um nur einige zu nennen, kön-
schen sollte dies berücksichtigt werden. Auch eine Komedika- nen Kopfschmerzen als Nebenwirkung verursachen. Auch das
tion, die zu Enzyminduktion oder Veränderung der Plasmaeiweiß- antispastisch wirksame Medikament Baclofen (z.B. Lioresal®)
bindung führt, beeinflusst möglicherweise die Medikamenten- führt zu Kopfschmerzen.
wirkung. Patienten mit einer zerebralen Vorschädigung zeigen Der medikamenteninduzierte Kopfschmerz ist eine
häufig eine erhöhte NW-Rate bei zentral-nervös wirksamen Medi- langfristige Komplikation bei Migränepatienten oder Patienten
kamenten. mit chronischem Spannungskopfschmerz 7 Kap. 16). Die ge-
Die Nebenwirkungen eines Arzneimittels können die Symp- ringste Neigung, einen analgetikainduzierten Kopfschmerz zu
tome bekannter Krankheiten auslösen oder verstärken. Diese produzieren, haben Paracetamol und Ibuprofen.
Symptome können reversibel oder irreversibel sein. Als Beispiel
30 hierfür wären Blutdruckabfallkrisen mit hämodynamischen Insul-
ten zu nennen, die bei subtotaler Karotis- oder Siphonstenose 30.2 Störungen von Antrieb, Gedächtnis
durch höher dosierte, blutdrucksenkende Behandlung eintreten und Stimmung
können. Ein anderer Fall ist die Provokation der akuten intermit-
tierenden Porphyrie durch Barbiturate. In diesem Kapitel werden 30.2.1 Medikamenteneinnahme in
Leitsymptome und auslösende Substanzen besprochen. Für die therapeutischer Dosierung
Therapie der akuten Intoxikationen müssen wir auf Speziallehr-
bücher verweisen. Nicht nur akute Arzneimittelvergiftungen oder die Entziehungs-
situation nach längerer Anwendung von Pharmaka führen zu
Vorbemerkung zur Gliederung des Kapitels neurologischen Allgemeinsymptomen. Auch therapeutische
Es ist allgemein bekannt, dass viele Medikamente uner- Dosen können nachhaltige und störende kognitive Störungen
wünschte Wirkungen haben, die auf den immer länger wer- verursachen.
denden Beipackzetteln der Präparate aufgeführt sind. Bei der
Untersuchung eines Patienten mit zentralen oder peripheren 3Symptome. Hypnotika (wie z.B. Benzodiazepine, Barbi-
neurologischen Symptomen gehört es daher zur Routine, nach turate, Chloralhydrat), besonders solche mit langer HWZ, in
der Medikamenteneinnahme zu fragen und die Möglichkeit höherer Dosierung eingenommen, können auch Langzeitfol-
einer akuten oder chronischen Intoxikation zu berücksichtigen. gen wie Antriebslosigkeit, Verlangsamung, Gedächtnisstörun-
Üblicherweise werden in Lehrbüchern die unerwünschten gen und Müdigkeit hervorrufen.
Wirkungen so dargestellt, dass zuerst die Substanz genannt Viele Antidepressiva, besonders auf trizyklischer Basis
wird und dann alle beobachteten Nebenwirkungen in den mit stärker sedierendem und anxiolytischem Anteil, führen zu
verschiedensten Organsystemen aufgezählt werden. In diesem Müdigkeit, Leistungsverlust und Gedächtnisstörung – z.B.
Kapitel wurde ein anderer Weg gewählt. Das neurologische Doxepin (Aponal®), Amitriptylin (Saroten®) und antidepres-
Leitsymptom wird vorgestellt und danach besprochen bei wel- siv wirksame Neuroleptika wie Thioridazin (Melleril®), Levo-
chen Medikamentengruppen solche Störungen zu erwarten mepromazin (Neurocil®) und andere. Baclofen, besonders in
sind. Diese Darstellung kann natürlich nicht vollständig sein. Kombination mit sedierenden Medikamenten, kann eine er-
Es werden nur Symptome erwähnt, die so häufig sind, dass sie hebliche Müdigkeit und Verlangsamung hervorrufen. Anti-
eine wichtige Differentialdiagnose darstellen. Opportunisti- cholinergika, die zur Behandlung des Tremors bei Parkinson-
sche Infektionen bei Immunsuppresion und Chemotherapie Patienten gegeben werden, beeinflussen Gedächtnis und Kon-
werden hier nicht besprochen. zentration nachhaltig.
Langfristige Kortisongabe kann zu Verlangsamung und
Gedächtnisstörungen führen. Meist ist der Zusammenhang
30.1 Kopfschmerzen schon am Aussehen der Patienten (Cushing-Syndrom als Zei-
chen der chronischen Kortisongabe) zu erkennen. Sedierung,
Viele Analgetika, einschließlich Aspirin, können bei längerer Antriebslosigkeit und geringfügige Verlangsamung kann bei
Einnahme Kopfschmerzen hervorrufen. Praktisch alle nicht- hohen Dosierungen von Betablockern und anderen Antihyper-
steroidalen Antirheumatika können Kopfschmerzen auslösen tensiva gefunden werden. Oft fühlen sich die Patienten hier-
oder bestehende Kopfschmerzneigung verstärken. durch so beeinträchtigt, dass sie die Antihypertensiva absetzen.
Typisch sind Kopfschmerzen bei Dipyramidolgabe und bei Durch Diuretika bedingte Elektrolytverschiebungen kön-
Kalziumantagonisten, z.B. bei der akuten Behandlung der hy- nen Verwirrtheit, Verlangsamung und in seltenen Fällen epi-
30.3 · Bewusstseinsstörungen
643 30
Exkurs
EEG-Veränderungen bei Medikamenteneinnahme 4 Auch trizyklische Antidepressiva machen eine Beschleu-
4 Für Barbiturate sind frontale β-Wellen charakteristisch, nigung in Gruppen, auch steile Entladungen.
4 für Benzodiazepine generalisierte, synchrone β-Wellen. 4 Die meisten Neuroleptika verlangsamen das EEG.
4 Hydantoine führen zu einer Beschleunigung des Grund- 4 Nach Absetzen der Medikamente normalisiert sich das
rhythmus unter Auftreten von β-Wellen. EEG erst nach Tagen oder Wochen.

leptische Anfälle hervorrufen. Sedierung und Teilnahmslosig- Meist haben die Patienten einen Tremor der Hände, auch
keit kann unter klassischen Antihistaminika beobachtet wer- ein feinschlägiger, ungerichteter Nystagmus fehlt selten.
den. Die Fahrtauglichkeit kann auch bei niedrigen Dosen von
> Störungen von Antrieb und Aufmerksamkeit, geringe
Antihistaminika, die beispielsweise gegen eine allergische
Verminderung der Wachheit, Nystagmus und Tremor
Rhinitis genommen werden, beeinträchtigt sein. Antihistami-
der Hände: Verdacht auf chronische Intoxikation.
nika der neueren Generation haben kaum noch sedierende
Nebenwirkungen. Unter der Behandlung mit modernen Immunsuppressiva
Depressionen: Diese können unter vielen Medikamenten, (Rituximab, Tacrolimus) und aggressiver Chemotherapie (Cis-
z.B. bei antispastischer Behandlung mit Baclofen oder bei Be- Platin) entwickeln manche Patienten ein Syndrom mit Apa-
handlung der Hypertonie mit Betablockern, auftreten. Bei An- thie, Schwerbesinnlichkeit und Gedächtnisstörungen, manch-
tiparkinson-Medikation sind Depressionen und Ängstlichkeit mal Kopfschmerzen und Krampfanfällen. Ursache kann dann
mit innerer Unruhe seltener als Halluzinationen. Schwindel eine vor allem in posterioren Hirnabbschnitten gelegene rever-
und Depressionen sind auch unter Kalziumantagonisten nicht sible, toxische Leukenzephalopathie (PRES) sein, die nach ab-
selten. setzen der Substanzen (soweit möglich) wieder rückbildungs-
fähig ist, aber auch rezidivieren kann (7 Kap. 22.2.2). Opportu-
nistische Infektionen müssen immer ausgeschlossen werden.
30.2.2 Chronischer Medikamentenabusus

Abhängigkeit 30.3 Bewusstseinsstörungen


Bei chronischer Einnahme bestimmter Medikamente entwi-
ckeln sich häufig psychopathologische und neurologische Das ganze Spektrum der Bewusstseinsstörungen, von leichter
Symptome, die einen diffusen oder multilokulären, hirnorga- Somnolenz bis zum tiefen Koma mit Dezerebrationshaltung
nischen Krankheitsprozess imitieren. Der Krankheitsverlauf und Hirntod, kann Folge einer akuten oder chronischen Arz-
ist dabei keineswegs immer langsam progredient. Gar nicht neimittelintoxikation sein (zur Einteilung der Bewusstseins-
selten betreiben die Patienten ihren Abusus intermittierend, so störungen 7 Kap. 2.14). Der Grad der Bewusstseinsstörung
dass man zunächst einen schubweise verlaufenden Prozess ver- richtet sich nach der Menge der aufgenommenen Substanz
mutet. Der Übergang vom schädlichen Gebrauch zur Abhän- und reflektiert die Ebene der Funktionsstörung im Hirn-
gigkeit ist fließend. stamm. Sie ist nicht spezifisch für bestimmte Substanzen.
Typische Suchtpräparate sind neben Alkohol und Drogen Als besondere Form der Bewusstseinsstörung sollen noch
auch Analgetika, Tranquilizer und Schlafmittel. Obwohl die die Einschlafattacken unter Dopaminagonisten erwähnt wer-
einzelnen Substanzen in ihren biochemischen Wirkungen auf den, deren pathophysiologischer Mechanismus noch nicht
das Gehirn sehr unterschiedlich sind, ergibt sich trotzdem ein geklärt ist und die besonders für die Teilnahme am Straßenver-
recht ähnliches klinisches Erscheinungsbild. kehr relevant sind. Wenn auf Dopaminagonisten nicht verzich-
Die direkte psychische Wirkungen der Substanzen, wie Än- tet werden kann, scheint Modafinil in Einzelfällen zu helfen
derung der Persönlichkeit, der Affektivität, Beeinträchtigung des und gut verträglich zu sein.
Denkvermögens und des Antriebs werden im Verlauf deut- Eine Intoxikationen mit γ-Hydroxy-Buttersäure (GHB,
licher. »liquid ecstasy«, Handelsname Somsanit®) ist klinisch nur
Es gibt keine einheitliche Ursache von Abhängigkeit und schwer von einer Benzodiazepinintoxikation zu unterschei-
Sucht, die Entstehung ist vermutlich multifaktoriell. Mögli- den. Die Substanz wird zunehmend als »Party-Droge« miss-
cherweise sind neurobiologische Faktoren entscheidend bei braucht. Bedingt durch die pharmakologischen Eigenschaften
der Aufrechterhaltung der Sucht, aber nur in Kombination mit der Substanz scheint ein rascher Beginn und ein rasches Ende
psychologischen und soziologischen Faktoren bedeutend bei der Vigilanzstörung charakteristisch. Bei milder Intoxikation
der Entstehung. steht ein Delir mit Agitation im Vordergrund.

3Symptome. Die Patienten sind aspontan, und auch ihre


Anregbarkeit ist vermindert. Sie wirken bald gleichgültig-
stumpf, bald moros-reizbar, bald flach-euphorisch. Oft klagen
sie über Kopfschmerzen, Schwindel, Merkschwäche und Nach-
lassen der Initiative. Der Grund für den Medikamentenabusus
ist in vielen Fällen eine chronische Konfliktsituation.
644 Kapitel 30 · Neurologische Störungen als Medikamentennebenwirkungen und bei chronischen Intoxikationen

30.4 Entzugssymptome können zu Verwirrtheit, Bewusstseinstrübung und Halluzina-


tionen führen.
30.4.1 Delir Antibiotika wie Ofloxazin (z.B. Tarivid®) und andere
Chinolonderivate können Halluzinationen auslösen. Da diese
Entzugssymptome äußern sich mit epileptischen Anfällen Substanzen z.B. bei Harnwegsinfekten relativ freizügig ver-
(s.u.) und in einer exogenen Psychose vom Typ des Delirs oder schrieben werden, sollte man bei akuten, psychotischen Reak-
Dämmerzustandes. So kommen z.B. Entzugsdelire bei 60% der tionen immer die Frage nach vorangegangener Antibiotika-
Menschen vor, die chronisch Barbiturate oder Tranquilizer therapie stellen. Das Zytostatikum Asparaginase hat bei etwa
nehmen und bei denen der Spiegel des Medikamentes plötzlich 20% aller Patienten Verwirrtheit, psychotische Episoden, sel-
absinkt. Sehr charakteristisch ist das Alkoholentzugsdelir ten auch epileptische Anfälle zur Folge. Halluzinationen treten
(7 Kap. 29.1.3). ebenfalls unter Behandlung mit Antihistaminika auf.

30.4.2 Somnolenz und narkoleptische Anfälle 30.6 Epileptische Anfälle

Das Gegenbild dazu sind die Somnolenz und selbst narkolep- 30.6.1 Medikamente mit krampfschwellen-
tische Anfälle während des Entzugs von zentralen Analeptika. senkender Wirkung
Der Entzug von Substanzen, die auf polar organisierte Systeme
im Zentralnervensystem wirken (z.B. Wachen und Schlafen), Neuroleptika senken die Krampfschwelle (z.B. Haloperidol).
30 ruft also das Gegenteil ihrer pharmakologischen Wirkung her- In der Klasse der atypischen Neuroleptika ist die krampf-
vor, und zwar nach beiden Richtungen als phasische (Krämpfe, schwellensenkende Wirkung bei Clozapin besonders ausge-
narkoleptische Anfälle) oder tonische Funktionsstörung (De- prägt. Bei den Antidepressiva senken Trizyklika die Krampf-
lir, Somnolenz). schwelle, während die selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-
Hemmern (SSRI’s) als unbedenklich gelten.
Verschiedene Antibiotika, besonders Penicillinderivate,
30.5 Psychotische Episoden können Anfälle provozieren. Die Krampfschwelle wird auch
und Halluzinationen durch Ciclosporin und Isoniazid gesenkt. Zytostatika, wie Cis-
platin und Fluorouracil können zu Enzephalopathien mit epi-
Bei Parkinson-Patienten kommt es unter Behandlung mit den leptischen Anfällen und Verwirrtheit führen. Auch Digitalis-
üblichen Antiparkinson-Medikamenten nicht selten zu Hal- glykoside senken die Krampfschwelle (EEG-Veränderungen
luzinationen. Alle Antiparkinsonmittel, nicht nur L-Dopa und schon bei normalen Dosen). Intoxikationen mit Crack, Koka-
Dopaminagonisten, sondern auch Anticholinergika, können in und Amphetaminen führen zu epileptischen Anfällen.
akute, psychotische Reaktionen mit meist visuellen Halluzina-
tionen auslösen. Psychosen und Delirien werden auch unter
Amantadinpräparaten beobachtet. Halluzinationen treten aber 30.6.2 Entzugskrämpfe
nicht streng dosisabhängig auf. Auch führt eine bestimmte
Substanz beim gleichen Patienten nicht jedes Mal zu einer Psy- Nach längerer Einnahme von sedierend wirkenden Substan-
chose oder zu Halluzinationen. zen, z.B. von Barbituraten, Tranquilizern, bei lang dauerndem
Diese psychotischen Reaktionen sind bei fortgeschrittener Alkohol- oder Drogenabusus kommt es zu einer Gewöhnung
Parkinson-Krankheit oft therapielimitierend (7 Kap. 23.1.1). im pharmakologischen Sinne. Plötzliches Absetzen der Subs-
Da die typischen Neuroleptika das Parkinson-Syndrom ver- tanzen löst bei vielen Menschen Entzugskrämpfe aus. Sie ha-
stärken können, stehen als Ausweichmedikamente atypischen ben nicht eine pathologisch gesteigerte Krampfbereitschaft zur
Neuroleptika wie Clozapin ohne extrapyramidale Nebenwir- Voraussetzung, sondern können auch bei Personen auftreten,
kungen zur Verfügung. die sonst niemals spontane, epileptische Anfälle bekommen.
Das schließt natürlich nicht aus, dass auch Epilepsiekranke
> Halluzinationen und andere, akute, psychotische Re-
Entzugskrämpfe (bis zum Status epilepticus) bekommen kön-
aktionen sind häufige Nebenwirkungen einer Parkin-
nen, wenn ein Antiepileptikum plötzlich abgesetzt wird. Wenn
son-Therapie.
ein Entzugsdelir jedoch mit gehäuften Anfällen beginnt, be-
Halluzinationen kommen auch bei antriebssteigernden trizyk- steht die Gefahr, dass man so lange mit aufwendigen Methoden
lischen Antidepressiva vom Imipramin-Typ vor. Akute Psy- nach der Ursache der Anfälle sucht, bis wertvolle Zeit für die
chosen werden unter verschiedensten Drogen beobachtet: Behandlung im Frühstadium des Delirs versäumt ist.
LSD (auch mit Flash-back oder den bekannten Horrortrips),
Crack und Kokain, seltener Heroin oder Opiate lösen diese
aus.
Prednisolon und andere Kortikosteroide können innere
Unruhe, Nervosität, Halluzinationen und psychotische Reak-
tionen bewirken, besonders bei hoher Dosierung und i.v.-Gabe.
Auch manche Antimykotika wie Fluzytosin oder Miconazol
30.8 · Hirnstamm- und zerebelläre Symptome
645 30
30.7 Extrapyramidale Syndrome Situationen deutlich sind. Diese Spätdyskinesien können sich
unter einer gleichbleibenden neuroleptischen Dauertherapie,
30.7.1 Medikamentös ausgelöstes Parkinson- nach dem Absetzen und sogar nach einer Einmalgabe eines
Syndrom Depotpräparates (z.B. Imap®) entwickeln.
Ältere Patienten sind stärker gefährdet als jüngere. Die
Viele Medikamente, vor allem Psychopharmaka und Antiver- Rückbildung zieht sich über Wochen und Monate hin. Manch-
tiginosa (Medikamente gegen Schwindel) führen oft zum aki- mal bleiben die Hyperkinesen bestehen. Die Pathophysiologie
netischen Parkinson-Syndrom, zu Tremor, zu oralen Hyperki- ist noch nicht befriedigend aufgeklärt. Zur Behandlung kann
nesen mit Schlundkrämpfen oder zum akuten Tortikollis. Viele man Biperiden (z.B. Akineton®, 3- bis 4-mal 1 Tablette) oder
Neuroleptika (Auswahl, hier nur Handelsnamen) können die Neuroleptika in hohen Dosen geben. Die Prognose ist schlecht.
Symptomatik auslösen: Taxilan®, Dapotum®, Imap®, Neuro- Eine Spätwirkung der lang dauernden Neuroleptikabehand-
cil®, Dominal®, Dipiperon®, Melleril® Eunerpan® und andere, lung ist die Akathisie, die bei etwa 10% der dauerbehandelten
die fälschlich als »Tranquilizer« gegeben werden. Die Häufig- Patienten auftritt. Sie ist gekennzeichnet durch eine quälende
keit eines Parkinson-Syndroms beträgt 4–30% bei chronischer motorische Unruhe. Die Patienten können nicht sitzen blei-
Neuroleptikabehandlung. Interessanterweise ist die Alters- ben, müssen im Raum auf- und ablaufen. Wenn sie stehen,
verteilung des spontanen und medikamentös ausgelösten Par- trippeln sie auf der Stelle.
kinsonismus etwa gleich. In den Familien der Kranken, die
nach Neuroleptikabehandlung ein Parkinson-Syndrom be-
kommen, soll der »echte« Parkinsonismus häufiger sein als in 30.7.4 Tremor
der Durchschnittsbevölkerung. Dies spricht für eine indivi-
duelle Bereitschaft zur Manifestation von extrapyramidalen Essentieller Tremor und physiologischer Tremor (7 Kap. 23.5)
Symptomen. Selten wird ein medikamentöses Parkinson-Syn- können unter Kortisonbehandlung verstärkt bzw. klinisch auf-
drom auch unter Antidepressiva gesehen. Unter Behandlung fällig werden. Tremor kommt weiterhin vor bei Sulfonamid-
mit dem Kalziumantagonisten Flunarizin wurden reversible behandlung, unter Steroiden, bei hochdosierter Gabe von
Parkinson-Syndrome beobachtet. Schilddrüsenhormonen und bei Lithiumtherapie. Kalzium-
antagonisten können Tremor auslösen. Tremor kommt auch
bei antriebssteigernden Antidepressiva vor.
30.7.2 Hyperkinesen und Dystonien

Nach parenteraler oder oraler Gabe von Diphenylhydantoin, 30.8 Hirnstamm- und zerebelläre
Carbamazepin, Primidon, Metoclopramid und von Succinimi- Symptome
den sind ballistische, choreatische, athetotische und myorhyth-
mische Hyperkinesen berichtet worden. 30.8.1 Hirnstammsymptome
Überdosierung mit Parkinson-Medikamenten führt zu
heftigen, choreoathetotischen Bewegungen. Oft fühlen sich Trizyklische Psychopharmaka können bei vorbestehenden
die Patienten in dieser hyperaktiven Phase relativ wohl, obwohl Hirnstammfunktionsstörungen diese erheblich verstärken
sie funktionell ähnlich behindert sind wie in einer akinetischen und zu einer krisenhaften Exazerbation führen.
Phase. Hohe Dosierungen von Neuroleptika, Barbituraten, auch
Neuroleptika können zu paroxysmalen Dyskinesien von Muskelrelaxanzien (Baclofen, Dantamacrin), aber v.a. von
(Häufigkeit bis zu 10%) führen. Hierzu zählen auch Zungen- Tranquilizern, können zu Dysarthrophonie und Dysphagie
und Schlundmuskulaturkrämpfe (besonders häufig bei jungen führen. Diese Symptome haben mehrere Ursachen: Sie entste-
Patientinnen nach Paspertin®-Behandlung! Therapie: Akine- hen zentral, meist im Hirnstamm, werden aber auch unterstützt
ton® i.v.). Auch Blick- und Gesichtskrämpfe, seltener Torsions- durch eine Hypotonie der Muskulatur. Charakteristisch sind
dystonie und choreatische Bewegungsstörungen kommen auch Tremor der Hände sowie eine Bradydiadochokinese und
vor. Feinmotorikstörung.
Barbiturate, verwandte Sedativa, Hydantoine und Benzo-
> Akut einsetzende, bedrohlich wirkende Zungen- und
diazepine führen bei chronischer Einnahme häufig zu einem
Schlundkrämpfe bei Patienten mit Übelkeit und
Syndrom, das mit Blickrichtungsnystagmus beginnt und in
Erbrechen: Meist Folge einer Behandlung mit
schweren Fällen von Bewusstseinsstörung und anderen psy-
Metoclopramid (Paspertin®). Therapie: Akineton® i.v.
chischen Veränderungen begleitet ist. Beides – der Nystagmus
und die psychischen Veränderungen – werden auf Funktions-
störungen in der Formatio reticularis des Hirnstamms (unspe-
30.7.3 Spätdyskinesien zifisches Aktivierungssystem und supranukleärer Regulations-
apparat der Blickmotorik) zurückgeführt, deren polysynap-
Nach chronischer Einnahme von Neuroleptika stellen sich tische Struktur gegen Medikamenteneinwirkung besonders
bei einzelnen Patienten choreatische und dystone Hyperkine- empfindlich ist.
sen in der Mundregion, den Extremitäten und, selten, auch am
Rumpf ein, die besonders bei Ablenkung und in entspannten
646 Kapitel 30 · Neurologische Störungen als Medikamentennebenwirkungen und bei chronischen Intoxikationen

30.8.2 Zerebelläre Symptome Miosis ist ferner eine regelmäßige Folge der Einnahme von
Cholinesterasehemmern, z.B. bei der Behandlung des Glau-
Gang- und Standataxie, Intentionstremor, Hypermetrie und koms mit Eserin (Pilocarpintropfen).
Dysdiadochokinese sind Zeichen einer schweren, toxischen Bei Cholinesterasehemmerintoxikation in suizidaler Ab-
Schädigung des Kleinhirns (z.B. durch Phenytoin, Lithium). sicht ist die Miosis nur eins von vielen acetylcholinergen Symp-
Auch lassen sich häufig Veränderungen der Stimmung be- tomen (7 Kap. 34.8).
obachten mit situationsinadäquatem Affekt (Euphorie, Affekt-
verflachung, Reizbarkeit). Manchmal kommen Myoklonien Mydriasis
vor. In den meisten Fällen sind diese Störungen reversibel. Mydriasis kann zwei Ursachen haben: Parasympathikus-
Allerdings sind in der Literatur Fälle von irreversibler lähmung und Sympathikusreizung. Das Leitsymptom der to-
Kleinhirnschädigung/- atrophie durch langjährige Phenytoin- xischen Parasympathikuslähmung ist die doppelseitige My-
Einnahme beschrieben. driasis. Bei toxischer Mydriasis ist auch immer eine Akkom-
modationsparese nachzuweisen.
> Ungeklärte zerebelläre Ataxie: Verdacht auf chro-
Die Augensymptome sind in aller Regel von weiteren
nischen Medikamenten- oder Alkoholabusus
Symptomen der Parasympathikuslähmung begleitet: trockener
und brennender Mund, Schwierigkeiten beim Schlucken und
Sprechen, starker Durst, heiße, trockene und gerötete Haut.
30.9 Hirnnervensymptome Der Puls ist schwach und sehr schnell, es besteht eine Tachy-
kardie mit Werten bis zu 120 und 150 Schlägen pro Minute.
30 30.9.1 Riechstörungen Der Blutdruck steigt an. Die Patienten haben Harndrang,
gleichzeitig aber Schwierigkeiten beim Wasserlassen.
Funktionsstörungen des N. olfactorius (Hyp- und Anosmie) Eine Ursache hierfür kann die Intoxikation mit Belladonna-
werden am häufigsten durch Medikamente verursacht. Die alkaloiden sein, die durch alkaloidhaltige Medikamente oder
nachstehende Aufzählung ist sicher unvollständig: Clofibrat, bei Kindern durch Verzehr von Tollkirschen entsteht. In leich-
Ampicillin, Ethambutol, Streptomycin, Tetrazykline, Metho- ten Fällen bleiben die Folgen der Vergiftung auf die eben be-
trexat, Azathioprin, Vincristin, Allopurinol, Levamisol, Thiou- sprochenen neurologischen Symptome beschränkt. In schwe-
razil, Etacrynsäure, Baclofen, Levodopa, Carbamazepin, Phe- ren Fällen entwickelt sich eine toxische Psychose mit gestörter
nytoin, Lithium. Orientierung, getrübtem Bewusstsein, Erregungszuständen
Differentialdiagnostisch kommt die sog. Grippeanosmie und deliranter Unruhe. Auch optische Halluzinationen sind
in Frage. Bei vorhergegangener Antibiotikagabe ist es oft un- nicht selten. Dieses delirante Syndrom kann in einen Erschöp-
möglich, zu entscheiden, wodurch die Anosmie entstanden ist. fungszustand übergehen, der in ein Koma mündet.
Nicht selten bleibt die Anosmie bestehen. Im Zweifelsfalle injiziert man das Parasympathomime-
tikum Carbachol 0,5% s.c. Normalerweise ist diese Injektion
von einem typischen Flush gefolgt, d.h. einer aufsteigenden
30.9.2 Sehstörungen Rötung der oberen Körperpartien mit Hitzegefühl. Dabei
kommt es auch zu muskarinartigen Wirkungen: Speichelfluss,
Eine Rot-Grün-Farbstörung, Papillenödem und selten auch Schwitzen, Tränenfluss und Bauchkrämpfen. Bleiben diese
eine schmerzhafte Optikusneuritis mit Sehstörung und Zen- Symptome aus, ist die Belladonnaintoxikation sicher, weil die
tralskotom wird bei Chloramphenicol beschrieben. Ähnliche Alkaloide die muskarinartigen Wirkungen von Carbachol blo-
Veränderungen (Optikusschaden, Störung des Rot-Grün- ckieren.
Sehens) können unter einer Behandlung mit Ethambutol auf- Die Kombination von Akkommodationslähmung mit
treten. Unter Langzeit-Kortisonbehandlung kann ein Papil- Schwierigkeiten beim Lesen und Mydriasis ist charakteristisch
lenödem entstehen. Auch die steroidbedingte Kataraktent- für die Nebenwirkung einiger weiterer Pharmaka: Neurolepti-
wicklung kann den Visus beeinträchtigen. Tetrazykline führen ka und Antidepressiva wie Imipramin (z.B. Tofranil®) und
zu Sehstörungen und Papillenödem. Farbsinnstörungen und Amitriptylin (z.B. Saroten®) und bei der akuten Vergiftung mit
Sehstörungen sind unter Behandlung mit Digitalisglykosiden Pethidinpräparaten (z.B. Dolantin®). Akkommodationsläh-
(Digoxin und Digitoxin und dem Antiepileptikum Vigabatrin) mung und Mydriasis, die allerdings nicht obligat ist, sind aller-
nicht selten. dings auch Frühsymptome des Botulismus (7 Kap. 32.8).
Das Bild des maximalen Sympathikotonus kennzeichnet
die akute Kokainvergiftung. Die Patienten haben außer der
30.9.3 Pupillenstörungen Pupillenerweiterung einen Exophthalmus mit Glanzauge,
Rötung des Gesichtes und Tachykardie. Sie schwitzen, haben
Miosis einen feinschlägigen Tremor der Hände und eine Erhöhung
Starke Verengung der Pupillen, die auch im Dunkeln beste- des Blutdrucks. Psychisch sind sie unruhig, ängstlich, erregt.
hen bleibt, wurde bereits bei der Besprechung der Komata als Eine ähnliche Symptomkombination wird auch nach Einnah-
ein typisches Symptom für den Missbrauch von Opiaten er- me von Amphetaminen beobachtet. Von der Atropinvergif-
wähnt. Die Opiatmiosis wird durch den Morphinantagonisten tung lässt sich das Krankheitsbild leicht abgrenzen: Unter
Naloxon aufgehoben. den Augensymptomen fehlt die Akkommodationslähmung,
30.10 · Neuromuskuläre Störungen
647 30
unter den Allgemeinsymptomen die Trockenheit der Schleim- ren. Diese sind im Polyneuropathie-Kapitel (7 Kap. 32) bespro-
häute. chen. Häufig zu Polyneuropathien führende Medikamente
sind in . Tabelle 32.4 angegeben.
Chronische Intoxikation beim Schnüffeln von Lösungs-
30.9.4 Schädigung des N. stato-acusticus mitteln führt ebenfalls zur Polyneuropathie. Alle Formen von
toxischer Polyneuropathie haben als pathologisch-anato-
Streptomycin schädigt dosisabhängig den VIII. Hirnnerven mische Grundlage eine distal beginnende axonale Degenera-
bzw. seine Sinneszellen. In erster Linie wird das Gleichge- tion im peripheren Nervensystem, während die Markscheiden
wichtsorgan, seltener die Schnecke betroffen. Streptomycin längere Zeit erhalten bleiben.
wirkt mehr auf das Vestibulum, Dihydrostreptomycin mehr
auf die Cochlea. Die Funktionsstörungen des N. statoacusticus
sind in leichteren Fällen rückbildungsfähig, in schweren Fällen 30.10.2 Läsionen einzelner peripherer Nerven
bleiben sie für die Dauer bestehen. Ähnliche, akute Vestibula-
rissymptome werden auch nach Gentamycinbehandlung be- Blutungen in den Retroperitoneonalraum oder in den M. ili-
obachtet, besonders im höheren Lebensalter und bei gleichzei- opsoas unter Antikoagulanzien haben Femoralislähmungen
tiger Niereninsuffizienz. oder Plexus-lumbalis-Lähmungen zur Folge. Da die Prognose
Hörstörungen werden nach Streptomycinbehandlung der Nervenkompression wesentlich von einer raschen opera-
bei 4–15% der Patienten beobachtet. Nach Medikamentenein- tiven Entlastung abhängt, muss die Diagnosesicherung durch
nahme von etwa 1 Woche setzt plötzlich ein Ohrensausen bildgebende Verfahren sowie eine Normalisierung der Ge-
von hoher Frequenz ein, das auch nach Absetzen der Therapie rinnungsparameter (durch Gabe von Prothrombinkomplex,
noch bis zu 2 Wochen anhalten kann. Gibt man das Medika- Vitamin K) notfallmäßig erfolgen.
ment aber weiter, entwickelt sich subakut ein Hörverlust.
Zunächst betrifft er nur Frequenzen oberhalb des Spektrums
der menschlichen Sprache, er ist also anfangs nur audio- 30.10.3 Störung der neuromuskulären
metrisch festzustellen. Erst später werden auch tiefere Fre- Überleitung
quenzen betroffen, und das Sprachgehör ist erschwert. Die
Schädigung betrifft die Sinneszellen und nicht die Nerven- Verschiedene Antibiotika können die neuromuskuläre Über-
fasern. leitung beeinträchtigen, so dass klinisch ein Krankheitsbild ent-
steht, das einer akuten Myasthenie ähnlich ist. Das erste und
besonders charakteristische Symptom ist eine Atemlähmung.
30.9.5 Geschmacksstörungen Damit ist ein wichtiges Differentialdiagnostikum gegen die My-
asthenia gravis gegeben, die in aller Regel nicht an den Atem-
Durch verschiedene Medikamente kann eine, meist reversible, muskeln, sondern an den kranialen Muskeln beginnt, die sehr
Ageusie eintreten. Am bekanntesten ist sie bei längerer Ein- kleine motorische Einheiten aufweisen, z.B. an den Augenmus-
nahme von Penicillamin (z.B. Metalcaptase®, Trolovol®). Ge- keln oder Sprechmuskeln.
schmacksstörungen sind auch nach dem Thyreostatikum Derartige Lähmungen sind nach Antibiotika (Colistin,
Thiamazol (z.B. Favistan®) bekannt. Neomycin, Streptomycin, Tetracyclin, Sulfonamide), nach
Benzothiadiazinen, D-Penicillamin, Hydantoinen und Mg2+-
haltigen Abführmitteln, Chlorpromazin und Benzodiazepinen
30.9.6 Andere Hirnnerven beschrieben worden. Der pathophysiologische Mechanismus
ist noch nicht genau bekannt. Neostigmin (z.B. Prostigmin)
Vincristin kann neben dosisabhängiger Polyneuropathie auch soll nicht in allen Fällen wirksam sein.
zu isolierten Hirnnervenausfällen (N. facialis, okulomoto- Myasthenie auslösende oder verstärkende Medikamente
rische Hirnnerven) führen. sind in . Tabelle 34.2 zusammengefasst.

30.10 Neuromuskuläre Störungen 30.10.4 Muskuläre Störungen

30.10.1 Medikamentös ausgelöste Bei hohen Dosen von Baclofen kann eine Muskelhypotonie
Polyneuropathie mit Verstärkung einer vorbestehenden Muskelschwäche ent-
stehen. Überdosierung mit Diuretika, die zu Elektrolytstörun-
Eine Schädigung des peripheren Nervensystems als Organ ge- gen führen, kann reversible Muskelfunktionsstörungen zur
hört zu den am besten bekannten, toxisch bedingten Krank- Folge haben. Hypokaliämie kann eine proximale, progrediente
heitszuständen in der Neurologie. Größere Zusammenstellun- Muskelschwäche bewirken.
gen zeigen, dass rund 30% aller Fälle von Polyneuropathie Lang dauernde Behandlung mit fluorierten Steroiden, aber
toxisch entstanden sind. Man muss also in jedem Falle, selbst auch mit anderen Steroiden kann Ursache einer Steroidmyo-
wenn ein internistischer Krankheitszustand vorliegt, die Mög- pathie sein, die typischerweise Lähmungen und Atrophien der
lichkeit einer toxischen Genese differentialdiagnostisch abklä- Oberschenkel und Schultermuskulatur hervorruft. Leider ist
648 Kapitel 30 · Neurologische Störungen als Medikamentennebenwirkungen und bei chronischen Intoxikationen

diese Myopathie nur dann voll reversibel, wenn sie schnell er- Cimetidin und wiederum Zidovudin bekannt. Nichtentzünd-
kannt wird. liche Myalgien und Krampi können unter anderem nach Al-
Rhabdomyolyse kommt v.a. bei Lipidsenkern (Clofibrat, koholgenuss, Lipidsenkern, Chinidin, verschiedenen Beta-
Levostatin, Gemfibrozil), schweren Hypokaliämien (Laxanzi- blockern und Cyclosporin auftreten. Es gibt vermehrt Hin-
en- und Diuretikaabusus) und Alkoholintoxikationen vor. An- weise, dass Statine über eine Myopathie der Augenmuskeln
dere Medikamente darunter besonders wichtig Statine, ver- auch Doppelbilder verursachen.
ursachen Myopathien, z.T. mit morphologischen Beson- Bei Patienten mit entsprechender Veranlagung löst die
derheiten, wie z.B. Typ-2-Faseratrophie (Kortikosteroide), Verabreichung von Inhalationsnarkotika und nichtdepolari-
Mitochondrienschädigung (Zidovudin) und vakuoläre Myo- sierenden Muskelrelaxanzien eine maligne Hyperthermie
pathie (Chloroquin, Vincristin, Colchizin). Bei Statingabe wird aus. Das maligne Neuroleptikasyndrom ist in 7 Kap. 34.7.5
häufig auch eine asymptomatische CK-Erhöhung beobachtet. besprochen.
Eine Myositis ist nach Gabe von Penicillamin, L-Tryptophan,

In Kürze

Neurologische Störungen als Medikamentennebenwirkungen und bei chronischen Intoxikationen

30 Kopfschmerzen Entzugssymptome

Medikamenteninduzierter Kopfschmerz durch Analgetika, Entzug von Substanzen, die auf polar organisierte Systeme im
Kalziumantagonisten, nichtsteroidale Antirheumatika, Zentralnervensystem wirken (z.B. Wachen und Schlafen), ruft
Dipyramidolgabe und als langfristige Komplikation bei Gegenteil ihrer pharmakologischen Wirkung hervor als pha-
Migräne oder chronischem Spannungskopfschmerz. sische (Krämpfe, narkoleptische Anfälle) oder tonische Funk-
tionsstörung (Delir, Somnolenz).
Störungen von Antrieb, Gedächtnis und Stimmung
Psychotische Episoden und Halluzinationen
Medikamenteneinnahme in therapeutischer Dosierung.
Müdigkeit: Antidepressiva, Hypnotika; Gedächtnis- und Verursacht durch Antiparkinson-Medikamente, trizyklische
Konzentrationsstörung: Kortison, Anticholinergika, Hypno- Antidepressiva, verschiedene Drogen, Kortikosteroide, Anti-
tika, Antidepressiva; Antriebslosigkeit, Verlangsamung: mykotika, Antibiotika, Chinolonderivate oder Antihistaminika.
Antihypertensiva, Hypnotika, Diuretika, Kortison, Betablo-
cker; Verwirrtheit: Diuretika; Depressionen: Betablocker, Epileptische Anfälle
antispastische Medikamente, Kalziumantagonisten; Schwin-
del: Kalziumantagonisten. Provoziert durch Medikamente mit Krampfschwellen erweitern-
der Wirkung. Entzugskrämpfe durch plötzliches Absetzen von
Chronischer Medikamentenabusus. Chronische Intoxika- sedierend wirkenden Substanzen.
tion bewirkt psychopathologische und neurologische Symp-
tome, die diffusen oder multilokulären, hirnorganischen Extrapyramidale Syndrome
Krankheitsprozess imitieren. Symptome: Kopfschmerzen,
Schwindel, Tremor der Hände, ungerichteter Nystagmus, Medikamentös ausgelöstes Parkinson-Syndrom durch Psy-
Beeinträchtigung des Denkvermögens und Antriebs. chopharmaka, Antivertiginosa. Nach chronischer Neurolep-
tika-Einnahme, nach Absetzen oder Einmalgabe eines Depot-
Bewusstseinsstörungen präparats treten choreatische und dystone Hyperkinesen in
Mundregion und Extremitäten als Spätdyskinesien auf.
Begleitsymptome als Indikator für verursachende Subs- Essentieller und physiologischer Tremor nach Behandlung
tanzgruppe: Maximale Miosis mit Pupillendurchmesser ca. mit Kortison, Sulfonamid, Steroiden, hochdosierter Gabe von
1 mm bei Opiat-, E605- oder Psychopharmaka-Intoxikation; Schilddrüsenhormonen, Lithium, Kalziumantagonisten, Anti-
Pupillenerweiterung nach Morphinantagonisten; Mydriasis depressiva.
mit schwacher oder fehlender Lichtreaktion nach CO-Ver-
giftung; Beeinträchtigung des okulozephalen Reflexes Hirnstamm- und zerebelläre Symptome
nach Vergiftung mit Barbituraten und Hypnotika; Para-
sympatikusreizung mit Miosis, Speichelfluss, Schweißaus- Dysarthrie und Dysphagie als Folge von trizyklischen Psycho-
bruch, Diarrhö nach E605-Vergiftung. pharmaka, Neuroleptika, Barbituraten, Muskelrelaxanzien,
Tranquilizern. Blickrichtungsnystagmus, Bewusstseinsstö-
6
30.10 · Neuromuskuläre Störungen
649 30

rung, psychische Veränderungen bei chronischer Einnahme Schädigung des N. stato-acusticus. Hörstörungen nach
von Barbituraten, verwandten Sedativa, Hydantoine, Benzo- Streptomycinbehandlung, akute Vestibularissymptome nach
diazepine. Zerebelläre Symptome wie Dysdiadochokinese, Gentamycinbehandlung.
Gang- und Standataxie, Intentionstremor als Zeichen einer
schweren, toxischen Schädigung des Kleinhirns. Ageusie. Reversibler Geschmacksverlust bei längerer Penicilla-
min-, Thyreostatikumeinnahme.
Hirnnervensymptome
Neuromuskuläre Störungen
Anosmie. Durch Medikamente verursachte Funktionsstörun-
gen des N. olfactorius. Medikamentös ausgelöste Polyneuropathie durch chro-
nische Intoxikation u.a. beim Schnüffeln von Lösungsmitteln.
Sehstörungen. Rot-Grün-Farbstörung, Papillenödem nach Läsionen einzelner peripherer Nerven unter Antikoagulan-
Chloramphenicol, Ethambutol, Langzeit-Kortisonbehand- zien bedingen Femoralis- oder Plexus-lumbalis-Lähmungen.
lung. Farbsinn- und Sehstörung nach Herzglykosiden. Störung der neuromuskulären Überleitung wie Atem-
lähmung durch Antibiotika. Muskuläre Störungen wie
Pupillenstörungen. Cholinesterasehemmer, Missbrauch Muskelhypotonie nach Baclofen-, Rhabdomyolyse nach Lipid-
von Opiaten führt zu Miosis. Doppelseitige Mydriasis durch senkern-, Steroidmyopathie nach Steroiden-, Myositis nach
Intoxikation mit Belladonnaalkaloiden. Penicillamin-Behandlung. Myopathie und CK-Erhöhung bei
Statinen.
IX Krankheiten des
peripheren
Nervensystems und
der Muskulatur
31 Schädigungen der peripheren Nerven – 653

32 Polyneuropathien und hereditäre


Neuropathien – 689

33 Motoneuronale Krankheiten – 717

34 Muskelkrankheiten – 731
31

31 Schädigungen der peripheren Nerven


31.1 Vorbemerkungen – 655
31.1.1 Schädigungsmechanismen peripherer Nerven – 655
31.1.2 Diagnostik der peripheren Nervenläsionen – 655

31.2 Hirnnervenläsionen – 656


31.2.1 N. oculomotorius – 656
31.2.2 N. trochlearis – 657
31.2.3 N. abducens – 657
31.2.4 N. trigeminus – 658
31.2.5 N. facialis (Hirnnerv VII): Periphere Fazialislähmung – 658
31.2.6 N. statoacusticus (Hirnnerv VIII) – 661
31.2.7 N. glossopharyngeus und N. vagus – 661
31.2.8 N. accessorius (Hirnnerv XI): Akzessoriuslähmung – 661
31.2.9 N. hypoglossus – 662

31.3 Läsionen des Plexus cervicobrachialis – 662


31.3.1 Traumatische Plexusläsionen – 663
31.3.2 Neuralgische Schulteramyotrophie – 663
31.3.3 Skalenussyndrom – 663

31.4 Läsionen einzelner Nerven des Plexus cervicobrachialis – 664


31.4.1 N. suprascapularis (C4–C6) – 664
31.4.2 N. thoracicus longus (C5–C7) – 664
31.4.3 N. thoracodorsalis (C6–C8) – 664
31.4.4 Nn. thoracici anteriores (C5–Th1) – 665
31.4.5 N. axillaris (C5–C7) – 668
31.4.6 N. musculocutaneus (C6–C7) – 668
31.4.7 N. radialis (C5–Th1) – 668
31.4.8 N. medianus (C6–Th1, vorwiegend C6–C8) – 669
31.4.9 N. ulnaris (C8–Th1) – 671

31.5 Läsionen des Plexus lumbosacralis – 673

31.6 Läsionen einzelner Nerven des Plexus lumbosacralis – 674


31.6.1 N. cutaneus femoris lateralis (L2 und L3) – 674
31.6.2 N. femoralis (L2–L4) – 674
31.6.3 N. glutaeus superior (L4–S1) – 675
31.6.4 N. glutaeus inferior (L5–S2) – 675
31.6.5 N. obturatorius (L2–L4) – 675
31.6.6 N. ischiadicus (L4–S3) – 675
31.6.7 N. peronaeus (L4–S2) – 676
31.6.8 N. tibialis (L4–S3) – 676

31.7 Akuttherapie der peripheren Nervenschädigungen – 677


31.7.1 Konservative Therapie – 677
31.7.2 Operative Behandlung – 678
31.8 Erkrankungen der Bandscheiben – 678
31.8.1 Zervikaler oder thorakaler, medialer Bandscheibenvorfall – 679
31.8.2 Zervikaler, lateraler Bandscheibenvorfall – 679
31.8.3 Zervikale Myelopathie – 680
31.8.4 Lumbosakraler, medialer Bandscheibenvorfall – 680
31.8.5 Lumbaler, lateraler Bandscheibenvorfall – 682
31.8.6 Arachnopathie – 685
31.8.7 Claudicatio des thorakalen Rückenmarks – 685
31.8.8 Claudicatio der Cauda equina – 685
31.1 · Vorbemerkungen
655 31
> > Einleitung 4 Traumatische Schäden: Sportverletzungen mit Knochen-
brüchen, Verkehrsunfälle, Schnittverletzungen und Schulter-
Läsionen einzelner peripherer Nerven haben meist eine mecha- luxationen (Zerrung des N. axillaris, Plexusläsionen) haben
nische Ursache, vor allem Druck, Quetschung oder Zerrung des häufig auch periphere Nervenläsionen zur Folge. In Kriegs-
Nerven, die akut und einmalig oder chronisch bzw. wiederholt zeiten spielen Schuss- und Splitterverletzungen eine große
einwirkt. Seltener sind Stich- oder Schnittverletzungen und Rolle.
Zerreißungen von Nerven oder Wurzeln. Bei Luxationen und 4 Kombination von metabolischer und Druckschädigung:
Frakturen sind die peripheren Nerven in doppelter Hinsicht Ein Kompressionssyndrom kann zusätzliche Schädigungs-
gefährdet: Sie können bei dem Trauma primär lädiert werden ursachen haben, dann liegt eine kombinierte toxische und
oder aber es entwickelt sich im Abstand von Wochen, Monaten Druckschädigung vor. Ein scheinbar eindeutiges Karpaltun-
und selbst Jahren eine Spätlähmung, wenn der Nerv durch Kal- nelsyndrom kann bei diabetischer Stoffwechsellage auftreten,
lusbildung, Narbenzug oder Beanspruchung in abnormer Lage und elektroneurographisch findet man dann eine Verzöge-
sekundär geschädigt wird. rung der NLG in den großen Nerven aller Extremitäten. Die-
Die wichtigsten Ursachen sind Unfälle und chronische Zer- se Befunde können vorliegen, bevor der Diabetes bekannt ist.
rung oder Druckeinwirkung bei bestimmten Tätigkeiten. Die Eine Peronaeusdruckschädigung oder eine Radialislähmung
mechanische Schädigung wird nicht selten durch bestimmte kann erste Manifestation einer alkoholischen Polyneuropathie
Umstände begünstigt, so z.B. eine Drucklähmung im tiefen sein.
Koma, während einer Narkose oder chronischen Alkoholabusus. 4 Iatrogene Nervenläsionen: Hierzu zählen Spritzenläsio-
Eine Sondergruppe sind iatrogene Läsionen durch unsach- nen, Nervenläsionen nach operativen Eingriffen (u.a. Ischiadi-
gemäße Injektionen, bei Operationen (z.B. Osteosynthese), kusparese nach Hüftendoprothese, Interkostalnervenläsion
unachtsame Lagerung des Patienten und durch falsch angelegte nach Nephrektomie. Trapeziuslähmung nach Lymphknoten-
Verbände, Gipsverbände und Schienen. Die Prognose der iatro- biopsie am Hals, Recurrensparese nach Schildrüsenoperation,
genen Monoparesen durch unsachgemäße Lagerung ist gut, Hypoglossus- oder Recurrenslähmung nach Karotisdesoblite-
weniger gut ist sie bei Injektion, Schienung oder schlecht sitzen- ration) und intraoperative Lagerungs-(Druck-)Schäden wie
den Gipsverbänden, zumal diese Lähmungen oft zu spät erkannt Radialis-, Peroneus- oder Cutaneus-femoris-lateralis-Läsion.
werden. 4 Entzündlich-immunologische Nervenschädigung: Be-
Zu den schwierigeren Aufgaben des Neurologen als Konsilia- fall peripherer Nerven bei bakterieller Entzündung (Lepra)
rius gehört es, bei bereits chirurgisch versorgten Traumapatien- oder bei autoimmunologischen Prozessen wie Vaskulitis oder
ten zu überprüfen, ob periphere Nervenläsionen vorliegen. Oft Polyneuritis. Diese werden wie die Polyneuropathien toxi-
sind die betreffenden Extremitäten eingegipst, in Extensions- scher oder metabolischer Ursache im Kapitel Polyneuropa-
verbänden gelagert oder durch externe Osteosynthese fixiert. Bei thien besprochen (7 Kap. 32).
solchen Patienten kann es unmöglich sein, die Funktion be- 4 Genetisch bedingte Funktionsstörungen peripherer
stimmter Nerven zu überprüfen. Die Kenntnis der Anatomie und Nerven: Hierzu zählen hereditäre Nervenläsionen wie die
Physiologie erlaubt es oft dennoch, anhand weniger noch unter- 5 Nerventumore: Hierzu zählen Neurinome und Schwan-
suchbarer Funktionen eine Aussage über Schädigung oder In- nome peripherer Nerven.
taktheit einzelner Nerven zu machen. 5 »Idiopathische« Nervenläsionen: Häufigste Form ist die
Besondere Hochachtung erwirbt sich der Neurologe beim idiopathische Fazialisparese (s. 31.2.5). Aber auch andere Ner-
Unfallchirurgen, wenn er beim bis auf den Daumen komplett ven können ohne erkennbare Ursache lädiert werden
eingegipsten Arm eine verlässliche Aussage über die Funktion
der drei Handnerven Medianus, Ulnaris und Radialis machen
kann. Er lässt den Patienten den gestreckten Daumen einmal 31.1.2 Diagnostik der peripheren Nerven-
rotieren. Gelingt dies, sind die drei Nerven intakt. läsionen

3Neurologische Funktionsprüfung: In diesem Kapitel wird


31.1 Vorbemerkungen der Schwerpunkt auf die neurologische Funktionsprüfung der
einzelnen Nerven gelegt. Mit gewissen anatomischen Grund-
31.1.1 Schädigungsmechanismen kenntnissen kann man durch einige Übung bald die Fertigkeit
peripherer Nerven erlangen, periphere Nervenläsionen präzise zu diagnostizie-
ren. Die detaillierte Prüfung der Muskelkraft gibt dabei er-
4 Kompressions- und Engpasssyndrome: Prototypen der fahrungsgemäß den größten Aufschluss. Zweckmäßigerweise
mechanisch verursachten Läsion einzelner peripherer Nerven geht man in drei Schritten vor. Zunächst verschafft man sich
sind die Engpasssyndrome. Die häufigsten Kompressions- einen orientierenden Überblick, welcher Nerv bzw. welche
syndrome sind: Das Karpaltunnelsyndrom (N. medianus), das Nervenwurzel überhaupt in Frage kommt. Dann wendet man
Sulcus-ulnaris-Syndrom (N. ulnaris), das Supinatorlogensyn- sich dem »Hauptverdächtigen« zu und prüft von distal nach
drom (N. radialis), das Syndrom der Loge von Guyon (N. ul- proximal vorgehend seine einzelnen Muskelfunktionen.
naris), die Meralgia paraesthetica (N. cut. femoris lat.) und das Schließlich untersucht man in analoger Weise die Muskeln to-
Tarsaltunnelsyndrom (N. tibialis). Sie werden bei den einzel- pographisch benachbarter Nerven bzw. Nervenwurzeln. Der
nen Nerven besprochen. am weitesten proximal gelegene Muskel mit Schädigungszei-
656 Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

chen engt die Suche nach dem den Schädigungsort ein: Im onen gebracht. Speziell bei unklarer Läsionslage und -ursache
Abgangsbereich seines Muskelastes aus dem Nervenstamm bringt die MRT der peripheren Nerven wichtige Informati-
oder proximal davon ist die Läsion zu vermuten. Das Syndrom onen, nicht nur bei Hirnnervenläsionen, sondern auch bei
der peripheren Nerven- oder Nervenwurzelläsion umfasst da- Plexus- und weiter peripher gelegenen Läsionen.
rüber hinaus Störungen der somatischen Sensibilität und der
vegetativen Innervation in charakteristischer nervaler oder ra-
dikulärer Anordnung (. Abb.1.46) und eine Abschwächung 31.2 Hirnnervenläsionen
der zugehörigen Reflexe (. Tabelle 1.7).
Wir behandeln zunächst einige wichtige Hirnnervenläh-
3Elektrophysiologische Methoden: Die sichere Beurtei- mungen, die an anderer Stelle noch nicht besprochen worden
lung der Schwere einer peripheren Nervenschädigung ist je- sind. Läsionen des N. olfactorius sind bei den traumatischen
doch nur mit Hilfe feinerer, elektrophysiologischer Methoden Läsionen erwähnt, die Optikusläsionen sind an verschie-
(EMG, Neurographie) möglich. Ihre Anwendung gehört in denen Stellen des Buches, die Trigeminusläsionen bei den
die Hand des Neurologen, ihr Prinzip sollte aber auch dem Neuralgien und die Läsionen des VIII. Hirnnerven bei
praktizierenden Arzt bekannt sein. Die elektrophysiologische Schwindelkrankheiten und dem Akustikusneurinom abge-
Diagnostik erlaubt auch eine Aussage über den Ort der Läsion. handelt.
Die Kompressionssyndrome sind durch eine umschriebene
Verlangsamung der motorischen und/oder sensiblen Ner-
venleitgeschwindigkeit am Ort der Schädigung verlässlich zu 31.2.1 N. oculomotorius
dianostizieren. Die Elektrodiagnostik erlaubt darüber hinaus
die Unterscheidung zwischen Markscheiden- und axonaler Der N. oculomotorius (III) versorgt mit somatischen Fasern
Läsion. Prognostisch günstige Reinnervationsvorgänge wer- die Mm. levator palpebrae superiores, rectus superior, rectus
31 den im EMG wesentlich früher als durch die klinische Beob- inferior, rectus medialis und obliquus inferior. Mit parasympa-
achtung erfasst. thischen Fasern innerviert er den M. ciliaris, dessen Kontrak-
4 Bildgebende Diagnostik: Die MRT hat bei den peri- tion bei Akkommodation die Linse erschlaffen lässt, und den
pheren Nervenläsionen sehr viel an zusätzlichen Informati- M. sphincter pupillae.

Exkurs
Läsionsarten
Elektrophysiologisch unterscheiden wir folgende Läsions- Markscheide. In diesen Fällen ist trotzdem eine Revision ange-
arten: zeigt.
4 Primäre Markscheidenläsion (partiell oder komplett): 4 Mischtypen: Neben diesen reinen Formen finden sich
keine Kontinuitätsunterbrechung der Axone. Ursachen sind eine Reihe von Mischtypen, bei denen es neben einer ausge-
z.B. Prellung, Druck, Ödem, Hämatom, Immunentzündung. prägten Markscheidenläsion auch zur partiellen, axonalen
Charakteristikum ist die umschriebene Herabsetzung der Läsion kommt oder bei denen innerhalb eines Nervenbündels
Nervenleitgeschwindigkeit bis zum Leitungsblock (Neura- in einigen Anteilen mehr axonale, in anderen Anteilen mehr
praxie). Die periphere Erregbarkeit ist erhalten. Es finden sich Markscheidenläsionen gefunden werden. Ein Beispiel dafür
keine Denervierungszeichen und keine neurogen umge- sind die Spritzenlähmungen. Wichtig ist, dass bei einer axo-
bauten Potentiale motorischer Einheiten (PmE), aber eine nalen Schädigung die periphere Erregbarkeit immer verändert
deutliche neurogene Lichtung des Interferenzmusters. ist. Die Nerven- und Muskelantwortpotentiale nehmen in ihrer
4 Axonale Läsion (Axonotmesis): Ursache ist vor allem Amplitude ab. Als Extrem ist keine periphere Erregbarkeit
eine akute Quetschung des Nerven. Dabei erfolgt keine mehr nachweisbar.
Kontinuitätsunterbrechung der Nervenhüllen, was die Rege- Dies spielt eine wesentliche Rolle bei der Differenzierung
neration begünstigt. Bei axonaler Läsion kommt es zur Wal- der Plexusläsionen von Wurzelausrissen: Bei den Letzteren
ler-Degeneration mit allmählicher Abnahme der Erregbarkeit kann die Läsion proximal des Spinalganglions liegen. Die
und NLG-Verlangsamung peripher von der Läsion bis hin zur sensiblen, peripheren Fasern bleiben dann erregbar, und
Unerregbarkeit. Denervierungszeichen treten nach 1–3 Wo- sensible NAPs sind nachweisbar, während die Sensibilität
chen auf. Mögliche Regeneration mit neurogen umgebau- ausgefallen ist und die SEPs nicht nachweisbar sind.
ten, verlängerten, polyphasischen PmE.
4 Kontinuitätsunterbrechung von Axonen und Mark- Prognostische Bedeutung
scheiden (Neurotmesis) (Beispiel: Schnittverletzungen). Bei Frühes Auftreten und rasche Zunahme von Denervierungs-
kompletter Kontinuitätsunterbrechung gleicht der Ablauf ini- potentialen sowie Zeichen der kompletten Kontinuitätsunter-
tial dem der axonalen Läsion. Die Kontinuitätsunterbrechung brechung, namentlich bei Plexusläsion, aber auch bei Nerven-
der Nervenhüllen erschwert die Regeneration. Deshalb schädigungen nach Frakturen oder nach Injektionen, indizie-
frühzeitige chirurgische Adaptation der Nervenenden. Als ren eine operative Revision. Bleiben die elektrischen Verän-
Axonotmese bezeichnet man den Sonderfall der Kontinui- derungen auf die Abnahme der Leitungsgeschwindigkeit
tätsunterbrechung der Axone bei kontinuitätserhaltener beschränkt, ist die Prognose gut.
31.2 · Hirnnervenläsionen
657 31
Wir unterscheiden die: 31.2.2 N. trochlearis
4 Komplette (äußere und innere) Okulomotoriuslähmung:
Es besteht eine Ptose, der Bulbus ist nach außen und etwas Der Kern des N. trochlearis (IV) liegt in der Mittelhirnhaube.
nach unten abgewichen, da nur noch die Funktionen des Er verlässt den Hirnstamm dorsal und umrundet den
N. abducens (Abduktion) und des N. trochlearis (Senkung Hirnstamm. Er verläuft dann wie die Nn. oculomotorius und
und Abduktion) erhalten sind. Die Pupille ist mydriatisch und abducens in der Wand des Sinus cavernosus zur Fissura orbi-
lichtstarr, die Akkommodation der Linse ist aufgehoben. Bei talis superior. Er versorgt den M. obliquus superior.
kompletter Okulomotoriuslähmung sieht der Patient wegen
der Ptose keine Doppelbilder, denn das Auge ist geschlossen. 3Symptome. Bei Lähmung des N. trochlearis kommt es
Öffnet man das Auge, dann sieht der Patient schräg stehende nur zu einer geringen Fehlstellung des Auges: Durch Fortfall
Doppelbilder, deren Abstand sich beim Versuch, nach oben der Senkerfunktion des Muskels steht der betroffene Bulbus
und innen zu blicken, verstärkt. Für die komplette Okulomo- in Primärposition eine Spur höher als der gesunde. Der Pa-
toriuslähmung findet man oft eine periphere Ursache, wie z.B. tient neigt den Kopf zur gesunden Seite, um die ausgefallene
ein basales Aneurysma (7 Kap. 9.6.1), ein Trauma (7 Kap. 26), Funktion des Muskels auszugleichen. Es bestehen schräg
eine basale Meningitis (7 Kap. 18) oder ein Neoplasma der stehende Doppelbilder, die beim Blick nach unten zunehmen
Schädelbasis. Kommt die Lähmung durch Läsion im Kernge- (z.B. beim Hinabgehen einer Treppe). Beim Adduzieren des
biet zustande, sind immer auch andere Mittelhirnsymptome Auges nimmt der vertikale Abstand der Doppelbilder zu, weil
vorhanden. der Muskel in dieser Position ein vorwiegender Bulbussenker
4 Äußere Okulomotoriuslähmung (Ophthalmoplegia ex- ist. Beim Abduzieren nimmt die Schrägstellung zu, weil der
terna): Dabei ist die autonome Innervation der Pupille und des Muskel jetzt ein vorwiegender Einwärtsroller ist, während
Ziliarmuskels erhalten. Diese Lähmung ist selten. Sie beruht der Vertikalabstand abnimmt. Charakteristisch ist auch das
meist auf einer Läsion im Kerngebiet des Nerven, da bei peri- Zeichen von Bielschowski: wenn der Patient den Kopf zur
pherer Schädigung die empfindlicheren autonomen Fasern Seite des gelähmten Muskels neigt und mit dem gesunden
fast immer früher als die somatischen ausfallen. Häufig sind Auge fixiert, weicht das kranke Auge nach oben innen ab, weil
nur einzelne äußere Augenmuskeln betroffen, z.B. der M. rec- der paretische M. obliquus superior ein Senker und Auswärts-
tus superior. wender ist.
4 Ophthalmoplegia interna: Nur die autonomen Fasern
sind gelähmt, die Beweglichkeit des Bulbus ist erhalten. Die 3Ursachen. Die isolierte Trochlearislähmung ist selten.
Pupille ist weit und lichtstarr, reagiert aber prompt auf Miotika. Trauma, besonders des Orbitadaches, ist die häufigste Ursache.
Da meist auch die Akkommodation gelähmt ist, kann der Pa- Daneben kommen Diabetes mellitus und basale Tumoren in
tient in der Nähe nicht scharf sehen. Die Ophthalmoplegia Frage.
interna kommt fast immer durch Schädigung im peripheren
Verlauf des Nerven zustande.
31.2.3 N. abducens
3Ursachen. Eine häufige Ursache ist die Druckschädigung
des Nerven durch den Gyrus hippocampi, wie sie bei Hirn- Der Kern des N. abducens (VI) liegt in der Brücke, in der Nähe
druck mit Einklemmung des Temporallappens im Tentorium- des inneren Fazialisknies. Der N. abducens innerviert den
schlitz vorkommt. Einseitige Pupillenerweiterung ist ein wich- M. rectus lateralis.
tiges Symptom eines raumfordernden epiduralen oder sub-
duralen Hämatoms (7 Kap. 26), einer Hirnblutung (7 Kap. 6), 3Symptome. Das Auge kann nicht nach außen gewendet
eines großen, einklemmenden Hirntumors (7 Kap. 11) und des werden. Der Patient klagt über horizontal nebeneinander ste-
raumfordernden Mediainfarkts (7 Kap. 5). Andere Ursachen hende, Doppelbilder. In schweren Fällen kann der Bulbus nicht
sind basale Aneurysmen der A. communicans posterior, basale einmal zur Mittellinie geführt werden. Um diese auszuschal-
Meningitis, Schädelbasisfraktur, das sackförmige, »ophthal- ten, dreht er den Kopf in Richtung des gelähmten Muskels und
moplegische« Aneurysma (7 Kap. 8), und das Tolosa-Hunt- wendet den Blick in die Gegenrichtung. Beim Versuch, zur
Syndrom (7 Kap. 9.6.1). gelähmten Seite zu blicken, bleibt der betroffene Bulbus deut-
Die Unfähigkeit, beide Augen zu öffnen, ist entweder psy- lich erkennbar zurück. Dabei rücken die Doppelbilder aus-
chogen, durch Blepharospasmus (7 Kap. 23.4.1) bedingt oder einander.
beruht auf einer Läsion im Mittelhirn, z.B. nach Basilarisspit-
zenembolie, die dann zu einer typischen, mit-mesenzephalen 3Ursachen. In seinem peripheren Verlauf wird der Nerv
MR-Läsion führt. Pathognomonisch für die Basilarisspitzen- leicht bei allgemeinem Hirndruck, bei Schädelbasisbruch und
embolie sind dazu die bilateralen Läsionen im dorsalen Tha- entzündlichen und neoplastischen Prozessen an der Schädel-
lamus und die Beteiligung des Posteriorstromgebiets. basis geschädigt. Weitere Ursachen sind: Basilarisaneurysma,
Ganz selten kann bei der Basilarisembolie auch eine bila- infraklinoidales Karotisaneurysma, (7 Kap. 9), Wernicke-En-
terale, nicht reagible Pupillenerweiterung durch bilaterale zephalopathie (7 Kap. 29.2.2) oder Miller-Fisher-Syndrom
Läsion der parasympathischen Okulomotoriusanteile ent- (7 Kap. 32.6.3) und Neuroborreliose. Eine reversible Abduzens-
stehen. parese kommt auch nach Lumbalpunktion vor.
658 Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

. Abb. 31.1a,b. Gesichtslähmung. a Peri-


phere Fazialisparese links. Der Patient ver-
sucht gleichzeitig, die Stirn zu runzeln und
den Mund breit zu ziehen. Fehlende Inner-
vation des M. frontalis und des M. orbicula-
ris oris links, b Zentrale faziale Parese. Die
Stirn kann seitengleich gut innerviert wer-
den, der Mund wird zur gesunden Seite
herübergezogen. (Aus Mumenthaler 1986)

a b

31.2.4 N. trigeminus tympani an den Fazialisstamm herangetreten und begleiten


ihn bis zum G. geniculi im Knie des Knochenkanals.
Der Trigeminus ist in Kap. 1 und in Kap. 16 (Trigeminusneu- 4 Die Abnahme der Speichelsekretion beruht auf einer
31 ralgie) besprochen. Schädigung des N. intermedius zwischen seinem sensiblen
G. geniculi und dem Abgang der Chorda tympani.

31.2.5 N. facialis (Hirnnerv VII): In der peripheren Aufzweigung des Nerven und jenseits davon
Periphere Fazialislähmung können auch bei peripherer Lähmung nur einzelne Äste des
Nerven lädiert werden. Dies führt gelegentlich zur Verwechs-
3Symptome. Alle vom VII. Hirnnerven versorgten Mus- lung mit einer zentralen Fazialisläsion, die sich aber durch Be-
keln, also auch die Stirnmuskeln, sind einseitig in etwa glei- gleitsymptome und elektroneurographischen Befunde leicht
chem Ausmaß gelähmt, die Lähmung ist aber nicht immer abgrenzen lässt.
komplett. Restinnervation einzelner Äste, v.a. des Stirnastes,
können differentialdiagnostische Probleme in der Abgrenzung 3Ursachen
zur zentralen fazialen Parese verursachen. Das Lähmungsbild 4 Idiopathisch: Die häufigste, akut innerhalb von 1–2 Tagen
ist bereits in 7 Kap. 1.4.2 beschrieben (. Abb. 31.1). Häufig auftretende Form ist ätiologisch ungeklärt, wenn auch manche
kommt es im Prodromalstadium von Fazialislähmungen zu Patienten angeben, dass sie kurz vor Auftreten der Parese der
Sensibilitätsstörungen in der Ohrmuschel, im Gehörgang oder Zugluft ausgesetzt waren. Deshalb spricht man unverbindlich
unmittelbar hinter dem Ohr. Sie werden von manchen Autoren von »idiopathischer« oder entzündlicher Fazialislähmung.
auf den N. intermedius, von anderen auf den Trigeminus oder
den N. auricularis magnus bezogen. Prognostische Bedeutung
haben sie nicht.
Neben der Gesichtslähmung bestehen bei Läsion des Ner-
ven in seinem Felsenbeinkanal fakultativ Begleitsymptome, die
man zur Ortslokalisation der Schädigung benutzt. Zur Illustra-
tion wird auf die . Abbildung 31.2 verwiesen. Die zusätzlichen
Symptome sind:
4 Beeinträchtigung der Tränensekretion (N. petrosus su-
perficialis major): Sie zeigt eine Läsion proximal vom G. geni-
culi an. Man prüft vergleichend auf beiden Seiten, indem man
Fließpapier am Unterlid befestigt und die Befeuchtung nach
5 min und 10 min beurteilt (Schirmer-Test). Hyperakusis auf
der gelähmten Seite zeigt an, dass der Nerv proximal vom Ab-
gang des N. stapedius lädiert ist, d.h. im intrakraniellen Verlauf
oder im proximalen Abschnitt des Fazialiskanals.
4 Geschmacksstörung auf den vorderen zwei Dritteln der
Zunge. Sie beruht auf Mitschädigung afferenter, gustatorischer
Fasern im Fazialiskanal. Diese haben auf ihrem zentripetalen
Verlauf den N. lingualis (V3) verlassen, sind über die Chorda . Abb. 31.2. Verlauf des N. facialis
31.2 · Hirnnervenläsionen
659 31
Exkurs
Fazialisparese vs. zentrale faziale Parese
Eine komplette, einseitige Fazialisparese beeinträchtigt, Dies beruht darauf, dass die zentralen Fasern für die Innerva-
neben der kosmetischen Entstellung, das Sprechen und tion der Stirn nicht nur gekreuzt zum gegenseitigen, sondern
Kauen erheblich. Bei doppelseitiger Fazialisparese ist das auch ungekreuzt zum gleichseitigen Fazialiskern ziehen
Gesicht ausdruckslos. (. Abb. 31.1). Die zentrale faziale Parese tritt gewöhnlich ge-
Herkömmlich wird von der peripheren Fazialisparese eine meinsam mit einer zentralen Bewegungsstörung von Arm und
zentrale faziale Parese unterschieden. Die periphere Lähmung Hand auf und kann auch von einer Abweichung der herausge-
betrifft alle Fasern, wenn auch nicht immer im gleichen Maße. streckten Zunge zur Seite der Lähmung begleitet sein. Der
Bei der sog. zentralen Parese kann die Stirn immer gerunzelt Begriff »zentrale Fazialisparese« ist nicht korrekt, da es sich
werden, meist nicht so kräftig wie auf der gesunden Seite. nicht um eine Lähmung des peripheren Nerven handelt.

4 Entzündlich: Nicht selten wird der N. facialis bei lympho- 4 Der Liquor ist oft leicht entzündlich verändert. Die häu-
zytärer Meningitis befallen. Früher stand die abortive Polio an figste spezifische Liquorveräderung ist der Nachweis von
erster Stelle der Ursachen. Heute handelt es sich meist um VZV-Genom in der PCR bei Zoster oticus. Eine Liquorunter-
andere neurotrope Viren oder um Borrelien (Antikörpernach- suchung ist aber nur indiziert, wenn der Verdacht auf eine
weis oder PCR im entzündlich veränderten Liquor). Über nicht idiopathische Ursache der Fazialisparese besteht, z.B.
Fazialisparese bei Zoster oticus 7 Kap. 19.3.2. Zoster oticus, Meningeose bei Karzinom oder Leukämie oder
4 Traumatisch: Traumatische Fazialisparesen kommen in basale meningeale Entzündung (TBC, Sarkoidose). In diesen
20% der Längsfrakturen und 50% der Querfrakturen des Fel- Fällen ist auch eine MRT-Untersuchung indiziert.
senbeins vor.
4 Weitere Ursachen: Mastoiditis, Otitis media, besonders 3Therapie. Man gibt in der Frühphase (Beginn in den ers-
mit Cholesteatom, Entzündungen und Neoplasmen der Schä- ten 3 Tagen) Methylprednisolon 10 Tage lang 2-mal 25 mg/Tag.
delbasis, besonders im Kleinhirnbrückenwinkel, Glomustumor, Der Wert der Kortisonbehandlung ist trotz der guten Spontan-
Hirnstammtumor und neoplastischer Meningeosis. prognose durch kontrollierte Studien belegt: Die Zahl der
4 Tumore: Im extrakraniellen Verlauf führen fast nur bösar- Defektheilungen wird dadurch auf unter 15% reduziert. Die
tige, selten gutartige Parotistumoren zu Fazialislähmungen. Wirksamkeit einer Stoßtherapie mit 500 mg oder 1000 mg/Tag
über 3–5 Tage wurde bislang nicht in Studien erprobt.
Die doppelseitige Fazialislähmung bei Polyneuritis und Bor- Frühzeitig beginnt man mit aktiven Innervationsübungen.
reliose wird in den 7 Kap. 32.6 und 18.6 besprochen. Elektrotherapie ist in der mimischen Muskulatur wahrschein-
lich ohne therapeutische Wirkung.
3Diagnostik. Elektrophysiologie: Fazialisparesen sollten
früh und wiederholt elektrophysiologisch untersucht werden. 3Prognose. Die Prognose der Erkrankung ist insgesamt
Im Zentrum der Untersuchungen stehen der Blinkreflex und gut. In 85% der Fälle kommt es zu einer Rückbildung innerhalb
die Neurographie des distalen N. facialis. Bei der Neurographie von 3 Wochen nach Symptombeginn und bei 10% zu einer
werden die Reizschwelle, bei der es zu einer ersten, moto- partiellen Rückbildung nach 3 bis 6 (9) Monaten. In 71% der
rischen Antwort im M. orbicularis oris oder M. orbicularis Fälle ist die Rückbildung vollständig, in 13% tritt eine Defekt-
oculi kommt, ferner die Latenzzeit bei überschwelliger Rei- heilung ein.
zung (in ms) und die maximale Potentialamplitude bestimmt. Fazialisparesen nach Zosterinfektion (Zoster oticus) mün-
Diese Bestimmungen werden im Vergleich zur gesunden Ge- den häufiger in einer Defektheilung. Borrelien-induzierte Fa-
genseite ausgeführt. Sie eignen sich auch zur Verlaufsunter- zialisparesen haben nahezu immer eine gute Prognose.
suchung. Auch die traumatischen Fazialislähmungen haben eine
4 Die Nadelmyographie erleichtert die klinisch schwierige gute Spontanprognose: In mehr als 75% der Fälle heilen sie
(aber prognostisch wichtige) Unterscheidung zwischen hoch- spontan aus.
gradiger und kompletter Fazialisparese. Die Prognose lässt sich heute nach folgenden Kriterien
4 Bei komplettem Funktionsausfall des N. facialis ist der stellen:
Blinkreflex in allen Anteilen früh auf der betroffenen Seite er- 4 Inkomplette Lähmungen haben gute Heilungsaussichten.
loschen. Liegt nur ein Leitungsblock vor, bleibt der periphere 4 50% der Nervenfasern reichen für eine befriedigende mi-
Nerv erregbar, während bei der Waller-Degeneration die Reiz- mische Innervation aus. Dann ist elektrodiagnostisch die peri-
schwelle zu- und die Potentialamplitude schnell abnimmt. phere Erregbarkeit erhalten.
4 Bei typischer klinischer Manifestation und Elektrophysio-
logie ist eine zerebrale Bildgebung verzichtbar. Treten jedoch Defektheilung nach Fazialislähmung
zusätzlich neurologische Symptome wie Hypakusis, Tinnitus, Fazialiskontraktur. Bei der unvollständigen Restitution ent-
sensible Ausfälle oder Doppelbilder auf, ist eine MRT oder eine steht in einem nicht geringen Teil der Fälle die sog. Fazialiskon-
Dünnschicht-CT der Schädelbasis mit der Frage nach einem traktur. Das Bild entspricht einer leichten Dauerkontraktion
Kleinhirnbrückenwinkel-Prozess oder einer Hirnstammläsion der vorher schlaff gelähmten Muskeln. Die Lidspalte ist enger,
erforderlich. die Nasolabialfalte tritt schärfer hervor, der Mundwinkel ist
660 Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

Empfehlungen Therapie der Fazialisparese*


4 Die Therapie mit 2-mal 25 mg Prednisolon für 10 Tage, 4 Die Gabe von Kortikosteroiden kann trotz einer nicht-
Beginn innerhalb von 72 h ist belegt wirksam. positiven Aussage in einer Cochrane-Analyse nach einer ran-
4 Eine Wirksamkeit von Virustatika wie Aciclovir ist nicht domisierten plazebokontrollierten Studie als wirksam an-
belegt, Ausnahme VZV- oder HSV-Infektion. gesehen werden (A).
4 Zur Prophylaxe gegen sekundäre Schäden an der Horn- 4 Von aktiven Bewegungsübungen vor dem Spiegel darf
haut durch Lidschlussdefizit eignen sich Frisén-Klappe/ eine raschere und bessere Regeneration erwartet werden
Uhrglasverband (A), bevorzugt nachts, oder Seitenschutz- (klinische Erfahrung, B).
brille (B), bevorzugt tagsüber, in Verbindung mit Augen-
salbe (A) nachts oder künstlicher Tränenflüssigkeit (A) tags- * Modifiziert nach den Leitlinien der DGN 2008
über. (www.dgn.org/leitlinien.html)

Exkurs
Operative Therapie
Bei bleibender kompletter oder subtotaler Fazialislähmung nerven mit Material aus dem N. saphenus empfohlen. Nicht
wird mit wechselndem Erfolg eine Anastomose zwischen so verbreitet ist die »Cross-face-Plastik«. Dabei werden einige
einem N. hypoglossus und dem peripheren Fazialisstumpf Fazialisäste der gesunden Seite mit freien Transplantaten aus
angelegt. Die Patienten lernen einige grobe mimische Bewe- dem N. suralis verbunden. Die Transplantate werden dann
gungen, was ein gutes Beispiel für die Plastizität des Nerven- subkutan quer über das Gesicht geleitet und an Fazialisäste
systems ist. Weniger aufwendig sind gesichtschirurgische der lädierten Seite angeschlossen. Ein Fazialiskern soll dann
31 Eingriffe. Fascia-lata-Zügel vom Os zygomaticum aus können beide Gesichtsseiten symmetrisch innervieren können. Plasti-
die Muskulatur des Mittelgesichts raffen. sche Eingriffe wie die Cross-face-Anastomose, Masseterplastik,
Lähmungen des Nerven können durch Nervennaht oder hypoglossofaziale Anastomose etc. sind nur bei ausbleibender
Nerventransplantation chirurgisch behandelt werden. Bei spontaner Reinnervation (sehr selten bei idiopathischer Ge-
irreparabler Läsion des Nerven im Kleinhirnbrückenwinkel nese) und nicht vor Ablauf von 12 Monaten in Betracht zu
wird die intrakranielle Autoplastik des verletzten Fazialis- ziehen.

etwas emporgezogen. Gewöhnlich besteht gleichzeitig noch 3Symptomatik. Das klinische Bild ist unverwechselbar: In
eine Restlähmung. einzelnen oder in allen mimischen Muskeln einer Gesichts-
hälfte treten plötzlich hochsynchron, in regelloser Folge to-
Mitbewegungen. Die Kontraktur ist immer mit patholo- nische und phasische Zuckungen auf, deren Ablauf in allen
gischen Mitbewegungen verbunden: Beim Augenschluss kon- beteiligten Muskeln gleich ist. Die Spasmen dauern Sekunden
trahieren sich die Wangenmuskeln und selbst das Platysma, bei bis Minuten, in schweren Fällen können sie jedoch auch
Mundbewegungen verengt sich die Lidspalte. Man führt die ständig vorhanden sein. Bei letzteren ist häufig eine mehr
Mitbewegungen auf Fehlregenerationen zurück, bei denen sich oder weniger ausgeprägte Gesichtslähmung zu beobachten.
am Läsionsort abnorme Anschlüsse zwischen proximalen und Schmerzen und Sensibilitätsstörungen bestehen nicht. Auch
distalen Neuriten gebildet haben. Eine weitere Möglichkeit wä- im EMG sind die Spitzenpotentiale im gesamten Fazialisgebiet
ren funktionelle Anschlüsse nach Art der Ephapsen. Ähnliche synchronisiert. Willkürliche oder reflektorische Innervation
Mitbewegungen kommen auch bei inkomplett ausgeheilter und sensible Reize lösen die Muskelkrämpfe aus oder verstär-
Okulomotoriuslähmung vor. ken sie, weit mehr als seelische Erregung. Nach Anästhesie des
N. trigeminus dauern sie an. Im Schlaf setzen sie manchmal,
»Krokodilstränen«. Ein seltenes Phänomen bei der Defekthei- aber nicht immer aus. Gewöhnlich ist zuerst der M. orbicula-
lung sind die sog. »Krokodilstränen« (so genannt, weil die Sage ris oculi betroffen. Im Laufe von Monaten und Jahren breitet
geht, dass das Krokodil beim Verzehren seiner Opfer weint): sich der Spasmus dann auf die ganze mimische Muskulatur
Beim Essen kommt es auf der Seite der Fazialislähmung nicht einschließlich des Platysmas aus. Dabei kann auch eine Parese
nur zur Speichelsekretion, sondern auch zum Tränenfluss. eintreten.
Diese abnorme, sekretorische Innervation wird auf Ephapsen
zwischen N. intermedius und N. petrosus superficialis major 3Ursache. Man nimmt als Ursache des Spasmus facialis,
zurückgeführt. Therapie mit Botolinumtoxin kann hier einge- analog zur idiopathischen Trigeminusneuralgie, eine abnorme
setzt werden. Erregungsproduktion durch lokalen Druck im Nervenverlauf
an. Sie entsteht beim Spasmus facialis entweder im Canalis
Spasmus hemifacialis Falloppii oder im Kleinhirnbrückenwinkel, gelegentlich auch
Der Spasmus hemifacialis ist eine sehr charakteristische Bewe- nach peripherer Fazialislähmung.
gungsunruhe, die stets einseitig und ausschließlich in Mus-
keln auftritt, die vom VII. Hirnnerven versorgt werden.
31.2 · Hirnnervenläsionen
661 31
Facharzt
Melkersson-Rosenthal-Syndrom
3Symptome. Das volle Syndrom besteht aus der Trias: Zell- und Eiweißvermehrung. Die übrigen Labordaten, ein-
4 rezidivierende, einseitige Lippen- und Gesichtsschwel- schließlich der Rheumafaktoren, bringen keine Besonderheit.
lung,
4 rezidivierende, periphere Fazialislähmung, 3Pathologie und Ätiologie. Histologisch besteht eine
4 Faltenzunge (nicht obligat). granulomatöse Entzündung mit Gewebsödem. Diese hat eine
gewisse Ähnlichkeit mit Tuberkulose und M. Boeck. Die Patho-
Das Zentralsymptom ist die Lippenschwellung (Cheilitis genese ist nicht geklärt, ebenso wenig die Ätiologie.
granulomatosa), eine Verdickung und Ausstülpung der Lippe
und angrenzenden Wangenpartie. Die Haut ist gespannt, 3Verlauf. Die ersten Symptome treten meist in der 2. Le-
blass und rot bis livide. Ursache der Gesichtslähmung ist eine bensdekade auf. Die Krankheit verläuft in Schüben, die jeweils
Schwellung des Nerven im Canalis Falloppii. Sie ist deshalb wenige Tage bis höchstens eine Woche dauern und sich über
häufig von Geschmacksstörungen begleitet. Jahre und Jahrzehnte wiederholen. Im Laufe der Zeit bildet
Die neurologischen Symptome können vielfältig sein: sich eine persistierende Verdickung der Hautpartien aus, die
Befall anderer Hirnnerven, besonders des sensiblen Trigemi- periodisch anschwellen. Die Lähmungen können dauernd
nus, Stauungspapille, periphere Lähmungen und selbst bestehen bleiben.
ZNS-Symptome kommen vor. Schwellungen können auch in
anderen Körperregionen auftreten. Der Liquorbefund ist 3Therapie. Methylprednisolon 50–100 mg/Tag über
normal oder enthält nur eine uncharakteristische, leichte 14 Tage, langsam ausschleichend.

3Diagnose. Zur Diagnostik müssen Hirn- und Schädel- bewegung, die in einzelnen Muskeln asynchron abläuft, dabei
basis mit Kontrastmittel und durch Gefäßdarstellung mit die mimische Muskulatur beider Seiten betrifft und sehr von
Spiral-CT oder MRT untersucht werden. der seelischen Verfassung der Patienten abhängig ist.
Wenn ein Spasmus hemifacialis oder Mitbewegungen bei 4 Weiter wird er von der hemifazialen Myokymie (Muskel-
Defektheilung elektrophysiologisch untersucht werden sollen, wogen) differenziert, einem fortlaufenden, irregulären Faszi-
wird der Blinkreflex in einer etwas geänderten Technik einge- kulieren in der mimischen Muskulatur einer Gesichtsseite. Das
setzt: Normalerweise ist die Reflexantwort auf den M. orbicu- Phänomen wird hauptsächlich bei Patienten mit Multipler
laris oculi beschränkt. Beim Spasmus hemifacialis findet man Sklerose beobachtet.
eine abnorme Ausweitung auch auf andere, ipsilaterale Fazia- 4 Ferner ist die Unterscheidung vom halbseitigen Kopfteta-
lismuskeln. Die konventionelle Nadelmyographie bietet hier nus notwendig (7 Kap. 18.7.1). Im EMG finden sich beim Kopf-
nur in Mehrkanaltechnik unter kontinuierlicher Aufzeichnung tetanus keine synchronisierten Entladungen, die bei Willkür-
und mit Aufforderung zu verschiedenen Bewegungen (Augen- innervation zunehmen, sondern ungeregelte Dauerentladun-
schluss, Lidschlag) eine Befunderweiterung. gen. Im Blinkreflex fehlt die elektrische Stille nach der ersten
Reflexkomponente. Diese ist aber nur sehr schwer aus der kon-
3Therapie. Ähnlich wie beim Meige-Syndrom und ande- tinuierlichen Aktivität herauszufiltern.
ren Dystonien (7 Kap. 23.4) kann man Botulinumtoxin in die
betroffenen Muskeln injizieren. Vor einer neurochirurgischen
Intervention ist ein Versuch mit diesem Verfahren angezeigt. 31.2.6 N. statoacusticus (Hirnnerv VIII)
Eine operative Behandlung (vaskuläre Dekompression
des N. facialis im Kleinhirnbrückenwinkel) stützt sich auf die Er ist in 7 Kap. 1.4.3 und in 7 Kap. 17 (Schwindel) besprochen.
Beobachtung, dass der Nerv, wie auch benachbarte Hirn-
nerven, durch elongierte Äste der intrakraniellen A. vertebralis
komprimiert sein kann und dass die mikrochirurgische De- 31.2.7 N. glossopharyngeus und N. vagus
kompression den Spasmus und die elektrophysiologischen
Symptome beseitigen kann (Operation nach Jannetta). Diese sind in 7 Kap. 1.4.4 und in 7 Kap. 16.6.3 (Glossopha-
ryngeusneuralgie) besprochen.
> Nach dem Jannetta-Konzept beruht der Spasmus
hemifacialis auf einer neurovaskulären Kompression
und ist so das motorische Gegenstück zur Trigemi- 31.2.8 N. accessorius (Hirnnerv XI):
nusneuralgie. Akzessoriuslähmung

3Differentialdiagnose 3Anatomie. Der rein motorische Nerv versorgt den


4 Der Spasmus hemifacialis muss vom psychogenen Ge- M. sternocleidomastoideus und den M. trapezius, der außer-
sichts-Tic und von einfachen und komplexen organischen mo- dem in seinem unteren Anteil auch aus dem 2. bis 4. Zervikal-
torischen Tics unterschieden werden. Dies ist eine Ausdrucks- segment innerviert wird. Einseitige Lähmung beider Muskeln
662 Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

zeigt eine Läsion des Nerven an der Schädelbasis an. Ist nur der dann dünner, schlaff und walnussschalenartig gerunzelt ist. Bei
M. trapezius gelähmt, muss die Läsion distal vom Abgang des chronischer, peripherer Lähmung, und auch bei Schädigung
Astes zum Sternocleidomastoideus, d.h. vor allem im seitlichen des Hypoglossuskernes, zeigt sie faszikuläre Zuckungen (sie
Halsdreieck gesucht werden. sieht aus »wie ein Sack mit Regenwürmern«). Die doppelseitig
gelähmte Zunge kann nicht mehr bewegt werden.
3Symptome. Die proximale Schädigung wird durch atro- Das Sprechen ist mühsam, besonders für Linguale (l, r)
phische Lähmung der Mm. sternocleidomastoideus und trape- und Dentale (d, t, n, s). Die Patienten beißen sich auf die Zun-
zius, die distale durch ausschließlichen Ausfall des Trapezius ge. Sie verlieren Speichel aus dem Mund. Beim Liegen auf dem
symptomatisch. Der Ausfall eines M. sternocleidomastoideus Rücken sammelt sich der Speichel im vorderen Teil des Mundes
ist zwar bei der Inspektion und Untersuchung zu erkennen, und läuft beim Bücken heraus. Speisen geraten unter die Zun-
wird jedoch funktionell gut kompensiert. Bei Trapeziusläh- ge und müssen mit dem Finger herausgeholt werden.
mung verläuft die Nackenlinie eckig und leicht gesenkt. Die
Skapula ist in der Ruhe von der Mittellinie abgerückt und nach 3Ursachen. Hypoglossuslähmungen kommen bei Prozes-
außen unten rotiert. Nicht selten kann man unter dem atro- sen der Schädelbasis und bei der Polyneuritis cranialis vor.
phischen M. trapezius die beiden Mm. rhomboidei erkennen. Eine meist vorübergehende, ipsilaterale Hypoglossuslähmung
Die Trapeziuslähmung durch zervikale Wurzelläsion kann an wird manchmal als Folge einer Druck- oder Zugläsion nach
begleitenden Sensibilitätsstörungen erkennbar sein. Thrombendarteriektomie der A. carotis interna beobachtet.
Hängen der Schulter und nach lateral abfallende Stellung Doppelseitige zentrale Zungenlähmungen kommen meist ge-
der Klavikula führen zur Subluxation im Sternoklavikular- meinsam mit supranukleärer Parese der übrigen kaudalen mo-
gelenk. Die Patienten klagen über Ruhe- und Bewegungs- torischen Hirnnerven vor.
schmerzen in der ganzen Schulterregion. Nicht selten wird die
Trapeziuslähmung vom Patienten erst nach längerem Bestehen
31 durch diese Schulterschmerzen bemerkt. 31.3 Läsionen des Plexus cervicobrachialis

3Untersuchung. Der Patient dreht den Kopf gegen den Wi- Einteilung der Plexuslähmungen
derstand des Untersuchers zur Seite (M. sternocleidomastoide- Man unterscheidet eine obere, untere und eine komplette
us). Sodann führt er bei gebeugten Armen beide Ellenbogen Plexuslähmung (schematische Anatomie . Abb. 31.3):
möglichst weit hinter den Rücken. Dabei rückt das Schulterblatt 3Obere Plexuslähmung. Am häufigsten ist die obere Ple-
auf der gelähmten Seite wenig oder gar nicht an die Wirbelsäu- xuslähmung (Erb-Lähmung), bei der die Fasern aus den Wur-
le heran. Das Anheben der Schulter ist geschwächt, ebenso auch zeln C5–6(–7) lädiert sind. Ausgefallen sind in wechselnder
das seitliche Anheben des Armes über die Horizontale, da die Kombination die Mm. deltoides, supra- und infraspinatus
Skapula dabei nicht mehr durch den M. trapezius fixiert wird. (Außenrotatoren), pectoralis, biceps, supinator und – selten –
Die Haltefunktion des M. trapezius wird z.T. vom M. levator triceps. Der Arm hängt deshalb schlaff, nach innen rotiert
scapulae übernommen, der durch Hypertrophie strangförmig herunter. Er kann nicht im Schultergelenk gehoben und nach
hervorspringt. außen rotiert, oft nicht im Ellenbogen gebeugt, supiniert und
ggf. auch nicht gestreckt werden. BSR und RPR sind ausge-
3Ursache. Die häufigste Ursache der distalen Lähmung ist fallen, der TSR ist oft erhalten. Wenn die Mm. rhomboidei und
ein chirurgischer Eingriff im lateralen Halsdreieck, z.B. zur serratus gelähmt sind, liegt die Plexusläsion wurzelnah, da die
Entfernung eines Lymphknotens oder die radikale Neck Dis- Nn. dorsales scapulae und thoracicus longus den Plexus früh-
section. Bei proximaler Lähmung kommen vor allem primäre zeitig verlassen.
und metastatische Tumoren an der Schädelbasis ober- oder 4 Sensibel finden sich meist nur geringe Ausfälle an der Au-
unterhalb des Foramen jugulare in Betracht. ßenseite des Oberarms und der dorsal-radialen Seite des Un-
terarms.
3Therapie. Eine primäre Nervennaht bei akzidenteller
Durchtrennung kann erfolgreich sein. Späte chirurgische 3Untere Plexuslähmung. Bei der unteren Plexuslähmung
Maßnahmen sind meist frustran. Eine orthopädische Fixation (Klumpke-Lähmung) sind die Fasern der Wurzeln (C7–)C8–
der Skapulaspitze kann die funktionelle Beeinträchtigung der Th1 lädiert. Dadurch entsteht eine atrophische Parese der klei-
Schulterbeweglichkeit partiell kompensieren. nen Handmuskeln und der langen Fingerbeuger, während die
Strecker von Hand und Fingern manchmal verschont sind.
Häufig besteht ein Horner-Syndrom.
31.2.9 N. hypoglossus 4 Der Fingerflexorenreflex ist ausgefallen, fakultativ auch
der TSR.
3Symptome. Bei einseitiger Lähmung liegt sie zur gesun- 4 Die Sensibilität ist besonders ulnar an Hand und Unterarm
den Seite verlagert im Munde und weicht beim Herausstrecken gestört.
im Bogen zur kranken Seite ab. Dies beruht darauf, dass der
Zungenstrecker (M. genioglossus) der gesunden Seite die Zun- 3Komplette Plexuslähmung. Die seltene komplette Plexus-
ge zur kranken Seite hinüberschiebt. Die Hypoglossuslähmung lähmung ist eine Kombination aus der oberen und der unteren
führt, einseitig oder doppelseitig, zur Atrophie der Zunge, die Plexuslähmung. Unmittelbar nach einem Trauma sind viele
31.3 · Läsionen des Plexus cervicobrachialis
663 31
Plexusparesen komplett, jedoch bildet sich oft bald das Bild 31.3.2 Neuralgische Schulteramyotrophie
einer oberen oder unteren Plexusschädigung aus.
Diese nicht seltene Krankheit ist eine akute, wahrscheinlich
entzündliche, obere Lähmung des Plexus brachialis. In 65% der
31.3.1 Traumatische Plexusläsionen Fälle ist der rechte Arm, in 12% der linke, und in 23% sind
beide Arme betroffen. Die Ätiologie ist sicher nicht einheitlich.
3Ursache. Plexuslähmungen entstehen am häufigsten trau- In einem Teil der Fälle soll die Plexusschädigung auf zirku-
matisch, vor allem bei Motorradunfällen. Als Arbeitsunfall lierenden Immunkomplexen (serogenetische Polyneuritis,
kommen sie bei Stürzen auf die Schulter oder dadurch zustan- 7 Kap. 32.4) beruhen. Auch eine genetische Variante mit rezi-
de, dass die Hand von einer rotierenden Maschine mitgerissen divierenden Lähmungsepisoden existiert.
wird. Der Plexus wird also meist durch Prellung oder Zug ge-
schädigt. Im zweiten Fall besteht die Gefahr, dass die Wurzeln 3Symptome. Unter heftigen Schmerzen in der Schulter und
aus dem Rückenmark herausgerissen sind (Wurzelausriss). im Oberarm, die typischerweise nachts beginnen, in Ruhe be-
In Einzelfällen entsteht eine Plexuslähmung durch den tont sind, für 1–2 Wochen andauern und nur ausnahmsweise
Druck schwerer Lasten, die auf der Schulter getragen werden. fehlen, entwickelt sich rasch eine atrophische Lähmung vor
Hierzu sind besonders magere Personen disponiert. Die Prog- allem des M. deltoideus und fakultativ der benachbarten Mus-
nose ist gut. Geburtstraumatische Lähmungen betreffen meist keln des Schultergürtels: Mm. supraspinatus, infraspinatus, ser-
den oberen, seltener den unteren Plexus brachialis. Die Prog- ratus anterior und trapezius, manchmal auch distaler Armmus-
nose der Geburtslähmungen ist nicht günstig. keln. Auch das Zwerchfell kann, u.U. isoliert, betroffen sein.
Man findet die erwähnten Lähmungen, sehr bald auch eine
3Elektrodiagnostik. Bei kompletter Plexuslähmung ist die schmerzhafte Schultersteife. Wie bei allen oberen Plexusläh-
Willküraktivität der abhängigen Muskeln erloschen und nach mungen, ist die Sensibilitätsstörung nur gering und vor allem
10–14 Tagen zeigt sich Spontanaktivität. Die Plexusüberlei- an der Außenseite des Oberarms, manchmal auch bis zum
tungszeit bei Reizung am Erb-Punkt und Ableitung von den Daumen festzustellen. Oft fehlen umschriebene Sensibilitäts-
Mm. deltoideus, biceps und triceps ist verlängert, die SSEPs ausfälle. Nicht selten sind auch Muskeln der Gegenseite leicht-
sind blockiert. Elektrisch ausgelöste Muskelaktionspotentiale gradig beteiligt.
nehmen nach dem 7. Tag an Amplitude ab. Zeichen des Wur-
zelausrisses ist, dass bei fehlender Erregbarkeit der motorischen 3Diagnostik. EMG und Neurographie sind fast immer pa-
Fasern und subjektiver Sensibilitätsstörung die sensiblen Ner- thologisch. Sie können auch den Befall des klinisch nicht be-
venfasern elektrisch erregbar sind, weil die Kontinuität der troffenen anderen Arms zeigen. Der Liquor ist meist normal.
sensiblen Fasern zum Spinalganglion nicht unterbrochen ist. Neuroradiologische Verfahren helfen nicht weiter.
Der Wurzelausriss ist schon im frühen Stadium durch
blutigen Liquor (Einreißen von Wurzelgefäßen), selten durch 3Therapie und Prognose. Auch hier erfolgt die Behandlung
begleitende Rückenmarksymptome zu erkennen. Später wird mit Methylprednisolon, in der üblich mittelhohen Dosierung
er nach elektroneurographischen Kriterien und mit MRT bzw. um 1 mg/kg KG, über 10–14 Tage ausschleichend. Schmerz-
Myelo-CT diagnostiziert. mittel, lokale Wärmeanwendung, frühzeitig Lagerung in Ab-
duktion sind nicht gesichert wirksam. Sobald es die Schmerzen
3Therapie und Prognose. Sie ist zunächst konservativ: La- gestatten, sollen passive und aktive Bewegungsübungen aufge-
gerung des Armes auf Abduktionsschiene, passive Bewegungen nommen werden. Die Prognose ist auf lange Sicht gut. Aller-
in den Finger-, Hand- und Ellenbogengelenken. Sind nach dings kann sich die Rückbildung der Lähmungen und die er-
spätestens 2 Monaten noch keine Zeichen der Rückbildung zu folgreiche Behandlung der sekundären Schultergelenkverstei-
erkennen, obwohl nach dem Befund ein Wurzelausriss un- fung bis zu einem Jahr hinziehen. Rezidive sind möglich.
wahrscheinlich ist, sollte man bei oberer Plexuslähmung die
> Akute, proximal betonte Armschmerzen und -schwä-
Indikation zur operativen Revision stellen. Bei manchen trau-
che: Verdacht auf neuralgische Schulteramyotrophie.
matischen Plexusläsionen mit erheblichen Hämatomen und
Die Bezeichnung dieser Beschwerden als »vertebra-
Frakturen der Klavikula und des Akromion kann eine frühzei-
gener Schulter-Arm-Schmerz« ist eine Verlegenheits-
tige Dekompression indiziert sein.
diagnose.
Die Prognose ist beim Wurzelabriss sehr ungünstig. Für
die übrigen Formen der traumatischen Plexuslähmungen ist
die Prognose umso schlechter, je mehr auch die proximalen 31.3.3 Skalenussyndrom
Muskeln des Schultergürtels betroffen sind und je schwerer
und weiter ausgedehnt die Sensibilitätsstörung ist. Zur genau- 3Ursache. Das Skalenussyndrom, das auch als Thoracic
eren Beurteilung muss man das EMG und die Bestimmung der Outlet-Syndrom (Unterscheidung zwischen neurogenen, vas-
motorischen und sensiblen Leitgeschwindigkeit heranziehen. kulären oder neurogen/vaskulären Varianten) bekannt ist, ist
eine lageabhängige, untere Plexusschädigung, die von einer
Behinderung des Blutstroms in den Armgefäßen begleitet sein
kann. Sie wird von einer abnormen Enge der sog. Skalenus-
lücke, die von den Mm. scaleni und der 1. Rippe begrenzt wird,
664 Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

ausgelöst. Die Bedeutung von Halsrippen wird weit über- nach außen. Der M. supraspinatus abduziert den Arm beson-
schätzt: Das Syndrom kann auch ohne Halsrippe auftreten. ders in den ersten 20 Grad. Isolierte Lähmungen, z.B. nach
Diese ist andererseits in mehr als der Hälfte symptomlos. Pa- Schultertraumen, sind selten. Der Nerv wird häufig bei oberer
thogenetisch hat ein abnorm breiter Ansatz des M. scalenus Plexusparese mitbetroffen.
medius an der 1. Rippe eine größere Bedeutung.
3Untersuchung und Symptome. Abduktion des gerade
3Symptome. Der Beginn der Symptome liegt im 3.–4. Le- herunterhängenden Armes gegen Widerstand bis 20° (dabei
bensjahrzehnt. Die Patienten bekommen Schmerzen und Par- Palpation des M. supraspinatus), Auswärtsdrehung des im El-
ästhesien auf der ulnaren Seite des Unterarms und der Hand, lenbogengelenk um 90° gebeugten, adduzierten Armes gegen
die bei herabhängendem Arm und nachts und beim Liegen Widerstand (dabei Palpation des M. infraspinatus). Bei Atro-
auf der kranken Seite oder aber bei Anhebung der Arme über phie tritt die Spina scapulae hervor und die Supraskapulargru-
den Kopf besonders stark sind. Im Laufe der Zeit treten auch be ist vertieft.
sensible Ausfälle und distale Paresen hinzu. Die Zirkulations-
störungen in der V. und A. subclavia zeigen sich als Ödem, Supraskapularissyndrom
Zyanose, Ischämie der Hand, Differenz der Radialispulse. Ein besondere Läsionsart ist das Supraskapularis-Engpass-Syn-
drom, bei dem der Nerv vorwiegend in der Incisura scapulae
3Diagnose. Diagnostisch wichtig sind Provokations- geschädigt wird. Junge Männer erkranken häufiger, meist spielt
manöver unter fortlaufender Pulskontrolle: Beim Adson-Ver- eine zusätzliche traumatische Läsion eine Rolle (. Abb. 31.4).
such soll der Patient den Kopf nach hinten neigen, zur kranken Die Schulter schmerzt in Ruhe, und Oberarmseitelevation
Seite drehen und tief einatmen. Beim Hyperabduktionsversuch (M. supraspinatus) und Außenrotation (M. infraspinatus) sind
hebt der Patient den Arm über die Horizontale an. Bei beiden gelähmt.
Manövern wird die Skalenuslücke verengt. Wird hierbei die
31 A. subclavia komprimiert, verschwindet der Radialispuls. Die- 3Therapie. Die Therapie besteht in der chirurgischen Spal-
se Manöver sind oft auch bei Gesunden positiv, belegen also die tung des die Inzisur überspannenden Bandes.
Diagnose ebenso wenig wie Schmerzen oder Missempfindun-
gen im Arm. Erst die Kombination aus topographisch auf den
unteren Plexus brachialis zu beziehenden objektiven neuro- 31.4.2 N. thoracicus longus (C5–C7)
logischen Ausfällen und Nachweis der Kompression der
A. subclavia erlaubt die klinische Diagnose. 3Motorische Innervation. M. serratus anterior: Er zieht
Diagnostisch stehen die MRT des Plexus zervikobrachialis und dreht das Schulterblatt nach außen, fixiert gleichzeitig sei-
und der oberen Thoraxapertur sowie die Dopplersonographie nen medialen Rand am Thorax und wirkt bei der Hebung des
der A. subclavia, ggf. unter Adson-Manöver im Vordergrund. Armes mit.
Der früher geforderte röntgenologischer Nachweis durch An-
giographie der A. subclavia in verschiedenen Graden der Ab- 3Ursachen. Nach längerem Tragen schwerer Lasten (Ruck-
duktion wird heute kaum noch gemacht. sacklähmung) oder bei Operationen in der Achselhöhle kann
es zur Drucklähmung, bei schweren manuellen Arbeiten zur
3Therapie. Liegen motorische Ausfälle vor, für die sich kei- Zerrung des Nerven kommen. Entsprechend ist die Lähmung
ne andere Ursache findet, behandelt man operativ durch Ska- auf der rechten Seite häufiger als auf der linken. Setzt eine Ser-
lenotomie (Durchtrennung des M. scalenus anterior am An- ratuslähmung akut, unter reißenden Schmerzen ein, kann auch
satz), gegebenenfalls mit Resektion der Halsrippe. eine monosymptomatische Form der neuralgischen Schulter-
amyotrophie vorliegen.

31.4 Läsionen einzelner Nerven 3Untersuchung und Symptome. Man lässt den Patien-
des Plexus cervicobrachialis ten die leicht abduzierten Arme nach vorn unter die Hori-
zontale heben oder, im Stehen, nach vorn gegen eine Wand
Bei der Besprechung der einzelnen Nerven geben wir immer drücken. Bei Serratuslähmung tritt hierbei die Skapula
die spinalen Segmente, aus denen der Nerv in der Regel seine sehr deutlich hervor. Die Hebung des Armes im Schulter-
Fasern erhält, und die von ihm versorgten Muskeln an. Der gelenk ist erschwert. Der mediale Rand der Skapula ist auf
zugehörige Plexusanteil ist den . Abbildungen 31.3 (Armple- der gelähmten Seite näher an die Wirbelsäule herangerückt
xus) bzw. . 31.9 (Beinplexus) zu entnehmen. Die radikuläre und steht »flügelförmig« vom Thorax ab (Scapula alata). Die
und periphere Innervation der Muskeln ist zusammenfassend Scapula ist mit dem unteren Winkel leicht zur Wirbelsäule
in . Tabelle 31.1a–c dargestellt. gedreht.

31.4.1 N. suprascapularis (C4–C6) 31.4.3 N. thoracodorsalis (C6–C8)

3Motorische Innervation. Mm. supraspinatus und infra- 3Motorische Innervation. M. latissimus dorsi: Die wich-
spinatus: Die Muskeln drehen den Arm im Schultergelenk tigste Funktion ist das Senken und Rückwärtsführen des erho-
31.4 · Läsionen einzelner Nerven des Plexus cervicobrachialis
665 31

. Abb. 31.3. Der Plexus brachialis und seine anatomischen Bezie- M. opponens poll. C7–8, Caput superfic. M. flex. pol. brev. 6–8, Mm.
hungen zum Skelett. Buchstaben mit arabischen Ziffern (C8) bezeich- lumbricales I+II C8–Th1; 9 N. ulnaris (C7) C8–Th1, M. flexor carpi uln.
nen Nervenwurzeln; römische Ziffern (VII) Wirbelkörper. 1 Nn. pectora- C8–Th1, M. flexor digit. prof. (ulnare Seite, IV/V) C8–Th1, Mm. lumbric,
les (med./lat.) C5–Th1, Mm. pect. major u. minor; 2 Fasciculus lateralis; III+IV C8–Th1, M. add.poll. C8–Th1, Caput prof. m. fl. pol. brev. C8–Th1,
3 Fasciculus dorsalis; 4 Fasciculus medialis; 5 N. axillaris C5,6, M. delto- M. palmaris brev. C8–Th1; 10 N. cutaneus brachii medialis C8–Th1;
ideus 5,6, M. teres minor 5,6; 6 N. musculocutaneus C5–7, M. biceps 11 N. cutaneus antebrachii medialis C8–Th1; 12 N. thoracodorsalis
brachii 5,6, M coracobrachialis 6,7, M brachialis 5,6; 7 N. radialis C5–Th1, C6–8, M. latissimus dorsi; 13 Nn. subscapulares C5–8, M. subscapularis
M. triceps brachii C7–Th1, M. anconaeus 7,8, M. brachioradialis 5,6, C5–7, M. teres major C5–6; 14 N. thoracicus longus C5–7, M. serratus
Mm. ext.carpi rad. long./brev. 6–8, M. ext. digit. 7,8, M. ext. indicis 7,8, anterior; 15 N. subclavius C5,6, M. subclavius; 16 N. suprascapularis
M. ext. digiti minimi 7,8, Mm. ext. poll. long./brev. 7,8, M. abd. poll. C4–6, M. supraspinatus C4–6, M. infraspinatus C4–6; 17 N. dorsalis
long. 7,8; 8 N. medianus C5–Th1, M. pronator teres 6,7, M. flexor carpi scapulae C3–5, M. levator scapulae C4–6, Mm. rhomboidei C4–6;
rad. 6–8, M. palmaris long C7–8, M. flex. digit. superf. C7–Th1, M. flex. 18 N. phrenicus C3–4. (H. Müller-Vahl, H. Schliack; in Kunze 1992)
digit. prof. (radiale Seite, II/III) C7–Th1, M. pronator quadratus C7–Th1,

benen Armes. Der Nerv wird hauptsächlich bei Plexusläh- waagerecht erhobene Arm wird gegen Widerstand gesenkt
mungen mitgeschädigt. und/oder nach hinten geführt. Im Seitenvergleich sieht man
ein Fehlen des Reliefs der hinteren Axillarlinie.
3Untersuchung und Symptome. Wenn der Patient die
Hände in die Hüften stemmt und kräftig hustet, sieht man auf
der gelähmten Seite eine deutlich geringere Kontraktion. Der 31.4.4 Nn. thoracici anteriores (C5–Th1)

Schädigungen dieser Nerven kommen praktisch nie isoliert


vor. Sie sind häufig bei oberer oder kompletter Plexusläsion
mitbetroffen.

3Motorische Innervation. M. pectoralis major und mi-


nor: hauptsächlich Adduktion der Arme.

3Untersuchung und Symptome. Die klavikuläre Portion


des M. pectoralis springt an, wenn der Patient den erhobenen
Arm gegen Widerstand adduziert, die sternokostale, wenn er
. Abb. 31.4. Traumatische Schädigung des linken N. suprascapu- in »Betstellung« beide Hände gegeneinander presst. Bei Atro-
laris bei einem 42-jährigen Mann. (A. Ferbert, Kassel) phie dieser Muskeln treten die Klavikula und der knöcherne
666 Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

. Tabelle 31.1a. Die radikuläre und periphere Innervation der Muskeln (Nach Scheid 1966). Segmente C2 bis Th1, vorwiegend Nacken-,
Arm- und Handmuskeln
Muskel C2 C3 C4 C5 C6 C7 C8 Th1 Nerv
M. trapezius x x x N. occipitalis
M. longus colli x x x x x x
Diaphragma x x x N. phrenicus
M. levator scapulae x x x N. dorsalis scapulae
Mm. rhomboidei x x N. dorsalis scapulae
M. supraspinatus x x N. suprascapularis
M. infraspinatus x x x N. suprascapularis (manchmal auch N. axillaris)
M. teres minor x x x N. axillaris
M. deltoideus x x x N. axillaris
M. biceps brachii x x N. musculocutaneus (manchmal auch
N. medianus)
M. brachialis x x N. musculocutaneus (der laterale Teil
manchmal vom N. radialis)
M. brachioradialis x x N. radialis
M. supinator x x N. radialis
M. serratus anterior x x x N. thoracicus longus
M. subscapularis x x x N. subscapularis
M. extensor carpi radialis longus x x x N. radialis
31 M. pectoralis major x x x x Nn. thoracici (machmal auch N. axillaris)
M. coracobrachialis x x N. musculocutaneus
M. teres major x x N. subscapularis
M. pronator teres x x N. medianus
M. extensor carpi radialis brevis x x N. radialis
M. pectoralis minor x x x Nn. thoracici
M. latissimus dorsi x x x N. thoracodorsalis
M. extensor digitorum x x x N. radialis
M. triceps brachii x x x N. radialis
M. flexor carpi radialis x x x N. medianus
M. abductor pollicis longus x x x N. radialis
M. extensor pollicis brevis x x x N. radialis
M. opponens pollicis x x x N. medianus
M. flexor pollicis brevis x x x N. medianus und N. ulnaris
M. extensor digiti minimi x x N. radialis
M. extensor carpi ulnaris x x N. radialis
M. extensor pollicis longus x x N. radialis
M. extensor indicis x x N. radialis
M. abductor pollicis brevis x x N. medianus
M. flexor carpi ulnaris x x x N. ulnaris
M. flexor digitorum superficialis x x x N. medianus
M. pronator quadratus x x x N. medianus
M. palmaris longus x x x N. medianus
M. flexor digitorum profundus x x x N. medianus und N. ulnaris
M. flexor pollicis longus x x x N. medianus
M. adductor pollicis x x N. ulnaris
M. abductor digiti minimi x x N. ulnaris
M. flexor digiti minimi brevis x x N. ulnaris
M. opponens digiti minimi x x N. ulnaris
Mm. interossei x x N. ulnaris
Mm. lumbricales x x N. medianus
31.4 · Läsionen einzelner Nerven des Plexus cervicobrachialis
667 31

. Tabelle 31.1b. Segmente Th1, bis L3, Rumpf- und Bauchmuskeln


Muskel Th1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 L1 L2 L3 Nerv
Mm. intercostales x x x x x x x x x x x x Ramus ventralis
xterni et interni Nn. thoracicorum et
Nn. intercostales
M. obliquus externus x x x x x x x x Ramus ventralis
abdominis Nn. thoracicorum
M. rectus abdominis x x x x x x x x Ramus ventralis
Nn. thoracicorum
M. transversus x x x x x x x x Ramus ventralis
abdominis Nn. thoracicorum
(N. iliohypogastricus
u. N. ilioinguinalis)
M. obliquus internus x x x x x x Ramus ventralis
abdominis Nn. thoracicorum
M. quadratus lumbo- x x x x
rum

. Tabelle 31.1c. Segmente Th12 bis S4, vorwiegend Bein- und Fußmuskeln
Muskel Th12 L1 L2 L3 L4 L5 S1 S2 S3 S4 Nerv
M. iliopsoas x x x x N. femoralis
M. sartorius x x N. femoralis
M gracilis x x x N. obturatorius
M. adductor longus x x x N. obturatorius und N. femoralis
M. quadriceps femoris x x x N. femoralis
M. adductor magnus x x x x N. obturatorius und N. tibialis
M. tibialis anterior x N. peronaeus profundus
M. tensor fasciae latae x x N. glutaeus superior
M. tibialis posterior x x x N. tibialis
M. popliteus x x x N. tibialis
M. glutaeus medius x x x N. glutaeus superior
M. glutaeus minimus x x x N. glutaeus superior
M. extensor hallucis longus x x N. peronaeus profundus
M. extensor digitorum longus x x N. peronaeus profundus
M. peronaeus brevis x x N. peronaeus profundus
M. peronaeus longus x x N. peronaeus superficialis
M. extensor hallucis brevis x x N. peronaeus superficialis
M. extensor digitorum brevis x x N. peronaeus profundus
M. glutaeus maximus x x x N. glutaeus inferior
M. semitendinosus x x x N. tibialis
M. semimembranosus x x x N. tibialis
M. biceps femoris x x x N. ischiadicus
M. plantaris x x N. tibialis
M. abductor hallucis x x N. plantaris medialis
M. adductor hallucis x x N. plantaris medialis
M. triceps surae x x N. tibialis
M. flexor digitorum longus x x N. tibialis
M. flexor digitorum brevis x x N. plantaris medialis
M. flexor hallucis longus x x N. tibialis
M. flexor hallucis brevis x x N. plantaris medialis
Mm. lumbricales x x N. plantaris medialis
M. quadratus plantae x x N. plantaris lateralis
M. interossei x x N. plantaris lateralis
M. flexor digiti minimi brevis x x N. plantaris lateralis
M. abductor digiti minimi x x N. plantaris lateralis
M. sphincter vesicae x x N. pudendus
M. sphincter ani externus x x Nn. rectales inferiores
M. levator ani x x N. pudendus
668 Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

Thorax deutlicher hervor. Die vordere Begrenzung der Axilla M. brachioradialis verläuft, ist dagegen bei intaktem N. radialis
ist verschmächtigt. erhalten.

3Differentialdiagnose. Bizepssehnenabriss.
31.4.5 N. axillaris (C5–C7)

3Motorische Innervation. M. deltoideus und M. teres 31.4.7 N. radialis (C5–Th1)


minor.
Sensible Versorgung: Handflächengroßer Bezirk an der 3Innervation und Funktion
Außenseite des Oberarms über dem mittleren Anteil des 4 M. triceps brachii: Streckung des Unterarms im Ellenbo-
M. deltoideus. gengelenk. Prüfung in der Horizontalen mit unterstütztem
Ellenbogen, um den Einfluss der Schwerkraft auszuschalten,
3Untersuchung und Symptome. Abduzieren des Armes die eine Streckfunktion vortäuschen kann.
oder, wenn dies noch möglich ist, Festhalten in Abduktion von 4 M. brachioradialis: Beugung des Unterarms in Mittelstel-
etwa 45° gegen Druck auf den Arm. Die Schulterwölbung ist lung zwischen Pronation und Supination. Bei der Prüfung in
abgeschwächt. Akromion und Humeruskopf treten deutlich dieser Position tritt der Muskel beim Gesunden deutlich her-
hervor. Deltoideusparese macht die Hebung des Armes bis zur vor.
Horizontalen unmöglich. Die Lähmung des M. teres minor, 4 M. ext. carpi rad. und uln.: Streckung und Radial- bzw.
der den Oberarm nach außen rotiert, kann durch den M. in- Ulnarabduktion des Handgelenks.
fraspinatus ausgeglichen werden. 4 Mm. extensor dig. communis und ext. dig. minimi:
Streckung der Grundphalangen II–V. Bei der Prüfung legt der
> Die Hebung des Armes über die Horizontale wird von
Untersucher seinen Zeigefinger dorsal quer über die Grund-
31 einer ganzen Gruppe von Muskeln ausgeführt:
phalangen und leistet mäßigen Widerstand.
Mm. supraspinatus, langer Bizepskopf, serratus ant.,
4 M. supinator: Supination des Unterarmes.
trapezius.
4 M. abductor poll. long.: Abduktion des Metacarpus I in
der Handebene. Bei der Prüfung springt die Sehne oberhalb
3Ursachen und Verlauf. Am häufigsten treten die Schädi- des Daumengrundgelenks deutlich hervor.
gungen aufgrund von Luxationen oder stärkerer Prellung der 4 Mm. extensor poll. brev. et long.: Streckung der Grund-
Schulter auf. Wenn das Gelenk danach vorübergehend ruhig- bzw. Endphalanx des Daumens. Zur Prüfung leichter Gegen-
gestellt wird, bleibt die Axillarislähmung zunächst oft uner- druck auf die entsprechende Phalangen.
kannt.
Nach kurzer Zeit stellt sich, namentlich bei älteren Pa- Sensible Innervation: Nur auf der Dorsalseite: am Oberarm
tienten, eine Kapselschrumpfung im Schultergelenk ein, die distal vom Versorgungsgebiet des N. axillaris (N. cut. brachii
passive Bewegungen sehr schmerzhaft macht, die Symptome dors.), am Unterarm und Handrücken im radialen Abschnitt,
verstärkt und den Heilverlauf verzögert. Deshalb soll man so auf der Hand über den radialen 2 1/2 Fingern mit Ausnahme
früh, wie es die chirurgische Behandlung erlaubt, mit pas- des Endgliedes (N. medianus).
siven Bewegungen im Schultergelenk beginnen. Andererseits
muss der Arm bei schwerer Axillarisparese vorübergehend 3Ursachen. Wegen der exponierten Lage des Nerven wird
auf eine Abduktionsschiene gelagert werden, damit die Ge- er besonders häufig geschädigt. Die obere Radialislähmung
lenkkapsel nicht schrumpft oder durch Subluxation über- entsteht durch Läsion des Nerven in der Achselhöhle, z.B.
dehnt wird. durch Druck oder durch einen chirurgischen Eingriff. Häu-
figer ist die mittlere Lähmung durch Druck des Nerven gegen
den Humerus, besonders im tiefen Schlaf, begünstigt durch
31.4.6 N. musculocutaneus (C6–C7) Alkoholrausch, auch in Narkose oder bei und nach Humerus-
frakturen. Die untere Radialislähmung kann durch distale
3Motorische Innervation. Mm. biceps und brachialis: Radiusfrakturen oder Radiusluxationen hervorgerufen
Beugung des Armes im Ellenbogengelenk. werden.
Sensible Versorgung: Radialer Anteil der Volarseite des
Unterarms (N. cut. antebr. lat.). 3Läsionsorte und Symptome. Der Nerv kann in unter-
schiedlicher Höhe lädiert sein. Man unterscheidet eine obere,
3Ursachen. Motorische Lähmungen nach Schulterluxa- mittlere und untere Radialislähmung.
tion. Isolierte sensible Schädigung ist nach paravenöser Injek- 4 Bei oberer Radialislähmung sind alle radialisversorgten
tion möglich. Muskeln betroffen und der TSR ist ausgefallen.
4 Bei der mittleren Radialisparese sind Trizepsfunktion
3Untersuchung und Symptome. Beugung des Armes in und damit auch der TSR erhalten. (. Abb. 31.5). Es kommt zur
Supinationsstellung, damit nicht der M. brachioradialis einge- Fallhand mit Schwäche für die Extension im Handgelenk und
setzt wird. Bei Lähmung des Nerven ist der BSR abgeschwächt eine Lähmung ab dem M. brachioradialis hinzu. Der RPR ist
oder erloschen. Der Radiusperiostreflex (RPR), der über den abgeschwächt oder erloschen.
31.4 · Läsionen einzelner Nerven des Plexus cervicobrachialis
669 31
funktion. Prüfung durch Fingerhakeln, wobei der Untersucher
einen Druck auf die Mittelphalangen ausübt.
4 M. flexor digit. prof. (radiale Hälfte): Beugung der Inter-
phalagealgelenke II–V. Prüfung: Fingerhakeln gegen die End-
phalangen bei fixierten Mittelphalangen.
4 Mm. flexor poll. long. et brev.: Beugung der Endphalan-
gen des Daumens bzw. des Metacarpus I. Prüfung gegen Wi-
derstand.
4 M. abductor poll. brev.: Abduktion des Daumens (Metacar-
. Abb. 31.5. Fallhand bei Radialislähmung. (A. Ferbert, Kassel)
pus I) rechtwinklig zur Handfläche. Die Abspreizung parallel
zur Handfläche erfolgt durch den M. abductor pollicis longus
4 Auch zu den mittleren Radialisparesen kann man das (N. radialis). Man prüft diese wichtige Funktion durch das »Fla-
Supinatorlogensyndrom zählen, das durch Kompression des schenzeichen«: Ausfall der Abduktionsfunktion macht es dem
motorischen Endastes des Nerven beim Durchtritt durch den Patienten unmöglich, eine Flasche oder ein Glas so zu ergreifen,
M. supinator entsteht. Dieser Eintritt wird durch einen Fas- dass das Objekt der Hautfalte zwischen Daumen und Zeigefinger
zienkanal mit oft sehr scharfem Rand gebildet, an dem der fest anliegt.
Ramus profundus des Nerven geschädigt wird. Der M. brachio- 4 M. opponens poll.: Opposition des Metacarpus I. Prü-
radialis (mit RPR) und M. extensor carpi radialis bleiben in- fung: Der Patient soll mit der Spitze des Daumens, ohne diesen
takt. Die übrigen, distal gelegenen Radialismuskeln, speziell zu beugen, das Grundglied des 5. Fingers berühren, während
die Fingerstrecker, sind paretisch. Es besteht also keine voll- der Untersucher dieser Bewegung am Metacarpus I leichten
ständige Fallhand und eine Sensibilitätsstörung fehlt. Nach Widerstand entgegensetzt.
Ausschluss von Knochenprozessen und einer Bursitis bicipito- 4 Mm. lumbricales I und II: Beugung der entsprechenden
radialis ist eine chirurgische Exploration der Supinatorloge Metacarpophlangealgelenke, Streckung der proximalen und
und gegebenenfalls Neurolyse angezeigt. distalen Interphalangealgelenke.
4 Bei der unteren Radialislähmung kann der Daumen nicht
in der Handebene abduziert und die Finger können nicht im Sensible Innervation: Volarseite der Finger I bis radiale Hälf-
Grundgelenk gestreckt werden. Die Streckung in den Interpha- te von IV und angrenzende Hautbezirke der Hand, Dorsalseite
langealgelenken II–V ist eine Ulnarisfunktion (s.u.). Es besteht der Endglieder II–III.
keine Fallhand, da die Handgelenksstrecker nicht betroffen
sind. 3Ursachen. Traumatische Läsion des Nerven oberhalb des
Ellenbogens, z.B. bei suprakondylärer Humerusfraktur, ist rela-
Die lokalisatorische Bedeutung der sensiblen Störungen ist tiv selten. Durch paravenöse Injektion kann der Nerv in der
wegen der anatomischen Varianten gering. Bei der isolierten Kubitalbeuge geschädigt werden. Die untere Medianuslähmung
Läsion des sensiblen R. superficialis des N. radialis kann es zur tritt bei Verletzung am Unterarm (Suizidversuche) und trauma-
schmerzhaften Neurologie auf der radialen Seite des Handge- tischen oder anderen Schädigungen am Handgelenk auf.
lenks und über den Handwurzelknochen kommen (Cheiralgia
parästhetica). 3Läsionsorte und Symptome. Je nach Höhe der Läsion
unterscheiden wir drei Lähmungstypen:
4 Läsion oberhalb des Abgangs der Äste zu den langen Hand-
31.4.8 N. medianus (C6–Th1, vorwiegend C6–C8) und Fingerbeugern, d.h. am Oberarm oder Ellenbogen, führt
zur kompletten Medianuslähmung. Zu den bereits beschrie-
3Innervation und Funktion benen Symptomen tritt eine Schwäche für die Pronation des
4 M. flexor carpi radialis: Beugung und Radialflexion der Unterarmes und die Beugung der Hand hinzu. Beim Versuch,
Hand. Prüfung in Mittelstellung zwischen Pronation und Supi- die Finger in den Zwischen- und Endgelenken zu beugen, ent-
nation. steht die sog. Schwurhand. Nur die vom N. ulnaris motorisch
4 Mm. pronator teres und pronator quadratus: Pronation innervierten Finger IV und V und in geringem Maße der
des Unterarmes und der Hand. Prüfung bei rechtwinkliger Finger III können gebeugt werden, Daumen und Zeigefinger
Beugung im Ellenbogengelenk. bleiben gerade stehen.
4 M. flexor digit. superfic.: Beugung der Finger im I. Inter- 4 Schädigung des Nerven im distalen Abschnitt des Unter-
phalangealgelenk. Beugung im Grundgelenk ist eine Ulnaris- arms führt zur Lähmung aller vom Medianus versorgten

Exkurs
Faustschluss und Fallhand
Bei Fallhand ist auch die Kraftentfaltung des Faustschlusses zeigt sich, dass N. medianus und N. ulnaris intakt sind. Ande-
und der Fingerspreizung herabgesetzt, weil die Beuger von rerseits kippt die Hand bei leichter Fallhandstellung nach volar
Hand und Fingern durch den Ausfall der Strecker schon in ab, weil der Zug der Beuger überwiegt.
der Ruhe verkürzt sind. Gleicht man die Fallhand passiv aus,
670 Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

Handmuskeln. Der Daumenballen ist atrophisch (Affenhand).


Die Greiffunktion des Daumens ist aufgehoben.
4 Bei Läsion des Nerven im Karpaltunnel, unter dem
Lig. carpi volare, entsteht das Karpaltunnelsyndrom (KTS):
die isolierte Abduktor-Opponens-Parese und -Atrophie (s.u.).
Dies ist die häufigste Lähmung des N. medianus.

Die Sensibilitätsstörung hat in allen drei Fällen die gleiche


Ausdehnung, da der N. medianus nur Hautbezirke der Hand
sensibel versorgt. In diesem Bereich treten meist sehr unange-
nehme Parästhesien auf. Bei älteren Lähmungen entwickeln
sich trophische Störungen der Haut und der Nägel. Beides wird
darauf zurückgeführt, dass der N. medianus viele vegetative
Fasern führt. . Abb. 31.6. Medianuslähmung. Ausgedehnte Muskelatrophien
der medianusversorgten Thenarmuskulatur, besonders des M. abduc-
Karpaltunnelsyndrom (KTS) tor pollicis brevis, bei einem Patienten mit Karpaltunnelsyndrom
3Ätiologie. Das sehr häufige KTS entsteht durch Kompres-
sion des Medianus-Endastes unter dem Lig. carpi volare. Man
nimmt an, dass in diesen Fällen eine abnorme Enge des Kar- Druck auf den Medianuspunkt an der Radialseite des vo-
paltunnels besteht, zumal Verletzungen der Handwurzelkno- laren Unterarms oder Hyperextension im Handgelenk lösen
chen oder eine Lokalisation rheumatischer Gelenk- oder Syn- oft Missempfindungen in den ersten 3 Fingern aus. Die
ovialveränderungen an dieser Stelle zu der gleichen neurolo- Schweißsekretion (Ninhydrintest) ist im Medianusgebiet
31 gischen Symptomatik führen. Tätigkeiten mit chronischer vermindert. Beim Beklopfen des volaren Handgelenks über
oder häufig wiederholter Extension der Hand (Bedienen von dem Karpaltunnel lässt sich gelegentlich ein unangeneh-
Hebeln an Maschinen, Bügeln, Tischlerarbeiten, Gehen mit mes, elektrisierendes Gefühl im distalen sensiblen Versor-
Armstützen bei Amputation) wird zwar häufig in der Vorge- gungsgebiet des Medianus auslösen (Hoffmann-Tinel’sches
schichte berichtet, ist aber keine unbedingte Voraussetzung für Zeichen).
das Entstehen des Syndroms.
Manche Fälle von Schwangerschaftsparästhesien sind 3Diagnose. Die Diagnose wird anhand der Anamnese so-
durch ein KTS bedingt. Hier nimmt man an, dass die Ödem- wie durch die klinische Untersuchung gestellt. Dabei können
neigung in der 2. Hälfte der Schwangerschaft zu einer Enge im durch Provokationstests die geschilderten typischen Beschwer-
Karpaltunnel führt. Typisch ist das KTS auch bei Akromegalie den ausgelöst werden (Phalen-Test- forcierte Dorsalextension
(7 Kap. 11.11). Die Arbeitshand ist bevorzugt betroffen. Beid- oder Volarflexion des Handgelenkes für ca. 1 min).
seitiger Befall ist aber häufig. Bei den elektrophysiologischen Untersuchungen findet
man schon früh eine Verlangsamung distalen Latenz der
3Symptome motorischen und der sensiblen Nervenleitungen. Die distale
4 Frauen, besonders in der 2. Lebenshälfte, sind häufiger be- Latenz bei Prüfung der motorischen und in der Regel
troffen als Männer. mehr noch der sensiblen Nervenleitung ist schon im Früh-
4 Die Krankheit beginnt mit nächtlichen, schmerzhaften, oft stadium stark verlangsamt. Später findet man im EMG De-
brennenden Parästhesien an der Beugeseite der ersten 3 Finger nervierungszeichen in den vom Medianus versorgten Hand-
und in den angrenzenden Hautarealen. Wegen der Schmerzen muskeln.
stehen die Patienten auf und schütteln die Hand. Man kann zwar den N. medianus sehr schön mit der MRT
4 Die Missempfindungen und Schmerzen können die ganze im Karpaltunnel untersuchen und seine Einengung zeigen.
Hand ergreifen und die Schmerzen bis zur Ellenbogengegend Notwendig ist diese Untersuchung bei eindeutiger Klinik und
nach proximal ausstrahlen. Dies hängt teilweise damit zu- Elektrophysiologie allerdings nicht.
sammen, dass der N. medianus besonders reichlich vegetative
Fasern enthält. Manchmal werden aber auch lediglich un- 3Therapie. Konservative Behandlung: Ruhigstellung durch
charakteristische Schulter-Armschmerzen geklagt, vorzugs- dorsale Schiene und/oder wiederholte lokale Injektion von Li-
weise in Ruhe und in der Nacht (Brachialgia parästhetica docain und Prednisolon kann im Frühstadium Besserung
nocturna). bringen, auch für Wochen und Monate.
4 Im weiteren Verlauf treten die sensiblen Reizsymptome Bei Rückfällen oder bei schwerem KTS ist operative Be-
auch am Tage auf. Es kommt zur Hypästhesie, die die feinen handlung notwendig. Die Spaltung des Ligamentum carpi
Verrichtungen mit den ersten 3 Fingern beeinträchtigt. volare ist in den vielen Fällen nicht ausreichend, in denen eine
4 Schließlich stellen sich Parese und Atrophie in den Mm. ab- rheumatische Tendosynovitis vorliegt. Hier muss eine sorg-
ductor pollicis brevis und opponens pollicis ein (. Abb. 31.6). fältige Synoviektomie durch einen Handchirurgen erfolgen.
4 Sensibel findet man dann eine Dysästhesie, oft eine Hyper- Zunächst bessern sich die Sensibilitätsstörungen, später
algesie oder Hyperpathie an der Volarseite der Hand mit und nicht immer vollständig bessern sich die Atrophien und
Schwerpunkt im Medianusgebiet. Paresen.
31.4 · Läsionen einzelner Nerven des Plexus cervicobrachialis
671 31
ä Der Fall 4 Mm. lumbricales III und IV: Beugung in den Grund-
Seit Monaten bestehende nächtliche Schmerzen und Missempfin- phalangen, Streckung der übrigen Phalangen. Prüfung: Der
dungen im rechten Arm, vor allem in der rechten Hand, führen eine Untersucher leistet der Beugung mit quer volar über die
Patientin von Mitte 40 zum Arzt. Außer einem leichten Übergewicht Grundphalangen gelegtem Zeigefinger Widerstand. Der Pa-
liegen keine Risikofaktoren vor. Sie berichtet, dass die Missempfin- tient soll die Faust gegen leichten Widerstand auf die Mittel-
dungen nachlassen, wenn sie den Arm schüttelt. Bei der neurolo- und Endphalangen öffnen oder eine schnappende »Nasenstü-
gischen Untersuchung sind die Hirnnerven unauffällig, die Muskel- berbewegung« mit den Fingern ausführen.
eigenreflexe seitengleich, die Koordination regelrecht. Die Patientin 4 Mm. interossei: Die dorsalen spreizen, die volaren addu-
gibt eine Sensibilitätsstörung an, die überwiegend die Berührungs- zieren die Finger.
empfindung auf der Volarseite der ersten drei Finger der rechten 4 M. adductor poll.: Adduktion von Metacarpus I. Prüfung:
Hand betrifft. Der Patient soll einen flachen Gegenstand (Spatel, Notizbuch)
Bei der elektrophysiologischen Untersuchung (Elektroneuro- zwischen Daumen und Zeigefinger festhalten. Bei Parese des
graphie) findet man folgende Werte: Muskels wird die ausgefallene Adduktion durch Beugung des
Distale motorische Überleitung N. medianus zum M. abduc- Daumenendgliedes durch Aktivierung des M. flexor pollicis
tor pollicis brevis 6,5 ms (pathologisch). Distale motorische longus durch den N. medianus ersetzt (Froment-Zeichen,
Überleitung des N. ulnaris zum M. adductor pollicis 3,0 ms . Abb. 31.7).
(normal). Maximale motorische Nervenleitgeschwindigkeit
des N. medianus und des N. ulnaris am Unterarm 55 m/s bzw. Sensible Innervation: Volar Finger V und ulnare Hälfte von
60 m/s (beide normal). Sensible, antidrome Nervenleitge- IV, dorsal die ulnaren 2 Finger und angrenzende Hautgebiete
schwindigkeit des N. medianus, bei Ableitung am Zeigefinger nur der Hand. Der N. cut. antebrachii ulnaris entspringt nicht
35 m/s (pathologisch), sensible antidrome Nervenleitgeschwin- aus dem N. ulnaris, sondern direkt aus dem Plexus.
digkeit des N. ulnaris, bei Ableitung am kleinen Finger 55 m/s
(normal). 3Ursachen. Die Ulnarisparese ist die häufigste periphere
Klinische Symptome (nächtliche Parästhesien volar in den Nervenlähmung. Sie entsteht meist durch mechanische Schä-
ersten drei Fingern, Armschmerzen) und elektrophysiologischer digung am Ellenbogengelenk (Sulcus-ulnaris-Syndrom). Bei
Befund beweisen das Vorliegen eines KTSs. Elektromyographisch Anomalien des Sulcus ulnaris kann der Nerv subluxiert sein.
war noch keine Denervierung in der medianusversorgten Hand- Bei Arthrose im Ellenbogengelenk mit und ohne vorange-
muskulatur feststellbar. Trotz einer 3-wöchigen Ruhigstellung der hende lokale Traumen am Epicondylus ulnaris wird er mecha-
Hand mit dorsaler Schiene kommt es nicht zu einer wesentlichen nisch geschädigt. Die neurologischen Symptome können mit
Besserung der Symptome, so dass eine hand-/neurochirurgische Latenz von Monaten bis vielen Jahren einsetzen.
Operation erforderlich wird. Im Anschluss hieran ist die Patientin Bei bettlägerigen Patienten kommen Drucklähmungen am
beschwerdefrei. Ellenbogengelenk vor. Gelegentlich kann auch bei normalen
Interessant ist, dass auch schon an der anderen Hand eine anatomischen Verhältnissen die Beanspruchung durch fort-
leichte Verzögerung der motorischen, distalen Latenz und der gesetzte Beuge- und Streckbewegungen oder eine Druckschä-
sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit vorliegt. Dieser Befund wird digung durch Arbeiten mit aufgestütztem Ellenbogen zur Ul-
elektrophysiologisch überwacht, Symptome hat die Patientin an narisparese führen (»Beschäftigungslähmung«). Die distalen
der linken Hand noch nicht entwickelt. Ulnarisparesen entstehen durch chronische Druckschädigung
mit gleichzeitiger Hyperextension des Handgelenks bei Rad-
fahrern, Motorradfahrern, Polierern usw. oder durch Druck
31.4.9 N. ulnaris (C8–Th1) von Werkzeugen. Der Ort der Läsion wird, vor allem als Vor-
bereitung für die chirurgische Therapie (s.u.), durch Elektro-
Der N. ulnaris wird ebenfalls häufig geschädigt. neurographie genau festgelegt.

3Innervation und Funktion 3Läsionsorte und Symptome. Es gibt drei Lähmungstypen:


4 M. flexor carpi ulnaris: Beugung und Ulnarflexion der Die vollständige, hohe Ulnarislähmung, das Sulcus-ulnaris-
Hand. Prüfung: Beugung der Ulnarseite des Handgelenks ge- Syndrom und das Syndrom der Loge von Guyon.
gen Widerstand auf den Kleinfingerballen, Abduktion des
V. Fingers bei supinierter Hand. Dabei muss der Muskel den
Abd. digit. V fixieren, und seine Sehne springt am Handgelenk
deutlich sichtbar und palpabel an.
4 M. flexor digit. prof. (ulnarer Abschnitt): Beugung der
Endphalangen IV und V. Prüfung in Supinationsstellung,
zweckmäßig unter Fixation der Mittelphalanx.
4 M. abductor und opponens digit. V: Die Funktion ergibt
sich aus dem Namen. Prüfung in Supinationsstellung: Abduk-
tion gegen Widerstand an der Grund- oder Mittelphalanx.
Opposition: Der Patient soll die Hand wie eine Schale halten . Abb. 31.7. Froment-Zeichen links bei Drucklähmung des N. ulna-
und den V. Finger vor den IV. bewegen. ris im Sulcus ulnaris nach Ellenbogenfraktur. (A. Ferbert, Kassel)
672 Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

4 Geringe atrophische Parese auch der ulnaren Handbeuger.


4 Die distale Betonung wird auf die topographische Anord-
nung der Nervenfasern in der Höhe des Sulcus ulnaris zurück-
geführt, weil die Fasern für die kleinen Handmuskeln und die
Sensibilität oberflächlicher verlaufen und so mechanischen
Läsionen eher ausgesetzt sind.
4 Elektroneurographisch sind die motorische und sensible
NLG sowie die Überleitungszeit zum M. flexor carpi ulnaris
verlangsamt.

. Abb. 31.8. Muskelatrophien bei Sulcus-ulnaris-Syndrom. Nach Syndrom der distalen Ulnarisloge (Loge von Guyon)
operativer Dekompression des Nerven trat nur eine geringfügige Diese wird lateral vom Os hamatum, medial vom Os pisiforme
Besserung der Motorik ein, während die sensiblen Reizsymptome aus-
begrenzt, palmar vom Retinaculum flexorum und vom M. palma-
setzten. (A. Ferbert, Kassel)
ris brevis. Der N. ulnaris verläuft in diesem Tunnel (»Engpass«)
zusammen mit der A. ulnaris und begleitenden Venen. Er teilt
Vollständige Ulnarislähmung sich in dem Tunnel in einen oberflächlichen und tiefen Ast.
Die Parese der ulnaren Handbeugung hat funktionell nur ge- 3Symptome. Je nach dem Ort der Schädigung sind alle
ringe Bedeutung. Klinisch sind diese Symptome oft so gering, motorischen Funktionen des N. ulnaris an der Hand betroffen
dass nur die elektromyographische Untersuchung die Beteili- (Ramus profundus).
gung der vom N. ulnaris versorgten Unterarmmuskeln auf- 4 Selten kommt es zu einer Sensibilitätsstörung am Kleinfin-
deckt. Beim Versuch, die Finger zu beugen, bleibt das Endglied gerballen ohne motorische Störungen (Ramus superficialis).
des V. und IV. Fingers gestreckt. Typisch und augenfällig ist die Häufig sind beide Äste lädiert.
31 sog. Krallenhand, die auf dem Fortfall der Lumbricales-Funk- 4 Wenn der Ramus profundus distal vom Os hamatum be-
tion beruht: Da die Grundphalangen nicht mehr gebeugt wer- troffen ist, bleibt der Hypothenar frei, und die schmerzfreie
den, sind sie überstreckt. Da die Mittel- und Endphalangen Parese betrifft nur die vom Ulnaris versorgten Thenarmuskeln
nicht mehr gestreckt werden, sind sie leicht gebeugt. Die Hal- und die Mm. interossei dorsales.
tungsanomalie ist besonders an den Fingern IV und V deut- 4 Die Diagnose ist durch Registrierung der motorischen und
lich, die ausschließlich vom N. ulnaris und nicht auch vom sensiblen antidromen und orthodromen NLG möglich.
N. medianus innerviert werden.
Differentialdiagnose gegen C7-Syndrom: Dabei fehlt 3Therapie bei Ulnaris-Engpasssyndromen. Bei chroni-
die Hyperextension der letzten beiden Finger. Die Spatia inter- schen Schädigungen im Sulcus ulnaris oder in der Guyon-Loge
ossea treten durch Muskelatrophie deutlich hervor. Bei reiner wird der Nerv mikrochirurgisch freigelegt. Bei der Operation
Ulnarislähmung fällt kein Eigenreflex aus. Gefühlsstörung findet man am Nerven oft starke Veränderungen: Adhäsionen,
s. oben. Neurome oder Strikturen, selbst wenn man präoperativ pal-
patorisch keine groben Auffälligkeiten feststellen konnte. Der
Sulcus-ulnaris-Syndrom Eingriff ist auch dann noch von Nutzen, wenn die Symptome
Dies ist die häufigste Ulnaris-Läsion. Sie beruht auf einer Ein- bereits 1–2 Jahre lang bestanden haben. In 70–80% der Fälle
engung des N. ulnaris in der Ulnarisrinne. tritt eine deutliche Besserung von Schmerzen und Parästhesien
ein, in 50% Beschwerdefreiheit. Auch die motorischen Ausfälle
3Symptome. Ausgeprägte Atrophie des Spatium inter- können sich zurückbilden.
osseum I und des Hypothenar und Hakenstellung des 4. und
5. Fingers (. Abb. 31.8). > Sulcus-ulnaris-Syndrom: Leicht zu diagnostizieren
4 Sensibilitätsstörungen an der ulnaren Handkante, auf dem und chirurgisch zu behandeln. Häufige Fehldiagnose:
5. und halben 4. Finger. Wirbelsäulenbedingte Nervenwurzelkompression.

Exkurs
Diagnostik von Lähmungen der großen Armnerven
Typische Lähmungen der großen Armnerven sind leicht zu Sehne des M. abductor pollicis longus ist oberhalb des Hand-
diagnostizieren. Kombinationsformen können Schwierig- gelenks nicht zu tasten. Bei Medianusparese kann der Daumen
keiten bereiten. Ein sehr nützliches Hilfsmittel ist die Unter- nicht rechtwinklig zur Handfläche abduziert werden (Flaschen-
suchung der Bewegungsfunktionen des Daumens: Bei Ulna- zeichen positiv), weil der M. abductor pollicis brevis paretisch
risparese besteht eine Adduktionsschwäche des Daumens ist, auch ist die Opposition des Daumens geschwächt: Der
(Froment-Zeichen positiv), bei Radialisparese kann der Dau- Patient kann nicht mit der Spitze des gestreckten Daumens
men in der Handebene nicht abduziert werden, und die das Grundglied des 5. Fingers berühren.
31.5 · Läsionen des Plexus lumbosacralis
673 31
ä Der Fall 31.5 Läsionen des Plexus lumbosacralis
Ein Patient hat ein schweres, offenes Trauma am rechten Unter-
arm erlitten, bei dem es außer zu Knochenbrüchen auch zu 3Anatomie. Der Plexus lumbosacralis wird aus Wurzeln
Verletzungen von Gefäßen und Sehnen kam. Bei der Wundver- der Segmente L1 bis S3 gebildet. Er verläuft vorwiegend im
sorgung schienen die Nerven intakt. Jetzt sind der Unterarm Retroperitonealraum (. Abb. 31.9). Er bildet die großen Be-
und die gesamte Hand, mit Ausnahme des Daumens, verbunden. ckengürtel- und Beinnerven (Nn. glutaeus superior, glutaeus
Es ist eine dorsale Gipsschiene angelegt. Der Daumen ist frei. inferior, ischiadicus, obturatorius und femoralis).
Die motorische Funktion der drei Unterarmnerven (Nn. me-
dianus, ulnaris und radialis) kann durch eine einzige komplexe 3Ätiologie. Läsionen des Plexus lumbosacralis entstehen
Daumenbewegung geprüft werden: Der Patient soll mit dem durch raumfordernde, retroperitoneale Prozesse (lokale Aus-
Daumen einen großen Kreis beschreiben. Hierbei werden nach- dehnung von Malignomen und Ansiedlung von Metastasen,
einander die Mm. extensores pollicis longus und brevis (N. radia- Lymphomen, vom Knochen ausgehenden Tumoren und Abs-
lis), der M. adductor pollicis (N. ulnaris), der M. opponens pollicis zessen). Bestrahlungsfolgen sind heute selten. Auch retroperi-
(N. medianus, manchmal N. ulnaris) und der M. abductor pollicis toneale Blutungen (z.B. das Psoashämatom bei Marcumarbe-
brevis (N. medianus) geprüft. Wenn die Kreisbewegung des handlung) und lokale Traumen spielen in der Entstehung der
Daumens möglich ist, kann keine größere motorische Lähmung Plexuslähmungen eine Rolle. Der Plexus sacralis ist bei Schwan-
der Armnerven vorliegen. Zusätzlich kann man am Daumen gerschaften und Prozessen im kleinen Becken betroffen.
auch noch die Sensibilität von N. medianus und N. radialis Eine entzündliche Plexusläsion in Analogie zur neural-
prüfen. gischen Schulteratrophie kommt vor, ist aber sehr viel seltener.

. Abb. 31.9. Plexus lumbosacralis. 1 N. ilio-


hypogastricus (Th12, L1); 2 N. ilioinguinalis
(L1); 3 N. genitofemoralis (L1, L2), a R. femora-
lis, b R. genitalis; 4 N. cutaneus femoris latera-
lis (L2, L3); 5 N. femoralis (L2–L4), a Ast zum
M. psoas, b Ast zum M iliacus, c Ast zum
M. pectineus, d Ast zum M. sartorius, e Äste
zum M. quadriceps femoris, f R. cutaneus an-
terior g N. saphenus; 6 N. obturatorius (L2–L4),
a R. anterior, b R. posterior; 7 Truncus lumbo-
sacralis (L4, L5); 8 N. glutaeus superior (L5–S2);
9 N. glutaeus inferior (L5–S2); 10 Rr. muscula-
res des Plexus sacralis zu den Mm. piriformis,
gemelli, quadratus femoris und obturatorius
internus; 11 N. ischiadicus (L4–S3), a Peronäus-
anteil, b Tibialisanteil, c Rr. musculares zu den
ischiokruralen Muskeln; 12 N. cutaneus femo-
ris posterior (S1–S3); 13 N. pudendus (S2–S4);
14 Nn. anococcygei (S3–C0); 15 Plexus lumba-
lis (Th12–L4); 16 Plexus sacralis (L4–S4);
17 Plexus coccygeus (S3–C0). (Müller-Vahl u.
Schliack; in Kunze 1992)
674 Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

Die Symptome sind vergleichbar: Einer Phase von ziehenden sie auf und wird in gleicher Weise erklärt wie das Karpaltun-
Schmerzen folgt die Ausprägung von atrophischen Paresen. nelsyndrom.
Behandlung wie bei der neuralgischen Schulteratrophie (Kor- Man könnte analog von einem Inguinaltunnelsyndrom
tison in der akuten Phase). sprechen. Die Meralgie gehört also zur Gruppe der bereits er-
wähnten Kompressionssyndrome peripherer Nerven. Ob die
3Symptome. Paresen der Hüftbeuger und -rotatoren, der früher viel diskutierten Ursachen Infektionskrankheiten oder
Kniestrecker und der Adduktoren des Oberschenkels sind cha- Diabetes wirklich eine Rolle spielen, ist zweifelhaft.
rakteristisch für Läsionen des Plexus lumbalis, der aus den
Wurzeln L1–4 entsteht. Die ischiokrurale Muskulatur, die Fuß- 3Therapie. Nach Ausschluss einer raumfordernden Ursa-
heber und -strecker und die kleine Zehenmuskulatur sowie che soll man die Patienten vor allem auf die Harmlosigkeit der
die Gesäßmuskeln sind bei Läsionen des sakralen Anteils des Störung hinweisen und mit lokalen Maßnahmen, wie Infiltra-
Plexus betroffen. Die Sensibilitätsstörungen entsprechen der tion mit Scandicain 1% o.Ä. unter das Leistenband in der Re-
Verteilung der betroffenen, peripheren Nerven. gion der Spina iliaca anterior, behandeln. In schweren Fällen
kann man eine Neurolyse vornehmen. Der Eingriff beseitigt
3Diagnostik. CT und MRT des kleinen Beckens und des aber die Beschwerden nicht mit Sicherheit.
Retroperitonealraums stehen im Vordergrund. Durch elektro-
physiologische Methoden lässt sich die Beteiligung einzelner
Nerven an der Plexusläsion nachweisen, ebenso wie die Diffe- 31.6.2 N. femoralis (L2–L4)
rentialdiagnosen gegen multiple Wurzelläsionen (dort Dener-
vierung in der paraspinalen Muskulatur) stellen. Der Schweiß- 3Innervation und motorische Versorgung
test hilft ebenfalls, die Wurzelläsion von der Plexusläsion zu 4 M. iliopsoas: Vor allem Beugung des Oberschenkels im
unterscheiden, da bei lumbalen Wurzelläsionen vegetative Fa- Hüftgelenk. Prüfung: Am liegenden Patienten wird das Bein
31 sern nicht betroffen sind. passiv im Hüft- und Kniegelenk rechtwinklig gebeugt und am
Unterschenkel vom Untersucher getragen. Gegen Widerstand
3Differentialdiagnose bei doppelseitigenseitiger Plexus oberhalb des Knies soll der Patient das Bein weiter im Hüftge-
lumbosakralis-Läsion. Elsberg-Syndrom (7 Kap. 32.6.4), mul- lenk beugen.
tiple, radikuläre Syndrome bei Wirbelsäulenmetastasen oder 4 M. quadriceps femoris: Streckung des Unterschenkels im
Meningeosis carcinomatosa (7 Kap. 11.13.3 Diagnose über Li- Kniegelenk. Prüfung ebenfalls im Liegen: Strecken des leicht
quor und bildgebende Verfahren) und Verschluss der Becken- gebeugten Kniegelenkes oder bei etwas angehobenem Bein
arterien (Leriche-Syndrom, 7 Kap. 10.1.3). Festhalten der Streckung gegen Druck auf den Unterschenkel.
Der Patellarsehnenreflex ist abgeschwächt oder erloschen.

31.6 Läsionen einzelner Nerven Sensibles Versorgungsgebiet: Vorderseite des Oberschen-


des Plexus lumbosacralis kels (N. cut. fem. ant.) und Innenseite des Unterschenkels
(N. saphenus).
31.6.1 N. cutaneus femoris lateralis (L2 und L3)
3Ursachen. Druckschädigungen durch Tumoren im Be-
3Sensible Innervation. Laterale Vorderseite des Ober- cken, Bruchbänder oder unsachgemäß angelegte Haken bei
schenkels und angrenzender Bezirk der Außenseite. gynäkologischen Operationen. Bei Appendektomie oder Her-
niotomie können Schnittverletzungen vorkommen.
3Symptome. In diesem Nerven entsteht nicht selten ein Der N. femoralis kann bei retroperitonealer raumfor-
Reizzustand, die Meralgia paraesthetica. Die Patienten empfin- dernder Läsion oder Blutung in den M. iliopsoas geschädigt
den spontan Parästhesien (Taubheitsgefühl, Ameisenlaufen) in werden. Der N. femoralis verläuft nach Austritt aus dem Plexus
dem beschriebenen Versorgungsgebiet. Meist ist die Haut für lumbalis im Psoasmuskel distalwärts in der Psoasrinne unter
leichte Berührung, z.B. durch die Wäsche, überempfindlich. der straffen Fascia iliaca. Hier können Hämatome geringer
Die Beschwerden sind bereits in Ruhe vorhanden. Sie nehmen Ausdehnung zu einer Kompression führen. Eine häufige Ur-
beim Gehen gewöhnlich zu. Bei der Untersuchung findet sich sache ist eine zu scharfe Antikoagulation. Sie werden im Com-
häufig eine Hypästhesie. Noch häufiger ist die schmerzlose, putertomogramm nachgewiesen. Bei Hämatomen ist die so-
intermittierende Hypästhesie im Territorium dieses Nerven, fortige operative Entlastung notwendig. Führendes Symptom
die bei übergewichtigen Personen nach langem Sitzen (Flug- ist dann ein ausstrahlender Schmerz, rasch gefolgt von schwerer
zeug, Auto) oder nach Narkosen auftritt. Lähmung. Femoralislähmungen treten auch als Strahlenfolge
nach Bestrahlung von Tumoren im kleinen Becken auf.
3Ursachen. Der Nerv kann mechanisch durch Tumoren im
Becken oder durch eine abnorme Enge an seiner Durchtritts- 3Symptome. Hier und bei den weiteren Nerven sind nur
stelle unter dem Leistenband, nahe der Spina iliaca anterior die motorischen Symptome beschrieben. Die sensiblen erge-
superior, lädiert werden. Hier kann er auch durch Bruchbänder ben sich aus den anatomischen Angaben. Meist ist der Nerv
eine Druckschädigung erleiden. Er ist dann dort klopfemp- distal vom Abgang der Äste zum Iliopsoas geschädigt, so dass
findlich. Die Meralgie tritt auch als Schwangerschaftsparästhe- nur der M. quadriceps gelähmt ist. Die Patella steht tiefer und
31.6 · Läsionen einzelner Nerven des Plexus lumbosacralis
675 31
ist abnorm beweglich. Das Aufstehen aus dem Sitzen ist er- 31.6.5 N. obturatorius (L2–L4)
schwert. Im Stehen biegt sich bei stärkerer Parese des Muskels
das Knie nach hinten durch (Bajonettphänomen). 3Motorische Innervation. Adduktorengruppe: (Mm. ob-
Ist der Nerv in seinem proximalen Verlauf im Becken ge- turatorius externus, pectineus, adductor brevis und longus,
schädigt, kann der Oberschenkel nicht in der Hüfte gebeugt adductor magnus, gracilis).
werden. Beim Gehen auf der Ebene wird das Bein aus der Adduktion in der Hüfte, Außenrotation, Beugung und In-
Hüfte, im Kniegelenk gestreckt, nach vorn geschwungen. Zum nenrotation im Knie.
Steigen kann das Bein nicht gehoben werden, beim Hinabstei-
gen knickt der Kranke im Knie ein. Der PSR ist abgeschwächt 3Untersuchung. Überprüfung in Rückenlage: gestreckte
oder erloschen. Die Sensibilität ist in dem angegebenen Gebiet Beine adduzieren, in Seitenlage: erhobenes Bein adduzieren.
gestört. Das Aufsetzen aus dem Liegen ist erschwert. Der Der Adduktorenreflex ist abgeschwächt oder ausgefallen.
M. quadriceps femoris atrophiert schnell. Schmerzen können im medialen Kniegelenk durch Läsion des
sensiblen R. posterior (sensibler Gelenkast) auftreten.

31.6.3 N. glutaeus superior (L4–S1) 3Symptome und Ursachen. Der Nerv kann bei Becken-
frakturen, Hernien und Metastasen lädiert werden.
3Motorische Innervation und Funktion. Mm. glut. medius
und minimus: Abduktion und Innenrotation im Hüftgelenk.
Beim Gehen hält der M. glutaeus medius das Becken auf der 31.6.6 N. ischiadicus (L4–S3)
Seite des Standbeins in der Horizontale. Eine leider nicht sel-
tene Ursache ist die Schädigung des Nerven durch unsachge- 3Anatomische Vorbemerkung. Der N. ischiadicus teilt
mäße, intramuskuläre Injektion. Schmerzen oder Gefühlsstö- sich in wechselnder Höhe, oft schon am Oberschenkel, in den
rungen kommen dabei nicht vor, da der Nerv rein motorisch N. peronaeus und den N. tibialis. Bei inkompletten Läsionen
ist. ist der Peronäusfaszikel meist stärker betroffen als der Tibialis-
faszikel.
3Untersuchung und Symptome. Im Falle einer Glutaeus- Ist der Nerv im Ganzen gelähmt, besteht eine kombinierte
medius-Parese kann das Becken beim Stehen auf einem Bein Peronäus- und Tibialislähmung. Unterschenkel und Fuß sind
nicht mehr horizontal fixiert werden und sinkt auf der Gegen- im Ganzen atrophisch. Beugung und Streckung sind paretisch,
seite ab (Trendelenburg-Zeichen). Bei doppelseitiger Lähmung so dass der Fuß nicht mehr fixiert werden kann. Das Bein kann
entsteht der sog. Watschelgang. Die Gesäßwölbung ist auf der beim Gehen nicht mehr als Stützbein eingesetzt werden. Rasch
gelähmten Seite zentral tellerförmig eingefallen. entwickeln sich erhebliche, trophische Störungen im Tibialis-
bereich, weil der Nerv viele vegetative Fasern enthält.

31.6.4 N. glutaeus inferior (L5–S2) 3Innervation. Bei hoher Ischiadikusläsion sind folgende
(neben den von Peroneus und Tibialis versorgten) Muskeln
3Motorische Innervation. M. glut. maximus: Streckung ausgefallen:
des Oberschenkels im Hüftgelenk. 4 Mm. obturator externus, gemelli und quadratus femo-
ris: Außenrotation des Oberschenkels im Hüftgelenk. Prüfung:
3Untersuchung. Der Patient soll in Bauchlage das Gesäß in Rückenlage bei gebeugtem Knie, um die Rotation im Knie-
anspannen. Bei Lähmung des Muskels ist eine Seitendifferenz gelenk auszuschalten.
deutlich. Dann wird die Hebung des Beines gegen Widerstand 4 Mm. biceps femoris, semitendinosus, semimembrano-
und in Rückenlage soll das gestreckte Bein nach unten gedrückt sus: Beugung des Unterschenkels im Kniegelenk. Prüfung
werden. in Rücken- oder Bauchlage. Bei der Beugeinnervation springt
die Sehne des M. biceps lateral, die des semitendinosus me-
3Symptome und Ursachen. Die Gesäßhälfte ist atrophisch dial an. Sensibles Versorgungsgebiet: Rückseite des Ober-
und steht tiefer als auf der gesunden Seite. Treppensteigen und schenkels.
Aufrichten aus dem Sitzen sind erschwert und bei doppelsei-
tiger Parese stark behindert. Eine Isolierte Parese ist äußerst 3Ursachen. Traumatisch: Luxation im Hüftgelenk, aber
selten. Der Nerv kann bei Tumoren im Becken und bei Kauda- auch Einrenkung einer solchen Luxation, Frakturen im Hüft-
lähmung mitgeschädigt werden. gelenk und am Oberschenkel.
Unsachgemäße, intramuskuläre Injektion: Dabei sind
3Differentialdiagnose. Als Differentialdiagnose sind in Sofortschmerz und Sofortlähmung beweisend für die Fehlin-
erster Linie die angeborene Hüftluxation und die progressive jektion, diese Symptome sind aber nicht obligat. Die Schmer-
Muskeldystrophie zu erwägen. zen können mit stundenlanger Latenz einsetzen oder ausblei-
ben, und auch die Lähmung entwickelt sich oft erst innerhalb
von 24 Stunden.
Eine Ischiadikusschädigung kann durch einen Tumor im
kleinen Becken entstehen.
676 Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

3Symptome. Die Symptome ergeben sich aus den musku- fallen, da der Reflexbogen über den N. tibialis verläuft. Auch
lären und sensiblen Verteilungsmustern: Die Parese von bei hochliegender Ischiadikusläsion, z.B. bei Spritzenläsi-
Hüftrotatoren, Kniebeugern und der gesamten Unterschenkel- onen oder Verletzungen, kann die Peronäusportion des Ner-
und Fußmuskulatur entspricht bei kompletter Ischiadikuslä- ven, die schon im Becken topographisch getrennt vom spä-
sion einer erheblichen Behinderung des Gehens. Inkomplette teren N. tibialis verläuft, isoliert betroffen sein.
Läsionen betreffen oft mehr die peroneusversorgte Muskula-
tur. 3Differentialdiagnose. Mit einer Peronäusparese wird
leicht das Kompartment-Syndrom der Tibialisloge (7 Kap. 34.11)
verwechselt.
31.6.7 N. peronaeus (L4–S2) 4 Wurzelläsion L5: Auch der Gluteus medius ist beteiligt,
nicht aber die Zehenextensoren.
Der Nerv hat zwei Äste, den N. peronaeus superficialis und 4 Der Spitzfuß bei zentraler Beinlähmung bleibt ohne Atro-
den N. peronaeus profundus. phie der prätibialen Muskulatur. Er entsteht durch Überwiegen
im Tonus der Fußstrecker. Der ASR ist meist gesteigert. Beim
3Innervation. N. peronaeus superficialis: Gehen tritt kein Steppergang sondern eine Zirkumduktion
4 Mm. peronaei an der Außenseite des Unterschenkels: Pro- auf.
nation (= Hebung) des äußeren Fußrandes. 4 Zur Unterscheidung von psychogener Lähmung fasst man
N. peronaeus profundus: den Patienten im Stehen bei den Händen und wiegt seinen
4 M. tibialis anterior: Extension (= Anheben) und Supina- Körper nach vorn und rückwärts. Bei psychogener Lähmung
tion des Fußes. Bei der Prüfung tritt der Muskel am proximalen springen die Sehnen auf dem Fußrücken durch unwillkürliche
Abschnitt der Tibia deutlich hervor. Gegeninnervation an.
4 M. extensor digit. longus et brevis: Extension der Zehen
31 II–V im Grundgelenk. Bei der Prüfung treten die Strecksehnen
auf dem Fußrücken deutlich hervor. 31.6.8 N. tibialis (L4–S3)
4 M. extensor hall. longus: Streckung der Großzehe im
Grundgelenk. Sie wird gesondert geprüft. Auch hier achtet 3Innervation
man auf die Anspannung der Sehne 4 M. triceps surae (Mm. gastrocnemius und soleus): Plan-
tarflexion des Fußes. Bei der Prüfung springt der Muskelbauch
Sensibles Versorgungsgebiet: Außenseite des Unterschenkels deutlich hervor.
und proximaler Abschnitt des Fußrückens (N. peronaeus su- 4 M. tibialis posterior: Adduktion und Supination des
perfizialis) und ein dreieckiger Hautbezirk vor den Zehen I Fußes.
und II (N. peronaeus profundus). 4 Mm. flexor digit. et hall. long.: Beugung der Endphalan-
gen der Zehen. Mm. flexor digit. et hall. brev.: Beugung der
3Ursachen. Druckschädigung des Nerven am Wadenbein- Mittelphalangen I–V.
köpfchen entsteht vor allem bei unsachgemäßer Lagerung des 4 Kleine Fußmuskeln: Spreizung und Adduktion der Ze-
Kranken in bewusstlosem Zustand und durch zu hoch ange- hen, Beugung der Grundphalangen. Prüfung: Der Patient soll
legte Gipsverbände. Der Nerv kann bei Fibulakopffrakturen auf Zehe und Ferse stehen.
und Luxationen des Kniegelenks überdehnt oder eingerissen
werden. Sensibles Versorgungsgebiet: Wade, Fußsohle und Beugesei-
Nicht selten wird er bei längerem Sitzen mit überkreuzten te der Zehen. Bei Sensibilitätsstörungen entstehen in diesem
Oberschenkeln (crossed legs palsy) oder bei andauernder Hock- Bereich häufig erhebliche, trophische Störungen.
stellung durch Druck geschädigt. Bei der alkoholischen Polyneu-
ropathie ist der N. peronaeus oft besonders stark betroffen. 3Symptome. Wade und Fußgewölbe sind atrophisch. Die
Zehen bekommen durch Überwiegen der Extensoren eine
3Untersuchung und Symptome. Anheben des äußeren Krallenstellung. Der Fuß ist im ganzen proniert. Die Achilles-
Fußrandes gegen Widerstand oder Plantarflexion gegen leich- sehne ist erschlafft, ASR und Tibialis-posterior-Reflex sind
ten Widerstand. Bei Peronäuslähmung kippt der äußere Fuß- abgeschwächt oder ausgefallen. Der Patient kann nicht auf den
rand während der Plantarbewegung nach unten innen ab. Die Zehen gehen und stehen. Beim Gehen wird der Fuß nicht ab-
Supinationsstellung des Fußes ist schon im Liegen zu erken- gerollt. Die veränderte Statik des Fußgewölbes führt zu erheb-
nen. lichen Schmerzen beim Gehen.
Die Atrophie der prätibialen Muskeln ist deutlich sichtbar, Analog zur Krallenhandbildung bei der Ulnarislähmung
die der Mm. peronaei ist oft nur zu tasten. Sobald der N. pero- gibt es eine Krallenfußbildung bei distaler Tibialislähmung.
naeus profundus gelähmt ist, besteht ein Spitzfuß. Der Patient Dabei bestehen Sensibilitätsstörungen an der Fußsohle sowie
kann den Fuß nicht anheben und nicht auf den Fersen gehen. Anhidrose. Bei distaler Läsion des Nerven bleibt der ASR er-
Beim Gehen zeigt sich der sog. Steppergang oder Hahnentritt: halten.
Der Fuß hängt herab, und der Kranke muss das Schwungbein
verstärkt im Knie beugen, um den Ausfall der Fußheber auszu- 3Ursachen. Verletzungen am Kniegelenk, distale Tibia-
gleichen. Bei reiner Peronäuslähmung ist der ASR nicht ausge- frakturen (nur Endäste des Nerven), Beschäftigungslähmung
31.7 · Akuttherapie der peripheren Nervenschädigungen
677 31
Exkurs
Verlauf der spontanen Regeneration
Bei einer traumatischen Nervenschädigung lässt sich diese dabei fest, dass sich die Stelle der Klopfempfindlichkeit all-
mit dem Hoffmann-Klopfzeichen verfolgen: Die auswachsen- mählich nach distal verschiebt. Geschieht dies bald nach der
den Achsenzylinder sind auf Druck und Beklopfen überemp- Läsion und kontinuierlich, sind die Aussichten auf eine Rück-
findlich. Dabei entstehen Kribbelparästhesien im sensiblen bildung gut. Bleibt das Klopfzeichen distal von der Verletzung
Versorgungsbereich des gereizten Nerven. Man kann des- auch nach Wochen noch aus, ist die Prognose ungünstig. Man
halb die Nervenregeneration dadurch verfolgen, dass man rechnet mit einer Regenerationsgeschwindigkeit von 1 mm/
regelmäßig den Verlauf des Nerven mit dem Finger oder mit Tag. Das würde bei totaler, idiopathischer Fazialisparese etwa
einem Perkussionshammer von distal nach proximal leicht 4 Monate und bei einer Ulnarisläsion am Ellenbogengelenk
beklopft. Im Verlaufe der Regeneration des Nerven stellt man fast ein Jahr bedeuten.

bei längerem Arbeiten an Geräten, die mit dem Fuß bedient werden auch aktive Innervationsübungen mehrmals täglich
werden. ausgeführt. Dabei ist es günstig, eine Extremität durch gleich-
zeitige Kontraktion der (gesunden) kontralateralen Muskeln
Tarsaltunnelsyndrom zu trainieren (cross education). Bei Lähmungen der Beine ist
Auf einer Kompressionsschädigung des N. tibialis in seinem diese Bewegungsbehandlung auch zur Thromboseprophylaxe
Endabschnitt beruht das Tarsaltunnelsyndrom. Der Nerv ver- unerlässlich. Bei Paraplegie gibt man Heparin. Die Wirksam-
läuft in seinem distalen Abschnitt hinter dem Malleolus inter- keit der weit verbreiteten Elektrotherapie auf die Wiederher-
nus, bedeckt vom Ligamentum laciniatum. stellung der Motorik ist nicht nachgewiesen.

3Symptome. Nach Fußdistorsionen, Malleolarfrakturen Lagerung


oder spontan kommt es zu brennenden Schmerzen im sen- Wichtig ist eine zweckmäßige Lagerung der gelähmten Glied-
siblen Versorgungsgebiet des Nerven auf der Fußsohle, be- maßen mit Abduktionsschienen, Armschlingen, Sandsäcken
sonders beim Gehen. Später treten sensible Ausfälle und Pa- (zur Vermeidung der Außenrotation des Beines), Knierolle
resen der kleinen Fußmuskeln hinzu. Oft kann man im Nin- und Fußkasten, um Gelenkversteifungen in Fehlstellungen zu
hydrintest eine Schweißsekretionsstörung an der Fußsohle vermeiden. Bei Radialislähmung: Schienung im Handgelenk,
feststellen. bei Peronäuslähmung orthopädischer Schuh mit Peronäusfe-
der zum Erhalt der Gebrauchsfähigkeit und gegen die Gefahr
3Therapie. Zur Behandlung wird, ähnlich wie beim Kar- der Überdehnung von Muskeln und Sehnen durch Fallhand
paltunnelsyndrom, das Ligamentum laciniatum gespalten. und Fallfuß.

Medikamentöse Therapie
31.7 Akuttherapie der peripheren Medikamentös gibt man bei Bedarf Schmerzmittel, bei neuro-
Nervenschädigungen pathischem Schmerz Carbamazepin, Pregabalin oder Gaba-
pentin. Die Verordnung von Vitaminen ist bei allen Nervenlä-
31.7.1 Konservative Therapie sionen, die nicht auf Vitaminmangel beruhen, sinnlos.

Krankengymnastik und Thromboseprophylaxe Stimulationsverfahren


In dem Maße, in dem es chirurgisch vertretbar ist, werden so Diese können zur Behandlung chronischer Schmerzen nütz-
früh wie möglich die betroffenen Gelenke täglich mehrmals lich sein. Die transkutane elektrische Nervenstimulation
passiv bewegt, um sekundären Versteifungen vorzubeugen, die (TENS) hat Erfolge zwischen 30% und 50%, was innerhalb der
die Heilung um Monate verzögern können. Soweit möglich Plazeborate bzw. leicht darüber liegt.

Exkurs
Vitaminbehandlung bei peripheren Nervenlähmungen?
Die Bezeichnung des Vitamins B als »Aneurin« darf nicht zu ne B1, B6 und B12 einen analgetischen oder sonst einen über
Fehlschlüssen verleiten. Thiamin ist in phosphorylierter Form die Substitution bei Vitaminmangel hinausgehenden pharma-
als Co-Carboxylase für die Funktion des Nerven unentbehr- kologischen Effekt hätten, ist unzutreffend. Die häufig übli-
lich. Thiaminmangel führt zur Inaktivierung des Na+-Trans- chen Gaben von extrem hohen Dosen wie z.B. 100 mg B1
portsystems, zur Lähmung und im EMG zur Erniedrigung der intravenös (therapeutische Dosis bei der Vitaminmangelkrank-
Aktionspotentiale. Diese Symptome werden durch Thiamin heit) täglich mehrmals 5 mg per os) oder 1000–5000 μg B12
beseitigt. Daraus darf aber nicht der Schluss gezogen (Tagesbedarf etwa 10 μg) sind eine übermäßig teure Plazebo-
werden, dass die Zufuhr von Vitamin B1 oder gar Vitamin-B- therapie. Das überzählige Vitamin wird renal ausgeschieden
Komplex eine Nervenschädigung anderer Genese in irgend- und soll zumindest Mücken vertreiben.
einer Weise beeinflusst. Die Behauptung, dass die Vitami-
678 Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

31.7.2 Operative Behandlung Wurzelläsionen und Bandscheibenvorfälle werden heute


überdiagnostiziert. Sehr häufig werden Rückenschmerzen und
Nervennähte werden heute bei offenen Verletzungen entwe- Veränderungen der Wirbelsäule, wie sie im mittleren und hö-
der sofort als primäre oder 3–4 Wochen nach einer Verletzung heren Lebensalter häufig zu finden sind, fälschlich von Pati-
als frühe Sekundärnaht ausgeführt, da dann eine Heilung oder enten und vielen Ärzten als Bandscheibenschaden bezeichnet,
erhebliche Besserung erwartet werden kann. Nach geschlos- und es wird ohne zutreffende Indikation zur Operation gera-
senen Verletzungen (Druckläsionen, Spritzenlähmungen usw.) ten. Hat ein Patient Beschwerden und Symptome an den Extre-
kann man nach 2–3 Monaten eine operative Freilegung des mitäten, wird zu häufig eine lumbale, spinale Bildgebung,
Nerven und mikrochirurgische interfaszikuläre Neurolyse meist die teure MRT, ausgeführt, oft ohne ausführliche Explo-
durchführen, d.h. Freipräparierung der Nervenfaszikel von ration und körperliche Untersuchung.
Bindegewebswucherungen. Der Eingriff ist indiziert, wenn die Auch minimal-invasive Verfahren wie Chemonukleolyse
Lähmung dann noch komplett ist und keine Zeichen einer sind Operationen, und wenn mit dem »Laser« operiert werden
Reinnervation zu erkennen sind. soll, muss dafür eine vernünftige Indikation bestehen. Aus
Daneben gibt es eine ganze Reihe von hochwirksamen hartnäckigen Rückenschmerzen lässt sich nur selten eine Indi-
Umstellungsoperationen, die hier nicht besprochen werden kation zur Operation ableiten. Die Symptome der medialen
können und in das Gebiet der Neurochirurgie, der Orthopädie und dorsolateralen Bandscheibenvorfälle sind klar definiert.
oder auch der akademischen plastischen Chirurgie gehören.
3Definitionen: Wir unterscheiden Vordringen (Protru-
sion) oder Vorfallen (Prolaps) des Nucl. pulposus einer Band-
31.8 Erkrankungen der Bandscheiben scheibe sowohl nach medial, mediolateral oder lateral. In allen
Fällen kann es zur Wurzelkompression kommen.
Vorbemerkungen Bei der Protrusion werden Ligament und Dura nur vor-
31 Große, mediale Bandscheibenvorfälle sind extradurale, raum- gewölbt, der Prolaps perforiert dagegen den Bandapparat.
fordernde Läsionen (7 Kap. 12), die allerdings auch durch die Losgelöste Bandscheibenteile, die in den Spinalkanal ausge-
Dura herniieren können und dann intradural-extramedullär stoßen werden, nennt man Sequester. Die Lokalisation ist aus
liegen. Auch Sequester der dorsolateralen Bandscheibenvor- biomechanischen Gründen meist in der unteren Lendenwir-
fälle können nach intradural gelangen. Dennoch besprechen belsäule und in der unteren Halswirbelsäule. Die Brustwirbel-
wir die Bandscheibenkrankheiten bei den Läsionen peripherer säule ist dagegen selten betroffen.
Krankheiten, da sie auf neurologischem Gebiet viel häufiger 4 Ursache des medialen Bandscheibenvorfalls (BSV) ist ein
durch lokale oder radikuläre Schmerzen und durch Nerven- plötzliches dorsomedianes Aufbrechen des Anulus fibrosus
wurzelläsionen symptomatisch werden. (. Abb. 31.10), in dessen Folge der Nucl. pulposus abrupt breit

. Abb. 31.10a–d. Schematische Darstel-


lung der Bandscheibendegeneration.
a Normale Bandscheibe, b Diskusprotrusion,
c lateraler Diskusprolaps, d medialer Diskus-
prolaps. (Mod. nach H. Krayenbühl und E. Zan-
der, aus Fröscher 1991)

a b

c d
31.8 · Erkrankungen der Bandscheiben
679 31
in den Spinalkanal vordringt und die Nervenwurzeln quetscht. 3Symptome. Schmerzen und Sensibilitätsstörungen ent-
Auch der akute, mediale Bandscheibenvorfall kommt vor allem sprechen bei BSV oft nicht dem betroffenen Segment, sondern
an der unteren Lendenwirbelsäule vor. Besonders gefährlich ist werden höher oder tiefer angegeben.
der mediale zervikale BSV. Der mediale Bandscheibenvorfall
ist viel seltener als der dorsolaterale. Ätiologie und Pathogenese 3Diagnose. Oft findet sich die Bandscheibenprotrusion
sind für beide Formen gleich, die Symptome und auch Thera- nicht am Ort der stärksten Knochenveränderungen auf
pieoptionen unterscheiden sich. der Nativaufnahme. Auch hier kann mit Hilfe von EMG, SEPs
und Reflexwellenuntersuchung eine topographische und
differentialdiagnostische Aussage gemacht werden. Am bes-
31.8.1 Zervikaler oder thorakaler, medialer ten stellen sich zervikale Bandscheibenvorfälle im MRT dar
Bandscheibenvorfall (. Abb. 31.11). Manchmal kann die Myelographie mit Myelo-
CT notwendig werden, um die Indikation zur Operation zu
Beide Formen sind sehr selten. Eine akute Querschnittssymp- stellen.
tomatik mit erheblichen Schmerzen und reflektorischer Steil-
haltung der Wirbelsäule in der betroffenen Region sind ty- 3Therapie. Die so oft propagierte chiropraktische Behand-
pisch. Die Patienten wagen es nicht, den Kopf oder Rumpf zu lung der Schulter-Arm-Schmerzen ist nicht ungefährlich.
bewegen. Chiropraktische Maßnahmen können durch Dissektionen zu
Infarkten im Vertebralis-Basilaris-Stromgebiet führen, weil die
3Traumatische BSV setzen eine Wirbelluxation voraus und Intima der A. vertebralis am Atlanto-Axialgelenk lädiert wird.
können eine komplette Querschnittslähmung hervorrufen Die konservative Behandlung ist wie bei den lumbalen BSV
(Differentialdiagnose: Contusio spinalis). Die Sicherung der und wird dort besprochen.
Diagnose erfolgt über MRT und CT. Operative Behandlung: Eine Indikation zur Operation
bei zervikalen Bandscheibenvorfällen liegt vor, wenn es zu
3Degenerative Bandscheibenkrankheiten führen selten zu progredienten funktionell relevanten motorischen Ausfällen
einem kompletten Ausstoß der Bandscheibe in den Spinal- (schwächer als KG 3/5) kommt und trotz ausreichender in-
kanal, weil appositionelle, degenerative Veränderungen die tensiver konservativer Maßnahmen mehrere Wochen (8–12)
Bandscheibe meist im Fach halten und nur ein Teil des Mate- nicht therapierbare Schmerzen auftreten.
rials herniiert. Wenn der Spinalkanal durch Spondylarthose 4 Nur selten sinnvolle operative Verfahren sind endos-
schon relativ eng geworden ist, kann allerdings auch ein nur kopische Verfahren und Bandscheibenprothesen, Sequester-
verhältnismäßig kleiner Sequester eine akute spinale Sympto- ektomie über eine dorsale Foraminotomie oder die perkutane
matik hervorrufen. Chronische, z.T. multisegmentale Band- Nukleotomie bei nichtsequestrierten Vorfällen, auch wenn sie
scheibendegeneration mit protrusionen, knöchernen und liga- stark propagiert werden.
mentären Veränderungen führen zur zervikalen Myelopathie 4 Als Standardverfahren zur Beseitigung einer Nervenwur-
(s.u.). zelkompression gilt die offene, mikrochirurgische Diskekto-
mie über einen anterioren Zugang. Mit dieser Operationstech-
nik ist die sowohl durch einen Bandscheibenvorfall (soft disc)
31.8.2 Zervikaler, lateraler Bandscheibenvorfall als auch durch eine Spondylose (hard disc) verursachte Kom-
pression sicher und schonend zu beseitigen. Dieser Eingriff hat
Zervikale, laterale BSV sind viel seltener als die lumbalen (s.u.), den großen Vorteil, dass der Patient ohne weitere Ruhigstel-
haben aber die gleiche Pathogenese. lung nach wenigen Tagen aufstehen kann.

. Abb. 31.11. MRT zervikaler


Bandscheibenvorfall. Mehrere
zervikale Bandscheiben-Protru-
sionen C3/4, C4/5 und ein lateraler
BSV C6/7 (Pfeile)
680 Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

Exkurs
Zervikale, radikuläre Symptome
An der HWS kommen Bandscheibenvorfälle vorwiegend in C6: Schmerzen und Gefühlsstörungen lateral am Oberarm
den unteren Bewegungssegmenten vor. Eine Schädigung sowie an der radialen Seite des Unterarms, bis zum
der einzelnen, zervikalen Wurzeln ist an folgenden, spe- Daumen ausstrahlend. Paresen in den Mm. biceps bra-
ziellen Symptomen zu erkennen: chii und brachioradialis. Der BSR und der RPR sind häufig
C1: In diesem Segment besteht kein Zwischenwirbelloch. abgeschwächt oder aufgehoben.
Der Wurzelnerv durchbohrt die Membran zwischen C7: Schmerzen und Gefühlsstörungen an der dorsalen Flä-
Atlasbogen und Axis. Kompressionen von C2 beruhen che des Oberarms und des Unterarms bis in Zeige- und
auf anatomischen Abweichungen oder Subluxationen Mittelfinger. Paresen und Atrophien vor allem im M. tri-
zwischen C1 und C2. ceps, fakultativ Extensorenparese und Flexorenparese in
C2/3: Nach okzipital ausstrahlende Sensibilitätsstörungen den radialen Fingern, auch Parese und Atrophie der
und Schmerzen, oft als »Okzipitalisneuralgie« fehl- Daumenballenmuskeln. TSR deutlich herabgesetzt oder
diagnostiziert, dabei auch Schmerzausstrahlung zur fehlend.
Submandibulargegend. Häufig Verspannung der Na- C8: Schmerzen an der medialen Fläche des Oberarms, der
ckenmuskulatur mit Zwangshaltung des Kopfes. ulnaren Seite des Unterarms und der Hand. Parese und
C4: Zwerchfellparese mit Ausbuchtung der Diaphragma- Atrophie in den kleinen Handmuskeln, insbesondere im
kuppel. Hypothenar. Die Parese zeigt sich im Frühstadium in
C5: Schmerzen und Gefühlsstörungen an der Schulter einer erschwerten Abduktion des kleinen Fingers. In
sowie der Vorderseite des Oberarms. Paresen und schweren Fällen bildet sich eine Krallenhand aus, ähnlich
Atrophien, vor allem in den Mm. deltoides, teilweise wie bei der Ulnarisparese. Abschwächung des Trizeps-
auch im biceps brachii und in den Mm. supraspinatus sehnenreflexes.
31 und infraspinatus. Der BSR kann abgeschwächt oder
aufgehoben sein.

4 Liegen multiple Bandscheibenprotrusionen bei engem mentale periphere Zeichen (atrophische Paresen und Reflex-
Spinalkanal vor, wird durch einen entlastenden Eingriff von ausfall) häufig.
dorsal (Laminektomie über mehrere Segmente) Platz für das
Rückenmark geschaffen. 3Diagnose. Die MRT ist die wichtigste Untersuchung,
wenngleich vor allem im T2-Bild die Läsion überschätzt wird
(. Abb. 31.12). Der Spinalkanal wird von ventral durch Band-
31.8.3 Zervikale Myelopathie scheibenmaterial, von dorsal oft noch durch zusätzliche de-
generative Veränderungen eingeengt. Das Rückenmark wird
3Pathogenese. Degeneration der Bandscheiben kommt an queroval komprimiert, der Liquorraum ist aufgebraucht. Oft
der Halswirbelsäule vor allem in den unteren Abschnitten zwi- sind diese Veränderungen auf mehreren Segmenten festzustel-
schen C6/C7 und C5/C6 vor. Sie führt zur Höhenminderung len. In der Myelographie zeigt sich ein kompletter Stopp. Die
des Zwischenwirbelraums und zur Gefügelockerung. Diese Vor- Elektrophysiologie hilft bei der Höhenlokalisation.
gänge lösen reaktive, degenerative Veränderungen an den Wir-
belkörpern aus, die zu osteophytischen Wucherungen und Kno- 3Therapie und Prognose
chenleisten führen, die die Zwischenwirbellöcher und den Spi- 4 Standard ist die neurochirurgische, dorsale Dekompres-
nalkanal einengen. Dadurch werden Nervenwurzeln und Rü- sionsoperation mit Laminektomie.
ckenmark bewegungsabhängig traumatisiert. Die Einengung des 4 Bei zervikaler Myelopathie, die auf ein Segment zurückzu-
Spinalkanals kommt ferner durch Vordringen der degenerierten führen ist, kommt auch die ventrale Fusion in Frage.
Bandscheibe(n) nach dorsal zustande. Das Mark wird bei Vor- 4 Problematisch sind Eingriffe über mehrere Segmente.
wärts- und Rückwärtsbewegungen der HWS direkt mechanisch 4 Fortgeschrittene Symptome bilden sich nach der Opera-
und sekundär durch Einengung des arteriellen Blutzuflusses tion nicht immer zurück, Gleiches gilt für die atrophischen,
und des venösen Blutabflusses geschädigt. Dieser Prozess wird peripheren Lähmungen.
durch eine abnorme Enge des Spinalkanals begünstigt (norma-
lerweise Wirbelkörpertiefe: Tiefe des Spinalkanals = 1:1). Nimmt
der Röntgendurchmesser des Spinalkanals unter 13 mm ab, be- 31.8.4 Lumbosakraler, medialer
steht die Gefahr der chronischen, zervikalen Myelopathie. Bandscheibenvorfall

3Symptome. Je nach Sitz und Auswirkung der beschrie- Anamnestisch geben die meisten Patienten rezidivierende
benen Veränderungen liegt die Symptomatik eines langsam Lumbago- oder Ischiasbeschwerden an. Der akute, mediale,
wachsenden, extramedullären Halsmarktumors vor. Nicht sel- lumbale Bandscheibenprolaps beginnt immer mit einem Kauda-
ten findet man ein Brown-Séquard-Syndrom (7 Kap. 1.13.2). syndrom. Der akute Prolaps ereignet sich gewöhnlich im mitt-
Neben den zentralen Symptomen sind uni- oder bilaterale seg- leren Alter, kann aber auch junge Menschen treffen (dann mit
31.8 · Erkrankungen der Bandscheiben
681 31
. Abb. 31.12. Zervikale Myelo-
pathie C3/4 in T2-MR-Sequen-
zen sagittal und axial. Das hyper-
intense Signal im Myelon (Pfeil)
ist charakteristisch für die Myelo-
pathie

nur wenig Schmerzen, kaum Paresen, aber Inkontinenz!). Aus- 5. Lendenbandscheibe an der Rückseite, beim Prolaps der
lösender Anlass ist manchmal eine seitliche Drehbewegung, 3. oder 4. Lendenbandscheibe an der Vorderseite der Ober-
schweres Heben oder ein Sprung auf harten Boden. schenkel bis zum Fuß hinunter.
Die peripheren Nerven der Beine sind auf Dehnung
3Symptome. Unmittelbar nach dem Vorfall setzen akut (Lasègue bzw. bei L3/L4 umgekehrter Lasègue) und Erhöhung
heftige Rückenschmerzen mit reflektorischer Bewegungsein- des spinalen Drucks (Husten u.a.) sehr empfindlich.
schränkung der unteren Wirbelsäule ein. Innerhalb von Minu- Nach einigen Stunden, spätestens nach 1–2 Tagen, lassen die
ten bis Stunden zieht der Schmerz bei medialem Vorfall der Schmerzen nach, während sich gleichzeitig eine Gefühllosigkeit

Exkurs
Lumbale, radikuläre Symptome
Zur klinischen Diagnose dienen folgende Wurzelsyndrome: L5/S1: Häufig sind diese Wurzeln kombiniert betroffen.
L3: Schmerzen und Gefühlsstörungen an der Vordersei- Schmerzen und Gefühlsstörungen s.o. Parese in allen
te des Oberschenkels, umgekehrter Lasègue = Zehenstreckern und in den Mm. peronaei, gelegentlich
Schmerzen an der Vorderseite des Oberschenkels auch im M. triceps surae. Deutliche Atrophie und Parese
beim Rückwärtsführen des Beins in Seitenlage. Pare- des M. extensor dig. brevis, der am seitlichen, oberen
se des M. quadriceps und der Adduktoren. Der Fußrücken bei Anspannung gut tastbar ist (Seitenver-
Adduktorenreflex und ggf. der PSR sind abge- gleich!). Der M. tibialis anterior bleibt intakt. Tibialis-pos-
schwächt. terior-Reflex und ASR sind abgeschwächt bis aufgeho-
L4: Schmerzausstrahlung ins Knie, Gefühlsstörungen ben. Dieses Syndrom entsteht bei relativ ausgedehnten,
hauptsächlich medial an der Vorderfläche des Unter- weit lateral gelegenen Bandscheibenvorfällen aus dem
schenkels, d.h. über der Tibiakante. Umgekehrter Fach L5–S1, bei denen auch die weiter lateral gelegene
Lasègue positiv. Parese des M. tibialis anterior (He- Wurzel L5 noch mit erfasst wird.
bung des Fußes), auch des M. quadrizeps. Der PSR S1: Schmerzen und Gefühlsstörung seitlich am Oberschen-
ausgefallen oder abgeschwächt. kel, lateral an der Rückseite des Unterschenkels und am
L5: Schmerzen und Gefühlsstörungen lateral von der äußeren Fußrand. Lasègue positiv. Parese des M. pero-
Schienbeinkante mit Ausstrahlung zur Großzehe. naeus brevis (Pronationsschwäche des Fußes) und des
Lasègue positiv. Paresen der Zehenstrecker, besonders M. triceps surae (Schwäche für das Abrollen des Fußes
des M. extensor hallucis longus. PSR und ASR sind und den Zehengang, sog. Bügeleisengang). Auch M.
bei reiner L5-Läsion intakt, dagegen ist der Tibialis- biceps femoris geschwächt. Der ASR ist ausgefallen.
posterior-Reflex ausgefallen: Die Sehne des M. tibialis S2: Die Wurzel S2 versorgt sensibel am Bein die mediale
posterior zieht hinter dem medialen Knöchel zu den Rückseite von Ober- und Unterschenkel. Am Fuß gibt es
Fußwurzelknochen. Man trifft sie mit dem Reflexham- bei Läsion ab S2 keine Sensibilitätsstörung. Läsion der
mer hinter und über oder unter und vor dem Malleo- Wurzeln S3 bis S5 führt sensibel nur zur Reithosenhyp-
lus. Der Reflexerfolg ist eine Supinationsbewegung und -anästhesie am Gesäß. Es ist zu beachten, dass sich
des Fußes. Allerdings ist er nur bei allgemein lebhafter die radikulären Gefühlsstörungen nie auf das ganze
Reflexerregbarkeit festzustellen. Abschwächung oder Segment erstrecken, weil die Wurzeln im Querdurch-
Ausfall können nur verwertet werden, wenn der Re- messer nicht gleichmäßig stark geschädigt sind.
flex auf der Gegenseite deutlich positiv ist.
In 80% der Fälle ist ein Nervendehnungsschmerz auszulösen.
682 Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

31

. Abb. 31.13. MRT lumbal BSV. Links lateraler lumbaler Bandschei- degeneriert und der Prolaps reicht etwa nach kaudal in den Duralsack.
benvorfall (Pfeil) in sagittaler und axialer Ebene. Die Bandscheibe ist Die Wurzel ist verdrängt (Pfeil)

im Versorgungsgebiet der Kauda ausbreitet. Spätestens jetzt stellt Das Krankheitsbild sollte jedem Arzt vertraut sein, da die
sich eine schlaffe Lähmung ein, die in den Zehen beginnt (auf einzig sinnvolle Behandlung die Operation ist. Diese hat aber
Parese der Plantarflexion achten!) und zu den Unterschenkeln nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn sie innerhalb von 24 h aus-
aufsteigt. Sie ist stets distal am schwersten. Die Blase ist oft geführt wird. Je schwerer und rascher die Symptomatik ein-
gelähmt (Retention). Das Nachlassen der Schmerzen bei gleich- setzt, desto geringer werden die Aussichten auf völlige Wieder-
zeitigem Auftreten einer Lähmung zeigt an, dass die perforierte herstellung durch die Operation. Eine Besserung ist beim
Bandscheibe ausgestoßen worden ist. In leichteren Fällen kommt frühzeitigen Eingriff aber immer zu erwarten.
es nur zur akuten Sphinkterlähmung und Reithosenhypästhesie,
> Der akute, mediale, lumbale Bandscheibenvorfall ist
während die motorische Lähmung nur angedeutet ist.
ein neurochirurgischer Notfall.

Lokalisation. Sie ergibt sich aus den klinischen Symptomen:


4 Vorfall der Bandscheibe zwischen den Wirbeln L5 und S1
führt zur Kaudalähmung, d.h. Wurzelschädigung S1–S5. 31.8.5 Lumbaler, lateraler Bandscheibenvorfall
4 Bei Vorfall in Höhe der Wirbel L4/L5 ist vor allem die He-
bung von Fuß und Zehen paretisch. 3Epidemiologie. Der laterale lumbale BSV ist eine der häu-
4 Bei noch höherem Sitz (Wirbel L3/L4, sehr selten!) ist die figsten neurologischen Krankheiten, selbst wenn man sich nur
Oberschenkelmuskulatur gelähmt, der PSR abgeschwächt oder auf die Patienten konzentriert, bei denen ein BSV sicher nachge-
ausgefallen, und die Sensibilität ist an der Vorderseite der wiesen ist. Nicht jeder Rückenschmerz beruht auf einem Band-
Oberschenkel und Unterschenkel gestört. scheibenvorfall. BSV kommen bereits bei Jugendlichen vor, neh-
men im Alter aber an Häufigkeit zu. Männer sind häufiger betrof-
3Diagnose und Therapie. Die Diagnose muss und kann fen, Frauen leiden jedoch häufiger unter chronischen Rücken-
nach der Anamnese und dem neurologischen Befund gestellt schmerzen. Rückenschmerzen mit und ohne Bandscheibende-
werden und wird dann durch die MRT gesichert. Die Myelo- generation sind heute die häufigsten Gründe für eine frühzeitige
graphie wird nur noch in Ausnahmefällen und bei beson- Berentung. Prädisponierende Faktoren für BSV sind Bindegewebs-
derer Indikation präoperativ durchgeführt (. Abb. 31.13). Die schwäche, einseitige, körperliche Belastung, Übergewicht und
Myelo-CT ist eine Alternative für die Patienten, die keine degenerative Veränderungen der Wirbelsäule (die in der 2. Le-
MRT ertragen können. benshälfte bei den meisten Menschen gefunden werden).
31.8 · Erkrankungen der Bandscheiben
683 31
3Anamnese. Häufig werden anamnestisch rezidivierende, legen. Die Untersuchung wird trotzdem mit Sicherheit viel zu
akute Rückenschmerzen mit Fehlhaltung der Lendenwirbelsäu- häufig durchgeführt und sollte nur nach vorheriger, exakter,
le angegeben. Die akute Verschlechterung, den der Laie »Hexen- neurologischer Befunderhebung indiziert werden.
schuss« nennt, bezeichnen wir als »Lumbago«. Er beruht auf 4 Die Myelographie mit wasserlöslichen Kontrastmitteln
einem rückbildungsfähigen Vordringen des Nucl. pulposus mit lässt im seitlichen Strahlengang die Abhebung des Kontrast-
Druck gegen das hintere Längsband der Wirbelsäule, das als mittels nach dorsal in Höhe eines Zwischenwirbelraums (oder
vordere Begrenzung des Spinalkanals nur an den Bandscheiben mehrerer), und im sagittalen Strahlengang die einseitige, von
befestigt ist und locker über die Wirbelkörper zieht. Später extradural kommende Einengung des Duralsacks und Ver-
kommt es plötzlich beim schweren Heben, bei einer Drehung kürzung der betroffenen Wurzeltasche erkennen, sofern der
des Rumpfes oder beim Aufstehen, seltener innerhalb von Tagen Prolaps nicht zu weit lateral sitzt.
und ohne erkennbaren Anlass, zum Einriss des Anulus fibrosus, 4 Auch die CT mit intrathekaler Kontrastverstärkung
zum dorsolateralen Prolaps des Nucl. pulposus und dadurch zur (»Myelo-CT«) ist hilfreich, besonders präoperativ.
Kompression einer Rückenmarkswurzel. 4 Nativröntgenaufnahmen haben keinen Platz mehr in der
Diagnostik akuter Wirbelsäulenbeschwerden.
3Symptome. In der Regel überwiegen Schmerzen von seg- 4 Ein Bandscheibenvorfall kann nicht mit konventionellen
mentaler Ausbreitung, die sich bei Erhöhung des spinalen Röntgenaufnahmen diagnostiziert werden.
Drucks verstärken, verbunden mit Missempfindungen, die
sich auch in benachbarte Segmente ausbreiten können. In Es wird viel zu wenig beachtet, dass degenerative Wirbel-
90–95% der Fälle nachweisbare sensible Ausfälle (Hypästhesie säulenveränderungen mit zunehmendem Alter »normal« sind
und Hypalgesie), ebenfalls von radikulärer Verteilung. und keineswegs pathologische Bedeutung haben müssen. In
4 Paresen treten in wechselnder Ausprägung in den radi- der Praxis wird eine »Wirbelsäulenmythologie« betrieben, die
kulären Kennmuskeln auf. inzwischen ein unverantwortbares Ausmaß erreicht hat.
4 Die Läsion der sensiblen Wurzeln unterbricht den spinalen Elektrophysiologie: Die Elektroneurographie sollte zur
Reflexbogen, so dass frühzeitig der entsprechende Eigenreflex Beurteilung herangezogen werden, ob gleichzeitig eine Poly-
abgeschwächt ist oder erlischt. Nach der Lokalisation der Schä- neuropathie vorliegt. Das EMG kann bei der Frage, ob eine
digung ist dies meist der ASR. Läsion frisch oder alt ist, helfen: Denervierungszeichen treten
4 Nach etwa 3–4 Tagen werden die Schmerzen geringer, da- nicht vor 10 Tagen nach Beginn der Schädigung ein. Allerdings
für breitet sich, von distal nach proximal, ein Taubheitsgefühl können sie danach jahrelang bestehen, so dass ein Rezidiv
in dem betroffenen Segment aus. Dies zeigt an, dass die kom- nicht mit Sicherheit diagnostiziert oder ausgeschlossen werden
primierte Wurzel lädiert ist. Spätestens zu diesem Zeitpunkt kann. Die Bedeutung elektrophysiologischer Untersuchungen
können auch Lähmungen auftreten. für die Diagnose von Nervenwurzelläsionen ist begrenzt. Ihre
4 Blasenlähmung ist sehr selten. Bedeutung für die Indikation zur Operation ist noch geringer.
Reflexuntersuchungen und somatosensorische Potentiale sind
Charakteristisch sind Haltungsanomalien der Wirbelsäule: ebenfalls von geringer Bedeutung.
Aufhebung der Lendenlordose mit einseitig betonter Verspan- Der lumbale Liquor ist unmittelbar nach einem Prolaps
nung der langen Rückenstrecker und Skoliose der Wirbelsäule, normal, später kommt es in einem Teil der Fälle durch Trans-
die, je nach der Lagebeziehung des Bandscheibenvorfalls zur sudation zu einer leichten Eiweißvermehrung auf das Doppel-
Nervenwurzel, konkav oder konvex ist. Sie ist manchmal nur te des Normalen.
beim Vorwärtsbücken zu bemerken. Bei längerem Bestehen
kommt es zu einem Circulus vitiosus: Die Schmerzen führen 3Therapie. Im Stadium der Lumbago zunächst konserva-
zur Verspannung der Lendenmuskulatur. Diese bewirkt eine tive Therapie:
Fehlhaltung der Wirbelsäule, die wiederum die Wurzelkom- 4 Durch absolute Bettruhe, Rotlicht, Fangopackungen und
pression unterhält. Muskelrelaxanzien (wir geben Diazepam (z.B. Diazepam
Am häufigsten ist die vorletzte Lendenbandscheibe betrof- (Valium® (R) 5 mg bis zu dreimal täglich), weil es auch eine
fen, an zweiter Stelle steht die Bandscheibe des lumbosakralen erwünschte sedierende Wirkung hat) versucht man, die ver-
Übergangs. Lokalisation in den mittleren Lumbalsegmenten spannte Lendenmuskulatur zu lockern und den Circulus
ist seltener. vitiosus zu durchbrechen.
4 Analgetisch finden zunächst nichtsteroidale Antiphlogis-
3Diagnose. Die Indikation zur Anwendung bildgeben- tika (z.B. Diclofenac 200–300 mg pro Tag) Verwendung. Auch
der oder invasiver diagnostischer Verfahren (MRT, CT, Mye- Tizanidin (z.B. Sirdalud®) bis 3-mal 4 mg kann in Einzelfällen
lographie mit anschließendem Myelo-CT) muss klinisch helfen.
nach den Kriterien Dehnungszeichen, Parese mit Reflexab- 4 Hiermit nicht zu beherrschende Schmerzzustände kön-
schwächung und, erst an dritter Stelle, chronische und thera- nen mit einer kurzfristigen Gabe von milden Opiodanalgetika
pieresistente Schmerzen getroffen werden. behandelt werden.
4 Die MRT ist die Methode, die die beste Detailauflösung 4 Später, nach etwa 2 Wochen, wird der Patient durch Mas-
bietet (. Abb. 31.13). Daher kommen heute viele Patienten mit sagen und gymnastische Übungen wieder aktiviert. Para-
Rückenschmerzen schon mit einem lumbalen MRT in die vertebrale Injektionen, wie sie von Allgemeinmedizinern und
Klinik. Das MRT ist in seiner Auflösung dem CT weit über- Orthopäden gern gegeben werden, wenden wir nicht an.
684 Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

Exkurs
Operation bei lumbalen Bandscheibenvorfall
Details finden sich in den Lehrbüchern zur Neurochirurgie thetika und Steroiden an Nervenwurzeln und Arzneimitteln in
oder Orthopädie. Dennoch wird auch der konservative die degenerierte Bandscheibe eine Rolle spielen. Geworben
Neurologe immer wieder von Patienten zur Indikation der wird mit geringer Invasivität, der Möglichkeit der ambulanten
Operation befragt und sollte zumindest eine Grundidee zu Behandlung ohne Vollnarkose, wenig postoperativen Schmer-
den verschiedenen Behandlungsmethoden haben. zen und schneller Beschwerdefreiheit. Jede neue Methode
Wir unterscheiden den mikrochirurgischen neurochirur- findet schnell ihre Anhänger und von Vergleichsstudien mit
gischen Eingriff, der heute vielerorts die älteren makros- der konventionellen Therapie will man nichts hören.
kopischen Operationen (Stichwort: Hemilaminektomie) Den Patienten kann man nicht übel nehmen, wenn sie
abgelöst hat, von den heute sehr publikumswirksam an- den Anpreisungen geringerer Nebenwirkungen, schneller
gepriesenen und oft unkritisch angewandten anderen so- Schmerzfreiheit und den vielen positiven Erfahrungsberichten
genannten »minimal-invasiven« Verfahren. Glauben schenken. Manche Protagonisten erfreuen sich
höchster Medienpräsenz und schreiben Bestseller über ewige
Mikrochirurgischer Eingriff. Dieser Eingriff ist in der Regel Rückengesundheit.
eine erweiterte interlaminäre Fensterung. Die Operation Vermutlich sind solche Verfahren sogar für einige, aber
erfolgt in Bauchlage. Röntgenologisch wird die Bandschei- nicht für alle Patienten hilfreich. Allerdings entwickelt sich hier
benhöhe markiert. Über einen Hautschnitt von ca. 3–4 cm ein Markt mit hoch technisiertem, aber unkritisch eingesetz-
und die Inzision der lumbalen Muskelfaszie wird nach Ab- tem und höchst lukrativem Handwerkszeug, das eine nicht zu
drängen der paravertebralen Muskulatur ein Spekulum unterschätzende medizin-ökonomische Bedeutung hat.
eingesetzt und das interlaminäre Fenster zwischen zwei Viele Patienten mit »minimal-invasiven« Eingriffen stellen
Wirbelbögen dargestellt. Dieses Fenster wird anschließend sich nach einigen Wochen, in denen sie sich besser gefühlt
31 eröffnet, der Duralschlauch und ggf. der Wurzelabgang haben, erneut mit den gleichen Beschwerden vor. Wenn dann
dargestellt und der frei sequestrierte Bandscheibenvorfall die bildgebenden Verfahren wiederholt werden, ist man meist
entfernt. Wenn kein Kontakt zwischen dem frei sequestrier- überrascht, dass alles genauso aussieht wie vorher. Eine mor-
ten Bandscheibenvorfall und dem Bandscheibenfach besteht phologische Veränderung durch den Eingriff ist nicht festzu-
und auch keine Protrusion oder sonstige stärkere Degenera- stellen. Hier scheint der Begriff »minimal« sehr strapaziert und
tion des Bandscheibenfachs vorliegt, kann man es bei der das Invasive vergessen zu werden. Abgerechnet werden die
Sequesterektomie belassen. Maßnahmen allerdings – und nicht nur »minimal«.
4 In der Regel wird eine Nukleotomie angeschlossen. Dies
ist auch immer der Fall, wenn ein gedeckt-sequestrierter Bandscheibenprothese. Bei einer Bandscheibenoperation,
Bandscheibenvorfall operativ beseitigt werden muss. auch insbesondere mit einer Nukleotomie, wird im Lumbal-
4 Nur bei intra- und extraforaminalen Bandscheibenvor- bereich in der Regel kein Abstandshalter in das Bandscheiben-
fällen wird meist ein etwas größerer Zugang gewählt. Daher fach am Ende der Operation eingebracht. Cages werden nur
ist hier die Rekonvaleszenz etwas länger. bei einer interkorporellen Fusion benötigt. In den letzten
4 Nach einer mikrochirurgischen Bandscheibenoperation Jahren sind aber auch immer wieder lumbale Bandscheiben-
können Patienten am kommenden Tag wieder voll mobili- prothesen bei jungen Patienten mit starken Lumboischialgien
siert werden. Der Eingriff ist wenig traumatisch. Er erfolgt und Bandscheibenprotrusionen erprobt worden. Ihr Einsatz
heutzutage immer mit Hilfe eines Operationsmikroskops. wird derzeit durch keine solide Evidenz unterstützt.
Dies ist bei zervikalen Bandscheibenoperationen etwas
»Minimal-invasive« Operationsmethoden. Unter diesem anders. Hier gibt es tatsächlich in jüngster Zeit Hinweise da-
Begriff wird eine Vielzahl unterschiedlichster Behandlungs- rauf, dass insbesondere bei jungen Patienten nach einer vent-
varianten zusammengefasst. Es kommen ständig neue Va- ralen Diskektomie eine Bandscheibenprothese mit der Mög-
rianten »minimal-invasiver« Methoden auf den Markt, bei lichkeit der Erhaltung der Beweglichkeit eines Segments güns-
denen Laser, Endoskope, aber auch die Injektion von Anäs- tig sein könnte.

4 Manchmal hat i.v. Kortison (Dexamethason oder Pred- 4 Misserfolge sind dadurch möglich, dass 10% der Band-
nisolon) eine dramatische, schmerzlindernde Wirkung. Lage- scheibenvorfälle multipel sind. Nach Rezidivoperationen be-
rung auf harter Unterlage (Brett unter der Matratze) oder im steht die Gefahr einer Arachnopathie.
Stufenbett wird oft als angenehm empfunden. 4 Die modernen minimal-invasiven Operationsmethoden
(Chemonukleolyse, endoskopische Operation) sind kritisch zu
Operative Therapie (s. auch Exkurs) hinterfragen und sorgfältig anzuwenden. Es sollte immer eine
4 Wenn eine Lähmung vorliegt, wird man nach MRT oder individuelle interdisziplinäre Entscheidung sein. Für die Patien-
Myelographie mit Myelo-CT eine Operation des Nukleuspro- ten, bei denen wir eine Operationsindikation stellen, sind die
laps vornehmen. Methoden fast nie geeignet, weil die Beschwerden und die Aus-
4 Die offene Operation wird mikrochirurgisch, meist ohne dehnung des (sequestrierten) Bandscheibenvorfall zu stark
halbseitige Entfernung des Wirbelbogens (Hemilaminekto- sind.
mie) durch das Lig. flavum ausgeführt.
31.8 · Erkrankungen der Bandscheiben
685 31
Exkurs
Chronische, therapieresistente Rückenschmerzen
Diese sind mit oder ohne Ausstrahlung in die Beine sehr den Patienten und die Beobachtung des Verhaltens bei der
häufig psychisch bedingt. Das Spektrum reicht von der so- körperlichen Untersuchung erspart das Ausweichen auf immer
matisierten Depression über die chronische Konfliktreaktion neue radiologische Untersuchungen, die im ungünstigen Fall
bis zum Rentenbegehren. Man muss die psychologische falsch-positive Befunde liefern, d.h. z.B. altersentsprechende
Situation erkennen und den Patienten eine physikalische degenerative Veränderungen zeigen, die die Beschwerden
Therapie anbieten, die nicht auf Ruhigstellung, sondern auf nicht erklären. Die Mitteilung an den Patienten, seine Wirbel-
Übung und Kräftigung ausgerichtet ist. Sie wird bei Bedarf säule sei verschlissen oder er habe eine Nerveneinklemmung,
durch ein Thymoleptikum ergänzt. Ein längeres Gespräch mit kann bei Rückenschmerzen nur zur Chronifizierung beitragen.

Bei allen Fortschritten in Bildgebung und Operationstech- 31.8.7 Claudicatio des thorakalen Rückenmarks
nik wird die Indikation zur chirurgischen Behandlung
des Bandscheibenvorfalls nach neurologischen Kriterien ge- Dieses seltene, ischämisch bedingte Syndrom beruht auf belas-
stellt. tungsabhängiger Ischämie des meist unteren Thorakalmarks
und äußert sich mit intermittierender Spastik und Sensibili-
tätsstörungen der langen Bahnen, also zentralen Symptomen
31.8.6 Arachnopathie im Gegensatz zu den peripheren Zeichen bei der Claudicatio
der Cauda equina. Oft liegt eine Arteriosklerose der Aorta
3Epidemiologie und Lokalisation. Eine Arachnopathie vor.
kann sich langsam progredient, mit einer Latenz bis zu 5 Jahren
nach wiederholter Myelographie mit älteren Kontrastmitteln,
nach spinalen Operationen (Bandscheibenvorfall), nach Wir- 31.8.8 Claudicatio der Cauda equina
beltraumen mit Blutungen in die Rückenmarkhäute (z.B. Kom-
pressions- und Luxationsfraktur) und nach Meningitis, selten Die Claudicatio der Cauda equina ist in Kap. 10 besprochen.
auch spontan entwickeln. Sie erstreckt sich meist über mehrere Auch bei der vaskulären Claudicatio intermittens treten die
Segmente. Symptome nach körperlicher Belastung auf und lassen in
Ruhe nach. Charakteristisch sind heftige Wadenkrämpfe,
3Symptome. Die Symptomatik ist uncharakteristisch. nicht jedoch Spannungs- und Schweregefühl bis zur flüch-
Missempfindungen, sehr schwer behandelbare Schmerzen, tigen Lähmung. Der neurologische Befund bleibt lange
sensible Ausfälle und Lähmungen, Wurzel- und Strangsymp- normal.
tome können nebeneinander bestehen. Der Verlauf ist zu-
nächst oft remittierend, später langsam progredient. Selten Differentialdiagnose
kommt es zur kompletten Querschnittslähmung oder zum 3 Ilioinguinalis-Syndrom. Beim Kompressionssyndrom,
vollständigen Kaudasyndrom. N.-ilioinguinalis-Syndrom, klagen die Kranken über Schmer-
zen in der Leiste, die bei Beugung im Hüftgelenk nachlassen
3Diagnose und Therapie. Im MRT reichern die arachni- und bei Hüftstreckung (ähnlich dem umgekehrten Lasègue)
tischen Herde deutlich an. Bei der Myelographie zeigt sich ein sowie beim Anspannen der Bauchmuskeln zunehmen.
tropfenförmiges Hängenbleiben des Kontrastmittels über Der Nerv (aus den Wurzeln L1 und L2) innerviert moto-
mehrere Segmente. Im Liquor findet sich gewöhnlich eine risch die kaudalen Anteile der queren Bauchmuskeln. Sein
leichte Eiweißvermehrung, nur selten dagegen eine Pleozytose. sensibler Endast hat intraabdominell einen komplizierten Ver-
Wegen der großen Längsausdehnung ist eine operative Lö- lauf. Die Läsion liegt am Durchtritt durch den M. obliquus
sung der Verwachsungen oft nicht möglich. Schmerzbehand- abdominis ext. Davor und danach wechselt der Nerv jeweils
lung und Behandlung der Spastik stehen im Vordergrund. fast im rechten Winkel zweimal die Richtung.
Zunächst versucht man eine medikamentöse Schmerzbehand- Beim Ilioinguinalis-Syndrom wird der Oberschenkel zur
lung. Die transkutane Nervenstimulation kann nützlich sein. Entlastung des Nerven adduziert und leicht innenrotiert gehal-
Neurochirurgische Maßnahmen, wie Pumpensysteme zur in- ten. In der Leiste, bis zur proximalen Genitalregion, manchmal
trathekalen Schmerzbehandlung, die perkutane Chordotomie, auch an der Innenseite des Oberschenkels, kann eine Hypäs-
die Hinterstrangstimulation oder die Thalamusstimulation thesie und Hyperpathie bestehen. Der Durchtrittspunkt des
können notwendig werden. Bei Spastik gibt man Baclofen Nerven durch die Bauchwand oberhalb der Spina iliaca vent-
(z.B. Lioresal®) bis 75 mg/Tag, Tizanidin (z.B. Sirdalud®) bis ralis superior ist schmerzhaft. Seine Infiltration mit Novocain
3-mal 4 mg oder das direkt am Muskel angreifende Dantrolen- beseitigt die Spontanschmerzen.
Na (z.B. Dantamacrin®, langsam bis auf ca. 400 mg/Tag stei- 4 Therapie. Da die Beschwerden auf einer mechanischen
gern) per os. Gegen die Spastik können Pumpen, die über ei- Kompressionsschädigung des Nerven beruhen, wird er mit
nen intrathekalen Katheter Baclofen applizieren, wirksam einem Lokalanästhetikum infiltriert oder bei Versagen der
sein. Injektionsbehandlung durch Neurolyse freigelegt.
686 Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

Exkurs
Konusfixation (Tethered Cord-Syndrom)
3Definition. Für dieses Syndrom gibt es keinen einpräg- 3Symptome. Die neurologische Symptome beginnen
samen deutschen Namen, die direkte Übersetzung als »fest- schon im Kindes- und Jugendalter, mit dem starken Wachstum
gebundenes Seil »klingt weniger griffig als das englische der Wirbelsäule, und stellen eine Mischung aus zentralen mit
Tethered cord. Es handelt sich um eine angeborene Verwach- einzelnen peripheren Störungen dar: Paraspastik, Sphinkter-
sung des untersten Ausläufers des Rückenmarks, des Filum dysfunktion und distale atrophische Paresen mit Hohlfuß
terminale, mit der Dura am Boden des sakralen Spinalkanals. treten auf. Auch eine Claudicatio spinalis kann vorkommen.
Beim Wachstum der Wirbelsäule wächst das Rückenmark, im Die Kombination mit Spaltbildungen ist nicht selten, abnorme
Gegensatz zu den Kaudafasern nicht mit, und es entsteht ein Behaarung oder Nävi können äußere Zeichen sein.
Zug auf den Konus, der dadurch ungewöhnlich tief nach
unten, bis auf Höhe L3 oder L4 verlagert wird. Normalerwei- 3Therapie. Chirurgische Entlastung mit Lösen des anhaf-
se endet der Konus in Höhe Th11 oder 12. Selten kann ein tenden Filums.
ähnliches Syndrom durch postoperative Verwachsungen und
Narben entstehen.

3Facettensyndrom. Rückenschmerzen mit radikulärer Paresen treten nicht auf. Dieses sog. Facettensyndrom muss
Ausstrahlung können auch von den intervertebralen Gelenken orthopädisch behandelt werden.
ausgehen. Anders als bei den Wurzelreiz- und Wurzelaus- Die CT-gesteuerte Injektionen von Antiphlogistika in die
fallsymptomen bleibt jedoch die Sensibilität voll erhalten, und Nähe der betroffenen Gelenke sind sehr wirksam.
31 In Kürze

Hirnnervenläsionen

N. oculomotorius (Hirnnerv III). Symptome: komplette Botulinumtoxin, operative Therapie. Differentialdiagnose:


Okulomotoriuslähmung mit Ptose, aufgehobener Linsen- Psychogener Gesichts-Tic, hemifaziale Myokymie, halbseitiger
akkomodation, fehlenden Doppelbildern, mydriatischer und Kopftetanus.
lichtstarrer Pupille durch basales Aneurysma, Trauma, basale
Meningitis, Neoplasma der Schädelbasis. Äußere Okulomo- N. accessorius (Hirnnerv XI). Symptome: Lähmung der Mm.
toriuslähmung verursacht durch Läsion im Kerngebiet des sternocleidomastoideus und trapezius. Ursache: Chirurgischer
Nerven mit erhaltener autonomer Innervation von Pupille und Eingriff im lateralen Halsdreieck, primäre und metastatische
Ziliarmuskel. Ophthalmoplegia interna ausgelöst durch Tumoren an Schädelbasis. Therapie: Primäre Nervennaht bei
Schädigung im peripheren Verlauf der Nerven mit Lähmung akzidenteller Durchtrennung.
nur autonomer Fasern und mit weiter, lichtstarrer Pupille.
N. hypoglossus. Symptome: Lähmung und Atrophie der
N. trochlearis (Hirnnerv IV). Symptome: Fortfall der Sen- Zunge (weicht zur gelähmten Seite ab), mühsames Sprechen.
kerfunktion des Muskels verursacht schräg stehende Dop- Ursache: Prozesse der Schädelbasis und bei Polyneuritis
pelbilder. Ursache: Trauma, Diabetes, basale Tumoren. cranialis.

N. abducens (Hirnnerv VI). Symptome: Auge kann nicht Läsionen des Plexus cervicobrachialis
nach außen gewendet werden, horizontal nebeneinander
stehende, gerade Doppelbilder. Ursache: Nervenschädigung Obere Plexuslähmung: Fasern der Wurzeln C5-C6(-7) lädiert;
bei allgemeinem Hirndruck, Schädelbasisbruch, entzünd- Arm hängt schlaff und nach innen rotiert herunter, kann im
liche, neoplastische Prozesse an Schädelbasis. Schultergelenk nicht gehoben und nach außen rotiert werden.
Untere Plexuslähmung: Fasern der Wurzeln (C7-)C8-Th1
N. facialis (Hirnnerv VII). Symptome: Prodromalstadium lädiert; atrophische Parese der kleinen Handmuskeln und
mit Sensibilitätsstörung in Ohrmuschel, Gehörgang oder langen Fingerbeuger, Ausfall des Fingerflexorenreflexes,
hinter dem Ohr, Fazialislähmung. Ursache: Entzündungen Horner-Syndrom.
und Neoplasmen der Schädelbasis, lymphozytäre Meningitis, Komplette Plexuslähmung bildet sich als obere oder untere
Mastoiditis, Otitis media. Therapie: Kortisonbehandlung. Plexusschädigung nach Trauma aus.
Spasmus hemifacialis als einseitige Bewegungsunruhe der
ausschließlich vom VII. Hirnnerv versorgten Muskeln. Ursa- Traumatische Plexusläsionen. Ursache: Nach Motorrad-
che: Analog zur Trigeminusneuralgie, abnorme Erregungs- oder Arbeitsunfall wird Plexus durch Prellung oder Zug ge-
produktion durch lokalen Druck im Nervenverlauf. Therapie: schädigt. Evtl. operative Revision.
6
31.8 · Erkrankungen der Bandscheiben
687 31

Neuralgische Schulteramyotrophie. Symptome: Heftige N. ulnaris (C8-Th1). Unter anderem Ulnarflexion der Hand,
Schmerzen in Schulter und Oberarm, atrophische Lähmung. Beugung in Grundphalangen. Symptome: »Krallenhand«,
Therapie: Kortikoide, Schmerzmittel, lokale Wärmeanwen- Sulcus-ulnaris-Syndrom, Syndrom der distalen Ulnarisloge.
dung, frühzeitig Lagerung in Abduktion, passive und aktive Therapie: Mikrochirurgische Operation zur Freilegung des
Bewegungsübungen. Nervs.

Skalenussyndrom. Symptome: Im 3.–4. Lebensjahrzehnt Läsionen des Plexus lumbosacralis


einsetzende Schmerzen, Parästhesien auf ulnarer Unterarm-
und Handseite. Diagnose: Adson-Manöver, MRT, Ultraschall. Symptome: Paresen der Hüftbeuger, -rotatoren, Kniestrecker
Therapie: Operative Behandlung durch Skalenotomie bei und Adduktoren des Oberschenkels durch raumfordernde,
motorischen Ausfällen. retroperitoneale Blutungen, lokale Traumen. Differential-
diagnose: Elsberg-Syndrom, multiple, radikuläre Syndrome
Läsionen einzelner Nerven des Plexus cervicobrachialis bei Wirbelsäulenmetastasen oder Meningeosis carcinomatosa,
Verschluss der Beckenarterien.
N. suprascapularis (C4-C6). Drehen des Armes im Schulter-
gelenk nach außen. Symptome: Suprascapularis-Engpass- Läsionen einzelner Nerven des Plexus lumbosacralis
Syndrom, Lähmungen der Oberarmseitelevation und Außen-
rotation.Therapie: Chirurgische Spaltung des die Inzisur N. cutaneus femoris lateralis (L2 und L3). Symptome: Paräs-
überspannenden Bandes. thesien, Überempfindlichkeit der Haut für leichte Berührung,
Hypästhesie. Therapie: Lokale Maßnahmen, da Störung harm-
N. thoracicus longus (C5-C7). Drehen und Ziehen des los.
Schulterblattes nach außen, Fixieren des medialen Randes
am Thorax, Hebung des Armes. Symptome: Lähmungen N. femoralis (L2-L4). V.a. Beugen des Oberschenkels im Hüft-
nach längerem Tragen schwerer Lasten oder Operationen in gelenk, Streckung des Unterschenkels im Kniegelenk. Symp-
Achselhöhle. tome: Ausstrahlender Schmerz, schwere Lähmung.

N. thoracodorsalis (C6-C8). Senken und Rückwärtsführen N. glutaeus superior (L4-S1). Abduktion, Innenrotation
des erhobenen Armes. Symptome: Geringere Kontraktion im Hüftgelenk. Symptome: Bei doppelseitiger Lähmung Wat-
auf gelähmter Seite beim Husten. schelgang; Gesäßhälfte auf gelähmter Seite tellerförmig einge-
fallen.
Nn. thoracici anteriores (C5-Th1). Adduktion der Arme.
Symptome: Bei Atrophie treten Klavikula und knöcherne N. glutaeus inferior (L5-S2). Streckung des Oberschenkels im
Thorax hervor, vordere Begrenzung der Axilla ist verschmäch- Hüftgelenk. Symptome: Bei doppelseitiger Lähmung er-
tigt. schwertes Treppensteigen, Aufrichten aus Sitz. Gesäßhälfte
atrophisch.
N. axillaris (C5-C7). Außenrotation und Abduktion des
Armes. Symptome: Armhebung bis zur Horizontalen nicht N. obturatorius (L2-L4). Adduktion in der Hüfte, Außen-
möglich, abgeschwächte Schulterwölbung. rotation, Beugung und Innenrotation im Knie. Symptome:
Abgeschwächter oder ausgefallener Adduktorenreflex, Kniege-
N. musculocutaneus (C6-C7). Beugung des Armes im Ellen- lenkschmerzen.
bogengelenk. Symptome: Motorische Lähmung nach Schulter-
luxation, sensible Schädigung nach paravenöser Injektion. N. ischiadicus (L4-S3). Außenrotation des Oberschenkels im
Hüftgelenk. Symptome: Beeinträchtigung der Funktion des
N. radialis (C5-Th1). Supination und Streckung des Unter- Standbeins beim Gehen.
arms im Ellenbogengelenk, Streckung von Handgelenk und
Fingern. Symptome: obere Radialislähmung: TSR abge- N. peronaeus (L4-S2). Unter anderem Pronation des äußeren
schwächt. Mittlere Radialisparese: Fallhand mit Schwäche Fußrandes, Extension, Supination des Fußes. Symptome:
für Extension im Handgelenk. Untere Radialislähmung: Spitzfuß, »Steppergang« oder »Hahnentritt«.
Abduktion des Daumens in Handebene, Strecken der Finger
im Grundgelenk nicht möglich, keine Fallhand. N. tibialis (L4-S3). Unter anderem Plantarflexion, Adduktion
und Supination des Fußes. Symptome: Schmerzen beim
N. medianus (C6-C8). Unter anderem Beugung und Radial- Gehen; Wade und Fußgewölbe sind atrophisch, Krallenstellung
flexion der Hand, Pronation von Unterarm und Hand. Symp- der Zehen, Fuß ist proniert, Achillessehne erschlafft.
tome: Unter anderem »Schwurhand«, »Affenhand«, Karpal-
tunnelsyndrom, Sensibilitätsstörung.
6
688 Kapitel 31 · Schädigungen der peripheren Nerven

Akuttherapie der peripheren Nervenschädigungen Lumbosakraler, medialer BSV. Symptome: Nach seitlicher
Drehbewegung, schwerem Heben akute, heftige Rücken-
Konservative Therapie: Krankengymnastik, Thrombosepro- schmerzen mit reflektorischer Bewegungseinschränkung der
phylaxe, Lagerung, medikamentöse Therapie, Stimulations- unteren Wirbelsäule, schlaffe Lähmung. Therapie: Erfolgreiche
verfahren. Operation innerhalb von 24 h.
Operative Behandlung: Nervennähte, mikrochirurgische
interfaszikuläre Neurolyse. Lumbaler, lateraler BSV. Symptome: Rezidivierende, akute
Rückenschmerzen mit steifer Fehlhaltung der Lendenwirbel,
Erkrankungen der Bandscheiben Taubheitsgefühl, Lähmungen der von der betroffenen Ner-
venwurzel versorgten Muskulatur nach schwerem Heben, bei
Zervikaler oder thorakaler, medialer Bandscheibenvor- Drehung des Rumpfes oder beim Aufstehen. Therapie: Kon-
fall (BSV). Akute Querschnittssymptomatik mit erheblichen servative Therapie im Lumbagostadium mit Bettruhe, Rotlicht,
Schmerzen und reflektorischer Steilhaltung der Wirbelsäule Fangopackungen, Muskelrelaxanzien. Offene Operation bei
in betroffener Region. Lähmung.

Zervikaler, lateraler Bandscheibenvorfall. Symptome: Arachnopathie. Symptome: Missempfindungen, sensible


Schmerzen und Sensibilitätsstörungen liegen höher oder Ausfälle, Lähmungen. Therapie: Schmerz- und Spastikbehand-
tiefer als betroffenes Segment. Konservative oder operative lung, transkutane Nervenstimulation, neurochirurgische Maß-
Therapie. nahmen.

Zervikale Myelopathie. Symptome: Wie bei langsam wach- Differentialdiagnose. Ilioinguinalis-Syndrom, Facettensyndrom.
31 sendem Halsmarktumor, Brown-Séquard-Syndrom, Reflex-
sprung, Paraspastik. Therapie: Neurochirurgische, dorsale
Dekompressionsoperation.
32

32 Polyneuropathien, Immun-
neuropathien und hereditäre
Neuropathien
32.1 Allgemeine Vorbemerkungen – 690
32.1.1 Definition und Einteilung – 690
31.1.2 Leitsymptome – 691
32.1.3 Diagnostik – 693
32.1.4 Allgemeine Therapie – 695

32.2 Metabolische Polyneuropathien – 695


32.2.1 Diabetische Polyneuropathie – 695
32.2.2 Andere, metabolische Polyneuropathien – 697
32.2.3 Polyneuropathie bei Vitaminmangel und Malresorption – 697

32.3 Toxisch ausgelöste Polyneuropathien – 698


32.3.1 Medikamenteninduzierte Polyneuropathien – 698
32.3.2 Polyneuropathien bei Lösungsmittelexposition – 698

32.4 Polyneuropathie bei Vaskulitiden und bei Kollagenosen – 700


32.4.1 Panarteriitis nodosa – 700
32.4.2 Polyneuropathie bei rheumatoider Arthritis – 701

32.5 Hereditäre, motorische und sensible Neuropathien (HMSN)


(auch: CMT (Charcot-Marie-Tooth(-Gruppe))) – 701
32.5.1 CMT Typ 1 – 702
32.5.2 Andere hereditäre sensomotorische Neuropathien – 704

32.6 Immunneuropathien (Guillain-Barré-Syndrom und Varianten) – 705


32.6.1 Akut inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie
(AIDP, Guillain-Barré-Syndrom (GBS)) – 705
32.6.2 Chronische Immunneuropathien (chronisch inflammatorische demyelinisierende
Polyneuropathie (CIDP) und Varianten – 708
32.6.3 Miller-Fisher-Syndrom (MFS) – 709
32.6.4 Multifokale, motorische Neuropathie (MMN) – 709

32.7 Entzündliche Polyneuropathien bei direktem Erregerbefall – 710


32.7.1 Lepra-Neuropathie – 710
32.7.2 HIV-assoziierte Neuropathien – 711

32.8 Botulismus – 711

32.9 Dysproteinämische und paraneoplastische Polyneuropathien – 712

32.10 Erkrankungen des vegetativen Nervensystems – 713


32.10.1 Komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS, Sudeck-Syndrom) – 713
32.10.2 Akute Pandysautonomie und verwandte Krankheiten – 713
32.10.3 Familiäre Dysautonomie – 713
32.10.4 Kongenitale sensorische Neuropathie mit Anhidrose – 713
690 Kapitel 32 · Polyneuropathien, Immunneuropathien und hereditäre Neuropathien

> > Einleitung bleibt anfechtbar, zumal Ätiologie und Pathogenese bei vielen
PNPs noch unbekannt sind.
Ein Herzinfarkt ist ein Notfall und wird rasch erkannt, weil er so
schmerzhaft ist. Manche Patienten erleiden allerdings einen 3Einteilung nach klinischem Verteilungsmuster der Symp-
schmerzlosen Herzinfarkt, das Alarmsignal »Schmerz« fehlt, und tome. Wir unterscheiden:
diese Patienten haben eine schlechtere Prognose, da sie erst viel 4 die distale, symmetrische Form,
später zur Notfallbehandlung kommen. Warum sind manche 4 die Schwerpunktpolyneuropathie (z.B. auf proximale
Infarkte schmerzlos? Es sind Infarkte bei Patienten mit einer Muskelgruppen oder den Plexus bezogen) und
durch eine diabetische Polyneuropathie bedingte Störung der 4 die Mononeuritis multiplex mit multifokalem, asymmet-
dünnen Schmerzfasern, die das Myokard versorgen. rischem Befall verschiedener peripherer Nerven.
Die Polyneuropathien (PNP) sind systemische Krankheiten
der peripheren Nerven, von denen, in unterschidelichem Aus- Je nach Beteiligung der einzelnen Modalitäten werden die Ver-
maß, motorische, sensible und vegetative Nervenfasern erfasst teilungsmuster mit den Zusätzen »senso-motorisch«, »moto-
werden. Die bei weitem häufigsten Ursachen sind Diabetes und risch«, »sensibel« oder »vegetativ« (autonom) belegt.
Alkoholabusus. Auch viele Medikamente, hier besonders Medika-
mente, die bei Chemotherapien eingesetzt werden, und manche 3Einteilung nach bevorzugtem Befall von Markscheide
toxischen Substanzen können Polyneuropathien auslösen, aber oder Axon. Man kennt PNPs mit primärer, segmentaler Mark-
vermutlich nicht so häufig, wie es oft angenommen wird. Aller- scheidenveränderung, solche mit primär axonaler Degenera-
dings bleiben mindestens 30% der PNP ätiologisch ungeklärt, tion und gemischte, d.h. beide Anteile der Nervenfaser betref-
trotz zum Teil sehr aufwendiger Diagnostik. Weitere 10% werden fende PNPs.
bei einer Nachuntersuchung in 6 Monaten oder 1 Jahr ätiolo- Diese Typen lassen sich histopathologisch und mit Hilfe
gisch geklärt. von Elektromyogramm und Elektroneurogramm unter-
Eine weitere Gruppe der Polyneuropathien sind genetisch scheiden. Beim Ausfall einzelner Axone verändert sich die
bedingt. Hier ist eine ausführliche Anamnese, insbesondere die Erregungsleitung in den noch erhaltenen Fasern nicht nen-
32 Familienanamnese, wichtig, um eine möglichst gezielte moleku- nenswert. Bei diffuser oder umschriebener Markscheiden-
largenetische Untersuchung veranlassen zu können. Neue Ein- erkrankung kommt es frühzeitig zur Verlangsamung der Ner-
teilungen dieser Gruppe helfen diagnostisch weiter. Es bleibt zu venleitgeschwindigkeit. In fortgeschrittenen Krankheitssta-
hoffen, dass, wie auch in anderen Bereichen der Neurologie, dem dien sind fast immer beide Strukturen betroffen, wobei oft
diagnostischen Fortschritt auch bald therapeutische Konsequen- die Schwann-Zellen erhalten bleiben und ihre regenerative
zen folgen. Potenz behalten.
Eine wichtige, weil therapeutisch relevante Gruppe der
Polyneuropathie sind die immunologisch bedingten Neuropa- 3Einteilung auf ätiologischer Basis. Die PNPs werden ein-
thien. Am bekanntesten ist das Guillain-Barré-Syndrom, das zu geteilt in
einem schweren, tetraplegischen Syndrom mit über Wochen und 4 hereditäre,
Monate, manchmal Jahre bestehenden, aber dennoch rückbil- 4 entzündliche (akut oder chronisch),
dungsfähigen Lähmungen führt. Die therapeutischen Optionen 4 metabolische (Diabetes mellitus, Hypothyreose, Urämie),
bestehen aus Immunglobulinen, Plasmapherese oder Immunad- 4 ernährungsbedingte,
sorption. Manche dieser Patienten müssen aber über lange Zeit 4 exogen toxische (Alkohol, Schwermetalle, Medikamente
intensivmedizinisch behandelt und maschinell beatmet werden wie Chemotherapeutika, Lösungsmittel) oder
und benötigen wegen der vegetativen Denervierung des Her- 4 immunologisch vermittelte (Kollagenosen, Paraproteinä-
zens gelegentlich vorübergehend einen Herzschrittmacher. Und mie, paraneoplastisch (. Tabelle 32.1)).
hier schließt sich wieder der Kreis zum Anfang, dem schmerz-
losen Herzinfarkt. Wenn man die Einteilungsprinzipien kombiniert, sieht man
folgende Beziehungen: Zu den primär axonalen Polyneuro-
pathien gehören unter anderen:
32.1 Allgemeine Vorbemerkungen 4 die meisten toxischen PNP,
4 die meisten paraneoplastischen PNP,
32.1.1 Definition und Einteilung 4 die meisten Fälle von alkoholischer PNP,
4 die vaskuläre PNP, z.B. bei Immunkomplexangiitis oder
Polyneuropathien (PNP) sind generalisierte Erkrankungen des Panarteriitis,
peripheren Nervensystems (PNS). Zum PNS gehören alle au- 4 die PNP bei Porphyrie und
ßerhalb des Zentralnervensystems liegenden Teile der moto- 4 die chronische Variante des Guillain-Barré-Syndroms.
rischen, sensiblen und autonomen Nerven mit ihren Blut- und
Lymphgefäßen. Zu den PNP mit primärem Markscheidenbefall rechnet man
Es gibt keine Klassifikation der mannigfachen Formen der zum Beispiel:
PNP, die unter ätiologischen, pathogenetischen, histologischen, 4 die Polyneuritis vom Typ Guillain-Barré (GBS),
elektrophysiologischen und klinischen Gesichtspunkten glei- 4 viele Fälle von diabetischer PNP,
chermaßen befriedigend wäre. Jeder Versuch einer Ordnung 4 seltene Fälle von alkoholischer PNP,
32.1 · Allgemeine Vorbemerkungen
691 32

. Tabelle 32.1. Ätiologie der Polyneuropathien


PNP bei Stoffwechselstörungen PNP bei Mangel- und Fehlernährung
– bei Diabetes mellitus – Vitamin-Resorptionsstörungen
– bei Urämie – Mangelernährung
– bei Leberzirrhose – Sprue
– bei Hypothyreose

PNP bei exogenen-toxischen Störungen PNP bei Kollagenosen


– Alkohol – Panarteriitis nodosa
– Medikamente, besonders Chemotherapeutika – Andere Kollagenosen
– Lösungsmittel
– Schwermetalle
Genetisch bedingte PNP Entzündliche und autoimmune Neuropathien
– Hereditäre motorische und sensible Neuropathien – akute Immunneuropathien (GBS)
– PNP bei erblicher Amyloidose – subakute und chronische Immunneuropathien
– Neuropathie mit Neigung zu Druckparesen – infektiöse Neuropathien (Lepra, HIV)
– PNP bei Porphyrie – Neuropathie bei Infektionen mit Toxin-produzierenden Erregern
(Botulismus)
– Borreliose
– paraneoplastisch
Polyneuropathie bei Dys- und Paraproteinämie PNP bei Tumoren
– Gammopathien – direkte Tumor-Infiltration multipler Nerven
– M. Waldenström – paraneoplastisch (antikörpervermittelt)

4 die akute, nephrogene PNP, Dysästhesie kombiniert. Bei manchen Formen steht die Beein-
4 die PNP bei Gammopathien und trächtigung der Lagewahrnehmung und der Vibrationsemp-
4 manche hereditäre Neuropathien. findung ganz im Vordergrund. Man spricht dann von einer
ataktischen PNP. Der unterschiedliche Befall verschiedener
sensibler Qualitäten zeigt eine selektive Schädigung bestimm-
31.1.2 Leitsymptome ter Fasergruppen innerhalb der Nerven an. So sind z.B. die
dünn-myelinisierten A-Delta-Fasern für die Kälteempfindung
Die Kardinalsymptome der PNP sind schlaffe Lähmungen, und die unmyelinisierten C-Fasern für die Wärmeempfindung
sensible Reiz- und Ausfallserscheinungen und vegetative Stö- verantwortlich.
rungen. Sie sind oft etwa gleich stark ausgeprägt. Es gibt aber
auch Formen, die klinisch das Bild einer vorwiegend oder rein
. Tabelle 32.2. Sensible und motorische Leitsymptome bei PNP
motorischen oder sensiblen PNP bieten (. Tabelle 32.2).
4 Lähmungen: Die Lähmungen sind in der Regel nicht auf Reiz- und – Kribbeln
das Versorgungsgebiet einzelner Nerven oder Nervenwurzeln Ausfaller- – Wärme- und Kälteparästhesien
scheinungen – Stechen
beschränkt. Die Muskeleigenreflexe betroffener Muskelgrup-
– Elektrisieren
pen sind abgeschwächt, meist ausgefallen. Bei längerer Krank-
– Pelzigkeits- und Taubheitsgefühle
heitsdauer wird die betroffene Muskulatur atrophisch. – Gefühl des Eingeschnürtseins
4 Sensible Reizerscheinungen: Diese bestehen in Parästhe- – Gefühl der Schwellung
sien, umschriebenen und ziehenden Schmerzen, oft auch in – Gefühl des unangenehmen Druckes
Dehnungs- und Druckschmerz der Nerven. Die sensiblen – Gefühl, wie auf Watte zu gehen
Symptome sind meist symmetrisch, distal betont und strumpf- – Gangunsicherheit insbesondere bei Dunkelheit
förmig oder handschuhförmig begrenzt. Sehr unangenehm – fehlende Temperaturempfindungen
sind nächtliche Parästhesien in den Füßen und Unterschen- – schmerzlose Wunden
keln, die sich manchmal zu den Oberschenkeln und selten zu Motorische – periphere Lähmungen
den Armen ausbreiten. Sie treten nur in der Ruhe auf, sobald Symptome – Muskelzucken
die Patienten sich hinlegen oder setzen, und sie können die – Muskelkrämpfe
ganze Nacht andauern. Bewegung oder Herumgehen bessern – Muskelschwäche
die Beschwerden. – Muskelatrophie
4 Sensible Ausfallsymptome: Diese betreffen vorwiegend – Areflexie oder Reflexasymmetrie mit Abschwä-
chung
die sog. Oberflächenqualitäten: Berührungsempfindung,
– Faszikulationen
Schmerz- und Temperaturempfindung. Hypästhesie ist oft mit
692 Kapitel 32 · Polyneuropathien, Immunneuropathien und hereditäre Neuropathien

4 Störungen der vegetativen Innervation: Diese führen 4 Hypo-/Anhidrosis und


über die Denervierung der peripheren Arterien und Venen zu 4 Vasomotorische Störungen: orthostatische Hypotonie, Ru-
Gefäßlähmung mit Zyanose besonders in distalen Glied- beosis plantarum
abschnitten, zu umschriebener Hyperhidrose oder Anhidrose,
zu trophischen Störungen der Haut und der Nägel und abnor- Bei den viszerale Nerven finden sich folgende Folgen effe-
mer Pigmentierung. Kardiale vegetative Störungen sind bei renter autonomer Denervierung
einzelnen PNP stark ausgeprägt. Die Folgen autonomer De- 4 Kardiovaskulär: Ruhetachykardie, Frequenzstarre
nervierung somatischer Nerven sind: 4 Gastrointestinal: Ösophagusdystonie, Gastroparese, Diar-
4 Pupillenstörungen rhö, Obstipation, Cholezystopathie
4 Trophische Störungen: Ödem, Ulkus, Osteoarthropathie 4 Leber: gestörte Glukoseverwertung

Exkurs
Elektrophysiologische Diagnostik
Die elektrophysiologische Untersuchung bei Verdacht auf Nachweis einer kardial-autonomen Neuropathie sollte die
PNP besteht in der Screening-Untersuchung aus: Herzfrequenzvariabilität (HRV) bei tiefer Inspiration und Exspi-
ration untersucht werden. Der Schellong-Test oder die Kipp-
Nervenleitgeschwindigkeiten (NLG) tischuntersuchung sind weitere gebräuchliche Verfahren. Um
4 Bestimmung mehrerer motorischer NLG an Armen und Störungen der sudomotorischen Fasern aufzudecken, findet
Beinen (z.B. N. medianus, N. ulnaris mit fraktionierter Mes- die Jod-Stärke-Reaktion oder die sympathische Hautantwort
sung über dem Sulcus ulnaris, N. tibialis und N. peronaeus) (sympathic skin response, SSR) Verwendung.
4 Sensible NLG am Arm (z.B. N. medianus sensibel anti-
drom, auch Untersuchung auf Karpaltunnelsyndrom) Befunde
4 Sensibel-orthodrome NLG des N. suralis 4 Neuropathien mit primärem Markscheidenbefall: Hier
4 Bei speziellen Fragestellungen auch F-Wellen, Suche sind zunächst die elektroneurographischen Parameter verän-
32 nach Leitungsblöcken, vegetative Diagnostik (SSR-sympa- dert: Man findet Verzögerungen der motorischen NLG und der
thische Skin response), Sensibel evozierte Potentiale z.B. N. distalen Überleitungszeiten (. Abb. 32.1) sowie verlangsamte
tibialis SEP. sensible NLG. Oft sind die sensibel orthodromen Nervenpoten-
tiale pathologisch aufgesplittert. In der Frühphase finden sich
Untersuchung auf Leitungsblöcke Leitungsverzögerungen v.a. im Bereich besonderer mecha-
Leitungsblöcke können bei verschiedenen Formen der PNP nischer Beanspruchung, so dass multiple Engpasssyndrome
auftreten, sie werden in sicherer, wahrscheinlicher oder den Verdacht auf eine PNP vom Markscheidentyp lenken
möglicher Leitungsblock eingeteilt. Von einem definitiven müssen. Bei manchen hereditären Neuropathien kann sich der
Leitungsblock spricht man bei einer Amplitudenreduktion Befall von motorischen oder sensiblen Fasern durch manchmal
des MSAP auf unter 50% (oder um mehr als 50%) bei nur extrem verzögerte NLG (unter 10 m/s) äußern. In der Frühpha-
unwesentlicher temporaler Dispersion des Potentials oder se der PNP vom Markscheidentyp gehören neurogen verän-
bei einer Reduktion der Fläche des proximalen Antwortpo- derte PmE und Denervierungszeichen nicht zum elektrophysi-
tentials um mehr als 50%. Ein Leitungsblock sollte grund- ologischen Bild. Die Refraktärperioden nehmen deutlich zu.
sätzlich nicht an Prädilektionsstellen für Engpass-Syndrome 4 Primär axonale PNP: Dagegen sind bei der axonalen PNP
diagnostiziert werden. In solchen Fällen kann die sensible frühe neurogene Potentialveränderungen und Fibrillationen
Neurographie weiterhelfen. zu finden. Die motorischen und sensiblen NLG bleiben lange
normal oder sind nur ganz geringfügig verzögert. Jedoch kön-
Elektromyographie nen die Summenaktionspotentiale von Muskeln und sensiblen
4 EMG aus zwei bis drei Muskeln der unteren Extremitäten: Nerven niedriger und verbreitert bzw. desynchronisiert sein.
Suche nach neurogenen Veränderungen der Potentiale und
Beurteilung des Rekrutierungs- und Interferenzmusters Objektive Schmerzbestimmung
Elektroneurographie und Elektromyographie werden Die Quantitative Sensorische Testung (QST) ist ein neu
ergänzt durch Methoden, die zusätzliche Informationen über entwickeltes Diagnoseverfahren mit dem sich neuropathische
die Beteiligung unterschiedlicher Faserklassen geben kön- Schmerzen besser diagnostizieren lassen. Grundlage für eine
nen: Untersuchung der Tiefensensibilität durch die Vibrato- QST ist die bei Patienten mit neuropathischem Schmerz cha-
metrie oder Pallästhesie. Veränderungen der dünn-myelini- rakteristisch veränderte Sensibilität. Diabetes mellitus, Gürtel-
sierten A-Delta-Fasern (Kälteempfindung) und der unmyeli- rose oder eine Chemotherapie können die Ursache für Nerven-
nisierten C-Fasern (Wärmeempfindung) können durch eine schmerzen sein. Die QST versucht den genauen Grund der
Thermotestung (quantitative sensory testing, QST) an Händen Schmerzen durch insgesamt 13 Tests zu lokalisieren. Diese
und Füßen nachgewiesen werden. Hitze-evozierte Potenziale Tests beinhalten unter anderem die Testung der Warm-Kalt-
(contact heat evoked potentials, CHEPS) oder Schmerz-evozier- Schwelle, das Empfinden von Kälte- und Wärmeschmerz, die
te Potenziale (pain related potentials, PREPS) stellen weitere, Untersuchung der Pallhypästhesie und die Bestimmung der
jedoch nicht in der Routine angewandte Verfahren dar. Zum Druckschmerzschwelle.
32.1 · Allgemeine Vorbemerkungen
693 32
4 Exokrines Pankreas: Ausfall der reflektorischen Sekretion rischen Ursprungs ist, auch als Elsberg-Syndrom bezeichnet
4 Urogenital: Blasenentleerungsstörung, erektile Dysfunk- werden kann. Das Elsberg-Syndrom kann aber auch durch Vi-
tion, retrograde Ejakulation ren wie HSV2 und CMV ausgelöst werden.
> Die häufigste Symptomatik der Polyneuropathie be-
Bei der afferenten autonomen Denervierung viszeraler Ner-
steht in distal an den Beinen betonten Lähmungen
ven kommt es zu
und strumpf- und handschuhförmig angeordneten
4 Fehlendem Schmerz bei Myokardischämie
Sensibilitätsstörungen. Die Eigenreflexe sind abge-
4 Fehlender vegetative Reaktion bei Hypoglykämie
schwächt bis erloschen.
4 Fehlendem Gefühl für die Blasenfüllung
4 Fehlendem Hodendruckschmerz
4 Fehlendem Wehenschmerz 3Entwicklung der Symptome. Man unterscheidet drei Ent-
wicklungsformen der PNP:
3Verteilung der Symptome. Der häufigste Lokalisationstyp 4 wenige Stunden bis Tage: hyperakut
ist der symmetrische, distal betonte Befall der Beine, weil vor 4 ≤4 Wochen: akut
allem die längsten Nervenfasern erkranken. Die sensiblen Stö- 4 4–8 Wochen: subakut
rungen sind dabei strumpf- oder handschuhförmig angeordnet. 4 >8 Wochen: chronisch
In der Regel sind die Beine viel stärker betroffen als die Arme.
Wenn einzelne Nerven verschiedener Extremitäten stark, In der Mehrzahl der Fälle entwickeln sich die Symptome über
benachbarte aber kaum oder gar nicht betroffen sind, spricht Wochen und Monate langsam fortschreitend. Diese chro-
man von einem Multiplex-Typ. Bei manchen PNP sind die nischen Verläufe führen im Allgemeinen nicht zu vollständi-
Lähmungen, seltener die Gefühlsstörungen, proximal, im Be- gen Lähmungen. Sie haben aber auch nur eine geringe Besse-
cken- und Schultergürtel lokalisiert. rungstendenz.
Es gibt auch eine Hirnnervenpolyneuropathie, bei der mo- Es gibt auch akute oder subakute Verläufe: Nach einem
torische Hirnnerven und der N. trigeminus in wechselnder Vorstadium, das von Mattigkeit und Krankheitsgefühl oder
Verteilung, meist doppelseitig, gelähmt sind. den speziellen Erscheinungen der Grundkrankheit geprägt ist,
Ein Kaudasyndron mit Blasenstörungen kann auch eine setzen distal betonte Missempfindungen und Schmerzen ein.
Radikulitis sacralis sein, die wenn sie chronisch inflammato- Die motorischen und sensiblen Ausfälle breiten sich dann in
wechselndem Ausmaß von distal nach proximal aus, seltener
von proximal nach distal. Sie bleiben dann für Tage oder Wo-
chen stationär und klingen langsam wieder ab.
Manche entzündliche PNP entwickeln sich hyperakut in-
nerhalb weniger Tage.

32.1.3 Diagnostik

Die PNP werden nach Anamnese, neurologischem Befund


und elektrophysiologischer Untersuchung in die folgenden Ka-
tegorien zugeordnet:
4 akut/chronisch,
4 sensibel/motorisch/sensomotorisch,
4 proximal/distal/symmetrisch/multiplex,
4 Markscheidentyp/axonaler Typ/Mischtyp,
4 mit oder ohne Hirnnervenbeteiligung.

3Elektromyographie und Elektroneurographie: Man sucht


nach einer generalisierten Schädigung des PNS und be-
stimmt den Verteilungstyp (symmetrische/asymmetrische
PNP, Schwerpunktneuropathie). Die subklinische Mitbeteili-
gung des sensiblen Systems kann mit Hilfe der sensiblen Neu-
rographie erfolgen. Die oft erwartete Unterscheidung zwischen
»axonaler« und »demyelinisierende« Polyneuropathie ist leider
nur eingeschränkt möglich, da bei Ausfall großer, schneller
. Abb. 32.1. Mit 22,6 m/s deutlich verzögerte Leitgeschwindig-
Fasern eine deutliche Herabsetzung der Nervenleitgeschwin-
keit des N. tibialis. Der Befund zeigt sich nach Stimulation am Malle- digkeit möglich ist, was eine »demyelinisierende« PNP vor-
olus internus (oben) und noch deutlicher nach Stimulation in der täuschen kann.
Fossa poplitea (unten). Pathologisch erniedrigte und verbreiterte, auf- Ebenfalls kann mit Hilfe weiterer neurophysiologischer
gesplitterte Muskelantwortpotentiale. (H. Buchner, Aachen) Diagnostik die Mitbeteiligung weiterer Systeme, wie das auto-
694 Kapitel 32 · Polyneuropathien, Immunneuropathien und hereditäre Neuropathien

. Tabelle 32.3. Stufenplan zur laborchemischen PNP-Diagnostik


Stufe 1 – BSG, Blutbild, Elektrophorese, CRP
– Leberenzyme einschließlich γGT
– Carbodefizientes Transferrin (CDT), Ethylglucuronid (EtG) im Urin
– Blutzuckertagesprofil, Glukosetoleranztest (OGTT), Bestimmung von HbA1c
– Elektrolyte
– Harnstoff, Kreatinin (Clearance)
– Vitamin B12, Folat im Serum (falls grenzwertig erniedrigt: Homocystein und Methylmalonsäure), Holo-Transcobalamin
(=> frühester Marker eines B12-Mangels. Geeignet zur Untersuchung der Resorption)
– Rheumafaktoren
– Antinukleäre Faktoren (wenn positiv: dsDNA-Antikörper und ENA-Screening)
– Differential-BB, Bence-Jones-Proteine (Urin), TSH
– Liquoruntersuchung
– Liquorstatus
– Schrankenstörung
– Immunglobuline Liquor und Serum
– AK Borrelien
– Zytologie (Lymphom)
Stufe 2 – T3, T4, TSH
– Antikörper gegen Belegzellen, intrinsic factor
– Immunelektrophorese (anti-MAG-Antikörper)
– Blut, Urin und Stuhlproben auf Porphyrine
– Bence-Jones-Proteine (Urin)
– Antigangliosid-Antikörper (GM1, GD1a, GD1b, GD3, GQ1b, GT1b)
– Immunelektrophorese (anti-MAG-Antikörper)
– Bronchialzytologie
32 – Urin-, Blutproben auf toxische Substanzen
– Tumormarker und Vaskulitisparameter
Stufe 3 – Paraneoplastische Antikörper (anti-Hu, anti-CV2, CV2/CRMP5 sowie Amphiphysin-AK)
– Infektionsserologie (Campylobacter jejuni, CMV, HSV, HIV, Hepatitis B und C, Borrelien)
– Gliadin-Antikörper (Zöliakie)
– Kryoglobuline
– ACE in Serum und Liquor (Sarkoidose)
– Phytansäure (M. Refsum)
– Gezielte molekulargenetische Untersuchungen

nome System, mit geeigneten Mitteln, wie Herzfrequenzvari- 3Genetische Untersuchungen (Dritte Stufe, nur bei kli-
anzanalyse oder Untersuchung der sympathischen Hautant- nisch-anamnestischem Verdacht): Eine genetische Untersu-
wort, nachgewiesen werden. chung ist indiziert bei positiver Familienanamnese für PNP
oder bei typischen Zeichen einer hereditären PNP (Hohlfuß,
3Laborchemische Diagnostik: Zur ätiologischen Aufklä- Krallenzehen, s.u.).
rung sind Laboruntersuchungen notwendig, die man in 3 Stu-
fen einteilen kann. 3Bildgebende Diagnostik: Ultraschall und Kernspintomo-
4 Stufe 1 gehört zu jeder Untersuchung bei PNP unklarer graphie sind in Einzelfällen diagnostisch hilfreich.
Ursache. Mit ihr werden die häufigsten Ursachen von PNP wie
Diabetes, Alkoholkrankheit, Nierenkrankheiten abgefragt 3Nerven- und Muskelbiopsie: Eine Nervenbiopsie wird bei
und erste Hinweise auf andere Ursachen (Kollagenosen, Vita- schwerer oder progredienter PNP, die ätiologisch nicht geklärt
min-B12 –Mangel) erfasst. wurde durchgeführt, sofern eine therapeutische Konsequenz
4 Aus Stufe 2 werden je nach Verdachtsdiagnose die notwen- bestehen könnte. Dies gilt für Vaskulitis-assoziierte PNP und die
dig erscheinenden Untersuchungen ausgewählt. Amyloidneuropathie, wobei hier die Rektumbiopsie vorausgehen
4 Stufe 3 dient zur Aufdeckung seltener Ursachen von PNP. sollte. Bei den hereditären Neuropathien ist die Biopsie mit dem
Die 3 Stufen sind in . Tabelle 32.3 dargestellt. Fortschritt der Genetik in den Hintergrund getreten. Weitere
seltene Indikationen sind: Sarkoidose, Lepra, metabolische
3Liquor: Er gestattet nur in begrenztem Maße diagnosti- Krankheiten wie Leukodystrophien, die Polyglukosankrankheit
sche und prognostische Schlüsse. Häufig ist der Liquor normal, oder die Tumorinfiltration peripherer Nerven.
vor allem wenn der Krankheitsprozess an den distalen Ab- Auch bei Kollagenoseverdacht ist eine Muskelbiopsie sinn-
schnitten des peripheren Nervensystems lokalisiert ist. Eiweiß- voll.
vermehrung zeigt einen Befall der Nervenwurzeln an. Gele-
gentlich besteht eine Pleozytose bis zu 10 Zellen. Zum Liquor- 3Weitere Diagnostik: Eine Tumorsuche (Röntgen oder
befund bei GBS s.u.. CT-Thorax, Oberbauchsonographie, ggf. Ganzkörper-PET
32.2 · Metabolische Polyneuropathien
695 32
oder Knochenmarks-Punktion) inkl. Hämokkulttest rundet 3Pathogenese. Viele Autoren nehmen eine Mikroangio-
das Untersuchungsprogramm ab. Es sollte auch an gynäko- pathie der Vasa nervorum an. Für eine ischämische Genese
logische oder urologische Tumoren gedacht werden. Biopsien spricht der multifokale Faserverlust und der gelegentliche Be-
aus Muskel oder Nerv, manchmal auch Haut- oder Schleim- ginn in proximalen Nerven und Nervenabschnitten.
hautbiopsie sind unklaren Fällen vorbehalten. Je nach Befund Die PNP tritt besonders beim unbehandelten oder schlecht
kann auch ein Weichteil-MRT nativ und mit Kontrastmittel eingestellten Diabetes auf. Bei diesen Patienten hat das Glyko-
zur Nervendarstellung sinnvoll erscheinen. Die Neurosono- hämoglobin (HbA1c) oft einen Wert über 8%. Die Bestimmung
graphie hat bereits einen gewissen Stellenwert in der Diag- des HbA1c hat eine größere Aussagekraft als die Bestimmung
nostik des Karpaltunnelsyndroms und anderer Engpass-Syn- des aktuellen Blutzuckerniveaus. Man muss deshalb anneh-
drome. Die Indikation für eine Bildgebung wird sich in den men, dass die Neuropathie auch durch die Stoffwechselstörung
nächsten Jahren mit dem Fortschritt der MR- und Ultraschall- selbst entsteht. Wahrscheinlich liegen verschiedene Mechanis-
Technik sicher erweitern. men zugrunde liegen. Die toxische Wirkung von glykosierten
Proteinen, die die Blut-Nerven-Schranke überwinden und im
Nerven akkumulieren, scheint wichtig zu sein. Auch oxidativer
32.1.4 Allgemeine Therapie Stress durch freie Radikale oder AGE (advanced glycation end-
products) könnte zu einer Minderversorgung mit notwendigen
4 Übliche Schmerzmittel sind bei sensiblen Reizerschei- Nährstoffen führen.
nungen meist ohne Wirkung. Die diabetische Neuropathie unterscheidet sich bei Diabe-
4 Thioctsäure wirkt, wenn sie intravenös in ausreichender tes mellitus Typ 1 und 2. Beim Typ 1 ist die axonale Schädigung
Dosierung gegeben wird, bei diabetischer PNP oft erstaunlich stärker ausgeprägt, beim Typ 2 die primäre Demyelinisierung.
gut, aber nur für kurze Zeit. Die Weiterbehandlung mit oraler Die (para-) nodale Degeneration kommt wohl nur beim Typ 1
Thioctsäure hilft meist nicht. vor. Tierexperimentell und in kleinen klinischen Studien konn-
4 Bei sehr starken Reizerscheinungen werden Carbamaze- te gezeigt werden, dass das C-Peptid (dem eine Schlüsselrolle
pin (Tegretal®), Oxcarbazepin (Trileptal®), Gabapentin (Neu- in der Pathogenese der PNP bei DM Typ 1 zukommen soll)
rontin®), Pregabalin (Lyrica®) und trizyklische Antidepressiva nicht nur präventiv günstig ist, sondern auch zu einer Reversi-
sowie duale Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahme- bilität der PNP führen kann.
Hemmer (SNRI) eingesetzt.
4 Bewährt haben sich Clomipramin (Anafranil®) und 3Symptomatik. Es gibt mehrere Varianten der Beteiligung
Amitriptylin (Saroten®) (besonders bei nächtlichen Schmer- des PNS bei Diabetes. Am häufigsten ist die
zen). Man muss diesen Patienten, die ja den Beipackzettel le- 4 Distale, sensomotorische, diabetische PNP: Die Beine
sen, erklären, dass die Substanz nicht wegen Verdacht auf De- sind stets stärker betroffen als die Arme.
pression gegeben wird. Bei Kausalgien nimmt man ebenfalls 5 Zuerst treten Parästhesien, besonders vom Typ der burning
Antidepressiva oder Neuroleptika mit analgetischer Wirkung, feet, d.h. brennende Missempfindungen auf der Fußsohle,
z.B. Levomepromazin (z.B. Neurocil®). schmerzende Muskelkrämpfe im M. quadriceps und M. tri-
4 Nächtliche Muskelkrämpfe behandelt man mit Chinin- ceps surae und dumpfe oder lanzinierende Schmerzen in der
Präparaten, Baclofen und Carbamazepin. Bei Magnesium- Lendengegend, der Ilioinguinalregion und an der Vorderseite
mangel wird Magnesium substituiert. Vitaminsubstitution ist der Oberschenkel auf.
nur bei nachgewiesenen Vitaminmangelzuständen sinnvoll. 5 Sehr charakteristisch ist eine Verstärkung der Schmerzen
in der Nacht. Wenn dünnkalibrige Fasern bevorzugt betroffen
sind, stehen die unangenehmen Reizerscheinungen im Vorder-
32.2 Metabolische Polyneuropathien grund (»small fibre neuropathy«).
5 Unter den sensiblen Ausfällen steht die Aufhebung der
32.2.1 Diabetische Polyneuropathie Vibrationsempfindung an den Zehen, Füßen oder Beinen an
erster Stelle. Ist die Lagewahrnehmung stärker gestört, entsteht
3Epidemiologie. Das periphere Nervensystem ist beim das Bild einer sensiblen Ataxie. Strumpf-, handschuh- oder
Diabetes mellitus häufig betroffen. Fast 30% aller PNP müssen fleckförmig können auch Berührungs-, Schmerz und Tempe-
auf Diabetes zurückgeführt werden. Die Neuropathie kann raturempfindung gestört sein. Anästhesie tritt nicht auf.
schon früh im Krankheitsverlauf auftreten. Meist wird sie al- 5 Distale, symmetrische Paresen, besonders der Fuß- und
lerdings jenseits des 50. Lebensjahres beobachtet. Unterschenkel- und der kleinen Handmuskeln treten hinzu.
Bei vielen Patienten liegen bereits neurologische Beschwer- Die Muskeleigenreflexe sind distal erloschen.
den und Ausfälle vor, wenn der Diabetes festgestellt wird. Etwa 5 Man findet alle Schweregrade der Lähmungen von abnor-
ein Viertel aller Diabetiker leidet unter Symptomen der PNP, bei mer Ermüdbarkeit der Muskeln bis zur Paralyse mit Atrophie
der neurologischen Untersuchung findet man Zeichen der PNP und Kontrakturen.
noch viel häufiger. Beim Typ I Diabetes sind nach ca. 15 Jahren 5 In der Frühphase kann das multiple Auftreten von Engpass-
100% der Patienten von einer PNP betroffen. Untersucht man syndromen ein Hinweis auf beginnende, diabetische PNP sein.
eine unausgelesene Population von Diabetikern, findet man bei 4 Die Proximale, asymmetrische, vorwiegend motorische
70–80% Zeichen einer leichten, klinisch nicht manifesten PNP PNP ist viel seltener als die distale PNP und betrifft Fasern des
(z.B. Abschwächung der ASR). Plexus lumbosacralis, vor allem die Nn. femoralis, obturatorius
696 Kapitel 32 · Polyneuropathien, Immunneuropathien und hereditäre Neuropathien

Exkurs
Small fibre Neuropathy
Eine Sonderform der sensiblen Polyneuropathie stellt die derung, lediglich in der quantitativen sensorischen Testung
»small fibre PNP« dar, bei der bevorzugt unmyelinisierte finden sich häufig Auffälligkeiten. In der Hautbiopsie findet
Axone geschädigt werden. Klinisch stehen oft starke, distal sich eine reduzierte Anzahl von epidermalen Axonen. In der
betonte, oft brennende Schmerzen, Hyperästhesie, eine Nervenbiopsie findet sich eine verminderte Anzahl an dünnen
Reduktion der Vibrations- und Nadelberührungsempfindung und dicken Axonen. Differentialdiagnostisch tritt diese Form
sowie Gangunsicherheit im Vordergrund. Vegetative Begleit- der PNP idiopathisch, bei Diabetes, Para- oder Dysprotein-
symptome aufgrund einer cholinergen Übertragungsstörung ämien, Amyloidosen oder Bindegewebserkrankungen auf. Es
mit Hypohidrose, Bluthochdruck oder Impotenz können bleibt lediglich die Therapie der Grundkrankheit und eine
auftreten. Neurographisch zeigt sich keine relevante Verän- symptomatische Therapie übrig.

und glutaei, und führt zu deutlichen Atrophien (diabetische 3Verlauf. Die Krankheit kann in jedem Stadium des Dia-
Amyotrophie). betes, auch als Frühsymptom, auftreten. Feste Beziehungen zur
5 Sie kann bei älteren Diabetikern relativ akut mit heftigen, Dauer und Schwere der Stoffwechselstörung bestehen nach
besonders nächtlichen Schmerzen auftreten. neueren Untersuchungen nicht. Sie entwickelt sich beim dis-
5 Eine besondere Lokalisation ist die diabetische Radikulo- talen Typ in der Regel schleichend, erreicht innerhalb von Mo-
pathie der unteren Thorakalsegmente mit Bauchwandparesen, naten ihren Höhepunkt und bildet sich, wenn überhaupt, nur
Schmerzen und Gefühlsstörungen am Rumpf. langsam und meist unvollständig wieder zurück. Der proxi-
4 Sensibilitätsstörungen können dabei aber auch fehlen. male Typ setzt subakut ein, verläuft nicht selten schubweise
4 Diabetische Hirnnervenlähmungen: Hirnnervensymp- und hat eine Tendenz zur Remission im Verlauf einiger Mo-
tome sind nicht selten: In der Reihenfolge der Häufigkeit werden nate. Rezidive kommen vor.
die Nn. oculomotorius, abducens, facialis und die kaudalen Der Diabetes muss nicht immer manifest sein. Manchmal
32 Hirnnerven betroffen. Sie können unter heftigen Schmerzen liegt nur ein subklinischer Diabetes vor, mit normalem
auftreten. Die akuten diabetischen Augenmuskellähmungen bil- Nüchternblutzucker, aber pathologischem Ausfall des Gluko-
den sich durchweg zurück. Bleiben bei Diabetikern Augenmus- sebelastungstests. Die Bestimmung des Nüchternwertes sollte
kellähmungen bestehen, muss man auch nach einer anderen ohnehin durch den postprandialen Wert 1–2 h nach dem
Ursache suchen. Frühstück ersetzt werden.
4 Vegetative Neuropathie bei Diabetes: Häufig ist auch das Im Liquor findet man gelegentlich eine leichte bis mäßige
periphere vegetative Nervensystem betroffen. Eiweißvermehrung bei normaler Zellzahl.
5 Es kommt zu Pupillenstörungen, zu Urinretention, Di-
arrhoe, Impotenz, zu Störungen der Schweißsekretion (distale 3Therapie. Die Therapiemöglichkeiten der diabetischen
Anhidrose, proximale Hyperhidrose), zu orthostatischen Regu- Neuropathie (DN) sind noch immer bescheiden.
lationsstörungen und zur Herzfrequenzstarre, d.h. zum Aus- 4 Normalisierung der Stoffwechsellage.
bleiben der Verlangsamung des Herzschlags in der tiefen Exspi- 4 Große Bedeutung hat auch die Reduktion des oft erhöhten
ration infolge Vagusläsion. Körpergewichts und die Behandlung einer begleitenden Fett-
5 Die kardiale, autonome Denervierung mit Herzstarre lässt stoffwechselstörung.
sich durch Bestimmung der maximalen Differenz der Herz- 4 Die Verordnung von Vitaminen ist sinnlos, Kortikoide
frequenz bei vertiefter Atmung (6 Atemzüge pro Minute) er- sind wegen ihrer diabetogenen Potenz kontraindiziert.
fassen. 4 Der neuropathische Schmerz ist am Besten angehbar. Hier
5 Seltener sind schwere Störungen der Hauttrophik (Ulzera- sind Antikonvulsiva wie Gabapentin, Pregabalin, Carbamazepin
tionen und selbst Knochenläsionen an belasteten Stellen, be- (Details 7 Kap. 4) gut wirksam. Auch trizyklische Antidepressiva
sonders den Fußsohlen, = diabetische Osteoarthropathie oder können gegeben werden. Kombinierte Serotonin/Noradrenalin-
Charcot-Fuß). Wiederaufnahmehemmer sind ebenfalls wirksam. Auch Lido-
cainpflaster könne bei neuropathischem Schmerz helfen.

Exkurs
Differentialdiagnose nächtlicher Parästhesien und Bewegungsunruhe (»Restless-legs-Syndrom«)
Von den nächtlichen, unangenehmen Sensibilitätsstörungen, Drang, die Beine zu bewegen. Die Linderung der Beschwerden
die viele PNP-Patienten, besonders mit diabetischer oder durch die Bewegung ist aber nur kurzdauernd. Eine PNP liegt
urämischer PNP haben, und die sie veranlassen aufzustehen bei diesen Patienten definitionsgemäß nicht vor.
und die Beine zu bewegen, muss man das Restless-legs- Dem Restless-legs-Syndrom liegt eine Störung im Dopa-
Syndrom (RLS) abgrenzen. minstoffwechsel zu Grunde (7 Kap. 23.7). Entsprechend
Die Leitsymptome des RLS sind unangenehme, quä- behandelt man das Restless-legs-Syndrom mit L-Dopa (50–
lende, als ziehend und reißend beschrieben Missempfin- 200 mg vor dem Schlafengehen). Auch der D2-Agonist Prami-
dungen in den Beinen und der nicht zu unterdrückende pexol ist wirksam.
32.2 · Metabolische Polyneuropathien
697 32
4 Die kausale Behandlung der DN ist Gegenstand intensiver Exkurs
Forschung: Aldose-Reduktase-Inhibitoren und Proteinkinase Critical illness myopathie (CIM)
C-Inhibitoren sind in Phase III klinischer Studien, die Anwen- Neben der CIP gibt es auch noch eine critical illness-Myo-
dung von neurotrophen Faktoren, Wachstumsfaktoren und pathie, die sich unter ähnlichen Umständen entwickelt.
nicht-immunsuppressiven Immunophilinliganden ist in der Gelegentlich scheinen auch beide Syndrome (critical
Entwicklung. illness myopathy und/oder neuropathy = CRIMYNE) vorzu-
liegen.

32.2.2 Andere, metabolische Polyneuropathien 3Einteilung. Die CIM gliedert sich in 3 Gruppen:
4 eine diffuse nicht-nekrotisierende kachektische
Polyneuropathie bei Urämie Myopathie (critical illness myopathy CIM),
Etwa 25% aller Patienten mit chronischer Urämie oder Dialyse 4 ein Myopathie mit isoliertem Verlust von Myosin-
haben eine PNP. Diese ist meist vom distal symmetrischen Typ. Filamenten (thick filament myopathy) und
Sensible Reizerscheinungen, Wadenkrämpfe und leichte Pare- 4 die akute nekrotisierende Myopathie der Intensiv-
sen stehen im Vordergrund. Die Myelinscheiden und die Axone medizin. Die zuletzt aufgeführte Myopathie geht mit einer
sind gleichermaßen betroffen. Die Pathogenese der Neuropathie schlechten motorischen Erholung einher.
ist unklar. Man vermutet, dass eine noch nicht definierte, reti-
nierte endotoxische Substanz eine Rolle spielt. Nach Nieren-
transplantation beobachtet man häufig eine Besserung der PNP. Da die Patienten über lange Zeit behandelt und sediert
worden sind, wird die Intensivpolyneuropathie oft erst be-
Hepatische Polyneuropathie merkt, wenn sich nach überstandener Sepsis Schwierigkeiten
Meist symmetrische, demyelinisierende, sensible PNP, die bei der Entwöhnung von der maschinellen Beatmung ergeben.
bei primär biliärer Zirrhose, Virushepatitis und chronischer
Hepatopathie gefunden werden kann. Die Pathogenese ist 3Diagnostik. Typisch sind die Denervierung der Muskula-
unklar. tur, eine abnehmende Amplitude der Muskelantwortpotentiale
und die Verzögerung der motorischen Nervenleitgeschwindig-
PNP bei Schilddrüsenkrankheit keit bei praktisch normalen, sensiblen NLG.
Diese sensomotorische Neuropathie mit distaler, symmetri-
scher Verteilung kann bei Hypo- und Hyperthyreose auftreten. 3Therapie und Prognose. Es existiert keine gezielte The-
Bei der Hypothyreose ist zusätzlich mit Engpasssyndromen, rapie.
vor allem dem Karpaltunnelsyndrom, zu rechnen. Axone und 4 Eine aggressive Sepsis-Therapie kann helfen, eine CIP oder
Markscheiden sind gleichermaßen betroffen. CIM zu vermeiden.
4 Ebenfalls sollten nicht-depolarisierende Muskelrelaxan-
Critical-illness-Polyneuropathie (CIP) zien zurückhaltend eingesetzt werden.
Diese vermutlich endogen-toxische Polyneuropathie tritt bei 4 Eine Therapie mit Steroiden scheint negative Auswir-
Patienten mit langdauernder Sepsis und Multiorganversagen, kungen zu haben.
die auf einer Intensivstation behandelt werden, sehr häufig auf. 4 Eine forcierte Insulin-Therapie reduziert die Häufigkeit
Weitere Risikofaktoren sind Hochdosissteroid- und Muskel- und Schwere der CIP.
relaxantientherapien. 4 Manchmal wird Memantine (NMDA-Antagonist) gege-
ben (30 mg/d).
3 Pathophysiologie und Epidemiologie. Pathophysio-
Die Spontanprognose ist trotzdem überraschend günstig:
logisch nimmt man eine Störung der Mikrozirkulation in
Wenn die Patienten die Grundkrankheit überleben, kommt es
den Vasa nervorum in der Sepsis an; auch wird diskutiert, ob
über Wochen und Monate zu einer langsamen Restitution der
neurotoxische Metaboliten eine Rolle spielen können. Über-
motorischen Fähigkeiten. Restsymptome mit distaler Muskel-
wiegend sind die motorischen Nerven befallen, während die
schwäche können allerdings persistieren. Dadurch, dass die
sensiblen Nervenfunktionen weitgehend erhalten sind. Die
Beatmungsphase bei diesen Patienten verlängert wird und
Häufigkeit der CIP wird unterschätzt: Die meisten Patienten,
entsprechende sekundäre Komplikationen, wie Pneumonien,
die mehr als 1–2 Wochen mit Multiorganversagen und Sepsis
Tracheomalazie und erneute Sepsis entstehen können, stellt die
auf einer Intensivstation behandelt werden und überleben,
Intensivpolyneuropathie eine wesentliche Komplikation der
entwickeln eine CIP. Erst vor kurzem konnte ein humoraler, für
modernen, intensivmedizinischen Behandlung dar.
Motoneurone toxischer Faktor aus dem Serum von CIP-Pati-
enten isoliert werden. Es kommt zu einer Erhöhung der IL2-R-
Konzentration im Serum, hinweisend auf eine Aktivierung 32.2.3 Polyneuropathie bei Vitaminmangel
entzündlicher Kaskaden. und Malresorption

3Symptomatik. Es entwickelt sich eine schwere, schlaffe, Vitaminmangelzustände werden heute in Mitteleuropa nur
atrophische Lähmungen aller Extremitäten einschließlich der noch selten beobachtet, jedoch kann eine radikale vegetarische
Atemmuskulatur. Ernährung zu Vitamin-B1-, -B2-, -B6- und -B12-Mangel führen.
698 Kapitel 32 · Polyneuropathien, Immunneuropathien und hereditäre Neuropathien

Bei Vitamin-B12-Mangel tritt die funikuläre Spinalerkrankung


. Tabelle 32.4. Polyneuropathien bei Medikamenten (Auswahl)
(7 Kap. 28.1) mit Begleit-PNP auf. Typisch für einen B1-Mangel
ist das Beriberi-Syndrom (symmetrische, sensomotorische Substanzgruppe Art der Polyneuropathie
PNP). Bei der Pellagra (Vitamin-B3 (Nikotinsäure, Niacin-Man- Zytostatika
gel) tritt neben Hauterscheinungen und Durchfall auch eine Vincristin Distale, sensomotorische PNP
PNP auf. Ähnlich ist die Symptomatik bei der Sprue (Zöliakie). Platin-haltige Chemo- Distale, sensomotorische PNP
Hungerpolyneuropathien sind in Kriegszeiten nicht selten und therapeutika
können persistierende, polyneuropathische Symptome verur- Methotrexat
sachen. Bei Anorexia nervosa können ernährungsbedingte PNP, TNF alpha-Blocker:
aber auch eine B1-Mangelsymptomatik (akute Wernicke-Enze- Infliximab, Etanercept
phalopathie als lebensbedrohliche Komplikation) auftreten. Antibiotika und Chemotherapeutika
> Nur bei nachgewiesenem Vitaminmangel ist die Be- Penicillin und Abkömmlinge Mononeuritis multiplex, selten
handlung mit Vitaminen sinnvoll. Streptomycin sensomotorische PNP
Amphotericin Hirnnerven-Neuropathie
Choramphenicol Schwerpunkt-PNP, vorwiegend
motorisch
32.3 Toxisch ausgelöste Polyneuropathien Nitrofurantoin Sensible Neuropathie
Sulfonamide Distale, sensible PNP
Eine Vielzahl endogener und exogener Toxine, darunter Alko- Motorische Neuropathie
hol (7 Kap. 29.2.1), Medikamente, Drogen, Stoffwechselstö- Tuberkulostatika Distale, sensomotorische Neuro-
rungen und Vergiftungen mit Schwermetallen können die pathie
Linezolid schmerzhafte sensomotorische
peripheren Nerven schädigen. Formal entstehen meist distal
PNP
symmetrische, sensomotorische PNP, aber auch Schwerpunkt-
neuropathien kommen vor. Axone und Myelinscheiden kön- Antirheumatika

32 nen betroffen sein. Wir besprechen hier einige wichtige Unter- Indometacin Sensomotorische, distale PNP
formen der toxischen PNP und stellen in . Tabelle 32.4 die Colchicin Sensomotorische, distale PNP
Medikamente zusammen, die häufig zu einer PNP führen. Bei Antiepileptika und Antidepressiva
Verdachtsmomenten sollte eine Recherche an geeigneter Stelle
Diphenylhydantoin Distale Polyneuropathie, Klein-
(z.B. Fachinformation, Medline) durchgeführt werden.
hirnschädigung
Trizyklische Antidepressiva Distale, sensomotorische PNP
(selten)
32.3.1 Medikamenteninduzierte
Polyneuropathien Herz-Kreislaufmittel
Hydralazin Sensible Neuropathie
Symptome einer PNP gehören zu den häufigsten, uner- Antikoagulanzien Schwerpunkt-PNP (selten)
Propranolol Sensible Reizerscheinungen,
wünschten Wirkungen vieler Medikamente. Bei einigen Subs-
sensible PNP
tanzen, z.B. Vincristin, tritt eine PNP immer auf, wenn eine
Ergotamin Distale, sensomotorische Poly-
bestimmte Gesamtdosis überschritten wird, bei den meisten neuropathie
anderen Medikamenten dagegen entwickelt nur ein kleiner
Teil der Patienten eine PNP. Erschwerend kommt hinzu, dass Andere
in manchen Fällen die Krankheit, gegen die das Medikament Statine sensible und sensomotorische
wirken soll, selbst eine PNP auslösen kann. Dann wird es PNP (selten)
schwer, die Kausalität herzustellen, z.B. bei der HIV-assoziier-
ten PNP, die nicht selten durch die antiretrovirale Medikation
ausgelöst wird, aber auch direkt HIV-assoziiert sein kann. Biopsien helfen ätiologisch nicht weiter, auch die Nerven-
leitgeschwindigkeiten sind nur geringgradig und damit unspe-
3Symptomatik. Meist stehen sensible Reizerscheinungen zifisch verändert. Entscheidend ist die Arbeitsplatz- und Expo-
im Vordergrund. Distal-symmetrische, sensomotorische For- sitionsanalyse, einschließlich Messung der jeweiligen Grenz-
men sind häufig, aber auch atypische Verteilungsmuster kom- werte bei industriell genutzten Substanzen, die von Arbeits-
men vor. medizinern vorgenommen wird. Diese haben auch ausführliche
Aufstellungen über die verschiedenen Substanzen, deren doku-
mentierte neurotoxischen Symptome und die Grenzwerte.
32.3.2 Polyneuropathien bei Lösungsmittel-
exposition 3Symptome und Kausalität. Dies ist eine meist distal be-
ginnende, primär überwiegend sensible, später sensomoto-
3Ätiologie. Substanzen wie Acrylamid, Hexocarbone und rische PNP. Muskelschmerzen und zentralnervöse Symptome
Schwefelkohlenstoffe, um nur einige zu nennen, können bei (Ataxie, Enzephalopathie, Hirnnervenbeteiligung) können zu
chronischer Exposition PNP hervorrufen. dem PNP-Syndrom komplizierend hinzutreten. Manchmal
32.3 · Toxisch ausgelöste Polyneuropathien
699 32
Exkurs
Polyneuropathie bei Vergiftungen mit Metallen
Blei-Polyneuropathie scheidung zieht sich über Wochen hin, selbst dann, wenn die
Die Bleipolyneuropathie ist heute sehr selten. Zur chro- Plasmawerte niedrig sind.
nischen Bleivergiftung waren vor allem Personen disponiert, Der Nachweis des Giftes gelingt in den ersten 2–3 Wochen
die beruflich oder in ihrer Freizeit mit bleihaltigen Farben aus Serum, Stuhl und Harn, nach 8 Wochen aus den Haaren.
umgingen. Das Blei wird vor allem in den Knochen abge-
lagert. Man muss berücksichtigen, dass es auch nach Aus- 3Symptome
setzen der Exposition noch nach Jahren aus den Knochen- 4 Innerhalb weniger Stunden treten Übelkeit, Erbrechen, ein
depots wieder abgegeben werden kann. sehr typischer retrosternaler Schmerz und Bauchschmerzen
mit hartnäckiger, spastischer Obstipation auf.
3Symptome 4 Die abdominellen Symptome beruhen vermutlich auf
4 Bei chronischer Bleivergiftung klagen die Patienten über Freisetzung von Koproporphyrin und δ-Aminolävulinsäure.
Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, Müdigkeit, Obstipation Durch den Schwartz-Watson-Test lässt sich im Urin Porphobili-
und Darmkoliken. nogen nachweisen.
4 Ihre Haut ist blass bis graugelblich und der Zahnfleisch- 4 In der 2.–3. Woche lockern sich die Kopf-, Achsel- und
rand durch Einlagerung von Bleisulfid dunkel gefärbt (Blei- Schamhaare und die lateralen Augenbrauen und fallen
saum). schließlich ganz aus.
4 Hinzu kommen hämolytische Anämie, vermehrtes Auf- 4 Von der 3.–4. Woche an treten an Finger- und Zehennägeln
treten von Retikulozyten und signifikante Erhöhung der weiße Querstreifen, die Mees-Nagelbänder auf, die sich mit
Ausscheidung von Koproporphyrin III und δ-Aminolävulin- dem Wachstum der Nägel langsam nach distal verschieben.
säure im Harn. 4 Die PNP setzt zwischen dem 1. Tag und der 2. Woche ein.
4 Im Vordergrund der PNP steht eine symmetrische Zeitpunkt und Schwere hängen von der Menge des resorbier-
Streckerlähmung an den Armen. Die Hand- und Fingerexten- ten Thallium ab. Missempfindungen in Füßen und Händen
soren sind gelähmt, während die übrigen Muskeln frei steigern sich bald zu heftigen Schmerzen.
bleiben. Atrophien des Daumen- und Kleinfingerballens, 4 Sehr bezeichnend ist eine Hyperpathie der Fußsohlen, bei
der kleinen Hand- und Fußmuskulatur können auftreten. der schon leiseste Berührung unerträgliche Schmerzen aus-
4 Auch an den Unterschenkeln ist eine Extensorenschwä- löst. Das Gehen ist allein schon wegen dieser Hyperpathie
che charakteristisch. unmöglich.
4 Die Sensibilität ist meist weniger als die Motorik gestört. 4 Sensible Ausfälle nach Art einer Hypästhesie breiten sich
Schmerzen treten nicht auf. von den Füßen bis zum Rumpf aus. Die Lagewahrnehmung ist
kaum betroffen. Die Lähmungen sind an den Beinen stärker
3Diagnose als an den Armen und sollen von proximal (Beckengürtel) nach
4 Der Liquor ist meist normal. Elektroneurographisch distal absteigen.
findet man eine Verminderung der Nervenleitgeschwindig- 4 Während die Rumpfmuskeln verschont bleiben, können
keit, weil das pathologisch-anatomische Substrat eine seg- die Nn. opticus, oculomotorius, facialis, sensibler Trigeminus
mentale Entmarkung ist, die man auch durch Nervenbiopsie und motorischer Vagus ergriffen werden.
nachweisen kann. 4 Als Symptome des Zentralnervensystems beobachtet man
Chemischer Nachweis: Erhöhung des Bleispiegels im Serum. Myoklonien, Krampfanfälle sowie psychopathologische Auf-
fälligkeiten, die in leichten Fällen als Affektlabilität und Reiz-
3Therapie. Die Behandlung mit dem Chelatbildner barkeit auftreten. Bei schwerer Vergiftung kann eine exogene
D-Penicillamin (Metalcaptase®, 3-mal 300 mg tgl. per os) Psychose, meist von delirantem Typ, auftreten.
bessert die Symptome. Auch andere Chelatbildner wie
Succimer (= DMSA), Dimaval (= DMPS) oder EDTA-Komplexe 3Therapie. Im akuten Stadium Magenspülung mit 1%
können eingesetzt werden. Die Prognose ist gut, die Läh- Natrium-Jodidlösung und 3 g von Antidotum Thallii (Eisenhe-
mungen bilden sich bis auf funktionell unbedeutende Symp- xazyanoferrat) durch die Magensonde alle 3 Stunden. Wegen
tome wieder zurück. der langen Halbwertszeit von Thallium im Organismus
(14 Tage) und der enteralen Rückresorption muss diese Be-
Thallium-Polyneuropathie handlung über mehrere Wochen fortgesetzt werden. Ergän-
Thalliumvergiftungen sind ebenfalls sehr viel seltener gewor- zend ist die forcierte Diurese, manchmal auch die extrakorpo-
den. Sie kamen hauptsächlich nach oraler Aufnahme von rale Dialyse indiziert. Gegen die Schmerzen gibt man Opiate,
arsenhaltigem Rattengift. Die Präparate werden meist ver- kombiniert mit Neuroleptika oder Thymoleptika.
sehentlich oder in suizidaler Absicht eingenommen. Setzt die Therapie zu spät ein, kann die Vergiftung tödlich
Thallium wird schnell resorbiert und gleichmäßig im verlaufen. Nach 4–5 Wochen besteht keine Lebensgefahr
Körper verteilt. Es wird jedoch nur sehr langsam durch den mehr. Die Rückbildung der PNP zieht sich über Monate bis
Magen-Darm-Trakt und die Nieren ausgeschieden. Die Aus- Jahre hin und bleibt oft unvollständig.
6
700 Kapitel 32 · Polyneuropathien, Immunneuropathien und hereditäre Neuropathien

Arsen-Polyneuropathie 4 An den Armen ist der N. radialis, an den Beinen der N. pe-
Die Vergiftung ist weit seltener als die mit Thallium. Sie kommt ronaeus besonders betroffen. Selten kommt es zur Neuritis
als gewerbliche Vergiftung beim Umgang mit arsenhaltigen N. optici und zur Fazialislähmung.
Farben vor. Arsen wird aber, weil es geruchs- und geschmacks-
frei ist, auch heute noch gelegentlich zum Giftmord benutzt. 3Diagnostik. Nachweis im Urin, in den Haaren und Nä-
Die chronische Vergiftung wird dadurch begünstigt, dass auch geln. Die Haare müssen wurzelnah untersucht werden.
das Arsen nur sehr langsam ausgeschieden wird.
3Therapie. Bei akuter Vergiftung Magenspülung. Dimer-
3Symptome. Die akute Vergiftung hat Ähnlichkeit mit captol (BAL) alle 4, später alle 6 h i.m., Antidotum metallorum
der Thalliumintoxikation. Sauter durch Magensonde, Substitution von Flüssigkeiten und
4 Die PNP ist auch durch sehr unangenehme Missemp- Mineralien durch Infusionen, Kreislaufmittel. Bei chronischer
findungen und heftige Schmerzen in Händen und Füßen Vergiftung BAL-Kur über 2 Wochen, Vitamin C in hohen Dosen.
gekennzeichnet. Die Rückbildung erstreckt sich über viele Monate und bleibt
4 Lähmungen und sensible Ausfälle sind aber an Armen und oft unvollständig.
Beinen etwa gleich stark und symmetrisch distal lokalisiert.

bilden sich die Symptome nach Beendigung der Exposition 4 Der Befall des peripheren Nervensystems äußert sich zu-
zurück, häufiger bleiben aber zumindest Residualsymptome nächst in sensiblen Reizerscheinungen: heftige Nerven- und
erhalten. Aufgrund der unspezifischen Befunde, die in gleicher Muskelschmerzen.
Art auch bei einer Reihe anderer, besonders alimentär toxischer 4 Die Lähmungen führen gewöhnlich rasch zu erheblichen
Substanzen (Alkohol) auftreten können, ist die Zuordnung der Muskelatrophien.
Beschwerden zu einer beruflichen Exposition oft problema- 4 Sensible Ausfälle sind nur gering ausgeprägt.
32 tisch, besonders wenn die Grenzwerte am Arbeitsplatz einge- 4 Der Verlauf ist häufiger schubweise mit Remissionen als
halten worden sind. Wenn nur subjektive Symptome vorliegen, chronisch mit intermittierenden Besserungen.
kann eine erhebliche Diskrepanz zwischen Entschädigungs- 4 Wenn auch die Gehirngefäße befallen sind, kann es zu
wunsch und Objektivierbarkeit von Beschwerden bestehen. ischämischen Schlaganfällen kommen.

3Diagnose. Die Diagnose kann durch Leber, Nieren- und


32.4 Polyneuropathie bei Vaskulitiden Nerven-/Muskelbiopsie gesichert werden. Der Liquorbefund
und bei Kollagenosen ist uncharakteristisch. Die Nervenleitgeschwindigkeit ist in
der Regel normal. Die Muskelaktionspotentiale und Nerven-
Nahezu alle Kollagenosen führen zu neurologischen Begleit- aktionspotentiale sind jedoch oft niedrig und desynchroni-
symptomen. Das periphere Nervensystem ist viel häufiger als siert, und die Refraktärzeit ist verlängert.
das zentrale betroffen. Es kommt zu einer PNP, meist vom Internistischer Befund: Folgende Zeichen sind charakte-
Multiplexverteilungstyp, aber auch symmetrische PNP und ristisch:
akute Polyneuritiden werden beobachtet. 4 Temperaturerhöhung bis zum septischen Fieber,
4 Milzvergrößerung,
4 renaler Hochdruck mit pathologischem Urinbefund und
32.4.1 Panarteriitis nodosa Einschränkung der Nierenleistung,
4 Anämie,
Die Krankheit bevorzugt das fortgeschrittene Lebensalter, 4 Leukozytose mit Eosinophilie,
kann aber auch schon in jüngeren Jahren auftreten. Männer 4 maximale Beschleunigung der BSG und
erkranken häufiger als Frauen. In etwa der Hälfte der Fälle von 4 Verschiebung der Serumeiweißkörper.
Panarteriitis nodosa kommt es zu Symptomen von Seiten des
peripheren Nervensystems. Laborchemisch bestimmt man zunächst die BSG, Rheumafak-
tor, ANA (wenn positiv, dsDNA und ENA-Screening), p-, c-
3Ätiologie. Es handelt sich um eine vaskulär bedingte PNP. ANCA, C3, C4, C3d, zirkulierende Immunkomplexe (CIC),
Durch eine Vaskulitis der kleinen und mittleren Gefäße kommt Kryoglobuline, Hepatitisserologie, Eosinophilie.
es zu entzündlichen Gefäßwandveränderungen und zu Throm- 4 Da die Panarteriitis nodosa in Assoziation mit einer
bosen, die zu ischämischen Läsionen der peripheren Nerven Hepatitis-B-Infektion vorkommen kann, sollte eine Hepatitis-
führen. serologie erfolgen. Ebenfalls ist eine Assoziation mit der Haar-
zell-Leukämie beschrieben. Eine Erniedrigung diverser
3Symptome. Die Neuropathie tritt als Mononeuritis mul- Komplement-Faktoren und Kryoglobuline kann gefunden
tiplex, d.h. Lähmung mehrerer, einzelner Nerven an den Extre- werden.
mitäten, die auch mit Hirnnervenlähmungen kombiniert sein 4 Der häufige Koronarbefall zeigt sich an verschiedenartigen
kann, und als symmetrische PNP auf. EKG-Veränderungen.
32.5 · Hereditäre, motorische und sensible Neuropathien (HMSN) (auch: CMT (Charcot-Marie-Tooth-Gruppe))
701 32
Exkurs
Andere Kollagenosen mit Polyneuropathie
Systemischer Lupus Wegener-Granulomatose
Beim Lupus erythematodes stehen ZNS-Veränderungen im Es handelt sich um eine Vaskulitis kleiner Gefäße mit granulo-
Vordergrund. Aber auch eine distal symmetrische sensible matöser Entzündung des Respirationstrakts und häufiger
oder senso-motorische PNP wird beschrieben. Im Blut lassen Nierenbeteiligung (Glomerulonephritis). In ca. 20–40% kommt
sich hohe Titer antinukleärer Antikörper (ANA) nachweisen. es zu einer vaskulitisch bedingten Neuropahtie (Mononeuritis
Antikörper gegen Doppelstrang-DNA sind typisch für den multiplex, distal symmetrische PNP). Serologisch lassen sich
systemischen Lupus erythematodes (60–90%). cANCA nachweisen.

Churg-Strauß-Syndrom Sjögren-Syndrom
Die Churg-Strauß-Vaskulitis ist eine eosinophile nekrotisie- Auch beim Sjögren-Syndrom, bei dem die Sicca-Symptomatik
rende Arteriitis, bei der eine Mononeuritis multiplex entste- (Konjunktivitis, Rhinitis) und die Gelenkbeschwerden im Vor-
hen kann. Die Diagnose wird über die pulmonale Beteiligung dergrund stehen, können sensible Neuropathien, manchmal
und die gleichzeitig bestehende Rhinitis erleichtert. Im Blut- mit deutlicher Ataxie, auftreten. Multiple Ausfälle sensibler
bild zeigt sich eine Eosinophilie, serologisch sind in ca. 40% Hirnnerven sind im Rahmen des Sjögren-Syndroms beschrie-
pANCA nachweisbar. Dieses Syndrom spricht gut auf Steroid- ben. Serologischer Nachweis von Ro/SS-A-p52-Antikörper,
behandlung an. ANA (SS-B, SS-A).

> Tritt eine Polyneuritis mit Temperaturerhöhung, BSG- 4 als rein sensible Neuropathie, die an den Fingern beginnt,
Beschleunigung und Funktionsstörungen verschie- aber den Daumen freilässt und erst später die Beine ergreift
dener innerer Organe auf, muss man an Panarteriitis und
nodosa denken. 4 als akute PNP besonders der Beine, in deren Entwicklung
sensible Reizsymptome (Parästhesien, Schmerzen) den senso-
3Therapie. Bei einer schwer verlaufende organ- oder le- motorischen Ausfällen um mehrere Tage vorangehen.
bensbedrohenden primären systemischen Vaskulitis besteht
die Therapie aus Kortikosteroide (z.B. Methylprednisolon 1 Bei allen Formen kommt es sehr rasch zu schweren, trophi-
mg/kg KG/Tag oder 500–1.000 mg/Tag über 3–5 Tage als ini- schen Störungen der Haut bis zu distalen Nekrosen.
tiale intravenöse Pulstherapie), kombiniert mit Cyclophospha-
mid oral 2 mg/kg KG/Tag oder als i.v. Pulstherapie. Liegt dage- 3Diagnostik. Die Diagnose liegt bei dem eindrucksvollen,
gen eine nicht organ- oder lebensbedrohlicher Verlauf vor, so allgemeinen Krankheitszustand und den fast stets deutlich po-
kann man alternativ zu Cyclophosphamid als Remissionsin- sitiven serologischen Reaktionen nahe. Sie wird durch Nerven-
duktion Methotrexat (10–25 mg/Woche) gegen werden (nach biopsie des N. suralis gesichert. Elektrophysiologisch zeigt sich
den Leitlinien der DGN 2008). meist eine PNP vom Markscheidentyp.

3Therapie. Da die Patienten meist schon Steroide erhalten,


32.4.2 Polyneuropathie bei rheumatoider ist zusätzlich die immunsuppressive Behandlung mit Azathi-
Arthritis oprin oder Metothrexat angezeigt.
Die Prognose ist bei rein sensibler Symptomatik nicht
Ähnlich wie bei Panarteriitis und auch beim viszeralen Erythe- schlecht, bei sensomotorischen Ausfällen ungünstig.
matodes, kann sich im Verlauf einer rheumatoiden Arthritis,
meist erst nach längerem Bestehen der Krankheit, eine PNP
entwickeln. 32.5 Hereditäre, motorische und sensible
Neuropathien (HMSN) (auch: CMT
3Ätiologie. Sie entsteht als ischämische Nervenschädigung (Charcot-Marie-Tooth(-Gruppe)))
durch Immunkomplexangiitis der Vasa nervorum. In der Re-
gel haben die Patienten als Ausdruck der Angiitis bereits län- Die Gruppe der HMSN (CMT) ist charakterisiert durch distal
gere Zeit vor der PNP Rheumaknötchen und multiple, oft auch beginnende, chronisch verlaufende, atrophische Lähmungen,
ausgedehnte Ekchymosen an den Extremitäten. Die Blutaus- Ausfall besonders der Vibrations- und Lageempfindung,
tritte werden bei normalen Gerinnungsfaktoren und Throm- schmerzhafte Muskelkrämpfe und starke Verlangsamung der
bozytenzahlen auf verminderte Kapillarresistenz zurückge- NLG sowie Skelettdeformitäten, wobei der Hohlfuß, Krallen-
führt. zehen und die sog. Storchenbeine relativ typisch sind. Die des-
kriptive Bezeichnung HMSN hat die früher üblichen Benennun-
3Symptome und Verlauf. Die Krankheit kann auftreten gen: neurale Muskelatrophie, Charcot-Marie-Tooth- oder De-
als jerine-Sottas-Krankheit abgelöst. Mittlerweile werden die ver-
4 Mononeuritis multiplex besonders der Nn. ulnaris, medi- schiedenen Untertypen mit CMT bezeichnet, sich ableitend von
anus, radialis, ischiadicus u. saphenus, Charcot-Marie-Tooth. In der Literatur werden zahllose Typen
702 Kapitel 32 · Polyneuropathien, Immunneuropathien und hereditäre Neuropathien

. Tabelle 32.5. Klassifikation der CMT/HMSN


Typ 1 – Erbgang autosomal-dominant, Beginn im Erwachsenenalter
(Charcot-Marie- – Symptome: distale, an den Füßen beginnende Atrophie und Parese, Fußdeformitäten
Tooth-Krankheit) – Geringgradige, an den Akren betonte Sensibilitätsstörungen
– Elektrophysiologie: deutlich verlangsamte Nervenleitgeschwindigkeit (um 20 m/s)
– Suralisbiopsie: axonale Degeneration, De- und Remyelinisierung, Zwiebelschalenformationen
Typ 2 – Erbgang autosomal-dominant, Beginn im Erwachsenenalter
(neuronaler Typ der – Symptome: distale Atrophien an den Füßen und Unterschenkeln, geringe Sensibilitätsstörungen
peronaealen Muskel- – Elektrophysiologie: axonales Muster mit geringgradiger Verlangsamung oder normaler Nervenleitgeschwindigkeit
atrophie) – Suralisbiopsie: axonale Degeneration, geringgradige segmentale Demyelinisierung
Typ 3 – Meist autosomal-dominant, rezessive Formen beschrieben. Beginn im Kindesalter, rasche Progression
(hypertrophische – Symptome: verzögerte motorische Entwicklung, deutlichere Paresen an Händen und Unterschenkeln, deut-
Neuropathie liche, distal betonte Sensibilitätsstörungen
Dejerine-Sottas) – Periphere Nerven verdickt
– Elektrophysiologie: hochgradige Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit (unter 10 m/s)
– Suralisbiopsie: De- und Remyelinisierung, Zwiebelschalenbildung
Typ 4 – Autosomal-rezessiv, Beginn im Jugendalter
(hypertrophische – Symptome: Retinitis pigmentosa, sensomotorische Neuropathie, Hörstörungen, kardiale, kutane und Skelet
Neuropathie bei manifestationen
Morbus Refsum) – Elektrophysiologie: deutlich verlangsamte Nervenleitgeschwindigkeit
– Suralisbiopsie: axonale Degeneration, segmentale Demyelinisierung, Zwiebelschalenformationen
– Biochemie: Phytansäure-Akkumulation in verschiedenen Geweben und im Serum
Typ 5 – Autosomal-dominant, Beginn junges Erwachsenenalter oder später
(mit spastischer – Symptome: langsam progredienter Verlauf mit spastischer Paraparese bei annähernd normaler Lebenserwartung
32 Paraparese) – Elektrophysiologie: Nervenleitgeschwindigkeit normal oder geringgradig unter der Norm
– Suralisbiopsie: unspezifische Verminderung der markhaltigen Fasern
Typ 6 (mit Optikus- – Erbgang autosomal-dominant, Manifestation der PNP in der 1. Dekade und der Sehstörungen zwischen 5 und
atrophie oder 50 Jahren, Mutation: ebenfalls im Mitofusin2-Gen
Retinitis pigmentosa) – Symptome: Sehverlust, distale Muskelatrophie
– Geringgradige, distale Sensibilitätsstörungen
– Elektrophysiologie: Nervenleitgeschwindigkeit verlangsamt

von CMT oder HMSN beschrieben. Neben den autosomal ver- grund. Fußdeformitäten (Hohlfuß) und besonders dünne Un-
erbten Neuropathien (. Tab. 32.5) ist auch eine X-chromosomal terschenkel (»Storchenbeine«) lassen schon bei der Inspektion
vererbte Form beschrieben. Von klinischer Relevanz sind die den Verdacht auf diese Krankheit richten. Die Sensibilitätsstö-
Untertypen CMT 1, 2 und 3. Das Gebiet der erblichen Neuropa- rung tritt erst später hinzu, die Vibrationsempfindung ist aber
thien wird intensiv erforscht und daraus ergibt sich eine fast in den meisten Fällen schon frühzeitig ausgefallen.
unüberschaubare Vielfalt von Mutationen und Erkrankungen. 4 Die ersten Erscheinungen setzen zwischen dem 6. und
13. Lebensjahr ein, bei einem kleinen Teil der Patienten auch
erst im 4. Lebensjahrzehnt. Der chronische Verlauf erstreckt
32.5.1 CMT Typ 1 sich über Jahrzehnte und ist relativ gutartig. Die meisten Pa-
tienten bleiben gehfähig. Dabei entwickeln sich etwa gleichzei-
3Epidemiologie. Diese CMT wurde früher auch als ei- tig folgende Symptome:
gentliche Charcot-Marie-Tooth-Krankheit bezeichnet. Jede 4 Symmetrische, periphere Lähmungen mit faszikulären
Form der CMT 1 wird in den allermeisten Fällen autosomal Zuckungen, die sich von den Mm. peronaei und den kleinen
dominat vererbt. Bei der klassischen CMT Typ 1A liegt eine Fußmuskeln auf den ganzen Unterschenkel ausbreiten und
Mutation auf Chromosom 17p11 im PMP22-Gen vor. Inzwi- nach vielen Jahren etwa gleichzeitig auch die kleinen Hand-
schen sind verschiedene Genmutationen auf jeweils verschie- muskeln und die Oberschenkel ergreifen.
denen Chromosomen bekannt (CMT 1A–F). 4 Infolge der Muskelatrophie entwickeln sich Fußdeformi-
Es handelt sich um die häufigste neurogenetische Erkran- täten: Hohlfüße oder Equinovarus-Füße mit Krallenzehen,
kung mit 20–30 Betroffenen pro 100.000 Einwohnern. Die später auch Krallenhände. Sind die Unterschenkel sehr stark
Ausprägung variiert bei den einzelnen Mitgliedern einer Fami- atrophisch, entsteht das Bild der sog. Storchenbeine, die auffäl-
lie sehr: Bei einer Familienuntersuchung findet man stets viele lig zu der noch gut erhaltenen proximalen und Gürtelmusku-
abortive Fälle. Männer sollen schwerer erkranken als Frauen. latur kontrastieren.
4 Sensible Reizerscheinungen: nächtliche, schmerzhafte
3Symptome. Klinisch stehen atrophische Paresen der Un- Muskelkrämpfe, Schmerzen (und verstärkte Schwäche) bei
terschenkelmuskulatur, bevorzugt der Fußheber, im Vorder- Kälteeinwirkung, distale Parästhesien.
32.5 · Hereditäre, motorische und sensible Neuropathien (HMSN) (auch: CMT (Charcot-Marie-Tooth-Gruppe)
703 32

a b c

. Abb. 32.2. Elektronenmikroskopische Befunde bei hereditären großen und kleinen, markhaltigen Nervenfasern ist erheblich redu-
Neuropathien. Hypertrophische Neuropathie in unterschiedlichen ziert, die Zahl der Schwann-Zell-Kerne deutlich erhöht. Fokale Prolife-
Stadien der Entwicklung und Ausprägung mit Zwiebelschalenforma- rationen von Schwann-Zellen fallen stärker auf als typische Zwiebel-
tion (= konzentrisch angeordnete Schwann-Zell-Fortsätze) um demye- schalenformationen. Das endoneurale Bindegewebe ist deutlich ver-
linisierte (Pfeilköpfe), hypomyelinisierte (kurze Pfeile) und hypermye- mehrt. 380, c 16-jähriges Mädchen mit einem frühen Stadium einer
linisierte (lange Pfeile) Nervenfasern. a 7-jähriger Junge mit dominant sporadischen, hypertrophischen CMT 3. Die sensible NLG betrug
erblicher CMT 1. Im Nerven finden sich einzelne hypomyelinisierte 2 m/s. Ausgeprägte Zwiebelschalenformationen um demyelinisierte
Nervenfasern, spärliche Zwiebelschalenformationen in frühen Stadien Nervenfasern (Pfeilköpfe). Das endoneurale Bindegewebe ist ver-
und eine geringe Vermehrung des endoneuralen Bindegewebes, mehrt bei ausgeprägtem Ödem und einzelnen, vakuolisierten Makro-
b 51-jähriger Mann mit Refsum-Krankheit (auch CMT 4). Die Zahl der phagen (V),

4 Sensible Ausfallsymptome: strumpfförmig oder hand- 3Diagnostik. Die Diagnose wird mit der Nervenleit-
schuhförmig begrenzte Herabsetzung der Empfindung für alle geschwindigkeit (sehr stark verzögerte motorische und
Qualitäten. Im frühen Krankheitsstadium sind besonders die sensible Nervenleitgeschwindigkeiten, Werte unter 20 m/s
Vibrations- und die Lageempfindung vermindert, ohne dass es sind typisch) gestellt. Die NLG sind auch in Nerven, die
zu einer sensiblen Ataxie kommt. klinisch (noch?) nicht befallen sind und bei Familienmit-
4 Der Gang wird zunächst ungeschickt, und die Kranken gliedern, die nicht (oder noch nicht?) manifest krank sind,
ermüden vorzeitig. Später bilden ein doppelseitiger »Stepper- verzögert.
gang« (Peronäusparese) oder die Kombination von »Stepper«- Bioptisch finden sich typische Zeichen der segmenta-
und »Bügeleisengang« (Peronäus- und Tibialislähmung mit len Demyelinisierung mit zwiebelschalenartig angeordne-
Unfähigkeit den Fuß abzurollen, daher die Bezeichnung) aus. ten Schwann-Zellen und axonaler Begleitdegeneration
4 Die ASR erlöschen früh, die PSR und die Eigenreflexe der (. Abb. 32.2). Der Liquor ist nicht verändert.
Arme erst später.

. Abb. 32.3. Plexus neuritis. In der hochauflösenden T1-gew. erkennt man eine prominente Signalanhebung in den betroffenen
koronaren MRT erkennt man den unteren Plexus cervicobrachialis. Plexusanteilen (Pfeile)
Auf den korrespondierenden T2-gew., fettunterdrückten Sequenzen
704 Kapitel 32 · Polyneuropathien, Immunneuropathien und hereditäre Neuropathien

Exkurs
Experimentelle Therapieansätze bei hereditären Neuropathien
Eine kausale Therapie steht bislang nicht zur Verfügung. 2. Ascorbinsäure hat im Tierexperiment einen direkten
Patienten profitieren von: Physiotherapie, ambulanten Hilfen Effekt auf den PMP22 mRNA-Level und auf cAMP indu-
(Peronäusschiene, Gehstützen etc.) und chirurgischer Inter- zierte PMP22 Transkription. Vermutet wird eine notwen-
vention bei Skelettdeformitäten dige Tagesdosis von 3 g. Klinische Studien laufen.
Neue erfolgsversprechende Therapieansätze im Tier- 3. Neurothrophin-3 ist ein von Schwann-Zellen produzierter
modell: Wachstumsfaktor, der im Tiermodell die axonale Regenera-
1. Progesteron-Antagonisten können im Tiermodell die tion steigern kann. In einer kleinen, placebokontrollierte
gesteigerte Expression von PMP22, die bei CMT1A zur Studie am Menschen (n=8) soll eine Verbesserung der
Duplikation von PMP22 auf Chromosom 17 führt, redu- sensiblen Symptomatik erzielt worden sein.
zieren. Im Tiermodell scheint für die axonale Schädigung
ein Defekt der Schwann-Zellen eher verantwortlich zu
sein, als eine primäre Demyelinisierung.

32.5.2 Andere hereditäre sensomotorische autosomal-rezessiv vererbt und ist mit den Namen Dejerine
Neuropathien und Sottas verbunden. Die neurologischen Symptome gleichen
denen bei CMT 1, vielleicht etwas stärker ausgeprägt und frü-
CMT Typ 2 her beginnend. Bei der Palpation kann man verdickte Nerven-
Diese Form der CMT weist histologisch keine Verdickung der stränge im Sulcus ulnaris und am Fibulaköpfchen tasten. Die
peripheren Nerven und elektrophysiologisch eine geringere motorischen Nervenleitgeschwindigkeiten sind besonders
Verzögerung der Nervenleitgeschwindigkeit auf als Typ 1. stark verzögert, oft nicht mehr messbar.
32 Vielmehr steht die axonale Degeneration mit sekundärer Ent-
Hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckparesen
markung im Vordergrund. Sie ist sehr viel seltener als Typ 1.
Das Erkrankungsalter ist variabel, die klinische Symptomatik (tomakulöse Neuropathie)
ist der des Typ I sehr ähnlich. Diese Krankheit liegt vor, wenn Patienten unter häufigen und
rezidivierenden Drucklähmungen einzelner Nerven (Peroneus,
CMT Typ 3 Cutaneus femoris lateralis, Ulnaris, distaler Tibialis, Medianus)
Diese Neuropathie ist durch Hypertrophie der Nervenfasern oder des Plexus brachialis leiden. Die NLG können an diesen
gekennzeichnet. Sie wird sowohl autosomal-dominant als auch Stellen erheblich verzögert sein. Histologisch findet man eine

Facharzt
Symptomatische PNP bei genetischen Grundkrankheiten
Polyneuropathie bei akuter, intermittierender Porphyrie (Störung der Schweißsekretion, orthostatische Hypotonie). Erst
Bei dieser autosomal-dominant vererbten Krankheit, treten später entwickeln sich Lähmungen. Regelmäßig sind Dünndarm
die Neuropathiesymptome im Vergleich zu anderen internis- und Dickdarm, häufig auch Nieren und Herz betroffen. Der
tischen und neurologischen Symptomen zurück. Die abdo- Verlauf ist progredient und führt innerhalb von 5–15 Jahren
minellen Krisen mit Koliken und Erbrechen und zentralner- durch Herzbeteiligung oder Mangelernährung zum Tode. Der
vöse Symptome (epileptische Anfälle, qualitative und quanti- Amyloidnachweis wird über Nerven-, Muskel- und Rektum-
tative Bewusstseinsstörung, intrazerebrale Blutungen) stehen schleimhautbiopsie gestellt, sensitiv ist aber auch die Biopsie
im Vordergrund. Die PNP kann wie ein Guillain-Barré-Syn- des Bauchfetts, die sich damit für Wiederholungsbiopsien eig-
drom verlaufen. Häufiger findet sich aber eine Mononeuritis net. Die molekulare Diagnose erfolgt über DNA-Analyse.
multiplex. Die Hirnnerven können betroffen sein. Die Diag- Therapeutisch kommt die Lebertransplantation in Frage,
nose wird meist aufgrund der internistischen und zentral- durch die sich die pathologische Amyloidbildung in der Leber
nervösen Symptome gestellt. Porphyrieauslösende Medika- zuverlässig stoppen lässt. Bei AL-Amyloidosen werden wegen
mente müssen vermieden werden. Therapie: s. Lehrbücher der ebenfalls schlechten Prognose meist eine Hochdosis-
der Inneren Medizin. Chemotherapie oder eine Stammzelltransplantation durchge-
führt.
Polyneuropathie bei Amyloidosen
Dies ist eine seltene Erkrankung und kommt bei Gammopa- Polyneuropathie bei Leukodystrophien
thien (MGUS) als AL-Amyloidosen und auf genetischer Basis Der Befall der peripheren Nerven bei Leukodystrophien
mit autosomal-dominantem Erbgang als sog. familiäre Amylo- (7 Kap. 28.6) ist zwar typisch, aber steht nicht im Vordergrund
id-PNP vor. Häufigste Ursachen sind Punktmutationen im Gen der Symptomatik. Die Nervenleitgeschwindigkeiten sind ver-
für Transthyretin auf Chromosom 18. Typisch ist eine distale, zögert. In der Biopsie können metachromatische Substanzen
sensomotorische PNP. Vegetative Symptome treten hinzu nachgewiesen werden.
32.6 · Immunneuropathien (Guillain-Barré-Syndrom und Varianten)
705 32
erhebliche Verdickung der Markscheiden (tomakulös = wurstar- 32.6.1 Akut inflammatorische demyelinisierende
tig) (. Abb. 32.2). Der Erbgang ist autosomal-dominant. Es han- Polyneuropathie (AIDP, Guillain-Barré-
delt sich molekulargenetisch um eine heterogene Störung mit Syndrom (GBS))
Deletion oder Mutation des PMP22-Gens auf Chromosom 17.
Diese Krankheit ist mit den Namen von zwei der drei Autoren
Hereditäre sensorische autonome Neuropathie (Guillain, Barré und Strohl), die das klinische Syndrom zu Be-
(HSAN) ginn des 20. Jahrhunderts erstmals beschrieben hatten, ver-
Charakterisiert sind bislang fünf Typen (HSAN I-V). HSAN I bunden. Wir unterscheiden das klassische, akute Guillain-
(oder HSN I) beginnt in der 2. Lebensdekade mit Sensibilitäts- Barré-Syndrom von einigen Varianten, die sich in Pathogenese,
störungen an Füßen und Händen. Der klinische Verlauf ist Symptomverteilung und Therapie unterscheiden.
heterogen. Es kommt vor allem zu einer Einschränkung der
Schmerz- und Temperaturempfindung, akralen Ulzerationen, 3Epidemiologie und Ätiologie. Man rechnet mit 0,5–
komplizierenden Osteomyelitiden (bis hin zur Notwendigkeit 2 Krankheitsfällen auf 100.000 Einwohner pro Jahr. Männer
von Amputation der Finger und Zehen) und lanzinierenden sind etwas häufiger betroffen als Frauen. Die Krankheit kann
Schmerzen. Der Vererbungsmodus ist autosomal-dominant. in jedem Lebensalter auftreten, bevorzugt sind junge Männer
Molekulargenetisch handelt es sich um eine heterogene Er- und Patienten im Alter zwischen 50 und 60 Jahren.
krankung. Bislang wurden Mutationen im SPTLC1 (serine Die Mortalität liegt bei etwa 5%. Etwa 60% aller Patienten
palmytoyltransferase long-chain1) auf Chromosom 9 nachge- können nach der akuten Krankheit ohne körperliche Behinde-
wiesen. HSAN II–V werden autosomal-rezessiv vererbt und rung wieder in ihren Beruf zurückkehren.
manifestieren sich bereits im Kleinkindesalter. Bei der HSAN Bei etwa 40% der Patienten geht den Lähmungen ein Infekt
IV, die durch eine Störung des Schmerz- und Temperatursinns der Atemwege oder des Gastrointestinaltraktes voraus. Wird
sowie eine Anhidorose charakterisiert ist, liegt zumeist eine ein Erreger identifiziert, so handelt es sich meist um Campy-
Mutation des NTRK1-Gens, das für einen Thyrosinkinasere- lobacter jejuni, aber auch das Zytomegalievirus, Epstein-Barr-
zeptor kodiert, vor. oder Varizella-Zoster-Virus und Influenzavirus Mycoplasmen
oder HIV werden als Auslöser diskutiert. Impfungen (z.B. Te-
tanus, Polio, Influenza, Tollwut) können ebenfalls ein GBS
32.6 Immunneuropathien (Guillain-Barré- auslösen.
Syndrom und Varianten)
3Pathophysiologie. Bei der klassischen Form des GBS fin-
3Definition und Einteilung. Wir besprechen hier die Grup- det man im peripheren Nervensystem multifokal, mit Bevor-
pe der immunologisch bedingten, akuten und chronischen zugung der Spinalwurzeln und der proximalen Nervenab-
Neuropathien und Polyneuroradikulitiden, zu denen das schnitte entzündliche Läsionen, in denen die Markscheiden in
Guillain-Barré-Syndrom und seine Varianten gehören. Allen Gegenwart von Lymphozyten und Makrophagen zugrunde
gemeinsam ist eine Autoimmunreaktion gegen peripheres gehen.
Nervengewebe. Bei vielen Fällen von GBS steht die Demyelinisierung im
Immunneuropathien sind eine heterogene Gruppe von Vordergrund (deshalb auch als AIDP: akut inflammatorische
akut meist aber chronisch verlaufenden Erkrankungen des demyelinisierende Neuropathie bezeichnet), und die Axone
peripheren Nervensystems. Große Fortschritte in der Auf- bleiben erhalten. Bei sehr schwer verlaufenden GBS-Varianten
deckung der pathogenetischen Mechanismen, sowohl zellu- kommt es zur sekundären Beteiligung der Axone, was die
lärer (T-Lymphozyten) als auch humoraler Art (verschiedene Chancen einer vollständigen Erholung erheblich beeinträch-
Antikörper) wurden erzielt. tigt. Seltener gibt es auch primär axonale Läsionen (akute mo-

Facharzt
Das Spektrum des GBS und seiner Varianten
Beim GBS unterscheidet man verschiedene Subtypen mit 4 das Miller-Fisher-Syndrom (MFS) mit der Trias von Oph-
charakteristischen klinischen, elektrophysiologischen und thalmoplegie, Areflexie und Extremitätenataxie und manchmal
immunologischen Aspekten und pathologischen Charakte- dem Nachweis charakteristischer Antikörper (GQ1b) und
ristika: 4 die akute Pandysautonomie, mit vorwiegender oder
4 die akute inflammatorische demyelinisierende Poly- exklusiver Beteiligung des sympathischen und parasympa-
neuropathie (AIDP). Dies ist die klassische Form, wie wir sie thischen Nervensystems (oft nach EBV-Infektion).
üblicherweise in Europa und Nordamerika sehen,
4 die akute rein motorische axonale Neuropathie Daneben kennt man noch sehr seltene regionale Varianten,
(AMAN), in Asien und Südamerika häufiger vorkommend, wie beispielsweise das rein ataktische GBS oder die isolierte
4 die akute motorische und sensible axonale Neuropa- Bulbärlähmung.
thie (AMSAN), die eine erhebliche Beteiligung sensorischer
Nervenfasern zeigt und wegen der axonalen Beteiligung
eine schlechtere Prognose hat,
706 Kapitel 32 · Polyneuropathien, Immunneuropathien und hereditäre Neuropathien

Facharzt
Immunpathogenese und Tiermodelle des GBS
Die immunologischen Abläufe, die zu akuten oder chro- dings findet man bei chronischen Immunneuropathien spezi-
nischen Neuropathien führen, sind inzwischen besser, wenn fische Antikörper gegen Ganglioside. Möglicherweise treten
auch nicht vollständig verstanden. Sehr typisch ist die multi- die beiden Mechanismen auch nebeneinander auf. Bei den
fokale Infiltration des Nerven durch mononukleärer Zellen. axonalen Immunneuropathien sind gegen Ganglioside oder
Eine vorangegangene Infektion wird oft als möglicher Trig- MAG (myelinassoziiertes Glykoprotein bei CIDP, s. Text) gerich-
ger einer später gegen das periphere Nervensystem gerich- tete Antikörper für die Aktivierung der Makrophagen verant-
teten Immunantwort gesehen. Hierbei werden autoreaktive wortlich, die über freie Radikale die Axone schädigen
T−Lymphozyten aktiviert und hierdurch eine Kaskade ver- Das Verständnis der Pathogenese der GBS ist durch ein
schiedener Molekülen an der der Blut-Nerven-Schranke Tiermodell, bei dem ein akutes GBS-Syndrom ausgelöst wer-
gestartet, die letztendlich zu einer Aktivierung von Makro- den kann, die experimentell allergische Neuritis (EAN), sehr
phagen am peripheren Nerven führt und bei der demyelini- viel besser geworden. T-Lymphozyten infiltrieren das perineu-
sierenden Form die Schwannschen Zellen direkt schädigt. rale Gewebe. Die Markscheidenschädigung wird vor allem
Möglich ist auch eine komplementvermittelte Schädigung durch Makrophagen herbeigeführt, die die Basalmembran um
der Schwannschen Zellen. Die Zielantigene einer antikörper- die Nervenfasern durchdringen und das normale Myelin vom
vermittelten Schädigung sind noch nicht identifiziert. Aller- Körper der Schwann-Zellen und von den Axonen entfernen.

torische axonale Neuropathie, AMAN; akute motorische und 4 Erst in den letzten Jahren hat man gelernt, wie wichtig die
sensorische axonale Neuropathie, AMSAN). autonomen Störungen für die Prognose des GBS sind. Die
vegetative Beteiligung ist durch einen Wechsel von Über- und
3Symptomatik. Die Krankheit entwickelt sich akut oder Unterfunktion in Sympathikus und Parasympathikus gekenn-
32 subakut innerhalb einiger Wochen. Die Rückbildung beginnt zeichnet. Diese Wechsel sind nicht immer vorher bestimmbar.
2–4 Wochen nach dem Stillstand der Ausbreitung. Sie kann 4 Die gesteigerte sympathische Aktivität manifestiert sich
sich über Monate hinziehen. Viele Patienten erholen sich gut. in
Es gibt aber auch protrahierte und chronische Verläufe mit 5 anfallsweise auftretenden, hypertonen Blutdruckentglei-
Zunahme der Symptomatik über einen Monat und länger. Sel- sungen,
ten beobachtet man eine perakute Entwicklung der Symptome: 5 paroxysmalen Tachykardien mit Extrasystolien oder ande-
Die Patienten sind am Morgen noch neurologisch unauffällig, ren Herzrythmusstörungen
entwickeln Gelenkschmerzen, Lähmungen, kommen am 5 peripherer Vasokonstriktion und
Nachmittag in die Klinik und müssen schon in der Nacht intu- 5 vermehrtem Schwitzen.
biert und beatmet werden (Landry-Paralyse). 5 Die verminderte Sympathikusaktivität ist gekennzeichnet
4 Die Lähmungen sind in der Regel symmetrisch und an durch
den Beinen schwerer als an den Armen. Sie sind proximal be- 5 Bradykardien (die nicht auf Atropin ansprechen),
tont und ergreifen nicht selten auch die Muskeln des Rumpfes 5 verzögerte Reflextachykardie bei Orthostase,
(Polyneuroradikulitis mit Gefahr der Atemlähmung). Übli- 5 erheblichen Abfall des systolischen Blutdrucks bei Lage-
cherweise beginnt die Schwäche in den Unterschenkeln, geht wechsel und
über auf die Oberschenkel über und findet sich danach auch in 5 abnorme Empfindlichkeit gegen geringen Volumenman-
den Unterarmen und Händen. gel.
4 Die Ausprägung der motorischen Ausfälle ist variabel. Es 5 Überschießende Parasympathikusaktivität führt zu
gibt Patienten mit nur leichten Paresen der Fußheber und 5 dramatischen, paroxysmalen Bradykardien und
Knie- und Hüftbeuger, die auch auf dem Höhepunkt ihrer 5 Sekundenherztod.
Krankheit noch gehfähig sind. Bei anderen findet man mittel- 5 Die verminderte Parasympathikusaktivität macht sich
schwere, symmetrische Lähmungen von Armen und Beinen, durch Blasen- und Mastdarmstörungen bemerkbar.
und noch andere sind tetraplegisch. 4 Gegen die Diagnose sprechen: Asymmetrie der Lähmun-
4 Hirnnervenlähmungen sind häufig. In erster Linie sind gen, anhaltende Blasen- und Mastdarmstörungen, Pleozytose
die Nn. facialis, trigeminus, vagus (mot.), accessorius und hy- über 50 Zellen, scharf abgegrenzte, querschnittsförmige Sensi-
poglossus betroffen. bilitätsstörung oder eine rein sensible PNP.
4 Sensibel finden sich vor allem Reizerscheinungen. Die
sensiblen Ausfälle haben meist nur einen leichten Grad. Sie 3Verlauf und Prognose. Ein Drittel der Patienten erreichen
können, wie die Lähmungen, auf den Rumpf übergreifen. das Maximum ihrer Symptome innerhalb von einer Woche, ein
Schmerzen der Muskulatur werden aber oft angegeben. Die weiteres Drittel innerhalb von 2 Wochen, die anderen inner-
Schmerzen können oft so stark werden, dass eine medikamen- halb von 4 Wochen. Die Rückbildung beginnt 2–4 Wochen
töse Therapie der neuropathischen Schmerzen nötig wird. nach dem Stillstand der Ausbreitung. Sie kann sich über Mo-
Viele Patienten berichten über starke Schmerzen in der nate hinziehen. Die subakute Entwicklung der Symptome, die
Rückenmuskulatur. innerhalb von 1–2 Wochen ihr Maximum erreicht, wird am
32.6 · Immunneuropathien (Guillain-Barré-Syndrom und Varianten)
707 32
häufigsten beobachtet. Viele Patienten sind in der akuten Pha- 4 Die Untersuchung der F-Wellen, der transkraniellen Mag-
se bettlägerig und können die Muskeln nur noch leicht gegen netstimulation und der somatosensibel evozierten Potentiale
Schwerkraft bewegen. Sie müssen gefüttert werden, können erlaubt die Diagnose von Demyelinisierung in Nervenwurzeln
Schwierigkeiten beim Schlucken haben, und haben eine re- und proximalen Segmenten der peripheren Nerven bei 80%
duzierte Vitalkapazität. Sie müssen engmaschig überwacht der Erkrankten. Ausgeprägte, floride Denervierung im EMG
werden. deutet auf einen axonalen Schaden und eine schlechtere Pro-
Etwa 15–20% der GBS-Patienten, die Zahl kann von Klinik gnose für den Zeitverlauf und für das Ausmaß der Besserung
zu Klinik unterschiedlich sein, müssen beatmet werden. Die hin. Bei einigen GBS-Varianten (s.u.) ist der Nachweis von
Beatmungsdauer kann wenige Tage bis mehrere Jahre sein. Leitungsblöcken in einzelnen Segmenten peripherer Nerven
Selbst dann ist noch eine relativ gute, aber nicht mehr vollstän- charakteristisch, während andere Abschnitte desselben Nerven
dige Erholung möglich. Wird innerhalb weniger Stunden oder normale NLGs haben.
Tage die Muskulatur aller Extremitäten und des Rumpfes ge- 4 Für die vegetative Diagnostik sind die Untersuchung der
lähmt, spricht man von einer Landry-Paralyse. Herzfrequenzvariation bei tiefer Inspiration und Exspiration
Wir klären jeden Patienten auf, dass die Lähmungen sich sowie der Herzfrequenz und Blutdruckvariation bei Lagewech-
ausbreiten und auch Hirnnerven ergreifen können und dass sel wichtige Parameter. Karotissinusmassagen und den Bulbus-
Schrittmacher und maschinelle Beatmung notwendig werden druckversuch sollte man ausschließlich unter intensivmedizi-
können. Sollte eine maschinelle Beatmung notwendig sein, ist nischen Bedingungen durchführen. Die tiefe Atmung mit einer
es sinnvoll nach der oralen Intubation eine Tracheotomie vor- Frequenz von 6/min unter gleichzeitiger EKG-Kontrolle ist die
zunehmen und den Patienten nicht mehr zu sedieren, um eine beste Methode zur Erfassung einer kardialen Denervierung.
bessere Überwachung des Patienten zu gewährleisten.
Das klassische GBS hat eine gute Prognose. Etwa 20% der 3Therapie
Patienten behalten Funktionsstörungen zurück. Rückfälle 4 Immunglobuline (IVIG) und Plasmapherese sind beim
werden in 3–10% berichtet. Es gibt Maximalvarianten, bei de- akuten GBS gleich wirksam. Kortikoide zusätzlich haben kei-
nen die Patienten am ganzen Körper gelähmt sind (dies nen Effekt.
schließt alle Gesichtsmuskeln und die Augenmuskeln ein), 4 Die Behandlung mit Immunglobulinen ist kostspielig
vegetativ denerviert sind (auch die Pupillenreaktionen sind (etwa € 5000,– pro Behandlungszyklus), aber verhältnismäßig
nicht mehr auslösbar) und, trotz voll erhaltenen Bewusstseins, wenig belastend und ohne wesentliche Nebenwirkungen. Sie
neurologisch nicht mehr untersuchbar sind. Bei längerem kann auch durchgeführt werden, wenn der Patient einen Infekt
Verlauf mit Fortschreiten der Symptome über mehr als 4 Wo- hat. Die übliche Dosierung ist 0,4 g/kg KG täglich über 5 Tage.
chen ist die Prognose schlechter. Es sollte auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr geachtet
Todesfälle beruhen auf Atemlähmung, akutem Herzstill- werden.
stand oder auf Lungenembolie aus Beinvenenthrombosen bei 5 Der eigentliche Wirkmechanismus der Immmunglobulin-
kompletter Paraplegie. Ferner treten spontan oder beim Intu- behandlung ist noch nicht bekannt. Verschiedene Mechanis-
bieren und Extubieren tödliche Asystolien auf. men, wie Beeinflussung von T-Zell-Aktivierung, Neutralisie-
rung von Superantigenen, Neutralisierung von proinflamma-
3Diagnostik torischen Zytokinen oder Hemmung der T-Zell-vermittelten
4 Im Liquor findet man in der Regel bei normaler Zellzahl Antikörperproduktion werden diskutiert.
eine mittlere bis starke Eiweißvermehrung um 0,70–2,00 g/l 5 Nebenwirkungen der (IVIG-)Behandlung können ana-
(zytoalbuminäre Dissoziation), die sich oft erst in der 2.– phylaktische Reaktion, aseptische Meningitis sowie Kopf- und
4. Krankheitswoche entwickelt. Das Eiweiß tritt infolge einer Rückenschmerzen sein. Selten wurde bei dieser Behandlung
Schrankenstörung an den Nervenwurzeln (»Polyradikulitis«) eine Hepatitis übertragen. Die Virussicherheit der üblichen
aus. Eine leichte Zellvermehrung ist noch mit der Diagnose Plasmaprodukte ist in der letzten Zeit viel besser geworden.
vereinbar. 4 Die Plasmapherese hat sich bei rasch fortschreitenden
4 Elektroneurographisch findet man eine Verlangsamung Krankheitsverläufen und bei der sehr chronisch verlaufenden
der motorischen und sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit bei Variante als wirksam erwiesen. Der Krankheitsverlauf wird
70% der Patienten. Da die Demyelinisierung aber diskontinu- kürzer, die Rückbildung der Lähmungen besser. Sie soll nicht
ierlich auftritt, muss man viele Nerven untersuchen. durchgeführt werden bei Patienten, deren Krankheit bereits

Exkurs
Wann Plasmapherese, wann Immunglobuline?
Wir entscheiden uns heute meist für Immunglobuline als Die Vorteile von intravenösen Immunglobulinen liegen in
erste Behandlungsmethode. Ausnahmen sind jüngere Pati- der einfachen Anwendung und der Möglichkeit, sie auch älte-
enten mit sehr schnell verlaufendem GBS und drohender ren, multimorbiden Patienten oder Kindern geben zu können.
Beatmungspflichtigkeit. IVIG soll besser als Plasmapherese bei Patienten wirken,
Plasmapheresen führen wir meist auf der Intensivsta- die eine vorangegangene Infektion mit C. jejuni, GM1 oder
tion durch, Immunglobuline werden natürlich auch bei nicht GM1b Antikörper durchgemacht haben oder vorwiegend
intensivpflichtigen Patienten gegeben. axonale Schädigungen haben.
708 Kapitel 32 · Polyneuropathien, Immunneuropathien und hereditäre Neuropathien

weit fortgeschritten ist. Ebenfalls nicht empfohlen wird sie, der Lage, seinen Beruf aufzunehmen. Der neurologische Untersu-
wenn der Zustand des Patienten für mehr als eine Woche auf chungsbefund hat sich fast normalisiert. Die Kraft ist nicht mehr
demselben Niveau geblieben ist. reduziert, aber die Muskeleigenreflexe sind weiterhin nicht aus-
5 Kontraindiziert ist die Plasmapherese, wenn schon ein fie- lösbar.
berhafter Infekt als Komplikation des GBS eingetreten ist. Die
Plasmapherese ist nicht ohne Risiko: Sie stellt eine erhebliche
Kreislaufbelastung dar, beim Legen des großlumigen zentralen 32.6.2 Chronische Immunneuropathien (chro-
Zugangs können Komplikationen auftreten, und es können nisch inflammatorische demyelinisierende
bakterielle Entzündungen begünstigt werden. Polyneuropathie (CIDP) und Varianten
5 Bei der Plasmapherese tauschen wir jeden zweiten Tag
etwa 40–50 ml Serum/kg KG gegen Plasmaersatz (Human- Neben der klassischen CIDP werden heute weitere Untergrup-
albumin oder Fresh-frozen-Plasma). pen definiert, die mit distalen symmetrische Paresen oder
4 Eine Alternative zum Plasmaaustausch stellt die Immun- Sensibilitätsstörungen oder durch asymmetrische, manchmal
adsorption dar, bei der IgG-Anteile des Plasmas gebunden nur motorische Neuropathien auffallen.
werden. Kortikosteroide sind unwirksam. Die CIDP ist viel seltener als das GBS. Man rechnet mit
0,5 Fällen pro 100.000 Einwohner und Jahr. Infektionen gehen
> Die entzündliche Polyneuroradikulitis macht oft In-
dem CIDP seltener voraus. Die Pathophysiologie ist ähnlich
tensivbehandlung notwendig, kann aber sehr oft mit
wie beim GBS, auch hier finden wir segmentale Demyelini-
Immunglobulinen oder Plasmapherese erfolgreich
sierung mit mononukleären Zellinfiltrationen der Nervenwur-
behandelt werden.
zeln und der peripheren Nerven. Man findet häufiger axonale
Allgemeine therapeutische Maßnahmen: Diese umfassen Läsionen, die zur Denervierung führen.
Infektprophylaxe und -behandlung, Bilanzierung von Flüssig-
keit, Elektrolyten und Nährstoffen, Thromboseprophylaxe 3Symptome. Etwa 5% der GBS-Patienten entwickeln das
(frühzeitige Vollheparinisierung mit 1000 E/h mit einer Ziel- Maximum ihrer Symptome erst nach 4 oder mehr Wochen.
32 PTT von 50–60 s.), frühzeitiger Einsatz von Krankengymnas- Die Abgrenzung dieser Variante des GBS ist sinnvoll, da Ver-
tik zur Verhinderung von Kontrakturen, Dekubitusprophyla- lauf und die Therapie Unterschiede aufweisen. Nicht selten
xe, Blasenkatheter oder suprapubische Harnableitung. fluktuieren die Symptome, und es wechseln sich klinische Ver-
Bei schweren Verlaufsformen und deutlichen Zeichen ei- besserungen mit Rückfällen ab. Verteilung und Ausprägung
ner vegetativen Beteiligung kann ein externer Herzschrittma- der klinischen Symptome sind dem GBS ähnlich. Vegetative
cher nötig sein. Begleitsymptome sind viel seltener.

ä Der Fall 3Diagnostik. Die Diagnose einer CIDP lässt sich nach dem
Ein dreißigjähriger Patient wird in die Klinik gebracht, weil er seit klinischen Verdacht neurographisch untermauern:
wenigen Tagen unter unangenehmen, schmerzhaften Sensibili- 4 die NLGs sind üblicherweise stark verlangsamt, die MSAP
tätsstörungen an Händen und Füßen leidet. Ihm ist auch aufge- reduziert und es zeigt eine temporale Dispersion des MSAP.
fallen, dass er eine leichte Schwäche für die Fußhebung und das 4 Die distal motorischen Latenzen sind deutlich verlängert.
Zugreifen entwickelt hat. Seit dem gestrigen Abend haben sich 4 Die motorischen und sensiblen Nerven sind üblicherweise
die Lähmungen deutlich verstärkt. Er sei nur mit Mühe aus dem in den Krankheitsprozess einbezogen.
Bett herausgekommen und habe nur mit Unterstützung die 4 Die F-Wellen zeigen eine reduzierte Persistenz und deut-
Treppe herabgehen können. Er wird im Rollstuhl sitzend vom lich verzögerte Latenzen.
Krankentransport in die Klinik gebracht. Aus der Vorgeschichte ist 4 Im Liquor findet sich in Analogie zum GBS eine zytalbu-
zu erwähnen, dass er in den letzten Wochen einen langwierigen, minäre Dissoziation.
bronchopulmonalen Infekt gehabt hat. 4 Eine monoklonale Gammopathie als Auslöser sollte im-
Bei der neurologischen Untersuchung findet sich eine distal mer ausgeschlossen werden.
betonte, periphere Tetraparese mit Kraftgrad 4 in den proximalen 4 In der MRT können sich vor allem wurzel- und plexusnah
Muskeln und 2–3 in den distalen Muskeln. Muskeleigenreflexe verdickte Nerven darstellen lassen. Je nach Akuität findet sich
sind nicht auslösbar. Die Vitalkapazität liegt bei 1400 ml. Der auch eine Kontrastmittelaufnahme.
Patient wird sofort zur Beobachtung auf die Intensivstation ge-
bracht. 3Therapie und Prognose. In der Akuttherapie der CIDP
In den folgenden zwei Tagen nehmen die Lähmungen weiter sind Steroide, IVIG und Plasmapharese während eines Be-
zu, die Vitalkapazität sinkt unter 1000 ml und die Sauerstoffsätti- handlungszeitraums von 6 Wochen gleichwertig. Für die
gung des Blutes unter 90%. Trotz Therapie mit Plasmapherese Dauertherapie gilt, eine möglichst niedrige Dosis/Frequenz
wird der Patient beatmungspflichtig. Nach 3 Wochen stellt sich der initial erfolgreichen Therapie anzuwenden. Bei inadä-
langsam eine Besserung der Muskelkraft ein. Der Patient kann quatem Ansprechen oder hohen Erhaltungsdosen sollten
intermittierend, später ganz von der Beatmung befreit werden, Kombinationstherapien oder zusätzliche Immunsuppressiva
kann wieder sitzen und sich selbst ernähren. Nach einer 12- angewendet werden.
wöchigen Rehabilitationsbehandlung ist der Patient wieder in 4 Man gibt 100 mg Prednison pro Tag für 3–4 Wochen und
6 reduziert danach schrittweise um 20 mg jeden Monat. Manch-
32.6 · Immunneuropathien (Guillain-Barré-Syndrom und Varianten)
709 32
Facharzt
Spektrum der chronisch entzündlichen demyelinisierenden Immunneuropathien
Wir unterscheiden eine Reihe von Unterformen der chro- das Syndrom einer Multiplex-Neuropathie erfüllt. Oft findet
nischen Immunneuropathien.: man GM1-Antikörper. Typisch ist der Nachweis multipler
4 die distale demyelinisierende symmetrische Neuro- Leitungsblöcken in der Neurographie.
pathie (DADS, A für aquired), die meist als sensomotorische 4 die multifokale erworbene demyelinisierende sensible
Neuropathie auftrittt. Oft findet man eine monoklonale und motorische Neuropathie (MADSAM). Sie ist, wie der
(IgM kappa) Gammopathie. Name andeutet, auch charakterisiert durch eine sensible und
4 die multifokale motorische Neuropathie (MMN) Sie ist motorische Neuropathie vom Multiplextyp. Leitungsblöcke
charakterisiert durch symmetrische distale Paresen, die meist findet man in der Regel nicht.

mal wird auch eine sehr hohe intravenöse Pulstherapie mit ästhesien an Händen und Füßen gekennzeichnet. Paresen tre-
500 mg bis 1 g Methylprednisolon in den ersten 5 Tagen emp- ten nicht auf. Es kommt spätestens nach einer Woche zur Are-
fohlen. Die üblichen Vorsichtsmaßnahmen der Kortisonbe- flexie.
handlung müssen berücksichtigt werden. Die Patienten entwi-
ckeln sehr häufig ein Cushing-Syndrom. 3Therapie. Die Behandlung ist wie beim akuten GBS.
4 Zusätzlich ist eine Immunsuppression mit Azathioprin
oder Cyclophosphamid indiziert.
4 Wenn die Kortikoidbehandlung nicht erfolgreich ist, gibt 32.6.4 Multifokale, motorische Neuropathie
man IVIG. In einer großen randomisierten, kontrollierten (MMN)
Studie wurde die Überlegenheit von IVIG gegenüber Placebo
bei chronischer inflammatorischer demyelinisierender Polyneu- Bei dieser seltenen Variante einer antikörpervermittelten Neu-
ropathie (CIDP) über einen Zeitraum von einem Jahr dokumen- ropathie findet man fast regelmäßig Antikörper gegen GM1-
tiert. Für die Dauertherapie gilt, eine möglichst niedrige Dosis/ Ganglioside. Eine homozygote Deletion im SMN2-Gen wird
Frequenz der initial erfolgreichen Therapie anzuwenden. überzufällig häufig bei der MMN gefunden.
4 Danach bleiben individuelle Versuche mit Plasmapherese,
Immunadsorption, Cyclophosphamid, Cyclosporin oder Ritu- 3Symptome. Üblicherweise findet sich ein progredienter
ximab, obwohl letzteres mehr gegen Oberflächenmoleküle Verlauf, insbesondere bei Antikörpernachweis. Die Patienten
(CD20) von B-Lymphozyten gerichtet ist. Eine neuere Subs- haben eine rein motorische Symptomatik mit asymmetrischer
tanz ist der gegen CD52 auf B-Lymphozyten gerichtete mono- Muskelschwäche gefolgt von Atrophie, Reflexabschwächung
klonale Antikörper Alemtuzumab. und elektrophysiologischem Nachweis von isolierten Leitungs-
blöcken in motorischen Nerven. Die MMN befällt vermehrt
Die Prognose ist uneinheitlich. Während etwa 30% der Pati- die distalen Arme. Faszikulationen und Krämpfe sind häufig.
enten mit Steroidbehandlung eine komplette Remission zei- Eine Beteiligung der Hirnnerven oder Atemmuskulatur
gen, bleiben doch etwa 50% mehr oder weniger schwer beein- kommt so gut wie nie vor.
trächtigt. Es gibt auch monotopische Varianten, bei denen die
Symptome jahrelang auf einen Nerven bezogen sein können,
3Differentialdiagnose. Aufgrund des langsameren, oft we- ohne dass es zur Ausweitung kommt. Relativ typisch ist dabei
niger schweren und primär chronischen Verlaufs kommen eine dem Supinatorsyndrom ähnelnde Entzündung des Radi-
eine Reihe von Differentialdiagnosen der CIDP in Betracht, an alis, und in solchen Fällen gelingt es auch nicht immer, Nerven-
die man beim klassischen GBS nicht denken würde. Paraprotein- blöcke zu finden. In solchen Fällen ist ein Therapieversuch mit
ämien, hereditäre, sensomotorische Neuropathien, toxische IVIG angezeigt, der dann die Diagnose sichern hilft.
Neuropathien und die multifokale, motorische Neuropathie
mit Leitungsblock (s.u.) müssen abgegrenzt werden. 3Therapie. Die multifokale motorische Neuropathie kann
mit intravenösen Immunglobulinen, ggf. auch mit Cyclophos-
phamid, behandelt werden. Steroide sollten keinesfalls zum
32.6.3 Miller-Fisher-Syndrom (MFS) Einsatz kommen.
Die MMN ist eine wichtige Differentialdiagnose zur be-
Die Inzidenz des MFS variiert regional sehr stark, so sind z.B. ginnenden amyotrophischen Lateralsklerose. Aus diesem
in Japan 25% der GBS-Fälle ein MFS. Eine saisonale Häufung Grunde untersuchen wir bei Patienten mit einer beginnenden
im Frühjahr nach Infekten in den oberen Atemwegen ist be- ALS immer elektrophysiologisch auf Leitungsblöcke, bestim-
schrieben. Bei 95% der Patienten können im Blut Gangliosid- men die GM1-Antikörper und führen eine Lumbalpunktion
Antikörper gegen GQ1b nachgewiesen werden. durch (bei multifokaler motorischer Neuropathie ist eine milde
Eiweißerhöhung nicht selten). In die differentialdiagnostische
3Symptome. Diese Sonderform des GBS ist durch äußere Erwägung muss auch eine distale spinale Muskelatrophie ein-
Augenmuskellähmungen, Schluckstörungen, Ataxie und Par- bezogen werden.
710 Kapitel 32 · Polyneuropathien, Immunneuropathien und hereditäre Neuropathien

Exkurs
Weitere Varianten der immunbedingten Neuropathien
Polyneuritis cranialis Injektion von Tetanus und Diphtherie-Antitoxin, aber auch
Diese Patienten haben symmetrische Ausfälle der kaudalen, nach Schutzimpfungen gegen Typhus, Paratyphus oder FSME
motorischen Hirnnerven, aber keine Lähmungen der Extremi- auftreten kann.
tätenmuskulatur. Arreflexie kann vorkommen, ist aber nicht
immer vorhanden. (Wesentliche Differentialdiagnosen: 3Symptomatik und Verlauf. Nach einer Latenz von 7–
Neuroborreliose, Schädelbasistumoren, Meningeose und 14 Tagen tritt eine Serumkrankheit mit Fieber, Gelenkschwel-
Botulismus.) lungen, juckendem Exanthem und manchmal auch nephri-
tischen Harnsymptomen auf. Wenige Tage nach Einsetzen der
Radiculitis sacralis (Elsberg-Syndrom) Serumkrankheit entwickelt sich akut oder subakut unter hef-
Sie ist gekennzeichnet durch Dysästhesien und Parästhesien tigsten, reißenden Schmerzen in der Schulter-Arm-Region eine
im Versorgungsgebiet der sakralen Nervenwurzeln. Bei lum- Polyneuritis. Sie ist in der Regel an den Armen, proximal und
balem Befall können auch motorische Lähmungen auftreten. asymmetrisch lokalisiert. Die Symptomatik ist vorwiegend
Eine Blasenstörung ist sehr häufig. Sie kommt als GBS-Varian- motorisch. Sensible Ausfälle finden sich nur gering an der
te, aber auch bei direkter Infektion mit Herpes-simplex-Virus Außenseite des Oberarmes. Es soll auch eine serogenetische
Typ 2 und Zytomegalie vor (dann spezifische Therapie mit Polyneuritis unter dem Bild generalisierter Lähmungen geben.
Aciclovir oder Ganciclovir). Der Liquor kann wie bei GBS Bemerkenswerterweise ist der Liquor nicht verändert. Nur
verändert, aber auch normal sein. gelegentlich hat man leichte bis mäßige Eiweißvermehrung
gefunden. Die Prognose ist im Allgemeinen gut, allerdings zieht
Akute Pandysautonomie (vegetative Neuropathie) sich die Rückbildung der Lähmungen über viele Monate hin.
Dies ist eine Sonderform der entzündlichen Polyradikulitis, Für manche Autoren ist die serogenetische Polyneuritis
die nur das vegetative Nervensystem betrifft und gehäuft identisch mit der neuralgischen Schulteramyotrophie
nach einer EBV-Infektion auftritt. (7 Kap. 31.3.2), bei der die Mm. deltoides, supra- und infra-
32 Betroffen sind alle Anteile des vegetativen Systems: Im spinatus besonders betroffen sind, obwohl dieser nur selten
Vordergrund stehen Kreislaufdysregulation mit orthosta- Impfungen vorausgehen. Bei der sogenannten Plexusneuritis
tischer Hypotension und Ausfall der respiratorischen Herzfre- kann im MRT die Entzündung der beteiligten Wurzeln gezeigt
quenzvariation. Schweißstörung, Blasenstörung, Obstipation werden (. Abb. 32.3)
und Pupillenstörungen treten hinzu. Lähmungen treten
nicht auf (Differentialdiagnose zum Botulismus). Der Verlauf 3Hereditäre, neuralgische Muskelatrophie
ist gutartig. Die Symptome bilden sich meist zurück. Der sporadischen Form ähnliche, allerdings autosomal-domi-
nante Form mit noch nicht näher charakterisierter Mutation
Serogenetische Polyneuritis auf Chromosom 17q25 im SEPT9-Gen.
3Ätiologie. Es handelt sich um eine heute sehr selten
gewordene allergische Polyneuritis, die vor allem nach

32.7 Entzündliche Polyneuropathien Million neuer Fälle pro Jahr. Die Übertragungsrate ist relativ
bei direktem Erregerbefall niedrig, nur bei häufigem und engem Kontakt kommt es zur
Infektion, was auch das etwa 50%ige familiäre Auftreten der
Bei einer Reihe von Infektionen (viral, bakteriell) kann das Lepra erklärt.
periphere Nervensystem direkt durch Erreger befallen werden.
Die Erreger sind in dem entsprechenden Entzündungska- 3Verlaufsformen und Symptome. Das Mycobacterium
pitel besprochen. Erwähnt seien die Ganglionopathie bei leprae verursacht 3 Arten von Neuropathie, an denen sich bei-
Lues und die Meningopolyradikulitis bei Borrelieninfek- spielhaft der direkte und der immunmediierte Befall des peri-
tion. Auch nach Mononukleose und Diphtherie können pheren Nervensystems zeigen lässt:
PNP auftreten. Typisch ist der Befall peripherer Nerven bei 4 Reine neuronale Lepra: 5–10% der Infizierten entwickeln
manchen neurotropen Viren, z.B. beim Zoster und die Entzün- eine rein neuronale Manifestation der Lepra ohne Hautläsio-
dung der motorischen Vorderhornzellen bei der Polio. Wir nen und sind entsprechend schwierig zu diagnostizieren. Kli-
besprechen hier die Lepra und die HIV-assoziierten Neuro- nisch führend ist eine Mononeuritis oder Mononeuritis multi-
pathien. plex, seltener eine distal symmetrische PNP.
4 Lepromatöse Lepra: Sie entsteht durch einen direkten Er-
regerbefall mit Mycobacterium leprae. Die überwiegend sen-
32.7.1 Lepra-Neuropathie sorische Neuropathie ist symmetrisch verteilt. Die Nerven-
fasern sind mit Lepraerregern übersät. Nach initialer Demye-
Die Lepra ist eine sehr häufige Krankheit, die weltweit etwa linisierung kommt es bald zur axonalen Läsion. Paresen sind
8 Mio. Menschen betrifft. Man rechnet mit etwa einer halben selten. Hautläsionen kommen vor.
32.8 · Botulismus
711 32
4 Tuberkuloide Lepra: Bei diesen Patienten liegt eine starke im AIDS-Stadium. Sie manifestiert sich als distale, symmet-
Immunreaktion gegen Lepraerreger vor. Die Lepraerreger wer- rische Neuropathie. Diese überwiegend sensible und sehr
den abgetötet. Es kommt zur Granulombildung, die sekundär schmerzhafte Form der Neuropathie tritt hingegen bei fortge-
zu Druckläsionen führt. Entsprechend ist der Verteilungstyp schrittener Krankheit auf.
sehr stark asymmetrisch. Die sensiblen Ausfälle mit Verlust der Diese Patienten haben einen schlechten Immunstatus. Bei
Schmerzempfindung führen zu den typischen Mutilationen, dieser Form der PNP bleibt lediglich das Fortsetzen der krank-
die diese Krankheitsform kennzeichnen. heitsspezifischen, antiretroviralen Therapie.
4 HIV-1-assoziierte vaskulitische Polyneuropathie. Bei
3Therapie. Heute ist die Lepra, wenn sie früh diagnostiziert dieser PNP sollte eine Therapie mit Kortikosteroiden (z.B.
wird, gut behandelbar. Es gelten die aktuellen Empfehlungen Prednison 100 mg/Tag für 2–3 Wochen) durchgeführt
der WHO, die sich an Form und Ausmaß der Leprainfektion werden.
orientieren. Die Therapiedauer kann zwischen Einmalgabe 4 Polyneuropathie bei diffus infiltrativem Lymphozytose-
und lebenslanger Therapie variieren. Syndrom (DILS, selten) in eher frühen Stadien. Diese Erkran-
4 Diaminodiphenylsulfon (Dapson®, kann selbst eine PNP kung tritt oft in einem sehr frühen Stadium auf und zeigt die
auslösen) und/oder Clofazimin sind Mittel der ersten Wahl. HIV-Infektion an.
4 Rifampicin wird als Dauerbehandlung eingesetzt. 4 Mononeuropathie (z.B. auch Fazialisparese) und Mono-
4 Ofloxazin, Minocyclin und Clarithromycin sind weitere, neuritis multiplex (< 1%) zumeist im AIDS-Stadium
verwendete Antibiotika. 4 Polyradikuloneuritis durch opportunistische Erreger
4 Thalidomid ist gegen Lepra sehr wirksam, wird aber wegen (< 1%) meist im AIDS-Stadium, oft CMV-bedingt. Sie tritt bei
seiner teratogenen Wirkung nur selten gegeben. HIV-Patienten als opportunistische Infektion auf, ist also am
4 Kortikoide werden bei tuberkuloider Form und zu Beginn häufigsten von der distalen symmetrischen Neuropathie ab-
der Behandlung der lepromatösen Lepra hinzugegeben. zugrenzen. Ein GBS-ähnlicher oder multifokaler Verlauf kann
jedoch ebenfalls auftreten. Diagnostisch ist der CMV-Nachweis
(PCR) entscheidend. Nicht selten werden eine CMV-Retinitis
32.7.2 HIV-assoziierte Neuropathien oder eine ZNS-Infektion mit Zytomegalievirus festgestellt.
Weitere symptomatische Ursachen, wie z.B. Thiaminmangel,
Die HIV-1-assoziierte Neuropathie ist eine systemische periphe- HSV-Infektion oder Syphilis, sollten immer ausgeschlossen
re Nervenaffektion im Rahmen der HIV-1-Infektion, die je nach werden. Einzige Therapieoption ist die erregerspezifische
Stadium der HIV-1-Infektion mit unterschiedlicher Inzidenz in Therapie. Auch die Pyramidenbahnen können beteiligt sein,
verschiedenen klinischen Verlaufsformen auftreten kann. deshalb sind die Reflexe nicht selten erhalten. Die Prognose ist
Bei etwa 5–10% (bis 35%) aller HIV-Patienten entwickeln schlecht. Insgesamt ist die Neuropathie oft im Endstadium der
sich Symptome einer peripheren Neuropathie. AIDS-Krankheit festzustellen.
4 Medikamentös-toxisch induzierte Polyneuropathien (in
3Spektrum der HIV-Neuropathien Abhängigkeit von der Substanz, vor allem Didanosin, Stavu-
4 Akute inflammatorische demyelinisierende Polyradi- din, Zalcitabin); Zalcitabin wird wegen der zu geringen anti-
kuloneuritis (HIV-1-assoziiertes GBS) (1%). Kurz nach der retroviralen Wirksamkeit nicht mehr, Stavudin wird wegen
Infektion kommt es in der Phase der Serokonversion zu einem seiner starken mitochondrialen Toxizität nur noch selten ver-
akuten GBS, das alle verschiedenen Verlaufsformen des Guil- ordnet. Hier bietet sich die Möglichkeit, die auslösende Subs-
lain-Barré-Syndroms annehmen kann. Zu diesem Zeitpunkt tanz in Rücksprache mit dem federführenden Arzt gegen eine
sind die Patienten noch nicht immunsupprimiert. Im Gegen- andere, weniger neurotoxische Substanz auszutauschen, sofern
teil, der noch hohe T-Helferzell-Anteil prädestiniert wahr- dies medizinisch tolerierbar ist.
scheinlich zur Auslösung dieser immunvermittelten parainfek-
tiösen Krankheit. 3Diagnostik. Bei der Diagnostik sind folgende Untersu-
Der Verlauf ist selbstlimitierend und gutartig. Eine Be- chungen wichtig: Erweitertes Basislabor unter besonderer Be-
gleitmyopathie ist nicht selten. rücksichtigung der Blutzuckeruntersuchungen (HbA1c), Vita-
Therapie der Wahl sind Immunglobuline, alternativ kann min-B12- und Folsäure-Spiegel, ggf. Vaskulitisparameter und
die Plasmapherese Verwendung finden. Eine hochaktive anti- Erregerserologie (CMV, VZV, EBV, HSV). Im Einzelfall können
retrovirale Therapie (HAART), falls möglich unter Ausschluss folgende Untersuchungen erforderlich sein: Liquordiagnostik,
potenziell neurotoxischer Substanzen, sollte in Erwägung ge- Elektromyographie zur Abgrenzung der HIV-Myopathie, SEP
zogen werden. zur Abgrenzung einer HIV-1-assoziierten Myelopathie,
4 Chronisch inflammatorische demyelinisierende Polyra- Funktionstests des autonomen Nervensystems, Nervenbiopsie
dikuloneuropathie (selten) bei beginnendem Immundefekt. zur Suche einer Vaskulitis.
Diese Patienten haben ebenfalls noch einen guten Helferzell-
Status. Ein Verlauf ähnlich der MMN mit Leitungsblöcken
kann auftreten. Therapie: Kortikosteroide oder Immunglobu- 32.8 Botulismus
line, wie sie auch bei der CIDP zum Einsatz kommen.
4 HIV-1-assoziierte, vorwiegend sensible Polyneuropa- Streng genommen ist dies keine Neuropathie bei Infektion,
thie (35–88%) bei beginnendem Immundefekt, häufiger aber sondern eine Störung der präsynaptischen Strukturen durch
712 Kapitel 32 · Polyneuropathien, Immunneuropathien und hereditäre Neuropathien

ein Toxin, das bei einer Infektion mit Clostridium botulinum tionspneumonien und anderen bakteriellen Infektionen vor-
freigesetzt wird. behalten werden.

3Epidemiologie und Pathophysiologie. Botulismus kommt ä Der Fall


heute in Mitteleuropa und den USA relativ selten vor. Man Wegen einer akuten Lähmung der Schluckmuskulatur und der
schätzt die Erkrankungshäufigkeit pro Jahr auf 20–30 Fälle in Arme wird ein etwa 60-jähriger Patient mit dem Verdacht auf
der Bundesrepublik Deutschland. eine entzündliche Polyradikulitis in die neurologische Klinik
Das Botulinumtoxin ist ein Stoffwechselprodukt des Bakte- eingewiesen. Bei Aufnahme dort hat der Patient eine Aspirations-
riums Clostridium botulinum, das sich in unzureichend steri- pneumonie, leichtes Fieber, eine starke Lähmung der kaudalen
lisierten und luftdicht verpackten Lebensmitteln vermehren Hirnnerven, Doppelbilder, Ptose beider Augen und inzwischen
kann. Dies erklärt, dass beim gemeinsamen Verzehr dieser auch mittelgradige Paresen der Arme und Beine. Auffällig sind
Nahrungsmittel oft mehrere Personen gleichzeitig erkranken. weite, nicht reagierende Pupillen bei dem ansonsten wachen
Das Toxin wird vom Gastrointestinaltrakt in das Blut aufge- Patienten. Innerhalb weniger Stunden wird der Patient atemin-
nommen und dann an seinen Wirkort transportiert. Es blo- suffizient und muss beatmet werden. Anamnestisch berichten
ckiert präsynaptisch die Freisetzung von Acetylcholin am neu- die Angehörigen, dass die ganze Familie vor einigen Tagen einen
romuskulären Übergang und im vegetativen Nervensystem. Magen-Darm-Infekt durchgemacht habe, nachdem man einen
Drei Formen des Botulinumtoxin, A, B, und E sind hu- Eintopf aus einer Büchse gegessen hatte. Der Vater habe als
manpathogen. A und B kommen überwiegend in Lebensmit- einziger mehrere Portionen gegessen, die anderen Familienmit-
teln vor, die in Dosen verpackt oder eingekocht sind. Auch glieder hätten aufgrund eines undefinierbaren, unangenehmen
geräucherte Lebensmittel können dieses Toxin enthalten. Geschmacks nur wenige Bissen zu sich genommen.
Typ E ist bei fischhaltigen Lebensmitteln häufig. Es wird bei Serologisch gelingt es, zirkulierendes Botulinumtoxin der
Kochen der Nahrung inaktiviert. Ganz selten kann Botulismus Gruppe A nachzuweisen. Botulinumantitoxin wird gegeben,
auch in Wunden entstehen. daneben erfolgt die intensivmedizinische Behandlung mit Be-
atmung, Antibiose und Vermeidung von Komplikationen. Nach
32 3Symptome und Verlauf. Die Symptome des Botulismus etwa 2 Wochen kann der Patient extubiert werden und nach
sind sehr charakteristisch. 4 Wochen die Klinik verlassen.
4 Die Krankheit beginnt etwa 1 Tag nach Aufnahme des To-
xins mit Schluckstörungen, Dysarthrie und Doppelbildern als
Ausdruck des Befalls der motorischen Hirnnerven. 32.9 Dysproteinämische und para-
4 Es folgt die schlaffe Lähmung von Armen und Beinen. neoplastische Polyneuropathien
4 Trockener Mund, Verstopfung und weite, areaktive Pupil-
len sind typische Zeichen der vegetativen Beteiligung. Gammopathien mit pathologischer Erhöhung der IgG und
4 Doppelseitige, faziale Schwäche und Ptose lassen den IgM-Fraktionen und Kryoglobulinen im Serum können über
Verdacht auf eine Myopathie oder eine Polyradikulitis auf- eine Infiltration der Nerven und eine immunologische Mark-
kommen. scheidenschädigung PNP vom Typ der Schwerpunktneuropa-
4 Die Muskeleigenreflexe fehlen meistens, was die Verwechs- thie oder der akuten Polyneuritis auslösen.
lung mit einem GBS nahe legt. Eine Schädigung kann auch über diverse Antikörper, z.B.
4 Die generalisierte Muskelschwäche erfasst auch die Atem- anti-MAG, GM1- oder GM2-Antikörper vermittelt werden.
muskulatur, deshalb wird bei einem großen Teil der Patienten Eine Gammopathie kann auch Ursache einer CIDP sein. Selbst
eine kontrollierte Beatmung notwendig. bei benignen oder idiopathischen Gammopathien, bei denen
4 Die Patienten sind fast immer bewusstseinsklar, auch wenn keine anderen Organmanifestationen (z.B. Niere) vorliegen,
sie aufgrund ihrer Muskelschwäche und Dysarthrie kaum kann eine PNP gefunden werden, die mit Immunsuppression
kommunikationsfähig sind. und ggf. mit Plasmapherese behandelt werden muss.
Auch bei Paraproteinämien (z.B. Morbus Waldenström)
3Diagnostik. Toxinnachweis in Stuhl und Serum, Übertra- ist über einen ähnlichen Mechanismus eine PNP möglich. Die
gungsversuch auf die Maus. paraneoplastische PNP ist in 7 Kap. 13 besprochen.

3Therapie. Spezifisch gibt man ein trivalentes Antitoxin 3Kryoglobulinämie. Die essentielle Kryoglobulinämie
vom Pferd (gegen A,B und E). Das Antitoxin soll früh gegeben führt zu einer vaskulitisch bedingten Neuropathie. Sekundäre
werden, da es nur zirkulierendes Toxin, nicht aber das an der Kryoglobulinämien sind assoziiert mit Hepatitis-C-Infektion,
neuromuskulären Synapse gebundenes Toxin neutralisiert. malignen Lymphomen und Kollagenosen. Therapie: Plasma-
Üblicherweise gibt man polyvalentes Antitoxin gegen die Ty- pherese, Behandlung der Grunderkrankung bei den sekun-
pen A und B. dären Kryoglobulinämien.
Die Bindung des Toxins an der Synapse ist sehr stabil und
relativ lang andauernd. Man kann beim Typ A mit einer etwa
zweimonatigen, bei Typ B sogar einer längeren Phase rechnen,
bis die neuromuskuläre Blockade verschwindet. Antibiotika
helfen nicht, sie sollten nur für die Behandlung von Aspira-
32.10 · Erkrankungen des vegetativen Nervensystems
713 32
32.10 Erkrankungen des vegetativen 32.10.2 Akute Pandysautonomie und
Nervensystems verwandte Krankheiten

32.10.1 Komplexes regionales Schmerz- Dies ist eine Sonderform der entzündlichen Polyradikulitis
syndrom (CRPS, Sudeck-Syndrom) (7 oben), die nur das vegetative Nervensystem betrifft und ge-
häuft nach einer EBV-Infektion auftritt.
Dieses in Zuordnung und Pathogenese umstrittene Syndrom Betroffen sind alle Anteile des vegetativen Systems: Im Vor-
entsteht nach Traumen, bei denen auch periphere Nerven ge- dergrund stehen Kreislaufdysregulation mit orthostatischer
schädigt worden sind, nach lang dauernder Kompression einer Hypotension und Ausfall der respiratorischen Herzfrequenzva-
Extremität und, in seltenen Fällen, auch ohne erkennbare Aus- riation. Schweißstörung, Blasenstörung, Obstipation und Pu-
löser. Medikamente (z.B. Phenobarbital, Phenytoin, Isoniazid, pillenstörungen treten hinzu. Lähmungen treten nicht auf
Cyclosporin, Tacrolimus, Rapamycin) oder Grundkrankheiten (Differentialdiagnose zum Botulismus und zum klassischen
wie Diabetes mellitus oder Neben- und Schilddrüsenfunkti- GBS). Der Verlauf ist gutartig. Die Symptome bilden sich meist
onsstörungen können ebenfalls ein CRPS auslösen. zurück.

3Symptome.
4 Es entwickelt sich zunächst eine ödematöse Schwellung 32.10.3 Familiäre Dysautonomie
der Haut, die bläulich verfärbt ist. Die gelenknahen Knochen
werden osteoporotisch. 3Definition und Genetik. Von der akuten Pandysautonomie
4 Es liegen erhebliche Schmerzen vor. muss die familiäre Dysautonomie, die autosomal-rezessiv erb-
4 Die Haut wird dünn, atrophisch, und wirkt bei Berührung lich ist und bei der es zu einer inkompletten Entwicklung sowie
kühl-feucht. einer Degeneration von peripheren autonomen und senso-
4 Intensive Schmerzen von brennendem, kausalgischen rischen Neuronen kommt, unterschieden werden.
Charakter stehen im Vordergrund. 4 Die familiäre Dysautonomie wird mittlerweile auch als
4 Die Hand ist besonders häufig betroffen, seltener findet HSAN3 bezeichnet und tritt fast ausschließlich bei Ashkenazi-
man die Reflexdystrophie auch am Fuß. Eine schmerzbedingte Juden auf. Molekulargenetisch liegt bei 99% der Patienten eine
Minderinnervation ist häufig. Mutation auf Chromosom 9 im IKBKAP-(inhibitor of κ light
polypeptide gene enhancer in B cells, kinase complex-associated
Während in der Akutphase eines CRPS peripher-entzündliche protein-)Gen vor. Es handelt sich um die häufigste HSAN.
Vorgänge vorherrschen, entwickeln sich mit der Dauer der
Erkrankung zunehmend neuroplastische Veränderungen im 3Symptome. Meist erkranken die Patienten schon im Säug-
ZNS. lingsalter. Hypotonie, fehlende Tränensekretion, abnormes
Schwitzen, Reflexverlust, orthostatische Hypotension ohne
3Diagnostik. Im Röntgenbild findet man eine Osteoporose kompensatorische Reflextachykardie, Atemregulationsstörung,
bis zum Verlust des Knochengefüges. In der Knochenszintigra- manchmal auch fehlende Schmerzempfindlichkeit prägen das
phie zeigt sich ein erhöhter Metabolismus. Im MRT sieht man klinische Bild. Das vegetative Nervensystem im Verdauungs-
ein Bindegewebsödem. Laborchemisch findet sich in der Akut- trakt ist mitbetroffen.
phase ein erhöhtes CGRP (calcitonin-gene-related protein)
sowie eine Assoziation mit HLA-DQ1.
32.10.4 Kongenitale sensorische Neuropathie
3Therapie. mit Anhidrose
4 Biphosphonate (führen zur Hemmung der Osteoklasten-
aktivität) sind in mehreren Studien als wirksam belegt worden. Eng verwandt mit der familiären Lysontomie ist auch die kon-
Man gibt zum Beispiel Alendronat (40 mg/Tag) oral über 8 genitale sensorische Neuropathie mit Anhidrose (HSAN4).
Wochen. Molekulargenetische Studien ergaben Mutationen im TrKA
4 Steroide (Methylprednisolon 40–80mg oral, über 4 Wo- (Tyrosin receptor kinase A)-Gen auf Chromosom 1.
chen) sind ebenfalls wirksam.
4 Sympathikusblockade durch Lokalanästhetika (Stellatum- 3Symptome. Diese Patienten sind schmerzunempfindlich
blockade) oder und haben trophische Störungen, was schnell und leicht zu
4 medikamentöse Blockade mit Guanethidin i.v. (führt zu schweren Verletzungen und Mutilationen führt. Störungen der
initialem, heftigen Schmerz, kann auch diagnostisch genutzt Temperaturregulation können auftreten. Erhalten ist die Blut-
werden). druckregulation sowie die Funktion des gastrointestinalen ve-
4 Calcitonin kann intranasal und subkutan gegeben werden, getativen Nervensystems und die Tränensekretion.
die Wirksamkeit ist umstritten.
714 Kapitel 32 · Polyneuropathien, Immunneuropathien und hereditäre Neuropathien

In Kürze

Polyneuropathien und hereditäre Neuropathien schmerzen, betroffen v.a. Männer im fortgeschrittenen Le-
bensalter. Medikamentöse Therapie mit Immunsuppressiva.
Polyneuropathien (PNP) sind generalisierte Erkrankungen des
peripheren Nervensystems. PNP bei rheumatoider Arthritis. Symptome: Schwere,
Leitsymptome: Distal an Extremitäten betonte Lähmungen, trophische Störungen der Haut bis zu distalen Nekrosen,
strumpf- und handschuhförmig angeordnete Sensibilitätsstö- sensible Reizsymptome, sensomotorische Ausfälle. Medika-
rungen. mentöse Therapie.
Diagnostik: Laborchemische Diagnostik, Liquorbefund,
Nerven-, Muskelbiopsie, CT, Röntgen. Hereditäre, motorische und sensible Neuropathien
(HMSN)
Metabolische Polyneuropathien
CMT Typ 1: In der Regel autosomal-dominante Vererbung.
Diabetische PNP. Symptome: Distale, sensomotorische, Demyelinisierende PNP. Erste Symptome in der Jugend bis
diabetische PNP mit sensiblen Reizerscheinungen wie Paräs- jungen Erwachsenenalter: symmetrische, periphere Läh-
thesien, schmerzenden Muskelkrämpfen, dumpfen oder mungen mit faszikulären Zuckungen, Fuß-, Handdeformitäten,
lanzinierenden Schmerzen in Lendengegend, distale, sym- sensible Reizerscheinungen, Ausfallsymptome. Andere heredi-
metrische Paresen. Proximale, asymmetrische, vorwiegend täre sensomotorische Neuropathien.
motorische PNP bei älteren Diabetikern setzt akut mit hef- CMT Typ 2: Autosomal-dominante Vererbung, axonale Schädi-
tigen, besonders nächtlichen Schmerzen und Gefühlsstörun- gung mit axonaler Degeneration und sekundärer Entmarkung.
gen am Rumpf ein. Diabetische Hirnnervenlähmungen mit CMT Typ 3: Autosomal-dominate oder -rezessive Vererbung.
heftigen Schmerzen. Vegetative Neuropathie bei Diabetes Hypertrophie der Nervenfasern.
mit Pupillenstörungen, Urinretention, Diarrhoe, Impotenz,
32 Schweißsekretions- und orthostatischen Regulationsstörun- Hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckparesen
gen. Therapie: Normalisierung der Stoffwechsellage, Antidia- (HNPP): häufige und rezidivierende Drucklähmungen einzel-
betika, Reduktion des erhöhten Körpergewichtes, Behand- ner Nerven oder des Plexus brachialis.
lung einer begleitenden Fettstoffwechselstörung.
Hereditäre sensorische autonome Neuropathie (HSAN):
Andere, metabolische PNP. PNP bei Urämie mit sensiblen Sensibilitätsstörungen an Füßen, Händen, akrale Ulzerationen,
Reizerscheinungen, Wadenkrämpfen, leichten Paresen. Einschränkung der Schmerz- und Temperaturempfindung,
Hepatische PNP mit biliärer Zirrhose, Virushepatitis, chro- komplizierende Osteomyelitiden, lanzinierende Schmerzen.
nischer Hepatopathie. PNP bei Schilddrüsenkrankheit:
bei Hypothyreose Engpasssyndrom. Critical-illness-PNP Immunologisch bedingte Polyneuroradikulits
mit schweren, schlaffen, atrophischen Lähmungen aller Ex-
tremitäten und Atemmuskulatur. Medikamentöse Therapie. Guillain-Barré-Syndrom: Symptome setzen v.a. bei Männern
Günstige Prognose. zwischen 50 und 60 Jahren ein: Akut oder subakut innerhalb
von Wochen. Rückbildung 2–4 Wochen nach Stillstand der
PNP bei Vitaminmangel und Malresorption. Symptome: Ausbreitung. Bein-, Arm- und Hirnnervenlähmungen, Gelenk-
u.a. Hauterscheinungen, Diarrhö. schmerzen. Gesteigerte sympathische Aktivität: Anfallswei-
se hypertone Blutdruckentgleisungen, paroxysmale Tachykar-
Toxisch ausgelöste Polyneuropathien dien mit Extrasystolien, periphere Vasokonstriktion, Schwitzen.
Verminderte Sympathikusaktivität: Bradykardien, verzöger-
Medikamenteninduzierte PNP. Symptome: Sensible Reizer- te Reflextachykardie bei Orthostase, systolischer Blutdruckab-
scheinungen. fall bei Lagewechsel, abnorme Empfindlichkeit gegen Volu-
menmangel. Überschießende Parasympathikusaktivität:
PNP bei Lösungsmittelexposition. Symptome: Distal be- Paroxysmale Bradykardien, Sekundenherztod. Verminderte
ginnende, primär sensible, später sensomotorische PNP, Parasympathikusaktivität: Blasen-, Mastdarmstörungen.
Muskelschmerzen, zentralnervöse Symptome. Therapie: Medikamentöse Therapie, evtl. Herzschrittmacher.

Polyneuropathie bei Vaskulitiden und bei Kollagenosen Chronisch inflammatorische demyelinisierende PNP. Maxi-
mum der Symptome erst nach ≥4 Wochen, axonale Läsionen.
Panarteriitis nodosa. Symptome: Schubweise verlaufende Medikamentöse Therapie. Differentialdiagnose: Paraprotein-
Lähmungen mehrerer, einzelner Nerven an Extremitäten, ämien, hereditäre, sensomotorische und toxische Neuropathien
sensible Reizerscheinungen wie heftige Nerven- und Muskel- und multifokale, motorische Neuropathie mit Leitungsblock.

6
32.10 · Erkrankungen des vegetativen Nervensystems
715 32

Miller-Fisher-Syndrom. Symptome: Äußere Augenmuskel- Botulismus


lähmungen, Schluckstörungen, Ataxie, Parästhesien an Hän- Symptome: Schluckstörungen, Dysarthrie, Doppelbilder,
den und Füßen, Arreflexie. schlaffe Arm- und Beinlähmung, trockener Mund, Obstipation,
weite, areaktive Pupillen, doppelseitige, faziale Schwäche,
Multifokale, motorische Neuropathie. Symptomatik mit Ptose. Medikamentöse Therapie mit Botulinumantitoxin,
asymmetrischer Muskelschwäche, Reflexausfall. Medika- kontrollierte Beatmung.
mentöse Therapie. Differentialdiagnose: Beginnende ALS.
Dysproteinämische und paraneoplastische Polyneuro-
Entzündliche Polyneuropathien bei direktem pathien
Erregerbefall
Ausgelöst durch Infiltration der Nerven, immunologische
Lepra-Neuropathie. Lepromatöse Lepra mit axonaler Markscheidenschädigung. Auch bei benignen oder idiopa-
Läsion und Hautulzeration. Tuberkuloide Lepra: Massive, thischen Gammopathien ohne weitere Organmanifestationen.
sensible Ausfallsymptomatik mit Verlust der Schmerzempfin- Medikamentöse Therapie mit Immunsuppression und
dung, Granulombildung, Druckläsionen. Medikamentöse evtl. Plasmapherese.
Therapie.
Erkrankungen des vegetativen Nervensystems
HIV-assoziierte Neuropathien. In fast jedem Krankheitssta-
dium Auftreten von Neuropathien, die teils spezifische The- Sympathische Reflexdystrophie. Symptome: Ödematöse
rapie erfordern. Im frühen Stadium können auftreten: PNPs Hautschwellung, kühl und bläulich verfärbte, dünne, atro-
mit Ähnlichkeit zum Guillain-Barré-Syndrom, zu einer multi- phische Haut, osteoporotische Gelenke der betroffenen Extre-
fokalen, motorischen Neuropathie oder CIDP. Im späteren mität, Schmerzen. Therapie: Krankengymnastik, Hochlage-
Krankheitsstadium können auftreten: eine distale, symmet- rung, medikamentöse Therapie.
rische, vorwiegend sensible Neuropathie sowie PNP durch
Infektion mit opportunistischen Erregern. Differentialdiagno- Familiäre Dysautonomie. Symptome: Trophische Störungen,
se: u.a. Zytomegalievirus-assoziierte Neuritis. Hypotonie, abnormes Schwitzen, fehlende Tränensekretion.
Tritt bereits im Kindesalter auf.
33

33 Motoneuronale Krankheiten
33.1 Degeneration des 1. Motoneurons – 718
33.1.1 (Hereditäre) spastische Spinalparalyse (HSP) – 718
33.1.2 Primäre Lateralsklerose – 719

33.2 Krankheiten mit Degeneration des 2. Motoneurons:


Spinale Muskelatrophien (SMA) – 719
33.2.1 Infantile spinale Muskelatrophie (Typ I, Werdnig-Hoffmann) – 721
33.2.2 Hereditäre, proximale, neurogene Amyotrophie (Typ III, Kugelberg-Welander) – 721
33.2.3 Progressive spinale Muskelatrophie (Typ Duchenne-Aran) – 721
33.2.4 Postpoliosyndrom – 722

33.3 Progressive Bulbärparalyse – 723

33.4 Amyotrophische Lateralsklerose (ALS) – 724


718 Kapitel 33 · Motoneuronale Krankheiten

> > Einleitung 3Symptome und Verlauf. Die HSP kann in jedem Lebens-
alter beginnen. Es gibt zwei Erkrankungsgipfel: Der erste liegt
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den verschiedenen Formen vor dem 6. Lebensjahr, der zweite zwischen dem 2. und 4. Le-
motoneuronaler Systemkrankheiten. Relativ häufig ist die amyo- bensjahrzehnt. Die Symptome setzen mit Steifigkeit in den
trophische Lateralsklerose, die im mittleren und älteren Lebens- Beinen ein. Bei der reinen oder unkomplizierten Verlaufsform
alter auftritt und rasch, unaufhaltsam bei geistiger Wachheit zum bleibt die Symptomatik meist auf die unteren Extremitäten be-
Tode führt und große Anforderungen an Patienten, Angehörige schränkt. Anfangs ist das Gehen nur jeweils bei den ersten
und Ärzte stellt. Das andere Extrem sind sehr langsam progre- Schritten besonders mühsam und hölzern, danach lockert es
diente, degenerative Krankheiten der motorischen Vorderhorn- sich bei weiteren Bewegungen. Später entwickelt sich eine aus-
zellen. geprägte, bleibende Paraspastik der Beine mit doppelseitiger
Ein bekanntes Beispiel ist der englische Astrophysiker Zirkumduktion. Charakteristisch ist ein Adduktorenspasmus,
Hawking. Er ist seit Jahrzehnten an den Rollstuhl gefesselt und hat so dass der Kranke beim Gehen die Knie kaum aneinander
nur noch geringe Restfunktionen weniger Extremitätenmuskeln, vorbeischieben kann. Ein vermindertes Vibrations- und Lage-
eine schwere Störung der Zungenmotilität und eine einge- empfinden sowie eine Harnblaseninkontinenz können hinzu-
schränkte Atemfunktion. Er steuert seinen Computer mit seinem kommen. Die Arme können mitbetroffen sein, werden aber
Mund und über willkürliche Augenbewegungen. Im eigenen, prak- erst nach vielen Jahren ergriffen. Bei der komplizierten Ver-
tisch unbeweglichen Körper gefangen, entwickelt er faszinierende laufsform kommen zusätzliche neurologische Symptome wie
Theorien über die Entstehung und Ausbreitung der Galaxien. extrapyramidal-motorische Störungen, Ataxie, Demenz, Epi-
lepsie, Taubheit oder Optikusatrophie hinzu.
Vorbemerkungen Bei der Untersuchung ist die spastische Tonuserhöhung
3Definition. Diese heterogene Gruppe von Krankheiten ist stets weit deutlicher als die Lähmung. Die Eigenreflexe sind ge-
dadurch gekennzeichnet, dass nahezu ausschließlich das mo- steigert. Pathologische Reflexe können bereits als Spontan-Ba-
torische System beteiligt ist. Es können binski vorliegen. Die Bauchhautreflexe bleiben lange erhalten.
4 das 1. Motoneuron = Pyramidenzellen des motorischen Sensibilität, vegetative Funktionen und Liquor sind normal.
Kortex und Pyramidenbahn, Der Verlauf ist sehr langsam, über 2–3 Jahrzehnte progre-
4 das 2. Motoneuron = motorische Vorderhornzellen oder dient. Im Endstadium werden die Kranken mit spastischen
Hirnnervenkerne mit motorischem Nerv und davon versorgte Kontrakturen bettlägerig.
33 Muskeln oder
4 beide Systeme in Kombination betroffen sein. 3Diagnostik. Die Diagnose wird klinisch gestellt.
4 Die MRT von Kopf, Zervikal- und Thorakalmark dienen
Im angloamerikanischen Sprachgebrauch werden diese Krank- zum Ausschluss symptomatischer Ursachen der Paraspastik.
heiten als moto-neuron disease (MND) bezeichnet, ein Begriff, 4 Die Potentiale nach transkranieller Motorstimulation
der sich als Motoneuronkrankheit auch bei uns einbürgert. (TKMS) sind pathologisch, was aber diagnostisch entscheidend
nicht weiterhilft.
4 Eher von Bedeutung ist es, wenn bei schwerer Paraspastik
33.1 Degeneration des 1. Motoneurons die SEP normal sind.
4 Der Liquor ist meist normal, das Eiweiß kann allenfalls
33.1.1 (Hereditäre) spastische Spinalparalyse leicht erhöht sein.
(HSP) 4 Eine molekulargenetische Diagnostik mit Mutationssuche
ist bisher nur für 4 Gene, in erster Linie für das Spastin-Gen
3Epidemiologie. Die Krankheit ist mit einer Prävalenz von (SPG4) möglich.
4–5 Patienten/100.000 Einwohnern selten. Jedoch gibt es deut-
liche regionale Unterschiede. Das männliche Geschlecht ist 3Therapie. Eine kausale Therapie gibt es nicht. Kranken-
doppelt so häufig betroffen wie das weibliche. gymnastik: Sehr gut sind Übungen nach der Bobath-Methode
In etwa 75% der Fälle lässt sich Erblichkeit nachweisen, geeignet.
meist autosomal-dominant, aber auch rezessiv und X-chromo- Für die symptomatische Behandlung der Spastik kom-
somal. 25% sind sporadische Fälle. men Baclofen (Lioresal®, 15–100 mg/Tag oral, bei schwerster

Exkurs
Diagnostische Kriterien der unkomplizierten hereditären spastischen Paraplegie:
1. Spastische Tonuserhöhung der unteren Extremitäten 6. Blasenentleerungsstörung
2. Parese der unteren Extremitäten, i.d.R. weniger ausge- 7. Leichte Sensibilitätsstörung (reduziertes Vibrations- und
prägt als die Spastik Gelenkslageempfinden)
3. Hyperreflexie der unteren Extremitäten 8. Hyperreflexie und Schwäche der oberen Extremitäten
4. Positive Familienanamnese 9. Ausschluss sonstiger Erkrankungen
5. Positives Zeichen nach Babinski
33.2 · Krankheiten mit Degeneration des 2. Motoneurons: Spinale Muskelatrophien (SMA)
719 33
Exkurs
Genetik und pathologisch-anatomische Befunde bei HSP
Genetik Degeneration zentraler motorischer Bahnen. Makroskopisch
Die hereditären spastischen Spinalparalysen bilden eine besteht eine Verschmälerung des Gyrus praecentralis, beson-
heterogene Gruppe, die auch unter den Synonymen (heredi- ders im medialen Drittel (Beinregion) und des Lobulus para-
täre oder familiäre) spastische Paraplegie, Strümpell-Lorrain- centralis, der der vorderen Zentralwindung an der Innenfläche
Erkrankung und Erb-Charcot-Erkrankung bekannt sind. des Interhemisphärenspaltes benachbart ist.
Inzwischen sind 14 verschiedene Genloci (Spastin-Gene, Mikroskopisch findet man vor allem einen Untergang der
SPG) entdeckt worden (autosomal-dominant: SPG 3, 4, 6, 8, Betz-Zellen in der 5. Schicht des Gyrus praecentralis und eine
9, 10 und 12, autosomal-rezessiv: SPG 5, 7, 11 und 14, X- kontinuierliche oder diskontinuierliche Degeneration der
chromosomal-rezessiv: SPG 1 und 2). Pyramidenbahnen, vorwiegend thorakal, nach kaudal zuneh-
mend. Außerdem findet sich auch eine Degeneration der
Pathologische Anatomie Hinterstränge.
Im Gegensatz zu den später besprochenen nukleären Atro-
phien (7 Abschn. 33.2) kommt es bei dieser Krankheit zur

Facharzt
Differentialdiagnose der spastischen Spinalparalyse
ALS: In vielen Fällen, namentlich jenseits des 25. Lebens- zeigt. Dasselbe gilt für andere metabolische Erkrankungen wie
jahres, ist das Syndrom der spastischen Paraparese nur das Vitamin-E-Mangel, α-Beta-Lipoproteinämie oder Leukodystro-
Vorstadium einer anderen Nervenkrankheit. Vor allem bei phien.
negativer Familienanamnese müssen andere Ursachen einer Die Multiple Sklerose beginnt nicht selten mit einer
spastischen Paraparese ausgeschlossen werden. Eine ALS spastischen Paraparese. Sensible und Blasenstörungen können
kann 1–2 Jahre lang unter den Symptomen einer rein zentra- anfangs fehlen. Bei MS erlöschen aber die BHR frühzeitig, und
len Lähmung verlaufen, bis die Schädigung auch des peri- evozierte Potentiale, CCT und MRT zeigen multilokuläre Läsi-
pheren Neurons manifest wird. Auch andere neurodegene- onen im ZNS an.
rative Erkrankungen wie spinozerebelläre Ataxien sollten Ein parasagittales Meningeom oder andere, spinale Tumo-
ausgeschlossen werden. ren, Gefäßmissbildungen, strukturelle Anomalien wie eine
Die funikuläre Spinalerkrankung (7 Kap. 28.1) kann Arnold-Chiari-Malformation, degenerative Wirbelsäulenerkran-
mit spastischen Symptomen an den Beinen einsetzen. Des- kungen, eine Syringomyelie sowie Infektionen wie Aids, Neu-
halb sind in jedem Falle von spastischer Spinalparalyse eine rolues oder die tropische Paraparese können die Symptomatik
Untersuchung des Magensaftes und der Schilling-Test ange- imitieren.

Adduktorenspastik auch intrathekal über Baclofenpumpe), 33.2 Krankheiten mit Degeneration


Tizanidin (Sirdalud®, 6–24 mg/Tag oder Dantrolen (Danta- des 2. Motoneurons: Spinale Muskel-
macrin® 50–300 mg/Tag) in Frage. Der lokalen Applikation atrophien (SMA)
von Botulinumtoxin (Botox®) kommt eine zunehmende Be-
deutung in der Behandlung der lokalen Spastik zu. Eine wich- Allgemeines zu dieser Gruppe von Krankheiten
tige Rolle spielt die Versorgung mit Hilfsmitteln; chirurgische Die Einteilung der spinalen Muskelatrophien ist noch nicht
Korrekturen schwerer Fußdeformitäten oder eine Verkürzung abgeschlossen. Von den 4 autosomal-rezessiven Formen (Typ
der Achillessehne können ebenfalls hilfreich sein. I–IV) werden die sporadisch auftretenden Formen unterschie-
den (. Tab. 33.1). Wir besprechen in diesem Abschnitt eine
Reihe von spinalen Muskelatrophien, die einige Gemeinsam-
33.1.2 Primäre Lateralsklerose keiten haben. Es sind
4 die infantile spinale Muskelatrophie (Typ I, Werdnig-Hoff-
Dies ist eine langsam progrediente Degeneration der Pyrami- mann),
denbahn mit spastischer Lähmung und fakultativ bulbären 4 die hereditäre, proximale, neurogene Amyotrophie
Symptomen. Übergänge zur ALS sind fließend. Sehr typisch, (Typ III, Kugelberg-Welander),
aber nicht pathognomonisch ist in der MRT die auffällige Sig- 4 die progressive spinale Muskelatrophie (Typ Duchenne-
nalgebung entlang der Pyramidenbahn (. Abb. 33.3). Aran),
4 die Vulpian-Bernhard-Krankheit (skapulohumeraler Typ)
und andere, seltenere Manifestationen.

3Ätiologie und Pathologie. Diese Krankheiten sind über-


wiegend genetisch bedingt. Der Prozess betrifft nur das zwei-
720 Kapitel 33 · Motoneuronale Krankheiten

. Tabelle 33.1. Einteilung der motoneuronalen Erkrankungen mit Befall des 2. Motoneurons
Hereditäre Formen – Infantile spinale Muskelatrophie (Typ I, Werdnig-Hoffmann): Erkrankungsalter im ersten Lebensjahr, Manifesta-
der spinalen Muskel- tion zuerst im Beckengürtel, oft generalisiert
atrophie – Intermediärtyp (Typ II): Erkrankungsalter in den ersten Lebensjahren, Manifestation zuerst im Beckengürtel
– Proximale erbliche neurogene Amyotrophie (Typ III, Kugelberg-Welander): Erkrankungsalter um 9 Jahre, Mani-
festation zuerst im Beckengürtel (SMA IIIa: Erkrankung vor-, SMA IIIb nach dem 3. Lebensjahr)
– Adulte erbliche Form der spinalen Muskelatrophie (Typ IV): Erkrankungsalter um das 25. Lebensjahr, Manifesta-
tion zuerst durch progrediente Skoliose
Sporadische Formen – Progressive spinale Muskelatrophie (Typ Duchenne-Aran): Erkrankung um das 30. Lebensjahr, Manifestation
der spinalen Muskel- zuerst als symmetrische Atrophie der kleinen Handmuskeln
atrophie – Progressive spinale Muskelatrophie (Typ Vulpian-Bernhard): Erkrankungsalter um das 25. Lebensjahr, Manifes-
tation zuerst im Schultergürtel
– Juvenile distale spinale Muskelatrophie (Typ Hirayama): Erkrankungsalter um das 15. Lebensjahr, Manifestation
an den Armen, selbstlimitierend
– Peronealtyp mit Manifestation an der Unterschenkelmuskulatur: Beginn in der Kindheit oder im Erwachsenen-
alter, sehr langsame Progredienz
– Progressive Bulbärparalyse: Degeneration der kaudalen motorischen Hirnnervenkerne: Erkrankungsalter im
3.–6. Lebensjahrzehnt

te (untere) motorische Neuron, d.h. die motorischen Vorder- 3Diagnostik


hornzellen des Rückenmarks und die Kerne der motorischen 4 Im EMG finden sich nur selten Fibrillationen und positive
Hirnnerven mit ihren Neuriten. Man spricht auch von nukle- scharfe Wellen, auch nur wenige Faszikulationen. Oft ist das
ären Atrophien. Aktivitätsmuster bei mäßiger Atrophie und noch recht guter
Kraft bis auf Einzeloszillationen gelichtet. Eine stärkere Ver-
3Symptome. Das klinische Charakteristikum dieser langsamung der Nervenleitgeschwindigkeit findet sich nicht.
Krankheitsgruppe ist eine langsam fortschreitende, rein moto- So genannte Riesenpotentiale kommen vermutlich dadurch
rische, periphere Lähmung mit Muskelatrophien von segmen- zustande, dass die verbleibenden Nervenfasern denervierte
33 taler Verteilung und faszikulären Zuckungen. Die Eigenreflexe Muskelfasern durch kollaterale Aussprossung reinnervieren
erlöschen. Sensibilität, Trophik und Entleerung von Blase und und dass größere motorische Einheiten früher rekrutiert wer-
Darm bleiben ungestört. Die einzelnen Unterformen der SMA den. In etwa 20% der Fälle kann man jedoch im EMG auch
zeigen klinisch sehr unterschiedliche Verläufe und haben »myopathische« Veränderungen finden, die erst durch spezi-
sehr unterschiedliche Prognosen. Die rascheste Progredienz elle Ableitungstechniken als neurogen zu erkennen sind.
und die schlechteste Prognose zeigen die infantilen hereditären 4 Laborchemische Befunde: Erhöhungen der Muskelenzym-
Formen. aktivitäten im Serum können diagnostisch an eine Myopathie
denken lassen: Bei mehr als der Hälfte der Patienten ist die

Exkurs
Genetik und pathologische Anatomie
Genetik Muskelatrophie (Typ IV) ist ungeklärt und beruht nicht auf
Die spinalen Muskelatrophien (SMA) sind eine klinisch und dem Genlokus des SMN-Gens.
genetisch heterogene Krankheitsgruppe. Die proximalen Die seltene autosomal-dominant vererbte SMA besitzt
Muskelatrophien des Kindesalters folgen einem autosomal- einen Gendefekt auf Chromosom 7p.
rezessiven Erbgang. Heterozygote Anlageträger sind nicht
von Kontrollpersonen zu unterscheiden. Diese hereditären Pathologische Anatomie
Formen sind nach der zystischen Fibrose mit einer Inzidenz Pathologisch-anatomisch findet man auf dem befallenen
von 1:10.000 Lebendgeburten eine der häufigsten autoso- Niveau, besonders in der Medulla oblongata, in der zervikalen
mal-rezessiv vererbte Erkrankungen. Häufig sind Geschwister und lumbalen Intumeszenz, einen symmetrischen Schwund
der Patienten ebenfalls erkrankt. der motorischen Kern- bzw. Vorderhornzellen mit reaktiver
Die Kandidatengene für die autosomal-resessiven spi- Gliawucherung. Die vorderen Wurzeln sind bereits makros-
nalen Muskelatrophien sind zwei auf Chromosom 5q eng kopisch dünner als normal und grau entfärbt. Mikroskopisch
benachbarten Gene: Etwa 95% der Patienten zeigen eine zeigt sich das Bild einer Degeneration von Markscheiden und
homozygote Deletion im »Motor-neuron-survival«-Gen Achsenzylindern. Die entsprechenden Muskeln sind neurogen
(SMN-Gen), die sich bei den spinalen Muskelatrophien Typ atrophiert, d.h. sie zeigen eine uniforme Atrophie der moto-
I–III (Werdnig-Hoffmann, Intermediärtyp und Kugelberg- rischen Einheiten mit randständig vermehrten Muskelkernen.
Welander) findet. Die genaue Rolle des benachbarten »Neu- Es gibt aber auch histologische Veränderungen, die einer
ronal-apoptotic-inhibitory-protein«-Gens (NAIP-Gen) ist noch Myopathie ähneln.
unklar. Die Ursache der adulten Verlaufsform der spinalen
33.2 · Krankheiten mit Degeneration des 2. Motoneurons: Spinale Muskelatrophien (SMA)
721 33
Serum-CPK erhöht, beim Typ Kugelberg-Welander sogar bis 33.2.2 Hereditäre, proximale, neurogene Amyo-
auf Werte von über 2000 U/l. trophie (Typ III, Kugelberg-Welander)
4 MRT: Bildgebende Diagnostik ist nur differentialdiagnos-
tisch interessant. Im MRT der betroffenen Muskulatur findet Das Erkrankungsalter streut zwischen 2 und 17 Jahren, im
man atrophische Muskeln mit hyperintensem Signal in der Mittel beträgt es 9 Jahre.
T2-Sequenz. Kontrastmittelaufnahme ist selten. Die Vertei-
lung der Veränderungen deckt sich mit den elektrophysiolo- 3Symptome.
gischen Befunden. 4 Klinisch setzt nach initial normaler motorischer Entwick-
4 Muskelbiopsie: Befunde siehe Exkurs Genetik und patho- lung bei den Kindern zunächst eine proximale Schwäche in den
logische Anatomie. Beinen ein.
4 Sie haben Schwierigkeiten beim Treppensteigen. Später stür-
zen sie häufig hin und haben Mühe, sich wieder aufzurichten.
33.2.1 Infantile spinale Muskelatrophie 4 Sie zeigen einen watschelnden Gang und eine lumbale
(Typ I, Werdnig-Hoffmann) Hyperlordose.
4 Nach mehreren Jahren bildet sich auch eine Schwäche in
3Symptomatik und Verlauf. Die Symptome sind teilweise den Mm. deltoideus, sternocleidomastoideus und später auch
schon bei der Geburt vorhanden. an Armen und Händen aus. Zunge und Kaumuskulatur bleiben
4 Innerhalb des 1. Lebensjahres zeigen die Kinder eine stets frei.
Trinkschwäche und einen Stillstand in der motorischen Ent- 4 Typisch ist ein Befall des M. infraspinatus am Schulter-
wicklung. Sie liegen auffällig ruhig im Bett und bewegen nur in gürtel und die Bevorzugung der Beuger an den Unterarmen.
geringem Maße Finger und Zehen. Die Kinder können deshalb, im Gegensatz zu Patienten mit pro-
4 Die Lähmungen beginnen im Beckengürtel. Sie breiten gressiver Muskeldystrophie, den Jendrassik-Handgriff nicht
sich dann auf die gesamte Extremitäten- und Stammmuskula- ausführen.
tur, später auch auf die Gesichts- und Schluckmuskulatur aus. 4 Andererseits erreicht die Schwäche der Rumpfmuskulatur
Das Gesicht wird durch doppelseitige Fazialisparese aus- wesentlich später als bei Muskeldystrophie einen solchen Grad,
druckslos. Die Augen bleiben voll beweglich. dass die Kinder »an sich selbst emporklettern« müssen.
4 Die Patientinnen können den Kopf nicht halten. 4 Bei der Untersuchung sieht man häufig bereits spontan ein
4 Die Atmung ist abdominal. Sehr typisch ist die sog. Schau- Muskelfaszikulieren. Die Eigenreflexe erlöschen parallel zur
kelatmung: Bei der Inspiration wölbt sich der Bauch vor, wäh- Entwicklung der Atrophien, d.h. zuerst fallen die PSR, danach
rend der Thorax einsinkt, expiratorisch wird der Bauch einge- die ASR aus.
zogen und der Thorax wieder etwas geweitet. 4 Elektromyographisch zeigt sich das Bild einer neuro-
4 Die Muskulatur der Extremitäten ist hypoton. Die Eigen- genen Störung.
reflexe fehlen. Die Muskelatrophien führen zu Fehlstellungen
der Gelenke mit sekundärer Versteifung. Der Verlauf ist wechselnd rasch. Es werden auch Perioden von
4 Durch Parese der Interkostalmuskulatur bilden sich Atelek- jahrelangem Stillstand beobachtet. Die Lebenserwartung ist
tasen, die das Auftreten von Pneumonien begünstigen. Über nicht wesentlich verkürzt.
60% der Kinder erliegen einer Pneumonie im 1. oder 2. Le-
bensjahr, nur ganz selten überleben sie das 6. Jahr.
33.2.3 Progressive spinale Muskelatrophie
3Differentialdiagnose. Das floppy infant syndrome (»schlaf- (Typ Duchenne-Aran)
fes Baby mit Trinkschwäche«) beruht in der Mehrzahl der Fälle
auf einer konnatalen Myopathie. Von dieser Krankheit sind 3Epidemiologie und Genetik. Eindeutige Erblichkeit ist
heute etwa ein Dutzend verschiedene Formen histologisch und nicht nachgewiesen. Möglicherweise manifestiert sich die
enzymhistochemisch identifiziert. Die Kinder haben bei schlaf- Krankheit erst dann, wenn eine Mutation von Genen auf
fem Muskeltonus eine proximale Schwäche in den Extremitäten mehreren Chromosomen zusammentrifft, die isoliert nicht
und Schwierigkeiten beim Trinken. Die Atemmuskulatur ist pathogen sind. Diese Form ist die häufigste Krankheit des
nicht betroffen. Die Aktivität der Muskelenzyme ist nur leicht 2. Motoneurons. Das Erkrankungsalter streut zwischen 20 und
erhöht. Das EMG ergibt oft uncharakteristische Befunde. 45 Jahren, es liegt im Mittel um 30 Jahre.
Zur konnatalen Myasthenie siehe 7 Kap. 34.8.

Exkurs
Adulte Verlaufsform (Typ IV) der SMA
Meist treten die Symptome erstmals im 2. bis 4. Lebensjahr- Klinisch finden sich eine Skoliose sowie Pseudohypertro-
zehnt auf. Neben autosomal-rezessiven sind auch autoso- phien der Waden. In den Laboruntersuchungen findet man im
mal-dominante Verläufe beschrieben, die im Vergleich zu Gegensatz zu den Formen I–III eine deutliche Erhöhung der
den rezessiven Verläufen wesentlich rascher verlaufen. Kreatinkinase (CK). Die Lebenserwartung bei der rezessiven
Verlaufsform ist nicht vermindert.
722 Kapitel 33 · Motoneuronale Krankheiten

33.2.4 Postpoliosyndrom

Etwa ein Drittel der Patienten, die früher eine Poliomyelitis


erlitten hatten, entwickeln im höheren Lebensalter, etwa 20–
40 Jahre nach der Polio, eine zunehmende Muskelschwäche,
manchmal mit Atrophie und Faszikulationen. Der Erkran-
kungsgipfel liegt um die 50–60 Jahre. Hiervon sind vor allem
in der Akutphase der Polio-Erkrankung schwer beeinträchtig-
te und zunächst gut rehabilitierte Muskelgruppen, aber auch
. Abb. 33.1. Atrophie der kleinen Handmuskeln bei einem
39-jährigen Mann mit progressiver, spinaler Muskelatrophie. Die
solche betroffen, die von der akuten Poliomyelitis klinisch
Atrophien und Bewegungsstörungen hatten vor 8 Jahren eingesetzt. nicht berührt waren.
Die motorische Funktion der Hände war für gröbere Verrichtungen
noch gut. (A. Ferbert, Kassel) 3Symptome. Die Patienten verlieren die Ausdauer oder
haben Schwierigkeiten bei zuvor problemlosen Tätigkeiten.
Das Gehen wird erschwert und die Erholungsphase nach kör-
3Symptomatik und Verlauf. perlichen Tätigkeiten länger. Bulbäre Symptome sind selten.
4 Die Krankheit beginnt mit symmetrischen Atrophien der Die Symptome schreiten relativ langsam voran. Eine Reaktivie-
kleinen Handmuskeln, die sich nicht an das Versorgungsgebiet rung der Polio liegt nicht vor. Männer sind etwas häufiger be-
der peripheren Nerven halten, sondern segmental angeordnet troffen. Milde Formen werden leicht übersehen.
sind und zuerst Daumen-, Kleinfingerballen und Mm. interossei
ergreifen (. Abb. 33.1). Es gibt auch Patienten, die eine ganz milde, nicht diagnosti-
4 Im Laufe vieler Jahre bildet sich eine sog. Affenhand (Then- zierte Form der Polio hatten, im Alter mit milden Paresen und
aratrophie) oder Krallenhand (Atrophie der Mm. interossei und Faszikulationen erkranken und bei denen man eine leichte, auf
lumbricales) aus. Die Atrophien dehnen sich dann auf die Mus- das 2. Motorneuron bezogene ALS diagnostiziert.
keln der Unterarme aus, verschonen in der Regel die Oberarme Ob es sich hierbei um den Übergang in eine langsam ver-
und ergreifen den Schultergürtel. laufende amyotrophische Lateralsklerose handelt, die die Ein-
4 Der chronische Verlauf macht es den Kranken möglich, ordnung als ALS-Variante erlaubt, ist noch unklar. Die Pyra-
33 Umwegleistungen zu erlernen, durch die sie oft noch eine er- midenbahnen sind allerdings nie betroffen. Die Prognose ist
staunliche Kraft in den Armen entwickeln. Meist sind fasziku- viel besser als die der ALS.
läre Zuckungen zu sehen, auch in Muskeln, die (noch) nicht
atrophisch sind. Die Eigenreflexe erlöschen frühzeitig. 3Therapie. Es existiert keine kausale Behandlung. Allge-
4 Der Verlauf erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte. Man- meine Behandlungsansätze umfassen:
che Patienten sind nach 15–20 Jahren noch beruflich tätig. 4 regelmäßige Pausen,
Lebensbedrohlich wird die Krankheit nur dann, wenn das bul- 4 Vermeidung von starke Erschöpfung,
bäre Kerngebiet oder die Kerne der Interkostalnerven im 4 Peroneus- Schiene oder andere orthopädische Hilfsmittel,
Brustmark ergriffen werden. 4 Physiotherapie und
4 Vermeidung von Medikamenten, die die Schwäche ver-
stärken können, wie Tranquilizer, Muskelrelaxantien, Beta-
Blocker und Statine.

Facharzt
Differentialdiagnose der Duchenne-Aran-Krankheit
Solange die Muskelatrophien noch auf die Hand beschränkt Die Syringomyelie kann im Anfangsstadium die Symp-
sind, muss man eine mechanisch verursachte, chronische, tome einer systematischen Vorderhorndegeneration imitieren.
periphere Nervenschädigung abgrenzen, z. B. das Karpal- Bald stellen sich aber Schmerzen, Gefühlsstörungen und tro-
tunnelsyndrom, die chronische Ulnarislähmung und die phische Veränderungen ein, die die Diagnose erleichtern.
verschiedenen Formen der unteren Plexuslähmung. Bei Bei etwas höherem Lebensalter kommt auch die Myopa-
diesen treten aber fast immer auch Sensibilitätsstörungen thia distalis tarda hereditaria differentialdiagnostisch in Frage.
auf, und der Verlauf ist rascher. Im Alter von 40–60 Jahren (»tarda«) setzt eine langsam fort-
Die Abgrenzung zur ALS erfolgt durch die fehlenden schreitende Atrophie der kleinen Handmuskeln, der Unterarm-
Pyramidenbahnzeichen und den langsamen klinischen muskeln und der Mm. peronaei (»distalis«) ein. Die Eigenreflexe
Verlauf. erlöschen entsprechend dem muskeldystrophischen Prozess.
Die multifokale motorische Neuropathie (MMN) ist in Das EMG und die Muskelbiopsie lassen erkennen, dass es
7 Kap. 32.5.4 besprochen. Diese oft gut behandelbare, asym- sich um eine primäre Muskelkrankheit und nicht um eine
metrische Lähmung geht oft mit GM1-Antikörpern einher neurogene Atrophie handelt. Das Leiden ist, im Gegensatz zur
und wird mit Immunglobulinen behandelt. Duchenne-Aran-Krankheit, mit hoher Penetranz dominant
erblich (Myopathia hereditaria). Die Prognose ist gut.
33.3 · Progressive Bulbärparalyse
723 33
Facharzt
Weitere spinale Muskelatrophien
Vulpian-Bernhard-Krankheit (skapulohumeraler Typ) ist nach einer Progredienz von 2–4 Jahren selbstlimitierend.
Dieser Typ ist ätiologisch noch ungeklärt, Erblichkeit ist nicht Die Ursache ist nicht geklärt. Eine Kompression des unteren
nachgewiesen. Der Erkrankungsbeginn liegt im 2.–3. Lebens- Zervikalmarks bei Kopfbeugung wird angenommen.
jahrzehnt und damit etwas früher als der bei Duchenne-Aran.
Wegen seiner Seltenheit ist ein sicheres Urteil schwierig. Die Peronealtyp der Motoneuronkrankheit
Atrophien beginnen im Schultergürtel in den Mm. deltoideus, Die Krankheit ist seltener als der Typ Duchenne-Aran und
supra- und infraspinatus und serratus anterior. Von hier breiten Vulpian-Bernhard, beginnt im 2. Lebensjahrzehnt und ist fast
sie sich an den Armen nach distal zur Hand aus und ergreifen immer auf die Unterschenkelmuskulatur beschränkt. Nur
absteigend die Muskeln des Stammes. Die Beine werden kaum selten sind auch Hände und Unterarme oder Oberschenkel
oder gar nicht betroffen. Die Lebenserwartung ist normal. und Stammmuskeln betroffen. Außer den Mm. peronaei wer-
den auch die Mm. triceps surae und die kleinen Fußmuskeln
Juvenile, distale spinale Muskelatrophie (Typ Hirayama) betroffen. Die Lebenserwartung ist kaum verkürzt. Von der
Bei dieser Erkrankung, die typischerweise im 2. Lebensjahr- neuralen Muskelatrophie ist die Krankheit durch fehlende
zehnt beginnt, kommt es zu langsam sich entwickelnden Sensibilitätsstörungen und fehlende Verzögerung der sensib-
asymmetrischen Muskelatrophien der Arme. Die Krankheit len NLG abzugrenzen.

33.3 Progressive Bulbärparalyse 4 Das Husten wird kraftlos, was beim Verschlucken in die
Trachea Aspirationspneumonien begünstigt. Infolge der Mas-
3Definition. Bei dieser Krankheit kommt es zu einer meist seterparese können die Kranken schließlich den Mund nicht
symmetrischen Degeneration der motorischen Kerne des XII., mehr geschlossen halten und müssen den Unterkiefer mit der
X., VII. und V. Hirnnerven. Die eng benachbarten sensiblen Hand oder durch einen Verband anheben.
und vegetativen Kerne bleiben frei, was den Systemcharakter 4 Häufig kommt es zu mimischen Enthemmungsphäno-
des Prozesses besonders deutlich zeigt. Die weiter rostral liegen- menen (pathologisches Lachen und Weinen).
den Augenmuskelkerne werden nicht befallen.
3Verlauf. Der Verlauf der progressiven Bulbärparalyse ist,
3Symptome. wie bei den anderen Formen der nukleären Atrophien, unauf-
4 Die Krankheit setzt im 3.–5. Lebensjahrzehnt mit einer haltsam progredient. Die Nahrungsaufnahme wird, wenn man
Sprechstörung ein. Die Patienten klagen über eine »schwere den Kranken nicht durch eine perkutane Gastrostomie ernährt,
Zunge«, ihre Sprechweise wird schleppend und mühsam, die unzureichend, so dass sich eine Kachexie einstellt. Schließlich
Artikulation besonders für Labiale (b, p, w) und Linguale (r, l) führt eine interkurrente Aspirationspneumonie den Tod herbei.
erschwert. Demenz tritt nicht ein: Die Patienten erleben ihren qualvollen
4 Die Stimme wird leiser und bekommt durch Gaumen- Zustand bei wachem Verstand und in voller Einsicht.
segelparese einen näselnden, bei Stimmbandlähmung einen Auffällig ist, dass die Krankheit in der Mehrzahl der Fälle
heiseren Klang. Diese »bulbäre Sprache« geht bei fortschreiten- wesentlich rascher fortschreitet als die übrigen nukleären Atro-
der Lähmung in Anarthrie über, d.h. vollständige Unfähigkeit phien. Diese Verlaufsdynamik und das höhere Erkrankungs-
zur Artikulation. Die Patienten können sich dann nur noch alter sprechen dafür, die progressive Bulbärparalyse als eine
schriftlich verständlich machen. Sonderform der amyotrophischen Lateralsklerose (s.u.) auf-
4 Die doppelseitige Lähmung der vom N. facialis inner- zufassen, bei der es nicht zur Ausbildung von pyramidalen
vierten mimischen Muskulatur macht das Gesicht schlaff und Symptomen kommt. In jedem Falle muss man besonders sorg-
ausdruckslos und nimmt den Patienten eine weitere Möglich- fältig darauf achten, ob sich auch Zeichen einer zentralen Bewe-
keit der Kommunikation. gungsstörung finden: Ist der Masseterreflex erhalten oder ge-
4 Gleichzeitig werden Kauen und Schlucken immer mehr steigert und treten beim Versuch von Bewegungen der Zunge
erschwert: Die Kranken können nur noch breiige und später und des Unterkiefers Mitbewegungen und Masseninnervati-
nur noch flüssige Nahrung zu sich nehmen. Sie verschlucken onen im Gesicht auf, zeigt dies eine Schädigung auch der zen-
sich auf zweierlei Weise: Wegen der mangelnden Abdichtung tralen motorischen Bahnen an. Damit ist, beim Fehlen von
des Nasenraumes (Gaumensegelparese) werden die Speisen Sensibilitätsstörungen, die Diagnose einer amyotrophischen
durch die Nase regurgitiert oder sie geraten »in die falsche Keh- Lateralsklerose mit bulbärer Lokalisation sehr wahrscheinlich.
le«, in die Trachea, weil der Kehlkopf nur noch mangelhaft
verschlossen wird. Da die Parese des M. orbicularis oris keinen 3Therapie. Bei der mit ALS verbundenen Form der Bulbär-
festen Mundschluss mehr gestattet, laufen Speichel und Spei- paralyse kann mit dem Medikament Riluzol, einem Glutamat-
sen aus dem Munde heraus. Antagonist, das Fortschreiten verlangsamt werden. Der Effekt ist
4 Die Zungenlähmung führt dazu, dass die Speisen nicht aber nicht sehr ausgeprägt. Im Schnitt überleben die Patienten
mehr aus dem Mund in den Schlund geschoben werden mit Riluzol nur um einige Monate länger als ohne die Behand-
können. lung.
724 Kapitel 33 · Motoneuronale Krankheiten

33.4 Amyotrophische Lateralsklerose (ALS) 4 Faszikulieren wird häufig auch in nicht gelähmten Mus-
keln beobachtet.
3Definition. Die amyotrophische Lateralsklerose ist eine 4 Sensibilitätsstörungen, die über gelegentliche, leichte Pa-
rasch voranschreitende Degeneration des motorischen Ner- rästhesien hinausgehen, oder Blasenstörungen gehören nicht
vensystems mit Untergang des 1. und 2. Motorneurons, die zu zur ALS.
progressiven Paresen und Atrophien der Muskulatur führt. Die 4 Deutliche Symptome einer frontalen Demenz findet man
Extremitätenmuskeln, die rumpfnahen Muskelgruppen und bei 2–5% der Patienten.
bulbär versorgte Muskeln können beteiligt sein. 4 Wenn zentrale und periphere bulbäre Symptome vorlie-
gen (sog. Pseudobulbärparalyse), treten oft pathologisches
3Epidemiologie. Die ALS ist die häufigste motorische Sys- Lachen und Weinen auf. Extramotorische Manifestationen
temkrankheit. Sie verläuft in der Regel progredient und fatal. betreffen das vegetative Nervensystem (gastrointestinale Stö-
Sie ist keine genetische Einheit: Nur ein Teil der Fälle ist unre- rungen) und selten auch andere Organe wie Herzmuskel und
gelmäßig erblich, meist autosomal-dominant mit einer famili- Leber. Es wird zunehmend klar, dass es auch Überlappungen
ären Inzidenz von 5–10%. Insgesamt überwiegen die spora- mit anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie dem Par-
dischen Fälle. kinson-Syndrom, aber auch den zerebellären Degenerationen
Die Inzidenz wird auf 2–2,5/100.000 Einwohner geschätzt gibt.
und scheint anzusteigen, die Prävalenz (wegen der kurzen Die entscheidenden diagnostischen Zeichen sind
Krankheitsdauer) bei nur 5–8/100.000 Einwohner. In einzel- 4 gute Auslösbarkeit der Eigenreflexe an Extremitäten mit
nen geographischen Regionen gibt es aber erhebliche Unter- positiven Pyramidenbahnzeichen (Letztere können fehlen),
schiede. Der Median des Erkrankungsalters liegt um die 4 Muskelatrophien (häufig sind zunächst nur die kleinen
60 Jahre, bei familiärer ALS mit 45 Jahren deutlich früher. Die Handmuskeln betroffen),
mittlere Krankheitsdauer beträgt 25 Monate (Extremwerte 4 faszikuläre Zuckungen bei Paraspastik der Beine oder
6 Monate und 20 Jahre), nach Diagnosestellung 12–24 Mo- spastischer Tetraparese,
nate. Männer sind häufiger als Frauen betroffen (1,5–2:1). Bei 4 Faszikuieren und atrophische Paresen der Zunge (. Abb.
den genetischen Fällen sind beide Geschlechter zu gleichen 33.2) und
Teilen betroffen. 4 gesteigerter Masseterreflex;
4 keine sensiblen Ausfälle.
33 3Symptomatik. Man unterscheidet eine bulbäre und eine
spinale Verlaufsform: 3Verlauf. Die Krankheit schreitet viel schneller fort als die
4 Bei den meisten Patienten beginnt die Krankheit mit reinen spinalen Atrophien. Sie verläuft unaufhaltsam progre-
schmerzlosen, progredienten Muskelatrophien der Hände mit dient. Verlaufstyp und Erkrankungsalter gestatten keine ver-
Störung der Feinmotorik und Faszikulationen. Bei etwa 25% lässlichen prognostischen Schlüsse. Bei jüngerem Erkran-
der Patienten setzt die Krankheit mit Atrophien in den kleinen kungsalter ist die Lebenserwartung länger. Die mittlere Le-
Handmuskeln ein. benserwartung ist 3,5 Jahre. Nur ein Drittel der Kranken über-
4 Dann entwickelt sich eine Paraspastik der Beine, und lebt 5 Jahre, aber 5 % sollen länger als 10 Jahre überleben (was
schließlich wird das Gebiet der kaudalen motorischen Hirn- Zweifel an der initialen Diagnose berechtigt). Gegen Ende
nerven, nicht aber die okulomotorischen Hirnnervenkerne, nimmt die Krankheit einen besonders raschen Verlauf, weil
ergriffen. pathologisch vergrößerte motorische Einheiten (s.o.) zugrun-
4 Ebenso häufig beginnt die Krankheit mit atrophischen oder de gehen, deren Ausfall sich funktionell besonders stark aus-
spastischen Paresen an den Unterschenkeln und Füßen und wirkt.
steigt dann zu den Armen und der bulbären Muskulatur auf. Die Schluckstörung führt zur Aspirationspneumonie, die
4 In 20% der Fälle sind bulbäre Lähmungen mit Sprech- und Beteiligung der Atemmuskulatur zur respiratorischen Insuffi-
Schluckstörungen das Initialsymptom. zienz, beide mit CO2-Narkose führen zum Tod der Patienten
4 Das voll ausgebildete Krankheitsbild ist durch die Kombi- mit fortgeschrittener ALS.
nation von atrophischen und spastischen Lähmungen charak-
terisiert.

Exkurs
Wann wird die ALS manifest?
Erste Motoneurone gehen unter, ohne dass Lähmungen gen retrospektiv einen früheren Beginn der Krankheit festzu-
auftreten. Erst wenn 30–50% der Neurone untergegangen legen. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der amerikanische
sind, kommt es zu manifesten Paresen. Dies zeigt, wie schwer Baseballstar Lou Gehrig (nach dem die Krankheit in den USA
es sein wird, eine frühe Behandlung einzuleiten, wenn die in Laienkreisen benannt wird): Lange bevor die Diagnose
klinischen Zeichen erst bei weit fortgeschrittener Pathologie feststand fiel eine deutliche Abnahme von »home runs« und
auftreten. Ähnlichkeiten mit der Alzheimerdemenz sind anderen in den USA üblicherweise akribisch verfolgten Kenn-
offensichtlich. Bei Leistungssportlern gelingt es dagegen an werten auf.
Hand des frühen Abfalls von statistisch erfassbaren Leistun-
33.4 · Amyotrophische Lateralsklerose (ALS)
725 33

. Abb. 33.2. Bei bulbärer Beteiligung kommt es neben einer progre-


dienten Dysarthrie und Dysphagie häufig zu einer Zungenatrophie
mit Zungenfaszikulationen und verminderter Zungenbeweglichkeit
(Aus Gastl und Ludoph (2007) Nervenarzt 78:1449–1459)

3Diagnostik. Die Diagnose wird anhand klinischer, elek-


trophysiologischer und neuropathologischer Nachweise einer . Abb. 33.3. MRT (FLAIR) bei ALS. Leichte Hyperintensität der Pyra-
Schädigung des 1. und des 2. motorischen Neurons mit einer midenbahn beidseits
Ausbreitung auf vier Körperregionen (bulbär, zervikal, tho-
rakal und lumbal) und den elektrophysiologischen, labor-
chemischen und neuroradiologischen Ausschluss anderer 4 Labor: Die CK kann erhöht sein. Der Liquor sollte unter-
Erkrankungen, die das 1. bzw. 2. Motoneuron betreffen, ge- sucht werden, um nach anderen, immunologisch bedingten
stellt. und behandelbaren Differentialdiagnosen (z.B. CIDP oder
4 Die Muskel- und Nervenbiopsie dient insbesondere bei MMN) zu fanden. Um ehrlich zu sein: Viele weitere Labor-
atypischer Manifestation zur Abgrenzung gegenüber meta- untersuchungen (Vitamine, Vaskulitisparameter, langket-
bolischen, immunologischen und neoplastischen Ursachen. In tige Fettsäuren, Schildrüsendiagnostik u.v.m.) führt man eher
der Muskelbiopsie findet man neben neurogener Degeneration aus psychologischen Gründen für den Patienten und sich
der II-A-Fasern eine kompensatorische Hypertrophie von selbst durch, in der verzweifelten Hoffnung doch »etwas
Muskelfasern. Sie hält die Kraftleistung so lange aufrecht, bis anderes« zu finden, obwohl man sich der Diagnose schon
die Atrophie etwa 50% der Muskelfasern ergriffen hat. Das sicher ist.
erklärt, warum bei ALS, anders als z.B. bei primären Muskel-
krankheiten, die Kraft erst in einem fortgeschrittenen Stadium 3Therapie. Eine kausale Therapie der ALS ist nicht mög-
nachlässt. lich.
4 EMG: In der Nadelmyographie findet man schon frühzei- 4 Die einzige Therapie, die bislang einen geringen lebensver-
tig, d.h. auch in Muskelgruppen, die klinisch noch nicht befal- längernden Effekt im beginnenden Stadium zeigen konnte
len sind, generalisiert neurogen umgebaute hochamplitudige (durchschnittlich etwa 2–3 Monate), ist die Behandlung mit
PmE (»Riesenpotentiale), ein zum Teil bis auf Einzeloszilla- dem Glutamatantagonisten Riluzol (Rilutek®), der allerdings
tionen gelichtetes Aktivitätsmuster mit hochamplitudigen Ein- bei Patienten älter als 75 Jahre und im fortgeschrittenen Krank-
zelpotentialen, pathologische Spontanaktivität (Fibrillationen heitsstadium nicht belegt und mit hohen Therapiekosten ver-
und PsW) und Faszikulationen. In der Elektroneurographie bunden ist. Versuchsweise kann auch mit Vitamin E behandelt
findet man allenfalls eine gering verzögerte maximale moto- werden.
rische NLG bei normalen sensiblen Potentialen. Durch die 4 Weitere Therapieversuche mit NMDA-Antagonisten,
Beteiligung der Pyramidenbahn zeigt die transkranielle Ma- Wachstumsfaktoren, Interferon-beta, Copaxone®, Topiramat,
gnetstimulation (TKMS) verzögerte Latenzen. Immunsuppresion, Liquorfiltration, Selegilin und Kalzium-
4 Lungenfunktionsprüfung und weitere fakultative Unter- antagonisten sind bisher gescheitert. Die Hoffnung ruht auf
suchungen: Bestimmung der Vitalkapazität in späten Stadien Kombinationstherapien verschiedener Wirkstoffe.
vor Indikationsstellung zur Beatmung.
4 Die Magnetresonanztomographie (MRT) dient vor allem Im Anfangsstadium behandelt man krankengymnastisch und
der Differentialdiagnose gegenüber einer zervikalen Myelo- logopädisch zur Pneumonieprophylaxe und mit Antibiotika
pathie. Die MRT des Schädels kann Signalveränderungen des bei Infektionen.
Motocortex und des Tractus corticospinalis zeigen, diese sind 4 Myotonolytische Medikamente wie Diazepam (Valium®),
allerdings unspezifisch (. Abb. 33.2). Baclofen (Lioresal®) oder Tizanidin (Sirdalud®) können die
726 Kapitel 33 · Motoneuronale Krankheiten

Facharzt
Diagnostische Kriterien der ALS*
Definitive/sichere ALS: Schädigungszeichen des 1. und Die Diagnose einer ALS erfordert das Fehlen von:
2. Motoneurons in 3 von 4 Regionen (bulbär, zervikal, thora- 4 Gefühlsstörungen
kal, lumbosakral) 4 Sphinkterstörungen
Wahrscheinliche ALS: Schädigungszeichen des 1. und 4 Sehstörungen
2. Motoneurons in 2 von 4 Regionen, wobei die Schädi- 4 Autonomer Dysfunktion
gungszeichen des 2. Motoneurons rostral der Schädigung 4 Parkinson-Syndrom
des 2. Motoneurons liegen müssen 4 Alzheimer-Demenz oder
Wahrscheinliche, laborunterstützte ALS: Schädigungs- 4 Syndromen, die der ALS ähnlich sind
zeichen des 1. und 2. Motoneurons in einer von 4 Regionen
(oder nur des 1. Motoneurons in einer Region) und Dener- Die Diagnose einer ALS wird gestützt durch:
vierungszeichen im EMG in mindestens zwei Extremitäten 4 Faszikulationen in einer oder mehreren Regionen
Mögliche ALS: Schädigungszeichen des 1. und 2. Moto- 4 Neurogene Veränderungen im EMG
neurons in einer von 4 Regionen 4 Normale motorische und sensible Nervenleitgeschwindig-
Die Diagnose einer ALS erfordert das Vorhandensein keiten
von: 4 Fehlen von Leitungsblöcken
4 Zeichen der Läsion des 1. Motoneurons
4 Zeichen der Läsion des 2. Motoneurons (inklusive EMG-
Veränderungen in klinisch nicht betroffenen Muskeln) * El Escorial Kriterien der World Federation of Neurology, 1998
4 Progredienz

Exkurs
Genetik und pathologische Anatomie
Genetik Pathologisch-anatomische Befunde
33 Etwa 90% der ALS-Fälle sind sporadisch. Die verbleibenden Die ALS betrifft vorwiegend das motorische Nervensystem, im
ca. 10% zeigen eine familiäre Belastung. Der Erbgang kann Gegensatz zur spastischen Spinalparalyse (nur 1. Motoneuron
autosomal dominant und rezessiv sein. betroffen) und zur spinalen Muskelatrophie (nur 2. Motoneu-
Eine familiäre Form der ALS (fALS) wird autosomal- ron betroffen) sind bei der ALS das 1. und 2. Motoneuron be-
dominant mit einer Mutation auf Chromosom 21, in einer troffen (Vorderhornzellen und motorische Hirnnervenkerne,
Region, die die Cu/Zn-Superoxid-Dismutase (SOD1) kodiert, die Kerne der Augenmuskeln, III, IV und VI, bleiben dabei aus-
liegen. Die Cu/Zn-SOD ist ein Enzym, das toxische, freie gespart): Man findet eine Kombination von nukleärer Atrophie
Sauerstoffradikale inaktiviert. Eine juvenile Variante kann und Degeneration der Pyramidenbahnen. Makroskopisch ist
auch autosomal-rezessiv vererbt werden. Diese verläuft der Gyrus praecentralis, besonders im medialen Drittel neben
rascher, und es kommt zur Demenz. Es gibt transgene der Mantelkante, atrophiert. Medulla oblongata und Rücken-
Mausmutanten, die die humane SOD-Mutation tragen. mark sind verschmälert, die Vorderwurzeln sind abnorm dünn.
Diese Tiere erkranken an einer der ALS vergleichbaren Mikroskopisch sind im Gyrus praecentralis die Betz-Zellen der
Symptomatik und werden daher als Modell für die ALS 5. Rindenschicht geschwunden, aber auch die präfrontale,
angesehen. motorische Rinde zeigt degenerative Zellveränderungen. Die
Inzwischen sind eine Reihe weiterer assoziierter Mutati- Pyramidenbahnen sind, besonders im zervikalen Abschnitt,
onen beschrieben worden. Alle sind in gewisser Weise mit degeneriert. In den Vorderhörnern und den motorischen Hirn-
der vermehrten Belastung durch freie Radikale und Exitoto- nervenkernen sind die Alpha-Motoneurone atrophiert. Die
xizität verknüpft, die offensichtlich die Motorneurone beson- betroffenen Motoneurone zeigen zuerst eine Vakuolisierung
ders früh und daher selektiv schädigen können. Wie bei der Mitochondrien. Die Gamma-Motoneurone werden erst
anderen seltenen genetischen Krankheiten werden die spät und stets geringer befallen. Die verbleibenden α-Zellen
verschiedenen Mutationen als fALS 1–8 klassifiziert. Es wer- bilden durch sprouting in andere Muskelfasern größere moto-
den weitere hinzukommen, aber es gilt weiter: die überwie- rische Einheiten, deren Aktionspotentiale verbreitert und von
gende Mehrzahl der Fälle bleibt sporadisch. hoher Amplitude sind. Dem Zellverlust in der Hirnrinde und im
Umweltbedingte Faktoren wie eine Exposition mit Rückenmark folgt eine Gliareaktion.
Schwermetallionen oder virale Infektionen werden seit lan- Daneben finden sich autoimmunologische Vorgänge
ger Zeit diskutiert, allerdings gibt es hierfür bisher keine (Mikrogliaaktivierung, Antikörperbildung, T-Zellaktivierung),
eindeutigen Hinweise. die allerdings eher als sekundär gelten. Vor kurzem wurde das
Eine genetische Testung ist nur bei positiver Familien- Proteins TDP 43 als Bestandteil charakteristischer intrazellu-
anamnese sinnvoll, nicht bei sporadischer ALS. lärer zytoplasmatischen Einschlüsse identifiziert, das bei allen
Patienten mit ALS nachweisbar ist.
33.4 · Amyotrophische Lateralsklerose (ALS)
727 33
Exkurs
Therapieentscheidungen in der Endphase der ALS
Bei der ALS, die nur ganz selten die Entscheidungsfähigkeit weis auf eine Patientenverfügung. Spätestens dann sollte mit
beeinträchtigt, ist es viel mehr als bei anderen neurologi- dem Patienten und den Angehörigen das weitere Prozedere
schen Krankheiten möglich, im Verlauf die nächsten Schritte besprochen werden, verbunden mit dem Angebot, ihn im
zu diskutieren und dem Patientenwunsch entsprechend Finalstadium ins Krankenhaus aufzunehmen.
einzuleiten. Diese Diskussion muss mit den Patienten und Dies muss auch unter DRG-Bedingungen als humanitäre
den Angehörigen immer wieder ergebnisoffen geführt wer- Geste möglich bleiben. Die Patienten können völlig unbeweg-
de. Sie gehört mit zu den schwersten ärztlichen Aufgaben, lich (Ausnahme Augen), anarthrisch, aber geistig unbeein-
und jeder, der diese Gespräche geführt hat, kennt die unaus- trächtigt Monate und Jahre überleben. Wir raten in langen,
gesprochene Überlegung, was man wünschen würde, wenn schweren Gesprächen mit Patienten und Angehörigen meist
man selbst betroffen wäre (und manchmal stellen die Ange- von der Dauerbeatmung ab und bieten stattdessen an, dass
hörigen und Patienten genau diese Frage). die Patienten bei terminaler Ateminsuffizienz in die Klinik
Während die Anlage einer Magenfistel (PEG) zur Ernäh- kommen, wo wir alles tun, um die Sterbenden nicht leiden zu
rung heute nicht umstritten ist, ergibt sich ein großes Problem lassen.
mit der Indikationsstellung zur (Dauer-)Beatmung von ALS- Anxiolyse und Sedierung können sich negativ auf die
Patienten mit progredienter Ateminsuffizienz. Die Heimbeat- Restatmung auswirken – das nehmen wir in Kauf. In der End-
mung verlängert unzweifelhaft das Leben, verhindert aber phase erfolgt die Therapie bei intermittierender Dyspnoe mit
nicht den weiteren Muskelabbau. Sie ist von vielen Patienten Lorazepam (Tavor®) sublingual oder Opiaten, z.B. Morphium
und Angehörigen erwünscht und lebensverlängernd. per inhalationem, bei schwerer Dyspnoe auch mit Midazolam
Zu einer symptomatischen Behandlung gehört vor allem (Dormicum®) und Morphium i.v.
die psychosoziale Betreuung. Dazu gehören die Vermittlung Die Befürchtung eines qualvollen Erstickens ist unberech-
von Selbsthilfegruppen und die Sterbe- und Trauerbeglei- tigt. Bei langsamer Entwicklung der Atemlähmung schlafen
tung von Patienten und deren Angehörigen sowie der Hin- die Patienten in CO2-Narkose ruhig ein.

Spastik lockern (Dosierung s.u.). Viele Patienten spüren aber flussung der pseudobulbären Symptomatik kann Amitripty-
bei wirksamen Dosen eine stärkere Schwäche, so dass sie lin (Saroten®) eingesetzt werden, das auch beim Auftreten
die Beine zwar freier bewegen, aber nicht mehr darauf gehen von pathologischem Lachen oder Weinen helfen kann.
können.
4 Zur Behandlung von Krampi werden Magnesium, Vita- ä Der Fall
min E, Diphenhydramin (Dolestan®), Phenytoin (Zentropil®), Frau P. war erst 45 Jahre alt, als sie bemerkte, dass sie beim Trep-
Gabapentin (Neurontin®) oder Carbamazepin (Tegretal®) ein- pensteigen hin und wieder mit den Fußspitzen hängen blieb und
gesetzt. Vor allem nächtliche Krämpfe sind oftmals mit dass die Kraft ihrer Hände bei der Hausarbeit nachließ. Sie hatte
Schmerzen verbunden und führen zu einer Beeinträchtigung auch das Gefühl, dass ihre Stimme etwas leiser wurde. Nachdem
der Nachtruhe. Hier hat sich der Einsatz von Chininsulfat die Beschwerden in den nächsten 4–6 Wochen nicht besser,
(Limptar N®) bewährt. sondern schlechter wurden, suchte sie ihren Orthopäden auf, der
4 Bei bulbären Symptomen gibt man Atropinpräparate Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule veranlasste. Er verordnete
(Belladonnysat), Trihexphenidyl (Artane®), Methantelinium- eine Spritzenbehandlung und Krankengymnastik. Als dies nicht
bromid (Vagantin®), Glycopyrronium (Robinul®) gegen den half, wurde sie zum Neurologen überwiesen.
Speichelfluss, versuchsweise kleine Dosen von Mestinon® Inzwischen war ihre Beweglichkeit weiter eingeschränkt und
(20–60 mg). sie konnte Treppen nicht mehr steigen, weil die Oberschenkel
4 Hypersalivation. TTS Scopoderm (alle 1–3 Tage), alterna- zu schwach waren. Sie hatte Schwierigkeiten, eine Jacke oder
tiv: Amitriptylin (25–50 mg, bis zu 3-mal täglich), Atropin- einen Mantel anzuziehen, weil ihre Schultermuskulatur schwach
tropfen 1% sublingual, 1–2 Tropfen bis zu 3-mal täglich. Alter- geworden war. Sie berichtete, dass sie nur schwer aus dem Bett
nativ kann auch eine Applikation von Botulinumtoxin (Bo- aufstehen könne und dass sie leicht außer Atem gerate. Ihr
tox®) in die Nähe der Speicheldrüsen versucht werden. Sprechen war inzwischen sehr leise, heiser und dysarthrisch
4 Bei starker Beeinträchtigung der Sprache verordnet man geworden.
Kommunikationshilfen wie Sprachcomputer oder Buchsta- Bei der neurologischen Untersuchung war die Beweglich-
bentafeln. keit der Zunge verlangsamt, und man sah grobe Faszikulati-
4 Die Versorgung mit Peroneusschiene und Rollstuhl wird onen an Zunge, Oberarmen und Oberschenkeln. Die Thenar-
im Verlauf nötig. muskulatur war erheblich atrophisch, und auch die prätibiale
Muskulatur war volumengemindert. Die Muskeleigenreflexe
Etwa 25% der Patienten leiden unter einer Depression und waren alle sehr lebhaft auslösbar. Pyramidenbahnzeichen waren
Angststörungen, die psychotherapeutisch, gelegentlich auch nicht feststellbar. Die Vitalkapazität lag bei 1200 ml (normal
medikamentös behandelt werden. Wegen der positiven Wir- wären 2500 ml gewesen). Sensibilitätsstörungen oder Koordina-
kung auf die Reduktion des Speichelflusses und die Beein- 6
728 Kapitel 33 · Motoneuronale Krankheiten

tionsstörungen lagen nicht vor. Im EMG fand man eine ausge- Innerhalb weniger Monate wurde die Patientin ateminsuffizi-
dehnte Denervierung in allen untersuchten Muskeln, Faszikula- ent und konnte nicht mehr schlucken. Mit ihr und dem Ehemann
tionen und ein deutlich gelichtetes Aktivitätsmuster mit früher war die Entscheidung gefällt worden, dass eine künstliche Beat-
Rekrutierung sehr hoher, großer Potentiale motorischer Ein- mung nicht durchgeführt werden sollte. Kurz vor ihrem Tod
heiten. wurde die Patientin mit zunehmender Dyspnoe in die Klinik
Die Liquoruntersuchung erbrachte normale Befunde, Gang- aufgenommen, wo sie, wie vereinbart, anxiolytisch und sedie-
liosidantikörper konnten nicht nachgewiesen werden, und die rend behandelt wurde. Sie starb innerhalb von zwei Tagen, nur
Muskelbiopsie zeigte neurogene Veränderungen ohne Hinweis 15 Monate nachdem die ersten Symptome der amyotrophischen
auf eine Myopathie oder Begleitvaskulitis. Lateralsklerose aufgetreten waren.

Facharzt
ALS-Varianten und Differentialdiagnose
3Symptomatische ALS Differentialdiagnosen der ALS
Diese Variante ist selten, jedoch soll man bei der schwerwie- 3Syringomyelie und Syringobulbie. Dabei treten Nystag-
genden Diagnose immer nach einer behandelbaren Grund- mus und dissoziierte Sensibilitätsstörungen auf.
krankheit suchen. Es gibt eine paraneoplastische ALS, ferner
wird sie bei monoklonaler Gammopathie gefunden. 3Einschlusskörperchenmyositis. Mehr rumpfnahe
Schwäche, weniger Atrophien. Durch EMG- oder durch Mus-
3ALS-Parkinson-Demenz-Syndrom kelbiopsie unterscheidbar und behandelbar (7 Kap. 3.4.9).
Eine andere Variante der Krankheit tritt endemisch bei den
Chamorros, den Eingeborenen der Marianen-Insel Guam auf. 3Chronische, zervikale Myelopathie (7 Kap. 31.8.3).
Hier ist die ALS wenigstens fünfzigmal so häufig wie in an- Keine bulbären Symptome, aber Schmerzen, Parästhesien,
deren Ländern, und sie ist oft mit einem fast ausschließlich Hinterstrangsymptome, Blasenstörungen, positives Nacken-
akinetischen Parkinsonismus und präseniler Demenz kombi- beugezeichen, röntgenologische Veränderungen der Halswir-
niert. Pathologisch-anatomisch findet man regelmäßig die belsäule, CT und MRT-Befund.
für ALS und für das Parkinson-Demenz-Syndrom charakteris-
33 tischen Läsionen gemeinsam, auch wenn die Parkinson- 3Pseudobulbärparalyse bei subkortikaler, arterio-
Symptome klinisch nicht hervortreten. Die Krankheit befällt sklerotischer Enzephalopathie: Fast immer hoher Blutdruck.
ganz überwiegend Männer im mittleren Lebensalter und Schubweiser Verlauf, keine atrophische Lähmung der Zunge,
führt in 4–7 Jahren zum Tode. Sie wird als Prion-Krankheit keine fibrillären Zuckungen, keine neurogenen Muskelatro-
aufgefasst (s. Kap. 19.5). Inzwischen sind auch in westlichen phien. Neben bulbären Symptomen auch Schwindel, Ataxie,
Ländern ALS-Fälle mit Demenz und Parkinson aufgetreten. Blickparesen, Sensibilitätsstörungen perioral und in beiden
Händen.
3Bulbospinale Muskelatrophie (Kennedy-Syndrom)
Diese seltene Krankheit ist eine wichtige Differentialdiagno- 3Chronische, motorische Polyneuropathie. Zum Beispiel
se zur ALS. Es handelt sich um eine X-chromosomal (CAG- bei Diabetes (sog. diabetische Amyotrophie) mit raschem
repeat) vererbte Krankheit, die zu einer Mutation des Andro- Fortschreiten der Symptome unter Schmerzen.
genrezeptors führt.
4 Die Patienten werden meist im jungen Erwachsenenalter 3Chronisch inflammatorische demyelinisierende Poly-
auffällig, haben Myalgien, einen Haltetremor, sind meistens neuropathien (CIDP). Abschwächung der Muskeleigenreflexe
infertil und haben eine Gynäkomastie. Später treten proxi- bis zur Areflexie mit Eiweißerhöhung im Liquor und deutlich
male Schwächen der unteren Extremitäten, des Schulter- pathologische Nervenleitgeschwindigkeiten (behandelbar)
gürtels und der Zungen- und Schluckmuskulatur hinzu. Vom (7 Kap. 32.6.2).
Aspekt her typisch sind Atrophien von M. temporalis, der
fazialisversorgten Muskulatur und der Zunge. Die Patienten 3Multifokale motorische Neuropathie. Dabei keine
werden dysarthrisch und haben Schluckstörungen. Die Zeichen der Beteiligung des 1. Motoneurons, Nachweis von
Paresen der Extremitäten treten in ihrem Schweregrad da- Leitungsblöcken in der motorischen Neurographie (behandel-
gegen zurück. Faszikulationen sind häufig. bar) (7 Kap. 32.6.4).
4 Etwa ein Fünftel der Patienten haben einen Diabetes.
4 Die Lebenserwartung ist kaum beeinträchtigt. Die Patien-
ten bleiben meist gehfähig.
33.4 · Amyotrophische Lateralsklerose (ALS)
729 33

In Kürze

Degeneration des 1. Motoneurons

Spastische Spinalparalyse. Prävalenz: 4–5/100.000 Einwoh- Progressive spinale Muskelatrophie. Symptome: Symmet-
ner, Männer häufiger betroffen als Frauen. Symptome: Ausge- rische, segmental angeordnete Atrophien der kleinen Hand-
prägte, bleibende Paraspastik der Beine mit doppelseitiger muskeln, Affen- oder Krallenhand, erloschene Eigenreflexe.
Zirkumduktion, Adduktorenspasmus, Harnblaseninkontinenz, Verlauf erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte.
vermindertes Vibrations- und Lageempfinden, bei kompli-
zierter Verlaufsform zusätzlich neurologische Symptome, Postpoliosyndrom. Symptome: 20–40 Jahre nach Polio
Ataxie, Demenz, Epilepsie, Taubheit, Opticusatrophie. Im zunehmende Muskelschwäche, Atrophie, Faszikulationen,
Endstadium nach 2–3 Jahren durch spastische Kontrakturen langsam fortschreitend.
bettlägerig. Diagnostik: CT/MRT von Kopf, Zervikal-, Thora-
kalmark zum Ausschluss symptomatischer Ursachen der Paras- Progressive Bulbärparalyse
pastik; Liquor ist normal, leichte Eiweißerhöhung. Keine kau-
sale Therapie, Krankengymnastik, medikamentöse Therapie. Symmetrische Degeneration der motorischen Kerne der XII.,
X., VII. und V. Hirnnerven.
Primäre Lateralsklerose. Symptome: Spastische Lähmung, Symptome: Sprechstörung im 3.–5. Lebensjahrzehnt, leise,
fakultativ bulbäre Symptome. Diagnostik: MRT: auffällige nasal und heiser werdende Stimme, doppelseitige Fazialis-
Signalgebung entlang der Pyramidenbahn. lähmung, Speichel und Speisen laufen aus Mund, der nicht
mehr geschlossen werden kann. Tod durch inkurrente Aspira-
Degeneration des 2. Motoneurons tionspneumonie bei wachem Verstand.
Therapie. 7 ALS
Symptome: Langsam fortschreitende, motorische, periphere
Lähmung, Muskelatrophien von segmentaler Verteilung, Amyotrophische Lateralsklerose (ALS)
faszikuläre Zuckungen, erloschene Eigenreflexe. Diagnostik:
EMG: »Myopathische« Veränderungen; Labor: Erhöhungen Prävalenz: 5/100.000 Einwohner, Median des Erkrankungs-
der Muskelenzymaktivitäten im Serum. alters: ca. 65 Jahre. Symptome: Kombination von atrophi-
schen und spastischen Lähmungen, fehlende pathologische
Infantile spinale Muskelatrophie. Symptome: Im 1. Le- Reflexe, faszikuläre Zuckungen bei Paraspastik der Beine oder
bensjahr Trinkschwäche, Stillstand in motorischer Entwick- spastischer Tetraparese, Fibrillieren der Zunge, gesteigerter
lung, doppelseitige Fazialisparese, abdominale Atmung, Masseterreflex, bulbäre Lähmungen mit Sprech- und Schluck-
Muskelatrophien, im Beckengürtel beginnende Lähmungen. störungen. Tod durch Aspirationspneumonie und respirato-
Tod innerhalb des 2. Lebensjahres durch Pneumonien. rische Insuffizienz. Diagnostik: Muskel- und Nervenbiopsie:
Differentialdiagnose: »Floppy infant syndrome«, konnatale Abgrenzung gegenüber metobolischen, immunologischen
Myasthenie. und neoplastischen Ursachen bei atypischer Manifestation;
EMG: Generalisiert neurogen umgebaute PmE, gelichtetes,
Hereditäre, proximale, neurogene Amyotrophie. Symp- hohes Aktivitätsmuster, pathologische Spontanaktivität.
tome bei Kindern zwischen 2–17 Jahren. Proximale Schwä- Keine kausale Therapie: Medikamentöse Therapie,
che in Beinen, watschelnder Gang, verstärkte lumbale Lordo- Krankengymnastik und Logopädie im Anfangsstadium,
se, Atrophien, Muskelfaszikulation, erloschene Eigenreflexe. nichtinvasive Heimbeatmung.
Diagnostik: EMG: Neurogene Störung.
34

34 Muskelkrankheiten
34.1 Vorbemerkungen – 732
34.1.1 Leitsymptome bei Muskelkrankheiten – 732
34.1.2 Allgemeine Diagnostik – 732
34.1.3 Allgemeine Therapie – 733

34.2 Progressive Muskeldystrophien – 733


34.2.1 Aufsteigende, bösartige Beckengürtelform (Duchenne) – 735
34.2.2 Aufsteigende, gutartige Beckengürtelform (Becker-Kiener) – 735
34.2.3 Gliedergürteldystrophie – 735
34.2.4 Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie – 736

34.3 Myotonien – 737


34.3.1 Myotonia congenita – 738
34.3.2 Dystrophische Myotonie Typ 1 (DM 1, Curschmann-Steinert-Krankheit) – 738

34.4 Periodische (dyskaliämische) Lähmungen – 741


34.4.1 Hypokaliämische Lähmung – 741
34.4.2 Normokaliämische, periodische Lähmung – 742
34.4.3 Hyperkaliämische, periodische Lähmung (Gamstorp) – 742

34.5 Metabolische Myopathien – 743


34.5.1 Störungen des Glykogenhaushaltes – 743
34.5.2 Metabolische Myopathien mit Fettstoffwechselstörung – 744

34.6 Endokrine Myopathien – 745

34.7 Toxische Myopathien – 745


34.7.1 Steroidmyopathie – 746
34.7.2 Statin-Myopathie – 746
34.7.3 Alkoholinduzierte Myopathie – 746
34.7.4 Maligne Hyperthermie – 746
34.7.5 Malignes Neuroleptikasyndrom – 746

34.8 Myasthenia gravis pseudoparalytica – 746


34.8.1 Okuläre Myasthenie – 747
34.8.2 Generalisierte Myasthenie – 748
34.8.3 Myasthene und cholinerge Krise – 751
34.8.4 Andere myasthene Syndrome – 752

34.9 Entzündliche Muskelkrankheiten (Myositiden) – 754


34.9.1 Polymyositis und Dermatomyositis – 754
34.9.2 Polymyalgia rheumatica – 756
34.9.3 Erregerbedingte Muskelentzündungen – 757

34.10 Okuläre Myopathien – 757


34.10.1 Okuläre und okulopharyngeale Muskeldystrophie – 757
34.10.2 Okuläre Myositis – 757

34.11 Mechanische Störungen der Muskulatur – 758


34.11.1 Kompartmentsyndrom – 758
732 Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

> > Einleitung licher körperlicher Anstrengung oder einem EMG durchgeführt
werden.
Die Signalübertragung zwischen einzelnen Zellen des neuro- Autoantikörper werden bei akuten Verlaufsformen der
nalen und neuromuskulären Systems erfolgt über chemische Dermatomyositis und von so genannten Overlap-Syndromen
Botenstoffe, sog. Transmittersubstanzen. Die motorische End- bestimmt. Es kommen dabei sowohl antinukleäre Antikörper
platte, an der die Übertragung der Erregung vom peripheren als auch antizytoplasmatische Antikörper (z.B. JO1) vor.
motorischen Nerven auf den Muskel erfolgt, ist einer Synapse
zwischen zwei Nervenzellen vergleichbar, nur dass hier der post- 3Belastungstests: Die Untersuchung des Muskels unter
synaptische Anteil nicht mehr Nervenzelle, sondern Muskelzelle Belastungsbedingungen wird vor allem bei V.a. metabolische
ist. Die Physiologie der motorischen Endplatte ist besonders gut Myopathien durchgeführt. Ein relativ einfacher Screening-Test
untersucht. Acetylcholin als Transmittersubstanz wird beim Ein- ist Laktat-Ischämie-Test (7 Kap. 34.5.2).
treffen eines Nervenaktionspotentials aus den präsynaptischen Beim Myoadenylatdesaminasemangel ist der fehlende
Vesikeln freigesetzt und aktiviert die Rezeptoren auf der post- Ammoniakanstieg richtungsweisend, der Nachweis der fehlen-
synaptischen Seite. Es resultieren Miniaturendplattenpotentiale, den Enzymaktivität am Muskelschnitt wie im Muskelhomoge-
die sich aufsummieren und als Muskelaktionspotential die Kon- nat ist beweisend. Ein fehlender Laktatanstieg weist auf einen
traktion der Muskelfaser einleiten. Die Transmittersubstanz wird Defekt im Glykogen- oder Glukosestoffwechsel hin.
von dem Enzym Cholinesterase abgebaut. Die beiden Abbau-
produkte Cholin und Acetat werden aktiv präsynaptisch wieder 3EMG: Die typischen »myopathischen« Befunde sind in
aufgenommen. 7 Kap. 3 besprochen. Die Elektrophysiologie sollte nicht als
Verschiedene Substanzen können mit dieser Übertragung einziger Befund zur Diagnosestellung dienen.
interferieren: Am bekanntesten ist der Effekt von Cholinesterase-
hemmstoffen, die verhindern, dass Acetylcholin abgebaut wird 3Bildgebende Untersuchungen: Die MRT ist das bildge-
und damit zu einer Dauererregung der Muskeln führen. Wir bende Verfahren der Wahl bei Muskelkrankheiten. Bei akuten
finden diesen Mechanismus bei der E605-Vergiftung. Kleine Myositiden kann das Muskelödem sichtbar gemacht werden.
Dosen von Cholinesterasehemmstoffen können bei einer Krank- Weiterhin kann durch die MRT das Verteilungsmuster
heit therapeutisch nützlich sein, bei der die Rezeptoren für der Atrophien identifiziert werden, was für die Auswahl von
Acetylcholin geschädigt sind: die belastungsabhängige Muskel- Biopsieorten wichtig ist.
schwäche Myasthenie.
An ihr kann man besonders gut die Störung der neuro- 3Muskelbiopsie und Histologie: Die Untersuchung der
34 muskulären, synaptischen Übertragung und deren Behandlung
beschreiben. Die Myasthenie wird zusammen mit genetisch
Muskelbiopsie gehört wegen der Vielfalt der erforderlichen
Techniken in die Hände von Speziallabors. Für die Auswahl
bedingten, degenerativen und entzündlichen Krankheiten der des Biopsieortes ist wichtig, dass ein Extremitätenmuskel
Muskulatur in diesem Kapitel beschrieben. gewählt werden sollte, der im Verteilungsmuster der Erkran-
kung nicht allzu stark betroffen und bioptisch leicht zu-
gänglich ist. Die Muskelbiopsie sollte nicht an einem elektro-
34.1 Vorbemerkungen myographisch untersuchten Muskel durchgeführt werden,
da durch die EMG-Untersuchung auch Muskelfaseruntergänge
34.1.1 Leitsymptome bei Muskelkrankheiten mit zellulärer Abräumreaktion ausgelöst werden können.
Für die morphologische Diagnostik sind histologische, elek-
Muskelschwäche, Muskelatrophie und Muskelschmerzen tronenmikroskopische und immunhistochemische Techniken
können bei verschiedenen Muskelkrankheiten im Vorder- notwendig. Diese Untersuchungstechniken erfordern unter-
grund stehen. schiedliche Präparationen, die mit dem Labor abzusprechen
4 Oft sind diese Symptome generalisiert oder proximal loka- sind.
lisiert, meist symmetrisch.
4 Die Muskelschwäche kann 3Molekulargenetische Untersuchung. Die molekulargene-
5 kontinuierlich, tischen Untersuchungen und die Beratung sollte durch ein hu-
5 intermittierend, und mangenetisches Zentrum durchgeführt werden. Der Hauptstel-
5 belastungsabhängig auftreten. lenwert von humangenetischen Untersuchungen liegt heutzuta-
ge noch in der prognostischen Einordnung sowie der Familien-
beratung bei hereditären Myopathien, könnte aber in Zukunft
34.1.2 Allgemeine Diagnostik für therapeutische Entscheidungen wichtig werden. Viele be-
troffene Gene kodieren für Proteine und Enzyme im Muskel.
3Laborchemische Diagnostik und sportmedizinische Un- Bei monogenetischen Erkrankungen stellt die molekular-
tersuchung: Die Bestimmung der Kreatinkinase (CK) gibt genetische Diagnostik die Methode der ersten Wahl dar; eine
keinen eindeutigen Hinweis auf die zugrunde liegende Erkran- Muskelbiopsie ist dann nicht gerechtfertigt Dies gilt unter an-
kung. Eine CK über 1000 U/l deutet auf eine primär myogene derem für die Muskeldystrophien Typ Duchenne oder Becker,
Ursache hin. Als Grundregel gilt: Die CK-Erhöhung sollte min- manche Dystrophien vom Gliedergürteltyp und die myotonen
destens einmal bestätigt werden und sollte nicht nach erheb- Dystrophien.
34.2 · Progressive Muskeldystrophien
733 34
An den folgenden Strukturproteinen und Enzymen konn- fenen ist die Identifikation von Konduktorinnen und die prä-
ten bislang relevante Defekte nachgewiesen werden: natale Diagnostik möglich. Bei negativem Deletionsnachweis
4 am Sarkolemm (Dystrophin und assoziierte Proteine), ist eine indirekte, molekulargenetische Diagnostik oder eine
4 in der Basalmembran (Laminin-2 und Kollagen VI), Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung notwendig.
4 an der Innenseite der Kernmembran (Emerin, Laminpro- Die moderne molekulare Diagnostik erbringt eine so große
teine A/C), Vielzahl von Mutationen an muskulären Proteinen oder an für
4 an Strukturen des Zytoskeletts (Desmin, Plectin, Teletho- muskuläre Protein kodierenden Genabschnitten, dass eine voll-
nin), ständige Darstellung den Rahmen dieses Lehrbuches sprengen
4 intermyofibrillär (Titin) und im Zytosol (Calpain-3). würde; der interessierte Leser findet alle jeweils aktuell be-
kannten Defekte in der Online-Datenbank »Online Mendelian
Inheritance in Man« unter diesem link: http://www.ncbi.nlm.
34.1.3 Allgemeine Therapie nih.gov.

Die therapeutischen Möglichkeiten hängen von der Ätiologie 3Diagnostik. Im EMG zeigt sich ein typisches Bild: Verkür-
der einzelnen Krankheiten ab. Während für die immunologi- zung der Dauer und Herabsetzung der Amplitude der Einzel-
schen Krankheiten gute Therapiemöglichkeiten bestehen, sind potentiale sowie ein relativ dichtes Aktivitätsmuster schon bei
bei den genetisch bedingten Syndromen bislang nur sympto- schwacher Anspannung des Muskels (myopathisches Muster,
matische Ansätze erkennbar. 7 Kap. 3). Manchmal registriert man jedoch an einigen Son-
dierungsstellen auch ein neurogen anmutendes Muster. De-
nervierungspotentiale kommen vor.
34.2 Progressive Muskeldystrophien Laborchemie: Die Aktivität der Kreatinphosphokinase
(CK) im Muskel ist vermindert und im Serum vermehrt. Die
3Definition und Epidemiologie. Es handelt sich um eine CLK muss morgens nüchtern und nach körperlicher Ruhe be-
Gruppe erblicher, chronisch fortschreitender Krankheiten der stimmt werden, da nach Muskelarbeit die Werte häufig erhöht
quergestreiften Muskulatur mit Schwäche und später Atrophie sind. Erhöht sind auch die Serumaktivitäten der Aldolase, die
der Willkürmuskulatur. Die Krankheiten sind mit einer Prä- Fruktose-1,6-Bisphosphat in Triosephosphate spaltet, der Lak-
valenz von etwa 5 pro 100.000 Einwohnern nicht selten. Das tatdehydrogenase (LDH) und der Transaminasen.
männliche Geschlecht ist insgesamt häufiger betroffen als das Alle biochemischen Befunde sind in Abhängigkeit vom
weibliche. Krankheitstyp und Verlaufsstadium sehr variabel. Bei häu-
Sporadische Erkrankungen sind seltener als es bei der figeren Kontrollen kann man dadurch aber doch ein Bild vom
Anamnese oft den Anschein hat. Die Untersuchung der Fami- Aktivitätszustand der Krankheit gewinnen. Am stärksten pa-
lienangehörigen deckt in diesen Fällen oft eine abortive Mus- thologisch sind die Werte beim Duchenne-Typ. Selbstver-
keldystrophie unter den Verwandten der Patienten auf. ständlich müssen andere Ursachen für die Erhöhung der En-
zymaktivitäten ausgeschlossen werden.
3Molekulare Genetik. Die progressiven Muskeldystrophien Muskelbioptische Befunde: Die betroffenen Muskeln
werden auf genetisch bedingte Störungen des Muskelstoff- sind makroskopisch blassgelb gefärbt, verschmächtigt und fet-
wechsels zurückgeführt. Genetische Grundlage der Duchen- tig umgewandelt. Histologisch findet sich anfangs eine große
ne/Becker-Muskeldystrophie sind verschiedene Deletionen Unregelmäßigkeit im Durchmesser der Muskelfasern: Atro-
und Punktmutationen im Dystrophin-Gen auf dem kurzen phische liegen dicht neben kompensatorisch hypertrophierten
Arm des X-Chromosoms (Xp21), das zu den größten be- Fasern, deren Sarkolemmkerne vermehrt sind und zentral lie-
kannten Genen zählt. Das Gen kodiert ein großes Protein gen. Das interstitielle Bindegewebe hat zugenommen. Später
(Dystrophin), das eine Komponente der Membran aller Mus- zeigen sich verschiedene Formen der scholligen Faserdegene-
kelzellen ist. Dystrophin ist das Bindeglied zwischen Aktin und ration. Im Endstadium kommt es zu einer erheblichen unregel-
β-Dystroglykan, einem transmembranösen Protein. Über mäßigen Vermehrung von Fettgewebe. In schwer betroffenen
dieses ist Dystrophin mit dem ebenfalls transmembranösen Muskeln weisen nur noch die Sarkolemmkerne und vereinzelte
Sarkoglykankomplex verbunden. Man fasst heute die Muskel- Muskelspindeln darauf hin, dass es sich einmal um Muskelge-
dystrophien mit Dystrophin-Störung als Dystrophinopathien webe gehandelt hat.
zusammen. Heute spielt in der Diagnose aller Myopathien die enzym-
4 Bei der Duchenne-Form fehlt Dystrophin vollständig histochemische Untersuchung eine größere Rolle als die Elek-
oder ist auf weniger als 3% der Norm reduziert. tronenmikroskopie. . Abbildung 34.1 zeigt die histochemische
4 Bei der Becker-Kiener-Form wird abnorm strukturiertes Darstellung von Dystrophin bei Duchenne und Becker-Kie-
Dystrophin gebildet. ner-Krankheit.

Der Dystrophin-Glykoprotein-Komplex stabilisiert das Sar- 3Therapeutische Möglichkeiten. Es gibt zurzeit keine kau-
kolemm. Da die Mutationen an verschiedenen Stellen des Gens sale Therapie. Im Laufe der Jahre sind immer wieder neue Be-
auftreten können und Punktmutationen schwierig aufzu- handlungsverfahren, z.B. anabole Steroide oder Prednisolon,
decken sind, ist die molekulargenetische Diagnostik aufwän- zum Einsatz gekommen; bisher hat sich aber kein medika-
dig. Beim Nachweis einer Deletion bei einem sicher Betrof- mentöses Therapiekonzept durchsetzen können.
734 Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

a c

b d

. Abb. 34.1a–d. Immunfluoreszenzdarstellungen von Dystrophin. beintensität. c Weibliche Patientin mit einem Mosaik Dystrophin-nega-
a Patient mit Duchenne Muskeldystrophie ohne Nachweis von Dystro- tiver Muskelfasern (manifestierende Konduktorin mit einem Becker
phin, b Patient mit Becker-Muskeldystrophie und abgeschwächter Fär- Muskeldystrophie-artigen Verlauf). d Normalbefund. (Th. Voit, Essen)
34
Sinnvoll erscheinen allein die rechtzeitige Versorgung mit An einigen Zentren erhalten muskeldystrophische Pati-
Hilfsmitteln (Rollstuhl, Kommunikationshilfen) und kranken- enten mit Atemstörungen in sehr fortgeschrittenem Stadium
gymnastische Übungen, um die noch funktionstüchtigen Mus- die Möglichkeit zur Heimbeatmung.
keln zu kräftigen und Kontrakturen vorzubeugen. In einigen Fällen kann bei überwiegender Kardiomyo-
Zur Ergänzung gibt man eine eiweißreiche Nahrung. pathie, einer langsamem Krankheitsprogredienz und entspre-

Exkurs
Genetische Beratung bei Muskeldystrophien
Hauptthema jeder genetischen Beratung ist die Information Als sichere Konduktorin gilt eine Mutter, die schon einen
über das Erkrankungsrisiko bei Kindern und anderen Ver- erkrankten Sohn hat und in deren eigener Familie mütterli-
wandten. Ihr Inhalt richtet sich nach der Diagnose der be- cherseits Erkrankungen aufgetreten sind. Wahrscheinlich ist
troffenen Person, die Rat sucht. Man wird bei erhöhtem der Konduktorenstatus, wenn schon zwei erkrankte Söhne mit
Erkrankungsrisiko zu sicherer Schwangerschaftsverhütung Duchenne-Muskeldystrophie oder der Becker-Kiener-Form
und zu Pränataldiagnostik raten oder eine Interruptio disku- geboren wurden.
tieren. Besonders wichtig ist die Beratung bei der malignen Die Kreatinkinase ist bei vielen Konduktorinnen erhöht.
Duchenne-Muskeldystrophie. Die direkte DNA-Analyse kann Manche Konduktorinnen haben eine Pseudohypertrophie der
die Mutation (Deletion, Punktmutation oder, seltener, Dup- Waden oder geringfügige Veränderungen im EMG.
likation) im Dystrophin-Gen (Locus Xp21.2) in 2/3 der Fälle Bei autosomal-rezessiver Vererbung beträgt die Chance,
nachweisen. Die Sicherung der Diagnose bei einem Erkrank- dass ein Kind erkrankt, wenn beide Elternteile Träger des
ten kann am besten über die Muskelbiopsie und den Nach- pathologischen Gens sind, 25%. Gesunde Kinder dieser Eltern
weis des pathologischen Genprodukts im Muskelgewebe sind dann selbst mit 50%iger Wahrscheinlichkeit Konduktoren.
geschehen. Der pränatale Nachweis der Mutation der Du- Pränatale Diagnostik ist noch nicht möglich. Gleiches gilt für
chenne-Muskeldystrophie ermöglicht den Genträgerinnen die autosomal-dominant vererbten Muskeldystrophien,
zu erfahren, ob ein Fötus gesund oder krank sein wird, und bei denen die Erkrankungswahrscheinlichkeit der Kinder bei
kann die medizinische Indikation zur Interruptio begründen. 50% liegt.
34.2 · Progressive Muskeldystrophien
735 34
chender Indikation eine Herztransplantation das Leben der auf der jeweils belasteten Seite ansteigt und sich entspre-
Patienten verlängern. chend auf der Gegenseite senkt (doppelseitiges Trendelenburg-
Von größter Wichtigkeit ist die psychologische Führung Zeichen).
der Erkrankten und ihrer Familienangehörigen. Ob eine Gen- 4 Die Schwäche der Oberschenkelmuskeln erschwert das
therapie in der Zukunft möglich sein wird, hängt nicht nur Treppensteigen und Radfahren.
von Fortschritten in der Molekularbiologie, sondern auch von 4 Sehr kennzeichnend ist, dass die Patienten sich schwer
grundsätzlichen ethischen Entscheidungen (z.B. bei Eingriff oder gar nicht aus dem Liegen aufrichten können. Dies beruht
in die Keimbahn) ab. auf der Schwäche im M. iliopsoas und in den Bauchmuskeln:
Die Kranken rollen sich zunächst auf den Bauch, knien sich
dann in Vierfüßlerstellung hin, strecken anschließend die
34.2.1 Aufsteigende, bösartige Beckengürtel- Beine nacheinander durch und richten den Rumpf dann
form (Duchenne) dadurch auf, dass sie sich mit den Händen »schrittweise« von
den Unterschenkeln über die Oberschenkel empor stützen
3Epidemiologie. Diese bösartige Variante, an der fast aus- (Gowers-Manöver).
schließlich männliche Kinder und Jugendliche erkranken, 4 An den Waden bildet sich durch Einlagerung von Fett und
setzt bereits in den ersten drei Lebensjahren ein. Man geht von Bindegewebe eine Pseudohypertrophie aus (»Gnomenwa-
5 Erkrankten pro 100.000 Einwohnern aus. den«). Die oberen Rumpf- und Schultermuskeln werden erst
spät ergriffen.
3Symptome
4 Im 3. bis 5. Lebensjahr fällt eine leichte Muskelschwäche Der Verlauf ist protrahiert, so dass die Kranken manchmal
der Beine auf, später ist das Treppensteigen nur mit Unterstüt- erst im 5. Lebensjahrzehnt gehunfähig werden. Die Patienten
zung möglich. neigen zur Adipositas. Eine kardiale Beteiligung ist seltener
4 Die Schwäche der Becken- und Oberschenkelmuskulatur als bei der Duchenne-Form. Die Lebenserwartung ist etwas
führt zum charakteristischen »Watschelgang«. verkürzt, viele Kranke werden 60 Jahre oder älter.
4 Die Kinder klettern beim Aufstehen an sich selbst hoch Die CK ist deutlich (Werte >1000 U/dl) erhöht, nach
(Gowers-Manöver). dem 30. Lebensjahr abfallend. Auch Konduktorinnen haben
4 Ab dem 5. bis 7. Lebensjahr sind auch die Muskulatur der erhöhte CK.
Schulter und Arme betroffen, danach ist ein Anheben der
> Die progressiven Muskeldystrophien sind genetisch
Arme in die Waagerechte kaum mehr möglich.
bedingte, degenerative Muskelkrankheiten, für die es
4 Der Verlauf ist zeitlich so gerafft, dass die Kinder schon
noch keine kausale Therapie gibt.
zwischen dem 12. und 15. Lebensjahr nicht mehr fähig sind zu
gehen. Oft entwickeln sich Kontrakturen.
4 Nur selten erreichen die Patienten das 25. Lebensjahr. Die
Krankheit ist häufig von hormonellen Störungen begleitet (Adi- 34.2.3 Gliedergürteldystrophie
positas, Hypogenitalismus, Nebennierenrindeninsuffizienz).
4 Bei der Mehrzahl der Patienten ist auch der Herzmuskel 3Epidemiologie und Genetik. Dieser Typ befällt beide Ge-
befallen. schlechter gleichermaßen. Das Erkrankungsalter streut weit
4 Die Todesursache ist ein interkurrenter Infekt der At- von der frühen Kindheit bis zur Lebensmitte.
mungsorgane, Herzversagen oder Marasmus. Die Gliedergürteldystrohie ist eine genetisch heterogene
4 Die CK ist massiv erhöht, Werte um 5000–10.000 U/dl Erkrankungsgruppe (Livab gurdle muscular dystrophy, GMD).
sind nicht ungewöhnlich. Es sind autosomal-dominante Erbgänge (LGMD Gruppe 1,
selten), und autosomal-rezessiv Verebung bekannt (LGMD
Gruppe 2). Es gibt eine ständig wachsende Zahl von identifi-
34.2.2 Aufsteigende, gutartige Beckengürtelform zierten Mutationen, die zu auch klinisch unterschiedlichen
(Becker-Kiener) Varianten führen und auf verschiedensten Chromosomen lo-
kalisiert sind. Genprodukte, die betroffen sind, sind unter an-
3Epidemiologie. Auch von dieser Verlaufsform sind fast derem Sarkoglykane, Myotilin, Lamin, Calpain und Titin.
nur Knaben betroffen. Die Krankheit setzt meist zwischen dem
6. und 20. Lebensjahr, selten im jungen Erwachsenenalter ein 3Symptome und Diagnostik. Die GMD beginnt meist im
und zeigt eine relativ gutartige, langsame Entwicklung. Man Schultergürtel (. Abb. 34.2). Die Entwicklung ist meist lang-
rechnet mit 1 Erkrankung auf 100 000 Einwohner. sam, jedoch sind die Kranken in den letzten Lebensjahren
schwer motorisch behindert, und die Lebenserwartung ist ver-
3Symptome kürzt. Die CK ist deutlich erhöht. Das EMG zeigt ein myopa-
4 Die Dystrophie ergreift zunächst den Beckengürtel und die thisches Muster.
benachbarten Muskeln: Parese der Rückenstrecker führt zur
hyperlordotischer Haltung des Rumpfes.
4 Durch Schwäche des M. glutaeus medius kommt es zu dem
sehr charakteristischen Watschelgang, bei dem das Becken
736 Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

a b

. Abb. 34.2a–c. Gliedmaßengürtelform der progressiven Muskeldystrophie. Propositus. a, b Vorder- und Rückenansicht, c 5 Jahre jüngere
Schwester des Patienten in Rückenansicht. (A. Ferbert, Kassel)

34.2.4 Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie ideus), so dass die Patienten schwere Gegenstände nicht mehr
heben können.
3Epidemiologie und Genetik. Sie betrifft beide Geschlech- 4 Im Frühstadium wird auch die mimische Muskulatur be-
ter etwa gleich häufig und setzt zwischen dem 7. und 25. Lebens- troffen. Der Kranke zeigt dann die typischen schlaffen Ge-
jahr ein. Die Erkrankung ist relativ selten (Prävalenz 0,5 pro sichtszüge der »Facies myopathica« mit leichter Ptose, feh-
34 1.000.000 Einwohner) und wird autosomal-dominant mit sehr
variabler Penetranz vererbt. Ein Genlokus auf Chromosom 4 ist
lender Faltenbildung auf der Stirn und in der Nasolabialregion
und der Neigung, den Mund etwas geöffnet zu halten.
bei den Erkrankten deletiert. Es ist beobachtet worden, dass der 4 Bei der Untersuchung sind Augen- und Mundschluss
Schweregrad der Erkrankung von Generation zu Generation schwach. Die Patienten können nicht pfeifen oder die Backen
zunimmt. Dies korreliert mit der Größe der Deletion. aufblasen.
4 Das Schultergelenk hängt herab, der Oberarmkopf sitzt
3Symptome nicht mehr fest in der Pfanne (M. deltoideus, mittlerer Anteil).
4 Die Dystrophie der proximalen Arm- und Schultermus- Der obere Trapeziusrand ist eingefallen, der M. pectoralis
kulatur äußert sich oft zunächst in einer Schwäche der Arm- major ist besonders in seinem oberen Anteil atrophisch, so
hebung bis zur Horizontalen (Mm. supraspinatus und delto- dass die Klavikula und die ersten Rippen »skelettiert« hervor-

Exkurs
Seltene Muskeldystrophien
Die seltenen weiteren Muskeldystrophien sind durch die das spätere Erkrankungsalter verhältnismäßig leicht abzugren-
Namensgebung gut charakterisiert: zen. Bei den neurogenen Atrophien sind faszikuläre Zuckun-
4 okuläre und okulopharyngeale Muskeldystrophie gen häufig, die Reflexe erlöschen frühzeitig, das EMG ist cha-
(autosomal-dominant, gute Prognose), rakteristisch verändert.
4 Myopathia distalis hereditaria tarda (autosomal- Der Verlauf proximal betonter Polyneuropathien ist
dominant, langsam verlaufend, relativ gutartig), zeitlich mehr gerafft als bei Muskeldystrophie. Sensibilitäts-
4 Myopathia distalis juvenilis hereditaria (autosomal- störungen und Schmerzen sind häufig. Die Reflexe erlöschen
dominant), früh. Das EMG kann oft zur Unterscheidung beitragen.
4 kongenitale Muskeldystrophie (autosomal-rezessiv), Manche Fälle von Restlähmung nach Poliomyelitis
4 skapuloperonaeale Muskeldystrophie. können einer Muskeldystrophie ähnlich sein. Hier finden sich
aber neurogene EMG-Veränderungen, keine CK-Erhöhung, in
Differentialdiagnose der Vorgeschichte ist meist ein akuter Krankheitszustand zu
Die progressive spinale Muskelatrophie vom Typ Duchen- erfahren, und die Krankheit schreitet nicht weiter fort (Ausnah-
ne-Aran ist durch den distalen Beginn an den Händen und me: Postpoliosyndrom 7 Kap. 33).
34.3 · Myotonien
737 34
treten. Im dorsalen Aspekt zeigt sich eine doppelseitige Sca- 4 In erster Linie sind die Extremitätenmuskeln betroffen.
pula alata (M. serratus anterior), unter der die Atrophie der Die myotone Störung kann auch in der Zunge gefunden wer-
Mm. rhomboidei erkennbar ist. den. Selten kommt die Myotonie im M. orbicularis oculi
4 Durch die Muskelatrophien ist der Schultergürtel so ge- (Schwierigkeiten beim Öffnen der geschlossenen Lidspalten)
lockert, dass man die Schultern passiv bis an die Ohren an- und an den äußeren Augenmuskeln vor.
heben kann (Symptom der »losen Schultern«). Die CK ist nur 4 Bei der Untersuchung ist die Myotonie dadurch nachzu-
leicht erhöht. weisen, dass man den Patienten auffordert, 5 s lang fest die
Hand des Untersuchers zu drücken und sie dann rasch loszu-
3Verlauf. Der Verlauf ist gutartig. Die Dystrophie breitet lassen. Anders als beim Gesunden ist die Öffnung der Hand
sich, am Rumpf absteigend, über Thorax- und Bauchmuskula- beim Patienten zunächst nur langsam und zögernd möglich.
tur zum Becken, an den Armen langsam von proximal nach Bei wiederholten Versuchen, die sehr mühsam sind, lockert
distal aus. Dabei wird der M. biceps stets früher und stärker sich die myotone Steifigkeit aber zusehends. Auch alle anderen
ergriffen als der M. triceps. Die Handmuskeln bleiben oft frei. Bewegungen sind zu Anfang durch die Dekontraktionshem-
Die Beine werden erst spät, jenseits des 30. Lebensjahres, pare- mung erschwert.
tisch. Es kommt dann auch zu Kontrakturen. Pseudohypertro- 4 Sehr charakteristisch ist auch die sog. Perkussionsmyoto-
phien bilden sich bei dieser Form nur sehr selten aus. »Schub- nie: Ein kurzer Schlag mit einem Perkussionshammer oder
weise« Verschlechterungen können mit jahrelangen Perioden, dem schmalen Kopf des Reflexhammers auf den Daumenbal-
in denen die Krankheit nicht erkennbar fortschreitet, abwech- len oder andere Muskeln, z.B. Bizeps oder Deltoideus, löst eine
seln. Die Lebenserwartung ist kaum verkürzt. Bei abortiven rasche Kontraktion, z.B. Oppositionsbewegung des Daumens
Formen sind die Kranken so wenig behindert, dass sie spontan aus, die sich nur verzögert wieder löst.
nicht den Arzt aufsuchen.
3Pathophysiologie. Nach der Muskelkontraktion ver-
stummt auch beim Myotoniker die elektrische Aktivität der
34.3 Myotonien motorischen Einheit, aber, anders als beim Gesunden, kommt
es in einer verzögerten Erschlaffungsphase für mehrere Sekun-
Die verschiedenen Myotonieformen, werden mit unterschied- den zu einer von der motoneuronalen Erregung unabhängigen
licher Penetranz, meist autosomal-dominant vererbt. Die Aktivität einzelner Muskelfasern. Die abnorme, repetitive Ak-
meisten sind auf Störungen in Ionenkanälen zurückzuführen tivität ist auch nach Spinalanästhesie oder Leitungsblockade
(7 Box Kanalkrankheiten, S. 740). des Nerven und nach Blockierung der Endplatte durch Curare
auszulösen. Sie kann dagegen durch Infiltration des Muskels
3Leitsymptome mit Lokalanästhetika unterdrückt werden. Sie muss also in der
4 Die myotone Funktionsstörung, die nur die Willkürmus- Muskelfaser oder im muskulären (postsynaptischen) Anteil
kulatur betrifft, besteht in einem für mehrere Sekunden an- der motorischen Endplatte entstehen.
haltenden abnormen Andauern der Muskelkontraktion durch Die wiederholten Nachentladungen sind bei vielen Myo-
Störung der Muskelentspannung. tonieformen auf eine Funktionsstörung in einem Chlorid-
4 Die verzögerte Erschlaffung tritt bei spontanen Bewe- kanal zurückzuführen. Die Chloridleitfähigkeit des Muskels
gungen ein (sog. Dekontraktionshemmung) und ist auch durch ist entscheidend für die Repolarisation des Muskels. Bei ver-
mechanische Reizung des Muskels auszulösen (Beklopfen des minderter Chloridleitfähigkeit wird die Muskelfaser verzögert
Muskels). In der Kälte verstärkt sich die Myotonie. reporlarisiert und es kommt zu einer Serie von Aktionspoten-

. Tabelle 34.1. Myotonien und Ionen-Kanalkrankheiten


Krankheit Vererbung Gendefekt/Mutation Genprodukt Leitsymptome
Dystrophische Myotonie a.d. 19q 13.3 Myotonin-Protein- Muskeldystrophie, Myotonie, pluriglan-
Curschmann-Steinert CTG repeat Kinase duläre endokrine Insuffizienz
Kongenitale Myotonie a.r./a.d. 7q 35 Punktmutation Chloridkanal Myotonie
(Becker und Thomsen)
Paramyotonie (Eulenburg) a.d. 17q 23–25? Natriumkanal Kälteinduzierte Myotonie, Kombination mit
hyperkaliämischer Lähmung möglich
Hyperkaliämische und a.d. 17q 23—25? Natriumkanal Lähmungsattacken nach Fasten oder nach
normokaliämische körperlicher Anstrengung Provokation:
Lähmung Kalium, Kälte, Fasten
Hypokaliämische a.d. 1q 31? Kalziumkanal Durch kohlenhydratreiche Mahlzeit oder
Lähmung bei körperlicher Anstrengung ausgelöste
Lähmungsattacke
a.d. autosomal-dominant; a.r. autosomal-rezessiv.
738 Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

Myotonia congenita Thomsen. Die Störung besteht wahr-


scheinlich von Geburt an, Manifestation meist im Kleinkind-
alter. Die Patienten wirken als Erwachsene häufig athletisch.
Frauen sind meist etwas leichter betroffen als Männer.
Symptome sind:
4 Kontrakturen der Wadenmuskulatur mit Spitzfußneigung,
4 athletischer Körperbau mit relativ geringer Kraft bei star-
ker Ausprägung der Myotonie und
4 akute Verstärkung der Myotonie bis hin zum Sturz bei
Abnahme der Myotonie bei repetetiven Bewegungen (»Warm-
up-Phänomen«)

Myotonia congenita Becker. Erstmanifestationen zeigen sich


im 10.–14. Lebensjahr, seltener auch erst um das 30. Lebens-
jahr.
Die Symptome sind:
4 Die Myotonie ist in den Armen häufig besonders ausge-
prägt.
4 Kontakturen (Achillessehnen, Ellbogen- und Schulterge-
lenke, Lordose der Wirbelsäule)
4 Paresen sind selten und betreffen dann die Armmuskeln
. Abb. 34.3. Myotone Entladungen bei Dystrophia myotonica
4 Pseudohypertrophie der Bein- und Glutealmuskulatur
Steinert. Oben: abrupter Beginn und wechselnde Amplitudenab- und
-zunahme der myotonen Entladungen. Unten: abrupter Beginn der
4 Abnahme der Kraft bei wiederholten Muskelkontrak-
myotonen Entladungen und abnehmende Frequenz der einzelnen tionen; Erholung der Kraft nach 20–60 s
Entladungen. (H. Buchner, Aachen)
3Therapie. Manche Krankheiten brauchen keine Therapie,
da sie bei den Verrichtungen des täglichen Lebens nur gering
tialen, die sich klinisch als Myotonie äußern. Aus diesem behindert sind und sich gut daran gewöhnen, vor größeren
Grund zählen die Myotonien auch zu den Kanalkrankheiten motorischen Leistungen erst einige Trainingsbewegungen aus-
34 (. Tab. 34.1). zuführen. Membranstabilisierende Substanzen, wie Phenytoin
3-mal 100 mg/Tag oder Mexiletin (z.B. Mexitil®), 2- bis 4-mal
3Elektrophysiologie. Durch elektromyographische Un- 200 mg/Tag oral, einschleichend gegeben, vermindern an der
tersuchung lässt sich die myotone Reaktion der Muskulatur Muskelmembran die Häufigkeit der Depolarisationen und
feststellen: Typisch sind myotone Entladungen mit Zu- und bessern damit die klinischen Symptome.
Abnahme von Frequenz und Amplitude der Potentiale, was bei
akustischer Mitregistrierung im Lautsprecher als an- und ab-
schwellendes Geräusch (vergleichbar einem Motorrad, bei 34.3.2 Dystrophische Myotonie Typ 1 (DM 1,
dem im Leerlauf Gas gegeben und wieder weggenommen Curschmann-Steinert-Krankheit)
wird), hörbar wird (. Abb. 34.3). Diese myotonen Schauer tre-
ten spontan, nach mechanischer Reizung, z.B. nach Einstich 3Epidemiologie und Genetik. Die dystrophische ist mit
oder Bewegen der Nadel, und nach Beendigung der Willkürak- etwa 5–6 Patienten auf 100.000 Einwohner die häufigste Myo-
tivität auf. Charakteristisch sind auch asynchrone Nachent- tonie. Sie ist eine autosomal-dominante Multisystemerkran-
ladungen kurzer Potentiale, die eine aktive Innervation über- kung. Molekulargenetische Ursache ist eine pathologische
dauern. Bei wiederholter Innervation nehmen diese Nach- Vermehrung der physiologischerweise vorkommenden CTG-
entladungen ab. Die Enzymaktivitäten (z.B. CLK) im Serum Triplet-Repeats auf Chromosom 19. Normal sind bis zu
können bei Myotonieformen erhöht sein. 30 CTG-Wiederholungen. Bei Patienten können zwischen 50
und mehreren hundert CTG-Reports nachgewiesen werden.
Der Schweregrad der klinischen Symptomatik korreliert mit
34.3.1 Myotonia congenita der Anzahl der Repeats. Die Mutation betrifft einen Bereich des
Chromosoms 19q (13.3), der für das Enzym Myotonin-Pro-
3Epidemiologie und Genetik. Die erste Beschreibung tein-Kinase kodiert. Die Anzahl der Triplet-Repeats, die von
stammt von Thomsen, der selbst an familiärer Myotonie litt. Es Generation zu Generation zunimmt, bestimmt auch das Er-
werden zwei Formen unterschieden: die autosomal-dominan- krankungsalter (Antizipation = in der nächsten Generation
te Thomsen-Myotonie und die rezessive Becker-Myotonie. früher auftretend). Männer sind häufiger betroffen als Frauen.
Beide werden durch multiple Punkt-Mutationen im Chlorid- Die schwere kongenitale Form der DM1 mit floppy infant-Syn-
kanal CLCN1 hervorgerufen (Chromosom 7q35). Die Krank- drom, Trinkschwäche und schwerer motorischer und mentaler
heiten sind selten (Prävalenz Thomsen 0,2/100.000, Becker Retardierung tritt bei Vererbung durch symptomatische Mütter
4/100.000.). auf. Es finden sich dann Repeat-Expansionen >1.000 Repeats.
34.3 · Myotonien
739 34
Exkurs
Andere myotone Syndrome
Paramyotonia congenita (Eulenburg) schmerzen und Katarakt aus. Die Erkrankung verläuft insge-
Die autosomal-dominante Paramyotonie ist dadurch charak- samt milder als die DM1 (Curschmann-Steinert) und es sind in
terisiert, dass bei länger dauernder Kälteeinwirkung die der Regel keine mentalen Defizite zu erwarten. Das klinische
Myotonie besonders ausgeprägt ist. Es können auch paro- Bild ist sehr heterogen und eine eindeutige Diagnose kann nur
xysmale Lähmungen auftreten. Betroffen ist auch die mi- molekulargenetisch gestellt werden. Die Repeatlänge korre-
mische Muskulatur bis hin zu schlitzartiger Verkrampfung liert nicht mit der Schwere des Krankheitsbildes.
des M. orbicularis oculi. In der Folge tritt eine allgemeine
Muskelschwäche auf. Kaliumsensitive Myotonien (potassium aggravated
Auch die Paramyotonie ist genetisch aufgeklärt: Zu- myotonia PAM)
grunde liegen autosomal-dominante Punktmutationen im Im Gegensatz zur Paramyotonia congenita gibt es bei diesem
SCN4A-Gen auf Chromosom 17q23, die für den muskulären Kranheitsbild keine Muskelschwäche und auch keine aus-
Natriumkanal Nav1.4. kodieren. Es kommt zu einem ver- geprägte Kälteempfindlichkeit. Die Myotonie wird durch die
mehrten Natriumeinstrom in die Muskelzelle, wodurch repe- Gabe von Kalium verstärkt.
titiv Aktionspotenziale generiert werden.
Es gibt Übergänge zur hyperkaliämischen perodischen Myotonia fluctuans
Lähmung, da es bei hohen intrazellulären Natriumkonzen- Hier ist die Kälteempfindlichkeit nur gering ausgeprägt. Die
trationen zur Unerregbarkeit der Zellen durch ausgeprägte Myotonie tritt während anhaltender Muskelarbeit auf, eine
Membrandepolarisation kommen kann. Parese entsteht nicht.
Manchmal spricht diese Myotonie sehr gut auf Azetazola-
Myotone Dystrophie Typ 2 (DM2) mid (Diamox®) 2- bis 4-mal 500 mg an, sonst gibt man Mexi-
Synonym werden die Begriffe proximale myotone Dystonie letin 2- bis 3-mal 200 mg oder Propafenon (z.B. Rytmonorm®
(PMD) und proximale myotone Myotonie (PROMM) verwandt. 2-mal 150 mg bis 2-mal 300 mg).
Sichere Angaben zur Häufigkeit der DM2 gibt es nicht, es
wird jedoch vermutet, dass sie etwa gleich häufig wie die Symptomatische, nicht erbliche Myotonie
dystrophische Myotonie Typ 1 (Curschmann-Steinert) ist, also Sie kann sich bei Polyneuropathie, Polymyositis oder progres-
etwa eine Inzidenz von 1:20.000 hat. siver Muskeldystrophie entwickeln. Sie ist klinisch gutartig und
Die myotone Dystrophie Typ 2 (DM2) wird durch eine oft nur auf einige Muskelgruppen beschränkt. Bei Hypothyreo-
Tetranucleotid (CCTG)-Expansion im Zinkfingerprotein-9-Gen se (nach Thyreoidektomie und bei Myxödem) besteht nicht
auf Chromosom 3q21 verursacht. Die genaue Funktion nur eine Verlangsamung der Muskelerschlaffung, sondern
dieses Proteins ist nicht bekannt. auch der Kontraktion. Eine Perkussionsmyotonie ist in diesen
Klinisch zeichnen sich die Patienten durch vorwiegend Fällen nicht auszulösen, und auch im EMG findet man hier
proximale Muskelschwäche der Beine, Myotonie, Muskel- nicht das Bild der typischen Myotonie

3Symptome. Gewöhnlich zeigt sich zur Zeit der Pubertät 5 Primärer Hypogonadismus (überwiegend bei Männer)
zunächst die myotone Funktionsstörung. Im 3. Lebensjahr- 5 Stirnglatze
zehnt entwickeln sich dann die dystrophischen und endokri- 5 Innenohrschwerhörigkeit
nen Symptome. 4 Diabetes mellitus (Insulinresistenz)
4 Die Myotonie beginnt in den kleinen Handmuskeln, den 5 Kardiale Symptome mit Rhythmusstörungen und Herzin-
Unterarmen und der Zunge. Hier ist eine myotone Reaktion suffizienz
mechanisch, elektrisch und durch Willkürinnervation auszu- 4 Kognitive Einschränkungen bei extrem hohen Repeat-Ex-
lösen. pansionen über 500 Repeats
4 Die Muskelschwäche betrifft ganz bevorzugt die 4 Tagesmüdigkeit mit und ohne Schlaf-Apnoe-Syndrom
Mm. sternocleidomastoideus, brachioradialis und die vom
N. peronaeus versorgte Muskulatur. Sie ergreift aber auch die Bei voll ausgebildetem Syndrom und nach längerer Krank-
distalen Muskeln der Arme, das Gesicht, die Augenmuskeln heitsdauer haben die Patienten ein sehr charakteristisches Aus-
und häufig den Herzmuskel. sehen: spärlicher Haarwuchs, Facies myopathica mit hängen-
4 Die Verteilung ist bei den einzelnen Kranken etwas unter- den Gesichtszügen, doppelseitiger Ptose und halb geöffnetem
schiedlich: Bald sind die distalen, bald die proximalen Muskeln Mund, schlaffe Haltung, schwache, dystrophische Muskulatur.
der Extremitäten, in anderen Fällen Gesichts- und Augenmus- Die Stimme ist schwach, die Sprache näselnd-bulbär, die Bewe-
keln stärker betroffen. Manchmal besteht auch eine Schluck- gungen sind langsam, und die Patienten haben einen doppel-
störung. seitigen Steppergang.
4 Extramuskuläre Symptome sind: 4 Psychisch findet sich oft eine Schwäche des Antriebs und
5 Katarakt in der hinteren Linsenkapsel (»myotone« Kata- affektive Indifferenz, Veränderung der Persönlichkeit mit Ver-
rakt) nachlässigungstendenzen und sozialem Rückzug.
740 Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

Facharzt
Kanalkrankheiten
Aufgrund der inzwischen aufgedeckten Pathophysiologie 4 Chloridkanalkrankheiten: Hierzu gehören die konna-
wird eine Reihe von Muskelkrankheiten, die auf defekte talen Myotonien (Typ Thomsen und Typ Becker).
Ionenkanäle in den Muskeln zurückzuführen sind, heute 4 Natriumkanalerkrankungen: Hierzu gehören die Paramy-
auch unter der Überschrift »Kanalopathien« zusammenge- otonia congenita Eulenberg, die hyperkaliämisch periodische
fasst. Hierzu gehören Krankheiten, bei denen der krankma- Lähmung und die normokaliämische periodische Lähmung.
chende Kanal für Chloridionen, für Natrium- oder Kalziumio- 4 Zu den Kalziumkanalkrankheiten gehört als wichtigste
nentransport zuständig ist und sich speziellen Gendefekten Form die hypokaliämisch periodische Lähmung.
zuordnen lässt.
Wir haben die Krankheiten noch anders klassifiziert, Interessant ist, dass es auch noch weitere Krankheiten außer-
wollen sie hier jedoch auch nach der neuen Klassifikation halb der Muskulatur gibt, bei denen Kanaldefekte eine Rolle
aufzählen: spielen, z.B. die episodische zerebelläre Ataxie (7 Kap. 16) oder
die nicht paraneoplastische limbische Enzephalitis (7 Kap. 22.3).

3Diagnostik. zur Beratung von Genträgern und Patienten im Frühstadium


4 Im EMG können neben den typischen myotonen Ent- sollte durchgeführt werden.
ladungsserien, die bei jeder Änderung der Nadellage erneut auf-
treten, auch Fibrillationspotentiale und kurze, polyphasische 3Therapie und Verlauf. Der Verlauf ist langsam fortschrei-
PmE abgeleitet werden. Durch Beklopfen der Muskulatur in der tend. Viele Patienten werden vor dem 40. Lebensjahr durch
Umgebung der Nadel lassen sich Entladungsserien provozieren. Muskeldystrophie und allgemeine Schwäche arbeitsunfähig.
4 Internistisch zeigt sich die Kardiomyopathie gelegentlich Die meisten versterben an interkurrenten Infekten oder Herz-
als Herzrhythmusstörungen und Tachykardie. Im EKG findet versagen im mittleren Lebensalter. Eine maligne, kongenitale
man oft eine Überleitungsstörung. Regelmäßige kardiologische Variante kann bei Kindern erkrankter Mütter auftreten.
Untersuchungen zur Erfassung von Rhythmusstörungen, ggf. Die Therapie ist symptomatisch:
Schrittmacherversorgung, sind notwendig. Der Magensaft ist 4 Steht die myotone Komponente im Vordergrund, behan-
meist anazid. delt man mit Membranstabilisatoren, bevorzugt mit Phenytoin
34 4 Die Katarakt ist gelegentlich erst bei seitlicher Beleuch- 3-mal 100 mg oral.
tung im Dunkelzimmer oder mit der Spaltlampe festzustellen. 4 Meist sind es aber die Erscheinungen der allgemeinen Schwä-
Um den sich entwickelnden Katarakt zu erfassen und zu kont- che und der Muskeldystrophie, die den Patienten zum Arzt füh-
rollieren, sind regelmäßige ophthalmologische Kontrollen an- ren. Durch Sexualhormone als Depot-Präparate lässt sich der
gezeigt. Allgemeinzustand, wenigstens vorübergehend, bessern.
4 Eine molekulargenetische Untersuchung auf das Vor- 4 Besonders wichtig ist die krankengymnastische Behand-
liegen einer CTG-Repeat-Expansion auf Chromosom 19q13.3 lung.

Leitlinien zur Behandlung der Myotonien*


Myotone Dystrophien Nichtdystrophe Myotonien
4 Jährliche augenärztliche Kontrolluntersuchungen zur 4 Behandlung der Myotonie mit Mexiletin (oder je nach
rechtzeitigen Erfassung und Behandlung einer Katarakt (A). Mutation Propafenon oder Flecainid) als Medikament der
4 Halbjährliche kardiologische Kontrollen zur rechtzeitigen 1. Wahl und Carbamazepin als Medikament der 2. Wahl bei
Erfassung von Herzrhythmusstörungen bzw. (seltener) Kar- Chloridkanalmyotonien, Paramyotonia congenita und kalium-
diomyopathien und ggf. Prüfung der Indikation für eine sensitiver Myotonie (A).
Schrittmacherversorgung (A). 4 Vermeidung von kalter Umgebungstemperatur zur Pro-
4 Modafinil zur Behandlung einer Hypersomnie (B). Alter- phylaxe der Myotonie und Schwäche bei Paramyotonie (A).
nativ kann Ritalin versuchsweise gegeben werden (C). 4 Vermeidung einer Hyperkaliämie und Gabe von Acetazol-
4 Regelmäßige Physiotherapie, um Kontrakturen und einer amid zur prophylaktischen Behandlung der Muskelsteifigkeit
Progredienz der Muskelschwäche entgegenzuwirken (B) und bei kaliumsensitiver Myotonie (B).
ggf. Hilfsmittelversorgung. 4 Genetische Beratung, vor allem bei autosomal-dominant
4 Hormonsubstitution bei Hypogonadismus (B). vererbter Chloridkanalmyotonie (Thomsen), Paramyotonie
4 Mexiletin ist nur bei stark ausgeprägter Myotonie unter und Myotonia permanens (A), nach molekulargenetischer
Berücksichtigung der kardialen Situation Diagnostik.
4 Genetische Beratung, insbesondere bei betroffenen
jungen Frauen (A). * modifiziert nach Leitlinien der DGN, 2008
(www.dgn.org/leitlinien.html)
34.4 · Periodische (dyskaliämische) Lähmungen
741 34
34.4 Periodische (dyskaliämische) ziumkanal Cav1.1 oder im SCN4A-Gen für den muskulären
Lähmungen Natriumkanal Nav1.4 vor.

3Einteilung. Diese Gruppe von Krankheiten ist durch 3Spezielle Symptome


subakute, innerhalb von Minuten oder wenigen Stunden ein- 4 Die Lähmungen setzen etwa um das 20. Lebensjahr ein.
setzende, schlaffe Lähmungen vorwiegend der Extremitäten Anfangs ereignen sie sich in Abständen von vielen Monaten.
gekennzeichnet, die Stunden bis Tage anhalten und sich dann 4 Bis zum mittleren Erwachsenenalter werden sie häufiger
wieder zurückbilden. Im Intervall bleiben die Kranken zu- und schwerer (Abstände von Wochen, auch nur von Tagen).
nächst ohne Beschwerden. Es handelt sich um hereditäre Er- Danach tritt in der Regel eine spontane Besserung ein, bei
krankungen der muskulären Kalzium-, Natrium- oder Kali- der die Lähmungen immer seltener und milder auftreten. Die
umkanäle, die zu einer episodischen, manchmal extern getrig- Kenntnis dieses Spontanverlaufs darf aber nicht dazu verleiten,
gerten Untererregbarkeit der Zellmembranen mit nachfol- die Krankheit leicht zu nehmen: Manche Patienten sterben im
gender Lähmung führen. Allen gemeinsam ist die Depolarisa- akuten Anfall an Atemlähmung oder Herzversagen.
tion der Muskelmembran, die dadurch unerregbar wird. 4 Die Lähmungen treten meist in der Nacht oder in den
Nach biochemischen und klinischen Charakteristika unter- frühen Morgenstunden aus dem Schlaf auf.
scheidet man heute drei Formen mit jeweils verschiedenen 4 Sie werden durch starke körperliche Anstrengung mit
Lähmungsmechanismen, die familiäre, hypokaliämische Läh- nachfolgender Ruhe oder durch Mahlzeiten, die reichlich
mung, die normokaliämische Variante und die hyperkaliämi- Kohlenhydrate enthalten, provoziert. Unter diesen Umständen
sche, paroxysmale Lähmung. kommen sie auch über Tag vor: Die Kranken können etwa
ohne Mühe eine längere Wanderung machen, sind aber kurze
3Pathophysiologie und Morphologie. In den frühen Sta- Zeit nach der Rast nicht mehr fähig aufzustehen.
dien der periodischen Lähmungen kommt es während des 4 Auch seelische Erregung und Kälte wirken provozierend.
Lähmungsanfalls zu einer Dehnung des sarkoplasmatischen Die Paresen können bis zur Tetraplegie führen. Beatmung
Retikulums, die sich im Intervall wieder zurückbildet. kann notwendig werden.
Histologisch enthalten bis zu 40% der Muskelfasern eine 4 Den Lähmungen gehen oft Prodromalerscheinungen, wie
oder mehrere kleine oder größere, längliche oder multilokuläre Schwere und Missempfindungen in den Gliedmaßen, Völlege-
Vakuolen. Die Vakuolen enthalten Glykogen oder andere fühl, Schweißausbrüche und allgemeine Schwäche voran. Die
Kohlenhydrate. Dieses histologische Bild unterscheidet sich Paresen beginnen im Becken- und Schultergürtel und breiten
charakteristisch von fast allen anderen beim Menschen be- sich innerhalb von Stunden auf den Rumpf und die distalen
kannten Myopathien. Die Rolle des K+ in der Pathogenese aller Extremitätenabschnitte aus. Die Hirnnerven bleiben im Allge-
drei Formen der periodischen Lähmung ist nicht schlüssig meinen frei.
aufgeklärt, zumal die zugrunde liegenden Mutationen sich auf 4 Bei der klinischen Untersuchung ist im Lähmungsanfall
Natrium- bzw. Kalziumkanäle beziehen (. Tab 34.1). die Skelettmuskulatur in wechselndem Ausmaß paretisch bis
paralytisch. Der Muskeltonus ist schlaff, die Eigenreflexe sind
3Leitsymptome. Bei allen drei Formen der periodischen erloschen. Manchmal besteht eine Blasen- und Darmatonie.
Lähmung entwickelt sich im Laufe der Jahre eine langsam 4 Die Sensibilität ist nicht gestört. Die Patienten klagen nicht
progrediente Myopathie. über Schmerzen.
4 Diese ist am stärksten in der proximalen Extremitätenmus-
kulatur und im Hüft- und Schultergürtel ausgeprägt. 3Diagnostik.
4 Im fortgeschrittenen Stadium kann der Patient durch die 4 Der entscheidende Befund ist ein Abfall des Kaliumspie-
Muskelschwäche gehunfähig werden. gels im Serum auf ≤2 mmol/l während des Lähmungsanfalls.
4 Gewöhnlich setzt die Myopathie erst nach einer Krank- Kalium wird abnorm in die Muskelzellen aufgenommen. Wei-
heitsdauer von mehreren Jahren ein. Es besteht aber keine ter findet sich im Anfall eine Verminderung des Serumkreati-
strenge Korrelation zur Häufigkeit oder Schwere der paroxys- nins und der Phosphate bei Anstieg von Na+ und Milchsäure.
malen Lähmungen. Im Intervall sind bei dyskaliämischer Lähmung die Elektrolyt-
4 Eine gleichartige Myopathie tritt auch beim Conn-Syn- verhältnisse in Serum und Muskel normal.
drom auf. Sie hat offenbar auch mit einer Störung des Kalium- 4 Elektromyographisch findet man viele »stumme« Bezirke
stoffwechsels zu tun. in den untersuchten Muskeln: Bei inkompletter Lähmung sind
die Einzelpotentiale niedrig und kurz, das Aktivitätsmuster ist
hochgradig, bis auf niedrige Einzeloszillationen, gelichtet. Bei
34.4.1 Hypokaliämische Lähmung schwerer Lähmung sind die Muskeln durch keinerlei elek-
trische Reize mehr erregbar, und es lässt sich kein Aktions-
3Epidemiologie und Genetik. Der Erbgang ist autosomal- potential mehr ableiten.
dominant mit hoher Penetranz. Die Inzidenz liegt insgesamt 4 In diesen Fällen ist oft auch der Herzmuskel betroffen:
etwa bei 1:100.000. Männer erkranken trotzdem viel häufiger Klinisch besteht Bradykardie, gelegentlich Dilatation des
und schwerer als Frauen. Etwa 5% der Fälle sind sporadisch. Herzens.
Molekulargenetisch liegen Punktmutationen im CACNA1S- 4 Die hypokaliämischen Anfälle können durch Beeinflus-
Gen auf Chromosom 1q31–32 für den muskulären L-Typ Kal- sung des Glykogenhaushalts provoziert werden, so durch Koh-
742 Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

lenhydratzufuhr, Insulin oder 100 IE ACTH. Ein Provoka- 34.4.3 Hyperkaliämische, periodische Lähmung
tionstest, bei dem Glukose oral oder Insulin i.v. gegeben wird, (Gamstorp)
darf nur unter intensivmedizinischen Bedingungen durchge-
führt werden. 3Epidemiologie und Genetik. Dieser Typ beginnt ebenfalls
4 Molekulargenetische Untersuchung (s.o.), Ruhe-EKG früher als die hypokaliämische Form, meist vor dem 20. Le-
zum Ausschluss eines Long-QT-Syndroms und ventrikulärer bensjahr. Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen. Der
Arrhythmien Gendefekt ist wahrscheinlich mit dem der Eulenburg-Paramy-
otonie (7 Kap. 34.3.2) identisch: Gen SCN4a auf Chromo-
3Therapie und Prävention som 17, das einen muskulären Natriumkanal kodiert.
4 Die einzig wirksame Therapie im Anfall ist die Zufuhr ei-
ner hohen Dosis von Kalium, z.B. als 10 g Kalium chloratum 3Spezielle Symptome
per os in wässriger Lösung oder 3 Brausetabletten Kalinor®. 4 Die Anfälle setzen schon im Kindesalter mit ähnlichen
4 Wegen der Gefahr des Herzstillstands dürfen 20–30 mval/ Prodromi wie bei der hypokaliämischen Lähmung ein.
h i.v. nicht überschritten werden (Höchstdosis 240 mval/Tag). 4 Sie sind häufiger, weniger schwer und kürzer, nur Minuten
bis 2 Stunden anhaltend und ergreifen allerdings oft auch die
In der Regel bilden sich die Lähmungen innerhalb einer kranialen Muskeln. Die Gefahr der Atemlähmung ist hier ge-
Stunde zurück. Es gibt aber auch schwer zu behandelnde Pa- ringer.
tienten, bei denen die Kaliumgaben über viele Stunden wie- 4 Die Anfälle ereignen sich meist am Morgen. Kälte, Ruhe
derholt werden müssen, selbstverständlich unter Kontrolle nach körperlicher Anstrengung und Fasten wirken provo-
des Serumkaliumspiegels und des EKG. Offenbar normalisiert zierend.
sich durch die Anreicherung von K+ im Extrazellularraum das 4 Die Anfälle können durch Kaliumchlorid (1–5 g per os)
gestörte Verhältnis von K+ extrazellulär/K+ intrazellulär, so ausgelöst werden.
dass die Membran wieder depolarisiert und K+ aus der Mus- 4 Leichte körperliche Bewegung verhindert oder verzögert
kelzelle austreten kann. das Auftreten der Lähmungen, ebenso Nahrungsaufnahme vor
4 Eine Behandlung mit Kalium im Intervall kann das Auftre- der Lähmung oder zu deren Beginn.
ten der Lähmungen nicht verhindern. 4 Der Verlauf lässt eine Besserung in der 5. Lebensdekade
4 Eine orale Dauerbehandlung mit Kalium ist wegen der ra- erkennen.
schen Ausscheidung durch die Nieren nicht schädlich, nützt 4 Die Patienten können eine durch Kälte ausgelöste myotone
aber auch nichts. Reaktion zeigen (gleicher Genlokus wie Paramyotonie), die
34 4 Sinnvoll ist eine salz- und kohlenhydratarme Diät. sich als undeutliches Sprechen nach Genuss von Eis oder
4 Intervallbehandlung Azetazolamid (z.B. Diamox®), nied- als Steifigkeit der Hände nach Baden in Wasser von 15–16 °C
rig dosiert, z.B. 125 mg/Tag. äußert.

3Diagnostik.
34.4.2 Normokaliämische, periodische Lähmung 4 Im Anfall sind im EKG die P-Welle abgeflacht und die
PQ-Zeit verlängert. Die T-Welle ist zeltförmig überhöht, der
Die Krankheit setzt bereits in der ersten Lebensdekade, nicht QRS-Komplex verbreitert. Diese EKG-Veränderungen sichern,
selten schon vor dem 5. Lebensjahr ein. Die auslösenden Situ- zusammen mit dem erhöhten Serum-Kalium, beim Vorliegen
ationen gleichen denen bei der hypokaliämischen Form. Man einer akuten, schlaffen Lähmung die Diagnose.
nimmt einen der hyperkaliämischen Lähmung ähnlichen ge- 4 Im Lähmungsanfall steigt das Serum-K+ an, im Muskel tritt
netischen und biochemischen Mechanismus an. ein Verlust an K+ bei kompensatorischer Na+-Aufnahme ein.
4 Im EMG kann es zu einer verlängerten Einstichaktivität,
3Symptome. Auch hier treten die Lähmungen besonders selten auch zu myotonen Entladungen kommen. Die Einzelpo-
während des Nachtschlafs und in den frühen Morgenstunden, tentiale sind im Anfall kurz und niedrig. Molekulargenetische
in der Ruhe nach körperlicher Anstrengung, nach Fasten oder Diagnostik in SCN4A und KCNJ2.
Alkoholgenuss, in der Kälte und bei seelischer Erregung auf.
Die Anfälle dauern bis zu 3 Wochen, und die Lähmung ergreift 3Therapie
bei diesem Typ auch die kranialen Muskeln. KCl-Gaben pro- 4 Im Anfall Inhalation eines α-Mimetikums (Aktivierung
vozieren die Lähmungen. der Na/K-Pumpe) 3 Hübe 1,3 mg Metaprotenerol, nach 15 min
wiederholbar, 2 Hübe 0,18 mg Albuterol oder 2 Hübe 0,1 mg
3Therapie Salbutamol
4 Die Therapie im Anfall besteht in Zufuhr von NaCl. 4 Thiaziddiuretika (25–50 mg) zur Senkung des Kaliumspie-
4 Zur Prophylaxe wird eine kohlenhydratarme Diät und die gels: Acetazolamid (Diamox® 2-mal 500 mg).
Einnahme von 9-α-Fluorohydrocortison, z.B. Astonin H und
Azetazolamid (Diamox®) empfohlen. Prophylaxe: Carboanhydrasehemmstoffe, wie Azetazolamid
(z.B. Diamox®), 2 Tabletten pro Woche, jedoch hier nicht so
wirksam wie bei hypokaliämischer Lähmung, oder Hydrochlo-
rothiazid (z.B. Esidrix®, Hygroton®).
34.5 · Metabolische Myopathien
743 34

Leitlinien zur Behandlung der dyskaliämischen Lähmungen*


Hyperkaliämische periodische Paralyse: Vermeidung einer Hypokaliämische periodische Paralyse: Vermeidung einer
Hyperkaliämie und Gabe von Hydrochlorothiazid (A) oder Hypokaliämie und Gabe von Kalium und Acetazolamid oder
Acetazolamid (B) zur prophylaktischen Behandlung. Kohlen- Spironolacton zur prophylaktischen Behandlung. Kalium und
hydratzufuhr und leichte körperliche Betätigung (A), Kalzi- leichte körperliche Betätigung (A).
umglukonat i.v. (B), Thiaziddiuretika (B), Inhalation eines
α-Mimetikums (Metaprotenerol, Albuterol oder Salbutamol) * modifiziert nach den Leitlinien der DGN 2008
(A). (www.dgn.org/leitlinien.html)

Exkurs
Myoglobinurien
Bei massivem Muskeluntergang wird Myoglobin im Urin Komplikation der malignen Hyperthermie. Die Myoglobinurie
ausgeschieden. Überbelastung bei metabolischen Myopa- kann zum akuten Nierenversagen wegen Tubulusnekrosen
thien, aber auch Myotonien, ischämische Muskelnekrosen und Tubulusverstopfung führen. Beobachtung, forcierte Diure-
oder traumatische Schädigungen der Muskulatur können se, Natrium-Bikarbonat, Furosemit und ggf. Dialyse können
zur Myoglobinurie führen. Die Myoglobinurie ist auch eine dies verhindern.

34.5 Metabolische Myopathien normal sein. In der Muskelbiopsie findet man nur bei Mito-
chondriopathien charakteristische nichtmikroskopische Be-
Unter dieser Bezeichnung sind Muskelkrankheiten zusam- funde, ansonsten sind histochemische Färbungen notwendig.
mengefasst, bei denen Störungen im Energiestoffwechsel zu
belastungsinduzierten Paresen, Muskelschmerzen und Kon-
trakturen führen. Die Stoffwechselstörungen können im Gly- 34.5.1 Störungen des Glykogenhaushaltes
kogenstoffwechsel, im Fettstoffwechsel, im Purinzyklus und
in der Atmungskette (Mitochondrien) liegen. Die letzte Grup- Die Zahl der beschriebenen Glykogenosen nimmt zu, und die
pe von Krankheiten heißen mitochondriale Myopathien (vergl. meisten betreffen unter anderem und vornehmlich die Mus-
Kap. 28). Wir besprechen hier die Störungen im Glykogen- kulatur. Betroffen sind entweder der Glykogenmetabolismus
stoffwechsel und im Fettstoffwechsel. oder die Glykolyse. Neurologisch ist den meisten gemeinsam,
dass bei Belastung Myalgien, Krämpfe und Myoglobulinurien
3Allgemeine Symptome. Im Vordergrund steht bei diesen auftreten. Bei manchen sind die Beschwerden aber auch in
Krankheiten die belastungsabhängige Muskelschwäche. Sie Ruhe vorhanden. Systemisch treten Kardiomyopathien, Hepa-
entsteht, wenn die Energiespeicher aufgebraucht sind. Bei da- topathie und, selten, auch ZNS-Veränderungen hinzu. Die
rüber hinausgehender Belastung ist eine Rhabdomyolyse mög- meisten Krankheiten treten schon im Kindesalber auf. Bespro-
lich. Bei länger dauerndem Krankheitsverlauf entstehen auch chen werden hier nur, weil klinisch auch in der Erwachsenen-
permanente Lähmungen und Atrophien. neurologie wichtig, der Phosphorylasemangel (McArdle-Syn-
drom) und der Saure-Maltase-Mangel (M. Pompe).
3Allgemeines zur Diagnostik. Laborwerte: Die CK ist be-
lastungsabhängig erhöht. Laktat kann bei mitochondrialen Phosphorylasemangel (McArdle Syndrom)
Störungen erhöht sein. Der Laktat-Ischämie-Test zeigt bei Stö- 3Epidemiologie und Genetik. Dies ist die häufigste meta-
rungen des Glykogenmetabolismus einen fehlenden Laktatan- bolische Muskelkrankheit, die mit unterschiedlichem Erbmo-
stieg. Das EMG ist in der Regel myopathisch, kann aber auch dus zu einem Mangel an Muskelphosphorylase führt. Andere

Exkurs
Grundlagen des Muskelstoffwechsels
Der zentrale Energielieferant in der Muskulatur ist die aus baut, und hierbei entsteht wiederum ATP. Unter anaeroben
dem Muskelglykogenspeicher stammende Glukose. Durch Bedingungen, d.h. bei starker Muskelarbeit, wird Pyruvat
Glykolyse entsteht energiereiches ATP und Pyruvat (beson- zu Laktat, ohne weitere Energiegewinnung, abgebaut.
ders in den phasischen Typ IIb-Fasern). Muskeln können auch Das Laktat kann später unter aeroben Bedingungen in den
aus Fettsäuren ihre Energie beziehen, vornehmlich in den Mitochondrien erneut zur Energiegewinnung herangezogen
Typ I-Fasern. Dies gilt für den Ruhezustand als auch für Dau- werden.
erbelastungen (mitochondriale Oxidation der Fettsäuren). Näheres zu den Störungen der mitochondrialen Atmungs-
Pyruvat wird unter aeroben Bedingungen bei ausrei- kette findet sich im Kapitel Stoffwechselkrankheiten
chender Sauerstoffversorgung zu CO2 und Wasser abge- (Kap. 28).
744 Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

Glykogenspeicherkrankheiten sind die klinisch dem McArdle 3Diagnostik. Im EMG myopathisch mit pseudomyotonen
sehr ähnliche Phosphofruktokinasemangel und der saure Mal- Entladungen. Der fettige Umbau der Muskulatur kann im
tasemangel, der autosomal-rezessiv vererbt wird und häufig MRT gut sichtbar gemacht werden, histologisch lysosomale
schon im Kindesalter auftritt (floppy infant). Glykogenspeicherung. Biochemisch kann die Enzymaktivität
in Fibroblasten gemessen werden. Mutationen in den betrof-
3Symptome. Belastungsabhängige Muskelschmerzen und fenen Genen können nachgewiesen werden.
-schwäche, die schon im Jugendalter beginnen. Die Symptome
können in Ruhe rasch reversibel sein und manche Patienten 3Therapie. Der Morbus Pompe ist kausal behandelbar.
können, nach einer initialen Schwäche, bei gleich bleibender Das fehlende Enzym kann rekombinant hergestellt und intra-
leichter motorischer Belastung über längere Zeit ohne zu- venös gegeben werden. Die Behandlung sollte in speziellen
nehmende Schwäche aktiv sein. Allerdings gibt es bei länger Muskelzentren durchgeführt werden. Daneben sollte bei weit
dauernder massiver Belastung Myoglobinurien. Im höheren fortgeschrittenen Fällen eine symptomatische und übende
Lebensalter könne bleibende Paresen vorkommen. Therapie sowie die Vermeidung von respiratorischen Kompli-
kationen angewandt werden.
3Diagnostik. Muskelbiopsie: Vermehrung von glykogen-
haltigen Vakuolen in der PAS-Färbung. Histochemisch feh-
lende Phosporelase. Molekulargenetische Diagnostik (R50X- 34.5.2 Metabolische Myopathien mit Fettstoff-
Mutationen). Pathologischer Laktat-Ischämie-Test. wechselstörung

3Therapie. Außer einem milden Übungsprogramm mit Carnitinmangel


aerober Belastung keine kausale Therapie. Von diesen besprechen wir nur den muskulären Carnitin-
mangel, da er therapeutisch mit fettarmer Diät und oraler L-
Saure-Maltase-Mangel (M. Pompe) Carnitin-Substitution behandelt werden kann. Der Carnitin-
3Epidemiologie und Genetik. Diese autosomal-rezessiv mangel ist autosomal-rezessiv erblich, kann in Kindheit oder
vererbte lysosomale Speicherkrankheit führt wegen der gestör- Jugendalter auftreten und zeigt häufig eine kardiale Mitbetei-
ten Glykogenolyse zu einer erhöhten Konzentration von Gly- ligung.
kogen in Muskel, Leber und Herz (infantile Form). Neben der Carnitin wird in Leber und Niere synthetisiert und durch
rasch zum Tode führenden infantilen Form sind die juvenile einen spezifischen Transporter in den Muskel aufgenommen.
und adulte Variante von praktischer Bedeutung. Genetische Defekte dieses Transporters führen zur Senkung
34 3Symptome. Die Patienten zeigen eine Muskelschwäche
der intramuskulären Carnitinkonzentration. Daneben gibt es
auch symptomatische Carnitinmangelzustände bei Nieren-
vom Gliedergürteltyp. Die Atemmuskulatur einschließlich und Leberkrankheiten, Kachexie und Aminosäurestoffwechsel-
Zwerchfell ist häufig mitbetroffen. Herz und Leber sind nur störungen.
selten betroffen.

Facharzt
Weitere, seltene Lipidmyopathien
Störungen des mitochondrialen Fettsäuretransportes Ähnlich sind die Symptome und Auslöser bei der Störung
(Carnitin-Palmitoyl-Transferasen, CPT 2). Dieser Defekt ist die der Enzyme der mitochondrialen Fettsäureoxidation (very
häufigste Lipidmyopathie und kommt neben einer letalen long chain Acyl-CoA-Defizienz). Auch weitere enzymatische
neonatalen Form auch als myopathische Form mit Rhabdo- Schritte können betroffen sein. Einzelheiten hierzu finden sich
myolyse, Myalgie und Myoglobulinämie bis zum Nierenver- in den Lehrbüchern der Muskelkrankheiten und der Kinder-
sagen vor. Ausgelöst werden die Attacken durch körperliche neurologie.
Anstrengung, Fasten oder auch toxisch medikamentös.

Exkurs
Laktat-Ischämie Test
Der Laktat-Ischämie-Test wird wie folgt durchgeführt: Befunde. Bei Gesunden kommt es zu einer Erhöhung des
4 Mit einer Blutdruckmanschette wird eine Ischämie am Laktats und Amoniaks unter aneroben Arbeitsbedingungen
Unterarm erzeugt. um etwa den Faktor 3–5. Wenn der Glukosestoffwechsel ge-
4 Unter Ischämie-Bedingungen innerviert der Patient stört ist, kommt es nicht zum Laktatanstieg, während das
rhythmisch die Unterarmmuskulatur. Amoniak ansteigt.
4 Aus der Ellenbeuge werden vor- und während der ischä- Ein schon in Ruhe erhöhter Laktatspiegel findet sich bei
mischen Muskelarbeit Blutabnahme zur Laktat und Amoni- mitochondrialen Myopathien.
akbestimmung entnommen.
34.7 · Toxische Myopathien
745 34
34.6 Endokrine Myopathien

Manche Myopathien sind mit endokrinen Krankheiten assozi-


iert. Pathophysiologisch sind veränderte Elektrolytkonzentra-
tionen oder metabolische Störungen durch die Endokrino-
pathie für die Myopathie verantwortlich.

Myopathie bei Hypothyreose


Die Myopathie bei unbehandelter Hypothyreose ist durch
einen verminderten Proteinmetabolismus gekennzeichnet und
führt zur Abnahme der Kontraktionsfähigkeit der Muskelfa-
sern. Klinisch fallen die Muskeleigenreflexe aus, die Muskeln
sind proximal schwach, ohne atrophisch zu sein.
Elektromyographisch findet man meist einen normalen
Befund (Ausnahme: ausgefallener oder verzögerter H-Reflex).
Auch die Muskelbiopsie hilft in der Regel nicht weiter. Recht- . Abb. 34.4. Koronares Computertomogramm mit Schichtfüh-
zeitig erkannt, ist die Myopathie bei Hypothyreose voll rück- rung durch die hintere Orbita bei einem Patienten mit endokriner
bildungsfähig. Die CK ist praktisch immer erhöht. Orbitopathie. Alle Augenmuskeln sind massiv verdickt

Myopathie bei Hyperthyreose


Auch bei der Hyperthyreose sind die Muskeln bei etwa 2/3 der treten. Leichtere Formen werden manchmal übersehen, was die
Patienten betroffen. Hier spielt der Hypermetabolismus mit Behandlung verzögert.
Steigerung der mitochondrialen Aktivität die pathogenetische Neben der Therapie der Hyperthyreose und der Gabe von
Rolle. Die Muskelproteine werden abgebaut, die Kontraktion Steroiden wird manchmal die Bestrahlung der Orbita notwen-
der Muskeln erfolgt schneller, aber nicht kräftiger. dig. Bei lange bestehender, ausgeprägter endokriner Ophthal-
Klinisch kann sich die Myopathie an der Extremitäten- mopathie kann die Rückbildung auch einmal ausbleiben.
muskulatur (Gliedergürtelverteilung) und an der Augenmus-
kulatur bemerkbar machen. An den Extremitäten ist sie durch Andere endokrine Myopathien
generalisierte Muskelschwäche gekennzeichnet. Meist liegt Auch beim
eine deutliche Muskelatrophie vor. Man ist manchmal über- 4 Cushing-Syndrom,
rascht, wie gut die Kraft in den atrophischen Muskeln noch ist. 4 dem Morbus Addison,
Auch die bulbäre Muskulatur kann einbezogen werden. Diag- 4 der Akromegalie und bei
nostisch sind das EMG und die Untersuchung der Muskel- 4 Störungen im Parathormonstoffwechsel
enzyme wenig hilfreich. Auch die Muskelbiopsie führt in der kann eine Myopathie der Extremitäten auftreten. Allen ist ge-
Regel nicht weiter. meinsam, dass EMG und Muskelbiopsie keine kausale Klärung
Die Serum-Kreatin-Kinase ist nicht erhöht. Auch diese bringen. Stets ist die Behandlung der Grundkrankheit ent-
Myopathie ist bei Behandlung der Grundkrankheit voll rever- scheidend für die Rückbildungsfähigkeit der Myopathie.
sibel. Die thyreotoxische, episodische Lähmung ähnelt der
normokaliämischen Lähmung.
34.7 Toxische Myopathien
Endokrine Orbitopathie bei Hyperthyreose
Hier führt die massive Hypertrophie der Augenmuskeln zur Eine Vielfalt toxischer Substanzen, darunter auch Medika-
Protrusio bulbi mit Augenmuskelparesen. Im Vollbild ist mente, können Myopathien auslösen. Die akute Rhabdomyo-
dieses Syndrom nicht zu übersehen. Charakteristisch ist ein lyse kann eine akute, toxische Myopathie komplizieren. In
Exophthalmus mit konjunktivaler Injektion, Chemosis der einigen Fällen kann durch den Muskelzerfall die Serum-CK
Bindehäute und periorbitaler Schwellung, der ab 2 mm bereits auf Werte über 10.000 U/l ansteigen. Hierbei muss wegen der
gut im CT zu erkennen ist. Man vermutet eine immunolo- Gefahr eines Nierenversagens (so genannte Crush-Niere) auf
gische Ursache, d.h. Antikörper gegen retroorbitales Gewebe. ausreichende Volumengabe und gegebenenfalls eine Alkalisie-
90% der Patienten haben eine Immunthyreopathie. Oft finden rung des Harns geachtet werden. Bei ausgedehntem Muskel-
sich TSH-Rezeptorantikörper (TRAK). Histologisch findet zerfall kann es auch zu lebensbedrohlichen Hyperkaliämien
sich das Bild einer Myositis mit dichter, lymphozytärer Infilt- kommen.
ration der Muskeln. Chronische Myopathien kommen bei Alkoholabusus und
Diagnostisch findet man im CT oder MRT eine charakte- Einnahme verschiedener Medikamente (Chloroquin, Bezafib-
ristische Verdickung der Augenmuskeln (. Abb. 34.4). Zur Dar- rat und Glukokortikoide) vor. Selten einmal können myotone
stellung der Augenheber und -senker sind koronare Schichten Syndrome bei Einnahme von Propranolol oder Partusisten
erforderlich. Der Visus kann durch Kompression des N. opticus entstehen. Auf die D-Penicillam-ininduzierte Myasthenie wur-
abnehmen. Die endokrine Ophthalmopathie findet man prak- de in 7 Kap. 30 hingewiesen. Von Bedeutung sind heute vor
tisch immer beidseitig, sie kann aber auch asymmetrisch auf- allem die Steroidmyopathie, die bei lang dauernder Kortison-
746 Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

behandlung auftreten kann und die Myopathien, die unter der ten werden bis dahin asymptomatische Personen von diesem
Behandlung mit Statinen (Statinmyopathie) vorkommen. Syndrom betroffen. Auch frühere, komplikationslose Narko-
sen schließen für die Zukunft bei gefährdeten Patienten eine
maligne Hyperthermie nicht aus.
34.7.1 Steroidmyopathie Die Häufigkeit liegt bei etwa 1: 20.000 Narkosen bei Kin-
dern und 1: 100.000 Narkosen bei Erwachsenen. Oft ist eine
Akute Steroidmyopathien können bei Hochdosis-Steroidthe- positive Familienanamnese zu erfragen. Volatile Anästhetika
rapie vorkommen. Insgesamt sind sie selten. Im Zusammen- (Halothan und andere halogenierte Inhalationsanästhetika)
hang mit zusätzlicher Immunsuppression und Dauerbeat- und depolarisierende Muskelrelaxanzien (z.B. Succinylcholin)
mung mit muskelrelaxierenden Substanzen auf Intensivstatio- können die maligne Hyperthermie auslösen.
nen kann auch die Critical Illness-Myopathie hierzu gezählt
werden. 3Symptome. Die maligne Hyperthermie beginnt mit
Bei den chronischen Steroidmyopathien ist eine lange an- Tachykardie, Blutdruckabfall, Azidose, Anstieg der Körper-
dauernde Steroidbehandlung (>10 mg Prednisolonäquivalent/ temperatur auf Werte über 41°C mit Muskelzittern und Mus-
Tag) Voraussetzung für die Diagnose. Besonders betroffen sind kelsteifigkeit. Kompliziert werden kann die maligne Hyper-
die proximalen Bein- und Hüftmuskeln. Die Myopathie betrifft thermie durch Rhabdomyolyse, Nierenversagen und Ver-
überwiegend die Typ II-Fasern. Die CK ist fast immer normal. brauchskoagulopathie.

3Therapie. Neben der Vermeidung von auslösenden Medi-


34.7.2 Statin-Myopathie kamenten bei gefährdeten Personen ist heute die Behandlung
mit
Sie tritt unter der Behandlung mit HMG-COA-Reduktase- 4 Dantrolene i. v. (z.B. Dantrolen® 2–3 mg pro kg KG) in der
Inhibitoren (Statine) vor allem bei älteren Patienten mit Nie- Lage, die früher hohe Mortalität deutlich zu senken.
renfunktionsstörung oder Hypothyreose auf. Das Risiko ist 4 Daneben wird im manifesten Hyperthermiesyndrom eine
insgesamt gering. Dosisabhängig rechnet man mit 0,02–0,5% externe Kühlung vorgenommen (Vorsicht mit der medikamen-
Inzidenz. Muskelkrämpfe, Druckempfindlichkeit und CK-An- tösen Muskelrelaxation zur Vermeidung von Muskelzittern we-
stieg kündigen die Komplikation an. Eine lebensbedrohliche gen der möglichen Verstärkung der malignen Hyperthermie).
Rhabdomyolyse kann schnell folgen. Gefährlich ist die Kombi-
nation aus Statinbehandlung mit Hemmern der Cytochrom
34.7.5 Malignes Neuroleptikasyndrom
34 P3A4-Oxydase (u.a. Subtanzen wie HIV-Proteaseinhibitoren,
Erythromycin, Ciclosporin, Diltiazem, aber auch simpler
Grapefruitsaft). Das maligne Neuroleptikasyndrom ist in der Symptomatik der
Es ist empfehlenswert, vor einer Statinbehandlung die CK malignen Hyperthermie sehr ähnlich, hat aber eine völlig ande-
zu bestimmen. re Auslösung: Es kommt unter Neuroleptikagabe, meist zu Be-
ginn, seltener aber unter Dauertherapie zur akuten Blockade von
zentralen Dopaminrezeptoren (D2) mit Fieber, Rigor, Akinose,
34.7.3 Alkoholinduzierte Myopathie Tachykardie, Hypertonie und katatonen Symptomen. Alle Arten
von Neuroleptika, auch trizyklische Antidepressiva, sogar Lithi-
Zu unterscheiden sind die akute alkoholtoxische Myopathie um, können mit den Syndromen verbunden sein. Entsprechend
(Männer im mittleren Lebensalter, nach Alkoholexzessen mit kann es auch bei akutem L-Dopa-Entzug ein ähnliches Syndrom
Myalgie, akuten Paresen und Schwellung der Unterschenkel- auftreten (akinetische Krise). Auch das akute Serotonin-Man-
muskeln, CK-Erhöhung und Rhabdomyolyse) und die chro- gel-Syndrom und die febrile Katatonie haben ähnliche Symp-
nische Alkoholmyopathie. Diese findet sich bei fast der Hälfte tome. Therapeutisch gibt man neben Dantrolen auch Dopa-
aller schweren Alkoholiker. Proximale Muskeln sind besonders minagonisten wie Amantadin, L-Dopa oder Lisurid.
betroffen, Atrophien sind häufig und eine Vergesellschaftung
mit der alkoholischen Neuropathie kommt vor.
34.8 Myasthenia gravis pseudoparalytica
34.7.4 Maligne Hyperthermie 3Definition. Als myasthenisches Syndrom bezeichnen wir
eine abnorme Ermüdbarkeit der Willkürmuskulatur, die sich
3Epidemiologie und Ätiologie. Myotoniepatienten, aber unter muskulärer Belastung einstellt und sich – zumindest im
auch andere Patienten mit Muskelerkrankungen, besonders Anfangsstadium der Krankheit – beim Ruhen der betroffenen
der Central-core-Myopathie, sind durch eine maligne Hyper- Muskeln wieder zurückbildet. Die Schwäche ist nicht schmerz-
thermie gefährdet. Die maligne Hyperthermie kann durch haft. Klinisch sind vor allem die äußeren Augenmuskeln, die
verschiedene, bei Narkosen verwendete Substanzen ausgelöst Sprech- und Schluckmuskulatur und die rumpfnahen Extremi-
werden. Die Neigung hierzu ist autosomal-dominant vererbt tätenmuskulatur betroffen. Wir unterscheiden die autoimmun-
(Chromosom 19 (q13.1.) und 17(11.2.–24)) und wird auf eine bedingte Myasthenie (Myasthenia gravis pseudoparalytica) von
Mutation des Ryanodin-Rezeptors zurückgeführt. Nicht sel- verschiedenen symptomatischen Formen.
34.8 · Myasthenia gravis pseudoparalytica
747 34
Facharzt
Einteilung der Myasthenien (Myasthenia gravis, MG)
Aufgrund der Immunpathologie und der genetischen Muster nicht. Acetylcholinrezeptor-Antikörper sind praktisch immer
lassen sich bei der Myasthenie mehrere Gruppen unterteilen. vorhanden, daneben auch eine Reihe anderer Antikörper.
4 Myasthenie mit Frühmanifestierung, early onset 4 Okuläre Myasthenie: Auch bei ihr findet man oft keine
(EOMG): Erkrankungsalter unter 50 Jahren, deutliche HLA Thymusveränderungen. Acetylcholin-Antikörper in etwa der
Assoziation (B8,DR3). Anticholinesterase-Antikörper finden Hälfte bis 2/3 der Fälle, keine sichere HLA Assoziation.
sich bei über 80% der Fälle. Häufig Thymushyperplasie. 4 Sero-negative Myasthenie: Diese Patienten haben meist
4 Altersmyasthenie, late onset (LOMG): Manifestation keine Antikörper, man findet auch keine Thymusverände-
nach dem 50. Lebensjahr, seltener HLA Assoziation (HLA B7 rungen. Bei manchen dieser Patienten können doch Antikör-
und DA2 wurden beschrieben). Neben Anticholinesterase- per gegen eine muskelspezifische Kinase gefunden werden,
Antikörper finden sich auch,vor allen Dingen bei älteren die normalerweise die Produktion von Acetylcholinrezeptoren
Patienten, Anti-Titin und Anti-RyR-Antikörper. stimuliert. Diese Untergruppe soll einen okulopharengealen
4 Thymusassoziierte Myasthenie: Diese ist meist mit Schwerpunkt haben.
einem Thymom verbunden, eine HLA-Assoziation findet sich

3Epidemiologie und Ätiologie. Frauen sind häufiger be- breitet sie sich in die Gesichts- und pharyngeale Muskulatur
troffen als Männer (3:2). Die Prävalenz liegt bei 4–7:100.000, und nach distal aus.
die Inzidenz bei 0,2–0,5:100.000 Einwohner. Das Erkrankungs-
alter ist bei Frauen mit dem 2.-3. Lebensjahrzehnt deutlich
niedriger als bei Männern, die meist nach dem 50. Lebensjahr 34.8.1 Okuläre Myasthenie
erkranken. Kinder und Jugendliche können betroffen sein.
Man vermutet eine multifaktorielle Ätiologie: Die Assozia- 3Symptome. Im Initialstadium stellt sich oft zunächst eine
tion von generalisierter MG mit speziellen HLA-Typen (HLA einseitige oder doppelseitige Ptose ein, die im Laufe des Tages
B8 und DR3) lässt eine genetische Determination annehmen. so zunehmen kann, dass der Patient den Kopf weit zurück-
Bei fast 80% der Myastheniepatienten lassen sich Verände- neigen muss, um durch die enge Lidspalte zu blicken. Später
rungen im Thymus nachweisen. Das Spektrum reicht von Thy- sinkt das Oberlid vollständig herunter und muss mit einem
mushyperplasie bis zu Thymomen und Thymuskarzinomen. Finger emporgehoben werden. Weiter treten, besonders beim
Vermutlich wird im Thymus die initiale Immunreaktion gegen Lesen, Doppelbilder auf, die in Ruhe zunächst ganz, später nur
den Acetylcholinrezeptor vermittelt. 5% der Patienten haben teilweise wieder verschwinden. Vor allem sind die Bulbus-
eine Hyperthyreose. Auch ist der Lupus erythematodes bei heber betroffen. Bei 20% bleibt die Krankheit auf die äußeren
Kranken mit Myasthenie überzufällig häufig. Augenmuskeln und Lidheber beschränkt. Diese Patienten
haben eine gute Prognose.
3Symptome und Verlauf. Bei der Hälfte der Patienten be-
ginnt die MG mit okulären Symptomen, andere Patienten ent- 3Diagnostik. Beim Simpson-Test bittet man die Patienten
wickeln zunächst eine leichte, generalisierte Muskelschwäche nach oben zu schauen, und schon nach kurzer Zeit sinken die
in proximalen Muskeln. Die MG bleibt aber nur bei wenigen Bulbi wieder ab. Bei längerem Bestehen der Krankheit werden
Patienten, die mit okulärer Myasthenie begonnen haben, auf immer mehr Augenmuskeln befallen, bis der Bulbus ein- oder
die Augen begrenzt. Fast immer ist eine Tendenz zur Genera- doppelseitig nur noch minimal beweglich ist.
lisierung zu erkennen. Die Schwäche in den Gliedmaßen be- Jede isolierte Ptose, die nicht von Geburt an besteht, und
ginnt häufig proximal im Schulter- und Beckengürtel. Von dort jede Lähmung äußerer Augenmuskeln ist dringend auf Myas-

Exkurs
Pathophysiologie der Myasthenie
Vor der präsynaptischen Membran liegen kleine Bläschen, motorischen Endplatte wird ACh durch das Ferment Cholines-
die minimale Mengen Acetylcholin (ACh) enthalten. Schon terase fortgesetzt wieder abgebaut.
in der Ruhe werden fortgesetzt kleinste Mengen von ACh Die abnorme Ermüdbarkeit der myasthenischen Muskeln
frei, die sich elektrophysiologisch als »Miniatur-Endplatten- beruht auf einer pathologischen Veränderung der neuromus-
potentiale« nachweisen lassen, aber nicht zu einer fortgelei- kulären Überleitung, die zur Folge hat, dass ACh an der moto-
teten Erregung und Kontraktion führen. Trifft ein efferenter rischen Endplatte nicht mehr in ausreichendem Maße eine
Impuls am Ende der Nervenfasern ein, treten größere Men- Depolarisation auslösen kann. Ursache ist eine Blockierung der
gen von ACh aus, reagieren chemisch mit der postsynapti- postsynaptischen Membran der motorischen Endplatte durch
schen Membran und verändern deren Permeabilität für K+, Antikörper gegen den Acetylcholinrezeptor. Experimentell
Na+ und Ca2+, so dass eine Depolarisation möglich wird, die führt die Übertragung solcher Antikörper von einer Spezies zur
sich als Erregungswelle über den Muskel ausbreitet. An der anderen zu Myasthenie beim Empfängertier (passiver Transfer).
748 Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

thenie verdächtig und sollte mit dem Edrophonium (Tensilon)- Remissionen. Interkurrente Krankheiten und Medikamente
Test möglichst frühzeitig diagnostisch geklärt werden. verschlimmern die Krankheit häufig.

3Verlauf. Die Krankheitsdauer ist sehr unterschiedlich: Es


34.8.2 Generalisierte Myasthenie gab foudroyante Verläufe, die in wenigen Monaten zum Tode
führten. Heute bleiben rund 5% der Patienten von der Thera-
3Symptome. Dies ist die häufigste und für die MG ty- pie unbeeinflusst oder verschlechtern sich trotz der Behand-
pische Form. lung. Für die Mehrzahl ist aber heute, unter zweckmäßiger
4 Wenn die Krankheit andere kraniale Muskeln als die Au- Behandlung, die Lebenserwartung nicht verkürzt. Durch die
genmuskeln ergreift, erschlaffen die Gesichtszüge zur Facies intensivmedizinische Behandlung und die gezielte Immunsup-
myopathica: Der Mundschluss wirkt kraftlos, die Patienten pression konnte die Letalität von Myastheniepatienten in der
können nicht mehr pfeifen oder die Backen aufblasen. Kauen myasthenen Krise (s.u.) auf weniger als 5% gesenkt werden.
und Schlucken verschlechtern sich im Laufe jeder größeren Die meisten Patienten bleiben durch die Kombinationsthera-
Mahlzeit, so dass die Speisen im Munde liegen bleiben und pie arbeitsfähig. Die Prognose verschlechtert sich mit dem
Flüssigkeit durch die Nase regurgitiert wird. Erkrankungsalter: Patienten, die nach dem 60. Lebensjahr an
4 In schweren Fällen kann der Kranke die Masseteren nicht Myasthenie erkranken, sterben trotz medikamentöser Be-
mehr tonisch anspannen, um den Mund geschlossen zu hal- handlung vorzeitig an Krisen oder Komplikationen.
ten, und muss den Unterkiefer mit der Hand stützen.
4 Die Stimme wird durch mangelhafte Abdichtung des 3Diagnostik. In der Mehrzahl der Fälle lässt sich die Diag-
Nasen-Rachen-Raums näselnd, das Sprechen durch Erschwe- nose mit einfachen Mitteln bei der körperlichen Untersuchung
rung der Artikulation kloßig und unbeholfen. Nicht selten stellen. Man fordert den Patienten auf, eine bestimmte Bewe-
tritt die Sprechstörung erst im Laufe eines Gesprächs auf. gung viele Male zu wiederholen, und stellt dabei das charakte-
4 Manchmal kann der Kranke infolge Schwäche der Hals- ristische Nachlassen der Muskelkraft bis zur völligen Lähmung
und Nackenmuskeln den Kopf nicht gerade halten. Die Ent- fest:
wicklung von der okulären zur faziopharyngealen Form ver- 4 50-mal Augen öffnen und schließen lässt eine Ptose er-
schlechtert die Prognose. scheinen.
4 Die Krankheit breitet sich dann weiter auf den Rumpf und 4 Beim lauten Lesen wird die Stimme innerhalb weniger
die Extremitäten aus, wo die Schwäche zuerst in proximalen, Minuten nasal, und die Artikulation lässt nach.
dann in distalen Muskeln auftritt. Schon nach wenigen Schrit- 4 Wiederholtes Anheben des Kopfes im Liegen führt zu
34 ten wird der Gang in der Ebene watschelnd, ist das Treppen-
steigen unmöglich, und die Patienten können selbst beim Ge-
deutlich erkennbarer Erschöpfung der Sternokleidomas-
toideusmuskeln.
hen zusammensinken. 4 Wiederholtes Drücken des Dynamometers oder des Bal-
4 Tätigkeiten, die längeres Heben der Arme erfordern, wie lons am Blutdruckapparat gestattet sogar eine quantitative Er-
Kämmen, Rasieren oder bestimmte Haushaltsarbeiten, können fassung der myasthenischen Ermüdung.
nur noch mit Unterbrechungen ausgeführt werden. 4 Labor: Am wichtigsten ist der Nachweis von Acetylcholin-
4 Später leiden auch feine Verrichtungen der Hände, weil die rezeptor-Autoantikörper. Bei etwa der Hälfte der Patienten mit
tonische Innervation der Hand nicht mehr ausreichend lange okulärer Myasthenie und bei fast 90% der Patienten mit gene-
vorhanden ist. raliserter Myasthenie sind Antikörper gegen Acetylcholin-
4 Sobald die Interkostalmuskulatur betroffen ist, besteht die rezeptoren positiv. Auch Antikörper gegen quergestreifte
Gefahr einer Atemlähmung (regelmäßige spirometrische Kon- Muskulatur können positiv sein. Bei Patienten im mittleren
trollen der Vitalkapazität!). Lebensalter kommen Titin-Antikörper vor, die ebenfalls auf
4 Im heute kaum noch beobachteten Endstadium hat sich ein Thymom hinweisen können.
eine andauernde, nicht mehr rückbildungsfähige Schwäche auf
die gesamte Willkürmuskulatur ausgedehnt, so dass der Patient Bei so genannten seronegativen Patienten, bei denen keine
sich nicht mehr aus dem Liegen aufrichten und seine Arme nur ACh-Ak nachgewiesen werden, können gelegentlich Antikör-
noch ganz kraftlos und in geringen Exkursionen bewegen per gegen muskelspezifische Rezeptor-Thyrosinkinase (MuSK)
kann. Die Atmung wird selbst für diese Vita minima insuffi- gefunden werden. MuSK ist zusammen mit Agrin an der Ag-
zient: Der Tod tritt ganz plötzlich, oft in der Nacht, durch gregation von Acetylcholin am Rezeptor beteiligt. Der Nach-
Atemlähmung ein. Dieses Syndrom sieht man heute nur noch weis anderer Antikörper ist meist nicht kausal zu interpretie-
sehr selten. ren, sondern weist eher auf die grundsätzliche Bereitschaft
dieser Patienten hin, Autoantikörper zu entwickeln. Eine be-
Sehr bemerkenswert ist die unsystematische Verteilung der sondere Bedeutung kommt allerdings den Titin-Antikörpern
myasthenischen Schwäche: Unabhängig von der Nervenver- zu (s. Exkurs).
sorgung kann von zwei benachbarten Muskeln der eine schwer, 4 Radiologie und Nuklearmedizin: Bei etwa 10% der My-
der andere kaum oder gar nicht betroffen sein. astheniepatienten liegt ein Tumor der Thymusdrüse vor, der
Die progrediente Ausbreitung auf immer weitere Muskel- im Thorax-CT nachweisbar ist. Diese Patienten haben häufig
gruppen ist das eine Charakteristikum des Verlaufs. Das an- Antikörper gegen quergestreifte Muskeln. Thymome sind in
dere ist ein Wechsel von Verschlechterungen und partiellen einem Drittel der Fälle maligne und müssen unverzüglich
34.8 · Myasthenia gravis pseudoparalytica
749 34
Exkurs
Titin-Antikörper bei Myasthenie
Nur bei etwa 80% der Patienten mit generalisierter Myas- die Zentrierung der kontraktilen Filamente in der Sarkomer-
thenia gravis (MG) gelingt serologisch der Nachweis von mitte verantwortlich und bewirkt so die axiale Stabilität wäh-
Antikörpern gegen den Acetylcholinrezeptor (AchR). Mit rend Kontraktion und Relaxation. Die Titin-Kinase aktiviert
unterschiedlicher Prävalenz lassen sich bei seronegativen zudem bei Muskelkontraktionen den Muskeltranskriptions-
Patienten Antikörper gegen Muskel-spezifische Kinase faktor MuRF2, welcher die Regeneration der Muskelfaser un-
(αMuSK) nachweisen, die Auswirkungen auf die neuromus- terstützt.
kuläre Transmission haben. Patienten mit αMuSK-positiver 4 Der Nachweis von Titin-Antikörpern bei Myasthenikern
MG unterscheiden sich von Patienten mit αAchR-positiver unter 60 Jahren spricht für das Vorliege eines Thymoms, da bei
MG durch eine mehr bulbäre Symptomatik und eine normale 95% der Myastheniker mit einem Thymom Titin-AK nachweis-
Thymushistologie. bar sind. Titin-AK können aber auch bei männlichen, älteren
4 Bei manchen Patienten mit Myasthenie werden Titin- (>60 Jahre) Patienten mit Spätmanifestation der Myasthenie
Antikörper in Kombination mit Achetylcholinrezeptor-AK, nachgewiesen werden, die keine Thymusanomalie haben.
manchmal auch isoliert, gefunden. Diese AK richten sich Dies ist ein prognostisch ungünstiges Zeichen und mit einem
gegen immunogene Regionen des Titin-Moleküls, einem aggressiveren Krankheitsverlauf assoziiert, weil die Antikörper
großen, einkettigen Polypeptid, dass entlang des Sarkomers Titin in seiner Funktion und auch die Titin-Kinase-abhängige
der Muskulatur zieht und jeweils an den beiden gegenüber- Produktion regeneratorischer Muskelproteine beeinträchtigt
liegenden Z-Scheiben des Sarkomers verankert ist. Titin ist sind. Diese Patienten haben häufig histologisch eine Myopa-
aufgrund seiner elastischen Eigenschaften für die Rück- thie mit abnorm geformten und diffus verteilten kleinen Mus-
stellung des kontraktilen Apparates nach Dehnung und für kelfasern.

operativ entfernt werden. Bei allen Myastheniepatienten ist Thymuspersistenz zu finden. Eine exakte obere Altersgrenze
daher eine wiederholte Untersuchung des vorderen Medias- lässt sich dafür nicht angeben. Nachweis durch Thorax-CT
tinums mit Hilfe der CT oder MRT erforderlich. Bei etwa (. Abb. 34.5).
80–90% der Myastheniekranken findet man, ohne dass der 4 In den letzten Jahren hat die Somatostatin-Rezeptor-
Thymus nennenswert vergrößert sein muss, Lymphfollikel Szintigraphie (Octreotid-SPECT) für die Darstellung primä-
und Keimzentren im Thymusmark. In diesen Keimzentren rer, rezidivierender und ektoper Thymome Bedeutung bekom-
findet man alle Elemente, die für die Produktion von Antikör- men. Reine Thymushyperplasien werden allerdings auch mar-
pern notwendig sind. Häufig ist auch im mittleren Lebensalter kiert.

. Abb. 34.5. Thymom. CT des oberen Thorax: Weichteildichte, retrosternal gelegene Tumorformation im vorderen Mediastinum (Pfeile)
750 Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

4 EMG:
5 Das Stimulations-EMG ist ein weiteres Hilfsmittel bei der
Diagnose. Reizt man einen motorischen Nerven überschwellig
mit Frequenzen zwischen 2 Hz und 10 Hz, so kommt es im ab-
hängigen Muskel zu Muskelaktionspotentialen (MAP), die in
ihrer Amplitude kaum abnehmen, ferner in der mechanischen
Antwort zu einer gleichbleibenden Kontraktion. Bei Frequenzen
über 10 Hz kann im gesunden Muskel eine geringe Abnahme
der Amplitude für beide Elemente gefunden werden. Bei der
Myasthenie findet man bei 3/s-Reizung eine signifikante Abnah-
me der Amplitude (Dekrement; . Abb. 13.1, 7 Kap. 13.2).
5 Für die Diagnostik zieht man den Amplitudenunterschied
des ersten Muskelantwortpotentials im Vergleich zum 4. oder
5. Muskelantwortpotential heran. Bei höheren Reizfrequenzen a
kommt es ebenfalls zur Amplitudenabnahme, die sich dann
jedoch auf ein bestimmtes Niveau einstellt (vgl. die Stimula-
tionsmyographie beim paraneoplastischen myasthenischen
Syndrom Lambert-Eaton, 7 Kap. 13.2).
5 Wir untersuchen regelmäßig den N. accessorius und leiten
am M. trapezius ab. Die Untersuchung ist bei diesem rein mo-
torischen Nerven weitaus weniger unangenehm und schmerz-
haft als die überschwellige Serienreizung distaler gemischter
Nerven.
5 Augenmuskeln können nicht in dieser Weise stimuliert
werden, jedoch lässt sich über die Elektronystagmographie
(optokinetisch ausgelöster Nystagmus) eine gute Aussage über
belastungsabhängige Ermüdbarkeit gewinnen.
5 Nadelmyographisch kann man ein myopathisches Muster b
finden, und das maximale Aktivitätsmuster kann sich bei Dau-
. Abb. 34.6a,b. Okuläre Myasthenie mit leichter Ptose und
34 erableitung lichten.
4 »Edrophonium (Tensilon)-Test«: 10 mg Edrophonium- Schwäche des M. rectus superior auf dem linken Auge vor (a) und
hydrochlorid werden mit 10 ml NaCl verdünnt. Man injiziert nach (b) Tensilongabe. Man erkennt, dass die Ptose deutlich zurück-
gegangen ist und das linke Auge weiter nach oben gewendet werden
zunächst eine Testdosis von 2 ml der Verdünnung. Wenn der
kann
Patient dies verträgt, wird danach der Rest über eine Minute
injiziert. Immer sollte man 1–2 mg Atropin aufgezogen bereit
liegen haben (venösen Zugang nach der Injektion nicht zie- > Untersuchungen beim Verdacht auf Myasthenie:
hen!). Nebenwirkungen: Bradykardie, Schwitzen, Speichel- 4 muskuläre Belastung und Tensilontest
fluss. 4 Stimulations-EMG mit Edrophonium (Tensilon)-
Beginn der Wirkung nach etwa einer halben Minute, Test
Dauer bis maximal 10 min. Man überprüft die Wirkung kli- 4 Antikörper gegen Acetylcholinrezeptoren
nisch an stark betroffenen Muskeln (z.B. Armhalteversuch, 4 Computertomographie des Thorax
Vorlesen bei bulbärer Symptomatik, Hochschauen bei okulärer
Symptomatik; . Abb. 34.6). 3Therapie. Die konservative Behandlung der Myasthenie
Der Edrophoniumtest kann auch unter elektromyogra- ist in erster Linie immunsuppressiv: Kortikosteroide, lang-
phischer Kontrolle ausgeführt. Nach Injektion der Substanz fristige Immunsuppression und Plasmapherese oder Immun-
nehmen die vorher unter der repetitiven Stimulation vermin- adsorption gehören auch hier zum Spektrum (vergl. auch
derten Amplituden der Muskelaktionspotentiale wieder zu. . Tab. 22.5, S. 514). Die Cholinesterasehemmer stellen eine
Klinisch sichtbar reagiert die Schwäche der Augenmuskeln, symptomatische Therapie dar, die die immunsuppressive Be-
anders als in den übrigen Muskeln, oft nicht. handlung ergänzt.

Exkurs
Klassifikation der Myasthenie nach Schweregrad
4 Klasse I: Okuläre Myasthenie prägter Beteiligung oropharyngealer Muskelgruppen, manch-
4 Klasse II: Leicht bis mäßige generalisierte Myasthenie, mal auch der Atemmuskulatur.
auch mit Augenmuskelbeteiligung. 4 Klasse IV: Schwere generalisierte Myasthenie
4 Klasse II: Mäßiggradige generalisierte Myasthenie mit 4 Klasse V: Schwere Myasthenie mit Beatmungsnotwendig-
Betonung der Gliedergürtelmuskulatur und mäßig ausge- keit
34.8 · Myasthenia gravis pseudoparalytica
751 34
4 Kortikosteroide führen in etwa 80% der Fälle zur Remis- 10 mg, 60 mg und 180 mg (ret.). Die Therapie wird in mehre-
sion oder zu einer deutlichen Besserung. Wir geben sie hoch- ren Einzeldosen gegeben, die entsprechend dem Bedarf des
dosiert (80–100 mg Methylprednisolon) etwa 2 Wochen lang Patienten nach einem genauen Zeitplan über den Tag verteilt
täglich, danach langsam »ausschleichend« bis zu einer Erhal- werden. Mestinon ret. (180 mg) führt zu einem besonders
tungsdosis von 4–8 mg Methylprednisolon täglich. Zu Beginn gleichmäßigen Serumspiegel. Unter Cholinesterasehemmstof-
einer Kortikosteroidbehandlung kann sich der Zustand des fen erreicht man nur bei der Minderzahl der Patienten eine
Patienten verschlechtern, deshalb wird die Therapie nur sta- Remission. Praktisch immer ist eine immunsuppressive The-
tionär eingeleitet. rapie erforderlich. Die okuläre Myasthenie spricht oft schlecht
4 Im Anschluss an die Thymektomie (s.u.), aber auch ohne auf Cholinesterasehemmstoffe an, dagegen recht gut auf Glu-
Operation, beginnt man eine Langzeitbehandlung mit Azathi- kokortikosteroide.
oprin (z.B. Imurek®) 2–3 mg/kg KG, nicht unter 100 mg pro
Tag. Die Behandlung verlangt regelmäßige Blutbildkontrollen Oft kann man 3–6 Wochen nach Beginn der immunsuppres-
mit besonderer Berücksichtigung der Leukozytenzahl. Ziel: siven Behandlung oder Thymektomie die Cholinesterase-
weiße Blutkörperchen auf 3000–4000 senken, MCV-Anstieg hemmstoffe reduzieren. Tritt ein Rückfall ein, ist die oben be-
ist erwünscht. Die Wirkung setzt nach 4–8 Monaten ein und schriebene Behandlung, beginnend mit Kortikosteroiden, er-
hält an, solange Azathioprin eingenommen wird. Die Kombi- neut wirksam. Frauen im gebärfähigen Alter müssen eine
nation von Azathioprin und Prednisolon ist der jeweiligen strikte Kontrazeption ausführen. Eine erhöhte Infektanfällig-
Monotherapie überlegen. Alternativ zu Azathioprin stehen keit hat sich nicht nachweisen lassen.
Cyclosporin A und Metotrexat als off-label-Behandlung zur
Verfügung. Tacrolimus und Rituximab sind in der Erprobung.
4 Die Autoimmunpathogenese der Myasthenia gravis legt 34.8.3 Myasthene und cholinerge Krise
den Gedanken nahe, schwierig zu behandelnde Patienten einer
Therapie mit Plasmapherese oder Immunadsorption zu unter- Myasthene Krise
ziehen. Die Kombination der medikamentösen Immunsup- Die myasthene Krise kann zu lebensbedrohlicher Verstärkung
pression mit wiederholter Plasmapherese kann zu einer deut- der myasthenen Symptomatik mit Beteiligung der Schluck-
lichen Besserung führen. Offensichtlich werden durch den und Atemmuskulatur führen. Dass die myasthenen Krisen
Plasmaaustausch myastheniespezifische Antikörper gegen Ace- heute sehr selten geworden sind, ist vermutlich der verbesser-
tylcholinrezeptoren eliminiert. Die Indikation ist bei Patienten ten immunsuppressiven Dauerbehandlung zuzuschreiben. Die
gegeben, die auf konventionelle Behandlung, einschließlich myasthene Krise kann sich aus einer langsam fortschreitenden,
Glukokortikoide, nicht befriedigend angesprochen haben. Wei- myasthenen Generalisierung entwickeln oder akut, z.B. bei In-
tere Indikationen: akute Verschlechterung mit drohender respi- fekten, nach Narkosen oder plötzlichem Absetzen der Medika-
ratorischer Insuffizienz, vor und nach Thymektomie bei schwer mente, auftreten.
betroffenen Patienten und sehr schwere Verläufe ohne Remis- Ptose, Tachykardie und Obstipation werden häufiger bei
sion. Neben der Plasmapherese ist auch die Immunabsorption der myasthenen Krise gefunden.
eine Alternative. Hier wäre von einer Immunabsorption mit
spezifisch beschichteten Platten der größte Effekt zu erwarten. 3Therapie
4 Auch hochdosierte Immunglobuline (7 Kap. 32.6.1) kön- 4 Intubation und Beatmung, wenn Ateminsuffizienz, hohes
nen bei diesen Indikationen gegeben werden. Intravenöse Im- paCO2 oder niedrige Sauerstoffsättigung vorliegen,
munglobuline wirken rasch bei akuter Myastheniaverschlech- 4 Umsetzen der anticholinergen Medikation auf i.v.-Gabe
terung und in der myasthenen Krise. (Umrechnung: 30 mg oral = 1 mg i.v.),
4 Die Wirkung von Cholinesterasehemmstoffen beruht 4 Antibiose bei Infektion (bei Auswahl der Antibiotika auf
darauf, dass sie an Stelle des körpereigenen ACh mit dem ab- mögliche Myasthenieverstärkung achten),
bauenden Ferment reagieren (kompetitive Hemmung). Man 4 sofortige Plasmapheres, Immunadsorption oder IVIG
verordnet Pyridostigmin (z.B. Mestinon®) als Tabletten zu (Immunglobuline): Dosierung wie bei GBS, 7 Kap. 32.6.1),

Exkurs
Thymektomie
Die Empfehlung zur Thymektomie beruht auf mehreren Bei älteren Patienten kann alternativ zur Thymektomie
unkontrollierten Studien und Expertenempfehlungen. Im eine Strahlentherapie durchgeführt werden.
Allgemeinen wird bei Patienten unter 60 Jahren mit einem
Krankheitsverlauf von weniger als 3 Jahren eine Thymekto- Post-Thymektomie-Myasthenie. Selten kommt es bei Pa-
mie empfohlen. Bei Thymomen sollte wegen der Gefahr der tienten, die ohne MG aus anderen Gründen thymektomiert
Malignisierung regelhaft operiert werden, wobei der Nutzen wurden, nach der Thymektomie zu Symptomen einer MG. Die
der Operation kleiner zu sein scheint als bei Patienten, bei Pathophysiologie hierzu ist nicht verstanden. Die Therapie
denen eine Thymushyperplasie histopathologisch nachweis- erfolgt analog zur MG.
bar ist. Ohne Nachweis eines Thymoms kann heute die rein
thorakoskopische Thymektomie durchgeführt werden.
752 Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

4 Methylprednisolon (1 mg/kg KG i.v.), Beim Versuch, die Augen stark nach oben zu wenden, ver-
4 Thromboseprophylaxe und stärkt sich die Ptose auf dem linken Auge innerhalb von einer
4 Monitoring der Herz-Kreislauf-Funktion (in der myasthe- Minute erheblich. Es kommt auch eine Ptose auf dem rechten
nen Krise kann eine akute Herzinsuffizienz mit Rhythmusstö- Auge hinzu.
rungen auftreten – transthorakaler Schrittmacher). Beim maximalen Seitwärtsblick stellen sich nach kurzer Zeit
Doppelbilder ein.
Cholinerge Krise Nach Injektion von Tensilon verschwindet die Ptose auch
Die cholinerge Krise wird heute seltener beobachtet, weil die beim Aufwärtsblick innerhalb von 1 min und kehrt nach etwa
Behandlung mit Cholinesterasehemmstoffen heute nur noch 5 min wieder zurück. Die weitere Diagnostik bestätigte den
unterstützend und nicht als Therapie der ersten Wahl ange- Verdacht auf eine Myasthenie: Die Antikörper gegen Acetylcho-
wendet wird. Tritt sie dennoch ein, muss die Dosis der Hemm- linrezeptoren waren sehr stark erhöht, im EMG fand sich ein
stoffe auf der Intensivstation in Beatmungsbereitschaft redu- erhebliches Dekrement der Muskelantwortpotentiale bei Serien-
ziert werden. Problematisch kann manchmal die Unterschei- stimulation mit 3/s-Reizen. Im CT wurde ein Thymustumor nach-
dung einer myasthenen Krise von einer cholinergen Krise (bei gewiesen, der operiert wurde.
Überdosierung von Cholinesterasehemmern) sein. Auch die Der Patient wurde immunsupressiv mit Imurek behandelt.
cholinerge Krise führt zur Muskelschwäche! Für eine choli- Zusätzlich nimmt er zwischen 5- und 8-mal 60 mg Mestinon pro
nerge Krise sprechen: Tag ein, in Abhängigkeit davon, wie stark seine sportlichen Akti-
4 Faszikulationen der Muskulatur, vitäten sind. Er betreibt weiterhin aktiv Sport, jedoch nicht mehr
4 warme, gerötete Haut, auf Höchstleistungsniveau. An seiner Berufstätigkeit hat sich
4 Bradykardie und nichts geändert.
4 Verschleimung und Durchfälle

Der Tensilon-Test hilft bei der Unterscheidung zwischen my- 34.8.4 Andere myasthene Syndrome
asthener und cholinerger Krise: Bei der myasthenen Krise ist
er positiv, bei der cholinergen Krise verstärken sich die Symp- Neugeborenen-Myasthenie und hereditäre Myasthenie
tome kurzfristig (Atropingabe zur Aufhebung der vermehrten Neugeborene Kinder myasthenischer Mütter haben in 10–20%
cholinergen Aktivität). der Fälle ein myasthenes Syndrom, das auf diaplazentarem
Übertritt von Antikörpern gegen Acetylcholinrezeptoren be-
3Differentialdiagnose zur generalisierten Myasthenie. ruht (7 Pathophysiologie). Die Kinder fallen durch Trink-
34 Myasthenische Ermüdbarkeit wird klinisch und im EMG bei
folgenden Krankheiten beobachtet:
schwäche, kraftlose Atmung, mattes Schreien und nur geringe
Spontanmotorik auf. Diese Neugeborenenmyasthenie klingt
4 Polymyositis (7 Kap. 34.9.1). Wenn die myasthene Kom- innerhalb weniger Wochen unter geeigneter Therapie wieder
ponente im Vordergrund steht, ist die Differentialdiagnose ab und kehrt im späteren Leben nicht mehr wieder.
sehr schwierig. Sie kann oft auch nicht sofort durch Muskel- Von der Neugeborenen-Myasthenie müssen die heredi-
biopsie entschieden werden und ergibt sich dann erst aus dem tären Myasthenien unterschieden werden. Diesen liegen sel-
Verlauf. Das trifft besonders für die chronische, okuläre Myo- tene Störungen der Acetylcholinsynthese oder -freisetzung
sitis zu. Therapie: Im Zweifel wird man Azathioprin (z.B. oder Defekte der Acetylcholinesterase zugrunde.
Imurek) und Pyridostigmin (z.B. Mestinon) in kleinen Dosen
oder Glukokortikoide einsetzen. Allerdings ist diese Kombina- Medikamentös ausgelöste oder verstärkte
tion bei beiden Krankheiten indiziert. Myasthenie
4 Hyperthyreose. Die Hyperthyreose ist gelegentlich von Verschiedene Medikamente können eine Myasthenie induzie-
myasthener Ermüdbarkeit begleitet. Dies ist aber keine symp- ren oder myasthene Symptome verstärken. Vermutlich liegen
tomatische Myasthenie, sondern es liegen zwei pathophysiolo- den medikamentös induzierten Myasthenien Immunreak-
gisch unterschiedliche Autoimmunkrankheiten vor. tionen gegen den Acetylcholinrezeptor zugrunde.
4 Episodische Lähmungen 4 Die D-Penicillamin-induzierte Myasthenie ist ein myas-
thenes Syndrom, das meist bei Frauen mit chronischer Poly-
ä Der Fall arthritis nach monatelanger D-Penicillamineinnahme auftritt.
Ein 25-jähriger Leistungssportler sucht den Neurologen auf, weil Das klinische Bild gleicht dem einer generalisierten Myasthe-
er in den letzten Wochen einen rapiden Verlust an maximaler nie. Die Krankheit spricht auf Cholinesterasehemmstoffe gut
Muskelkraft bemerkt hat. Beim Gewichttraining hat sich seine an und bildet sich oft nach Absetzen des Medikaments zurück.
maximale Leistung um 50% vermindert. Er habe zudem bemerkt, Krisenhafte Verstärkung ist selten. Der Antikörpertiter gegen
dass er bei längerem Lesen oder Fernsehen anfange, Gegenstän- Acetylcholinrezeptoren ist meist normal.
de doppelt zu sehen. Seiner Partnerin sei aufgefallen, dass das 4 Weitaus häufiger sind Medikamente, die (latente) myas-
Oberlid seines rechten Auges oft herabhängt. thene Symptome verstärken. Aus der Vielfalt der Medikamente,
Bei der neurologischen Untersuchung fällt eine geringe Ptose die dies verursachen können, seien nur Antibiotika, wie Ami-
am linken Auge auf, die Muskeleigenreflexe sind vorhanden, die noglykoside, Antirheumatika, β-Blocker, Antikonvulsiva und
Muskelkraft bei der orientierenden Untersuchung regelrecht. verschiedene Psychopharmaka (Antidepressiva, Benzodiaze-
6 pine) und Barbiturate genannt (. Tabelle 34.2).
34.8 · Myasthenia gravis pseudoparalytica
753 34

. Tabelle 34.2. Medikamente, die eine Myasthenia gravis verschlechtern können*

Analgetika Flupirtin
Morphinpräparate

Antiarrhythmika Chinidin
Ajmalin
Mexitil
Procainamid

Antibiotika Aminoglykoside (v.a. Streptomycin, Neomycin, weniger Tobramycin)


Makrolide (z.B. Erythromycin)
Ketolide (Telithromycin, Ketek)
Lincomycine
Polymyxine
Gyrase-Hemmer (Levofloxacin, Ciprofloxacin)
Sulfonamide
Tetrazykline
Penicilline nur in besonders hoher Dosierung

Antidepressiva Substanzen vom Amitriptylin-Typ

Antikonvulsiva Benzodiazepine
Carbamazepin
Diphenylhydantoin
Ethosuximid
Gabapentin

Antimalariamittel Chinin
Chloroquin und Analoge

Antirheumatika D-Penicillamin
Chloroquin

Betablocker Oxprenolol
Pindolol
Practolol
Propranolol
Timolol – auch bei topischer Anwendung als Augentropfen

Botulinum-Toxin

Kalziumantagonisten Verapamil
Diltiazem
Nifedipin und Verwandte

Diuretika Azetazolamid
Benzothiadiazine
Schleifendiuretika

Glukokortikoide Transiente Verschlechterung bei Behandlungsbeginn mit hohen Dosen

Interferone Interferon-α (Einzelfälle)

Lithium Langzeitbehandlung und bei akuter Überdosierung

Lokalanästhetika Procain (Ester-Typ); heute verwendete Substanzen vom Amid-Typ sind unproblematisch

Magnesium Hohe Dosen als Laxanzien

Muskelrelaxanzien Curare-Derivate;wegen erhöhter Empfindlichkeit initial 10–50% der normalen Dosierung wählen

Succhinylcholin sollte grundsätzlich nicht eingesetzt werden, da es nicht mit Pyridostigmin antagonisiert
werden kann

Psychopharmaka Chlorpromazin
Promazin und Verwandte
alle Benzodiazepine und Strukturverwandte wie Zolpidem, Zopiclon

Statine Mehrere Befundberichte über verschiedene Cholesterinsenker

* Diese Liste ist nicht vollständig. (Nach den Leitlinien der DGN, 2008 (www.dgn.org/leitlinien.html))
754 Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

Lambert-Eaton myasthenes Syndrom (LEMS) 4 die Polymyalgia rheumatica und


Paraneoplastisches Syndrom beim kleinzelligen Bronchialkar- 4 den direkten Befall der Muskulatur durch Erreger
zinom, 7 Kap 13.
Die Myositissyndrome sind selten.
Andere Immunkrankheiten und Myasthenie
Viele Patienten mit Myasthenie neigen auch zu anderen auto-
immunologischen Krankheiten. Die Hashimoto-Thyreoiditis, 34.9.1 Polymyositis und Dermatomyositis
rheumatoide Arthritis, Kollagenosen und Typ-I-Diabetes wer-
den am häufigsten gefunden. Besonders problematisch ist das 3Epidemiologie. Die Krankheit befällt Frauen im Verhält-
Auftreten von Kollagenosen, die ja selbst muskuläre Symptome nis 2:1 häufiger als Männer. Sie kann in jedem Lebensalter,
mit abnormer Ermüdbarkeit hervorrufen können und bei de- auch schon in der frühen Kindheit auftreten, wird jedoch in
ren Behandlung manche Medikamente Einsatz finden, die my- 50% der Fälle zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr beobach-
asthenieverstärkend wirken. tet. Polymyositis und Dermatomyositis sind Autoimmun-
krankheiten. Viele Patienten haben zirkulierende Antikörper
gegen Muskelgewebe. Es gibt auch Hinweise auf einen zellver-
34.9 Entzündliche Muskelkrankheiten mittelten Immunmechanismus. Dermatomyositis kann als
(Myositiden) paraneoplastisches Syndrom (7 Kap. 13.5) auftreten. Bei jeder
rasch fortschreitenden Myopathie jenseits des 30. Lebensjahres
3Definition und Einteilung. Unter dem Oberbegriff Myo- muss man an Polymyositis denken.
sitis werden Krankheiten zusammengefasst, die sich klinisch
durch Muskelschwäche bis zur Lähmung, allgemeines Krank- 3Symptome und Verlauf. Das Kardinalsymptom ist eine
heitsgefühl und Muskelschmerzen manifestieren. Die Myosi- proximale, im Becken oder Schultergürtel einsetzende Mus-
tiden können akut, subakut oder chronisch verlaufen. Sie er- kelschwäche. Diese breitet sich im weiteren Verlauf nach kra-
greifen, je nach Typ und Schweregrad, einige oder fast alle nial aus, so dass auch Nackenmuskeln (Kopf sinkt nach vorn)
Muskeln. Wir unterscheiden drei Formen: und bulbäre Muskeln (Schluckstörung, nasale Sprache) ge-
4 die Polymyositis (PM) (mit Dermatomyositis (DM) und schwächt bis gelähmt werden. Die äußeren Augenmuskeln
Einschlusskörper-Myositis (BMM, inclusion bodymyositis). werden nicht betroffen. Später bleiben auch distale Muskeln

34 Empfehlungen zur Behandlung der Myasthenie*


4 Die Cholinesterasehemmer Pyridostigmin und Neostig- grund fehlender Evidenz nicht generell empfohlen werden
min wirken an der neuromuskulären Synapse und bessern (C).
die Symptome der Myasthenie (A). 4 Patienten im Alter zwischen 15 und 50 Jahren profitieren
4 Glukokortikosteroide und Azathioprin sind Mittel der am deutlichsten von der Thymektomie,wenn diese früh,
ersten Wahl zur Immunsuppression (A). Andere Immunsupp- d.h. innerhalb von 1–2 Jahren nach Sicherung der Diagnose,
resiva (Ciclosporin A (positive kontrollierte Studie), Myco- durchgeführt wird (B). Manche Experten wählen die Alters-
phenolatmofetil (obwohl negative randomisierte kontrollierte grenzen weniger eng.
Studie; Sanders et al. 2008), Cyclophosphamid, Methotrexat, 4 Bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 5–14 Jahren
Tacrolimus) können bei Versagen oder Unverträglichkeit sollte die Thymektomie erst nach Versagen der medikamen-
der Standardtherapie in dieser Reihenfolge erwogen werden tösen Therapie (Cholinesterase-Inhibitoren, Steroide) in Be-
(B-C). Die Immunsuppression muss meist über viele Jahre, tracht gezogen werden.
oft lebenslang, beibehalten werden. Frauen im gebärfähigen 4 Patienten mit einer Myasthenie ohne nachweisbare Auto-
Alter müssen ebenso wie Männer eine Kontrazeption be- antikörper gegen Acetylcholinrezeptoren, aber mit positiven
treiben. Autoantikörpern gegen die muskelspezifische Tyrosinkinase,
4 Autoantikörper lassen sich bei myasthener Krise rasch MuSK, profitieren nach der aktuellen Datenlage nicht von
und effizient mit Hilfe der Plasmapherese (PE) oder semiselek- einer Thymektomie (C).
tiv mittels der Immunadsorption entfernen (A). Die drohende 4 Thymome stellen unabhängig vom Schweregrad der
und manifeste myasthene Krise erfordert die rasche Aufnah- Myasthenie (okulär oder generalisiert) eine Operationsindikati-
me und kompetente Behandlung auf einer Intensivstation. on dar (A). Ältere und multimorbide Patienten können palliativ
4 Immunadsorption (IA) mit Plasmapherese (PE) kann die strahlentherapiert werden.
Liegedauer verkürzen und führt zu einem besseren Outcome 4 Die Nachbehandlung (unvollständig resezierter) hochma-
(Gold et al. 2008). ligner Thymome erfordert ein interdisziplinäres Therapiekon-
4 Hochdosierte Immunglobuline (IVIG) sind in dieser Situa- zept (Strahlentherapie, Chemotherapie) (B).
tion ebenfalls wirksam und verkürzen die Beatmungszeit
bei myasthener Krise (A); mit 1 g/kg KG wird ein Plateau der * Nach den Empfehlungen der DGN 2008 (www.dgn.org/
Wirksamkeit erreicht (A). Eine Erhaltungstherapie kann auf- leitlinien.html)
34.9 · Entzündliche Muskelkrankheiten (Myositiden)
755 34
der Patienten sind schon bei Diagnosestellung Malignome
oder Kollagenosen bekannt.
4 Laboruntersuchungen ergeben folgende Befunde: Die
BSG ist praktisch immer beschleunigt. Im Blutbild findet sich
eine Eosinophilie bei normaler Leukozytenzahl, im Serum ist
IgG vermehrt. Die Aktivitäten von SGOT, CPK und Aldolase
sind, wie bei jeder rasch verlaufenden Muskelkrankheit, im
Serum erhöht.
4 Die Diagnose wird durch Biopsie und EMG gesichert.
5 Im EMG finden sich neben kleinen, polyphasischen (myo-
pathischen) PmE auch immer wieder Fibrillationspotentiale
und positive, scharfe Wellen. Dies zeigt eine Übererregbarkeit
denervierter Muskelfasern an, die vermutlich auf Degeneration
der Endaufzweigungen der motorischen Nervenfasern beruht.
Bei der elektromyographischen Diagnostik von Myopathien
gibt es aber falsch-positive und falsch-negative Befunde. Faszi-
kulationen gehören nicht zum Bild der Myositis.
5 Histologisch zeigen sich Degeneration der Muskelfasern,
vorwiegend perivenöse Infiltrate von Plasmazellen, regenera-
tive Reaktion verschiedenen Grades, später Faserverlust und
Bindegewebsvermehrung. Die Veränderungen sind bei den
. Abb. 34.7. Dermatomyositis. Livide Erytheme an den Finger-
verschiedenen Verlaufsformen graduell unterschiedlich aus-
streckseiten der linken Hand (D. Petzoldt, M. Richter, Heidelberg)
geprägt (. Abb. 34.8).

nicht verschont. Die befallenen Muskeln sind oft spontan und 3Therapie und Verlauf
auf Druck schmerzhaft. Atrophie stellt sich nur in geringem 4 100 mg Prednisolon pro Tag im akuten Stadium, danach
Maße ein. Die Eigenreflexe sind meist gut, sogar sehr lebhaft langsam abfallende Dosis für mehrere Monate. Gleichzeitig
auslösbar. geben wir Azathioprin (z.B. Imurek®, 100–150 mg/Tag). Hier-
Wenn bei diesen Symptomen charakteristische Hautverän- durch kann das akute Stadium meist aufgehalten und das Fort-
derungen vorkommen, sprechen wir von Dermatomyositis. schreiten der chronischen Entwicklung verlangsamt werden.
Die Hautsymptome bestehen in leichtem Ödem und bläulich- Allerdings kommt es nicht mehr zur Regeneration in allen zu-
violetter Verfärbung, vor allem um die Augen, seitlich der Nase, grunde gegangenen Muskelfasern, sondern nur zu einer »De-
an Hals und Schultern. In diesen Gebieten kommt es auch zu fektheilung«.
Pigmentverschiebungen und Teleangiektasien (. Abb. 34.7). 4 Aggressivere Therapieverfahren (Methotrexat, Ciclospo-
Das Zahnfleisch ist häufig geschwollen. An den Akren kann rin, Plasmapherese, IVIG und Rituximab) sind bei therapiere-
ein Raynaud-Syndrom auftreten. Ein wichtiges Charakteristi- sistenten Formen notwendig.
kum der Polymyositis ist der fluktuierende Verlauf mit Ver-
schlechterungen und Remissionen, bei denen die Muskulatur Spätestens nach 6 Monaten muss eine Dosisreduktion der Kor-
in wechselnder Verteilung ergriffen wird. tikosteroide unter die Cushing-Schwelle erfolgen. Eine alternie-
rende Verabreichung mit Gabe jeden 2. Tag ist das Ziel. Immun-
3Diagnostik. Die Diagnose der Dermatomyositis ist nicht suppressiva können im Verlauf nötig werden (. Tab. 22.5).
schwer zu stellen, und auch die akute Polymyositis, die mit
Schmerzen, Fieber und anderen Entzündungszeichen auftritt, 3Prognose. Die akute Polymyositis führt unbehandelt, in
bietet keine ernsten diagnostischen Probleme. Bei einem Teil der Hälfte der Fälle innerhalb eines Jahres zum Tode. Todes-

Leitlinien zur Behandlung der Polymyositis und der Dermatomyositsis*


4 Die DM/PM lässt sich in der Mehrzahl der Fälle mit Hilfe munglobulinen gerechtfertigt, wobei die Datenlage bei DM
immunsuppressiver Therapiemaßnahmen kontrollieren. Klasse I evidenzbasiert ist
4 Mittel der 1. Wahl für die Initialtherapie der DM/PM sind 4 Stärker wirksame Immunsuppressiva kommen vor allem
Kortikosteroide bei Patienten mit schwerer extramuskulärer Organmanifesta-
4 Für die Langzeittherapie ist oft eine niedrig dosierte tion zum Einsatz
Kortikosteroidtherapie, z.T. in Kombination mit Azathioprin, 4 Bei DM, aber auch bei der PM, ist der B-Zell-gerichtete
als Rückfallprophylaxe für Zeiträume von 1–3 Jahren oder monoklonale Antikörper Rituximab eine Option.
länger erforderlich.
4 Bei Patienten, die auf Kortikosteroide/Azathioprin nicht * modifiziert nach den Leitlinien der DGN 2008
ansprechen, ist ein Therapieversuch mit intravenösen Im- (www.dgn.org/leitlinien.html)
756 Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

a c

. Abb. 34.8a–c. Subakute Polymyositis. Biopsie aus dem M. rectus irregulär strukturiert als Zeichen der Regeneration oder sie sind
femoris eines 47-jährigen Mannes. Perivaskulär sind umschriebene, atrophisch. a HE, ×240, b, c Semidünnschnitte: Paraphenylendiamin,
mononukleäre Zellinfiltrate zu erkennen (Pfeilköpfe). Einzelne Muskel- b ×512, c ×569. (J. M. Schroeder, Aachen)
fasern befinden sich im Stadium der Myophagie (Pfeile), andere sind

34 ursachen sind Atemlähmung oder Nierenversagen nach Art


des Crush-Syndroms.
Arteriitis-temporalis-Polymyalgie-Syndrom. Sie nimmt meist
einen rezidivierenden Verlauf.
Die chronischen Formen haben eine Krankheitsdauer
von durchschnittlich 5–10 Jahren. Im Spätstadium kann sich 3Epidemiologie und Symptome. Die Krankheit betrifft
auch eine myasthene Ermüdbarkeit der Muskeln entwickeln. Frauen häufiger als Männer (2/3: 1/3). Sie ist im Wesentlichen
Bei der tumorassoziierten Dermatomyositis entscheidet die eine Erkrankung des höheren Alters, jenseits des 60. Lebens-
Grundkrankheit über die Prognose. Tumor- oder kollagenose- jahres. In Europa liegt die Prävalenz bei über 70-Jährigen bei
assoziierte Poly- und Dermatomyositis haben grundsätzlich 100–500 auf 100.000 Einwohnern. Die Inzidenz liegt bei ca. 11
eine schlechtere Prognose. auf 100.000 Einwohner pro Jahr und steigt auf über 800, wenn
nur über 80-Jährige berücksichtigt werden.
Die Patienten klagen über Morgensteife und Schmerzen in
34.9.2 Polymyalgia rheumatica den Muskeln des Schulter- und Beckengürtels. Die Schmerzen
werden bei manchen Patienten durch Bewegung stärker, bei
Die Polymyalgia rheumatica ist eine akut auftretende, schmerz- anderen besser. Die Gelenkbeweglichkeit ist eingeschränkt.
hafte Krankheit der Muskeln des Schulter- und Beckengürtels. Wie weit die Kraftminderung auf Schmerzhemmung beruht,
Die Krankheit bildet mit der Arteriitis cranialis zusammen das ist schwer zu beurteilen. Die Reflexe sind erhalten. Sensibili-

Exkurs
Einschlusskörperchenmyositis (inclusion body Myositis, IBM)
Diese Myositis betrifft Männer 3-mal häufiger als Frauen. Sie muskulatur, die zum Bild der Kamptokormie führt (starkes
ist oft asymmetrisch und betrifft meist die Fingerflexoren. Vornüberbeugen des Oberkörpers durch Parese der Rücken-
Muskelschmerzen stehen nicht im Vordergrund, dagegen strecker).
sind die Muskelatrophien sehr eindrucksvoll. Das EMG ist Die IBM spricht deutlich schlechter auf Behandlung an.
uncharakteristisch, die CK meist mäßig erhöht. Histologisch Fast alle kontrollierten Studien waren negativ. Dennoch wird
findet man die namengebenden eosinophilen Einschlüsse. man zuerst IVIG über 6 Monate, Steroide, Azathioprin und
Die Immunhistochemie ähnelt der der PM. Metothrexat versuchen. Berichte über Immunadsorption
Eine Variante, die gehäuft bei Parkinson-Patienten auf- waren bei einzelnen Patienten hoffnungsvoll.
tritt, ist die Einschlusskörperchenmyopathie der Rücken-
34.10 · Okuläre Myopathien
757 34
Exkurs
Differentialdiagnose zur Polymyalgie: Fibromyalgie und myofasziales Schmerzsyndrom
Fibromyalgie Polytopes myofasziales Schmerzsyndrom
Die Fibromyalgie ist eine umstrittenen Krankheitsentität Dieses Syndrom ist ähnlich umstritten. Klinisch herausragen-
(7 auch Kap. 36). Sie soll im Schmerzcharakter der Polymy- der und diagnostisch entscheidender Untersuchungsbefund
algie ähnlich sein. Für die Fibromyalgie hat das American des myofaszialen Schmerzsyndroms sollen »tonusvermehrte«
College of Rheumatology Klassifikationskriterien entwickelt Trigger-Punkte sein. Hierbei findet man eine lokale schmerz-
die extrem weit gefasst sind. Das Syndrom tritt im mittleren hafte Druckempfindlichkeit und einen fortgeleiteten Schmerz
Lebensalter auf. Laborauffälligkeiten fehlen. Weitere Anmer- bei Palpation eines Trigger-Points. Auch hier fehlen eindeutige
kungen folgen in 7 Kap. 36.3. Laborbefunde.

tätsstörungen treten nicht auf. Die meisten Patienten haben ein »Ophthalmoplegia plus« oder, wenn auch Pigmentdegenera-
allgemeines Krankheitsgefühl. tion der Retina, kardiale Überleitungsstörungen und Eiweiß-
vermehrung im Liquor bestehen, als Kearns-Sayre-Syndrom
3Diagnostik. Laborbefunde: Erhöhung von C-reaktivem (7 Kap. 28.7.1, Mitochondriopathien), zusammengefasst.
Protein (CRP), α1- und α2-Globulinen sowie eine starke Be-
schleunigung der Blutsenkungsgeschwindigkeit.
Bei der Elektromyographie findet man häufig ein normales 34.10.1 Okuläre und okulopharyngeale
Muster, da es sich nicht um eine Myopathie handelt. Auch die Muskeldystrophie
CK ist nicht erhöht. In der Muskelbiopsie kann man eine Riesen-
zellarteriitis finden. Eine Muskelbiopsie ist nicht erforderlich Bei dieser autosomal-dominant erblichen Variante der pro-
gressiven Muskeldystrophie kommt es langsam fortschreitend,
3Therapie z.T. auch schubartig, zu einer Lähmung der äußeren Augen-
4 Behandlung mit Glukokortikosteroiden (initial über Wo- muskeln, vor allem des M. rectus internus, weiter auch des
chen 30–50 mg/Tag Methylprednisolon, anschließend langsam M. levator palpebrae superior und des M. orbicularis oculi.
bis zu einer Erhaltungsdosis ausschleichen) bessert die Schmer-
zen nach wenigen Tagen. 3Symptome
4 Dauerbehandlung über mehrere Jahre ist meist notwendig, 4 Klinisch finden sich zunächst Ptose und Strabismus diver-
anders als bei Polymyositis. gens ohne Doppelbilder, da bei der langsamen Entwicklung
4 Azathioprin ist nicht wirksam. der Lähmungen Doppelbilder unterdrückt werden.
4 Die inneren Augenmuskeln bleiben stets frei.
4 Später entwickeln sich eine Facies myopathica und eine
34.9.3 Erregerbedingte Muskelentzündungen leichte Schwäche der vorderen Hals- und Schultermuskeln. Bei
der okulopharyngealen Variante werden die im Namen be-
Die Muskulatur kann von verschiedenen Erregern direkt be- zeichneten Muskeln von der Dystrophie ergriffen.
fallen werden. Dies gilt für Viren, Bakterien, Amöben und 4 Die Dystrophie greift nicht auf die Rumpf- und Beinmus-
Parasiten (HIV, Coxsackie, Trichinose, Zystizerkose). Die ent- keln über.
sprechenden Krankheiten sind im Kapitel der bakteriellen, 4 Das EMG der äußeren Augenmuskeln zeigt trotz hoch-
viralen und sonstigen Infektionen besprochen. Klinisch kön- gradiger Parese dichte elektrische Aktivität mit Interferenz und
nen leichte Myalgien, wie sie bei vielen Infektionen, besonders Reduktion der Amplituden. Die biochemischen Befunde sind
viralen Infektionen auftreten, die Beteiligung der Muskulatur oft unergiebig.
anzeigen. In schwer verlaufenden Fällen kann eine Rhabdo-
myolyse entstehen. Eine Ptose als Ausdruck der Augenbeteiligung bei dystrophi-
scher Myotonie wird nur dann differentialdiagnostische Prob-
leme bieten, wenn es sich um eine abortive Form der Krankheit
34.10 Okuläre Myopathien handelt, wie sie in der Verwandtschaft von Patienten mit dem
Vollbild der Curschmann-Steinert-Krankheit vorkommt.
In den vorangegangenen Kapiteln wurde mehrfach erwähnt,
dass die eine oder andere Myopathie auch zu Augenmuskel-
lähmungen führt. Wegen der großen praktischen Bedeutung 34.10.2 Okuläre Myositis
wird in diesem Abschnitt die Differentialdiagnose der oku-
lären Myopathien zusammenfassend dargestellt. Die okuläre Akute, exophthalmische Form
Myasthenie und die endokrine Ophthalmopathie bei Hyper- Führend sind eine Protrusio bulbi, multiple Augenmuskelpa-
thyreose wurden schon besprochen. resen mit Doppelbildern, Schmerzen hinter dem Bulbus, Che-
Es gibt Kombinationen okulärer Muskelschwäche mit den mosis und ein konjunktivaler Reizzustand, gelegentlich auch
verschiedensten neurologischen Symptomen, vor allem Spas- Uveitis und retrobulbäre Neuritis. Im Blutbild besteht meist
tik, Ataxie und Demenz. Sie werden unter dem Oberbegriff Leukozytose, die BSG ist beschleunigt. Differentialdiagnos-
758 Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

tisch muss ein Neoplasma der Orbita durch Computertomo- fehlender Muskelmechanik auf das Ellenbogengelenk ein volles
graphie ausgeschlossen werden. Aktivitätsmuster abgeleitet werden kann.
Behandelt wird mit Glukokortikoiden (Prednisolon 1 mg/
kg KG) über mehrere Wochen, langsam ausschleichend. Meist
ist eine niedrigere Erhaltungsdosis notwendig. 34.11.1 Kompartmentsyndrom

Chronische, oligosymptomatische Form So bezeichnet man die Kompression von Muskeln durch Volu-
Hierbei entwickeln sich langsam Ptosis und multiple Augen- menzunahme, meist durch Blutung, innerhalb einer durch
muskellähmungen, oft ohne Doppelbilder. Ein konjunktivaler enge Muskelfaszien und Knochen präformierten Muskelloge.
Reizzustand ist nicht obligat. Am häufigsten finden wir ein Kompartmentsyndrom in der
BSG und Leukozytenzahl können normal sein. Liegen prätibialen Muskulatur des Unterschenkels (Tibialis-anterior-
gleichzeitig rheumatische Begleitkrankheiten vor, ist die Diag- Syndrom).
nose relativ leicht, sonst kann sie sehr schwierig sein, zumal Sportverletzungen oder sehr starke sportliche Aktivität ohne
einen das EMG oft im Stich lässt. In manchen Fällen muss man direkte Verletzung, aber auch Entzündungen oder Thrombose,
die Diagnose ex juvantibus stellen und verordnet Glukokorti- können die Ursache sein. Natürlich kann das Kompartmentsyn-
koide in üblicher Dosierung (1 mg/kg KG). drom auch zusammen mit anderen, ausgedehnteren Läsionen
Differentialdiagnostisch muss bei allen akut oder subakut des Unterschenkels (Unterschenkelbruch) auftreten. Andere
einsetzenden Augenmuskellähmungen an basale Aneurysmen Kompartmentsyndrome (Unterarm mit Medianusläsion, Rota-
oder Diabetes mellitus, subakut auftretende auf Keilbeinmenin- toren des Schultergelenks mit Plexusläsion) sind selten.
geom, Optikusgliom und Orbitatumor gedacht werden. Nur
nach Ausschluss aller dieser differentialdiagnostischen Mög- 3Symptome. Komplette Bewegungsunfähigkeit, starker
lichkeiten soll man sich mit der Diagnose einer idiopathischen Schmerz und massive Härte und Spannung der Muskulatur
Hirnnervenneuritis oder chronischen Augenmuskelmyositis weisen den Weg. Im EMG findet man keine Spontanaktivität,
zufrieden geben. aber auch keine Willküraktivität. Der R. profundus des N. pe-
ronaeus ist durch Druck und Ischämie gefährdet, Sensibilitäts-
störungen können die Differentialdiagnose zur Peronaeusläh-
34.11 Mechanische Störungen der Muskulatur mung erschweren. Im Gegensatz zur Peronaeuslähmung findet
man wegen der Tonuserhöhung aber keinen Fallfuß.
Hierunter zählen die in der Sportmedizin und Orthopädie ab-
34 zuhandelnden Muskelzerrungen, Muskelfaserrisse und kom- 3Therapie. Nur die sofortige Faszienspaltung innerhalb des
pletten Muskelrisse. Verwandt ist auch der Sehnenabriss. Von ersten Tages rettet den Muskel und die Nervenfasern, die durch
besonderer differentialdiagnostischer Bedeutung (zur Wur- den Druckanstieg sekundär irreversibel geschädigt werden
zelläsion C5) ist der Bizepssehnenabriss, bei dem im EMG bei können.

In Kürze

Progressive Muskeldystrophien

Erbliche, chronisch fortschreitende Krankheiten der quer- Fazioskapulohumerale Muskeldystrophie. Symptome:


gestreiften Muskulatur mit Schwäche und später Atrophie Dystrophie der proximalen Arm- und Schultermuskulatur,
der Willkürmuskulatur. Prävalenz: 5/100.000 Einwohner, v.a. Beeinträchtigung der mimischen Muskulatur, schlaffe Ge-
Männer. sichtszüge, leichte Ptose, fehlende Faltenbildung der Stirn,
schwacher Augen- und Mundschluss, Parese der Beine ab
Aufsteigende, bösartige Beckengürtelform. Symptome: 30. Lebensjahr. Gutartiger Verlauf.
Verzögerte bis stillstehende motorische Entwicklung, Pare-
sen der Beckengürtel-, Bein-, Schulter-, Armmuskeln, hormo- Myotonien
nelle Störungen. Betrifft v.a. Männer. Tod meist vor 25. Le-
bensjahr durch Herzversagen, interkurrenten Infekt der Leitsymptome: Myotone Funktionsstörung der Willkürmus-
Atmungsorgane oder Marasmus. kulatur der Extremitäten lässt bei wiederholter Kontraktion
nach, Muskelsteifigkeit.
Aufsteigende, gutartige Beckengürtelform. Symptome
setzen v.a. bei Jungen zwischen 6–20 J. ein: Parese der Rü- Myotonia congenita. Symptome: Verzögerte motorische
ckenstrecker, Watschelgang, Schwäche der Oberschenkel- Entwicklung, generalisierte Myotonie und Hypertrophie der
halsmuskulatur. Keine kausale Therapie, Rollstuhl, im Schul- Willkürmuskulatur, Skoliose. Keine Therapie, da gutartiger
tergürtel beginnende Dystrophie, schwere motorische Be- Verlauf.
hinderungen, verkürzte Lebenserwartung.
6
34.11 · Mechanische Störungen der Muskulatur
759 34

Dystrophische Myotonie. Symptome: u.a. Innenohrschwer- Kontraktionsfähigkeit der Muskelfasern. Hyperthyreose:


hörigkeit, Stirnglatze, Katarakt, Hodenatrophie, Ovarialinsuf- Abbau der Muskelproteine führt zur generalisierten Muskel-
fizienz, kardiale Symptome, Facies myopathica, halb geöff- schwäche. Endokrine Orbitopathie bei Hyperthyreose:
neter Mund, schwache, dystrophische Muskulatur. Medika- Protrusio bulbi mit Augenmuskelparesen.
mentöse Therapie, Krankengymnastik.
Toxische Myopathien
Periodische (dyskaliämische) Lähmungen
Maligne Hyperthermie. Ausgelöst durch verwendete Subs-
Subakute, schlaffe Lähmungen v.a. der Extremitäten über tanzen bei der Narkose. Symptome: Tachykardie, Blutdruckab-
Stunden bis Tage, danach Rückbildung. fall, Azidose, Anstieg der Körpertemperatur. Medikamentöse
Leitsymptome: Langsam progrediente Myopathie v.a. in Therapie, externe Kühlung beim manifesten Hyperthermie-
proximaler Extremitätenmuskulatur und Hüft- und Schulter- syndrom.
gürtel, im fortgeschrittenen Stadium durch Muskelschwäche
gehunfähig. Malignes Neuroleptikasyndrom. Symptomatik wie oben,
aber andere Auslösung: Es kommt zur Blockade von zentralen
Hypokaliämische Lähmung. Symptome: Schweißausbrü- Dopaminrezeptoren. Medikamentöse Therapie.
che, Schwere, Missempfindungen in Gliedmaßen; Lähmun-
gen ab 20. Lebensjahr, anfangs in Abständen, später häufiger Myasthenia gravis pseudoparalytica
und schwerer, danach spontane Besserung. Therapie:
Kaliumzufuhr im Anfall, salz- und kohlenhydratarme Diät. Abnorme Ermüdbarkeit der Willkürmuskulatur unter musku-
lärer Belastung, Rückbildung beim Ruhen der betroffenen
Normokaliämische, periodische Lähmung. Symptome Muskeln. Prävalenz: 4–7/100.000 Einwohner.
treten in erster Lebensdekade auf: Lähmungen v.a. während
des Nachtschlafs und in frühen Morgenstunden, in Ruhe Okuläre Myasthenie. Symptome: Im Initialstadium ein-
nach körperlicher Anstrengung, nach Fasten oder Alkoholge- oder doppelseitige Ptose, Doppelbilder, Befall weiterer Augen-
nuss, in Kälte, bei seelischer Erregung. Therapie: NaCl-Zu- muskeln bei längerem Bestehen.
fuhr, kohlenhydratarme Diät als Prophylaxe.
Generalisierte Myasthenie. Symptome: Erschlaffen der
Hyperkaliämische, periodische Lähmung. Symptome Gesichtszüge zur Facies myopathica, in schweren Fällen kön-
treten vor 20. Lebensjahr auf: Dauer der Lähmungsanfälle nen die Masseteren nicht mehr tonisch angespannt werden,
≤1 h; Kälte, Ruhe nach körperlicher Anstrengung, Fasten Ausweitung der Schwäche auf Rumpf und Extremitäten.
wirken provozierend, leichte körperliche Bewegung, Nah- Immunsuppressive, medikamentöse Therapie.
rungsaufnahme verhindert oder verzögert Auftreten. Medi-
kamentöse Therapie. Myasthene Krise. Symptome: Lebensbedrohliche Verstärkung
der myasthenen Symptomatik mit Beteiligung der Schluck- und
Metabolische Myopathien Atemmuskulatur, Ptose, Tachykardie, Obstipation. Therapie:
Intubation, Beatmung, medikamentöse Therapie.
Belastungsabhängige Muskelschwäche durch aufge-
brauchten Energiespeicher. Cholinerge Krise. Symptome: Muskulaturfaszikulation,
warme, gerötete Haut, Bradykardie, Diarrhö. Differential-
Störungen des Glykogenhaushaltes. Symptome des diagnose: Polymyositis, Hyperthyreose, episodische Läh-
Phosphorylasemangels: Im Jugendalter beginnende mungen.
belastungsabhängige Muskelschmerzen und -schwäche, in
Ruhe rasch reversibel. Keine kausale Therapie, Übungspro- Andere myasthene Syndrome
gramm mit aerober Belastung.
Neugeborenen-Myasthenie. Trinkschwäche, kraftlose
Metabolische Myopathien mit Fettstoffwechselstörung. Atmung, geringer Spontanmotorik, klingt unter Therapie
Muskulärer Karnitinmangel tritt in der Jugend auf, kardiale wieder ab. Medikamentös ausgelöste oder verstärkte My-
Mitbeteiligung. Therapie: Fettarme Diät, orale L-Carnitin- asthenie nach Antibiotika-, D-Penicillamin-, Antirheumatika-,
Substitution. Antikonvulsiva-, Psychopharmakaeinnahme.

Endokrine Myopathien Entzündliche Muskelkrankheiten

Myopathie bei Schilddrüsenkrankheiten. Hypothyreose: Polymyositis und Dermatomyositis. Symptome: Akute


Verminderter Proteinmetabolismus bewirkt Abnahme der Polymyositis mit Schmerzen, Fieber, proximale, im Becken-
6
760 Kapitel 34 · Muskelkrankheiten

oder Schultergürtel einsetzende Muskelschwäche, später Okuläre Myositis. Akute, exophthalmische Form mit
Schluckstörung; Hautveränderungen wie Ödembildung, Schmerzen hinter dem Bulbus, Protrusio bulbi, multiplen
bläulich-violette Verfärbung. Medikamentöse Therapie. Augenmuskelparesen mit Doppelbildern, Chemosis,
Unbehandelt folgt Tod innerhalb eines Jahres. konjunktivalem Reizzustand. Chronische, oligosymptoma-
tische Form mit Ptosis, multiplen Augenmuskellähmungen.
Polymyalgia rheumatica. Symptome: v.a. bei Frauen >60 J.:
akut auftretende Schmerzen in Muskeln des Schulter- und Einschlusskörperchenmyositis
Beckengürtels, eingeschränkte Gelenkbeweglichkeit. Lebens-
lang medikamentöse Therapie. Sporadische Muskelkrankheit mit Hautveränderungen v.a.
bei Männern >50 Jahre.
Erregerbedingte Muskelentzündungen. Muskulatur wird
von verschiedenen Erregern wie Viren, Bakterien, Amöben Mechanische Störungen der Muskulatur
und Parasiten direkt befallen.
Kompartmentsyndrom. Symptome: Komplette Bewegungs-
Okuläre Myopathien unfähigkeit, starker Schmerz, massive Muskelspannung
durch starke sportliche Aktivität mit und ohne direkte Verlet-
Okuläre und okulopharyngeale Muskeldystrophie. Symp- zung, durch Entzündungen oder Thrombose. Therapie:
tome: Langsam fortschreitende Lähmung der äußeren Au- Sofortige Faszienspaltung innerhalb des ersten Tages zur
genmuskeln, Ptose, Strabismus divergens ohne Doppelbil- Druckentlastung.
der, Facies myopathica, leichte Schwäche der vorderen Hals-
und Schultermuskeln.

34
X Andere neuro-
logische Störungen
35 Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen
des Nervensystems – 763

36 Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen


von unklarem Krankheitswert – 785
35

35 Entwicklungsstörungen und
Fehlbildungen des Nervensystems
35.1 Geistige Behinderung und zerebrale Bewegungsstörung – 764
35.1.1 Zentrale Bewegungsstörungen nach frühkindlicher Hirnschädigung
(infantile Zerebralparesen) – 766
35.1.2 Minimale frühkindliche Hirnschädigung – 767

35.2 Hydrozephalus und Arachnoidalzysten – 767


35.2.1 Hydrozephalus – 767
35.2.2 Arachnoidalzysten – 770

35.3 Syringomyelie – 771

35.4 Phakomatosen (neurokutane Fehlbildungen) – 772


35.4.1 Neurofibromatose (NF) – 775

35.5 Fehlbildungen des kraniozervikalen Übergangs


und der hinteren Schädelgrube – 776
35.5.1 Basiläre Impression oder Invagination – 776
35.5.2 Atlasassimilation – 777
35.5.3 Klippel-Feil-Syndrom – 779
35.5.4 Chiari-Fehlbildungen – 779
35.5.5 Dandy-Walker-Syndrom – 779

35.6 Fehlbildungen der Wirbelsäule – 781


35.6.1 Spina bifida – 781
35.6.2 Spondylolisthesis – 781
35.6.3 Lumbalisation und Sakralisation – 782
764 Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

> > Einleitung 4 pränatale Schädigungen,


4 perinatale Schädigungen und
Entwicklungsstörungen des Nervensystems kommen genetisch, 4 postnatale frühkindliche Hirnschädigungen.
als Folge von intrauterinen Infektionen, metabolischen Funk-
tionsstörungen, und, heute am häufigsten, als Folge von Intoxi- Pränatale Schädigungen
kationen, der Überdosierung von Medikamenten oder durch 3Ursachen. Die häufigste Ursache ist Sauerstoffmangel
Alkohol zustande. Ein weiterer wichtiger Schädigungsmechanis- des embryonalen oder fetalen Nervensystems. Er kommt
mus sind prä- und perinatale Sauerstoffmangelzustände und durch allgemeine Kreislaufstörungen der Mutter, Beeinträch-
Infektionen, die auch ohne zugrunde liegende Fehlbildungen tigung des Plazentarkreislaufs oder auch Nabelschnurum-
des Hirngewebes zu psychomotorischen Entwicklungsverzöge- schlingung zustande. Weiter können Infektionskrankheiten
rungen führen können. Die größte Risikogruppe sind hier Früh- der Mutter zu Embryopathien führen, die im Einzelnen in
und Mangelgeborene. den Lehrbüchern der Kinderheilkunde beschrieben sind. In
Die Alkoholembryopathie spielt eine sehr wichtige Rolle: erster Linie kommen hier Virusinfektionen in den ersten
Übermäßiger, aber auch schon mäßiger Alkoholgenuss, nicht drei Schwangerschaftsmonaten in Frage, selbst wenn sie kli-
selten verbunden mit Rauchen, führt zu embryonalen Schädi- nisch inapparent verlaufen. Häufiger als allgemein bekannt, ist
gungen, die sich nicht nur als komplexe Fehlbildungen großen die angeborene, nekrotisierende Toxoplasmoseenzephalitis
Ausmaßes, sondern auch als Summation geringfügiger Entwick- (7 Kap. 20.1.1).
lungsstörungen manifestieren. Die Zufuhr von über 20 g reinem Zu den intrauterinen Schädigungen werden auch die
Alkohol pro Tag in der Schwangerschaft führt zu messbaren Stö- Folgen der heute sehr seltenen fetalen Erythroblastose bei
rungen. Die ausgeprägte Alkoholembryopathie mit geistiger Rhesus-Inkompatibilität mit Icterus gravis neonatorum ge-
Retardierung, Epikanthus, Herzfehlern und erheblichem Minder- rechnet. Dabei wird das Hirnparenchym durch Hyperbiliru-
wuchs kommt etwa bei 1 von 500 Neugeborenen vor. Bei diesen binämie geschädigt. Makroskopisch zeigt das ganze Gehirn
Kindern ist die Intelligenz deutlich herabgesetzt, und das Geburts- eine leicht gelbliche Färbung. Mikroskopisch sind besonders
gewicht liegt fast immer unter 2500 g. die Basalganglien (Kernikterus), der Nucl. dentatus des Klein-
Von wahrscheinlich größerer sozialer Bedeutung ist die leicht hirns und die Kerne am Boden der Rautengrube betroffen.
verlaufende Alkoholembryopathie, bei der die Kinder hyperaktiv, Leider nicht selten sind die Entwicklungsstörungen, die
aufmerksamkeitsgestört und intellektuell leichtgradig minder- durch Alkohol-, Drogen- und Nikotinmissbrauch der Mutter
begabt sind. Die Kinder sind nicht immer auf den ersten Blick als während der Schwangerschaft entstehen. Die Alkoholembryo-
geschädigt zu erkennen. Kopfumfang, Längenwachstum und pathie (fetales Alkoholsyndrom) ist heute die häufigste Em-
Gewicht sind aber im Vergleich zu gesunden Kindern praktisch bryopathie. Viele Medikamente sind in hohen Dosen tera-
immer infolge eines intrauterinen Minderwuchses retardiert. togen. Die Behandlung der Mutter mit Antiepileptika ver-
Metabolische Krankheiten können verschiedene Entwick- doppelt das spontane Risiko, ein Kind mit Missbildungen
35 lungsstörungen verursachen. Die vulnerabelsten Perioden sind zu bekommen. Dies gilt besonders für Phenytoin und Barbi-
das erste und zweite Trimenon. Durch das eingeführte Neuge- turate.
borenenscreening auf Phenylketonurie (PKU) und einer phenyl-
alaninarmen Diät der Kinder kann einer progressiven Hirnschädi- 3Symptome. Die Kinder leiden unter
gung vorgebeugt werden. Durch einen Folsäuremangel kann es 4 Mikrozephalie,
zu Neuralrohrdefekten kommen. Frauen wird daher schon prä- 4 psychomotorischer Retardierung,
konzeptionell eine regelmäßige Substitution mit Folsäure emp- 4 Konzentrationsstörungen und
fohlen. 4 Hyperaktivität,

verbunden mit anderen Fehlbildungen (Herz, Skelett, ableiten-


35.1 Geistige Behinderung und zerebrale de Harnwege).
Bewegungsstörung
Perinatale Hirnschädigungen
Unter diesen Bezeichnungen, die bewusst unscharf gehalten Unter der Geburt ist das Gehirn in erster Linie durch venöse
sind, fassen wir die Endzustände einer größeren Gruppe von und arterielle Zirkulationsstörungen gefährdet. Dabei kommt
Krankheiten zusammen, die das Zentralnervensystem wäh- es durch Stauung in den großen Hirnvenen und im Sinus zu
rend seiner Entwicklung und Reifung getroffen haben. Eine ödematöser Durchtränkung des Gewebes und Stauungsblu-
Residualepilepsie kann sekundär zu einer fortschreitenden tungen. Die Folge sind ausgedehnte oder herdförmige Nekro-
Hirnschädigung und Verschlechterung des körperlichen und sen vor allem im Marklager beider Hemisphären und in den
psychischen Zustands der Betroffenen führen. Stammganglien.
Die Folgen von Chromosomenanomalien und manchen Thrombosen kleiner Arterien in der Hirnrinde führen zur
metabolischen Krankheiten gehören in die Neuropädiatrie und selektiven Parenchymnekrose, d.h., das Nervengewebe geht
werden wegen ihrer Seltenheit und wegen der speziellen pädia- bevorzugt zugrunde, während die Glia erhalten bleiben kann.
trischen Kenntnisse, die zur genetischen Beratung der Eltern Aber auch perinatale Verschlüsse der großen Arterien mit Aus-
verlangt werden, nicht besprochen. Ebenso wenig kann die prä- bildung von Territorialinfarkten, die später zu liquorgefüllten
natale Diagnostik hier erörtert werden. Wir unterscheiden Zysten mit Ventrikelerweiterung werden, sind möglich.
35.1 · Geistige Behinderung und zerebrale Bewegungsstörung
765 35
Facharzt
Schädigungsmuster
In Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Schädigung in der Hirn- Abschluss der Entwicklung der Großhirnhemisphären zugrun-
entwicklung kommt es zu Aborten, Fehlbildungen oder de. Die Höhlenbildung erstreckt sich vom Seitenventrikel bis
lokalisierten Gewebsschäden. zur Hirnoberfläche und ist am Rand mit grauer Substanz ausge-
Ein Beispiel ist die diffuse hypoxisch-ischämische Schä- kleidet.
digung des Hirngewebes, die in Abhängigkeit vom Schwere- Porenzephale Defekte entstehen später, aber noch zu
grad der Hypotension, der Hirnreife und der Dauer zu unter- einem Zeitpunkt, in dem die Schädigung noch keine reaktive
schiedlichen Schädigungsmustern führt und bereits in utero Astrogliaproliferation triggern kann (ca. bis 29. SSW). Erst in
auftreten kann. der Spätschwangerschaft, peri- und postnatal ist die Reifung
5 Bei Frühgeborenen bis etwa zur 34. Schwangerschafts- der Glia soweit fortgeschritten, dass Defekte mit perifokalen
woche tritt eine Schädigung der periventrikulär gelegenen Gliosen und narbigen Septierungen entstehen.
germinativen Matrix mit hypoxischer Schädigung, Stauungs- 4 Zu eine ähnlichem Schädigungsmuster führen allerdings
blutungen, z.T. intraventrikulären Einblutungen, dem Bild auch intrauterine Infektionen oder eine begleitende Ventriku-
einer periventrikulären Leukomalazie (PVL) auf. Bei schwerer litis bei Meningitis.
Hypotension können auch die tiefe graue Substanz von 4 Bei der hypoxisch-ischämischen Schädigung reifer Neu-
Thalamus, Basalganglien und Hirnstamm miteinbezogen geborener werden bei mäßiger Hypotension die parasagit-
werden. tale weiße Substanz der hämodynamischen Grenzzone und
4 Abhängig vom Ausprägungs- und Reifungsgrad ist bei stärkerer Ausprägung der Cortex der Zentralregion sowie
zunächst die weiße, dann auch die graue Substanz bei dif- die tiefe graue Substanz geschädigt. Auch beim Säugling
fuser hypoxisch-ischämischer Schädigung betroffen. Ein (>6 Monate) manifestiert sich die Noxe zunächst als parasagit-
Status marmoratus (narbige Herde in den Basalganglien) ist tale Grenzzonenisschämie, in schwereren Fällen als Ischämie
beim Kind eher selten. der Basalganglien und diffuse kortikale Nekrosen.
4 Defekte werden abhängig vom Entstehungszeitpunkt 4 Lokalisierte, individuellen Versorgungsgebieten von Arte-
als Schizenzepahlie (auch agenetische Porenzephalie), rien zuzuordnende Infarkte sind im Kindesalter wesentlich
Porenzephalie (auch enzephaloklastische Porenzephalo- seltener als bei Erwachsenen und in ca. 50% der Fälle bleibt
pathie) und Enzephalomalazie bezeichnet. die Ätiologie unklar. Neben kardialen Erkrankungen sind eine
veränderte Gerinnungsneigung bei Hämoglobinopathien und
Der Schizenzephalie liegt der Untergang eines Teils der Koagulopathien, aber auch Infektionen, Dehydratation und
germinativen Matrix und der umgebenden Hirnsubstanz vor Stoffwechselerkrankungen ursächlich.

Intrazerebrale Blutungen und Ventrikeltamponaden sind 3Symptome. Da die Funktionen des Zentralnervensystems
selten und werden oft nicht überlebt. Nach geburtstrauma- in den ersten Lebensjahren noch wenig differenziert sind, ist
tischen Subarachnoidalblutungen bilden sich leicht Verwach- das klinische Bild dieser verschiedenartigen Hirnschädigungen
sungen der Meningen, die die Liquorzirkulation beeinträchti- einförmig.
gen, so dass ein Hydrocephalus arresorptivus entsteht. In schweren Fällen findet sich die Trias
4 Bewegungsstörung (infantile Zerebralparese),
Postnatale frühkindliche Hirnschädigungen 4 geistige Behinderung mit Verhaltensstörung und
3Ursachen. Sie entstehen vor allem durch bakterielle In- 4 Anfälle.
fektionskrankheiten des Säuglings und Kleinkinds.
Auch kommt es recht häufig zu arteriellen Embolien und Leider ist die Nomenklatur für diese Syndrome inkonsequent:
arteriellen oder venösen Thrombosen. Diese führen zu zysti- Obwohl fast immer motorische Restfunktionen vorhanden
schen Erweichungen im Versorgungsgebiet einer der größeren sind, die den Patienten meist die Gehfähigkeit erreichen
Hirnarterien oder zu Stauungsblutungen, Purpura cerebri, lassen (wenn auch mit erheblicher Erschwernis und oft gro-
Hirnödem und sekundären Erweichungen im Abflussgebiet der tesk anmutenden Bewegungsmustern), spricht man von spas-
größeren Hirnvenen und Sinus. tischer Diplegie oder von spastischer infantiler Hemiplegie,
Akute, enterotoxische Krankheitszustände können das obwohl klinisch formal keine Plegie vorliegt. Deshalb sollte
Gehirn durch Hypoxie, Toxine und metabolische Störung man die Bezeichnung »infantilen Zerebralparese« wählen und
schädigen, chronische Ernährungsstörungen (Dystrophie) syndromatisch von »mit Paraspastik« oder »Hemispastik«
durch ein Hirnödem mit sekundärer Ödemnekrose. Bei ange- sprechen.
borenen, zerebralen Gefäßfehlbildungen wird die betroffene
Hirnregion hypoxisch geschädigt. Bei geringerer Ausprägung einer spastischen infantilen Hemi-
Die infektiöse, virale oder parainfektiöse Enzephalitis tritt parese achtet man auch auf Differenzen in Länge und Umfang
als Ursache der frühkindlichen Hirnschädigung quantitativ der Extremitäten, Überstreckbarkeit der Finger und Asymmet-
ganz in den Hintergrund. Impfschäden sind heute sehr selten. rien des Schädels.
766 Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

Der Verdacht auf zerebrale Bewegungsstörung liegt vor, Athétose double infolge Kernikterus ist das Computertomo-
wenn ein Kind gramm fast immer normal.
4 asymmetrisch liegt, schlaff ist und schlecht trinkt (floppy
infant), Infantile Hemiparese
4 die Hände zu Fäusten verkrampft hält, Bei der meist pränatal entstandenen, infantilen Hemiparese
4 keinen Saug- oder Greifreflex hat, bleiben die gelähmten Gliedmaßen im Längen- und Dicken-
4 in Rückenlage opisthotonisch den Kopf in das Kissen wachstum zurück. Die Finger sind trotz der Spastik in den
drückt, Gelenken überstreckt und haben oft bereits in der Ruhe die
4 in Bauchlage den Kopf nicht zur Seite wendet, um frei sog. Bajonettstellung mit leichter Beugung im Grundgelenk
atmen zu können, und Überstreckung in den Interphalangealgelenken. Die zen-
4 beim passiven Aufrichten den Kopf nicht wenigstens für trale Bewegungsstörung ist oft so erheblich, dass die betroffe-
kurze Zeit senkrecht hält und ne Hand nicht als Greifwerkzeug dienen kann und das Gehen
4 keine reflektorischen Schreitbewegungen macht, wenn es durch Mitbewegungen schwer behindert ist. Bei der häufigen
passiv so gehalten wird, dass die Füße eine Unterlage berühren. Kombination mit Athetose sind die Kinder völlig hilflos, da
jeder Versuch einer Bewegung die extrapyramidalen Hyper-
Einzelheiten der physiologischen und pathologischen Reflexe kinesen, dystonen Muskelverspannungen und pathologi-
des Säuglingsalters, nach denen man die Diagnose etwa im schen Stellreflexe in Gang setzt. Die Hemiplegie ist häufig von
4. Monat sichern kann, s. Lehrbücher der Kinderneurologie. Sprechstörungen (Stottern, Dysarthrophonie), jedoch nicht
von Aphasie begleitet. Die neuropsychologischen Ausfälle sind
meist erstaunlich gering, allenfalls findet man eine Schreib-
35.1.1 Zentrale Bewegungsstörungen Lese-Schwäche. Oft haben die Kinder fokale oder generali-
nach frühkindlicher Hirnschädigung sierte Anfälle.
(infantile Zerebralparesen)
Extrapyramidale Bewegungsstörungen
Spastische Parese Athetose
Die spastische Parese tritt bei doppelseitigen, meist perina- 3Ursachen und Symptome. Die athetotische Bewegungs-
talen Läsionen vor allem als spastische Paraparese auf (Little- störung betrifft in reinen Fällen vor allem die Hände und Füße.
Krankheit). Dabei ist die spastische Tonuserhöhung stärker Als Athetose bezeichnet man unwillkürlich, langsame, ausfah-
ausgeprägt als die Lähmung. Betroffen sind vor allem die rende und wurmartige Bewegungsmuster. Diese Bewegungen
Adduktoren der Beine, die Strecker im Kniegelenk und die wechseln bei emotionaler Anspannung verstärkt und sistieren
Plantarflektoren des Fußes. Schon in der Ruhe sind die Ober- im Schlaf. Der Muskeltonus wechselt, die Überstreckung der
schenkel einwärts rotiert und die Knie aneinandergepresst distalen Fingergelenke mit schraubenden Bewegungen verhin-
35 oder die Oberschenkel überkreuzt, und es besteht ein doppel- dert oft eine gezielte Willkürmotorik. In der Gesichtsmusku-
seitiger Spitzfuß. Die Gangstörung der Kranken ist so charak- latur imponiert die Athetose als Grimassieren. Bei stärkerer
teristisch, dass sie oft die Diagnose auf den ersten Blick gestat- Ausprägung sind auch proximale Muskelgruppen und Gesicht
tet: Die Patienten gehen fast auf den Zehenspitzen und müssen betroffen. Die Athetose tritt einseitig (Hemiathetose) oder
die Beine mühsam aneinander vorbeischieben. Die Intelligenz doppelseitig auf (Athétose double). Sie ist selten das einzige
ist meist normal. Anfälle gehören nicht zum klinischen Bild. neurologische Symptom. Meist ist sie mit spastischen Lähmun-
Mit der Altersinvolution des Gehirns verschlechtert sich die gen, choreatischen oder torsionsdystonischen Bewegungsstö-
Paraspastik und damit die Gangstörung. Ohne Kenntnis der rungen kombiniert. Oft ist das Sprechen artikulatorisch schwer
Vorgeschichte nimmt man dann leicht irrtümlich einen pro- gestört.
gredienten Prozess, z. B. einen Rückenmarktumor, an, beson-
ders wenn die Symptome vorher nicht ausgeprägt waren und Hemiathetose: Sie kommt im frühen Kindesalter als Folge
nie als solche diagnostiziert wurden. einer umschriebenen, perinatalen Hirnschädigung oder Infek-
tionskrankheit mit zerebraler Beteiligung vor. Bei Erwachse-
3Diagnostik. In der MRT findet man häufig auch bei nen kann sie sich im Abstand von Wochen oder Monaten an
klinisch auffälligen Kindern keine zerebralen Substanzde- einen Linsenkerninfarkt mit Hemiplegie anschließen. Die Be-
fekte. Abhängig vom Muster der Schädigung (s.o.) findet man wegungsstörung schreitet, wenn sie ihre volle Entwicklung
beispielsweise Residuen einer PVL mit häufig parietookzipi- erreicht hat, nicht fort, so dass die Lebenserwartung nicht ver-
tal betonten periventrikulären Gliosen, einem Defizit der mindert ist.
weißen Substanz und verschmächtigtem hinteren Balkenan-
teil sowie irregulärer Kontur der e vacuo erweiterten Hinter- Athétose double: Meist Ausdruck einer perinatalen Hirnschä-
hörner oder bei Schädigung zu anderen Zeitpunkten der Ent- digung (Hypoxie, Kernikterus). Die Symptome setzen bereits
wicklung die oben beschriebenen Muster von Defekten und/ im 1. Lebensjahr ein, sie bleiben dann aber oft noch unerkannt,
oder Gliosen. da den Eltern vielfach der Unterschied zwischen der patholo-
Da sich die Schädelkalotte der Hirnoberfläche anpasst, gischen und der normalen Motorik des Kleinkindes nicht be-
entsteht der Eindruck der sog. Hemiatrophia cerebri mit ein- kannt ist. Erst am Ende des ersten Jahres fällt eine Verzögerung
seitiger Ventrikelerweiterung. Bei spastischer Diplegie und der motorischen Entwicklung der Kinder auf. Häufig bestehen
35.2 · Hydrozephalus und Arachnoidalzysten
767 35
Exkurs
Krankengymnastik bei perinataler Hirnschädigung
Eine sehr große Bedeutung hat die Krankengymnastik nach assoziierten Bewegungen und Abnormitäten im Muskeltonus
der Bobath- und nach der Vojta-Methode. Sie muss bereits unter Ausnutzung der verschiedenen Stell- und Stützreak-
vor Vollendung des ersten Lebensjahres einsetzen. Da die tionen zu hemmen. Das Kind lernt gleichsam, die physiolo-
Hirnschädigung ein nicht ausgereiftes Gehirn betroffen hat, gische motorische Entwicklung nachzuholen. Jeder moto-
muss die krankengymnastische Behandlung völlig anders rische Entwicklungsschritt wird erst dann erworben, wenn der
sein als beim Erwachsenen. Das Ziel ist die Entwicklung von vorangehende halbwegs beherrscht wird, so dass die Kinder
normalen Haltungen und Bewegungsabläufen bei Normali- die erlernten, normalen Bewegungen und Haltungen auch
sierung des Muskeltonus im ganzen Körper. Da die Lähmun- außerhalb der Übungssituation beim Spielen und den Verrich-
gen und Hyperkinesen zum großen Teil auf primitiven, pa- tungen des täglichen Lebens anwenden.
thologischen Reflexen beruhen, versucht man, die störenden

epileptische Anfälle. Viele Kinder zeigen einen geistig-seeli- wird, ist normal. CTs sollten aus Gründen des Strahlenschutzes
schen Entwicklungsrückstand. nicht durchgeführt werden.

3Therapie und Prognose. Die Behandlungsmöglichkeiten 3Prognose. Wenn sich Familie und Schule auf die Behin-
sind begrenzt. Die einzige erfolgversprechende Therapie ist derung und Reifungsverzögerung der Kinder einstellen, ist die
die krankengymnastische Übungsbehandlung z.B. nach der langfristige Prognose nicht ungünstig.
Bobath-Methode: Es handelt sich dabei um Übungen, die die
Enthemmung primitiver Bewegungsschablonen bei zentralen
Motilitätsstörungen berücksichtigen. Die Prognose ist bei vol- 35.2 Hydrozephalus und Arachnoidalzysten
ler Ausbildung ungünstig. Viele Kinder sterben vor der Puber-
tät. Bei leichteren Formen können die Kranken dagegen einen 35.2.1 Hydrozephalus
Beruf erlernen und ein höheres Alter erreichen. Die Intelligenz
ist in diesen Fällen nur wenig beeinträchtigt. 3Definitionen. Hydrozephalus bedeutet: Vergrößerung der
Liquorräume auf Kosten der Hirnsubstanz. Nach der Form un-
> Symptom-Trias der perinatalen Hirnschädigungen: terscheidet man den Hydrocephalus externus, bei dem die äuße-
4 Pyramidale oder extrapyramidale Bewegungs- ren Liquorräume erweitert sind, vom Hydrocephalus internus,
störungen bei dem die Ventrikel erweitert sind. Beide Formen sind häufig
4 Intelligenzdefekte und Verhaltensstörungen kombiniert.
4 Anfälle Nach der Ursache werden folgende Typen des Hydroze-
phalus unterschieden:
4 Hydrocephalus e vacuo: Dies ist eine kompensatorische
35.1.2 Minimale frühkindliche Hirnschädigung Liquorvermehrung bei Schwund des Hirngewebes. Sie führt
nicht zum Hirndruck.
Diese Störung wird auch mit der Abkürzung MCD (für mini- 4 Hydrozephalus durch Liquorzirkulationsstörungen:
male zerebrale Dysfunktion) belegt, die von Psychologen und Hier liegt ein Missverhältnis zwischen Produktion und Re-
Pädagogen gerne benutzt wird. sorption des Liquors vor. Entsprechend der Dynamik von Li-
quorproduktion und -resorption unterscheiden wir drei For-
3Symptome. Diese Kinder, die meist eine Risikogeburt men des Hydrozephalus:
hatten, fallen zunächst nur durch leichtes, motorisches Unge- 5 Hydrocephalus occlusus: Blockade des Liquorabflusses
schick auf, bis sie in der Schule versagen, sobald dort die auf Höhe eines Foramen Monroi, des Aquädukts oder der Fo-
Anforderungen gesteigert werden. Dabei ist ihr Intelligenzquo- ramina Luschkae und Magendii, den
tient nicht merklich erniedrigt, jedoch sind die Kinder moto- 5 Hydrocephalus malresorptivus/arresorptivus: Störung
risch unruhig und haben Konzentrationsstörungen. Neurolo- der Resorption des Liquors in den Pacchioni-Granulationen
gisch fällt auf, dass sie in bestimmten motorischen Leistungen des Subarachnoidalraums über den Hemisphären, mit dem
hinter ihrem Lebensalter zurückgeblieben sind: Einbeinstand, 5 Hypersekretionshydrozephalus: Vermehrte Liquorpro-
Einbeinhüpfen, Gleichgewichtsregulation beim Seiltänzergang, duktion (selten).
Klavierspielbewegungen mit den Fingern. Die Handschrift ist
unregelmäßig und verzittert. Das Sprechen ist oft mangelhaft Alle Formen des Hydrozephalus sind durch eine mehr oder
artikuliert, überhastet oder verlangsamt. Die psychologische weniger ausgeprägte, kontinuierliche oder diskontinuierliche
Testuntersuchung deckt oft auch perzeptive Störungen auf. Erhöhung des intrakraniellen Drucks gekennzeichnet. Beim
Manchmal liegt eine Legasthenie vor. frühkindlichen Hydrozephalus kann der Schädeldurchmesser
erheblich zunehmen, da hier die Wachstumsfugen der Schä-
3Diagnostik. Das EEG trägt nur wenig zur Diagnose bei. delknochen noch nicht geschlossen sind. Manchmal bildet sich
Das MRT, das zum Ausschluss anderer Ursachen durchgeführt ein stabiles Gleichgewicht mit fortbestehender Ventrikelerwei-
768 Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

Exkurs
Physiologie der Liquorzirkulation
Der Liquor wird hauptsächlich von den Plexus chorioidei wird vor allem in den Kapillaren der weichen Hirnhäute, in den
sezerniert. Er fließt von den Seitenventrikeln durch den Pacchioni-Granulationen über der Hirnkonvexität und in den
III. Ventrikel und den Aquädukt in den IV. Ventrikel, den er Scheiden der Rückenmarksnerven resorbiert. Pro Tag werden
durch die beiden Foramina Luschkae und das Foramen etwa 150–250 ml Liquor produziert. . Abbildung 35.1 zeigt
Magendii verlässt. Über die basalen Zisternen gelangt er in die Anatomie des Ventrikelsystems.
den Subarachnoidalraum des Gehirns und Rückenmarks. Er

terung aus, aber ohne klinische Progredienz und ohne Dru- Je nach Ursache des Aquäduktverschlusses kommen noch
ckerhöhung. Die Umkehr der Flussdynamik des Liquors ohne Herdsymptome des Dienzephalons und Mittelhirns wie Pa-
Strömungsbehinderung und mit nur geringer Druckzunahme rinaud-Syndrom, Konvergenzparese und Konvergenzspas-
wird als Hydrocephalus communicans oder Normaldruckhy- men, hinzu.
drozephalus bezeichnet. Aquäduktstenosen stellen eine relative Behinderung des
Liquorabflusses dar, und es kann ein Gleichgewicht von ge-
ringgradig erhöhtem Ventrikelinnendruck und vergrößerter
Hydrocephalus occlusus Ventrikelweite entstehen. Eine Abflussstörung kann außerdem
Er entsteht durch Tumoren der hinteren Schädelgrube bedingt sein.
4 bei Behinderung des Liquorabflusses aus einem oder bei- Ein frühkindlich erworbener Hydrozephalus kann zu einer
den Seitenventrikeln (Foramen-Monroi-Blockade), extremen Erweiterung der Ventrikelräume mit einer Zusam-
4 durch Zysten im III. Ventrikel, die wie ein Ventil wirken menpressung der Hirnrinde auf wenige Millimeter Dicke füh-
können (. Abb. 35.2) ren (. Abb. 35.3). Es ist manchmal erstaunlich, welch ausge-
4 durch anlagebedingte oder entzündlich verursachte Aquä- dehnte, chronische Hydrozephali bei Erwachsenen mit mas-
duktstenose oder -verschluss oder siver Kompression des Hirnparenchyms nahezu symptomlos
4 durch Blockade der Foramina Magendii und Luschkae auf bestehen können. In diesen Fällen handelt es sich um einen
Höhe des IV. Ventrikels. Hydrozephalus mit nur geringen, aber lange andauernden
Druckgradienten, der früh zu einer sehr langsamen Verdrän-
Aquäduktstenosen mit Hydrocephalus occlusus können an- gung des Hirnparenchyms gegen die Kalotte geführt hat, und
geboren oder erworben sein. Erworbene Aquäduktstenosen dann nicht mehr progredient war.
sind meist postinfektiös oder treten posthämorrhagisch bei
Frühgeborenen mit Blutungen in die germinale Matrix und mit Hydrocephalus malresorptivus
35 Ventrikeleinbruch auf. Nur selten entspricht die Klinik der Der Liquor wird zum größten Teil über den Großhirnhemis-
eines akuten Verschlusshydrozephalus, viel häufiger ist die phären in den Pacchioni-Granulationen resorbiert. Eine Ver-
chronische Hydrozephalussymptomatik mit minderung der Resorptionsrate des Liquors nach Subarachno-
4 Verlangsamung,
4 Antriebsarmut,
4 enthemmten Greifreflexen und
4 Somnolenz.

. Abb. 35.2. Kolloidzyste im III. Ventrikel. MRT, T1 mit Kontrast-


verstärkung: Man sieht eine große Zyste, die KM aufnimmt und eine
. Abb. 35.1. Die Lage des Ventrikelsystems im Gehirn. leichte Erweiterung des Seitenventrikels (Hydrozephalus occlusus)
(Nach Duus 1995) hervorruft
35.2 · Hydrozephalus und Arachnoidalzysten
769 35
leichte Schädel-Hirn-Traumen oder einzelne epileptische An-
fälle mit prolongierter Bewusstlosigkeit und extrem langer
Reorientierungsphase.

Kombinierte Fehlbildungen
Mit anderen Fehlbildungen verbundene Hydrozephalusformen
können sehr schwere Mehrfachbehinderungen mit angebo-
renem Intelligenzmangel, schweren Residualepilepsien, Quer-
schnittssyndrom oder spastischen Lähmungen und sensori-
schen Defiziten zeigen.
Der kongenitale Verschlusshydrozephalus tritt meist mit
anderen Fehlbildungen wie Meningomyelozele, die häufig mit
der Chiari-2-Fehlbildung einhergeht, oder dem Dandy-Wal-
. Abb. 35.3. Ausgeprägter chronischer Hydrozephalus bei einem kli- ker-Syndrom auf, die weiter unten besprochen werden.
nisch unauffälligen Erwachsenen
3Diagnostik.
4 MRT und CT. Bei der Diagnostik und Therapiekontrolle
idal- oder Ventrikelblutung, Meningitis und Meningoenzepha- des kindlichen Hydrozephalus haben das CT und das MRT
litis oder bei einer Meningeosis carcinomatosa führt zum Hy- einen entscheidenden Fortschritt gebracht. Außer in der Not-
drozephalus durch Ungleichgewicht von Liquorproduktion fallsituation einer akuten Hirndrucksymptomatik wird zur
(normal) und Liquorresorption (vermindert). diagnostischen Abklärung die MRT (ggf. einschließlich Li-
quorflussmessungen) eingesetzt.
Akuter und chronischer Hydrozephalus Wird insbesondere bei klinischer Verschlechterung nach
Akuter Hydrozephalus: Hier tritt eine schnelle Druckerhö- Liquorableitung (Shuntanlage) eine CT durchgeführt, muss bei
hung im Ventrikelsystem ein. Diese resultiert aus einer plötz- Kindern die Strahlendosis altersentsprechend reduziert wer-
lichen Blockade des Liquorabflusses (Tumor, Ventrikelblutung) den (rotes Knochenmark der Schädelknochen) und die Linse
oder aus einer Störung der Resorption bei/nach akuter Suba- durch Kippung ausgespart werden. Veränderungen der Vent-
rachnoidalblutung oder Meningitis. rikelweite und die Lage des Shuntspitze sind auch bei ernied-
Klinisch entsteht hierbei eine schnell eintretende Bewusst- rigter Strahlendosis und Signal-Rausch-Verhältnis ausreichend
seinsstörung, Kopfschmerzen, ggf. epileptische Anfälle und ein beurteilbar.
Einklemmungssyndrom. Noch bevor man eine klinisch messbare Zunahme des
Schädelumfangs feststellt, kann eine Vergrößerung des Ventri-
Chronischer Hydrozephalus: Der chronische Hydrocepha- kelsystems auf einen beginnenden Hydrozephalus hinweisen
lus malresorptivus und chronische Formen des okkludie- und eine frühzeitige Therapie ermöglichen.
renden Hydrozephalus haben dagegen nur einen geringen CT und MRT zeigen die Ausdehnung des Ventrikelsystems
Druckgradienten. Selbst ganz geringe Druckerhöhung im und lassen, je nach der Verteilung der Erweiterung, schon
Ventrikel kann über die Zeit eine erhebliche Erweiterung des Rückschlüsse auf die Ätiologie zu.
Ventrikelsystems bewirken (Luftballonprinzip). 5 Wenn die Seitenventrikel und der III. Ventrikel erweitert
Solange die Schädelnähte noch nicht verschlossen sind, sind, der IV. Ventrikel hingegen nicht, so kommt eine Aquä-
kann die Kalotte dem zunehmenden Druck des gestauten duktstenose in Frage.
Liquors nachgeben und sich vergrößern. Der Umfang des 5 Das MRT ist besonders bei komplexen Missbildungen in
Hirnschädels nimmt dann rasch zu. Die Fontanellen sind er- der Lage, die anatomischen Beziehungen zwischen Hydro-
weitert, gespannt oder vorgewölbt und pulsieren nicht. Die zephalus und dem Gewebe darzustellen. Hierfür sind vor allem
Nähte sind als breit klaffende Spalte zu tasten. Pupillen und sagittale T1-Sequenzen sinnvoll.
Iris verschwinden unter dem Unterlid (Zeichen der unter- 5 Die MR-Diagnostik kann mit liquorflusssensitiven Se-
gehenden Sonne). In dem Maße, in dem das Gehirn trotz die- quenzen den Liquorfluss im Aquädukt exakt darstellen. Die
ser Schädelvergrößerung geschädigt wird, zeigen die Kinder Darstellung ist so genau, dass beim Gesunden der pulsabhän-
pyramidale und extrapyramidale Symptome, sie erbrechen gige Fluss des Liquors aus dem III. Ventrikel in den Aquädukt
und werden schläfrig. Sind nach dem 4. Lebensjahr die Nähte gesehen werden kann.
geschlossen, wirkt sich der Flüssigkeitsdruck vor allem auf 5 Auch bei der Verlaufskontrolle ermöglichen CT und MRT
das Gehirn aus, so dass bald ein allgemeiner Hirndruck ent- das frühzeitige Erkennen postoperativer, subduraler Ergüsse
steht. Die Kinder klagen über Kopfschmerzen, die Schädel- und Hämatome, wie sie nach dem Kollaps des Ventrikelsys-
venen sind gestaut. Neurologisch treten früh pathologische tems infolge einer liquorableitenden Operation (s.u.) nicht
Reflexe auf. selten beobachtet werden.
Viele Patienten mit einem chronischen, anlagebedingten 4 Liquordruckmessung: Die lumbale Liquordruckmessung
oder postmeningitischen Hydrozephalus sind klinisch unauf- hat heute keine diagnostische Bedeutung mehr. Die Ventrikel-
fällig. Sie sind allerdings extrem empfindlich gegen zusätz- druckmessung über einen Ventrikelkatheter erfolgt nur bei der
liche Schädigungen des Nervensystems und reagieren z.B. auf therapeutischen Liquordrainage.
770 Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

3Therapie. Sofern der Hydrozephalus nicht infolge einer zenden Hirnstrukturen und eine Ausdünnung der angren-
Druckatrophie der Plexus chorioidei spontan zum Stillstand zenden Kalotte.
kommt (arrested hydrocephalus), wird er folgendermaßen be-
handelt: 3Epidemiologie. Asymptomatische Arachnoidalzysten
4 Beim akuten Hydrozephalus erfolgt eine notfallmäßige kommen bei etwa 1–5% der Normalbevölkerung in mehr oder
Drainage des Liquors nach außen, später Anlage eines ven- weniger ausgedehnter Form vor. Symptomatische Arachnoi-
trikuloatrialen oder ventrikuloperitonealen Shunts. Wenn der dalzysten sind sehr selten. Männer sind häufiger betroffen.
Aquädukt von dorsal durch einen Tumor komprimiert wird, ist Arachnoidalzysten können multipel auftreten und selten Teil
die Therapie durch die Behandlung der Tumorerkrankung eines komplexen Fehlbildungssyndroms mit Porenzephalie,
vorgegeben. Hydrozephalus, Fehlbildungen des kraniozervikalen Über-
4 Shunt-Operation: Bei diesem Eingriff wird durch einen gangs oder Meningomyelozelen sein.
Ventilkatheter eine künstliche Verbindung zwischen dem
(rechten) Seitenventrikel und dem rechten Herzvorhof oder 3Lokalisation. Typische Lokalisation für Arachnoidalzys-
der Bauchhöhle geschaffen, so dass der Liquor, sobald sein ten sind die mittlere Schädelgrube (Umgebung des vorderen
Druck eine bestimmte Höhe erreicht hat, unter Umgehung des Temporallappens), die hintere Schädelgrube (über den Klein-
Aquädukts abgeleitet wird. Risiken der Methode sind Infek- hirnhemisphären), die supraselläre Region und die Zisternen
tion, Verstopfung des Ventils und Überdrainage durch zu der Vierhügelplatte. Arachnoidalzysten über der Hirnkonvexi-
niedrigen Ventildruck. Dabei kann es zu Subduralergüssen tät sind dagegen selten. Parietale Arachnoidalzysten sind häu-
oder Blutungen kommen. Gelegentlich kommt es auch zu figer sekundär (posttraumatisch, nach Entzündungen oder
Shuntdysfunktion oder Diskonnektion mit rasch auftretenden nach Durchblutungsstörungen).
Hirndruckkrisen mit Benommenheit oder Bewusstlosigkeit.
Deshalb sollten alle Shunträger einen entsprechenden Pass bei 3Symptome. Die Symptome können durch
sich tragen. 4 lokale Raumforderung (fokale neurologische Symptome
4 Eine isolierte Aquäduktstenose kann heute stereotaktisch mit fokaler Epilepsie oder Halbseitenlähmung) oder
eröffnet werden. Ist eine Dilatation des Aquädukts nicht mög- 4 durch Druck mittelliniennaher Arachnoidalzysten auf den
lich, stehen eine Fenestrierungsoperation mit Ableitung des Aquädukt oder den III. Ventrikel mit Hydrozephalus entstehen.
Liquors in den zisternalen Arachnoidalraum oder eine Shunt- 4 Hirnnervenausfälle und endokrinologische Störungen
anlage zur Auswahl. sind selten.
4 Plötzliches Zystenwachstum durch eine Art Ventilmecha-
> Lebensbedrohliche, akute Steigerungen des Ventri-
nismus kann auch im höheren Lebensalter die Zysten sympto-
keldrucks werden durch eine Liquoraußenableitung
matisch werden lassen.
(Ventrikeldrainage) behandelt.
4 Innerhalb des erweiterten Subarachnoidalraums verlaufen
35 gestreckte Brückenvenen. Deshalb sind die Patienten durch
35.2.2 Arachnoidalzysten Blutungen infolge des Einrisses dieser Venen gefährdet. Die
meisten Arachnoidalzysten bleiben symptomlos.
3Definition. Arachnoidalzysten sind umschriebene Er-
weiterungen des Subarachnoidalraums, die meist durch eine 3Diagnostik. Die liquorisodensen Zysten sind in CT und
frühkindliche Anlagestörung der Meningen, seltener nach MRT als liquorisodense bzw. isointense Regionen sehr gut
Traumen oder nach Entzündungen entstehen. Als zystische zu erkennen. Typisch sind die begleitenden Hypoplasien von
Erweiterungen können sie raumfordernden Charakter an- benachbarten Hirnstrukturen (Kleinhirn, Temporallappen;
nehmen. Viel häufiger ist jedoch eine Hypoplasie der angren- . Abb. 35.4).

. Abb. 35.4. Temporale Arachnoidalzyste


(a) axial T2, (b) koronar T1 (Pfeile)

a b
35.3 · Syringomyelie
771 35
3Therapie und Verlauf. Die wenigsten Patienten benötigen 4 Die Schmerz- und Temperaturempfindung fällt zunächst
eine spezifische Therapie. Auch wenn epileptische Anfälle auf- halbseitig oder jedenfalls asymmetrisch auf der segmentalen
treten, reicht meist eine Höhe aus, in der der Prozess beginnt, d.h. an den Händen und
4 medikamentöse antikonvulsive Behandlung. Armen. Später ergreift sie Schulter, Hals und Thorax.
4 Eine Operation (offene Zystenentleerung, Shunt-Opera- 4 Die Ausdehnung der sekundären Höhlenbildung nach kra-
tion) kann notwendig werden, wenn Zystenwachstum mit nial kann nach traumatischer Querschnittsläsion dazu führen,
akuten neurologischen Symptomen bewiesen ist. Punktierte dass neue Symptome, z.B. atrophische Paresen in Muskelgruppen,
Zysten können rezidivieren. auftreten, die oberhalb der Querschnittshöhe liegen. Dies kann,
vor allem bei ursprünglich tief zervikal gelegenen Läsionen,
eine erhebliche Verschlechterung des Behinderungsgrads be-
35.3 Syringomyelie wirken. (Beispiel: traumatischer Querschnitt auf Höhe Th1,
dadurch Funktionsstörung der C8-versorgten kleinen Hand-
3Definition. Die Syringomyelie ist durch klinische Krite- muskeln, ansonsten gute Funktionsfähigkeit beider Arme.
rien, wie Erkrankungsalter, Symptomatik und Verlauf gut cha- Durch eine traumatische, zervikale Syrinx Vorderhornzelläsion
rakterisiert, hat jedoch keine einheitliche ätiologische Grund- der Wurzeln C7, damit Schwäche in den für die Rollstuhlfortbe-
lage. Männer haben etwa doppelt so häufig wie Frauen eine wegung besonders wichtigen Trizepsmuskeln.)
anlagebedingte Syringomyelie. Die Symptome setzen meist 4 Wenn durch Ausdehnung der Höhle auch der Tr. spino-
zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr ein. Alle Formen der thalamicus lädiert wird, kommt es kontralateral zur dissoziier-
Syringomyelie finden sich bevorzugt im Hals- und Brustmark, ten Empfindungsstörung in tieferen Segmenten des Körpers.
sehr viel seltener (und nie isoliert) im Lendenmark. Häufig In der Regel erleben die Patienten diese Gefühlsstörung
erstreckt sich der Prozess nach rostral in die Medulla oblonga- zunächst nicht als krankhaft, sondern vermerken nur, dass sie
ta hinauf (Syringobulbie). Es kommen auch mehrere Höhlen »nicht besonders wehleidig« sind oder besonders gut heiße
in verschiedenen Abschnitten des Rückenmarks vor. Gegenstände anfassen können. Als Beispiel hierfür wird gern
Als sekundäre Syringomyelie bezeichnet man eine zen- an Mucius Scaevola erinnert, der seine Hand ins Feuer hielt,
trale Höhlenbildung im Rückenmark nach Meningitis, spinaler um die Etrusker von seiner Furchtlosigkeit zu überzeugen. Im
Subarachnoidalblutung, spinalem Trauma oder auch als Li- Laufe der Jahre führt die Analgesie und Thermanästhesie aber
quorzirkulationsstörung bei spinalen Tumoren. zu Verbrennungen an den Händen, Armen und Schultern und
zu schlecht heilenden Verletzungen an den distalen Enden der
3Pathologisch-anatomische Befunde. Man findet eine Finger, oft mit erheblichen Verstümmelungen (Maladie de
längs ausgedehnte Höhlenbildung im Rückenmarksgrau, die Morvan). Viele Kranke suchen erst dann den Arzt auf.
von der Region der hinteren oder vorderen Kommissur aus- 4 Die schlechte Heilungstendenz der Verletzungen und Ver-
geht und von einer dorsalen Gliose umgeben ist (griech. syrinx, brennungen ist nicht nur dadurch zu erklären, dass der Ausfall
Flöte). Mikroskopisch ist der Prozess auf das Grau des Rücken- der nozizeptiven Sensibilität die Patienten der Warnsignale
marks und unteren Hirnstamms beschränkt. Die langen Bah- beraubt, die den Gesunden veranlassen, eine verletzte Glied-
nen sind nicht direkt betroffen, werden aber sekundär durch maße zu schonen. Sie beruht auch auf trophischen Störungen
Druck und Zirkulationsstörungen geschädigt. Makroskopisch durch Läsion der sympathischen Ganglienzellen im Seiten-
findet man das Rückenmark meist an den betroffenen Stellen horn des Rückenmarks.
aufgetrieben. Darüber sind die weichen Häute verdickt, ge- 4 Klinisch zeigen sich diese vor allem als tatzenartige Schwel-
trübt und mit der Dura verwachsen. lung der Hände mit livider, kühler, teigig-schilfriger Haut,
glanzlosen, brüchigen Nägeln und Entkalkung der Knochen.
3Symptomatik und Verlauf. Das klinische Bild entspricht 4 Die Unterbrechung der zentralen sympathischen Fasern
einer chronischen Entwicklung der vorn besprochenen zentra- führt oft zum Horner-Syndrom und zur Störung der Schweiß-
len Rückenmarksschädigung. sekretion. Segmental oder quadrantenförmig angeordnet,
4 Häufig entwickelt sich als erste Erscheinung eine disso- kommt es zur Anhidrosis.
ziierte Sensibilitätsstörung. Sie beruht auf Unterbrechung der 4 Spontan klagen die Patienten häufiger über eine kompen-
spinothalamischen Fasern in ihrem Verlauf vom Hinterhorn satorische Steigerung der Schweißsekretion in den benachbar-
durch die vordere Kommissur des Rückenmarks. ten Gebieten.

Exkurs
Syringobulbie
Bei Syringobulbie findet sich regelmäßig ein horizontaler Trigeminus zwiebelschalenförmig angeordnet ist. Schmerzen
Nystagmus mit rotierender Komponente ohne Schwindel- sind im Gesicht weit seltener als an den Armen. Durch die
gefühl. Ein weiteres Frühsymptom ist die einseitige Ab- Läsion der motorischen Hirnnervenkerne kann es zu atro-
schwächung des Kornealreflexes durch Läsion des Nucleus phischer Parese der Kaumuskulatur (V), des Gaumensegels (X)
oder Tr. spinalis N. trigemini. Bei genauer Untersuchung kann und der Zunge (XII), seltener des M. sternocleidomastoideus
man oft eine dissoziierte Empfindungsstörung im Gesicht (XI) mit Kau- und Schluckstörungen und Dysarthrophonie
nachweisen, die nach der zentralen Repräsentation des kommen.
772 Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

4 Schließlich sind auf die Störung der sympathischen Inner-


vation die bohrenden, ziehenden und brennenden Dauer-
schmerzen in den Armen, den Schultern und am Thorax zu-
rückzuführen, die ein sehr charakteristisches Frühsymptom
der Krankheit sind. Sie lassen sich durch Analgetika kaum be-
einflussen.
4 Läsion der Vorderhörner führt zu atrophischen Paresen,
die sich, ebenfalls meist symmetrisch, von den Handmuskeln
zum Schultergürtel ausdehnen.
4 Unterschenkel und Füße sind wesentlich seltener peripher
gelähmt. Die Eigenreflexe sind an den Armen in wechselnder
Verteilung abgeschwächt oder erloschen.
4 Durch Druck auf die Pyramidenbahnen entwickelt sich eine
zentrale Paraparese der Beine. Diese äußert sich meist nur als
Reflexsteigerung und Auftreten von pathologischen Reflexen,
seltener als spastische Tonuserhöhung und Lähmung. Im Ge-
gensatz zu den Gefühlsstörungen und nukleären Paresen sind
diese motorischen Strangsymptome in der Regel doppelseitig.
> Typische Symptome einer Syringomyelie sind
4 Trophische Störungen und Verstümmelungen an
den Händen . Abb. 35.5. Ausgedehnte cervikothorakale und lumbale Syrin-
4 Horner-Syndrom gomyelie im MRT (T1)
4 Segmentale Verminderung der Schmerzempfin-
dung
4 Bei nicht beherrschbaren Schmerzen neurochirurgische
4 Reflexdifferenzen
Schmerzbehandlung.
Die Symptome entwickeln sich in langsamem Fortschreiten
über mehrere Jahrzehnte. Das Tempo des Prozesses kann sich Hinter manchen Fällen, die in der Praxis unter den nichtssa-
dabei vorübergehend beschleunigen oder verlangsamen. Re- genden Bezeichnungen »Schulter-Arm-Syndrom«, »Zervikal-
missionen treten nicht ein. Im Endstadium haben die Kranken syndrom« antineuralgisch behandelt werden, verbirgt sich eine
eine inkomplette Querschnittslähmung mit atrophischen Läh- Syringomyelie. Bei hartnäckigen, bewegungsunabhängigen
mungen an den Armen und spastischer Paraparese der Beine. Schulter-Arm-Schmerzen soll man immer anamnestisch nach
35 Etwa ein Drittel der Patienten hat eine Blasenlähmung. besonderer Unempfindlichkeit für Schmerz- und Temperatur-
reize fragen und auf Zeichen einer Syringomyelie achten.
3Diagnostik. In der MRT ist die Höhlenbildung im Rü- 4 Bei lumbosakraler Spina bifida können gleichzeitig Fehl-
ckenmark (hyperintens in T2, hypointens in T1) sehr gut zu bildungen des kaudalen Rückenmarks z.B. eine Meningomye-
erkennen (. Abb. 35.5). lozele mit schlaffer Paraparese der Beine, sensiblem Kaudasyn-
Neurophysiologische Untersuchungen helfen, die Aus- drom und Blasenstörungen vorliegen. Schlaffe Lähmungen der
dehnung der peripheren Paresen zu dokumentieren. Evozierte Beine kommen bei Syringomyelie nicht vor, auch ist bei dieser
Potentiale und transkranielle, motorische Stimulation können das Lendenmark nie isoliert betroffen.
im Verlauf eine Zunahme der Funktionsausfälle erfassen. Stö- 4 Auch die hereditären Neuropathien (HMSN, 7 Kap. 32.5)
rungen der Schweißsekretion werden im Ninhydrintest objek- lassen sich dadurch leicht von Syringomyelie abgrenzen, dass
tiviert. die Symptome stets an den Beinen beginnen und die Läh-
mung schlaff bleibt. Eine Beeinträchtigung der Temperatur-
3Therapie und Schmerzempfindungen mit trophischen Störungen bis
4 Sofern ein Hydrocephalus internus durch Abflussbehin- hin zu schweren, infizierten Ulzerationen kommt bei der
derung vorliegt, wird eine Shunt-Operation vorgenommen. hereditären, sensiblen Neuropathie sowie bei der chronisch
Die Syringostomie besteht darin, dass die spinale Höhle von verlaufenden Polyneuropathie durch primäre Amyloidose
dorsal eröffnet wird, um einen Katheter zwischen Syrinx und (Diagnose: Verlangsamung der Nervenleitgeschwindigkeit,
Subarachnoidalraum einzulegen, der an der Pia mater ange- Biopsie der Rektumschleimhaut) vor.
näht wird.
4 Manche Autoren empfehlen zusätzlich eine subokzipitale
Dekompression. 35.4 Phakomatosen
4 Konservativ kann man krankengymnastisch behandeln. (neurokutane Fehlbildungen)
4 Gegen die Spastik gibt man Baclofen (z. B. Lioresal®), Dan-
trolen-Na (z.B. Dantamacrin®) oder Tizanidin (z.B. Sirda- Phakomatosen sind neurokutane Krankheiten mit Nävi und
lud®), gegen Schmerzen eine Kombination von Analgetika Tumorbildung. Zu ihnen zählen neben der Sturge-Weber-
und trizyklischen Antidepressiva. Krankheit und der Hippel-Lindau-Krankheit, die beide im
35.4 · Phakomatosen (neurokutane Fehlbildungen)
773 35
Exkurs
Fehlbildungen von Gehirn und Rückenmark
Fehlbildungen des zentralen Nervensystems können viel- ständiges Fehlen der Gyri = komplette Lissenzephalie; Pachy-
gestaltig sein und haben verschiedenen Ursachen. Im gyrie: wenige, verbreiterte, flache Gyri = inkomplette Lissenz-
Folgenden werden weitere wichtige Fehlbildungen kurz ephalie; . Abb. 35.6a), mit abnormen, kleinen Gyri (Poly-
erläutert. mikrogyrie . Abb. 35.6e) und fokale »Wanderung- und Orga-
nisationsstörungen« der kortikalen Neurone (Heterotopien
Status dysraphicus . Abb. 35.6b, fokale kortikale Dysplasien), Spaltbildung
Der Status dysraphicus ist eine Defektkonstitution, die selbst (Schizencepahlie . Abb. 35.6d). Sämtliche dieser Entitäten
kein progredientes Leiden darstellt, aber mit chronischen, werden mittels MRT diagnostiziert und nach Art, Ausdehnung
dystrophischen und degenerativen Krankheiten des Zentral- und assoziierten Fehlbildungen klassifiziert.
nervensystems, vor allem der Syringomyelie, assoziiert sein
kann. Klinisch findet man bei den betroffenen Personen die Anlagestörungen des Corpus callosum
folgenden Fehlbildungen in mehr oder weniger zahlreicher Der Balken kann komplett (Balkenagenesie) . Abb. 35.6c
Kombination: Trichter- oder Rinnenbrust, auffallend dünne, oder partiell (Balkenhypogenesie) fehlen. Der Balken formt
lange Hände und Finger mit harter Haut (Arachnodaktylie), sich von ventral nach okzipital. Bei Hypogenesien können
weiter sind Kyphoskoliose, Mammadifferenzen, Überlänge dementsprechend die hinteren Balkenanteile fehlen. Im Ge-
der Arme (Spannweite größer als Körperlänge), Fußdeformi- gensatz dazu kann eine Hypogenesie nicht vorliegen, wenn
täten und Spina bifida occulta relativ häufig. Weitere sog. das Splenium regelrecht angelegt ist und ein Defekt im vor-
dysraphische Stigmata sind Irisheterochromie, angeborenes deren Balkenkörper besteht, hierbei muss es sich um eine
Horner-Syndrom, hoher »gotischer« Gaumen und Behaa- umschriebene Schädigung (z.B. nach frühkindlicher Ventrikel-
rungsanomalien. Allen gemeinsam ist der unvollständige drainage, sekundäre Verschmächtigung der Kommissurfasern
oder fehlerhafte Verschluss des Neuralrohrs und seiner so- bei Untergang der korrespondierenden weißen Substanz)
matischen Segmente. Die Diagnose erfolgt praktisch immer handeln.
durch die CT oder MRT. Bei einer Balkenagenesie oder -hypogenesie kann kom-
pensatorisch die hippokampalische Kommissur (Fornix) ver-
Anenzephalie größert sein, außerdem sind Commissura anterior und poste-
Die Anenzephalie, bei der das Gehirn entweder ganz (nicht rior erhalten. Anomalien des Corpus callosum sind häufig
lebensfähig, Totgeburt oder früher Abort) oder bis auf das mit weiteren Fehlbildungen assoziiert, beispielsweise Arnold-
Rautenhirn (Schnappatmung möglich, deshalb kurzzeitig Chiari-Malformation, Dandy-Walker-Malformation, Migrations-
lebensfähig) fehlt, ist die schlimmste Form der Entwicklung störungen.
des Neuroporus anterior. Es ist erstaunlich, wie wenig auffällig manche Patienten
mit ausgedehntem und manchmal vollständigem Balken-
Enzephalozelen mangel erscheinen. Psychomotorische Verlangsamung, Anfälle
Enzephalozelen sind dysraphische Störungen des dorsalen (nicht zuletzt wegen der anderen Fehlbildungen) und Zeichen
Neuralrohrschlusses. Auf Rückenmarkebene entspricht dem eines Hydrozephalus können hinzutreten. Während auf
die spinale Meningomyelozele. Es kommt zur Herniation von computertomographischen Aufnahmen der Balkenmangel
Gehirn und Hirnhäuten, meist im atlantookzipitalen Über- dem Unerfahrenen leicht entgehen kann, ist er im koronaren
gang. Enzephalozelen können auch frontal oder basal liegen. und sagittalen MRT nicht zu übersehen (. Abb. 35.6c).
Sie können z.T. sehr großes Ausmaß einnehmen, wenn sie
mit liquorgefüllten Zysten verbunden sind (. Abb. 35.6f ). Heterotopien
Die Symptome sind variabel. Bei großen Enzephalozelen Heterotopien sind »Nester« von grauer Substanz, die auf dem
besteht aber, wenn sie überlebt werden, immer eine schwere Entwicklungsweg an falscher Stelle »liegengeblieben« sind.
mentale Retardierung mit motorischen Störungen. Kleinere Man findet sie meist in der Nähe der Ventrikel, wo sie zu einer
Zelen können operiert werden, wenn die Kinder vorher nicht charakteristischen Vorwölbung des Ventrikelependyms in den
zu stark mental retardiert sind. Ventrikel führen (. Abb. 35.6b). Die klinischen Symptome sind
variabel und können von schweren Störungen und erheblicher
Fehlbildungen der zerebralen Kortexentwicklung Intelligenzminderung mit Anfällen bis zu Minimalvarianten mit
Hierzu gehören Fehlbildungen mit abnorm glattem Hirn- nur seltenen Anfällen, aber ansonsten normaler Entwicklung
relief (Lissenzephalie: flache Gyri und Sulci; Agyrie: voll- reichen.
774 Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

. Abb. 35.6. a Lissenzephalie. Die


axiale T2-gew. Sequenz zeigt ein nahezu
vollständiges Fehlen der Hirnfurchen.
Die Hirnoberfläche wirkt glatt. Deutliche
Erweiterung der inneren Liquorräume.
b Heterotopie. Um die Seitenventrikel
zeigt sich eine knotige Struktur (Pfeil),
welche isotintense Signalwerte zum Kor-
tex hat. Hierbei handelt es sich um hete-
rotope graue Hirnsubstanz in der ven-
trikelnahen Region. c Balkenagenesie.
Das Corpus callosum ist nicht angelegt,
typisch hierfür ist, dass die Hirnfurchung
radspeichenartig nach zentral zuläuft.
d Schizenzephalie. Offene Spaltenbil-
dung links frontal (sog. Open Lip-Schizen-
zephalie), bei der die inneren Liquorräume
über einen Spalt mit den äußeren Liquor-
a b
räumen kommunizieren. e Polymikro-
gyrie bifrontal. Hier liegt eine Störung
der frontalen Gyri vor mit abnormen klei-
nen und fehlorganisierten Hirnwindun-
gen. f Temporale Enzephalozele. Über
eine Spaltbildung rechts temporobasal
kommt es zu einem Prolaps von fehlent-
wickeltem temporalem Hirngewebe un-
terhalb der Schädelbasis. Kaudal hiervon
besteht eine zystische hyperintense For-
mation, welche einer ektopen Ansamm-
lung von Liquor (Meningezele) entspricht

35 c d

e f
35.4 · Phakomatosen (neurokutane Fehlbildungen)
775 35

. Tabelle 35.1. Diagnostische Kriterien der Neurofibromatosen. (Nach Meutner et al. 1995)
Neurofibromatose Typ 1 (2 von 6 Kriterien)
1. Mindestens 6 Café-au-lait-Flecken (größer als 5 mm präpubertal, größer als 15 mm postpubertal)
2. Neurofibrome oder ein plexiformes Neurofibrom
3. Optikusgliom
4. Mindestens zwei Irishamartome
5. Knochenveränderungen, wie Keilbeindysplasie oder Verdünnung der langen Knochen mit und ohne Pseudarthrose
6. Verwandter I. Grades mit NF-1 nach obigen Kriterien
Neurofibromatose Typ 2
1. Bilaterale Akustikusneurinome – Nachweis durch MRT
2. Bei einem Verwandten I. Grades mit NF-2 genügt das Vorhandensein von mindestens einem der folgenden Kriterien:
– Meningeom
– Gliom
– Schwannom
– präsenile Katarakt
Hier genügen zur Diagnose das Akustikusneuinom sowie eines der weiteren Symptome

7 Kap. 8 besprochen wurden, die Neurofibromatose von Reck- diagnostische Bedeutung nicht erkennt. Im höheren Lebensalter
linghausen und die tuberöse Sklerose, die wir hier vorstellen. werden die Alterswarzen der Haut, die ebenfalls in großer Zahl
auftreten können, leicht irrtümlich als Zeichen der Neurofibro-
matose angesehen. Gelegentlich entsteht ein lokaler Riesenwuchs
35.4.1 Neurofibromatose (NF) im Gesicht, am Kopf oder an den Extremitäten.

Die NF (Recklinghausen-Krankheit) ist gekennzeichnet durch 3Genetik. Die NF-1 wird autosomal-dominant vererbt, mit
4 Hautveränderungen, heterogenen Mutationen des auf Chromosom 17 lokalisierten
4 Neurinome der peripheren Nerven, Nervenwurzeln und Gens, das offensichtlich sehr groß ist. Daher gibt es, ähnlich
Hirnnerven und wie bei der Muskeldystrophie Duchenne, viele Mutationen.
4 zentrale Tumoren. Spontane Mutationen sind häufig.

Neurinome können – unter der Symptomatik eines Medias- Neurofibromatose 2 (NF 2)


tinaltumors – auch vom Grenzstrang ausgehen. Auch an den Die NF-2 wird ebenfalls autosomal-dominant vererbt. Die Prä-
inneren Organen finden sich gutartige Mischgeschwülste. valenz liegt auch bei etwa 3 pro 100.000 Einwohner. Der Chro-
Die Neurofibromatose von Recklinghausen wird heute in mosomendefekt liegt auf Chromosom 22 und ist vermutlich
zwei, genetisch unterschiedliche Gruppen eingeteilt. ein Tumorsuppressorgen. Die diagnostischen Charakteristika
sind in . Tabelle 35.1 zusammengefasst.
Neurofibromatose 1 (NF 1)
Die NF-1 entspricht mehr der ursprünglichen Recklinghau- 3Symptome und Diagnostik
sen-Krankheit, da sie mit den typischen Hautveränderungen 4 Bei diesen Patienten finden sich keine Hauterschei-
(subkutane Neurofibrome, Café-au-lait-Flecken) verbunden nungen.
ist. Die NF-1 ist relativ selten: Man schätzt die Prävalenz auf 4 Dagegen sind bilaterale Akustikusneurinome, Neurinome
etwa 3 pro 100.000 Einwohner. anderer Hirnnerven, multiple Meningeome und Neurinome
von zervikalen und lumbalen Wurzeln mit entsprechenden
3Symptome. Die NF-1 ist durch die Häufung von Opti- Symptomen häufig.
kusgliomen und Hirnstammastrozytomen, Hamartomen und 4 Bei Wurzelneurinomen findet sich im Liquor eine Eiweiß-
Schädelveränderungen gekennzeichnet. vermehrung besonders der Albumine
4 NF-1-Patienten sind zu einem beträchtlichen Prozentsatz
in ihrer geistigen Entwicklung behindert. Therapie und Prognose
4 Anfälle kommen bei etwa 10% der Patienten vor. 4 Die einzige kausale Behandlung ist die operative Entfer-
4 Hautveränderungen sind schon bei der Geburt vorhanden nung der Nervengeschwülste. Sie ist jedoch nur in begrenztem
oder entstehen in der frühen Kindheit. Sie nehmen mit dem Umfang möglich. Ein Teil der Geschwülste ist durch seine Lage
Lebensalter zu und verstärken sich besonders in der Pubertät inoperabel, bei anderen wäre eine Entfernung von bleibenden
und während der Schwangerschaft. Sie bestehen in dunklen oder Lähmungen gefolgt.
auch hellbraunen Pigmentnävi (Café-au-lait-Flecken) der ver- 4 Multiple Wurzelneurinome können oft nicht operiert wer-
schiedensten Größe und breitflächig aufsitzenden oder gestielten den (. Abb. 35.7).
Fibromen. Bei manchen Kranken ist vor allem der Rumpf von 4 Deshalb muss sich die chirurgische Therapie auf oligo-
diesen Hautmanifestationen übersät. Bei anderen finden sie sich symptomatische Fälle mit Akustikusneurinom oder wenigen,
nur ganz vereinzelt, so dass man sie leicht übersieht oder ihre umschriebenen peripheren Neurinomen beschränken.
776 Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

Exkurs
Schwannome und Neurinome
Sie können sich an jedem peripheren Haut- oder gemischten Aufbau der Tumoren mesenchymale Zellen des Peri- und
Nerven entwickeln. Besonders bevorzugt sind die Nn. media- Epineuriums stärker beteiligt sind, spricht man von Neuro-
nus, ulnaris, ischiadicus und femoralis. Sie sind oft subkutan fibromen.
als derbe oder weichere Knoten tastbar. Neurinome bilden Die peripheren und selbst die Wurzelneurinome können
sich auch an den spinalen Nervenwurzeln (. Abb. 35.7). Sie asymptomatisch bleiben, da sie in der Nervenscheide wach-
sind nach der Natur der Krankheit oft multipel. Ihre bevor- sen. In anderen Fällen führen sie durch Kompression der Ner-
zugten Lokalisationen sind die zervikalen und die unteren ven und Wurzeln zu hartnäckigen, spontanen und Bewegungs-
thorakalen Segmente sowie die Cauda equina. Von den Hirn- schmerzen und später zu motorischen und sensiblen, periphe-
nerven ist vor allem, auch doppelseitig, der N. statoacusticus ren Lähmungen, zum Kaudasyndrom oder den Symptomen
betroffen. Die Neurinome gehen von der Schwann-Scheide des extramedullären Rückenmarktumors. Zervikale Neurinome
aus. Sie sind von einer Kapsel umgeben. Histologisch sind sie wachsen gelegentlich nach Art der Sanduhrgeschwülste aus
in erster Linie aus Schwann-Zellen aufgebaut, deren Kerne dem Spinalkanal heraus.
die typische palisadenartige Anordnung haben. Wenn am

4 Es gibt Hinweise darauf das bei nicht-operablen Schwan- 35.5 Fehlbildungen des kraniozervikalen
nomen durch den Angiogeneseinhibitor Bevacizumab (Avas- Übergangs und der hinteren
tin®) die Progression verhindert werden kann. Schädelgrube

Die Prognose ist auf längere Sicht nicht gut. 35.5.1 Basiläre Impression oder Invagination

> Neurofibromatose 1: 3Definition und Entstehung. Es handelt sich um eine


4 Hauterscheinungen (Café-au-lait, Hautfibrome) trichterförmige Einstülpung der Umgebung des Foramen
4 Astrozytome (Optikus- und Hirnstammgliome) occipitale magnum, hauptsächlich der Kondylen des Hinter-
Neurofibromatose 2: hauptbeins, in die hintere Schädelgrube. Diese wird dabei
4 bilaterale Akustikusneurinome (= Vestibularis- in senkrechter Richtung erniedrigt. Gleichzeitig wird das
Schwannome) Foramen occipitale magnum durch den zu hoch stehenden
4 andere Neurinome. Dens axis eingeengt.
Merkhilfe: NF2 = 2-seitige Akustikusneurinome Die Einbuchtung des okzipitozervikalen Übergangs beruht
meist auf einer Entwicklungsstörung. Sie kann aber auch se-
35 kundär als Folge von Krankheiten entstehen, die den Knochen
erweichen, vor allem Rachitis, Chondrodystrophie, Ostitis de-
formans Paget, Osteoporose. Man muss damit rechnen, dass
die basiläre Impression mit anderen Fehlbildungen der okzipi-
tozervikalen Übergangsregion und mit der Syringomyelie
kombiniert ist. Dann nimmt die Wahrscheinlichkeit klinischer
Symptome erheblich zu.

3Symptome. In der Mehrzahl der Fälle bleibt die basiläre


Impression ohne klinische Symptome. Im Aspekt der Kranken
fällt ihr kurzer Hals auf. Die Beweglichkeit des Kopfes ist für
Seitwärtsneigung und Drehung eingeschränkt. Bei einseitiger
basilärer Impression besteht meist ein Schulterhochstand.
Symptomatisch wird die basiläre Impression durch
4 mechanische Kompression des Rückenmarks durch den
emporgehobenen Dens axis,
4 Behinderung der Liquorpassage durch den zu hoch liegen-
den Clivus (Hydrocephalus occlusus),
4 Adhäsion der Meningen und
4 Degenerationsprozesse am Bandapparat des okzipitozervi-
kalen Übergangs und Durchblutungsstörungen in den Aa. ver-
tebrales.

Bei einer kleineren Zahl von Kranken kommt es zu Funktions-


. Abb. 35.7. Multiple, thorakale Neurinome. Koronare Darstellung, störungen in der Medulla oblongata, im Kleinhirn und im
T1 mit KM (Pfeile) Halsmark. Die ersten Symptome treten meist erst im 3. oder
35.5 · Fehlbildungen des kraniozervikalen Übergangs und der hinteren Schädelgrube
777 35
Facharzt
Tuberöse Hirnsklerose (Bourneville-Pringle-Syndrom)
Die seltene tuberöse Hirnsklerose ist ebenfalls dominant 4 Multiple, subependymale Hamartome, die mit zuneh-
erblich. mendem Lebensalter immer mehr verkalken und bei Wachs-
tum und Lage nahe des Foramen Monroi als Riesenzellastro-
3Symptomatik. Ihre klinischen Symptome sind Hautver- zytome bezeichnet werden und die Gefahr einer Liquorzirku-
änderungen, epileptische Anfälle von der frühen Kindheit an lationsstörung bergen.
und mentale Retardierung. 4 So genannte Tubera, das sind zerebrale Hamartome, die
Die Hautveränderungen bestehen vor allem in multiplen makroskopisch als vergrößerte, atpische Gyri imponieren und
Fibroadenomen von typischer, schmetterlingsförmiger An- ebenfalls verkalken können. Die verplumpten Gyri treten
ordnung im Mittelgesicht (Adenoma sebaceum, Naevus »tuberös« aus dem Niveau der übrigen Rinde hervor. Histo-
Pringle) und Fibromen am Zahnfleisch, am Nagelfalz und am logisch sind sie entdifferenziert und durch Gliawucherung
Nagelbett (Koenen-Tumore). Daneben kommen Café-au-lait- sklerosiert, zum Teil verkalkt (. Abb. 35.8).
Flecken sowie Fibrome und Lipome am Rumpf, nicht dage-
gen Neurinome vor. An den inneren Organen findet man 3Therapie. Bei dieser Krankheit kann die Therapie nur
fakultativ Rhabdomyome des Herzens und Mischgeschwüls- symptomatisch sein. Man verordnet Antiepileptika nach den in
te der Nieren. 7 Kap. 14 angegebenen Regeln. Wenn durch Verlegung des
Ursache der Anfälle und Oligophrenie sind zwei Arten Foramen Monroi oder des Aquädukts Hirndruck entsteht,
von Gehirnveränderungen: muss zur Entlastung eine Drainage angelegt werden, die das
Hindernis umgeht.

4. Lebensjahrzehnt auf. Sie können sich langsam progredient 4 Wird die Medulla oblongata geschädigt, bekommen die
entwickeln, aber auch akut einsetzen. Patienten Nystagmus, zerebelläre Ataxie und periphere Läh-
4 Ein typisches Frühsymptom sind hartnäckige, anfallswei- mungen der kaudalen Hirnnerven. Nicht selten besteht ein
se auftretende Kopfschmerzen, die im Nacken und Hinterkopf, Horner-Syndrom.
aber auch in der Stirn lokalisiert sind.
4 Später können bei Anstrengungen oder Drehbewegungen 3Diagnose. Die Diagnose wird durch Röntgenaufnahme
des Kopfes anfallsartige, vorwiegend vegetative Symptome auf- des Schädels und CT oder MRT des kraniozervikalen Über-
treten: Schwindel, Schweißausbruch, Erbrechen, Tachykardie gangs gesichert.
und Dyspnoe.
4 Im Verlauf stellen sich Gefühlsstörungen an den Händen 3Therapie. Wenn die Symptome eine Behandlung erfor-
und Armen und Strangsymptome des Rückenmarks ein. dern, kommt nur die Operation in Frage. Durch Resektion
eines Teiles der Squama occipitalis wird das Foramen occipitale
magnum erweitert.

3Differentialdiagnose. Bei akuter »Dekompensation« der


basilären Impression mit Hirndruckkrisen liegt die Verdachts-
diagnose eines Tumors der hinteren Schädelgrube nahe, zu-
mal wenn eine Stauungspapille vorliegt. Auch die langsame
Entwicklung bulbärer und zerebellärer Symptome ist auf einen
Hirntumor verdächtig.
Stehen Lokalsymptome des Halsmarks im Vordergrund,
muss ein hochsitzender Rückenmarktumor ausgeschlossen
werden.

35.5.2 Atlasassimilation

Bei der Atlasassimilation, die man anschaulicher Okzipitalisation


des Atlas nennt, wird der Atlas mit dem Hinterhauptsbein ver-
schmolzen. Dieser Prozess ist erst während der zweiten Lebens-
. Abb. 35.8. M. Bourneville-Pringle (tuberöse Sklerose). CT-Dar-
stellung multipler, verkalkter, subendymaler Knoten. Bei dem be-
dekade abgeschlossen. Die Assimilation ist nicht selten asymmet-
sonders großen, hyperdensen, kontrastmittelaufnehmenden Knoten am risch. Der Axis ist dann der oberste, bewegliche Halswirbel. Das
Foramen Monroi (Pfeil) handelt es sich um ein Riesenzellastrozytom, das Foramen occipitale magnum ist fast immer verkleinert und de-
aufgrund seiner Lage zu einer Blockade des linken Foramen Monroi mit formiert. Die Fehlbildung ist nicht selten mit basilärer Impression
der Erweiterung der Seitenventrikel geführt hat. (K. Sartor, Heidelberg) oder Klippel-Feil-Syndrom (s.u.) kombiniert.
778 Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

Exkurs
Anatomie des kraniozervikalen Übergangs
Für das Verständnis der Fehlbildungen in der okzipitozer- ralis. Am dorsalen Wirbelbogen hat der Atlas keinen ausgebil-
vikalen Übergangsregion, die im folgenden Abschnitt be- deten Dornfortsatz.
sprochen werden, ist eine kurze Rekapitulation der anato- Der Dens axis war ursprünglich der Körper des Atlas. Er
mischen Verhältnisse und ihrer funktionellen Bedeutung sitzt dem Axis auf und ist mit der Hinterfläche des vorderen
nützlich. Atlasbogens gelenkig verbunden. Im Atlanto-Axialgelenk
Das Os occipitale bildet die äußere Begrenzung der erfolgen Drehbewegungen, bei denen sich Kopf und Atlas um
hinteren Schädelgrube, in der sich Medulla oblongata, Brü- den Zahn des Axis drehen. Zwischen Os occipitale und Atlas
cke und Kleinhirn befinden. Durch das Foramen occipitale und zwischen Atlas und Axis befindet sich beim Erwachsenen
magnum tritt die Medulla oblongata, die in dem knöchernen keine Bandscheibe.
Ring bei Bewegungen des Kopfes vor Schädigungen ge- Die Halswirbelsäule bildet den knöchernen Kanal für
schützt ist, in den Spinalkanal. Zwischen den Kondylen des den proximalen Verlauf der A. vertebralis. Die Arterie tritt am
Hinterhauptbeins und den Massae laterales des Atlas ist der 6. Halswirbel in die Wirbelsäule ein und verläuft, gerade em-
Schädel mit der Halswirbelsäule im oberen Kopfgelenk ver- porsteigend, im Seitenteil des 6.–2. Halswirbels im Foramen
bunden, in dem um eine quere Achse Nickbewegungen transversarium. Innerhalb des Seitenteils des Axis biegt sie um
möglich sind. 45° nach außen ab. Schräg lateralwärts emporziehend, erreicht
Ursprünglich sind oberhalb des Atlas noch drei weitere sie das Foramen transversarium des Atlas, das weiter seitlich
Halswirbelsegmente angelegt. Diese werden im Laufe der liegt als die Foramina der übrigen Halswirbel. Nach ihrem
embryonalen Entwicklung in die Okzipitalschuppe einbezo- Austritt aus dem Atlas zieht die Arterie nach innen und hinten,
gen. Der 1. Halswirbel, Atlas, hat als einziger Wirbel keinen durchbohrt den hinteren Abschnitt der Gelenkkapsel des
Wirbelkörper, sondern nur einen kurzen ventralen Bogen mit Atlanto-Axialgelenks und verläuft im Sulcus arteriae vertebra-
einer dorsalen Gelenkfläche für die Verbindung mit dem lis des hinteren Atlasbogens. Hier ist sie besonders durch
Dens axis. Sein Wirbelkanal ist durch das Ligamentum trans- Dissektionen gefährdet. Sie perforiert die Membrana atlan-
versum in zwei ungleich große Abschnitte geteilt: Im vorde- tooccipitalis, ändert wiederum ihre Richtung und zieht an die
ren befindet sich der Dens, durch den hinteren zieht, wie bei Vorderseite des Hirnstamms, wo sie sich auf der Höhe des
den übrigen Wirbeln, das Rückenmark. Die Bogenwurzel des Clivus mit der A. vertebralis der Gegenseite zur A. basilaris
Atlas enthält kranial eine Laufrinne (Sulcus) für die A. verteb- vereint (. Abb. 35.9).

Durch den angehobenen Clivus werden Medulla oblonga-


ta und Kleinhirn gegen das Tentorium cerebelli emporgepresst,
35 andererseits kann es durch den Hydrocephalus occlusus mit
Hirndruck zur Einklemmung von Medulla und Kleinhirnton-
sillen in das Hinterhauptsloch kommen.
Die Symptome treten erst jenseits des 10. Lebensjahres
auf. Die Schädigung der Medulla oblongata zeigt sich regel-
mäßig an einem rotierenden Spontan- oder Blickrichtungs-
nystagmus, ähnlich wie bei Syringobulbie. Die Läsion der
kaudalen, motorischen Hirnnervenkerne führt zu atrophi-
scher Zungenlähmung, Gaumensegelparese, Dysarthropho-
nie und Schluckstörungen. Druckläsion oder Ischämie der
langen Bahnen verursacht Parästhesien, Sensibilitätsaus-
fälle, Zeigeataxie in den Händen und Armen und Pyrami-
denbahnzeichen an den Beinen. Durch Behinderung der
Liquorzirkulation kommt es zu hydrozephalen Krisen mit
phasenhaften, bewegungsabhängigen Kopfschmerzen und
Doppelbildern, die auf Zerrung des N. abducens zurück-
geführt werden. Im Laufe der Zeit entwickelt sich Hirn-
druck mit Stauungspapille und den Gefahren der Einklem-
. Abb. 35.9. Okzipitozervikaler Übergang mit A. vertebralis und mung.
basilaris
3Diagnostik und Therapie. Seitliche Schädelaufnahmen
weisen auf die Diagnose hin, die mit CT und MRT erhärtet
3Symptome und Verlauf. Die Atlasassimilation ist seltener, wird.
ruft aber schwerere Symptome hervor als die basiläre Impres- Die Therapie ist die chirurgische Entlastung des Foramen
sion. Die Symptome beruhen auf der gleichen Pathogenese wie occipitale magnum durch Resektion des angrenzenden Teils
bei basilärer Impression beschrieben. der Squama occipitalis.
35.5 · Fehlbildungen des kraniozervikalen Übergangs und der hinteren Schädelgrube
779 35
35.5.3 Klippel-Feil-Syndrom und kann vielerlei Ursachen haben. Häufig ist sie Folge einer
kleinen hinteren Schädelgrube mit kurzem Clivus, auch sind
Diese kombinierte Fehlbildung der Halswirbelsäule ist durch oft Fehlbildungen des kraniozervikalen Übergangs assoziiert.
Verschmelzung mehrerer (2–3) Halswirbelkörper und Dorn- Außerdem findet man sie bei Patienten mit kompensiertem
fortsätze zu einem Blockwirbel und Spina bifida cervicalis Hydrozephalus und bei Patienten mit chronischen Unter-
(Bogenspalte) charakterisiert. Meist bestehen außerdem Atlas- drucksyndromen bei Liquorleckage (. Abb. 35.10a).
assimilation, Keilwirbel sowie primäre Entwicklungsstörung
oder sekundäre Zug- und Druckschädigung am Rückenmark, Chiari-II-Fehlbildung
nicht selten auch basiläre Impression. Die Blockwirbelbildung Die Chiari-II-Fehlbildung ist eine komplexe Fehlbildung der
wird auf Faseraplasie der Bandscheiben zurückgeführt. Die kaudalen Hirnanteile, der Wirbelsäule und des Mesoderms
Anomalie kann familiär auftreten. von Schädel und Wirbelsäule. Bei praktisch allen Patienten be-
steht eine Myelomeningozele. Die hintere Schädelgrube ist
3Symptome und Verlauf. Im Aspekt fallen die Kranken klein, die Kleinhirntonsillen und die Medulla oblongata, teil-
durch ihren abnorm kurzen Hals mit tiefstehender Nacken- weise auch die kaudalen Anteile der Kleinhirnhemisphären
Haar-Grenze und hochstehenden Schultern auf. Sie haben eine herniieren nach kaudal in den zervikalen Spinalkanal, der
Kyphoskoliose der oberen Wirbelsäule. Die Arme sind im IV. Ventrikel ist komprimiert und nach kranial wird das Tek-
Verhältnis zum Körper zu lang. Gelegentlich findet man eine tum verlagert und zipfelig deformiert. Ein assoziierter Hydro-
Gaumenspalte. Die Beweglichkeit des Kopfes ist stets sehr ein- zephalus ist häufig, außerdem eine Balkenhypo/agenesie und
geschränkt. ein Fehlen der Falx (. Abb. 35.10b).
4 Ähnlich wie bei der basilären Impression, setzen die Symp-
tome erst im mittleren Lebensalter ein. Chiari-III-Fehlbildung
4 Die Kranken bekommen radikuläre Parästhesien und Der Typ III zeigt ähnliche Veränderungen wie der Typ II, wo-
Schmerzen, Sensibilitätsausfälle in den Händen und Armen, bei allerdings eine komplette Herniation des Kleinhirns in den
Schwindel- und synkopale Anfälle. Spinalkanal vorliegt, die in der Regel mit dem Leben nicht ver-
4 Meist lassen sich arterielle Durchblutungsstörungen in den einbar ist. Zusätzlich besteht eine hohe zervikale Enzephalo-
Händen nachweisen, die bis zur Fingergangrän führen. meningozele.
4 Durch Druck auf das obere Halsmark kann sich im spä-
teren Verlauf eine hochsitzende, inkomplette Querschnittsläh- Chiari-IV-Fehlbildung
mung mit Tetraspastik der Extremitäten, Sensibilitätsstörung Beim Typ IV findet sich eine zerebelläre Hypoplasie, aber ohne
und Blasenlähmung entwickeln. zerebelläre Herniation.
4 Gelegentlich kommt es auch zum Hydrocephalus internus.
Kombination mit basilärer Impression führt zu den Symp- 3Symptome. In leichten Fällen kann die Fehlbildung symp-
tomen, die oben besprochen sind. tomlos bleiben. Neurologisch findet man eine Bewegungsein-
schränkung des Kopfes, Lähmung kaudaler Hirnnerven, Nys-
3Diagnostik und Therapie. Die Blockwirbelbildung ist tagmus und Strangsymptome ähnlich wie bei der basilären
zwar auf den Nativaufnahmen der HWS zu erkennen, zur ge- Impression. Die abnorme Ausfüllung des Hinterhauptslochs
nauen Darstellung und zur Erfassung weiterer Fehlbildungen, kann Zirkulationsstörungen in den Vertebralarterien oder ih-
wie immer bei diesen Krankheiten, MRT. ren Ästen und Einklemmungssymptome hervorrufen.

Therapie: 3Diagnose. Zwar kann aus den konventionellen, seitli-


4 Als palliative Maßnahme werden doppelseitig die obersten chen Röntgenaufnahmen des Schädels ein Hinweis auf eine
Rippen partiell reseziert. Dadurch kann sich die Beweglichkeit knöcherne Fehlbildung des okzipitozervikalen Übergangs
des Halses bessern. gewonnen werden. Die Diagnose wird aber heute mit der
4 Ansonsten Behandlung wie bei basilärer Impression und sagittalen MRT gestellt, in der die Pathologie der komplexen
Hydrozephalus. Fehlbildungen am besten dargestellt wird (. Abb. 35.10b).

3Therapie. Shunt-Operation und okzipitale Erweiterung


35.5.4 Chiari-Fehlbildungen können, wenn früh durchgeführt, die Progression der Be-
schwerden aufhalten.
Die Nomenklatur dieser Malformationen ist im Wandel.
Manchmal findet man in der Literatur noch die Bezeichnung
»Arnold-Chiari-Malformation(en)«, hierbei ist aber meist die 35.5.5 Dandy-Walker-Syndrom
Chiari-II-Malformation gemeint. Man unterscheidet vier Ar-
ten der Chiari-Fehlbildung. Bei der Dandy-Walker-Malformation liegt eine Hypo- oder
Agenesie des Kleinhirnwurms in Kombination mit einer ver-
Chiari-I-Fehlbildung größerten hinteren Schädelgrube und hochstehendem Tento-
Sie ist als kaudale Ektopie der Kleinhirntonsillen definiert, die rium sowie einer zystischen Dilatation des IV. Ventrikels vor,
kaudal der Foramen-magnum-Ebene im Spinalkanal stehen, die fast die gesamt hintere Schädelgrube ausfüllt.
780 Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

a b

. Abb. 35.10. a Chiari-I-Fehlbildung. Das MRT (T1-Darstellung) tung des 4. Ventrikels (weißer Stern), der sich bis in den Zervikalkanal
zeigt die Verlagerung der Kleinhirntonsille, die durch das Foramen erstreckt. Die hintere Schädelgrube ist steil gestellt, der Äquadukt
magnum bis auf die Höhe C2 disloziiert ist (Stern). Knickbildung zwi- (schwarzer Pfeil) mit der Lamina quadrigemina nach hinten verlagert.
schen Medulla oblongata und oberem Anteil des Rückenmarks Der Kleinhirnwurm ragt in den erweiterten Seitenventrikel (offener
(schwarzer Pfeil), der Clivus ist verkürzt und die innere Hirnvene (wei- Pfeil) vor. Hier erkennt man auch die partielle Aplasie des Balkens. (Aus
ßer Pfeil) verläuft im oberen Teil abnorm steil, b Chiari-II-Fehlbildung. Sartor 1992)
In diesem sagittalen MRT (T1-Darstellung) erkennt man die Auswei-

35

a b

. Abb. 35.11a, b. Dandy-Walker-Malformationen sowie Fehlan- die retrozerebelläre Zyste mit Ausbuchtung des Hinterhaupts sehr gut
lage des Kleinhirnwurms. Im sagittalen T1-gewichteten Bild (b) ist zu erkennen
35.6 · Fehlbildungen der Wirbelsäule
781 35
3Symptome. Die Symptome treten meist im 2. Lebensjahr- störungen des Rückenmarks und seiner Häute (Meningozele,
zehnt, manchmal aber auch wesentlich früher oder später auf. Myelozele, Rachischisis) wird hier nicht weiter besprochen, da
Sie entwickeln sich zunächst langsam, im letzten Stadium vor diese Fälle sehr selten sind und in das Fachgebiet der Kinder-
der Klinikeinweisung rasch progredient. heilkunde und der Orthopädie gehören.
4 Es kommt zu Kopfschmerzen, zerebellärer Ataxie und
Stauungspapille, die unter Visusverfall in Atrophie übergeht. 3Lokalisation. Die Hemmungsmissbildung tritt bevorzugt
4 Später stellen sich zusätzlich eine Para- und Tetraspastik am Übergang zwischen zwei Wirbelsäulenabschnitten auf:
ein. okzipitozervikal, zervikothorakal und lumbosakral. Am häu-
4 Im Endzustand ist das klinische Bild durch die Zeichen des figsten ist die Spina bifida L5/S1, jedoch ist auch eine Spaltbil-
allgemeinen Hirndrucks beherrscht. dung im Atlas nicht selten, die isoliert oder bei einer der oben
besprochenen Fehlbildungen am okzipitozervikalen Übergang
3Diagnostik. Die Zyste ist in CT und MRT als scharf be- vorkommt. Die Maximalvariante einer okzipitozervikalen
grenzte, mittelständige, liquorisodense Zone in der hinteren Spaltbildung ist die Enzephalozele.
Schädelgrube nachweisbar (. Abb. 35.11).
3Symptome. Bei der Inspektion findet man gelegentlich,
3Therapie. Diese ist operativ (Shunt-Operation). Die Prog- eine lokale Hypertrichose über der Defektmissbildung oder
nose hängt davon ab, welche Schäden durch den Hirndruck umschriebene Einziehungen der äußeren Haut und des subku-
vor der Operation eingetreten waren. tanen Gewebes. Wenn mit der Spina bifida eine Entwicklungs-
störung des Rückenmarks und seiner Häute oder der Kaudafa-
3Differentialdiagnose. Eine harmlose Variante ohne Krank- sern verbunden ist, kann neurologisch ein unvollständiges
heitswert die häufig zu Missdeutungen Anlass gibt ist die über- Kaudasyndrom mit distalen, schlaffen Paresen der Beine, tro-
große Cisterna magna. Sie liegt dorsal des Kleinhirns und phischen Störungen an den Füßen und radikulären oder reit-
dehnt sich manchmal zwischen den okzipitalen Ansätzen des hosenförmig angeordneten Sensibilitätsstörungen vorliegen.
Tentoriums nach supratentoriell aus. Sie gehört zu den oben Häufig besteht ein Pes equinovarus (Klumpfuß), der auf einer
besprochenen Arachnoidalzysten. fixierten Fehlstellung des Fußes infolge der distalen Parese be-
ruht oder eine korrelierte Fehlbildung ist. Thorakolumbale
Meningomyelozelen führen zum Querschnittsyndrom.
35.6 Fehlbildungen der Wirbelsäule
3Therapie. Orthopädisch und neurochirurgisch.
35.6.1 Spina bifida
Elongation des Filum terminale (Tethered cord)
Spina bifida occulta In seltenen Fällen führt die Spina bifida dadurch zu neurolo-
Die Spina bifida occulta dorsalis ist eine Hemmungsmissbil- gischen Symptomen, dass die Membrana reuniens, die den
dung, bei der die beiden seitlichen Anteile des Wirbelbogens, Spalt dorsal verschließt, mit dem Filum terminale verwachsen
die sich am Ende des ersten Lebensjahres knöchern zusam- ist (Details 7 Exkurs Kap. 31.8).
menschließen sollen, offen bleiben, so dass eine dorsale Spalt-
bildung vorliegt. Man spricht von Spina bifida occulta, wenn
die Rückenmarkshäute über dem Spalt geschlossen und nicht 35.6.2 Spondylolisthesis
hernienartig vorgewölbt sind. Die Spina bifida occulta ist recht
häufig: Sie kommt bei 17–18% der Bevölkerung vor. Ihre 3Definition. Spondylolisthesis ist ein Abgleiten der Wirbel-
klinische Wertigkeit wird meist überschätzt. Als Ursache von säule nach vorn und unten, meist vor den 1. Sakralwirbel.
Kreuzschmerzen kommt sie, im Gegensatz zu den weiter unten Dieses Wirbelgleiten hat zwei Voraussetzungen:
besprochenen Assimilationsstörungen, nicht in Betracht. Meist 4 eine angeborene Spaltbildung im Gelenkfortsatz des
hat sie überhaupt keine praktische Bedeutung, sondern wird 5. Lendenwirbelkörpers und
zufällig als Nebenbefund auf der Röntgenaufnahme festge- 4 eine erworbene Degeneration der lumbosakralen Band-
stellt. Der Nativröntgenbefund einer Spaltbildung gestattet scheibe und des vorderen Längsbandes, die unter den täglichen
keinen Schluss auf eine darunter liegende Missbildung auch Belastungen der Wirbelsäule deshalb entsteht, weil der missge-
des Rückenmarks oder seiner Hüllen. bildete Gelenkfortsatz keinen genügenden Halt bietet.

Spina bifida mit Meningo- und Meningomyelozele Diese degenerativen Vorgänge wirken sich wieder auf die Wir-
In die Spaltbildung können die Hirnhäute (Meningozele) und belgelenke aus, so dass sich ein Circulus vitiosus schließt. Bei
das Rückenmark bzw. die Cauda equina (Meningomyelozele) jeder stärkeren statischen Beanspruchung gleitet der 5. Len-
einbezogen sein. Offene Meningozelen führen zu Menigitis denwirbelkörper und mit ihm die ganze darüber liegende Wir-
und werden operativ gedeckt. (Lumbosakrale) Meningomye- belsäule etwas mehr nach ventral und unten. Die echte Spon-
lozelen sind eine häufige Ursache der konnatalen Querschnitts- dylolisthesis entsteht nicht traumatisch, ein Trauma kann die
lähmung. Sie sind besonders oft auch mit Fehlbildungen am anlagebedingte Deformität aber verschlimmern.
anderen Ende des Neuralrohrs (Hydrozephalus) kombiniert. Nach Traumen gibt es selten auch eine Spondylolisthesis in
Die Kombination der Spina bifida mit schweren Entwicklungs- höheren Abschnitten der Wirbelsäule.
782 Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

35.6.3 Lumbalisation und Sakralisation

Diese beiden Assimilationsvorgänge am lumbosakralen Über-


gang der Wirbelsäule werden als lumbosakrale Übergangswir-
bel zusammengefasst.
4 Lumbalisation: Bei dieser häufigeren Entwicklungsstö-
rung ist der 1. Sakralwirbel nicht in den Verband des Kreuz-
beins einbezogen. Durch einseitige oder doppelseitige, man-
gelhafte Ausbildung seiner Seitenteile ist er der Form der Len-
denwirbel angeglichen. Auf der Röntgenaufnahme ist er als
überzähliger Lendenwirbel zu erkennen.
4 Sakralisation: Bei der Sakralisation ist der Querfortsatz
des untersten Lendenwirbelkörpers ein- oder doppelseitig ver-
größert und hat Schaufelform wie der seitliche Flügel des
Kreuzbeins. Man findet die verschiedensten Grade der Anglei-
chung an das Sakrum von der Verbreiterung der Querfortsätze
ohne Kontakt mit dem Kreuzbein bis zur vollständigen Ver-
schmelzung.

3Symptome. Die lumbosakralen Übergangswirbel müssen


nicht notwendig Beschwerden verursachen. Sie können aber
klinische Bedeutung erlangen, wenn die darüber liegende
Bandscheibe infolge abnormer statischer Belastung degene-
riert, nach medial oder lateral in den Wirbelkanal vordringt
. Abb. 35.12. Spondylolisthesis (L5 über S1; seitliche Nativauf- und reaktive spondylotische Veränderungen an den benach-
nahme der Lendenwirbelsäule). Außer dem um etwa 1/3 des Wirbel-
barten Wirbelkörpern auslöst. In den überzähligen Gelenken
körperdurchmessers nach ventral versetzten Wirbelkörper erkennt
man die Unterbrechung des Wirbelbogens. (M. Forsting, Essen)
entsteht besonders leicht eine Arthrose. Bei einseitiger Assimi-
lation bildet sich eine Skoliose der unteren Wirbelsäule aus. Die
häufigste Beschwerde ist Kreuzschmerz (Lumbago). Nerven-
3Symptomatik. Nur in maximal 2/3 der Fälle kommt es zu wurzelkompression mit Ischiassyndrom ist dagegen eine sel-
klinischen Symptomen. tene Folge.
4 Die Patienten klagen über Kreuzschmerzen und Schmer- Bei der Untersuchung findet man die Lendenlordose auf-
35 zen im Segmenten L5 und S1, die sich bei Bewegungen und gehoben, die paravertebralen Muskeln sind verspannt. Die
auch beim Husten, Pressen und Niesen verstärken. untere Wirbelsäule ist klopfempfindlich und in der Dreh-,
4 Bei der Untersuchung fällt eine Verkürzung der Taille mit mehr aber noch in der Beugebewegung eingeschränkt. Das
einer queren Hautfalte unterhalb des Nabels auf. Die Lenden- Zeichen nach Lasègue kann positiv sein. Reflexabschwächung,
wirbelsäule zeigt starke Lordose. Paresen und radikuläre Gefühlsstörungen gehören nicht zur
4 Neurologisch können die Achillessehnenreflexe fehlen, die Symptomatik.
Patellarsehnenreflexe (L2–4) abgeschwächt sein.
4 Manchmal lassen sich auch radikuläre Sensibilitätsausfälle 3Diagnostik und Therapie. Nachweis durch CT der Wir-
nachweisen. Bei Fortschreiten degenerativer Vorgänge mit belsäule. Das Abzählen der Wirbelkörper kann Schwierig-
Spangenbildung kommt es zum Stillstand, und die Schmerzen keiten bereiten. Immer muss man sich am 12. BWK (Rippen-
lassen nach. ansatz) orientieren. Diese Orientierung versagt, wenn gleich-
zeitig noch größere Rippenstummel am 1. LWK zu sehen
3Diagnostik und Therapie. Auf seitlichen und schrägen sind.
Aufnahmen der Lendenwirbelsäule und im CT ist die Ante- Die Therapie besteht in vorübergehender Schonung, Mus-
listhesis des 5. LWK und die Spaltbildung des Gelenkfortsatzes kelmassagen, Anwendung der heißen Rolle und anschließend
zu sehen (. Abb. 35.12). vorsichtigen, gymnastischen Übungen.
4 Therapeutisch versucht man zunächst, die gestörte Statik
der unteren Wirbelsäule durch ein Stützkorsett zu bessern.
4 Versteifungsoperationen sind nicht notwendig, da sich die
Wirbelsäulenverschiebung durch Spangenbildung selbst ver-
steift.
4 Kommt es zu Bandscheibenvorfällen, Wurzelkompression
oder gar zu einem Kaudasyndrom, werden diese nach den vor-
ne (7 Kap. 31) angegebenen Regeln operiert.
35.6 · Fehlbildungen der Wirbelsäule
783 35

In Kürze

Geistige Behinderung und zerebrale Bewegungsstörung Syringomyelie

Pränatale Schädigungen durch Sauerstoffmangel des Symptome setzen zwischen 20. und 40. Lebensjahr v.a. bei
embryonalen oder fetalen Nervensystems, durch Infektions- Männern ein: Reflexdifferenzen, trophische Störungen und
krankheiten, Alkohol-, Drogen- oder Nikotinmissbrauch der Verstümmelungen an Händen, Horner-Syndrom, segmentale
Mutter während der Schwangerschaft. Symptome: Mikro- Verminderung der Schmerzempfindung, Endstadium mit
zephalie, psychomotorische Retardierung, Konzentrations- kompletter Querschnittslähmung.
störungen, Hyperaktivität, andere Fehlbildungen. Perinatale Therapie: Shunt-Operation, Krankengymnastik, subokzipitale
Schädigungen: Stauung in großen Hirnvenen und Sinus Dekompression, medikamentöse Therapie gegen Spastik und
führt zu ödematöser Durchtränkung des Gewebes und Stau- Schmerzen.
ungsblutungen. Dadurch ausgedehnte oder herdförmige Differentialdiagnose: Intramedulläre Gliome, Spinalis-ante-
Nekrosen. Postnatale frühkindliche Hirnschädigungen rior-Syndrom, lumbosakrale Spina bifida, HMSN, hereditäre,
durch bakterielle Infektionskrankheiten des Säuglings und sensible Neuropathie.
Kleinkinds. Symptome: Bewegungsstörung, geistige Behin-
derung mit Verhaltensstörung, Anfälle. Phakomatosen

Zentrale Bewegungsstörungen nach frühkindlicher Hirn- Neurokutane Krankheiten mit Nävi und Tumorbildung. Prä-
schädigung (infantile Zerebralparese). Spastische Parese valenz: 3/100.000 Einwohner.
mit spastischer Paraparese der Beine, v.a. Adduktoren, Stre-
cker im Kniegelenk und Plantarflektoren des Fußes, Gangstö- Neurofibromatose (NF). NF 1: Symptome: Hautveränderun-
rung. Pränatal entstandene infantile Hemiparese: Gelähmte gen (Café-au-lait-Flecken, Hautfibrome), Astrozytome (Opti-
Gliedmaßen bleiben im Längen- und Dickenwachstum zu- kus- und Hirnstammgliome), evtl. lokaler Riesenwachstum im
rück, zentrale Bewegungsstörung, Sprechstörungen, fokale Gesicht, an Kopf oder Extremitäten. NF 2: Symptome: Keine
oder generalisierte Anfälle. Extrapyramidale Bewegungs- Hauterscheinungen, bilaterale Akustikusneurinome (Vestibu-
störungen mit schwerer, motorischer Beeinträchtigung, laris-Schwannome), andere Neurinome. Chirurgische Therapie
dadurch Intelligenz beeinträchtigt, fokale oder generalisierte bei oligosymptomatischen Fällen mit Akustikusneurinom oder
Anfälle. Antiepileptische Therapie. wenigen, umschriebenen peripheren Neurinomen.

Minimale frühkindliche Hirnschädigung. Symptome: Fehlbildungen des kraniozervikalen Übergangs


Leichtes, motorisches Ungeschick, Konzentrationsstörungen, und der hinteren Schädelgrube
mangelhafte Artikulation, unregelmäßige Handschrift.
Basiläre Impression oder Invagination. Trichterförmige
Hydrozephalus Einstülpung der Umgebung des Foramen occipitale magnum
in hintere Schädelgrube durch Entwicklungsstörung oder
Vergrößerung der Liquorräume auf Kosten der Hirnsubstanz. sekundär als Folge von Krankheiten. Frühsymptome: Hart-
Hydrocephalus occlusus: Symptome: Enthemmte Greif- näckige Kopfschmerzen, bei Drehbewegungen des Kopfes
reflexe, Somnolenz, Verlangsamung, Antriebsarmut durch anfallsartige, vegetative Symptome, Nystagmus, zerebelläre
Behinderung des Liquorabflusses. Hydrocephalus mal- Ataxie. Operative Therapie. Differentialdiagnose: Tumor der
resorptivus: Störung der Resorption des Liquors in den hinteren Schädelgrube.
Pacchioni-Granulationen des Subarachnoidalraums über
den Hemisphären. Atlasassimilation. Symptome treten >10 J. auf: Atrophische
Therapie: Sofern kein Stillstand: Shunt-Operation, Liquor- Zungenlähmung, rotierender Spontan- oder Blickrichtungs-
außenableitung. nystagmus, Dysarthrophonie, Schluckstörungen, Kopf-
schmerzen, Gaumensegelparese. Operative Therapie.
Arachnoidalzysten
Klippel-Feil-Syndrome. Symptome: Abnorm kurzer Hals mit
Umschriebene Erweiterungen des Subarachnoidalraums, tiefstehender Nacken-Haar-Grenze, hochstehende Schulter,
meist durch frühkindliche Anlagestörung der Meningen eingeschränkte Kopfbeweglichkeit, radikuläre Parästhesien,
entstanden. Fokale neurologische Symptome mit fokaler Schwindel- und synkopale Anfälle, Sensibilitätsausfälle in
Epilepsie oder Halbseitenlähmung, Hydrozephalus, meist Händen und Armen, Blasenlähmung, Verschmelzung mehrerer
aber symptomlos. Medikamentöse Therapie, Operation bei Halswirbelkörper und Dornfortsätze zu Blockwinkel und
akuten neurologischen Symptomen. Bogenspalte. Therapie: Doppelseitig partielle Resektion der
obersten Rippen.

6
784 Kapitel 35 · Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen des Nervensystems

Chiari-Fehlbildungen. Symptome: Einklemmungssymp- gen an Füßen, radikuläre oder reithosenförmig angeordnete


tome, Zirkulationsstörungen in Vertebralarterien, Bewe- Sensibilitätsstörungen. Orthopädische und neurochirurgische
gungseinschränkung des Kopfes, Lähmung kaudaler Hirn- Therapie.
nerven, Nystagmus. Therapie: Shunt-Operation, okzipitale
Erweiterung. Spondylolisthesis. Symptome: Schmerzen im Kreuz und
in den Segmenten L5 und S1, Verkürzung der Taille mit querer
Dandy-Walker-Syndrom. Symptome treten im 2. Lebens- Hautfalte unterhalb des Nabels, Lendenwirbelsäule mit starker
jahrzehnt ein: Kopfschmerzen, Para-, Tetraspastik, zerebelläre Lordose. Therapie: Stützkorsett, Operation bei Bandscheiben-
Ataxie, Stauungspapille, im Endzustand allgemeiner Hirn- vorfall.
druck. Therapie: Shunt-Operation
Lumbalisation und Sakralisation. Symptome: In überzäh-
Fehlbildungen der Wirbelsäule ligen Gelenken Arthrose, bei einseitiger Assimilation: Skoliose
der unteren Wirbelsäule; Kreuzschmerz, untere Wirbelsäule
Spina bifida. Symptome: Lokale Hypertrichose über Defekt- in Beugebewegung eingeschränkt. Therapie: Schonung,
missbildung oder umschriebene Einziehungen der äußeren Muskelmassagen, Anwendung der heißen Rolle, Kranken-
Haut, distale, schlaffe Paresen der Beine, trophische Störun- gymnastik.

35
36

36 Befindlichkeits- und Verhaltens-


störungen von unklarem
Krankheitswert
36.1 Sick-building-Syndrom – 786

36.2 Idiopathische, umweltbezogene Unverträglichkeit – 787

36.3 Fibromyalgie-Syndrom – 788

36.4 Chronisches Erschöpfungssyndrom


(chronic fatigue syndrome, CFS) – 790

36.5 Chronischer, täglicher Kopfschmerz – 791

36.6 Spätfolgen nach Halswirbelsäulendistorsion – 791

36.7 Simulationssyndrome – 793


36.7.1 Münchhausen-Syndrom – 794
36.7.2 Koryphäenkiller-Syndrom – 795
786 Kapitel 36 · Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen von unklarem Krankheitswert

> > Einleitung Vorbemerkung


In diesem Kapitel werden zunächst Befindlichkeitsstörungen
Spätestens seit dem Beginn des Industriezeitalters hat es immer beschrieben, die von den Betroffenen mit bestimmten Noxen
wieder Beschwerdekomplexe gegeben, die bei bestimmten oder Lebensumständen in Beziehung gesetzt werden. Die Stö-
Berufsgruppen oder unter bestimmten sozialen Voraussetzungen rungen sind relativ weit verbreitet und haben erhebliche, so-
auftraten, sich »endemisch« ausbreiteten und später wieder aus zialmedizinische Bedeutung erlangt. Frauen sind häufiger be-
dem Bewusstsein der Öffentlichkeit und dem Spektrum der troffen. Bei manchen Personen kann sich eine sehr schwere
Beschwerden verschwanden. Typische Beispiele waren »nervöse« Variante entwickeln, bei der ein offen aggressives Verhalten all
Störungen durch den Lärm vorbeifahrender Eisenbahnzüge oder denen gegenüber entsteht, die die empfundene Kausalität nicht
das »Railway spine-Sydrom«, Rückenschmerzen, die auf Erschüt- bestätigen.
terungen beim Fahren über holprige Eisenbahnschwellen zu- Von Interessengruppen und Medizinern werden die Be-
rückgeführt wurden. Auch heute gibt es ähnliche Wellen: Das findlichkeitsstörungen kontrovers diskutiert. Viele dieser Syn-
Computermaussyndrom, Beschwerden durch »Elektrosmog«, der drome sind schwer objektiviertbar oder nur vermeintlich
epidemisch genutzte Begriff des Mobbing – eines Problems, das durch den Einsatz nichtvalidierter Instrumente »nachweisbar«,
es in der Tat gibt – das aber jetzt schon beim leisesten Anklang vieles ist Glaubenssache, subjektiv, fanatisiert und nicht disku-
eines kritischen Wortes als Killerargument in die Debatte einge- tierbar. Da die Sachlage so ist, gebe ich auch meine subjektive,
führt wird. persönliche Bewertung ab, die sicher von vielen Betroffenen
Oft sind es die »Aktivitäten« mancher vermeintlicher Fach- und manchen medizinisch Tätigen so nicht geteilt wird.
leute, die zur explosionsartigen Vermehrung von »Krankheits-
fällen« führen und so die Inzidenz mancher Syndrome in astro-
nomische Höhen treiben (z.B. die HWS-Distorsion Grad I oder 36.1 Sick-building-Syndrom
die diagnostischen Kriterien für das chronische Erschöpfungs-
syndrom). Manche sind so weit gefasst, dass es auch beim besten 3Definition und Inzidenz. Unter dieser Bezeichnung wird
Willen schwer fällt, nicht von dem »Problem« betroffen zu sein. seit etwa 20 Jahren eine Kombination von Beschwerden be-
Eine Bedingung für das Auftreten und die rasche Verbreitung schrieben, die von Personen geklagt wird, die in modernen
solcher Endemien ist die Einführung neuer, technischer Entwick- Bürogebäuden arbeiten. Die Inzidenz ist nicht ermittelt. Publi-
lungen oder biologisch/chemischer Substanzen, die als bedroh- zierte Schätzungen, dass »Hunderttausende von Büroarbei-
lich erlebt werden. Eine andere Bedingung ist offensichtlich die tern« täglich unter entsprechenden Beschwerden leiden, sind
Bereitschaft der Gesellschaft, einschließlich mancher Ärzte, nicht durch Daten gestützt. Frauen sollen dreimal so häufig wie
solche Beschwerdekomplexe als Krankheit anzuerkennen und Männer betroffen sein.
die Betroffenen im Sozialsystem zu entschädigen.
In diesem Kapitel werden Beispiele gegeben, die heute be- 3Symptome. Die Beschwerden sind in der Regel nur wäh-
sonders aktuell sind und an denen auch der Einfluss von Medien rend des Aufenthalts in dem speziellen Gebäude vorhanden,
und von Interessengruppen deutlich wird. Interessant ist auch, werden von manchen Betroffenen aber auch ständig empfun-
dass die vehemente Ablehnung wissenschaftlich begründeter den Zu den Symptomen zählen: trockene Augen, verstopfte
36 Interpretationen (Ablehnung der »Schulmedizin«) Hand in Hand Nase, aber auch Nasenlaufen und Niesen, Reizempfindungen
geht mit einer besonderen Affinität zu alternativen, manchmal im Rachen, Atembeschwerden, Engegefühl um die Brust,
magischen Therapieansätzen. Nicht selten halten sich die Patien- Trockenheit, Jucken und Rötung der Haut. Diese Beschwerden
ten für medizinisch vorgebildet. Solche Patienten sind ideale werden mit einer Reihe von Verlegenheitsdiagnosen versehen:
Plazebo-Responder, wenn die alternativmedizinische Maßnahme toxische Rhinitis, Asthma, Kontaktdermatitis.
nur abstrus genug ist (Geistheiler, Operationen mit bloßen Hän- Allgemeine Beschwerden sind: Kopfschmerzen, unsyste-
den, Bioresonanz, Bach-Blüten, Kolonentgiftung und viele mehr). matischer Schwindel, periodische oder chronische Müdigkeit,
Hierfür werden bereitwillig horrende Summen gezahlt, während Konzentrationsstörungen, Antriebsarmut und Gleichgültig-
die Zuzahlung zu einem zugelassenen Medikament oder die keit, Gliederschmerzen. Diese Symptome werden von man-
Praxisgebühr als Zumutung empfunden wird. chen behandelnden Ärzten als Migräne, rheumatoide Arthritis
Dieser Problembereich entzieht sich auch einer zivilisierten oder »allgemeine Immunschwäche« diagnostiziert.
Diskussion. Jeder vorsichtige Zweifel an der Theorie zu Krank-
heitsentstehung und Therapieoptionen führt unter guten 3Ätiologie. Erwägungen zur Ätiologie stellen die klima-
Voraussetzungen zum Abbruch des therapeutischen Kontakts tischen Bedingungen in den Innenräumen der Gebäude und
und zur Enttäuschung über das fehlende Verständnis des Arztes, insbesondere eine mögliche Kontamination der Luft in Klima-
im schlechten Fall zu offener Ablehnung, Aggressivität, Drohung anlagen in den Vordergrund. Allgemein wird die Rezirkulation
mit der Presse und dem Vorwurf, die Probleme des Patienten mit von Luft zuungunsten einer ausreichenden Zufuhr von Außen-
voller Absicht nicht verstehen zu wollen und mit dem vermeint- luft angesprochen. Speziell werden mangelnde Luftbefeuch-
lichen Verursacher unter einer Decke zu stehen. Es folgt der Rück- tung, Beimengung von toxischen Chemikalien oder Mikroben
zug in »Betroffenen-Subkulturen«. Nicht selten werden Angehö- diskutiert. Andere Erwägungen beziehen sich auf Bedingun-
rige symbiotisch in die wahnhafte Entwicklung einbezogen, die gen, die nicht an das Raumklima gebunden sind, wie Bildschirm-
nach der Phase der »Assistenz« dann auch symptomatisch arbeit, zu helle, blendende, aber auch unzureichende Beleuch-
werden können. tung.
36.2 · Idiopathische, umweltbezogene Unverträglichkeit
787 36
Bisher ist keine Mitteilung publiziert worden, die quan- insgesamt weniger belastbar, habe Schlafstörungen, leide unter
titative Angaben über die inkriminierten Noxen enthält, so heftigen Kopfschmerzen. Die Haut sei deutlich blasser. Der Mann
dass Art und Grad der Belastung erforscht werden könnten. klagt über Appetitlosigkeit, die Frau über Gewichtszunahme.
Die ätiologischen Erwägungen enthalten häufig den Hinweis Der Schlaf sei gestört, am Morgen sei man überhaupt nicht mehr
auf eine multifaktorielle Genese der unterstellten Schädigung, richtig ausgeruht. Das Ganze sei nicht nur während der Unter-
ohne dass die einzelnen Faktoren spezifiziert werden. Gerne richtszeit, sondern auch in der unterrichtsfreien Zeit und an
wird eine besondere, individuelle Empfindlichkeit gegenüber Wochenenden vorhanden. Nein, mit dem Stress in der Schule
Noxen, die unter der Nachweisgrenze liegen, postuliert. habe es sicherlich nichts zu tun, denn der habe im Vergleich zur
Studienlage: Alle Studien zur Aufklärung der Bedingun- Vergangenheit nicht zugenommen.
gen sind methodisch zumindest zweifelhaft, wenn man dies Man habe deswegen von einem Umweltinstitut die Umwelt-
hier wohlwollend ausdrücken möchte. Die Ergebnisse sind belastung des Hauses ausmessen lassen. Dabei wurde eine zwar
mehrdeutig. Der aus lokalen und allgemeinen Beschwerden nur geringe, aber doch deutliche Erhöhung der Substanz XX
variabel zusammengesetzte Komplex von Symptomen ist meist und der Substanz XY festgestellt. Vor Jahren habe man, z.T. in
nicht zu objektivieren. Fragebogenaktionen beziehen sich auf Eigenarbeit, das Haus gründlich renoviert und dabei wohl auch
die Befindlichkeit der Betroffenen und ihre Einschätzung der Farben benutzt, in denen solche Substanzen enthalten seien.
Umweltbedingungen. Dabei wurde aber festgestellt, dass das In der Zwischenzeit seien sie bei einem bekannten Spezialisten
Arbeiten in Gebäuden, die als »krank« und solchen, die als gewesen, der auch im Blut eine Belastung mit solchen Substan-
»gesund« bezeichnet wurden, mit gleichartigen Beschwerden zen festgestellt habe. Gleichzeitig bestünde auch ein erhöhter
assoziiert war. Auch führte eine Veränderung der Umwelt- Quecksilberspiegel im Blut.
bedingungen zum Besseren hin nicht zu einer Abnahme der Die vorsichtige Warnung vor der Übernahme solcher Hypo-
Beschwerden. Bei den Noxen fehlen Daten darüber, welche thesen wurde von dem Ehepaar nicht akzeptiert. Einige Monate
Substanzen solche oder ähnliche Beschwerden auslösen. Auch später, nach einer Reihe von Detoxifizierungsbehandlungen,
ist das Dosis-Wirkungs-Verhältnis nicht dargelegt. Schließlich sind die Beschwerden unverändert vorhanden.
fehlen bei den als allergisch angesprochenen Beschwerden Im Übrigen vertreten beide die Überzeugung, dass die Ent-
Daten über die Anwesenheit von spezifischem IgE und Freiset- giftung nur deshalb nicht wirksam sei, weil neue, schädigende
zung von Mediatoren u.Ä. bei den Betroffenen. Vorbestehende Substanzen, die man noch gar nicht kenne, jetzt im Körper seien.
Krankheiten und Reaktionen werden im Allgemeinen nicht Und welche weiteren Belastungen in der Umwelt auch noch zu
erfasst, andere Ursachen als die speziell gesuchten nicht in die der Krankheit beitrügen, wisse man eben nicht. Ausschließen
Differentialdiagnose aufgenommen. könne man es jedenfalls nicht. Insgesamt gehe es jedenfalls so
Anderseits fanden sich in einigen Studien Hinweise auf nicht mehr weiter, und man habe deshalb vorsorglich schon
psychologische Variablen, z.B. hohe Arbeitsbelastung oder einmal die Pensionierung beantragt.
Sorgen um den Arbeitsplatz. Diese legen den Schluss nahe,
dass die psychologischen Umstände der Arbeit wenigstens so
bedeutsam für das Befinden der Betroffenen ist wie die Ver- 36.2 Idiopathische, umweltbezogene
hältnisse am Arbeitsplatz. Unverträglichkeit
Nach mehreren amerikanischen Studien wurden die Be-
schwerden als massensoziogen bezeichnet, die auch in der 3Definition und Terminologie. Die idiopathische, umwelt-
Durchschnittsbevölkerung vorkommen und durch die Erfah- bezogene Unverträglichkeit, früher als multiple Überempfind-
rung ausgelöst werden, dass andere Personen in gleicher Um- lichkeit gegenüber Chemikalien bezeichnet, ist ein schlecht
gebung ebenfalls derartige Beschwerden klagen. In diesen Ar- abgrenzbarer, hartnäckiger, rein subjektiver Beschwerdezu-
beiten wird vorgeschlagen, den schlecht definierten Terminus stand, der von den Betroffenen mit verschiedenen Umweltein-
»Sick-building-Syndrom« fallen zu lassen. flüssen in Beziehung gesetzt wird. Dieser Beschwerdekomplex
wurde früher als multiple chemical sensitivities (MCS) beschrie-
> Das sog. Sick-building-Syndrom besteht aus viel-
ben, jedoch hat der zuständige Ausschuss der Weltgesund-
fältigen Beschwerden und allgemeiner Leistungs-
heitsorganisation empfohlen, statt dessen den auch nicht besse-
minderung. Die Symptomatik wird von den Betrof-
ren Terminus »Idiopathic Environmental Intolerance« zu ver-
fenen vor allem auf raumklimatische Bedingungen
wenden, der keine spezielle ätiologische Zuordnung unterstellt.
zurückgeführt. Nach der variablen Symptomatik und
Auch die besonders in Deutschland häufige »Amalgamunver-
dem Fehlen beweisender Laboruntersuchungen ist
träglichkeit« gehört zu diesem Symptomenkomplex.
eine allergische, immunologische oder toxische Aus-
lösung nicht wahrscheinlich.
3Symptome und Verlauf. Unter der Bezeichnung MCS
sind in der Literatur der letzten Jahre ätiologisch ungeklärte
ä Der Fall Beschwerden verschiedenster Art beschrieben worden, von
Ein Lehrerehepaar stellt sich in der Sprechstunde mit nahezu denen hier Kopfschmerzen, unsystematischer Schwindel, Ta-
gleichartigen Beschwerden vor: Die Konzentration habe nach- gesmüdigkeit, Konzentrationsschwäche, Muskelschmerzen
gelassen, man könne sich auf den Unterricht nicht mehr so gut und Geruchsüberempfindlichkeit genannt werden. Diese Be-
vorbereiten, man sei den Schülern gegenüber weniger tolerant, schwerden werden von den Betroffenen und einigen Ärzten so
6 interpretiert, dass bereits kleinste Mengen chemischer Subs-
788 Kapitel 36 · Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen von unklarem Krankheitswert

Exkurs
Mobiltelefone und neurologische Störungen
Es häufen sich Mitteilungen über Fälle, bei denen neuro- Es gibt allerdings keine überzeugenden Hinweise darauf,
logische Befindlichkeitsstörungen, aber auch das Entstehen dass biologische Effekte, die man in In-vitro-Experimenten
von Tumoren, mit dem Gebrauch von Mobiltelefonen in oder in Tiermodellen finden konnte, in irgendeiner Weise
Verbindung gebracht werden. Auch hier gab es schnell Wis- eine Auswirkung auf die neurologischen Funktionen haben
senschaftler, die einen Beleg für den kausalen Zusammen- könnten. Dies gilt auch für Untersuchungen an freiwilligen
hang zwischen Schlafstörungen, Gedächtnisstörung, Kon- Probanden, bei denen EEG-Befunde dahingehend interpretiert
zentrationsmangel, Tinnitus, Schwindel und Kopfschmerzen wurden, dass eine Abflachung des EEG-Grundrhythmus unter
einerseits und dem häufigen Gebrauch von Mobiltelefonen Einfluss von elektromagnetischen Wellen gefunden wurde.
herstellten. Besonderes Aufsehen erregte ein Fall vor Gericht, Untersuchungen, wie solche elektromagnetischen Wellen
bei dem es um eine hohe Entschädigung ging, da ein Akusti- den Schlaf beeinflussen, erbrachten stark divergierende Er-
kusneurinom in Zusammenhang mit dem häufigen Gebrauch gebnisse: So wurde sowohl eine Verlängerung als auch eine
eines Handy gebracht wurde. Interessant war allerdings, dass Verkürzung der Schlafdauer oder der Traumphasen beschrie-
das Akustikusneurinom rechts war, der Betroffene allerdings ben. Bei den meisten Probanden blieb der Nachtschlaf un-
Linkshänder war (und auch überwiegend links telefonierte), verändert.
was aber erst in der Revision bedeutsam wurde.

tanzen heftige subjektive Symptome auslösen. Es wurden die Mechanismus einer toxischen Schädigung erwarten müsste.
verschiedensten Substanzen als Auslöser angegeben. Toxikolo- Vielmehr sind die oben genannten allgemeinen Symptome bei
gische Untersuchungen ergaben widersprüchliche Befunde den verschiedensten Beschwerdekomplexen zu erfahren (s.u.).
und Interpretationen. Die unterstellten Noxen waren nur bei MCS oder idiopathische umweltbezogene Unverträglich-
einer sehr kleinen Zahl von Menschen schädlich wirksam. keit ist laut WHO keine Krankheit.
Diese Patientengruppe fühlt sich in ihrer Gesundheit und da- »Anderseits ist es offensichtlich, dass die Betroffenen leiden,
mit in Lebensfreude und Leistungsfähigkeit so stark beein- dass sie diese Leiden auf Umwelteinflüsse zurückführen und
trächtigt, dass sie ihrer Arbeit nicht mehr nachkommen und dass sie ärztliche [und nicht juristische, Anm. des Autors] Hilfe
auch nicht mehr am geselligen Leben teilnehmen können. Das brauchen. Dabei sollten im weitesten Sinne des Wortes psycho-
Leidensgefühl und die Tatsache, dass es den meisten Ärzten therapeutische Verfahren im Vordergrund stehen. Aggressive
nicht gelingt, eine stichhaltige und auch von anderen Kollegen Behandlungsverfahren, wie Chelattherapie oder andere Formen
akzeptierte Diagnose zu stellen, treibt die Patienten von Arzt der Entgiftung« sollten nicht angewendet werden. Es wäre wün-
zu Arzt. schenswert, wenn die Öffentlichkeit von fachkundiger Seite besser
als bisher informiert würde« (Ende der WHO-Stellung-
3Therapie. Versuche symptomatischer Therapie bleiben nahme).
wirkungslos. Anstatt in einer erfolgreichen Therapie mündet Die American Academy of Allergy and Immunology, die
36 der Leidenszustand der Patienten schließlich oft in juristischen American Medical Association, das American College of Phy-
Auseinandersetzungen mit Industriebetrieben, die sich jahre- sicians und die International Society of Regulatory Toxicology
lang hinziehen und im Laufe derer sich die Beschwerden weiter and Pharmacology haben dem Beschwerdekomplex keinen
verstärken. Krankheitsstatus zuerkannt.

Stellungnahme der WHO zu MCS


Der Beschwerdekomplex wird nicht als neurotoxisch ange- 36.3 Fibromyalgie-Syndrom
sehen, weil die als Ursache vermuteten chemischen Verbin-
dungen in vielen Fällen nicht nachweisbar sind. Ferner lässt 3Definition. Seitdem 1983 in den USA ein zweibändiges
sich der Nachweis einer Dosis-Wirkungs-Beziehung nicht füh- Werk unter dem Titel: »Myofaszialer Schmerz und Funk-
ren. Beides kann bedeuten, dass die Substanz in einer so gerin- tionsstörung: das Triggerpunkt-Handbuch« erschien, wird
gen Dosis vorhanden ist, dass sie nicht gemessen werden kann die Diagnose Fibromyalgie-Syndrom bei Personen gestellt, die
oder dass der unterstellte Zusammenhang zwischen Noxe und chronisch unter Schmerzen in ausgedehnten Regionen der
Beschwerden nicht vorliegt. Eine neurotoxisch ausgelöste Ge- Weichteile klagen und bei denen von einer Vielzahl von Druck-
sundheitsstörung müsste nach Beendigung der Exposition punkten (z. B. bis zu 30 an einem Arm) heftige Schmerzen
nachlassen oder ganz abklingen. Ähnliche Einwände gelten für ausgelöst werden können. Diese Schmerzen werden nicht, je-
die Unterstellung, dass elektromagnetische Wellen einen der denfalls nicht nur, am Ort der Stimulation, sondern auch in
genannten Beschwerdekomplexe auslösen. weit entfernten Körperregionen empfunden.
Persistierende, toxische Effekte sind bisher nicht nach-
gewiesen worden, ebenso wenig eine andauernd verminderte 3Symptome. Die spontanen Schmerzen beeinträchtigen
Toleranz gegenüber kleineren (kleinsten) Dosen der vermute- die Arbeitsfähigkeit und, wie die Betroffenen berichten, auch
ten Substanzen. Es gibt auch keine feste Beziehung zwischen die Lebensfreude. Allgemeine Symptome, die regelmäßig ge-
Art der Substanz und Art der Symptome, wie man sie beim klagt werden, sind Müdigkeit und schlechter Schlaf. Bei unab-
36.3 · Fibromyalgie-Syndrom
789 36
Exkurs
Elektrosmog und der Nocebo-Effekt
So wie zur Beurteilung der Wirkung eines Medikamentes in die subjektiv empfundenen Beschwerden als auch die mess-
einer placebokontrollierten Doppelblindstudie der Placebo- baren Kriterien traten unabhängig davon auf, ob die Antenne
Effekt der Kontrollgruppe von der Wirkung des eigentlichen tatsächlich in Betrieb war oder nicht. Einige Probanden muss-
Wirkstoffes subtrahiert wird, kann der Nocebo-Effekt die von ten wegen massiver gesundheitlicher Beschwerden das Expe-
den Betroffenen beklagten Nebenwirkungen von Medika- riment aufgeben.
menten oder Umweltbedingungen erklären. Der Nocebo- Schon die Aussicht, mit einem Gerät verbunden zu werden,
Effekt zeigt sich am deutlichsten in der krankmachenden das Strom generieren könnte, kann zu erheblichen körperlichen
Angst vor eingebildeten Gefahren. Hierzu gehört neben Beschwerden führen: Nicht einschlägig vorbelasteten Proban-
der Angst vor externer oder interner chemischer Belastung den wurde gesagt, dass ein nicht messbarer Strom durch ihren
auch die Angst vor unsichtbaren, krankmachenden Strahlen. Kopf geleitet würde Dieser könne Kopfschmerzen verursachen.
In einer Studie wurden Personen, die über gesundheit- Tatsächlich aber war in der »On-Stellung« nur ein beim Hoch-
liche Beschwerden durch die Nähe von Mobilfunkanlagen schalten lauter werdenden Ton hörbar. Ein Viertel der Proban-
klagten, mit Menschen verglichen, die keine negative Aus- den erlebten holozephale Kopfschmerzen, ein weiteres Viertel
wirkungen durch Mobilfunk bemerkt hatten. Alle wurden punktuelle Missempfindungen. Demnach scheinen auch viele
in einer Doppelblindstudie in verschiedenen Sitzungen »Gesunde« nicht gegen solche Effekte gefeit zu sein und
vermeintlichen oder tatsächlichen elektromagnetischen je größer Angst und Unwissen (am schlimmsten scheint Halb-
Strahlen mit Frequenzen im GSM- und UMTS-Bereich aus- wissen zu sein) sind, desto empfindlicher wird mancher.
gesetzt. Die Probanden, die sich für strahlungssensibel So lassen sich die in einer eher wissenschaftsskeptischen
hielten, klagten anschließend über Übelkeit, Kopfschmerzen Population bei Aspekten von Gentechnologie, Atomstrom
oder grippeähnliche Symptome. Änderungen der Herzfre- oder Mobilfunkmasten auftretende echte körperliche Be-
quenz und der Hautfeuchtigkeit wurden gemessen. Sowohl schwerden verstehen.

hängigen Nachuntersuchungen konnten schmerzauslösende Ansätze nahe. Inzwischen gibt es allerdings randomisierte
Triggerpunkte nur bei 18% der Untersuchten nachgewiesen doppelblinde Studien gegen Placebo, die die Überlegenheit von
werden, was innerhalb des Plazebobereichs von 30% liegt. Pregabalin bei Patienten Fibromyalgie-Syndrom belegt. Die
Blindversuche sind in der Literatur nicht berichtet. Wirksamkeit soll dauerhaft, mindestens für ein halbes Jahr,
Den Muskelschmerzen entsprechen keine pathologischen anhalten. Wie beim sog. Koryphäenkiller-Syndrom (7 Ab-
Veränderungen im EMG. Die Muskelbiopsie ergibt ein norma- schn. 36.7.2) werden immer aufwendigere Untersuchungs- und
les Ergebnis. Die Laboruntersuchungen fallen ebenfalls normal Behandlungsverfahren eingesetzt. Stationäre Rehabilitations-
aus. Im EEG sind von einigen Autoren α-Wellen im Muster behandlung bleibt ohne Erfolg. Früher oder später wird der
des non-REM-Schlafs beschrieben worden (sog. α-δ-Schlaf), Betroffene berentet. Die Beschwerden lassen danach aber
aber der Befund war häufig nicht reproduzierbar. Das Ameri- kaum nach, so dass das therapeutische Problem offen bleibt.
can College of Rheumatology hat diagnostische Kriterien für
die Diagnose des Fibromyalgie-Syndroms herausgegeben, die Sozialmedizinische Bedeutung. Die Kosten für die privaten
so weit gefasst sind, dass danach etwa 10% der weiblichen Be- Versicherungen gegen Berufsunfähigkeit werden in Kanada
völkerung die Kriterien erfüllen. mit 200 Mio. Dollar pro Jahr und die allgemeinen Berufsun-
fähigkeitskosten in den USA mit 8 Mrd. Dollar pro Jahr ange-
3Ätiologie. Die Beschwerden bleiben ätiologisch unauf- geben.
geklärt. Manche Ärzte unterstellen eine rheumatologische
> Beim Fibromyalgie-Syndrom geben die Betroffenen
Krankheit, manche nehmen eine »neuroendokrinologische
spontane Schmerzen von multipler Lokalisation an.
Autoimmunerkrankung« an, andere ziehen sich auf die Ein-
Durch Druck auf (inkonsistente) »Schmerzpunkte«
ordnung als »idiopathisch« zurück, wieder andere nehmen
lassen sich lokale, aber auch weit entfernt lokalisierte
einen Serotoninmangel im Gehirn an. Die Existenz eines trau-
Schmerzen auslösen. Eine überzeugende pathogene-
matischen Fibromyalgie-Syndroms ist nicht belegt.
tische Hypothese fehlt. Alle diagnostischen Maßnah-
men führen zu normalen Befunden.
3Therapie und Verlauf. Die Schmerzen sind therapeutisch
nicht oder nur geringfügig zu beeinflussen. Eine Blockierung
der 5-HT3-Rezeptoren in den Muskeln ist nur vorübergehend
wirksam und erlaubt keine ätiologischen Schlüsse. Trizyklische
Antidepressiva, der kombinierte Noradrenalin-Serotonin-
Wiederaufnahmehemmer Duloxetin und der Membransta-
bilisator Pregabalin sind die einzigen Substanzen, die in der
medikamentösen Therapie des Fibromyalgiesyndroms eine
gewisse Wirkung zeigen. Die relativ schlechte Wirksamkeit
der medikamentösen Therapie legt verhaltenstherapeutische
790 Kapitel 36 · Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen von unklarem Krankheitswert

36.4 Chronisches Erschöpfungssyndrom Störung der komplexen Regulation des psychoneuroendo-


(chronic fatigue syndrome, CFS) krino-immunologischen Netzwerkes«.

Der Beschwerdekomplex ist auch als Neuromyasthenie, oder 3Symptome. Das Kernsymptom ist, gemäß einer Defini-
»Yuppie Flu« beschrieben worden. tion des Center for Disease Control and Prevention (CDC) in
Atlanta, ein 6 Monate oder länger andauernder Erschöpfungs-
3Inzidenz und Prävalenz. Die Inzidenz wird mit einer sehr zustand mit grippeähnlichen Symptomen, der Wohlbefinden
großen Streuung angegeben, möglicherweise aufgrund unein- und Arbeitsfähigkeit stark beeinträchtigt. Zusätzlich werden
heitlicher Kriterien für die Diagnose. Eine Publikation schätzt variable somatische und psychische Beschwerden geklagt.
die Prävalenz auf 24%! Für Deutschland gibt eine Selbsthilfe- 60–80% der Betroffenen klagen über Schlafstörungen, bei
gruppe für CFS-Erkrankte an, dass 300.000 Personen erkrankt 50–80% bestand oder besteht eine psychiatrische Störung,
seien. Frauen zwischen 20 und 50 Jahren sollen häufiger als meist depressiver Natur, oder eine Angststörung. Die opera-
Männer betroffen sein. Das Beschwerdesyndrom ist in fast tionalen, schwer objektivierbaren Kriterien, die das CDC für
allen Industrieländern, nicht dagegen in Schwellenländern, die Diagnose angegeben hat, sind in . Tabelle 36.1 aufgeführt.
beschrieben worden. Verwandt ist auch das »Golfkrieg-Syn- Daneben gibt es leicht davon abweichende britische und aus-
drom«. tralische Listen von Kriterien.
Auffällig ist die Überlappung der Symptomatik mit der
3Ätiologie. Die Vielzahl der Hypothesen schließt ein: anderer Beschwerdekomplexe, die in diesem Kapitel erörtert
4 chronische Virusinfektionen, werden. Die Diagnose ist (noch) nicht in eines der bekannten
4 Zustand nach Virusinfektion (am häufigsten wird das Diagnosesysteme aufgenommen worden.
Epstein-Barr-Virus genannt, Zytomegalie bei Golfkriegve-
teranen), 3Diagnostik. Zusatzuntersuchungen ergeben uneinheit-
4 Umweltbelastung, liche Befunde: Mit standardisierten Fragebögen erfährt man die
4 immunologische Veränderungen Abnahme von akti- Beschwerden, die oben genannt sind. In neuropsychologischen
vierten T-Zellen, vermehrte Expression von Interleukin-2-Re- Tests findet man lediglich – nicht unerwartet – eine Verlänge-
zeptoren, verstärkte Zytokinexpression) rung der Antwortzeit bei Aufgaben mit Zeitbegrenzung. Labor-
4 abnormer Serotoninstoffwechsel oder endokrine Funk- untersuchungen, einschließlich modernster immunologischer
tionsstörungen, Tests stützen keine einheitliche, ätiologische Hypothese. Areale
4 mitochondriale Defekte, von regionaler kortikaler Minderdurchblutung in der SPECT-
4 chronische Borreliose, Untersuchung sind schwer zu interpretiere.
4 Auslösung durch Getreide und Milchprodukte, Im T2-gewichteten MRT sind multiple Herde im Mark-
4 chronische Depression oder somatoforme psychiatrische lager der Großhirnhemisphären beschrieben worden. Diese
Störung, fanden sich aber auch bei gesunden Kontrollpersonen, und es
4 psychologisch bedingtes Rückzugsverhalten. dürfte sich dabei um häufig zu findende, nichtpathologische
Veränderungen handeln (sog. UBOs, unidentified bright ob-
36 Bei Erörterung infektiöser Ursachen wird oft übersehen, jects). Kernspinspektroskopie in Muskeln (selten ausgeführt)
dass mit den modernen, empfindlichen Nachweisverfahren hat normale Befunde ergeben. Elektrophysiologische Untersu-
Antikörpertiter auch nach erfolgreich behandelter Infektion chungen, einschließlich der Registrierung ereigniskorrelierter
lebenslang positiv bleiben. Manche »integrativen« Hypothesen Potentiale, erlaubten keine Unterscheidung zwischen Kranken
sind Leerformeln, z.B. »es handelt sich wahrscheinlich um eine und gesunden Kontrollpersonen.

. Tabelle 36.1. Kriterien für die Diagnose des chronischen Müdigkeitssyndroms


Hauptkriterium: andauernde Müdigkeit oder Ermüdbarkeit für mindestens 6 Monate, die
– nicht durch eine andere Krankheit erklärt werden kann,
– neu aufgetreten ist,
– nicht Folge einer chronischen Belastungssituation ist,
– durch Bettruhe nicht zu beheben ist und
– die durchschnittliche Leistungsfähigkeit deutlich vermindert.
Nebenkriterien (wenigstens 4 davon müssen ebenfalls mindestens 6 Monate nach Einsetzen der Müdigkeit bestanden haben):
– Halsschmerzen
– Schmerzhafte axilläre oder zervikale Lymphknoten
– Muskelschmerzen
– Wandernde, nicht entzündliche Gelenkschmerzen
– Neu aufgetretene Kopfschmerzen
– Schwierigkeiten in der Konzentration und im Kurzzeitgedächtnis
– Keine Erholung nach dem Schlaf
– Mehr als 24 h andauernde Müdigkeit nach früher gewohnten Belastungen
36.6 · Spätfolgen nach Halswirbelsäulendistorsion
791 36
Exkurs
Neurologische Beschwerden bei Trägerinnen von Silikonimplantaten
Diese Beschwerden ähneln weitgehend denen des Chronic- Besonderheiten des amerikanischen Gerichtssystems begrün-
fatigue-Syndroms. Seit ersten Entschädigungsentscheidun- det ist.
gen nehmen die Klagen über diese Art von Beschwerden zu. Von Bedeutung ist, dass alle kausalen Aussagen zu diesem
Es gibt keine schlüssigen Beweise für eine toxische Beschwerdekomplex von Mitgliedern einer Medizingruppe
Begründung solcher Beschwerden bei intakten Implantaten. stammten (die dann auch vor Gericht als Gutachter auftraten
Dennoch rechnet man in den USA mit Entschädigungs- und an den Entschädigungen beteiligt wurden).
summen im 7-stelligen Bereich, was nicht zuletzt durch die

Erst kürzlich musste ein bekannter Forscher auf diesem Ge- 15 Tage pro Monat oder 180 Tage pro Jahr über wenigstens
biet in einem Gerichtsverfahren eingestehen, dass Daten, die er 6 Monate hinweg mit wenigstens zwei der nachfolgend ge-
in einem Gutachten für die Verbindung des Chronic-fatigue- nannten Schmerzcharakteristika:
Syndroms zu Umweltgiften vorgelegt hatte, nicht korrekt waren. 4 drückender oder ziehender Schmerz,
4 leichte bis mäßige Intensität, die tägliche Aktivitäten beein-
3Verlauf und Therapie. Der Verlauf ist wellenförmig, aber trächtigt, aber nicht unmöglich macht,
insgesamt chronisch, mit einer Dauer von 2,5 Jahren oder sehr 4 beidseitige Lokalisation,
viel länger. Charakteristika, die den Verlauf bestimmen, sind 4 keine Verstärkung durch körperliche Aktivität, ferner: kein
nicht bekannt. Erbrechen,
4 Eine rationale oder wenigstens erfolgreiche Therapie ist 4 nur eines der Kriterien Übelkeit, Licht- oder Geräusch-
nicht bekannt. Überempfindlichkeit,
4 Bei dieser Lage ist es wichtig, dass der behandelnde Arzt 4 Ausschluss einer zugrunde liegenden Krankheit.
den Patienten »annimmt« und ihm ein Behandlungsprogramm
anbietet, das sich aus mehreren Komponenten zusammen- Viele Patienten sind emotional instabil, was man als Mitursache
setzt: oder Folge der Kopfschmerzsymptomatik ansehen kann.
5 Physiotherapie,
5 Übungsbehandlung, gegebenenfalls Akupunktur, 3Ätiologie. Es handelt sich um eine heterogene Gruppe von
5 tri- oder tetrazyklische Antidepressiva in kleinen Dosen, Kopfschmerzen. Bei einem Teil der Patienten hat sich der täg-
5 Verhaltenstherapie. liche Kopfschmerz aus einer periodisch verlaufenden Migräne
entwickelt und hat diese abgelöst oder tritt in den Intervallen
Sozialmedizinische Beurteilung. Man kann überlegen, ob das zwischen Kopfschmerzattacken auf. Bei anderen Patienten liegt
chronische Müdigkeitssyndrom nicht den Platz einnimmt, den ein durch Analgetika oder Ergotamin induzierter Kopfschmerz
im vergangenen Jahrhundert die »Neurasthenie« eingenom- vor. Die Analgetika sind vor allem Parazetamol und Azetylsali-
men hatte, damals definiert als ätiologisch heterogene »reiz- zylsäure in Kombinationspräparaten. Eine Sondergruppe ist die
bare Schwäche«. Hierzu ein Zitat von Möbius (1894): Hemicrania continua. Sie bessert sich zuverlässig auf Indome-
»Der neue Name [d.h. Neurasthenie] bezauberte Ärzte und tacin, was als diagnostisches Kriterium gewertet wird.
Laien, so dass die »neue Krankheit« rasch Bürgerrecht erhielt.«
Neurasthenie findet sich übrigens jetzt wieder im Diag- 3Therapie und Prognose. Die Therapie des medikamen-
nosesystem der Psychiatrie. teninduzierten Kopfschmerzes beginnt, nach eingehender Be-
Die sozialmedizinische Beurteilung verlangt angesichts ratung über die pathogene Bedeutung von chronisch einge-
der krass uneinheitlichen Meinungsäußerungen von Seiten der nommenen Schmerzmitteln, mit
Forscher und Ärzte eine gut fundierte eigene Meinungsbildung. 4 abruptem Absetzen der bisher genommenen Medikamen-
Einschlägige Interessengruppen und Selbsthilfeorganisationen te, am besten unter stationären Bedingungen;
neigen dazu, der »Schulmedizin« zu unterstellen, dass sie sich 4 gleichzeitig gibt man symptomatisch Naproxen,
Fortschritten in der Erkenntnis zu dieser und auch anderen 4 gefolgt von der Einleitung einer Prophylaxe mit Amitryp-
Befindlichkeitsstörungen absichtlich entgegenstelle. tilin.

Die Prognose ist nur bei straffer Führung der Patienten gut.
36.5 Chronischer, täglicher Kopfschmerz

In der Internationalen Klassifikation der Kopfschmerzen wird 36.6 Spätfolgen nach Halswirbel-
die Bezeichnung chronischer Kopfschmerz vom Spannungs- säulendistorsion
typ verwendet. Diese Form macht etwa 40% der Patienten aus,
die sich in einer Kopfschmerzklinik vorstellen. Von chronischen oder Spätfolgen nach HWS-Distorsion spricht
man, wenn von einem Unfall Betroffene länger als 6 Monate
3Symptome und Diagnose. Die operationalen diagnos- nach dem Trauma über Beschwerden klagen und auf den Unfall
tischen Kriterien sind: Kopfschmerzhäufigkeit wenigstens zurückführen.
792 Kapitel 36 · Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen von unklarem Krankheitswert

Exkurs
Hypothesen und Legenden zur Ätiologie von HWS-assoziierten Beschwerden
Zur Erklärung von Gedächtnisstörungen, aber auch von Tinni- einem erheblichen Anteil – aus der A. chorioidea anterior aus
tus und Sehstörungen wie Doppelbildern und Gesichtsfeld- der A. carotis interna versorgt.
defekten, wird oft darauf verwiesen, dass die A. vertebralis in Neuerdings werden die chronischen Beschwerden nach
einem Knochenkanal der HWS verläuft und mit ihren End- HWS-Distorsion auf eine traumatisch verursachte Instabilität in
ästen Hirnstamm (Augenmuskelkerne), Innenohr, die Reprä- den Gelenken C0/C1 und C1/C2 zurückgeführt. Diese soll v.a.
sentation der Gesichtsfelder in der Sehrinde und »Gedächtnis- durch eine erworbene Schädigung und damit Asymmetrie der
strukturen« im basalen Temporallappen versorgt. Ligamenta alaria erklärt werden. Diese Bänder verbinden die
Diese Interpretation übersieht die Ausgleichs- und Ver- Spitze des Dens axis mit der Gelenkfläche der Kondylen des
teilerfunktion des Circulus arteriosus Willisii. Eine vaskuläre Hinterhauptbeins und stabilisieren die Bewegungen in den
Hypothese würde voraussetzen, dass eine Unterbrechung Kopfgelenken. Die Untersuchungen, die der Hypothese einer
des Zuflusses zum hinteren Hirnkreislauf von der Dauer traumatischen Instabilität zugrunde liegen, sind allerdings
einer Zehntelsekunde die Durchströmung in der A. basilaris, nicht an lebenden Personen ausgeführt worden. Der Nachweis
in den von dieser fast rechtwinklig abgehenden langen, dieser Instabilität am Patienten soll mit speziellen funktio-
zirkumferenten Brückenarterien, in der aus der A. cerebelli nellen, radiologischen Techniken (CT und MRT) möglich sein.
inferior anterior und der von dieser oder von der A. basilaris Einige radiologische Institute haben sich auf diese Untersu-
abgehenden A. auditiva interna und noch weiter distal da- chungstechniken spezialisiert.
von in deren Endästen, R. cochlearis und R. vestibularis unter Gegen die dabei erhobenen Befunde sind gravierende
eine kritische Grenze vermindert. Für den Hippocampus methodologische Einwände erhoben worden, und auch die
müsste sich die Durchblutungsminderung jenseits der Erstbeschreiber sind vorsichtig von ihren Mitteilungen abge-
A. basilaris in den Aa. communicantes posteriores und in rückt. Die angesprochene Hypothese kann deshalb, bevor ein
den Aa. chorioidea posteriores auswirken. Die temporo- Konsens erreicht ist, nicht zur Grundlage von ätiologischen
basalen Gedächtnisstrukturen werden aber auch – und zu Interpretationen gemacht werden.

3Inzidenz. Die Inzidenz steht nicht in Beziehung zu der lektiv von 15.300 Personen klagten etwa 45% der Befragten
Schwere des initialen Traumas, sondern zu außermedizi- über Müdigkeit und Kopfschmerzen.
nischen Umständen. Versicherte klagen häufiger, länger und
über schwerere Befindlichkeitsstörungen als nicht Versicherte, 3Neurologische Untersuchung und Diagnostik. Bei der
und eine ermutigende Einstellung der behandelnden Ärzte neurologischen Untersuchung werden fast immer Normal-
wirkt sich günstig aus. Übervorsichtige Einstellung mit langer befunde erhoben. Elektrophysiologische Untersuchungen blei-
Krankschreibung, Verordnung von Halskrausen und Äuße- ben ohne pathologischen Befund, wenn die in 7 Kap. 1 genann-
rungen über zweifelhafte Prognose dagegen wirken intensi- ten Kriterien für die Feststellung von sog. Denervierungs-
vierend auf die Beschwerden. Im Lancet wurde 1996 eine auf- potentialen und die Abhängigkeit der Nervenleitgeschwindig-
36 schlussreiche Untersuchung publiziert: In Litauen ist die PKW- keit von der Raumtemperatur berücksichtigt werden. Auf
Insassen-Unfallversicherung fast unbekannt. Personen, die Röntgenaufnahmen der Halswirbelsäule werden Steilstellung
einen Auffahrunfall erlitten hatten, klagten dort nicht häufiger und Bewegungseinschränkung bei Funktionsaufnahmen be-
über chronische Nacken- und Kopfschmerzen als gesunde und schrieben, Veränderungen, die nur im Zusammenhang mit
arbeitsfähige Kontrollpersonen. starken, objektiven Befunden als pathologisch bewertet wer-
den können. Degenerative Veränderungen sind in der Regel
3Symptome. Die lokalen Beschwerden schließen Nacken- altersentsprechend.
und Hinterkopfschmerzen, Schmerzen, die in einen Arm oder Neuropsychologische Störungen werden vor allem als
beide Arme ausstrahlen, auch Kopf- und Augenschmerzen ein. Beeinträchtigung von Konzentration und Merkfähigkeit be-
Die Ausstrahlung lässt sich oft der segmentalen Innervation schrieben. In Testuntersuchungen fällt die Langsamkeit der
nicht zuordnen. Nervale Beziehungen zwischen der HWS und Antworten und eine verminderte Merkspanne auf. Diese Tests
der Augenregion oder der Stirn bestehen nicht. sind, wie leicht einsichtig, stark von der aktiven Mitarbeit des
Die allgemeinen Beschwerden sind: Tagesmüdigkeit, Untersuchten abhängig. Die Feststellung, ob der Proband gut
Schlafstörung, Angst, Geräuschempfindlichkeit, Unkonzent- motiviert und leistungsbereit war, gehört zu jedem psychischen
riertheit, Reizbarkeit und verminderte Belastbarkeit, Sehstö- Befund, und es ist bekannt, dass Depressivität die Leistungsbe-
rungen der verschiedensten Art bis zur Wahrnehmung von reitschaft hemmt.
Doppelbildern sowie Hörminderung mit Ohrgeräuschen und Um die Frage der Gedächtnisstörungen auf eine objek-
Gleichgewichtsstörungen. Verschiedene Untersucher heben tive Grundlage zu stellen, wurden in der Schweiz 2 Grup-
unterschiedliche Schwerpunkte in diesem Spektrum von Miss- pen von Personen 6 Monate nach einer Halswirbelsäulen-
befinden hervor, und gleichartige Beschwerden werden bei der distorsion mit einem Test untersucht, der zuverlässig quan-
Mehrzahl der in diesem Kapitel beschriebenen Befindlich- titative und qualitative Aspekte des Lernens überprüft. Die
keitsstörungen, aber auch in einem hohen Prozentsatz der eine Gruppe umfasste Patienten, die noch Beschwerden klag-
Durchschnittsbevölkerung erhoben: In einem Schweizer Kol- ten, die andere Gruppe war beschwerdefrei. Es fanden sich
36.7 · Simulationssyndrome
793 36
keine systematischen Unterschiede zwischen den beiden Ebenso verschwand in Australien sehr schnell die »Eisenbah-
Gruppen. nerhand« in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts, nachdem
diese Diagnose die Arbeit an der Errichtung der Eisenbahn-
> Das Syndrom der Spätfolgen nach traumatischer
linien des Kontinents epidemieartig lahmgelegt hatte: Per Ge-
Halswirbelsäulendistorsion besteht aus therapie-
setz wurde diese »Diagnose« nicht mehr als Krankheit aner-
resistenten lokalen Schmerzen und allgemeinen Be-
kannt. Handbeschwerden bei einseitiger körperlicher Tätigkeit
schwerden von Müdigkeit bis Gedächtnisstörungen.
tauchen immer wieder in verschiedenen Verkleidungen auf,
Objektivierbare pathologische Befunde sind nicht
zurzeit ist es der »Mausarm« oder die »Keyboardhand«.
festzustellen, Theorien zur Pathogenese sind unplau-
Die Liste der unscharf definierten Syndrome ließe sich ver-
sibel. Es besteht eine positive Beziehung zwischen
längern: In den angloamerikanischen Ländern wird repetitive
der Möglichkeit, eine materielle Entschädigung für
strain injury von bestimmten Kreisen lebhaft vertreten, obwohl
Folgen des Unfalls zu erlangen, und dem Auftreten
die Kriterien repetitive und strain nicht klar definiert sind und
und der Dauer der Beschwerden.
injury bisher nicht objektiviert werden konnte. Weitere Bei-
spiele aus der jüngeren Zeit sind die »Bildschirmblindheit«
Zusammenfassung der bisher besprochenen und die »Informationsmüdigkeit«. Fehlende Objektivierbar-
Beschwerdekomplexe keit ist per se kein sehr starkes Argument gegen die Existenz
Die in der Literatur und mehr noch in der Praxis als ätiolo- dieser Gruppe von Beschwerden, wohl aber das wellenförmige
gisch abgrenzbar beschriebenen Beschwerdesyndrome haben Kommen und Gehen und die geographisch unterschiedliche
wichtige Leitsymptome gemeinsam: Inzidenz unter gleichen Arbeitsbedingungen, in deutlicher
4 Kopfschmerzen, Abhängigkeit vom sozialmedizinischen Umfeld, einschließlich
4 Tagesmüdigkeit, der Gewährung einer Entschädigung.
4 Leistungsschwäche,
4 Konzentrations- und Gedächtnisstörungen,
4 wandernde Schmerzen. 36.7 Simulationssyndrome

Diese Beschwerden werden auf Befragen von einem nennens- 3Definition. Simulationssyndrome (engl. factitious dis-
werten Prozentsatz der Durchschnittsbevölkerung geklagt, orders = »künstliche« oder »gemachte Krankheiten«) sind
und sie gehören auch zu der Symptomatik somatoformer, de- weitaus häufiger als gemeinhin angenommen. Man unter-
pressiver Störungen des Befindens. Objektivierbare, patholo- scheidet verschiedene Varianten, bei denen zunächst die
gische Befunde sind fast nie zu finden, und wenn sie beschrie- Unterscheidung zwischen bewusstseinsnaher, böswilliger Täu-
ben werden, stehen sie alternativen Interpretationen offen. schung (malingering) und der psychogenen Symptomge-
Weder endokrinologisch noch immunologisch noch toxiko- staltung, die in ihrer Ausprägung zwar willkürlich ist, der aller-
logisch noch indirekt über allgemeine Laboruntersuchungen dings eine oft unbewusste, psychiatrische Basis zugrunde liegt.
ist die Spezifität der beschriebenen Symptomenkomplexe Im ersten Fall liegt dann auch ein sekundärer Krankheits-
wahrscheinlich gemacht worden. gewinn nahe, der finanziell (Entschädigung) oder auch der
Es ist bemerkenswert, dass sie versicherungsrechtlich und Triumph, andere an der Nase herumgeführt zu haben, sein
juristisch als Krankheiten anerkannt werden, obwohl diese An- kann. Im zweiten Fall ist ein fließender Übergang zur somato-
erkennung durch die zuständigen medizinischen Fachgesell- formen Störung zu erkennen, auch wenn es gewisse Unter-
schaften nicht ausgesprochen wird. Der Einwand von Interes- schiedskriterien gibt.
sengruppen, dies zeige die Voreingenommenheit der Schul-
medizin, kann nicht überzeugen, denn auf anderen Gebieten, 3Allgemeine Symptome und Charakteristika. Allen ge-
z.B. hinsichtlich der Akupunktur oder der additiven Verord- meinsam ist die Neigung, unter dramatischen Umständen,
nung von alternativen Behandlungsverfahren, deren Wirksam- verbunden mit vermeintlich klaren, objektiven Befunden (Blut
keit nicht erwiesen ist, hat sich die Schulmedizin keineswegs im Urin, Stauungsödem, Anämie nach selbst durchgeführtem
verschlossen. Aderlass, Sepsis durch Eigeninfektion u.v.m.) in Notaufnah-
Es handelt sich um massenpsychologische Phänomene, men zu erscheinen und dort zum »Fall des Tages« zu avancie-
die zivilisationsbedingte Ängste ausdrücken und zu deren ren, oft in den Abend- und Nachtstunden in der Hoffnung, auf
Ausbreitung ein Mangel an ermutigender Aufklärung durch weniger erfahrenes Personal zu treffen. Es sind Fälle bekannt,
kompetente Ärzte ebenso beiträgt wie die Verbreitung von die auf einer Art Wanderschaft in wenigen Jahren viele ver-
unbewiesenen, oft unplausiblen Annahmen in der Öffent- schiedene Notaufnahmen, mit immer wechselnden, drama-
lichkeit. tischen Symptomen aufgesucht haben und in der Regel auch
Es gibt vergleichbare Phänomene in vergangenen Zeiten: stationär aufgenommen wurden. Oft reisen diese Patienten
So wurde nach der Einführung der Eisenbahn befürchtet, dass unter falschem Namen, mit geliehener Identität, die auch An-
sich die Erschütterungen in den Waggons schädlich auf die erkennung hervorrufen soll: Natürlich sind sie privatversichert,
Wirbelsäule der Fahrgäste auswirken und einen Krankheits- haben aber die Versicherungskarte nicht dabei. Sie sind ehe-
zustand auslösen könnten, der als railway spine bezeichnet maliger Fighterpilot, emeritierter Professor, verarmter Adel
wurde. Vermutlich waren die Erschütterungen in den Pferde- oder früherer Sportstar. Am nächsten Morgen findet man das
kutschen stärker. Railway spine geriet bald in Vergessenheit. Bett verlassen und bleibt auf den Kosten sitzen.
794 Kapitel 36 · Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen von unklarem Krankheitswert

Mittelalte Männer dominieren in dieser Gruppe. Auch An- tischen und therapeutischen Maßnahmen und verlassen die
gehörige medizinischer Berufe können hier zu großen Auf- Krankenhäuser bald auf eigenen Wunsch. Dann stellt sich he-
tritten gelangen: Hypoglykämie durch Insulininjektion und raus, dass die Angaben zur Person und zur Vorgeschichte
die bei manchen jungen Damen beobachteten wechselnden ebenso falsch waren, wie die bei der Aufnahme dargebotenen
Pupillenanomalitäten, die sicher bei den ersten 1- bis 2-mal ein Symptome. Die Inzidenz ist nicht bekannt. Sie ist vermutlich
MRT, früher eine Karotisangiographie nach sich zogen. Ich gering. Dennoch ist die Kenntnis des Syndroms wichtig, wenn
erinnere mich noch sehr gut an die differentialdiagnostischen man nicht indizierte, konservative und operative Behand-
Probleme, die ich mit einer jungen OP-Schwester hatte, die in lungen vermeiden will.
der prä-CT-Ära mehrere Male mit einer weiten, lichtstarren
Pupille und Kopfschmerzen zu uns kam, zweimal angiogra- 3Symptome. Es gibt lokale und Allgemeinsymptome. Die
phiert wurde, bis uns auffiel, dass am nächsten Morgen die lokalen treten in drei Varianten auf:
andere Seite weit und lichtstarr geworden war. Die Mydriatika 4 Beim akuten abdominellen Typ klagen Patienten so in-
im Nachttischschrank erleichterten dann die Diagnose. tensiv und so charakteristisch über Bauchbeschwerden und
Während oft der Wunsch nach einer Unterbringung für die verstehen es, so überzeugend pathologische Tastbefunde zu
Nacht, an rezeptpflichtige Schmerzmittel zu kommen oder einer imitieren, dass sie gewöhnlich als Notfall operiert werden.
finanziellen Abfindung nach Bagatellverletzung als Auslöser zur Nach häufigen Bauchoperationen bilden sich sekundäre Ver-
bewussten Vortäuschung von Symptomen führend sind, sind wachsungen aus, die ihrerseits zu Beschwerden und Symp-
auch subtilere Formen des Krankheitsgewinns auch möglich. tomen Anlass geben und zu weiteren Krankenhausaufenthal-
Diese reichen von Einflussnahme auf Familienstrukturen (Toch- ten mit Operationen führen.
ter soll nicht wegziehen), Steigerung der Selbsteinschätzung bis 4 Der hämorrhagische Typ ist darauf spezialisiert, dass
hin zu autoaggressiven Verhaltensweisen. Man schätzt, dass Blutungen aus der Lunge oder aus dem Magen auftreten, die
etwa 1% der Notfallpräsentationen in diese Kategorien gehört. Gastro- oder Bronchoskopie nach sich ziehen.
4 Der neurologische Typ äußert plötzliche, heftige Kopf-
3Ethische und juristische Aspekte. Verbunden hiermit schmerzen, die den Verdacht auf eine Subarachnoidalblutung
sind eine Reihe ungelöster medizinisch ethischer Aspekte: lenken oder bekommt plötzliche Anfälle von Bewusstlosigkeit
4 Darf man den Patienten mit dem Verdacht konfrontieren? oder Lähmungen.
4 Ist Videobeobachtung erlaubt?
4 Dürfen wir den Patienten heimlich beobachten (»Habe Allgemein täuschen die Patienten nicht nur Krankheitssymp-
Herrn X eben auf dem Flur gesehen, da ging er ganz flott und tome vor, sondern schmücken auch ihre Lebensgeschichte
ohne Probleme.«)? Versicherungen haben Detektive auf Simu- reichhaltig aus: Sie geben falsche Namen, Adressen und Berufe
lanten angesetzt, die bei angeblich unbeweglichen Rollstuhl- an, und sie berichten dramatische biographische Details, die
fahrern gelungene Video-Dokumentationen von erfolgreichem sich bei Überprüfung als unwahr erweisen.
Training im Fitness-Center vorlegten. Die Patienten lassen mit einer bemerkenswerten Toleranz
4 Dürfen wir die Patienten ohne deren Willen an die Psy- invasive diagnostische Maßnahmen, z. B. Angiographie, und
chiatrie verweisen? Behandlungsverfahren, z. B. Operationen, selbst tagelange,
36 4 Was ist mit den Büchern in den Ambulanzen, in denen die maschinelle Beatmung über sich ergehen. Nach wenigen Tagen
immer wiederkehrenden Kandidaten aufgelistet sind? brechen sie Streitigkeiten mit Schwestern und Ärzten vom
4 Wann müssen wir Polizei oder Versicherungen informie- Zaun und verlassen auf eigene Verantwortung das Kranken-
ren (besonders bei großer Eigen- oder Fremdgefährdung, s.u., haus, zuweilen noch bevor ihre Wunden verheilt sind. Kurze
Münchhausen-by-proxy)? Zeit später suchen sie mit den gleichen Beschwerden ein ande-
4 Und schließlich: Wer zahlt bei selbstinduzierten Schäden? res Krankenhaus auf. Die Symptomatik bleibt stets konstant.

3Therapie und Verlauf. Versuche, diese schwere Verhal-


36.7.1 Münchhausen-Syndrom tensstörung zu behandeln, sind erfolglos geblieben, weil die
Patienten die Störung nicht reflektieren und/oder diskutieren.
Diese Verhaltensstörung wurde 1951 beschrieben. Patienten Sie sind selten süchtig, selten Vagabunden oder Betrüger in
mit Münchhausen-Syndrom suchen unter dramatischen Um- anderen Lebensbereichen. Sie haben keinen Vorteil durch
ständen Krankenhäuser auf, unterziehen sich bewusst unan- ihr Verhalten, sondern fügen sich, nach unseren Maßstäben,
genehmen, oft schmerzhaften, auch risikobehafteten diagnos- Schaden zu. Psychiatrisch wird diese Verhaltensabnormität in

Exkurs
Münchhausen by proxy
Es gibt eine Variante des Syndroms, im Englischen als eine medizinische Veranlassung dafür besteht und ohne dass
»Münchhausen by proxy« bezeichnet. Dabei setzen Mütter ein psychologisches Motiv erkennbar ist. Es einfach in die
ein Kind unter Vorgabe falscher Symptome (Blut in der Nähe der Kindesmisshandlung zu rücken, ist zu simpel. Hier
Windel, Krämpfe) der Krankenhausaufnahme und teilweise liegt eine schwere psychische Abnormität mit Neigung zu
gravierenden, diagnostischen Maßnahmen aus, ohne dass Selbst- und Fremdgefährdung vor.
36.7 · Simulationssyndrome
795 36
den Bereich der Selbstverletzungen eingeordnet. Es scheint, Die Beschwerden werden stärker, die Untersuchungen
dass sie auf einem speziellen Gebiet lügen um des Lügens aufwendiger und invasiver, und der Patient, der gewöhnlich
willen und aus den ihnen zugefügten Schmerzen einen sekun- einen Aktenordner mit Vorbefunden bei sich hat und inzwi-
dären Krankheitsgewinn erzielen. schen über gute differentialdiagnostische Kenntnisse verfügt,
Es gibt Fälle, in denen die Einweisungsgründe so schwere treibt einen Arzt nach dem anderen mit drängenden Fragen,
Selbstverletzungen einschlossen, dass die Patienten nicht über- auch unter kritischem Hinweis auf frühere Untersucher und
lebten. Andere Patienten sterben an Komplikationen der von Forderungen nach besserer Diagnostik, in die Verzweiflung.
ihnen provozierten Eingriffe. Eine psychologisch orientierte Oft werden aber auch Voruntersuchungen bewusst verschwie-
Therapie ist selten möglich, weil die Patienten immer wieder gen, wodurch solche Patienten leicht auf 3–4 MRTs unter-
den Arzt wechseln. schiedlicher Körperregionen innerhalb weniger Monaten
kommen.
Da es zu keiner klaren Diagnose kommt, sind die probato-
36.7.2 Koryphäenkiller-Syndrom risch vom Arzt vorgeschlagenen Therapien mit erkennbarer
Unsicherheit auf seiner Seite belastet. Die fortgesetzten Fehl-
Das Koryphäenkiller-Syndrom (KKS) hat Ähnlichkeiten mit schläge führen zur Enttäuschung auf beiden Seiten, die den
dem Münchhausen-Syndrom, unterscheidet sich davon aber oben beschriebenen Mechanismus in Gang hält. Diese Patien-
in wichtigen Charakteristika und, soweit erkennbar, in der Psy- ten sind zugleich häufige Opfer von Scharlatanen und sektie-
chodynamik. rerischen Außenseitermethoden. Die Verfügbarkeit ungefil-
terter Informationen im Internet ist in diesem Zusammenhang
3Symptome und Interaktionen. Eine diffuse Symptomatik keineswegs eine Entlastung.
ist führend, die sich auf Organe im Brustkorb oder Bauch, auf Ein weiteres Charakteristikum ist, dass sich keine stabile
Schmerzen, Sensibilitätsstörungen oder Bewegungsstörungen Beziehung zwischen Patient und Arzt entwickelt. Vielmehr
bezieht, die eindrucksvoll als extrem bedrückend geschildert bleibt die Beziehung oberflächlich und wird bald von Miss-
wird, aber nicht für definierte Krankheiten typisch ist. trauen und Enttäuschung geprägt, so dass beide Seiten den
Durch die Heftigkeit und gleichzeitige Unbestimmtheit Wunsch verspüren, die Beziehung durch Überweisung an ei-
dieser Beschwerden fühlen sich viele Ärzte aufgefordert, mit nen anderen Spezialisten zu beenden.
großem persönlichen und apparativen Einsatz diagnostische
Maßnahmen zu veranlassen, die sie bei einem Durchschnitt- 3Therapie. Die Therapie ist denkbar schwierig, weil der
spatienten nicht für angemessen halten würden. Der hohe diag- Patient keinen seelischen Leidensdruck hat und voll in der
nostische Aufwand führt aber nicht zur Diagnose. Der Patient Konversion ins Körperliche aufgeht. Der behandelnde Arzt
wird ungeduldig, der Arzt kommt an die Grenzen seiner Mög- sollte erkennen, dass seine diagnostischen und therapeutischen
lichkeiten und überweist den Patienten an einen bekannten Maßnahmen Abwehrmechanismen ausdrücken, und muss die
Spezialisten (die »Koryphäe«), der seinerseits große, wiederum Kraft entwickeln, die Tatsache anzusprechen, dass bei dem Pa-
vergebliche, aber immer teurer werdende diagnostische An- tienten eine psychische Fehlentwicklung vorliegt.
strengungen unternimmt.

In Kürze

Sick-building-Syndrom

Symptome: Lokale Symptome wie trockene Augen, ver- Ätiologie: Unklar; angeblich verschiedene Umwelteinflüsse.
stopfte Nase, Reizempfindungen im Rachen, Atembeschwer-
den, Engegefühl um die Brust, Jucken und Rötung der Haut, Fibromyalgie-Syndrom
allgemeine Symptome wie Kopfschmerzen, unsystemati-
Symptome: Spontane Schmerzen von multipler Lokalisation,
scher Schwindel, periodische oder chronische Müdigkeit,
Druck auf (inkonsistente) »Schmerzpunkte« löst lokale oder
Konzentrationsstörungen, Antriebsarmut und Gleichgültig-
weit entfernt lokalisierte Schmerzen aus, allgemeine Symp-
keit, Gliederschmerzen.
tome wie Müdigkeit, schlechter Schlaf.
Ätiologie: Unklar; vermeintlich klimatische Bedingungen
Ätiologie: Existenz eines traumatischen Fibromyalgie-Syn-
in Innenräumen der Gebäude, mögliche Kontamination der
droms ist nicht belegt.
Luft in Klimaanlagen.
Chronisches Erschöpfungssyndrom
Idiopathische, umweltbezogene Unverträglichkeit
Symptome v.a. bei Frauen zwischen 20–50 J.: Erschöpfungs-
Symptome: Kopfschmerzen, unsystematischer Schwindel, zustand mit grippeähnlichen Symptomen >6 Monate, Be-
Tagesmüdigkeit, Muskelschmerzen, Konzentrationsschwä- einträchtigung der Arbeitsfähigkeit, variable somatische und
che, Geruchsüberempfindlichkeit. psychische Beschwerden.
6
796 Kapitel 36 · Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen von unklarem Krankheitswert

Ätiologie: Unklar; angeblich u.a. chronische Virusinfektionen, Symptome: Lokale Beschwerden wie Nacken-, Hinterkopf-
Umweltbelastung, abnormer Serotoninstoffwechsel oder und Augenschmerzen. Allgemeine Beschwerden wie Tages-
endokrine Funktionsstörungen, mitochondriale Defekte. müdigkeit, Schlaf-, Seh-, Gleichgewichtsstörungen, Reizbarkeit,
Angst, Geräuschempfindlichkeit, Unkonzentriertheit, Hör-
Chronischer, täglicher Kopfschmerz minderung.

Symptome: Drückender oder ziehender Schmerz von leich- Simulationssyndrome


ter bis mäßiger Intensität, beidseitige Lokalisation, keine
Verstärkung durch körperliche Aktivität, Übelkeit, Licht- oder Münchhausen-Syndrom. Verhaltensstörung, bei der Patien-
Geräusch-Überempfindlichkeit. Häufigkeit: ≥15 Tage/Monat ten mit vorgetäuschten Krankheitssymptomen unter drama-
oder 180 Tage/Jahr über ≥6 Monate. tischen Umständen Krankenhäuser aufsuchen, sich unange-
Ätiologie: Aus periodisch verlaufender Migräne entwickelt, nehmen, oft schmerzhaften, auch risikobehafteten diagnos-
Analgetikum- oder Ergotumin induziert. tischen und therapeutischen Maßnahmen unterziehen und
Therapie: Abruptes Absetzen der bisher genommenen Me- auf eigenen Wunsch die Krankenhäuser verlassen.
dikamente, symptomatische Naproxen-Gabe, Amitryptilin-
Prophylaxe. Koryphäenkiller-Syndrom. Verhaltensstörung mit hartnäcki-
gen, aber untypischen Beschwerden, die trotz intellektuellem
Spätfolgen nach Halswirbelsäulendistorsion und apparativem Aufwand keiner definierten Krankheiten
zuzuordnen ist. Es kommt zu keiner klaren Diagnose oder
Beschwerden halten länger als 6 Monate nach dem Trauma Therapie, Patient wird an anderen Spezialisten überwiesen.
an und sind auf den Unfall zurückzuführen.

36
Anhang

A1 Skalen – 799

A2 Danksagung – 813

A3 Weiterführende Literatur – 817

A4 Sachverzeichnis – 819
A1

A1 Skalen

A1.1 Schlaganfall – 800


NIH-Stroke Scale – 800
Modified Rankin Scale – 802
Barthel Index – 802
ABCD2 Score – 803
Hunt and Hess-Scale (Subarachnoidalblutung) – 803
Subarachnoid Hemorrhage scale (WFNS) – 803

A1.2 Multiple Sklerose – 804


Die klassische Kurtzke-Skala bzw. DSS-Skala (Disability Status Scale) – 804
Die erweiterte Kurtzke-Skala bzw. EDSS-Skala (Expanded Disability Status Scale) – 805

A1.3 Trauma – 806


Glasgow Koma Skala – 806
Glasgow Outcome Scale – 806

A1.4 Demenz – 807


Mini-Mental-State Test – 807

A1.5 Myasthenia gravis – 809


Besinger-Score – 809

A1.6 Parkinson – 810


Staging of Parkinson’s Disease – 810
Unified Parkinson‘s Disease Rating Scale (UPDRS) – 810

A1.7 ECOG-Leistungsstatus und Karnofsky-Index – 811


800 Anhang

A1.1 Schlaganfall

NIH-Stroke Scale
(Nach www.gqhnet.de/Projekte/Akut/Instrument/NIHSS_akut.pdf)
Skala Item Anmerkungen Punkte
1a Bewusst- 0 wach, unmittelbar antwortend
seinslage 1 benommen, aber durch geringe Stimulation zum Befolgen von
(Vigilanz) Aufforderungen, Antworten oder Reaktionen zu bewegen
2 somnolent, bedarf wiederholter Stimulation um aufmerksam zu
sein, oder ist soporös und bedarf starker oder schmerzhafter
Stimulation zum Erzielen von Bewegungen (keine Stereotypien)
3 Koma, antwortet nur mit motorischen oder vegetativen Reflexen
oder reagiert gar nicht, ist schlaff und ohne Reflexe
1b Orientierung Frage nach Monat und Alter 0 beantwortet beide Fragen richtig
(Anmerkung: auch eindeu- 1 beantwortet eine Frage richtig
tige nonverbale Antworten
werden gewertet) 2 beantwortet keine Frage richtig
1c Befolgung Aufforderung die Augen und 0 führt beide Aufgaben richtig aus
von Auffor- die nicht-paretische Hand zu 1 führt eine Aufgabe richtig aus
derungen öffnen und zu schließen
2 führt keine Aufgabe richtig aus
2 Blickbewe- 0 normal
gungen 1 »Partielle Blickparese« Dieser Punktwert wird vergeben, wenn die
(Okulo- Blickrichtung von einem oder beiden Augen abnormal ist, jedoch
motorik) keine forcierte Blickdeviation oder komplette Blickparese besteht)
2 forcierte Blickdeviation oder komplette Blickparese, die durch Aus-
führen des okulozephalen Reflexes nicht überwunden werden kann
3 Gesichtsfeld 0 keine Einschränkung
1 partielle Hemianopsie (z.B. Quadrantenanopsie
2 komplette Hemianopsie
3 bilaterale Hemianopsie (Blindheit oder kortikaler Blindheit)
4 Faziale Parese 0 normale symmetrische Bewegungen
1 geringe Parese (abgeflachte Nasolabialfalte, Asymmetrie beim
Lächeln)
2 partielle Parese (vollständige oder fast vollständige Parese des
unteren Gesichts)
3 vollständige Parese einer oder zwei Seiten (fehlende Bewegungen
oberer und unterer Teil des Gesichts)
5 Motorik Amputation oder 0 kein Absinken, (Extremität wird über 10 s in der 90°(oder 45°)-
Arme (linker Gelenkversteifung angeben! Position gehalten)
Arm und Zählt 0 Punkte! 1 absinken, (Extremität wird zunächst bei 90° (oder 45°) gehalten,
rechter Arm) sinkt aber vor Ablauf von 10 s ab; das Bett (oder eine andere
Unterlage) wird nicht berührt)
2 anheben gegen Schwerkraft möglich; (Extremität kann die 90°
(oder 45°)-Position nicht erreichen oder halten, sinkt auf das Bett
ab, kann gegen Schwerkraft angehoben werden
3 kein (aktives) Anheben gegen die Schwerkraft, Extremität fällt
4 keine Bewegung
6 Motorik Amputation oder 0 kein Absinken, (Bein bleibt über 5 s in der 30°-Position)
Beine Gelenkversteifung angeben! 1 absinken, (Bein sinkt am Ende der 5 Sekundenperiode, berührt
(linkes Bein, Zählt 0 Punkte! das Bett jedoch nicht)
rechtes Bein)
2 aktive Bewegung gegen die Schwerkraft; (das Bein sinkt binnen
5 Sekunden auf das Bett ab, kann aber gegen die Schwerkraft
gehoben werden)
3 kein Anheben gegen die Schwerkraft, Bein fällt sofort auf das Bett
4 keine Bewegung
A1 · Skalen
801 A1

Skala Item Anmerkungen Punkte


7 Extremitäten- Wird bei Verständnis- 0 fehlend
ataxie schwierigkeiten oder Plegie 1 in einer Extremität vorhanden
als fehlend gewertet!
2 in zwei Extremitäten vorhanden
8 Sensibilität 0 normal; kein Sensibilitätsverlust
1 leichter bis mittelschwerer Sensibilitätsverlust; Patient empfindet
Nadelstiche auf der betroffenen Seite als wenig scharf oder stumpf,
oder es besteht ein Verlust des Oberflächenschmerzes für
Nadelstiche, doch nimmt der Patient die Berührung wahr.
2 schwerer bis vollständiger Sensibilitätsverlust; Patient nimmt die
Berührung von Gesicht, Arm und Bein nicht wahr.
9 Sprache 0 keine Aphasie; normal
1 leichte bis mittelschwere Aphasie; deutliche Einschränkung der
Wortflüssigkeit oder des Sprachverständnisses, keine relevante
Einschränkung von Umfang oder Art des Ausdruckes. Die Ein-
schränkung des Sprachvermögens und/oder des Sprachverständ-
nisses macht die Unterhaltung über die vorgelegten Untersuchungs-
materialien jedoch schwierig bis unmöglich. Beispielsweise kann
der Untersucher in einer Unterhaltung über die vorgelegten
Materialien anhand der Antwort des Patienten ein Bild oder eine
Wortkarte zuordnen.
2 schwere Aphasie, die gesamte Kommunikation findet über frag-
mentierte Ausdrucksformen statt: Der Zuhörer muss das Gesagte
in großem Umfang interpretieren, nachfragen oder erraten. Der
Umfang an Informationen, der ausgetauscht werden kann, ist
begrenzt; der Zuhörer trägt im wesentlichen die Kommunikation.
Der Untersucher kann die vorgelegten Materialien anhand der
Antworten des Patienten nicht zuordnen.
3 stumm, globale Aphasie; keine verwertbare Sprachproduktion
oder kein Sprachverständnis (auch bei Koma)
10 Dysarthrie Bitte Intubation oder andere 0 normal
mechanische Behinderungen 1 leicht bis mittelschwer, der Patient spricht zumindest einige Wörter
angeben! Sie werden mit verwaschen und kann, schlimmstenfalls, nur mit Schwierigkeiten
0 Punkten bewertet! verstanden werden
2 schwer, die verwaschene Sprache des Patienten ist unverständlich
und beruht nicht auf einer Aphasie oder übersteigt das auf eine
Aphasie
zurückzuführende Maß oder Patient ist stumm/anarthrisch
11 Auslöschung Bei fehlender Beurteilbarkeit 0 keine Abnormalität
und Nicht- =0 1 visuelle, taktile, auditive oder personenbezogene
beachtung Unaufmerksamkeit oder Auslöschung bei der Überprüfung von
(Neglect) gleichzeitiger bilateraler Stimulation in einer der sensiblen
Qualitäten
2 schwere halbseitige Unaufmerksamkeit oder halbseitige
Unaufmerksamkeit in mehr als einer Qualität. Kein Erkennen der
eigenen Hand oder Orientierung nur zu einer Seite des Raums.
Gesamt-
punktzahl
802 Anhang

Modified Rankin Scale


(Nach www.strokecenter.org/trials/scales/rankin.html)
Score Description
0 No symptoms at all
1 No significant disability despite symptoms; able to carry out all usual duties and activities
2 Slight disability; unable to carry out all previous activities, but able to look after own affairs without assistance
3 Moderate disability; requiring some help, but able to walk without assistance
4 Moderately severe disability; unable to walk without assistance and unable to attend to own bodily needs
without assistance
5 Severe disability; bedridden, incontinent and requiring constant nursing care and attention
6 Dead
Total (0-6)

Barthel Index
(nach www.strokecenter.org/trials/scales/barthel.html)
Feeding 0 unable
5 needs help cutting, spreading butter, etc., or requires modified diet
10 independent
Bathing 0 dependent
5 independent (or in shower)
Grooming 0 needs to help with personal care
5 independent face/hair/teeth/shaving (implements provided)
Dressing 0 dependent
5 needs help but can do about half unaided
10 independent (including buttons, zips, laces, etc.)
Bowels 0 incontinent (or needs to be given enemas)
5 occasional accident
10 continent
Bladder 0 incontinent, or catheterized and unable to manage alone
5 occasional accident
10 continent
Toilet Use 0 dependent
5 needs some help, but can do something alone
10 independent (on and off, dressing, wiping)
Transfers (bed to chair, and back) 0 unable, no sitting balance
5 major help (one or two people, physical), can sit
10 minor help (verbal or physical)
15 independent
Mobility (on level surfaces) 0 immobile or < 50 yards
5 wheelchair independent, including corners, > 50 yards
10 walks with help of one person (verbal or physical) > 50 yards
15 independent (but may use any aid; for example, stick) > 50 yards
Stairs 0 unable
5 needs help (verbal, physical, carrying aid)
10 independent
Total Score (0–100)
A1 · Skalen
803 A1
ABCD2 Score
(Nach www.strokecenter.org/trials/scales/ABCDScore.html )
Used to predict the risk of stroke during the first seven days after a TIA. Researchers found there to be over 30% risk of stroke in
TIA patients with an ‚ABCD score‘ of six, as compared to no strokes in those with a low ABCD score. Can be used in routine
clinical practice to identify high-risk individuals who require emergency investigation and treatment.
Risiko Factor ABCD-Score Categories Score
A Age of patient Age>/= 60 1
Age < 60 0
B Blood pressure at Assessment SBP < 140 or DBP >/= 90 1
Other 0
C Clinical Features presented with Unilateral weakness 2
Speech disturbance (no weakness) 1
Other 0
D(1) Duration of TIA symptoms >/= 60 min 2
10-59 min 1
<10 min 0
D(2) Diabetes yes 1
no 0

Hunt and Hess-Scale (Subarachnoidalblutung)


(Nach www.strokecenter.info/trials/scales/hunt_hess.html)
Description Grade Grade
Asymptomatic, mild headache, slight nuchal rigidity 1
Moderate to severe headache, nuchal rigidity , no neurologic deficit other than cranial nerve palsy 2
Drowsiness / confusion, mild focal neurologic deficit 3
Stupor, moderate-severe hemiparesis 4
Coma, decerebrate posturing 5

Subarachnoid Hemorrhage scale (WFNS)


(Nach www.strokecenter.org/trials/scales/WFNS.html)
The clinical grading system proposed by the World Federation of Neurologic Surgeons is intended to be a simple, reliable and
clinically valid way to grade a patient with subarachnoid hemorrhage. This system offers less interobserver variability than some
of the earlier classification systems
Glasgow Coma Score Motor Deficit * Grade
15 Absent 1
13–14 Absent 2
13–15 Present 3
7–12 Present or absent 4
3–6 Present or absent 5
* Where a motor deficit refers to a major focal deficit.

Interpretation:
4 Maximum score of 15 has the best prognosis
4 Minimum score of 3 has the worst prognosis
4 Scores of 8 or above have a good chance for recovery
4 Scores of 3-5 are potentially fatal
804 Anhang

A1.2 Multiple Sklerose

Die klassische Kurtzke-Skala bzw. DSS-Skala (Disability Status Scale)


(Nach http://www.rebif.at/ImagesAustria/23_DSS_&_EDSS_tcm100-4282.pdf)
0 Unauffälliger neurologischer Befund
1 Keine Behinderung, minimale Abnormität in einem funktionellen System (FS).
2 Minimale Behinderung in einem FS
3 Mäßiggradige Behinderung in einem FS; oder leichte Behinderung in drei oder vier FS, aber voll gehfähig.
4 Voll gehfähig ohne Hilfe und Rast über mindestens 500 m. Selbstversorgend. Aktiv während ca. 12 h pro Tag trotz
relativ schwerer Behinderung in einem FS.
5 Gehfähig ohne Hilfe und Rast über mindestens 200 m. Behinderung schwer genug, um die Alltagsaktivitäten zu
beeinträchtigen.
6 Benötigt intermittierend und auf einer Seite der Unterstützung (Krücke, Stock, Schiene), um etwa 100 m zu gehen
7 Unfähig, selbst mit Hilfe mehr als 5 m zu gehen. Weitgehend an den Rollstuhl gebunden.
8 Weitgehend an Bett oder Stuhl gebunden. Vermag nicht, den Rollstuhl ohne Hilfe zu bedienen
9 Hilfloser Patient im Bett. Kann essen und kommunizieren
10 Tod infolge MS.
A1 · Skalen
805 A1
Die erweiterte Kurtzke-Skala bzw. EDSS-Skala (Expanded Disability Status Scale)
(Nach http://www.rebif.at/ImagesAustria/23_DSS_&_EDSS_tcm100-4282.pdf)
0,0 Unauffälliger neurologischer Befund (Grad 0 in allen funktionellen Systemen [FS], Grad 1 im FS Psyche/Mentale
Funktionen ist akzeptabel).
1,0 Keine Behinderung, minimale Abnormität in einem FS (ein FS Grad 1; davon ausgenommen ist Grad 1 im FS Psy-
che/mentale Funktionen).
1,5 Keine Behinderung, minimale Abnormität in mehr als einem FS (mehr als ein FS Grad 1; davon ausgenommen ist
Grad 1 im FS Psyche/mentale Funktionen).
2,0 Minimale Behinderung in einem FS (ein FS Grad 2, andere 0 oder 1).
2,5 Minimale Behinderung in zwei FS (zwei FS Grad 2, andere 0 oder 1).
3,0 Mäßiggradige Behinderung in einem FS (ein FS Grad 3, andere 0 oder 1); oder leichte Behinderung in drei oder vier
FS (drei oder vier FS Grad 2, andere Grad 0 oder 1), aber voll gehfähig.
3,5 Voll gehfähig, aber mit mäßiggradiger Behinderung in einem FS (Grad 3) und ein oder zwei FS Grad 2; oder zwei FS
Grad 3; oder fünf FS Grad 2 (andere 0 oder 1).
4,0 Voll gehfähig ohne Hilfe und Rast über mindestens 500 m. Selbstversorgend. Aktiv während ca. 12 h pro Tag trotz
relativ schwerer Behinderung (ein FS Grad 4, übrige 0 oder 1; oder Kombinationen niedrigerer Grade, die über die
für die vorherigen Stufen geltenden Kriterien hinausgehen).
4,5 Voll gehfähig ohne Hilfe und Rast über mindestens 300 m. Aktiv während der meisten Zeit des Tages. Ganztägig
arbeitsfähig, ansonsten gewisse Einschränkung der Aktivität, benötigt minimale Hilfe. Relativ schwere Behinderung
(ein FS Grad 4, übrige 0 oder 1; oder Kombinationen niedrigerer Grade, die über die für die vorherigen Stufen gel-
tenden Kriterien hinausgehen).
5,0 Gehfähig ohne Hilfe und Rast über mindestens 200 m. Behinderung schwer genug, um die Alltagsaktivitäten zu
beeinträchtigen (d.h. ganztägige Arbeitsfähigkeit nur bei besonderen Vorkehrungen). Ein FS Grad 5, übrige 0
oder 1; oder Kombination niedrigerer Grade, die über die für Stufe 4,0 geltenden Kriterien hinausgehen.
5,5 Gehfähig ohne Hilfe und Rast über etwa 100 m. Behinderung schwer genug, um normale Alltagsaktivitäten unmög-
lich zu machen. (Übliche FS-Äquivalente: Ein FS Grad 5, übrige 0 oder 1; oder Kombination niedrigerer Grade, die
über die für Stufe 4,0 geltenden Kriterien hinausgehen.)
6,0 Benötigt intermittierend, oder auf einer Seite konstant, der Unterstützung (Krücke, Stock, Schiene), um etwa 100 m
ohne Rast zu gehen. (Übliche FS-Äquivalente: Kombinationen von mehr als zwei FS Grad 3+)
6,5 Benötigt konstant beidseits Hilfsmittel (Krücke, Stock, Schiene), um etwa 20 m ohne Rast zu gehen. (Übliche FS-
Äquivalente: Kombinationen von mehr als zwei FS Grad 3+)
7,0 Unfähig, selbst mit Hilfe mehr als 5 m zu gehen. Weitgehend an den Rollstuhl gebunden. Bewegt den Rollstuhl selbst
und transferiert ohne Hilfe. Im Rollstuhl aktiv ca. 12 h pro Tag. (Übliche FS-Äquivalente: Kombinationen von mehr
als zwei FS Grad 4+, selten Pyramidenbahn Grad 5 allein)
7,5 Unfähig, mehr als ein paar Schritte zu tun. An den Rollstuhl gebunden. Benötigt Hilfe für Transfer. Bewegt Rollstuhl
selbst, aber vermag nicht den ganzen Tag im Rollstuhl zu verbringen. Benötigt eventuell motorisierten Rollstuhl.
(Übliche FS-Äquivalente: Kombinationen von mehr als zwei FS Grad 4+)
8,0 Weitgehend an Bett, Stuhl oder Rollstuhl gebunden, verbringt aber den Großteil des Tages außerhalb des Betts.
Pflegt sich weitgehend selbstständig. Meist guter Gebrauch der Arme. (Übliche FS-Äquivalente: Kombinationen
meist von Grad 4+ in mehreren Systemen)
8,5 Weitgehend ans Bett gebunden, auch während des Tages. Einigermaßen nützlicher Gebrauch der Arme, einige
Selbstpflege möglich. (Übliche FS-Äquivalente: Kombinationen meist von Grad 4+ in mehreren Systemen)
9,0 Hilfloser Patient im Bett. Kann essen und kommunizieren. (Übliche FS-Äquivalente: Kombinationen meist von
Grad 4+)
9,5 Gänzlich hilfloser Patient. Unfähig zu essen, zu schlucken oder zu kommunizieren. (Übliche FS-Äquivalente: Kom-
binationen praktisch ausschließlich von Grad 4+)
10.0 Tod infolge MS.
806 Anhang

A1.3 Trauma

Glasgow Koma Skala


(Nach www.intensivcareunit.de/gcs.html)
Antwortverhalten/Reaktion Score
Augenöffnen
Spontan 4
Auf Aufforderung 3
Auf Schmerzreiz 2
Kein Augenöffnen 1
Beste sprachliche Antwort
Voll orientiert,/prompt 5
Verwirrt, desorientiert 4
Verworren, unangemessen 3
Unverständliche Laute 2
Keine 1
Beste motorische Reaktion
Adäquat auf Aufforderung 6
Gezielte Abwehr auf Schmerzreiz 5
Ungezielte Abwehr, Massenbewegungen 4
Beugesynergismen auf Schmerzreiz (Rigidität) 3
Strecksynergismen auf Schmerzreiz (Rigidität) 2
Keine Bewegung 1
Summe

Einteilung der Schweregrade in Abhängigkeit vom GCS-Wert


GCS-Wert Schweregrad
GCS Punkte 3–8 (bewusstlos) Schweres Schädelhirntrauma (SHT)/Schwere Bewusstseinsstörung oder Koma
GCS Punkte 9–12 Mittelschweres SHT/Mittelschwere Bewusstseinsstörung
GCS Punkte 13–15 Leichtes SHT/Leichte Bewusstseinsstörung

Glasgow Outcome Scale


(Nach www.strokecenter.org/trials/scales/glasgow_outcome.html)
Score Description
1 Death
2 Persistent vegetative state
Patient exhibits no obvious cortical function
3 Severe Disability
(Conscious but disabled). Patient depends upon others for daily support due to mental or physical disability or
4 Moderate Disability
(Disabled but independent). Patient is independent as far as daily life is concerned. The disabilities found include vary-
ing degrees of dysphasia, hemiparesis, or ataxia, as well as intellectual and memory deficits and personality changes.
5 Good Recovery
Resumption of normal activities even though there may be minor neurological or psychological deficits.
A1 · Skalen
807 A1
A1.4 Demenz

Mini-Mental-State Test
(Nach www.pflegedienst-aml.de/media/mmst-test.pdf)
Der MMST erlaubt anhand eines einfachen Fragebogens eine Abschätzung der kognitiven Fähigkeiten eines älteren Menschen.
Erfasst werden z.B. Orientierung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Rechnen, Sprache und konstruktive Praxis.
Testdauer: ca. 10 min
Auswertung: Zusammenzählen der Punkte
Interpretation:
30–27 Punkte: keine Demenz
26–18 Punkte: leichte Demenz
17–10 Punkte: mittelschwere Demenz
<10 Punkte: schwere Demenz
Aufgabe Punkte
1. Orientierung In welchem Jahr leben wir? Punkte 0–9
Welche Jahreszeit ist jetzt?
Welches Datum haben wir heute?
Welchen Monat haben wir?
In welchem Bundesland sind wir hier?
In welchem Land?
In welcher Ortschaft?
Wo sind wir (in welcher Praxis/Altenheim)?
Auf welchen Stockwerk?
2. Merkfähigkeit Fragen Sie den Patienten, ob Sie sein Gedächtnis prüfen dürfen. Nennen Punkte 0–3
Sie dann drei verschiedenartige Dinge klar und langsam (ca. 1 pro s)
»Zitrone, Schlüssel, Ball«. Nachdem Sie alle drei Worte ausgesprochen
haben, soll der Patient sie wiederholen. Die erste Wiederholung be-
stimmt die Wertung (vergeben Sie für jedes wiederholte Wort einen
Punkt), doch wiederholen Sie den Versuch, bis der Patient alle drei Wör-
ter nachsprechen kann. Maximal gibt es 5 Versuche. Wenn ein Patient
nicht alle drei Wörter lernt, kann das Erinnern nicht sinnvoll geprüft
werden.
3. Aufmerksamkeit und Bitten Sie den Patienten, bei 100 beginnend in 7er Schritten rückwärts Punkte 0–5
Rechnen zu zählen. Halten Sie nach 5 Substraktionen (93, 86, 79, 72, 65) an und
zählen Sie die in der richtigen Reihenfolge gegebenen Antworten. Bitten
Sie daraufhin das Wort »Preis« rückwärts zu buchstabieren. Die Wertung
entspricht der Anzahl von Buchstaben in der richtigen Reihenfolge (z.B.
SIERP=5, SIREP=3). Die höhere der beiden Wertungen wird gezählt.
4.Erinnern Fragen Sie den Patienten, ob er die Wörter noch weiß, die er vorhin Punkte 0–3
auswendig lernen sollte. Geben Sie einen Punkt für jedes richtige Wort.
5. Benennen Zeigen Sie dem Patienten eine Armbanduhr und fragen Sie ihn, was das Punkte 0–3
ist. Wiederholen Sie die Aufgabe mit einem Bleistift. Geben Sie einen
Punkt für jeden erfüllten Aufgabenteil.
6. Wiederholen Bitten Sie den Patienten, den Ausdruck »Kein Wenn und Aber« nachzu- Punkte 0–1
sprechen. Nur ein Versuch ist erlaubt.
7. Dreiteiliger Befehl Lassen Sie den Patienten den folgenden Befehl ausführen: »Nehmen Sie Punkte 0–3
ein Blatt in die Hand, falten Sie es in der Mitte und legen Sie es auf den
Boden.« Geben Sie einen richtigen Punkt für jeden richtig ausgeführten
Befehl.
8. Reagieren Schreiben Sie auf ein weißes Blatt in großen Buchstaben: »Schließen Sie Punkte 0–1
die Augen«. Der Patient soll den Text lesen und ausführen. Geben Sie
einen Punkt, wenn der Patient die Augen schließt.
808 Anhang

9. Schreiben Geben Sie dem Patienten ein weißes Blatt, auf dem er für Sie einen Satz Punkte 0–1
schreiben soll. Diktieren Sie den Satz nicht, er soll spontan geschrieben
werden. Der Satz muss ein Subjekt und ein Verb enthalten und einen
Sinn ergeben. Korrekte Grammatik und Interpunktion werden nicht
verlangt.
10. Abzeichnen Zeichnen Sie auf ein weißes Blatt zwei sich überschneidene Fünfecke Punkte 0–1
und bitten Sie den Patienten, die Figur genau abzuzeichnen. Alle 10
Ecken müssen vorhanden sein und 2 müssen sich überschneiden, um
als ein Punkt zu zählen. Zittern und Verdrehen der Figur sind nicht
wesentlich.

Summe der Punkte


A1 · Skalen
809 A1
A1.5 Myasthenia gravis

Besinger-Score
(Nach www.neurologienetz.de/front_content.php?idart=434)
Beurteilung: Ermittelter Punktwert geteilt durch Zahl durchgeführter Tests ergibt Score (0-3)
Geeignet zur Verlaufskontrolle:
Änderung um +/– 0,3 Punkte: unveränderter Befund
Änderung um 0,3-1 Punkte: relevante Veränderung
Änderung um >1 Punkt: deutliche Änderung
Ausprägung normal leicht mittel schwer
Punktwert 0 1 2 3
Arme 90° haltend, stehend, Sek. >180 >60–180 10–60 <10
Beine 45° haltend, liegend, Sek. >45 >30–45 5–30 <5
Kopf 45° hebend, Rückenlage, Sek. >90 >30–90 5–30 <5
Vitalkapazität:(l)
Männer >3,5 >2,5–4,0 1,5–2,5 <1,5
Frauen >3,0 >2,0–3,0 1,2–2,0 <1,2
Kauen/Schlucken normal Ermüdung Verschlucken Nicht möglich
Mimik (Lidschluss) normal leichte Schwäche unvollständig keine Mimik
Doppelbilder (nach Sek.) > 60 11–60 1–10 spontan
Ptosis (nach Sek.) > 60 11–60 1–10 spontan
810 Anhang

A1.6 Parkinson

Staging of Parkinson’s Disease (Hoehn and Yahr-Skala)


(Nach www.parkinson.org/Page.aspx?pid=367)
Stage
1 1. Signs and symptoms on one side only
2. Symptoms mild
3. Symptoms inconvenient but not disabling
4. Usually presents with tremor of one limb
5. Friends have noticed changes in posture, locomotion and facial expression
2 1. Symptoms are bilateral
2. Minimal disability
3. Posture and gait affected
3 1. Significant slowing of body movements
2. Early impairment of equilibrium on walking or standing
1. Generalized dysfunction that is moderately severe
4 1. Severe symptoms
2. Can still walk to a limited extent
3. Rigidity and bradykinesia
4. No longer able to live alone
5. Tremor may be less than earlier stages
5 1. Cachectic stage
2. Invalidism complete
3. Cannot stand or walk
4. Requires constant nursing care

Die Hoehn und Yahr-Skala ist heute weitgehend ersetzt durch die

Unified Parkinson‘s Disease Rating Scale (UPDRS)


Diese ist sehr ausführlich und würde den Rahmen dieser Auflistung sprengen. Auch sie findet sich auf www.parkinson.org/
Page.aspx?pid=367.
A1 · Skalen
811 A1
A1.7 ECOG*-Leistungsstatus und Karnofsky-Index

ECOG-Leistungsstatus Karnofsky-Index (%)


0 100 Normalzustand, keine Beschwerden, keine
Normale uneingeschränkte Aktivität wie vor der Erkrankung. Manifeste Erkrankung
90 Minimale Krankheitssymptome
1 80 Normale Leistungsfähigkeit mit Anstrengung
Einschränkung bei körperlicher Anstrengung, aber gehfähig; 70 Eingeschränkte Leistungsfähigkeit, arbeits-
leichte körperliche Arbeit bzw. Arbeit im Sitzen (z.B. leichte unfähig, kann sich alleine versorgen
Hausarbeit oder Büroarbeit) möglich.
2 60 Gelegentlich fremde Hilfe
Gefähig, Selbstversorgung möglich, aber nicht arbeitsfähig; 50 Krankenpflegerische und ärztliche Hilfe, nicht
kann mehr als 50% der Wachzeit aufstehen. dauernd bettlägrig
3 40 Bettlägrig, spezielle Pflege erforderlich
Nur begrenzte Selbstversorgung möglich; 50% oder mehr der 30 Schwer krank, Krankenhauspflege notwendig
Wachzeit an Bett oder Stuhl gebunden.
4 20 Krankenhauspflege und supportive Maß-
Völlig pflegebedürftig; keinerlei Selbstversorgung möglich; nahmen erforderlich
völlig an Bett oder Stuhl gebunden. 10 Moribund, Krankheit schreitet schnell fort
5 0 Tod
Tod
* EOCG = Eastern Cooperative Oncology Group
813 A2

A2 Danksagung

Die folgenden aktuellen und früheren Kolleginnen und Kolle- Prof. Dr. Stefan Hähnel, Neuroradiologie Heidelberg
gen aus der Neurologischen Klinik Heidelberg und unseren Kapitel 22 Multiple Sklerose
Nachbardisziplinen (wenn nicht anders gekennzeichnet) ha- Neuroradiologische Abbildungen und Befunde
ben die genannten Kapitel kritisch gegengelesen und durch
ihre Ergänzung deutlich verbessert: Dr. Christian Hametner, Heidelberg
Kapitel 30 Neurologische Störungen als Medikamenten-
Professor Dr. Martin Bendszus, Neuroradiologie Heidelberg nebenwirkungen und bei chronischen Intoxi-
Kapitel 3 Apparative und laborchemische Diagnostik, kationen
Neuroradiologie Kapitel 32 Polyneuropathien und hereditäre Neuropathien
Neuroradiologische Abbildungen und Befunde
Prof. Dr. Marius Hartmann, Neuroradiologie Heidelberg
Prof. Dr. Christian Berger, Heidelberg und Sargans/Schweiz Kapitel 8 Angiome
Kapitel 7 Hirnvenen- und Sinusthrombosen Kapitel 9 Subarachnoidalblutung
Neuroradiologische Abbildungen und Befunde
Dr. Julian Bösel, Heidelberg
Kapitel 6 Spontane intrazerebrale Blutungen Dr. Kristin Heerlein, Heidelberg
Kapitel 8 Angiome Kapitel 15 Synkopale Anfälle und andere anfallsartige
Störungen
Dr. Markus Böttinger, Heidelberg Kapitel 29 Alkoholschäden und -krankheiten des Nerven-
Kapitel 16 Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien systems
Kapitel 30 Neurologische Störungen als Medikamenten-
nebenwirkungen und bei chronischen Intoxi- Dr. Oliver Herrmann, Heidelberg
kationen Kapitel 28 Stoffwechselbedingte (dystrophische) Prozesse
des Nervensystems
Dr. Jennifer Diedler, Heidelberg Kaptiel 30 Neurologische Störungen als Medikamenten-
Kapitel 7 Hirnvenen- und -sinusthrombosen nebenwirkungen und bei chronischen Intoxi-
Kapitel 14 Epilepsien kationen

Dr. Daniela Dögel, Heidelberg Dr. phil. Klaus Hess, Heidelberg


Kapitel 17 Schwindel und Tetanie Kapitel 3 Apparative und laborchemische Diagnostik
Kapitel 25 Demenzkrankheiten
Prof. Dr. Armin Grau, Klinikum Ludwigshafen
Kapitel 28 Stoffwechselbedingte (dystrophische) Prozesse Dr. Andreas Hug, Orthopädie Heidelberg
des Nervensystems Kapitel 31 Schädigungen der peripheren Nerven
Kapitel 34 Muskelkrankheiten
PD Dr. Caspar Grond-Ginsbach, Heidelberg
Kapitel 3 Apparative und laborchemische Diagnostik, Prof. Dr. Ernst-Fritz Hund, Heidelberg
Genetik Kapitel 24 Degenerative bedingte Ataxien
Kapitel 4 Pathogenese Neurologischer Krankheiten Kapitel 31 Schädigungen der peripheren Nerven

Dr. Philipp Gruschka, Heidelberg Dr. Christian Jacobi, Heidelberg


Kapitel 25 Demenzkrankheiten Kapitel 24 Muskelkrankheiten

Dr. Christoph Gumbinger, Heidelberg Dr. Nurith Jakob, Heidelberg


Kapitel 11 Hirntumoren Kapitel 31 Schädigungen der peripheren Nerven
Kapitel 18 Bakterielle Entzündungen des Gehirns Kapitel 32 - Polyneuropathien und hereditäre Neuropathien
und seiner Häute
Dr. phil. Claudia Jansen, Heidelberg
Dr. Alexander Gutschalk, Heidelberg Kapitel 25 Demenzkrankheiten
Kapitel 14 Epilepsie
Kapitel 16 Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien
814 Anhang

Sven Jarius, Heidelberg Dr. Sven Poli, Heidelberg


Kapitel 29 Alkohlschäden und -krankheiten des Nerven- Kapitel 20 Entzündungen durch Protozoen, Würmer und
systems Pilze
Kapitel 35 Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen Kapitel 26 Schädel- und Hirntraumen
des Nervensystems
Frauke Pult, Essen
OA Dr. Matthias Kaltenmaier, Heidelberg Kapitel 37 Skalen
Kapitel 23 Krankheiten der Basalganglien, Botox Allg. Korrekturen

Dr. Lars Kellert, Heidelberg Dr. Jens Regula, Heidelberg


Kapitel 32 Polyneuropathien und hereditäre Neuropahtien Kapitel 5 Zerebrale Durchblutungsstörungen:
Ischämische Infarkte
PD Dr. Karl Kiening, Neurochirurgie Heidelberg Kapitel 32 Polyneuropathien und hereditäre Neuropathien
Kapitel 27 Wirbelsäulen- und Rückenmarkstraumen
Dr. Tilman Reiff, Heidelberg
Dr. Manja Kloss, Heidelberg Kapitel 10 Spinale Durchblutungsstörungen
Kapitel 23 Krankheiten der Basalganglien Kapitel 14 Epilepsien
Kapitel 31 Schädigungen der peripheren Nerven
Dr. Martin Rein, München
Dr. Mirjam Korporal, Heidelberg Kapitel 24 Degenerative bedingte Ataxien
Kapitel 17 Schwindel und Tetanie
Dr. Timolaos Rizos, Heidelberg
Dr. Magdalena Kraus, Heidelberg Kapitel 27 Wirbelsäulen- und Rückenmarktraumen
Kapitel 20 Entzündungen durch Protozoen, Kapitel 34 Muskelkrankheiten
Würmer und Pilze
Kapitel 21 Spinale Entzündungen Dr. Andrea Rocco
Kapitel 6 Spontane intrazerebrale Blutungen
Dr. Thorsten Lenhard, Heidelberg Kapitel 20 Entzündungen durch Protozoen, Würmer
Kapitel 19 Virale Entzündungen und Prionkrankheiten und Pilze
Kapitel 21 Spinale Entzündungen
PD Dr. Peter Ringleb, Heidelberg
PD Dr. Christoph Lichy, Heidelberg Kapitel 3 Apparative und laborchemische Diagnostik,
Kapitel 4 Pathogenese Neurologischer Krankheiten Ultraschall
Kapitel 7 Hirnvenen- und -sinusthrombosen Kapitel 5 Zerebrale Durchblutungsstörungen:
Kapitel 28 Stoffwechselbedingte (dystrophische) Prozesse Ischämische Infarkte
des Nervensystems Allg. Korrekturen

Dr. phil. Johanna Mair-Walther, Heidelberg PD Dr. phil. André Rupp, Heidelberg
Kapitel 25 Demenzkrankheiten Kapitel 3 Apparative und laborchemische Diagnostik, MEG

Prof. Dr. Hans-Michael Meinck, Heidelberg Prof. Dr. Thorsten Steiner, Heidelberg
Kapitel 1 Die neurologische Untersuchung und Diagnostik Kapitel 6 Spontane intrazerebrale Blutungen
Kapitel 3 Apparative und laborchemische Diagnostik, Kapitel 9 Subarachnoidalblutung
Neurophysiologie Kapitel 10 Spinale Durchblutungsstörungen
Kapitel 34 Muskelkrankheiten
Dr. Marion Schölzke, Heidelberg
Prof. Dr. Uta Meyding-Lamade, Nordwest-Krankenhaus Kapitel 17 Schwindel und Tetanie
Frankfurt Kapitel 24 Degenerative bedingte Ataxien
Kapitel 18 Bakterielle Entzündungen des Gehirns und
seiner Häute Prof. Dr. Volker Schuchardt, Klinikum Lahr
Kapitel 19 Virale Entzündungen und Prionkrankheiten Kapitel 29 Alkohlschäden und -krankheiten des Nerven-
systems
PD Dr. Michael Platten, Neuroonkologie Heidelberg
Kapitel 12 Spinale Tumoren Prof. Dr. Markus Schwaninger, Pharmakologie Heidelberg
Kapitel 13 Paraneoplastische Syndrome Kapitel 4 Pathogenese Neurologischer Krankheiten
Kapitel 22 Multiple Sklerose
A2 · Danksagung
815 A2
Dr. Sönke Schwarting, Heidelberg und Freunden, die Abbildungen für frühere Auflagen, die sich
Kapitel 33 Motoneuronale Krankheiten zu einem Teil weiterhin in dieser Auflage wieder finden, bereit-
Kapitel 35 Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen gestellt haben.
des Nervensystems
Namentlich genannt seien:
Dr. Alexander Schwarz, Heidelberg
Kapitel 33 Motoneuronale Krankheiten Prof. Dr. Hermann Zeumer, Hamburg
Kapitel 35 Entwicklungsstörungen und Fehlbildungen Prof. Dr. Bernd Ringelstein, Münster
des Nervensystems Prof. Dr. Andreas Ferbert, Kassel
Prof. Dr. Klaus Sartor, Heidelberg
OÄ Dr. Brigitte Storch-Hagenlocher, Heidelberg Prof. Dr. R. v. Kummer, Dresden
Kapitel 3 Apparative und laborchemische Diagnostik,
Liquor Weitere Abbildungsquellen sind in den Legenden genannt.
Kapitel 13 Paraneoplastische Syndrome
Kapitel 22 Multiple Sklerose, Liquor Besonders hilfreich waren wie immer die Bücher »Diagnos-
tik und Therapie neurologischer Krankheiten« von Thomas
Prof. Dr. Andreas Unterberg, Neurochirurgie Heidelberg Brandt, Johannes Dichgans und Hans-Christoph Diener sowie
Kapitel 8 Gefäßfehlbildungen die »Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie«,
Kapitel 9 Subarachnoidalblutung herausgegeben von der Kommission Leitlinien der Deutschen
Kapitel 26 Schädel- und Hirntraumen Gesellschaft für Neurologie, unter Federführung von Hans-
Christoph Diener. Die Leitlinien in diesem Buch orientieren
Prof. Dr. Roland Veltkamp, Heidelberg sich weitgehend an denen der DGN 2009, Kürzungen und Aus-
Kapitel 5 Zerebrale Durchblutungsstörungen: nahmen sind speziell gekennzeichnet.
Ischämische Infarkte An vielen Stellen finden sich in diesem Buch auch Bezüge
Kapitel 15 Synkopale Anfälle und andere anfallsartige und Zitate der internationalen Literatur und, noch wichtiger,
Störungen Auffassungen und Einstellungen, die durch den kontinuier-
lichen Austausch mit vielen internationalen Kollegen stammen.
Dr. Andrea Viehöver, Heidelberg Hier nenne ich meine Freunde Allan Ropper (Boston), Daniel
Kapitel 16 Kopfschmerzen und Gesichtsneuralgien F. Hanley (Baltimore), Markku Kaste (Helsinki), Ken Lees
(Glasgow), Nils Wahlgren (Stockholm), Bo Norrving (Lund),
Prof. Dr. Simone Wagner, Heidelberg und Vladimir Hachinski (Toronto), Steve Davis und Geoffrey
Kapitel 36 Befindlichkeits- und Verhaltensstörungen Donnan (Melbourne), Didier Leys (Lille) und Michael Brainin
von unklarem Krankheitswert (Krems), mit denen ich in ständiger Diskussion bin.
Schlussendlich ist ein wesentlicher Teil der Positionen und
Prof. Dr. Wolfgang Wick, Neuroonkologie Heidelberg Entwicklungen in den Kapiteln der Vaskulären Krankheiten
Kapitel 11 Hirntumoren des Nervensystems auch auf die enge Kooperation mit Herrn
Kapitel 12 Spinale Tumoren Prof. Dr. Michael Hennerici, Leiter der Neurologischen Klinik
Kapitel 13 Paraneoplastische Syndrome des Klinikums Mannheim und »Amtsbruder« als Professor für
Neurologie an der Universität Heidelberg zurückzuführen.
Prof. Dr. Brigitte Wildemann, Heidelberg Allen gemeinsam gilt mein herzlicher Dank. In gewohnter
Kapitel 1 Die neurologische Untersuchung und Diagnostik Souveränität haben Frau Marion Wilczek und Frau Petra
Kapitel 3 Apparative und laborchemische Diagnostik, Günter mich bei der Arbeit am Buch unterstützt.
Liquor Nun könnte man sich fragen, bei so viel Danksagung, was
Kapitel 22 Multiple Sklerose ist denn noch an Eigenarbeit übrig geblieben? Eine ganze
Menge, denn all neuen Informationen und Vorschläge müssen
PD Dr. Henrik Wilms, Heidelberg gesichtet, verarbeitet und ein gemeinsames Konzept gegossen
Kapitel 23 Krankheiten der Basalganglien werden. Ob dies gelungen ist bleibt der Beurteilung der
Kapitel 25 Demenzkrankheiten Leserinnen und Leser überlassen, denen ich, zu guter Letzt,
dafür danke, dass Sie sich bis zur Danksagung in diesem Buch
Dr. Nicola Zausig, Regensburg durchgearbeitet haben.
Allg. Korrekturen

Wie im Vorwort erwähnt, sind die meisten neuroradiologi- Werner Hacke


schen Abbildungen von den Herren Professoren Bendszus, Heidelberg, im Sommer 2010
Hartmann und Hähnel der Neuroradiologischen Abteilung
der Neurologischen Universitätsklinik Heidelberg zur Verfü-
gung gestellt worden. Weiterhin gilt mein Dank den Kollegen
817 A3

A3 Weiterführende Literatur

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Stuttgart
819 A

A4 Sachverzeichnis
Hauptfundstellen sind mit fetter Schrift gekennzeichnet.
. Verweis auf Abbildungen

A Akkommodationslähmung, medikamenten-
induzierte 646
– Definition 95
– globale 96
Akromegalie 325, 326, 326 ., 745 – posttraumatische 590
Aachener Aphasie-Test 83 Aktinomykose 458 – retrograde 96
AAT 83 Aktionsmyoklonus 48, 358 – – Schädel-Hirn-Trauma 588, 590
ABCD2-Score 177, 803 Aktionspotential 117 Amöbiasis 491
Absence 367, 371, 372, 372 . Akustikusneurinom 323, 324, 324 ., 325, Amphetamine, Sympathikotonus 646
– Kindesalter 371 776 Amputationsschmerz 59
– Therapie 386 – Mobiltelefon 788 Amygdala-Hippokampektomie 388, 389 .
Abszess akutes posteriores Leukenzephalopathie- Amyloidangiopathie 182
– epiduraler 449, 498, 498 . Syndrom 518, 519 – intrazerebrale Blutung 228, 229
– extraduraler 345 Alertness Amyloidose 772
– intramedullärer 345, 498 – phasische 96 – Polyneuropathie 704
– spinaler 498, 499 – tonische 96 – primäre 691
– zerebraler 447–450 Alexie 94 Amyloidplaque, extrazelluläre 572 ., 573
Acetylcholine 158 Alkoholdelir 630–633 Amyotrophie, hereditäre, proximale,
Acetylcholinesterase 355 – Leitlinien 633 neurogene 720, 721
Acetylcholinrezeptor 748 – Pathogenese 631 Analeptika 399
Acetylsalicylsäure, Schlaganfall 213, 215, – Therapie 632. 633 Analgesie 58, 59
216 Alkoholdemenz 638 – psychogene 58
Achillessehnenreflex 34, 35 . Alkoholembryopathie 638, 764 Analgetika, Abhängigkeit 643
Aciclovir 471 Alkoholentzugsdelir 644 Analreflex 36, 119
ACTH 146, 326 Alkoholepilepsie 638 Anämie, perniziöse 616
Adams-Stokes-Anfall 394 Alkoholhalluzinose 633, 634 Anamnese 5, 6
Addison-Krankheit 745 Alkoholintoxikation, akute 630 Anästhesie 58
Adduktorenreflex 34 Alkoholkonsum Anastomose, Gehirngefäße 173 ., 174
ADEM 7 Enzephalomyelitis, akute – Nervenschäden 634–638 Anenzephalie 773
disseminierte – Risiko für intrazerebrale Blutungen 229 Aneurysma, Aorta 280
Adenome – Schlaganfallrisiko 179 – arterielles 263
– ACTH-produzierende 326 Alkoholmyopathie 638 – – asymptomatisches 275, 275 .
– hormonaktive 325–328 Alkoholpsychose 630–633 – – Lokalisation 263
– hormoninaktive 325, 328 Alkylanzien 339 – – ohne Subarachnoidalblutung 274,
– Hypophyse 7 Hypophysenadenome Allästhesie 60 275
– Prolaktin-produzierende 326 Allodynie 58 – Ausschaltung 270
– Wachstumshormon-produzierende 326 ALS 7 Lateralsklerose, amyotrophische – Clipping 270, 271
Aderhautangiom 257 Alzheimer-Demenz 7 Demenz, – Coiling 270, 271
ADH 146 Alzheimertyp – fusiformes 263
Adie-Syndrom 23, 454 Alzheimer-Krankheit – intradurales 603
adrenokortikotropes Hormon 326 – Demenz 7 Demenz, Alzheimertyp – intrakranielles 275
Adrenoleukodystrophie 623 – familiäre 575 – Lokalisation 269
Adversivanfall 21, 369 – Fibrillenveränderung 572, 573 – Operation 271
Affenhand 670, 722 – Genetik 153 – ophthalmoplegisches 274, 657
Ageusie, medikamenteninduzierte 647 – genetische Ursache 146 – raumforderndes 274
Agnosie 94, 95 – Hirnvolumenminderung 572, 574 . – Ruptur 262, 264
Agrammatismus 83 Amantadin 535, 536, 538, 540 – sakkuläres 263 .
Agyrie 773 Amaurose 8 . – Therapie 270–272
AIDS – Meningeom 323 – Vena cerebri magna Galeni 254, 255 .
– manifestes 477 Amaurosis fugax 185, 187 . Aneurysmaruptur 262, 264
– opportunistische ZNS-Infektionen 479 Ambidexter 87 Anfall
AIDS-Demenz 467, 581 Amnesie 95, 96 – atonischer 367
AIDS-related complex 477 – anterograde 96 – epileptischer
Akkommodation 20, 22 . – – Schädel-Hirn-Trauma 588, 590 – – 7 s. a. Epilepsie
820 Anhang

Anfall Anosognosie 93, 94, 579 – Arteriosklerose 280


– – Amnesie 371 Antecollis 46 – Embolie 181
– – Auslöser 366, 368 Anterior-Cord-Syndrom 607 Aortenaneurysma 280
– epileptischer Anteriorinfarkt 187, 188 Aortenarteriosklerose 186
– – bei Hirntumoren 295, 296 Antibiotika Aortenbogen 170 .
– – bei Meningitis 447 – epileptischer Anfall 644 – thrombogener 179
– – medikamenteninduzierter 644 – Halluzination 644 Aortenstenose 280
– – Schwangerschaft 386 – Myasthenie 647, 752, 753 apallisches Syndrom 104, 597, 598, 608
– – Therapie 377 – neuromuskuläre Überleitungsstörungen APC-Resistenz 242
– – – chirurgische 388 647 Aphasie 82–89
– fokaler 366, 367, 368–371 – Polyneuropathie 698 – 7 s.a. Broca-Aphasie
– – einfacher 369 Anticholinergika 535, 538 – 7 s.a. Wernicke-Aphasie
– – komplexer 370 Antidepressiva – akute,
– generalisierter 366, 367, 371–373 – Akkommodationslähmung 646 – – flüssige 88
– – Kindesalter 371, 372 – EEG-Veränderungen 643 – – nicht-flüssige 88
– – tonisch-klonischer, Therapieleitlinien – Halluzination 644 – Alzheimer-Demenz 573
386 – Polyneuropathie 698 – amnestische 86–88, 577
– hypoglykämischer 396, 397 – trizyklische 535 – – bei Hirntumoren 296
– klonischer 367 – zerebrale Symptome 642 – bei Polyglotten 88
– myoklonischer 367, 372 . Antiepileptika 378–385 – Definition 82
– narkoleptischer 644 – Einteilung 378, 379 – globale 85, 87, 88
– psychogener 390, 397 – Interaktionen 380 – Klassifikation 83, 86, 87
– synkopaler 394–396 – – mit oralen Verhütungsmittel 386 – Lateralisierung 87, 88
– tetanischer 402, 403 – klassische 379, 381 – Lokalisation 87, 88
– tonisch-klonischer 367, 373, 374 – Nebenwirkungen 378, 383, 389 – primär progressive 580
Angiitis, allergische 182 – neuere 376, 377, 379, 382 – Therapie 89
Angiographie 137–140 – Polyneuropathie 698 – vaskuläre Demenz 577
– CT-Angiographie 129, 131 – Resistenz 383, 384 Apnoe, posthyperventilatorische 102
– intraarterielle 138 – Schwangerschaft 386 Apnoeprüfung 106
– intrazerebrale Blutung 233 – Serumgrenzwerte 379 Apomorphin-Test 534
– Karotis 138, 139 . – Serumspiegel 384, 385 Apoplex 7 Schlaganfall
– spinale 140, 286, 286 . – Überdosierung 388 Apoptose 162, 162 ., 163
– Subarachnoidalblutung 269 – Übersicht 379 Apraxie 89–91
– therapeutisch-interventionelle 138 Antihistaminika, Halluzination 644 – bilaterale 91, 573
– Vertebralis 138 Antihypertensiva, Schlaganfall 205 – bukkofaziale 89, 91
– zerebrale Durchblutungsstörungen Antikoagulanzien – Definition 89
200, 201 – intrazerebrale Blutung 229 – ideatorische 91, 581
Angiom 250–252 – Nervenschädigung 617, 647 – ideomotorische 89
– Aderhaut 257 Antikoagulation 206 – – linksseitige 91
– arteriovenöses 251 . – Durchführung 207 – konstruktive 91, 92, 92 .
– Bestrahlung 251 – Indikationen 207 – okulomotorische 566
– Blutungsneigung 250 – Schlaganfall 215 Aquäduktstenose 768
– Diagnostik 251, 252 Antikonvulsiva 380 Aquaporin-Antikörper 523
– Einteilung 250 – Myasthenie 752, 753 Arachnitis 345
– Embolisierung 251, 252, 252 . Antikörper, antineuronale 146 Arachnoidalzyste 770, 770 ., 771
– Symptomatik 250, 251, 285 Antimykotika 493, 494 Arachnopathie 685
– Therapie 251, 252 – Halluzination 644 Arbeitsgedächtnis 7 Kurzzeitgedächtnis
– venöses 250, 254 Antiparkinson-Medikamente, Halluzination Archicerebellum 49, 53
Angiomatose, kortikale 259 . 644 Argyll-Robertson-Pupille 23
Angioplastie, perkutane transluminale 216 Antirheumatika Armeigenreflex 34
Anhidrose 62, 62 . – Myasthenie 753 Armhalteversuch 38
Anisokorie 20, 75 – Polyneuropathie 698 Arnold-Chiari-Fehlbildung 773, 779
Ankleideapraxie 92 Antriebshemmung 97 Arreflexie 565
Anorexia nervosa, Polyneuropathie 698 Antriebsseigerung 97 Arsen-Polyneuropathie 700
Anosmie 8 Antriebsstörung 97 Arteria
– bei Hirntumoren 296, 323 Anulus fibrosis, Aufbrechen 678, 678 . – basilaris 170 ., 171, 778 .
– medikamenteninduzierte 646 Aorta – – Aneurysma 263, 264 ., 657
– posttraumatische 590 – Abklemmung 281 – – Arteriosklerose 189
A4 · Sachverzeichnis
821 A–B
– – Thrombose 189, 190, 207, 208 . Arthritis, rheumatoide Atropinvergiftung 646
– – Verschluss 190 – Myasthenie 754 Attacke, transitorisch-ischämische 182,
– carotis communis 170 ., 171 – Polyneuropathie 701 183, 184
– carotis externa 170 . Arthrose, Halswirbelsäule 7 Attackenschwankschwindel, phobischer
– carotis interna 170, 170 ., 173 . Artikulationsstörungen 83 430
– – Aneurysma 263, 270 . Asparaginase, Halluzination 644 Attackenschwindel 426 .
– – Arteriosklerose 185 Aspergillose 494 Aufmerksamkeit
– – Dissektion 589 Assoziationskortex 90 ., 91 – Funktionen 96
– carotis media 171 – motorischer 91 – gerichtete 97
– cerebellaris superior 171 Assoziationsrinde 9 – geteilte 97
– cerebelli inferior anterior 171 Asterixis 48, 618, 619 – Lokalisation 97
– – Arteriosklerose 190 Astrozytom 310 ., 310–315, 776 Aufmerksamkeitsstörungen 96, 97
– cerebelli inferior posterior 171 – 7 s.a. Gliom Auge
– – Arteriosklerose 188, 189 – anaplastisches 312, 313, 317 – Blickeinstellbewegungen 12
– cerebri anterior 171, 173 – Diagnostik 310 – Folgebewegungen 12, 13, 16
– – Aneurysma 263 – diffuses 317 Augenbewegungen 13, 16
– – Arteriosklerose 187 – Epidemiologie 295, 310 – 7 s.a. Blickmotorik
– cerebri media 173 . – Epilepsie 376 – rasche 16
– – Arteriosklerose 187 – pilozytisches 310, 344 Augenfehlstellung, Trochlearislähmung
– cerebri posterior 171 – spinales 344 657
– – Verschluss 189, 190 – Symptomatik 310 Augenfeld, frontales 16
– chorioidea posterior 171 – Therapie 310, 311 – Läsion 17
– cochlearis 429 . Ataxie 44, 563–567 Augenhintergrund, Spiegelung 9
– communicans anterior 171 – autosomal-dominante 565, 566, 567 Augenmotorik 7 Okulomotorik
– – Aneurysma 263 – autosomal-rezessive 565, 566 Augenmuskel 10, 11, 11 .
– communicans posterior 171 – bei Hirntumoren 296 Augenmuskellähmung 11, 12, 507, 625, 757
– – Aneurysma 263, 657 – bei Vitamin-D-Mangel 566 Augenmuskelnerven 14 .
– labyrinthi 171 – degenerative 564–567 Aura
– lenticulostriata 171, 173 . – – nichterbliche 567 – Epilepsie 370, 374
– ophthalmica, Arteriosklerose 187 – Diagnostik 564 – Migräne 408, 409
– spinalis anterior 281 – Einteilung 564, 565 Ausdrucksbewegungen 89
– spinalis posterior 281 – episodische 155 Ausfallsnystagmus 430
– striata anterior 173 . – familiäre episodische 567 Autoantikörperdiagnostik 355, 356
– subclavia 170 ., 188 . – lokomotorische 51 Autoimmunthyreoiditis 522
– – Stenose 187, 188 . – mit okulomotorischer Apraxie 566 AVM 7 Missbildungen, arteriovenöse
– thalamoperforans posterior 172 – paraneoplastische zerebelläre Degene- Axonotmesis 656
– vertebralis 170 ., 171, 188 ., 429 ., ration 355 Azathioprin 515, 519
778 . – sensible 52 Azetylcholin 63
– – Aneurysma 263 – spinale 52
– – Arteriosklerose 188 – spinozerebelläre 565, 566, 567
– – Dissektion 191, 607
– – Verschluss 194
– – genetische Ursache 147
– sporadische 567
B
Arteria-radicularis-magna-Syndrom 283, – zerebelläre 52, 564 ., 566, 567, 617,
284 625, 777, 781 Babinski-Reflex 5, 35, 36
Arteria-spinalis-anterior-Syndrom 280, – – medikamenteninduzierter 646 – positiver 617
281, 282 ., 284 Atemstörungen 103 . Balkenagenesie 773, 774 .
Arteriitis cranialis 218, 219, 421 – Koma 102 Balkenhypogenesie 773
Arteriolosklerose, intrazerebrale 181, 182 – zentrale 102 Ballismus 46, 546, 547
Arteriopathie Athetose 46, 47 Bandscheibendegeneration 678, 678 .,
– dilatative 180 – double 766 679
– zerebrale autosomal-dominante 223 Atlasassimilation 777, 778 Bandscheibenprolaps 7 Bandscheiben-
Arteriosklerose Atlasschleife 171 vorfall
– Ätiologie 179, 180 Atmung, ataktische 102 Bandscheibenprothese 684
– generalisierte 179 Atmungskette 156 ., 173 . Bandscheibenprotrusion, Definition 678
– Hirngefäße 181 – Störungen 155, 156 Bandscheibenvorfall 678–686
– Lokalisation 179 Atrophie – Definition 678
arteriovenöse Missbildungen 7 Miss- – olivopontozerebelläre 542 – lateraler 679 ., 683–685
bildungen, arteriovenöse – posterior-kortikale 576 – lumbaler 683–685
822 Anhang

Bandscheibenvorfall Bewegungsskoordination 49–52 Blickbewegungen


– lumbosakraler 680–682 Bewegungssteuerung 41 – horizontale 16
– medialer 678, 678 ., 680–682 Bewegungsstörungen – Steuerung 14 ., 15 .
– Therapie – 7 s.a. Apraxie – vertikale 16
– – konservative 683, 684 – choreatische 45, 544–546 – willkürliche 15 .
– – operative 684, 685 – extrapyramidale 766 Blickdysmetrie 16, 52
– thorakaler 679 – hyperkinetiche 45 Blickeinstellbewegungen 12
– zervikaler 679, 679 ., 680 – hypokinetische 45 Blicklähmung 7 Blickparese
Bannwarth-Syndrom 455 – unwillkürliche 61, 63 Blickmotorik 13–18
Barany-Zeigeversuch 50, 430 Bewusstlosigkeit – 7 s.a. Augenbewegungen
Barbiturate – 7 s.a. Koma – anatomische Grundlagen 14
– EEG-Veränderungen 643 – 7 s.a. Synkope – funktionelle Grundlagen 14
– Entzugskrampf 644 – akute 103 – Störungen 15–18
– Hirnstammsymptome 645 – Dokumentation 591 – Verschaltung 14, 14 .
Barbituratkoma 595 – Einteilung 100 Blickmyoklonie 21
Barré-Stellung 38 – Leitsymptome 103 Blickparese 17 .
Barthel-Index 802 – neurologische Untersuchung 72, 73 – horizontale 17
Basalganglien 56 – primäre 101 – pontine 16, 18
– Krankheiten 529–562 – sekundäre 101 – progressive supranukleäre 530
Basalganglienblutung 231, 237 . – Ursachen 102, 103 – supranukleäre 18, 530
– operative Therapie 236 Bewusstseinsstörungen 79–105 – vertikale 18
Basalganglieninfarkt, isolierter 189 – akute 72 Blickrichtungsnystagmus 20
Basalgangliensyndrom 44–47 – Einteilung 98–101 Blickstabilisierung 52
Basilarisaneurysma 263, 264 ., 657 – Glukosemangel im Gehirn 395 Blicksymmetrie 21
Basilarisembolie 657 – Hypoglykämie 172 Blickwendung, konjugierte 11
Basilarismigräne 408 – medikamenteninduzierte 643 Blickzentrum 14
Basilarisspitze, Verschluss 189, 190 – Nierenversagen 620 Blindheit, kortikale 9, 190
Basilarissyndrom 190 – postparoxysmale 103 Blinkreflex 119
Basilaristhrombose 189, 190, 207, 208 . – posttraumatische 590 Blitz-Nick-Salaam-Krampf 364, 365, 373
Basinger-Score 809 – psychogene 103, 104 Blutfluss, zerebraler 172, 173
Bauchdeckenreflex 34 – quantitative 98, 99 Bluthirnschranke 159, 161
Bauchhautreflex 35 – Sinusthrombose 245 – Schädigung 298
Bayliss-Effekt 174 – Subarachnoidalblutung 265 Blutung
BDNF 159 Bewusstseinstrübung 98 – heparinbedingte 236
Beckengürteldystrophie 735 – Epilepsie 370 – hypertensive 229
Becker-Kiener-Krankheit 733, 735 – Leitsymptome 79 – intraparenchymale 284
Becker-Myotonie 738 – Pupillenstörungen 23 – intraventrikuläre 230 ., 232
Begleitschielen, angeborenes 11 Bickerstaff-Enzephalitis 521 – intrazerebrale
Behçet-Krankheit 219, 220, 445, 516 Bielschowski-Zeichen 12 ., 16, 657 – – Ätiologie 228, 229
Behinderung, geistige 764–767 Bing-Horton-Kopfschmerz 412, 413 – – Diagnostik 232, 233
Beidhänder 87 Binswanger-Krankheit 576 – – Epidemiologie 228
Beineigenreflex 34, 35 Biopsie 144, 145 – – medikamentös bedingte 229
Beinhalteversuch 38 – Arteria temporalis 145 – – offene Evakuation 235
Belladonnaalkaloide, Mydriasis 646 – Hirn 145 – – Pathogenese 228, 229
Benzodiazepine 379, 381 – Hirnhaut 145 – – Prognose 237
– EEG-Veränderungen 643 – Muskel 144, 145 – – Rehabilitation 237
– Hirnstammsymptome 645 – Nerven 145 – – Risikofaktoren 229
Bereitschaftspotential 121 – zerebrale Durchblutungsstörungen 203 – – spontane 227–2370
Beriberi-Syndrom 698 Bizepssehnenreflex 32, 33, 33 . – – Symptomatik 231, 232
Berührungsempfindung 54 Blase – – therapeutische Leitlinien 237
Beschäftigungsdystonie 551 – autonome 65 – – Therapie 234–237
Beschleunigungsschertrauma 593, 593 . – Innervation 64, 65 . – multilokuläre 232
Beschleunigungstrauma 596, 608–611 Blasenentleerung 7 Miktion – perimesenzephale 7 Subarachnoidal-
– Therapie 610 Blasenfunktionsstörungen 64, 65 blutung, perimesenzephale
Bestrahlung, stereotaktische 251 Blasenlähmung 691 – thrombolyseassoziierte 236
Betablocker, Myasthenie 753 Blasenstörung, frontale 65 Blutungsentfernung
Beugespastik 607 Bleivergiftung, Polyneuropathie 699 – endoskopische 237
Bewegungskrankheit 7 Kinetose Blepharospasmus 46, 549, 550 – stereotaktische 237
A4 · Sachverzeichnis
823 B–D
Boeck-Sarkoidose 466, 467 Carotis-Sinus-cavernosus-Fistel 320 – Angiom 251
BOLD-Signal 136, 197 Cauda equina 67, 781 – Epilepsie 367, 368
Borrelia burgdorferi 455 – Claudicatio 283, 284, 285, 685 – Hirntumoren 300
Borrelliose 7 Neuroborreliose CBF 172, 173 – intrazerebrale Blutung 232, 232 ., 233,
Botulinumtoxin 549, 551, 554, 712 Central-cord-Syndrom 607 233 .
– Fazialislähmung 660 Central-core-Myopathie 746 – kraniale 129
– Myasthenie 753 Cerebellum 7 Kleinhirn – multiple Sklerose 509
Botulismus 711, 712 CHADS2-Score 177 – Schädel-Hirn-Trauma 592, 593 .
Bourneville-Pringle-Syndrom 777, 777 . Chamäleonzunge 46 – spinale 131
Brachialgia paraesthetica nocturna 670 Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung 147, 701, – Subarachnoidalblutung 268, 268 .
Brachium 702 – thorakale 131
– conjunctivum 49 Charcot-Trias 507 – zerebrale Durchblutungsstörungen
– pontis 49 Cheiralgia parästhetica 669 192–194, 193 ., 194 .
Bradykardie, reflektorische 102 Chemonukleolyse 678, 684 – zerebrale Mikroangiopathie 576, 577 .
Bradykinese 45, 535 Chemotherapie – zervikale 131
Brillenhämatom 589 – intrathekale, Hirnmetastasen 334 COMT-Inhibitor 535, 536, 538
Broca-Aphasie 83, 84, 87, 88 – Nebenwirkungen 337, 339 Conn-Syndrom 741
– akute 88 – Neurotoxizität 339 Contusio cerebri 588
– bei Hirntumoren 296 Cheyne-Stokes-Atmung 102 Conus medullaris, Läsion 71
– zerebrale Ischämie 187 Chiari-Fehlbildung 769, 779, 780 . Corpus
Broken-Heart-Syndrom 201 chinese food headache 417 – geniculatum laterale 8
Bronchialkarzinom Chloridkanalkrankheit 737, 740 – restiforme 49
– Hirnmetastasen 332 cholinerge Krise 752 – striatum 45
– Lambert-Eaton-Syndrom 355 Cholinesterase 747 Coxsackie-Meningitis 473, 474
– limbische Enzephalitis 357 Chordotomie, perkutane 685 Cremasterreflex 32, 36
– Myopathie 359 Chorea Crescendo-TIA 184
– POM 358 – Huntington 544, 545, 581 Creutzfeldt-Jacob-Krankheit 482–486, 581
Brown-Séquard-Syndrom 69, 69 ., 607, 773 – – Genetik 152, 154 – Diagnostik 484
Brückenblutung 230 ., 232 – – genetische Ursache 146 – Epidemiologie 482, 483
Brückenfuß, Läsion 44 – minor 545, 546 – familiäre 486
Brückensyndrom 190 – Schwangerschaft 546 – nvCJK 485, 486
Brudzinski-Versuch 57 Chorionkarzinom 321 – sporadische 485
Brustmarkläsion 44, 71 chronic fatigue syndrom 790, 791 – Symptomatik 483, 484
BSE 486 Churg-Strauß-Syndrom 182, 701 Critical-illness-Myopathie 697, 746
Bügeleisengang 703 Chvostek-Zeichen 403, 433 Critical-illness-Polyneuropathie 697
Bulbärhirnsyndrom 100 Circulus arteriosus Willisii 170, 170 ., Cross-face-Plastik 660
– akutes 100 172 ., 174, 263 CT 7 Computertomographie
Bulbärparalyse, progressive 720, 723 CJK 7 Creutzfeldt-Jacob-Krankheit CT-Angiographie 129, 131
Bulbocavernosusreflex 119 Cladribin 512, 515 – Sinusthrombose 243 .
Bulbus, konjugierte Abweichung Claudicatio – Subarachnoidalblutung 269
7 Déviation conjugée – intermittens, vaskuläre 685 – zerebrale Durchblutungsstörungen
Bulbusbewegungen 11 – spinalis 283, 284, 285 192, 194 .
Bulbusstellung 11 – Cauda equina 283, 284, 285, 685 Curschmann-Steinert-Krankheit 737, 738,
Bulldog-Reflex 36 – thorakales Rückenmark 685 739
Bunyavirusinfektion 477 Clopidogrel 215 Cushing-Reflex 102, 300
Clostridium Cushing-Syndrom 642, 745
– botulinum 455 Cyclophosphamid, multiple Sklerose 510,

C – tetani 455
Cluster-Kopfschmerz 412, 413
511, 517
Cytokine 159
– Therapie 413, 414
CADASIL 223 CO2-Stimulation 200
Cochlea 429 .
Café-au-lait-Flecken 776
Calpain-3 733 Coenzym-Q10-Defizienz 626
D
Campylobacter jejuni 705 Coiling, Aneurysma 270, 271
Candidiasis 494 Commotio Dämmerzustand, postparoxysmaler 390
Capsula interna 43, 43 . – cerebri 588 Dandy-Walker-Malformation 773
Carbamazepin 379–381 – spinalis 606 Dandy-Walker-Syndrom 769, 779, 780,
Carnitinmangel, muskulärer 744 Computertomographie 129, 130 . 780 .
824 Anhang

Daueraufmerksamkeit 97 Detrusorhyperreflexie 64 Dopaminagonisten 536, 537, 539


Dauerkopfschmerz, neu aufgetretener Detrusorhyporeflexie 64 – Bewusstseinsstörungen 643
415 Detrusorkontraktilität 64 Dopaminantagonisten 535, 537
Dauerschwindel 426 . Déviation conjugée 17, 17 . Dopamin-Präkursor 535
Debilität, Definition 81 Devic-Syndrom 505 Dopa-Stoffwechsel 535, 535 .
Degeneration Dezerebration 43 ., 44 Dopplersonographie
– hepatolentikuläre 617–619 – chronische 104 – Angiom 251
– kortikobasale 530, 543 – Definition 103 – extrakranielle 140, 141, 141 .
– paraneoplastische zerebelläre 355, 564, – traumatische 599 – transkranielle 142, 142 .
564 Dezerebrationshaltung 73, 103, 104 . – Subarachnoidalblutung 270
– striatonigrale 540–542 Dezerebrationssyndrom 103, 104 – zerebrale Durchblutungsstörungen
Dejerine-Sottas-Krankheit 147, 701 Diabetes 198 ., 199
Dekompressionsoperation 209 – Mikroangiopathie 186 Dottersackkarzinom 321
Deletion 153 – Schlaganfallrisiko 179 Down-beat-Nystagmus 21
Deliberationsmanöver 428 – Territorialinfarkt 186 Dreigläserprobe 111
Delir 101 Diadochokinese 50 Dretrusor-Sphinkter-Dyssynergie 65
– 7 s.a. Alkoholdelir Diagnostik Druchgangssyndrom, posttraumatisches
– Differentialdiagnose 632 – 7 s.a. Untersuchung 632
– Medikamentenentzug 644 – apparative 110–144 Drucksteigerung, intrakranielle
delirantes Syndrom 594 – – Gefäßfehlbildungen 251, 252 7 Hirndruck, erhöhter
Delirium tremens 600–602 – – Hirnvenenthrombose 242, 243 DSA 7 Subtraktionsangiographie,
Demenz 97, 569–581 – – Subarachnoidalblutung 268–270 digitale
– alkoholbedingte 638 – – zerebrale Durchblutungsstörungen DSS-Skala 804
– Alzheimertyp 572–576 191–202 Duchenne-Aran-Krankheit 721, 722, 736
– – Diagnostik 574, 575 – arteriovenöse Fistel 255–258 Duchenne-Muskeldystrophie 733, 735
– – Epidemiologie 572 – DNA 146–148 Ductus
– – Genetik 153 – Hormone 145, 146 – craniopharyngicus, embryonaler 316
– – Pathologie 572, 573 – intrazerebrale Blutungen 232, 233 – endolymphaticus 429 .
– – Symptomatik 573, 574 – kardiologische 201 Duplexsonographie 198 ., 199
– – therapeutische Leitlinien 577 – laborchemische 110–113, 145–148 – extrakranielle 142, 143
– – Verlauf 575 – – Hirnvenenthrombose 244 – intrakranielle 143, 144
– bei Epilepsie 389 – – intrazerebrale Blutung 233 Durafistel, arteriovenöse 285, 286
– Definition 570 – – zerebrale Durchblutungsstörungen Durchblutung, zerebrale 7 Hirndurch-
– Einteilung 807 202, 203 blutung
– Epidemiologie 570 – molekulargenetische 146–148 Durchblutungsstörungen
– frontotemporale 154, 579 – neurologische 6 – spinale 280–284
– HIV-assoziierte 482 Dialyse, Polyneuropathie 697 – – Ätiologie 280
– Immunologie 573 Dialyseenzephalopathie 620, 621 – – Epidemiologie 280
– kortikale 571 Diamox-Stimulation 200 – – Lokalisation 280
– Lewy-Körper-Typ 151, 530, 544, 580, Diffusionsmagnetresonanztomographie – – Risikofaktoren 280
581 131, 134 – – Symptomatik 280, 283
– Pathogenese 570, 573 – zerebrale Durchblutungsstörungen – zerebrale 167–227
– semantische 581 197, 197 . – – Diagnostik 191–203
– subkortikale 571 digitale Subtraktionsangiographie Durchgangssyndrom 82
– vaskuläre 576–579 7 Subtraktionsangiographie, digitale – epileptisches 632
– – Aphasie 577 Diskektomie 679 – posthypoglykämisches 632
– – Definition 576 – ventrale 684 Dysarthrie 766
– – Diagnostik 579 Diskusprolaps 7 Bandscheibenvorfall – paroxysmale 508
– – Gedächtnisstörungen 577 Dissektion 182, 186, 278 Dysarthrophonie 83
– – Symptomatik 577, 578 – Antikoagulation 215 Dysästhesie 58, 59
– – Therapie 578 – Klinik 190, 191 Dysautonomie, familiäre 713
Depression, medikamenteninduzierte 643 Diszitis 345 Dysdiadochokinese 38, 52, 61, 62, 190, 646
Dermatom 66 . Diuretika Dysequilibriumsyndrom 620, 621
Dermatomyositis 754–756, 755 . – muskuläre Störungen 647 dysexekutives Syndrom 97
– tumorbedingte 359 – Myasthenie 753 Dyskinesie, paroxysmale, medikamenten-
Dermoid 329 DNA-Diagnosik 146–148 induzierte 645
– Kauda 349 Dopa-Entzugssyndrom 540 Dysmetrie 52
Desmin 733 Dopamin 158 Dysphagie 550
A4 · Sachverzeichnis
825 D–E
Dysphonie 550 – Epilepsie 366, 367, 371, 371 ., 372 ., Empyem, subdurales 449, 451 .
– laryngeale 46 375 . Encephalitis pontis et cerebelli 516, 517
– spasmodische 46 – Herdbefunde 125 Encephalomyelitis disseminata 507
Dysplasie, fokale kortikale 773 – Hyperventilation 123 Endstrominfarkt 180, 184, 185 ., 186 .
Dyspraxie, sympathische 91 – im Schlaf 125 ENG 7 Elektroneurographie
Dystonie 46, 547 – Indikation 127 Engpasssyndrom 655
– bewegungsinduzierte 553 – Krampfpotential 125, 126 Enkodierung 95, 96
– Definition 547 – Methodik 123 Enolase, neuronenspezifische 146, 304
– Dopa-responsive 146 – Narkolepsie 399 Entamoeba histolytica 490
– Einteilung 547 – normales 125 Enthemmung 98
– fokale 46, 547–549 – pathologische Veränderungen 125, 126 Entzugsanfall 634
– generalisierte 46, 552, 552 . – Photostimulation 123 Entzugsdelir 630–633
– juvenile 553 – Schädel-Hirn-Trauma 590 Entzugskopfschmerz 416
– oromandibuläre 549 – Synkopen 395 Entzugskrampf 644
– Pathophysiologie 547 – Wellenformen 124 Enzephalitis
– proximale myotone 739 Elektromyelographie, paraneoplastische – bulbäre 358
– segmentale 549 Syndrom 356 – chronische immunvermittelte 522
– – zervikale 46 Elektromyographie 113–117, 114 . – Epilepsie 376
– therapeutische Leitlinien 553 – amyotrophische Lateralsklerose 725 – impfassoziierte 520, 521
– zervikale 46, 547, 549, 549 . – Faszikulationen 115 – japanische 476
Dystrophia myotonica Steinert 737, 738, – Fibrillationen 115 – limbische 354, 357
738 ., 739 – Indikation 113 – nicht-paraneoplatsische limbische 522
Dystrophie, myotone 739, 740 – Methodik 113 – NMDA-Rezeptor-Antikörperpositive
Dystrophin 153, 733, 734 . – Myasthenie 750 354, 357, 358
– myotone Entladungen 115 – virale 467–477
– Myotonien 738 – – Diagnostik 468

E – normale 115
– pathologische 115
– – Erregerspektrum 468
– – Herpes simplex 468–471, 469 .,
– Polyneuropathie 692 470 .
EBV 473 – spinale Tumoren 346 – – Pathogenese 467
Echinokokkose 492 – zentralnervöse Störungen 116 – – Symptomatik 468
Echokardiographie Elektroneurographie 117, 118 Enzephalomalazie 765
– transösophageale 201, 202 . – amyotrophische Lateralsklerose 725 Enzephalomyelitis
– transthorakale 201, 202 . – Bandscheibenvorfall 683 – akute disseminierte 517, 518, 518 .
Echolalie, bei Hirntumoren 296 – Polyneuropathie 693 – parainfektiöse 520
Echopraxie, bei Hirntumoren 296 – Prinzip 117 – paraneoplastische 357
Echovirus-Meningitis 473, 474 Elektrookulographie 128, 129 Enzephalopathie
ECOG-Leistungsstatus 811 Elektrosmog 789 – bovine, spongiforme 486
Ecstasy 643 Elektrotrauma, Rückenmark 611, 612 – hepatische 619, 620, 620 .
ECT 7 Emissions-Computertomographie Elsberg-Syndrom 710 – – chronische 619
Edrophonium-Test 748, 750 Embolie – steroidresponsive 522
EDSS 507, 805 – Aorta 181 – subkortikale arteriosklerotische 185 .,
EEG 7 Elektroenzephalographie – arterioarterielle 181, 186 186, 191, 576, 728
Eigenreflex 29, 32, 39 – Hirngefäße 181 – urämische 620
– Untersuchung 33–36 – kardiale 181, 184, 186 Enzephalozele 773, 774 .
Eineinhalb-Syndrom 18, 189 Embolisierung EP 7 Potential, evoziertes
Einklemmung 7 Herniation – Angiom 251, 252, 252 . Ependymom 316, 316 ., 317
Einschlusskörperchenmyositis 756 – arteriovenöse Fistel 255 – Epidemiologie 295
Eiscreme-Kopfschmerz 417 – Meningeom 321 – spinales 344, 349, 349 ., 350
Eklampsie 620 embryonales Karzinom 7 Karzinom, EPH-Gestose, Epilepsie 387
– Epilepsie 387 embryonales Epidermoid 329
– intrazerebrale Blutung 229 Embryopathie 764 – Kauda 349
Elektroenzephalographie 123–127, 126 . Emerin 733 Epiduralhämatom 7 Hämatom, epidurales
– Ableitungen 123 Emery-Dreifuß-Muskeldystrophie 146 Epiglottisparese 28
– Computeranalyse 124 EMG 7 Elektromyographie Epilepsie 363–391
– Creutzfeldt-Jacob-Krankheit 484, Emissions-Computertomographie 136, – 7 s.a. Anfall, epileptischer
484 . 137 – alkoholbedingte 638
– Elektroden-Platzierung 123, 124 . Empfehlungsstärke XII – Ätiologie 364, 365
826 Anhang

Epilepsie Erschöpfungssyndrom, chronisches 790, Fibularisphänomen 403, 433


– Aura 370, 374 791 Filum terminale, Elongation 781
– bei Hirntumoren 296 Erythroblastose, fetale 764 Finger-Finger-Versuch 49
– Berufseignung 390 Esophorie 11 Fingerflexorenreflex 34
– Bewusstseinstrübung 370 Ethosuximid 379, 381 – gestörter 662
– Definition 364 Evakuation, offene 235, 236 . Finger-Nase-Versuch 49, 50 .
– Demenz 389 Evidenzklassen XII Fingerperimetrie 9, 9 .
– Diagnostik 366–368 exercise-headache 417 Fingolimod 515
– – prächirurgische 368 Exophorie 11 FISH 148
– Elektroenzephalographie 127 Exophthalmus, einseitiger 11 Fisher-Syndrom 13
– Epidemiologie 365 Extinktion 93 Fistel
– Fahrtauglichkeit 390, 391 Exzitotoxizität 162, 175 – arteriovenöse 255–259
– fokale 368–371 – – durale 255
– – 7 s.a. Anfall, fokaler – – Embolisierung 255
– – Behandlung 379
– GABA 365
F Fixationsnystagmus, angeborener 19, 21
Fixationspendelnystagmus 21
– genetische Beratung 365 Fixationssuppression 52, 52 .
– genetische Faktoren 365 Fabry-Krise 626 flapping tremor 48
– Hemisphärektomie 389 Facettensyndrom 686 Fleckfieber-Enzephalitis 458
– Hyperventilation 368 Fächerphänomen 36 floppy infant syndrome 721, 744, 768
– idiopathische 155, 364 Facies myopathica 736 Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung 148
– Kallosotomie 389 Faktor-V-Mangel 242 Flush-Syndrom 397
– Klassifikation 366 Faktor-X-Antagonisten 215 Folgebewegungen 12, 13, 16
– Lebensführung 378 Fallhand 669, 669 . – sakkadierte 16
– myoklonische 48, 373 Faltenzunge 661 – visuelle 16
– – astatische 373 Falxmeningeom 319 . Folsäureantagonisten 339
– – Jugendalter 373 Farbbenennungsstörung 94 Foramen ovale
– Notfalltherapie 377, 378 Fasciculus – offenes
– Pathophysiologie 365 – arcuatus 90 ., 91 – – Antikoagulation 215
– Photostimulation 368 – cuneatus 53 – – asymptomatisches 214
– Provokationstest 368 – graciis 53 – – Migräne 409
– psychische Störungen 388–390 Faszikulation 45, 115 – – Schlaganfallrisiko 178, 179
– Schwangerschaft 386 Faustschluss, gestörter 669 – – Verschluss 215
– sozialmedizinische Aspekte 390, 391 Fazialiskontraktur 659 – – sonographischer Nachweis 199 .
– Symptomatik 370 Fazialislähmung – transösophageale Echokardiographie
– symptomatische 364 – doppelseitige 659 201, 202 .
– temporale 370 – idiopathische 658 Foramen-Magendii-Blockade 768
– Therapie 377–388 – inkomplette 659 Foramen-Monroi-Blockade 768
– – chirurgische 387, 388 – komplette 629 Foraminotomie 679
– – Leitlinien 379, 384 – periphere 658, 658 ., 659 Formatio reticularis 55
– – medikamentöse 378–384 – therapeutische Leitlinien 660 – paramediane 16
– Therapieresistenz 378, 379, 383, 384 – Therapie 629 – parapontine 17
– traumatische 602, 60 – traumatische 659 Foster-Kennedy-Syndrom 30
– Vagus-Nerv-Stimulation 388 Feinbeweglichkeit 50 FPI 81
– Verstimmungszustand 389 Feinmotorik, gestörte 61, 62 Fragiles-X-Syndrom 153
– vertiginöse 369 Felbamat 379 Fragile-X-assoziiertes Tremor-Ataxie-
– Wesensänderungen 389 Felsenbeinlängsfraktur 589 Syndrom 556, 566
epileptischer Anfall 7 Anfall, epileptischer Femoralislähmung 674, 675 Freiburger Persönlichkeitsinventar 81
Episode α-Fetoprotein, Hirntumoren 303, 304 Fremdreflex 31
– amnestische 401, 402, 412 Fettembolie 221 – Untersuchung 35, 36
– psychotische 644 Fettsäureoxidation, mitochondriale, Frenzelbrille 427
Epstein-Barr-Virus-Infektion 473 gestörte 744 Friedreich-Ataxie 147–564, 564 ., 565,
Equinovarus-Fuß 702 Fettsäuretransport, mitochondrialer, 566, 617
Erb-Lähmung 662 gestörter 744 Friedreich-Fuß 564
Erektionsstörungen 66, 67 Fettstoffwechselstörungen, Schlaganfall- Froment-Zeichen 671, 671 .
Ergotherapie, Schlaganfall 211 risiko 178 Frontalhirnsyndrom 97
Erregungsleitungsgeschwindigkeit Fibrillation 115, 116 Frühsommer-Meningoenzephalitis 472,
7 Nervenleitgeschwindigkeit Fibromyalgie 757, 788, 789 474
A4 · Sachverzeichnis
827 E–H
Frühsommer-Meningoenzephalomyelitis – – Anastomosen 172 ., 174 Gliomatosis cerebri 313
454 – – kollaterale 174 Gliose, reaktive 482
FSME 454 – Sauerstoffbedarf 170 Globus pallidus 45
FSME 472, 474 – Stoffwechsel 172 Glossodynie 421
Funktionsschwelle 176 . – – Versagen 175 Glossopharyngeusneuralgie 420
Fußgreifreflex 36 Gehirnentzündung 7 Enzephalitis Glutamat 158
Fußklonus 35 Gehirnerschütterung 588 Glycin 158
F-Welle 119 Gehirnjogging 576 Glykogenhaushalt, Störungen 743,
Gehirnquetschung 588 744
Gehörorgan, Blut- und Nervenversorgung Glykolyse 173 .
429 .
G Gelegenheitsanfall 364
Glyzerinrhizolyse 420
Golgi-Sehnenapparat 31, 31
Gelegenheitskrampf 634 Gonadotropine 146
GABA 44, 158 Gerinnungsstörungen Gordon-Kniephänomen 46
– Epilepsie 365 – Risiko für intrazerebrale Blutungen 228, Gordon-Reflex 35
Gabapentin 379, 380, 382 229 Gradenigo-Syndrom 13, 31
Gammopathie 712 – Schlaganfallrisiko 179 Grand-mal-Anfall 367, 373, 374, 375 .
Gangataxie 51, 646 – Therapie 236 – 7 s.a. Anfall, tonisch-klonischer
Ganglion Gasseri Germinom 321, 332 – alkoholbedingter 634
– Thermokoagulation 419 Gerstmann-Sträussler-Scheinker-Krankheit – generalisierter 371
– Varizellenlatenz 467 486 – tonisch-klonischer 373, 374, 376
Ganglionitis ciliaris 454 Geruchswahrnehmung 8 Grand-mal-Status 376
Gangliosidose 622 Geschmacksschwitzen 68 Greifen, orales 36
Gangstrecke 51 Geschmacksstörung, Fazialislähmung 658 – reflektorisches 37, 37 .
Gap-junction 157 Geschmacksverlust, medikamenten- Grenzstrangläsion 67
Garcin-Syndrom 31 induzierter 647 Grenzzoneninfarkt 105, 180, 184, 185 .,
Gaumensegelmyoklonie 558 Geschmackswahrnehmung 26 186 .
Gaumensegelparese 723 Gesichtsapraxie 7 Apraxie, bukkofaziale Grenzzonenischämie 765
G-CSF 159 Gesichtsfeld, hemianopisches 10 Grimassieren 545
GDGF 159 Gesichtsfeldausfall 10 Grippeanosmie 646
Geburtshelferstellung 402 – bitemporaler 10 GSC 99
Geburtslähmung 663 – homonymer 10 Guillain-Barré-Syndrom 105, 156, 690,
Gedächtnis Gesichtsfeldprüfung 9 691, 705–710
– Funktionseinteilung 95 Gesichtsfeldveränderung, zerebrale – akutes 711
– prozedurales 96 Ischämie 187 . – Ätiologie 705
– Strukturmodell 95, 96 . Gesichtslähmung 658 ., 658–661 – Diagnostik 707
Gedächtnisstörungen 95, 96 – zentrale 75 – Pathophysiologie 705
– 7 s.a. Amnesie Gesichtsschmerz, atypischer 421 – Plasmapherese 707
– vaskuläre Demenz 577 Gesichtstic 552 – Symptomatik 706
Gefäßfehlbildungen 249–260 Glasgow-Koma-Skala 99, 591, 592, 806 – Therapie 707, 708
– 7 s.a. Aneurysma Glasgow-Outcome-Skala 806 – Verlauf 706, 707
– 7 s.a. Fistel Glatiramiracetat 512, 514, 517 Guillain-Mollaret-Dreieck 48
– arteriovenöse 250–252 Glaukomanfall 415, 416 Gürtelrose 471, 472
– Einteilung 250 Gleichgewichtsorgan, Blut- und Nerven- Guyon-Loge 672
– Epidemiologie 250 versorgung 429 .
– intrazerebrale Blutung 229 Gliadin-Antikörper 694
Gliedergürteldystrophie 735, 736 .
– neurokutane 257
– Symptomatik 250, 251 Gliedergürtelmuskeldystrophie 147
H
Gefäßmissbildungen 7 s.a. Missbildungen, Gliedmaßenapraxie 90
arteriovenöse Glioblastom 313, 314, 314 ., 317 Hahnentritt 676
Gefäßspasmus – Epidemiologie 295 Halbbasissyndrom 31
– Behandlung 271, 272 – Epilepsie 376 Halbseitenlähmung 409
– zerebraler 266, 266 ., 267 – genetische Faktoren 294 – akute 75
Gehirn Gliom Halbseitensymptom 187
– arterielle Versorgung 171, 172 . – 7 s.a. Astrozytom Halluzination
– Durchblutung 7 Hirndurchblutung – Epidemiologie 295 – hypnagoge 393, 394
– Energiebedarf 172 – genetische Faktoren 294 – medikamenteninduzierte 644
– Gefäßversorgung 170, 170 ., 171, 173 . – spinales 344 Halsmarkläsion 70
828 Anhang

Halswirbelsäule Herdenzephalitis – Primärtumor 330, 333


– Arthrose 7 – septische 450 . – solide 329, 330
– Distorsion 608–611, 791–793 – septisch-embolische 222 – solitäre 332
Haltetremor 555 Herdsymptome Hirnnerven 7 ., 7–12, 25–29, 320 .
Halteversuch 38 – neurologische 597 – 7 s.a. Nervus olfactorius
Hämangioblastom 257, 259 . – zerebrale, bei Hirntumoren 296, 297 – 7 s.a. Nervus opticus
Hämatom Herniation – okulomotorische 13
– epidurales 594, 600, 600 . – subfaziale 299 Hirnnervenlähmung, diabetische 696
– intrakranielles 267 – Symptomatik 299, 300 Hirnnervenläsionen 656–662
– intrazerebrales 601 – tonsilläre 299 Hirnnervensyndrome 7 .
– subdurales 594, 600, 601 – transtentorielle 299 Hirnödem
– – akutes 601 Herpes-simplex-Enzephalitis 468–471, – Behandlung 442
– – chronisches 602 469 ., 470 . – bei Hirntumoren 297–299
– traumatisches 596, 600, 601 Herpes-zoster-Infektion 471, 472 – Elektrotrauma 611
– – intrazerebrales 601 Herz, Denervierung 696 – Therapie 245
Hämatomyelie 284 Herzenzephalitis, embolisch-metastatische – traumatisches 596
Hämatotympanon 589 450, 454 . – vasogenes 297, 297 ., 309
Hamburg-Wechsler-Intelligenztest 82 Herzinfarkt, stummer 696 – Verlauf 297
Hämodilution, hypervolämisch-hyper- Herzkreislaufregulation, Störungen 67, 68 – zytotoxisches 297, 297 .
tensive 210, 272 Heterophorie 11 Hirnrinde, sensible Projektionsfelder 60
Hämophilie, Blutungsbehandlung 236 Heterotopie 773, 774 . Hirnrindenatrophie 638
Hämorrhagie, parenchymatöse 231 . Hinterstrangläsion 70 Hirnschädigung
Handgreifen 36 Hinterstrangstimulation 685 – hypoxisch-ischämische 765
Handgreifreflex 36 Hinterwurzelfasern 53, 54 – minimale frühkindliche 767
– pathologischer 573 Hippel-Lindau-Krankheit 257 – perinatale 764, 765
Händigkeit 87, 88 Hippokampussklerose 388 . – postnatale frühkindliche 765, 766
Hantavirusinfektion 476 Hirayama-Krankheit 723 Hirnschwellung, globale traumatische
Hashimoto-Enzephalitis 522, 523 Hirn… 7 s.a. Gehirn… 593
β-HCG, Hirntumoren 303, 304 Hirnabszess 447–450 Hirnsinusthrombose 239–247
HELLP-Syndrom, Epilepsie 387 Hirnarterien 170–172 Hirnsklerose, tuberöse 777, 777 .
Helminthen 490 – extrakranielle 171 Hirnstamm, Status lacunaris 191
Hemianopsie 9, 94, 620 – funktionelle Einteilung 172 Hirnstammblutung 232
– Adenom 328 – intrakranielle 171 – operative Therapie 236
– binasale 10 – perforierende 172 Hirnstammenzephalitis 468
– bitemporale 7 . – Sonographie 200 Hirnstammgliom 776
– epileptischer Anfall 369 – Stenose 180 Hirnstammhaube 44
– homonyme 8 ., 61, 63, 409 – Thrombose, lokale 184 Hirnstamminfarkt 189, 194
Hemiataxie, Kleinhirnsyndrom 190 Hirnbasis, mediale 6 . Hirnstammkompression 597
Hemiathetose 766 Hirnbiopsie 145, 301 Hirnstammkontusion 588, 593, 594, 596,
Hemicrania continua 415 Hirndruck, erhöhter 597
Hemikranie – Behandlung 209, 235, 272, 309, 310, – primäre 597
– chronische 414 595, 597 Hirnstammläsion 44, 596, 599
– – paroxysmale 412, 413 – bei Hirntumoren 297, 298 Hirnstammpotential
– episodische 414 – gutartiger 247 – akustisches 599
– paroxysmale 414 – Symptome 297, 298 – frühes akustisches 122, 123 .
Hemilaminektomie 684 Hirndurchblutung 172–174 Hirnstammsyndrome 104, 105
Hemiparese 61, 63 – CO2-Reaktivität 174, 175 . – akute 637
– kapsuläre 43, 43 . – Perfusionsdruck 172, 173 Hirnstimulation
Hemiplegie – Regulation 174 – Arachnopathie 685
– bei multipler Sklerose 507 – zerebrale 172, 173 – generalisierte Dystonie 552
– infantile 766 Hirnhaut, Biopsie 145 – Parkinson-Syndrom 539, 540
Hemispasmus facialis 549, 551 Hirnhautentzündung 7 Meningitis – tiefe 413
Hemisphäre, sprachdominante 91 Hirninfarkt 7 Infarkt, zerebraler Hirntod
Hemisphärektomie, Epilepsie 389 Hirninvolution, altersbedingte 570 – dissoziierter 101, 105, 106, 599
Hemisphärenblutung, zerebelläre 230 . Hirnkontusion, Pathophysiologie 596 – Dokumentation 107
Hemisphärentumor 307 ., 308 Hirnmetastasen – Feststellung 106
Heparin, intrazerebrale Blutung 229, – intrathekale Chemotherapie 334 – Kriterien 106
236 – Leitlinien 332 Hirntrauma 590–600
A4 · Sachverzeichnis
829 H–I
Hirntumoren 291–241 – Stadien 477 Hyperakusis 658
– astrozytäre 310–315 – Therapie 478 Hyperalgesie 58
– Ätiologie 294 HIV-Neuropathie 711 Hyperekplexie, familiäre 558, 559
– benigne, 293, 294 Hodenkarzinom, limbische Enzephalitis 357 Hyperhidrose 67
– Blutung 293 Hodgkin-Erkrankung 7 Morbus Hodgkin – axillaris 550
– Chemotherapie 306–309 Hoehn-Yahr-Skale 533, 810 – palmaris 550
– – Bluthirnschranke 308 Hoffmann-Klopfzeichen 677 Hyperhomozysteinämie 179
– – Hochdosis 309 Hoffmann-Reflex 119 Hyperkinese 45, 46
– – interstitielle 309 Höhenschwindel 433 – Chorea Huntington 545
– – intraarterielle 309 Hohlfuß 701, 702 – extrapyramidale 619, 766
– – intrathekale 309 Holmes-Tremor 556 – okuläre 21
– – prä-strahlentherapeutische 309 Homunculus 53 Hyperkinesie, medikamenteninduzierte
– – Therapieempfindlichkeit 307 Hormondiagnostik 145, 146 645
– Diagnostik 300–302 Horner-Syndrom 11, 20, 24, 24 ., 25, 190, Hypermetrie 52, 646
– Epidemiologie 294, 295 191, 662, 771, 777 Hypernephrom, Hirnmetastasen 332,
– epileptische Anfälle 295, 296, 376 – Diagnostik 25, 26 333 .
– Erkrankungsalter 294 – postganglionäres 24 Hyperpathie 58, 59, 61, 63
– genetische Faktoren 294 – präganglionäres 24 Hypersalivation 550
– intrakranielle, Einteilung 293 – zentrales 24 Hypersekretionshydrozephalus 767
– Klassifikation 293 Hörstörungen, Streptomycin-induzierte Hypersexualität 65
– Klinik 295–297 647 Hypersonmie 397
– Kopfschmerzen 295 Hörsturz, akuter 431 hypertensive Krise 223, 224
– Liquordiagnostik 302 H-Reflex 119 Hyperthermie
– maligne 293 5-HT-Agonisten 409, 410, 411, 412 – maligne 648, 746
– – Leitlinien 317 Hundespulwurm 492, 493 – zentrale 102
– Metastasen 329–335 Hungerpolyneuropathie 698 Hyperthyreose
– Metastasierung 294 Hunt and Hess-Scale 803 – Myasthenie 752
– Mobiltelefon 788 Huntingtin 153, 154, 544 – Myopathie 745
– oligodendrogliale 315, 316 Huntington-Krankheit 7 Chorea Hypertonie, Schlaganfallrisiko 177
– operative Therapie 303, 305 Huntington Hyperventilation, Epilepsie 368
– Pathogenese 295 Hurst-Enzephalitis 516, 517 Hyperventilationsversuch 403
– primäre 293 Hustensynkope 395 Hyphidrose 62, 62 .
– psychische Symptome 295, 298 HWIE 82 Hypnotika, zerebrale Symptome 642
– Strahlentherapie 305, 306 Hydantoine Hypoglykämie, Bewusstseinsstörungen 172
– Therapie 303, 305–309 – EEG-Veränderungen 643 Hypogonadismus, sekundärer 328
– Tumormarker 303, 304 – Hirnstammsymptome 645 Hypokinese 44
– Verhaltensstörungen 295 Hydrocephalus Hypoparathyreoidismus 530
– Verkalkung 293 – arresorptivus 765, 767 Hypophonie 531
– Wesensveränderungen 295, 298 – communicans 102, 105, 267 Hypophysenadenom 323 ., 325–328,
– zerebrale Herdsymptome 296, 297 – e vacuo 767 327 .
Hirnvenen 241 – internus 596, 772 Hypophyseninsuffizienz, tumorbedingte
Hirnvenensinusthrombose, Wochenbett – malresorptivus 767, 768, 769 328
387 – occlusus 102, 316, 317, 447, 767, 768 Hyposmie, medikamenteninduzierte 646
Hirnvenenthrombose 239–247 – externus 767 Hypotension, primäre, orthostatische 541
– Epidemiologie 240 – internus 767 Hypothermie, Schlaganfall 209, 210
– Symptomatik 245 Hydrozephalus 767–771 Hypothyreose, Myopathie 745
– Therapie 245, 246 – akuter 769
Hirnverletzung, offene 599, 600 – chronischer 769
Hirnvolumen, vermindertes 572, 574 .
Hishimoto-Thyreoiditis 754
– Definition 767
– Diagnostik 769
I
HIV-Enzephalopathie 479 – Einteilung 767
HIV-Infektion 453, 477–482 – Subarachnoidalblutung 266, 267 Icterus gravis neonatorum 764
– Demenz 482 – Therapie 272, 770 idiopathic environmental intolerance 787
– Diagnostik 477, 478 Hypakusis 625 Idiotie, amaurotische 622
– Epidemiologie 477 Hypalgesie 58, 59 Ilioinguinalis-Syndrom 685
– Folgen 478 Hypästhesie 58 Imitationsversuch 50
– Meldepflicht 477 – segmentale 60 Immunglobuline, multiple Sklerose 512,
– Meningitis 478 – taktile 59 515
830 Anhang

Immunneuropathie 705–710 Ischämie, zerebrale Kauda, Dermoid 349


Immunrekonstitutionssyndrom 481 – 7 s.a. Infarkt, ischämischer Kaudaläsion 71
Immunstörungen 163 – 7 s.a. Schlaganfall Kaudasyndrom 71, 680, 776
Immunsuppressiva 519 – Ablauf 176 . Kaudatumoren 349
Immuntherapie, paraneoplastische – bleibende Symptome 183 Kausalgie 59
Syndrome 359 – Einteilung 182–185 Kavernom 248–253, 253 .
Impression, basiläre 776, 777 – flüchtige 182–184 – intramedulläres 285
Impressionsfraktur 589 – Gesichtsfeldveränderung 187 . Kearns-Sayre-Syndrom 625
Impulsiv-Petit-mal-Anfall 373, 374 – hintere Zirkulation 188 Keilbeinflügelmeningeom 323
Impulskontrolle, gestörte 97 – vordere Zirkulation 185, 186 Keilbeinflügelsyndrom 13, 30
Infarkt Ischämieschwelle 174, 175, 176 . Keimzelltumoren 321
– ischämischer 167–227 Ischiadikuslähmung 675 – Diagnostik 321
– – 7 s.a. Ischämie, zerebrale – hochliegende 676 – Einteilung 321
– – 7 s.a. Schlaganfall Ixodes ricinus 453 – Symptomatik 321
– – Ätiologie 179, 180 – Therapie 321
– – Ätiopathogenese 186 Kennedy-Syndrom 30, 323, 728
– – flüchtiger 184
– – Fogging-Phase 192
J Kernig-Versuch 57
Kieferöffnungsreflex 119
– – frühe Zeichen 193 . Kinetose 433
– – immunologische Mechanismen 182 Jackson-Anfall 369 Kleinhirn 49, 49 .
– – lakunärer 184, 185 ., 186, 186 ., 191 – motorischer 296 Kleinhirnataxie 51
– – maligner 185 – sensibler 296 Kleinhirnatrophie, alkoholbedingte 564,
– – Ödementwicklung 193 . Jakob-Creutzfeld-Krankheit, familiäre 155 567
– – Pathophysiologie 180 Jannetta-Operatin 419, 661 Kleinhirnblutung 232
– – Prognose 175, 176 Janz-Syndrom 373 – operative Therapie 236
– – progredienter 184 Jargon-Aphasie 85 Kleinhirnbrückenwinkelmeningeom 323
– – subkortikaler 187 Jendrassik-Manöver 29 Kleinhirnbrückenwinkelsyndrom 7 ., 31
– – zeitlicher Verlauf 192 Kleinhirndegeneration
– lakunärer 181, 184 – alkoholische 567
– migränöser 409
– thorakaler spinaler 283 .
K – medikamentös bedingte 567
Kleinhirndruckkonus 299
– vaskulitischer 191, 218–221 Kleinhirnfarkt 194, 194 .
– zerebraler migränöser 409 Kallosotomie, Epilepsie 389 Kleinhirnfunktion 49
Infarktschwelle 174, 175 Kalottenfraktur 589 – Untersuchung 49
Infarzierung, hämorrhagische 231 . Kalziumantagonisten, Gefäßspasmen 272 Kleinhirninfarkt 189
Infektion, opportunistische 337 Kalziumkanalkrankheit 740 – Dekompressionsoperation 210
Influenza-A-Virus, Enzephalitis 475 Kanalopathie 155, 737, 740 Kleinhirnrinde, Spätatrophie 637, 638
Influenza-B-Virus, Enzephalitis 475 Kapsel, innere 7 Capsula interna Kleinhirnsyndrom 190
Information Karnofsky-Index 811 Klippel-Feil-Syndrom 779
– Enkodierung 95 Karotidodynie 422, 423 . Klüver-Bucy-Syndrom 37, 580
– Konsolidierung 95 Karotisaneurysma 263 ., 657 Knie-Hackenversuch 49, 50 .
Informationsverarbeitung, Prozessmodell – Coiling 270 Knipsreflex 34
95 Karotisangiographie 138, 139 . Knochenszintigraphie, Hirntumoren 302
Innervation, segmentale sensible 55 ., Karotisdissektion 191 Koagulopathie, ischämischer Infarkt 182
56 . Karotis-Sinus-cavernosus-Fistel 256, 258, Kokain, Pupillenerweiterung 646
Insomnie 397 258 . Kollaterale, Gehirn 174
Inspektion, Kopf 6 – Diagnostik 256 Kolliquationsnekrose 611
Instabilität, posturale 532 – Symptomatik 256 Kolloidzyste, III. Ventrikel 329, 330 .
Instinktbewegung 36 Karotisstenose 186 Koma 99
Intelligenz 81 – Operation 212, 214, 215, 216 . – Atemstörungen 102
Intelligenzquotient 81 – Schlaganfallrisiko 178 – Definition 99
Intelligenzstrukturtest 82 Karotisstenting 213, 217, 217 ., 218 – Einteilung 100, 101
Intentionstremor 646 Karotis-Thrombendarteriektomie 215–217 – initiales 594
Interferone, Myasthenie 753 Karpaltunnelsyndrom 325, 655, 670, 670, – Leberausfall 619, 620
Intrazerebralblutung 7 Blutung, intra- 697, 722 – leichtes 100
zerebrale Karzinom, embryonales 321 – Leitsymptome 101
Invagination, basiläre 776, 777 Kataplexie 398, 399 – metabolisches 103
Ionen-Kanalkrankheiten 737, 740 Katerkopfschmerz 417 – nach Hypoxämie 103
A4 · Sachverzeichnis
831 I–L
– nach Kreislaufversagen 103 – Parkinson-Syndrom 540 – – Symptome 41, 42
– Schweregrad 592 – perinatale Hirnschädigung 767 Lähmungsschielen, erworbenes 11
– tiefes 101 – Schlaganfall 211 Laktatazidose 624
– vegetative Regulationsstörungen 102 Kreatinkinase, Myopathien 732 Laktat-Ischämie-Test 145, 732, 743, 744
Kommissuralarteriensyndrom 280 Kreislaufstörungen 102 Lakune 181, 184, 185 ., 186, 186 ., 191
Kompartmentsyndrom 758 Kribbelparästhesie 677 Lambert-Eaton-Syndrom 355, 356, 754
Kompressionssyndrom 655 Krise Laminin-2 733
Kongestionshyperämie 285 – akinetische 540 Laminprotein 733
Kontrastmittelangiographie 134 – cholinerge 752 Lamotrigin 379, 380, 382
Kontusionssyndrom 591 – hypertensive 223, 224 Lance-Adams-Syndrom 542, 558
Konusfixation 686 – myasthene 751, 752 Landry-Paralyse 706
Konus-Kauda-Syndrom 607, 612 – sympathikotone 397 Langzeit-EEG 124
Konusläsion 71 Krokodilsträne 660 Langzeitgedächtnis 95
Konvergenzbewegungen 13, 20 Kryoglobulinämie 701, 712 Lasègue-Versuch 57, 681
Konvergenzparese 18, 768 Kryptokokkenmeningitis 480 Läsion
Konvergenzspasmus 768 Kryptokokkose 494 – Brückenfuß 44
Konvexitätsmeningeom 323 Kugelberg-Welander-Krankheit 720, 721 – Conus medullaris 71
Konzentration 96 Kulissenphänomen 28 – Grenzstrang 67
Konzeptbildung 97 Kupferstoffwechsel, gestörter 617 – Halsmark 70
Koordination 49 Kurtzke-Skala 804 – Hinterstrang 70
Koordinationsstörungen 51, 52 – erweiterte 804 – Hirnstamm 44
– 7 s.a. Ataxie Kuru 486 – infratentorielle 103
– zerebelläre 83 Kurzzeitgedächtnis 95 – kortikale 17
Kopf – myopathische 115
– eingeschränkte Beweglichkeit 7 – neurogene 115
– Nervenversorgung 25 .
– Untersuchung 7
L – Plexus brachialis 67
– Plexus lumbosacralis 67
Kopfhaltung, kompensatorische 12, 12 . – pontine 17
Kopfschmerz 405–422 Labordiagnostik 110–113, 145–148 – subkortikale 17
– 7 s.a. Migräne – generalisierte Myasthenie 748 – supratentorielle 102
– 7 s.a. Spannungskopfschmerz – Hirnvenenthrombose 244 – supratentorielle 103
– chronischer 791 – intrazerebrale Blutung 233 Lateralsklerose
– – Spannungstyp 415 – Muskeldystrophien 733 – amyotrophische 358, 723, 724–728
– einseitiger 412, 413 – Myopathien 732 – – Beatmung 692
– koitaler 417 – Polymyositis 755 – – Diagnostik 724–726
– medikamenteninduzierter 416, 642 – Polyneuropathie 692 – – Differentialdiagnose 286
– Pathophysiologie 408 – zerebrale Durchblutungsstörungen – – Elektroneurographie 725
– posttraumatischer 416 202, 203 – – Epidemiologie 724
– – chronifizierter 601 Labyrinthausfall, akuter 429, 430 – – familiäre 726
– trigeminoautonomer 412–414 Lachen, pathologisches 98 – – Genetik 726
– tumorbedingter 295, 325 Lageempfindung, gestörte 703 – – genetische Ursache 146
– zervikogener 416 Lagerungsprüfung, Schwindel 427, 428 . – – Parkinson-Demenz-Syndrom 728
Kopftetanus 456 Lagerungsschwindel, benigner, paroxys- – – Symptomatik 724
Kopftremor, essentieller 550 maler 426–428 – – symptomatische 728
Kornealreflex 26, 27, 27 ., 75 Lagewahrnehmung, gestörte 691 – – Therapie 725, 726
Korsakow-Syndrom 594, 636 Lähmung 38–44 – – Verlauf 724
Kortex – 7 s.a. Parese – paraneoplastische amyotrophische 358
– somatosensorischer, Somatopie 54, 54 . – dyskaliämische 155, 740, 741, 743 – primäre 719
– supplementmotorischer 41 – hyperkaliämische 737 Laterocollis 46, 549 .
Kortikosteroide, Halluzination 644 – – periodische 740, 742 L-Dopa 537, 560
Kortison-Tagesprofil 146 – hypokaliämische 737, 741 – Tremor 554
Koryphäenkiller-Syndrom 795 – normokaliämische periodische 742 L-Dopa-Test 533, 534, 560
Krallenhand 702 – periodische 740, 741 Leberausfallskoma 619, 620
Krallenzeh 701, 702 – periphere 38, 39, 40 Legionellose 459
Krampfpotential 125, 126 – psychogene 39 Leistungsprüfsystem 82
Kraniopharyngeom 328, 329 – schlaffe 39 Leitungsaphasie 88
Krankengymanstik – zentrale 38, 40–44 Leitungsstörungen 95
– multiple Sklerose 513 – – Lokalisation 42 Lennox-Gastaut-Syndrom 364, 365, 373
832 Anhang

Lepra Liquorunterdrucksyndrom, postpunktio- – Angiom 251, 251 .


– lepromatöse 710 nelles 111 – Bandscheibenvorfall 679, 679 ., 681 .,
– Polyneuropathie 710, 711 Liquoruntersuchung 111–113 682
– tuberkuloide 711 – immunzytologische 113 – diffusionsgewichtetes 131, 134
Leptomeningitis 438 – mikrobiologische 112 – Epilepsie 367, 368
Leptospirose 448 – molekularbiologische 112 – funktionelle 135, 135 ., 136
Leriche-Syndrom 283 Liquorzirkulation – Hirntumoren 300, 301, 302 ., 306 .
Leukenzephalopathie, progressive – gestörte 767 – Hirnvenenthrombose 243 ., 243, 244
multifokale 480 – Physiologie 768 – intrazerebrale Blutung 233, 235 .
Leukenzephalopathie-Syndrom, akutes Lissenzephalie 773, 774 . – Kontraindikationen 135
posteriorer 518, 519 Listerienmeningitis 447 – Leukodystrophie 623, 623 .
Leukodystrophie 622, 623 Little-Krankheit 766 – multiple Sklerose 509, 509 ., 510, 510 .
– Definition 622 Lobärblutung 230 ., 231, 236 . – Myopathien 732
– metachromatische 622, 623, 623 . Locked-in-Syndrom 105, 190, 637 – perfunktionsgewichtetes 131, 134
– Polyneuropathie 704 Logopädie, Schlaganfall 210, 211 – Prinzip 131
Leukomalazie, periventrikuläre 765 Lokalanästhetika, Myasthenie 753 – Schädel-Hirn-Trauma 593
Leukotriene 175 Long-loop-Reflex 119 – Sequenzen 132, 133
Levetiracetam 379, 383 LPS 82 – spinale Abszesse 498 ., 499, 499 .
Lewy-Körper 531, 544 Lues 450, 452 – Wernicke-Enzephalopathie 636, 636 .
Lewy-Körper-Demenz 7 Demenz, – cerebrospinalis 452 – zentrale pontine Myelinolyse 637 .
vom Lewy-Körper-Typ Luftembolie 221, 222, 222 . – zerebrale Durchblutungsstörungen
Lhermitte-Zeichen 58 Lumbago 683 194, 196, 197, 196 ., 197 .
Libidoverlust 66 – 7 s.a. Bandscheibenprolaps Magnetstimulation
Lichtreaktion Lumbalisation 782 – multiple Sklerose 509, 509 .
– direkte 20, 20 . Lumbalmarkläsion 71 – transkranielle 120 ., 120, 121
– konsensuelle 20 Lumbalpunktion 110, 110 . Makroadenom 325, 328
Lidheber 7 Musculus levator palpebrae – Durchführung 111 Makroangiopathie 183, 184, 185 ., 186 .
Lidspalte 11 – Subarachnoidalblutung 269 Makrographie 52
Linkage 148 Lupus erythematodes, systemischer 182, Makuladegeneration 625
Linsenkern 45 219, 701 Maladie de Morvan 771
Linsenkerninfarkt 186 ., 187 Lymphadenopathiesyndrom 477 Malaria 490, 491, 492
Lipohyalinose 186 Lymphom, intrakranielles malignes 333, 334 Mammakarzinom
Lipom Lymphozytose-Syndrom, diffus infiltratives – Hirnmetastasen 332
– intrakranielles 329 711 – POM 358
– spinales 349 Lyse, intraventrikuläre 235, 235 . MAO-Hemmer 535, 536, 538
Liquor Lysetherapie 7 Thrombolyse Marchiafava-Bignami-Syndrom 638
– Eiweißgehalt 111, 112 Lyssa 475, 476 Marcumar, intrazerebrale Blutung 236
– Glukosekonzentration 111, 112 Marker, neuronale 146
– Immunglobuline 112 Markscheidenläsion, primäre 656
– oligoklonale Banden 112, 112 .
– Proteinprofil 111, 112 112 .
M Markscheidenschädigung 117
Maschinenatmung 102
– Xanthochromie 111 Masernvirus, Enzephalitis 475
– Zellzahl 111 Machado-Joseph-Erkrankung 147 Massenblutung, hypertensive 225, 237 .
Liquordiagnostik 110 Magnetenzephalographie 127, 128, 128 . Masseterklonus 26
– Alzheimer-Krankheit 575 – Anwendung 128 Masseterreflex 26, 26 ., 119
– Bandscheibenvorfall 683 – Epilepsie 368 Mastdarmlähmung 691
– Guillain-Barré-Syndrom 707 – Prinzip 127 Mayer-Grundgelenkreflex 35
– Hirntumoren 302, 305 . Magnetresonanzangiographie McArdle-Syndrom 743, 744
– HIV-Infektion 477 – Angiom 251, 251 . Mc-Donald-Diagnosekriterien 504, 505
– Meningitis 439, 440, 441 . – Hirnvenenthrombose 239, 239 . Mediainfarkt 192, 194 .
– multiple Sklerose 508 – intrazerebrale Blutung 233 – maligner 209, 210 .
– Polyneuropathie 693 – Subarachnoidalblutung 268, 269 Medianuslähmung 669, 670 .
– Rückenmarkstumoren 346 – zerebrale Durchblutungsstörungen – komplette 669
– Subarachnoidalblutung 269 196, 196 . Mediastenose, Stenversorgung 217
– Virusenzephalitis 469, 470 . Magnetresonanztomographie 131–136, Mediasyndrom 187
Liquordruckmessung 110, 111, 769 132 ., 133 . Medikamentenabhängigkeit 643
Liquorpunktion 110 – amyotrophische Lateralsklerose 725, Medikamentenabusus, chronischer 643
Liquorstatus 111 725 . Medikamentenentzugsdelir 632
A4 · Sachverzeichnis
833 L–M
Medulloblastom 319, 320, 320 ., 332 Meningokokkensepsis 442 Missbildungen, arteriovenöse 250–252,
– genetische Faktoren 294 Meningomyelozele 781 285, 286
Medusenhaupt 254 Meningoradikulitis 455 – Bestrahlung 251
MEG 7 Magnetenzephalographie Meningosarkom 323 – Diagnostik 251, 252
Megadolichobasilaris 263 Meningozele 781 – Einteilung 250
Megaloblastenanämie 616 Meralgia paraesthetica 655 – Epidemiologie 250
Meige-Syndrom 46, 551 MERRF-Syndrom 625 – spinale 285, 286
MELAS-Syndrom 625 Metastasen – Symptomatik 250, 251
Melkersson-Rosenthal-Syndrom 661 – extradurale 343 Mitochondriopathie 156
Menière-Krankheit 430–432 – Hirntumoren 329–335, 331 . Mitosehemmstoffe 339
– Diagnostik 430, 431 – – Leitlinien 332 Mitoxantron 512, 517, 515
– Differentialdiagnostik 431 – infratentorielle 330 Mittelhirnblutung 232
– Epidemiologie 430 – solide 329, 330 Mittelhirnsyndrom 100, 104, 190
– Pathogenese 431 – spinale 344 – akutes 100
– Symptomatik 430 – supratentorielle 330 MMPI 81
– Therapie 431, 432 Migräne 406–412, 791 Mobiltelefon, Hirntumoren 788
Menigneosis blastomatosa 331, 334 – 7 s.a. Kopfschmerz Moebius-Syndrom 13
Meningen 7 Hirnhaut Migräne, chronische 409 Monoaminooxidase-Hemmer 535, 536,
Meningeom 320, 321, 322 . – chronische 415 538
– anaplastisches 323 – Definition 406 Monokelhämatom 589
– Differentialdiagnose 286 – Epidemiologie 406 Mononeuritis multiplex 40, 690
– Epidemiologie 295, 348 – familiäre hemiplegische 155, 408 Monoparese, kortikale 42, 43 .
– frontales 323 – Klassifikation 407 Morbus
– genetische Faktoren 294 – komplizierte 409 – Addision 745
– parasagittales 323, 719 – mit Aura 408–412, 432 – Alzheimer 7 Alzheimer-Krankheit
– spinales 344, 348, 348 ., 349 – ohne Aura 406–408 – Behçet 219, 220, 445, 516
Meningeosis – ophthalmoplegische 408 – Boeck 445, 466, 467
– carcinomatosa 334 ., 445 – Pathophysiologie 408 – Fabry 626
– lymphomatosa 334 – Prophylaxe 410, 412 – Gaucher 622
– neoplastica 334, 335 – retinale 408 – Hodgkin 335
Meningismus, Subarachnoidalblutung – Schwangerschaft 411 – – limbische Enzephalitis 357
265 – Symptomatik 406, 408 – Pompe 744
Meningitis 278, 438–467 – therapeutische Leitlinien 411 – Refsum 694, 702
– akute, eitrige 438–445 – Therapie 409–412 – Sudeck 713
– aseptische 478 – vestibuläre 432 – Tay-Sachs 622
– bakterielle 438–447 – zyklusgebundene 412 – Terson 265
– – Antibiose 443 Migräneattacke, akute 410 – Waldenström 712
– – therapeutische Leitlinien 444 Mikroadenom 325 – Whipple, zerebraler 459
– – Therapie 442–445 Mikroangiopathie 181–183, 184, 185 ., – Wilson 530, 617–619
– Diagnostik 439–442, 441 ., 442 ., 465, 186 . – – Definition 617
466 – zerebrale 576, 579 . – – Diagnostik 618, 619
– Epidemiologie 464 Mikroatherom 181 – – diagnostische und therapeutische
– epileptischer Anfall 447 Mikrographie 531 Leitlinien 619
– Erregerspektrum 438, 439, 464, 465 Mikrozephalie 764 – – Epidemiologie 617
– fortgeleitete 438 Miktion, Physiologie 65 – – Pathophysiologie 617, 618
– frühluische 452 Miktionsstörungen 65–67 – – Symptomatik 617, 618
– hämatogene 438 Miktionssynkope 396 – – Therapie 618, 619
– Komplikationen 439 Miktionszentrum Motoneuron 39
– lymphozytäre 454, 464–467 – pontines 64, 65 . – Degeneration 718, 719
– – akute 464, 465 – sakrales 64, 65 . Motoneuronkrankheit 717–715
– – chronische 466 Miller-Fisher-Syndrom 657, 705, 709 – Peronealtyp 723
– Magnetresonanztomographie 442, Mingazzini-Stellung 38 Motorik
442 . Mini-Mental-State-Test 807 – Untersuchung 75
– Symptomatik 438, 439–465 Minnesota Multiphasic Personality – zentrale, Organisation 40
– Therapie 442–445 Inventory 81 motorische Einheit 113, 114, 114 .
– traumatische 447 Minussyndrom 97 motorisches System 42 .
– tuberkulöse 445, 446 Miosis 20 Motorkortex 40
– virale 464, 465 – medikamenteninduzierte 646 – Plastizität 40
834 Anhang

Moya-Moya-Syndrom 183, 223, 223 ., – – femoris, Innervation 675 – fazioskapulohumerale 736


224 . – – Innervation 668 – genetische Beratung 734
MR-Angiographie 7 Magnetresonanz- – brachialis, Innervation 668 – genetische Ursache 146
angiographie – brachioradialis – myotone 147
MR-Spektroskopie 135, 135 – – Atrophie 680 – okuläre 736, 757
MRT 7 Magnetresonanztomographie – – Innervation 668 – okulopharyngeale 736, 757
Müdigkeitssyndrom, chronisches 790, 791 – deltoideus, Innervation 668 – progressive 723–737
Mukopolysaccharidose 622 – detrusor 65 – – Becker-Kiener 733, 735
Multiinfarktdemenz 576 – flexor carpi ulnaris, Innervation 671 – – Definition 733
– 7 s.a. Demenz, vaskuläre – glutaeus, Innervation 675 – – Diagnostik 733
Multiinfarktsyndrom 191 – iliopsoas, Innervation 674 – – Duchenne 733, 735
multiple chemical sensitivity 787, 788 – levator palpebrae 11 – – Epidemiologie 733
multiple Sklerose – lumbicalis, Innervation 669, 671 – – Genetik 153, 733
multiple Sklerose 121, 502–517, 719 – obliquus inferior 10, 11 . – – Therapie 733, 734
– Ätiologie 502, 503 – obliquus superior 10, 11, 11 . – skapuloperonäale 736
– Autoantikörper 508 – obturator externus, Innervation 675 Muskelfaser
– Cyclophosphamid 510, 511 – orbicularis oris, Lähmung 723 – Histochemie 144
– Diagnosekriterien 504–506 – peronaei, Innervation 676 – Lichtmikroskopie 144
– Diagnostik 508–510 – pronator quadratus, Innervation 669 Muskelhypotonie, generalisierte 624
– diagnostische und therapeutische – pronator teres, Innervation 669 Muskelkrankheit 7 Myopathie
Leitlinien 511 – quadriceps femoris, Innervation 674 Muskelrelaxanzien, Myasthenie 753
– Differentialdiagnose 286 – rectus inferior 10, 11, 11 . Muskeltonus, reduzierter 52
– Einteilung 804 – rectus lateralis 10, 11 . Mutismus, akinetischer 97, 104
– Elektrophysiologie 509 – rectus medialis 10, 11 . myasthene Krise 751, 752
– Epidemiologie 502 – rectus superior 10, 11 . Myasthenia gravis 355
– Genetik 152, 502, 503 – supinator, Innervation 668 – Einteilung 809
– IgG-Produktion 508 – supraspinatus, Atrophie 680 – pseudoparalytica 356, 746, 747
– Immunglobuline 512, 515 – teres, Innervation 668 Myasthenie
– immunpathogenetische Subtypen 503 – tibialis anterior, Innervation 676 – akute 647
– Immunreaktion 163 – tibialis posterior, Innervation 676 – bei Neugeborenen 752
– Interferontherapie 512, 514, 517 – triceps brachii, Innervation 668 – generalisierte 748–751
– Kortikoide 510 – triceps surae, Innervation 676 – – Diagnostik 748, 749
– Krankengymnastik 513 Muskelatrophie – – Plasmapherese 751
– Mitoxantron 512 – bulbospinale 728 – – Symptomatik 748
– Myelinschädigung 503, 503 . – hereditäre, neuralgische 710 – – Therapie 750, 751
– Parästhesien 513 – Myopathie 732 – – Verlauf 748
– Pathogenese 503, 503 . – peronäale 702 – hereditäre 752
– Plasmapherese 510 – progressive spinale, Duchenne-Aran 736 – Klassifikation 750
– Prognose 506 – spinale 719–723 – medikamenteninduzierte 752, 753
– Schubprophylaxe 510, 511 – – adulte 720, 721 – okuläre 750, 750 ., 747
– Schwangerschaft 506 – – Ätiologie 719, 720 – Pathophysiologie 747
– Sensibilitätsstörungen 507 – – Diagnostik 720, 721 – seronegative 747
– Spastik 513 – – Duchenne-Aran 721, 722 – Therapieempfehlungen 754
– Symptomatik 494–496 – – hereditäre 720 – thymusassoziierte 747
– Therapie 510–516 – – Hirayama 720, 723 Mycobacterium tuberculosis, Nachweis
– – immunmodulatorische 512, 514 – – infantile 720, 721 445, 446 .
– – prophylaktische 510, 511 – – juvenile distale 723 Mycophenolatmofetil 519
– – symptomatische 513, 514 – – Kugelberg-Welander 720 Mydriasis 20
– Verlaufsformen 504, 505, 505 . – – progressive 721, 722, 722 . – medikamenteninduzierte 646
Multisystematrophie, Parkinson-Typ 530, – – sporadische 720 Myelin 156
540, 541 – – Symptomatik 720 Myelinisierung, Störungen 156, 157
Münchhausen by proxy 794 – – Werdnig-Hoffmann 720, 721 Myelin-Oligodendrozyten-Glykoprotein
Münchhausen-Syndrom 794 Muskelbelastungstest 145 503, 508
Mundgreifreflex 36 Muskelbiopsie 144, 145, 694, 725, 732 Myelinolyse, zentrale pontine 622, 637,
– pathologischer 573, 580 – Indikationen 145 637 .
Musculus – Myopathien 733 Myelinprotein, basisches 503, 508
– biceps Muskeldystrophie Myelitis 345, 500
– – brachii, Atrophie 680 – Differentialdiagnostik 736 – paraneoplastische 358
A4 · Sachverzeichnis
835 M–N
Myelo-Computertomographie 131, 140, – okuläre 757 Nervenläsionen
345 – proximale myotone 147 – axonale 656
– Bandscheibenvorfall 683 – steroidbedingte 647 – iatrogene 655
Myelographie 140, 679 – toxische 745, 746 – Läsionsarten 656
– Bandscheibenvorfall 683 – tumorbedingte 359 – periphere 653–685
– Gefäßfehlbildungen 286 Myositis 754–757 – – Therapie 677, 678
Myelom, spinales 346 . – Einschlusskörperchen 756 – – Vitaminbehandlung 678
Myelomalazie 280 – medikamenteninduzierte 648 Nervenleitgeschwindigkeit 117, 118
Myelopathie – okuläre 757, 758 – Bestimmung 692
– chronische, zervikale 728 Myotonia congenita 737, 738 – motorische 117, 117 .
– progressive, vaskuläre 284 Myotonie 737–740 – sensibel-antidrome 118
– zervikale 680, 681 . – Diagnostik 738 – sensibel-orthodrome 118, 692
– – Differentialdiagnose 286 – dystrophische 737, 738, 739 – sensible 692
Myelozele 781 – – Curschmann-Steinert 737 – verlangsamte 693 ., 701, 703
Myklonusepilepsie, progressive 374 – kaliumsensitive 739 Nervenscheidentumoren 323, 324
Mykosen, ZNS 493, 494 – kongenitale 737 Nervenschmerz 7 Neuralgie
Myoadenylatdesaminasemangel 732 – nichtdystrophe 740 Nervenstimulation, transkutane elektrische
Myoglobinurie 743 – proximale myotone 739 677
Myoklonie 48, 558–550 – Symptomatik 737, 739 Nervensystem
– Definition 48 – symptomatische 739 – Entzündungen 436–526
– Definition 558 – therapeutische Leitlinien 740 – vegetatives 60 ., 60–63, 62 .
– epileptische 48, 559 Myxovirusinfektion 475 – – Aufbau 60–62
– essentielle 558 – – Diagnostik 62, 63
– Klassifikation 48 – – funktionelle Anatomie 63
– kortikale 48
– medikamentös bedingte 558
N Nervus
– abducens 10
– Physiologie 48 – – Lähmung 12, 12 .
– physiologische 48 Nackenbeugezeichen 58 – – Läsion 657, 658
– primäre 558, 559 Nackenmuskulatur – – Neurinom 325
– spinale 558 – Parese 7 – accessorius 28, 29
– subkortikale 48 – Rigor 7 – – Lähmung 661, 662
– symptomatische 48, 558 Nackensteifigkeit 7, 72, 75, 439 – acusticus, Neurinom 7 Akustikus-
Myoklonus Nadelmyographie 114, 750 neurinom
– bei metabolischer Enzephalopathie 558 Naevus flammeus 257, 259 . – axillaris, Lähmung 668
– bilateral massiver 373 Narkolepsie 397–399, 644 – cutaneus femoris lateralis, Lähmung
– okulopalatiner 21 – Definition 397 674
– posthypoxischer 542, 558 – Epidemiologie 393 – facialis 27, 658 .
Myoklonusepilepsie, juvenile 374 – monosymptomatische 398 – – Dekompression 661
Myoklonus-Opsoklonus-Syndrom 358, – Pathophysiologie 398 – – Lähmung 589
558 – Symptomatik 398 – – Läsion 658
Myokymie 45 – Therapie 399 – – Untersuchung 27, 27 .
– hemifaziale 507 – Therapieempfehlungen 400 – femoralis, Lähmung 674, 675
Myopathia distalis hereditaria Narkolepsie-Kataplexie-Syndrom 398 – glossopharyngeus 28
– tarda 722, 736 NARP-Syndrom 626 – – Neuralgie 420
– juvenilis 736, 722 Natalizumab 512, 514, 517 – glutaeus inferior, Lähmung 675
Myopathie 115, 731–758 Natriumkanalkrankheit 740 – glutaeus superior, Lähmung 675
– akute nekrotisierende 697 Neglect 17, 93 – hypogastricus 64
– alkoholinduzierte 746 – motorischer 93 – hypoglossus 29
– bei Hyperthyreose 745 – multimodaler 93 – – Lähmung 29, 29 ., 662
– bei Hypothyreose 745 – sensibler 93 – ischiadicus, Lähmung 675, 676
– Elektromyographie 116 – supramodaler 93 – lingualis, Läsion 421
– endokrine 745 – visueller 93 – medianus, Lähmung 669
– entzündliche 7 Myositis Nematoden 490 – musculocutaneus, Lähmung 668
– HIV-assoziierte 479 Neocerebellum 49, 53 – obturatorius, Lähmung 675
– medikamenteninduzierte 648 Neologismus 84 – occipitalis
– metabolische 743, 744 Nervenbiopsie 145, 694, 725 – – Kortisoninjektion 413
– mit Fettstoffwechselstörung 744 Nervendehnungsschmerz 57 – – Lokalanästhetikainjektion 413
– mitochondriale 743, 626 Nervenkrankheit 7 Neuropathie – – Stimulation 413
836 Anhang

Nervus – nervi optici 7 Optikusneuritis – chronisches 620


– oculomotorius 10 ., 10–13 – vestibularis 429, 430 NIH-Stroke Scale 800
– – Lähmung 12, 12 ., 190, 265, 299, Neuroborreliose 163, 453, 454 Nikotin 7 Rauchen
657 – Abduzenslähmung 657 Ninhydrintest 63
– – Läsion 656, 657 – Diagnostik 455 Niphavirusinfektion 477
– olfactorius 7 – Symptomatik 454 Nitrosoharnstoffe 339
– opticus 7–9 Neurobruzellose 458 NO 7 Stickoxid
– – alkoholbedingte Schädigung 638 Neurofibromatose 775, 776 Nocebo-Effekt 789
– – Atrophie 7 Optikusatrophie – Diagnostik 775 Nokardiose 459
– – Gliom 776 – Einteilung 775 Non-Hodgkin-Lymphom 331, 335
– – Läsion 10 Neuroleptika Noradrenalin 63, 158
– – Neuritis 646 – EEG-Veränderungen 643 Noradrenalinsturm 631
– pelvicus 65 – Hirnstammsymptome 645 Normaldruckhydrozephalus 581, 582
– peronaeus – Hyperkinesien 645 NO-Synthesetase 175
– – Lähmung 676 – Spätdyskinesie 645 Notfall, neurologischer
– – Parese 703 Neuroleptikasyndrom, malignes 648, 746 – Behandlung 74
– phrenicus, Lähmung 70 Neurolues 452, 453, 480 – Leitsymptome 72, 73
– pudendus 64 – interfaszikuläre 678 – Untersuchung 72, 73
– radialis, Lähmung 668, 669, 669 . Neuromyelitis optica 522 Notfalldiagnostik 129
– statoacusticus 28 Neuromyotonie 353 Nothnagel-Syndrom 190
– – Schädigung 647 Neurone NSE 146
– suprascapularis, Läsion 664, 665 . – postganglionäre 63 Nucleus
– thoracicus anterior, Lähmung 665, 666 – präganglionäre 63 – caudatus 45
– thoracicus longus, Lähmung 664 Neuropathie – reticularis caudalis pontis 398
– thoracodorsalis, Lähmung 664, 665 – akute demyelinisierende 705, 706 – subthalamicus 45
– tibialis – akute motorische und sensible axonale Nukleotomie 684
– – Lähmung 676, 677, 703 705 nvCJK 473
– – Leitgeschwindigkeit 692, 693 . – akute rein motorische axonale 705 Nystagmus 13, 18–20
– trigeminus 25–27 – Differentialdiagnose 116 – 7 s.a. Schwindel
– – Anatomie 25 – distale demyelinisirende symmetrische – Analyse 128
– – Kompression 417, 418 ., 419, 419 . 709 – angeborener 19
– – Neuralgie 7 Trigeminusneuralgie – hereditäre 703 . – Definition 18
– – Neurinom 325 – – motorische und sensible 701–704 – dissoziierter 20
– – Reizstoffe 7 – – sensible 772 – erworbener 19
– – Untersuchung 26 – – sensorische autonome 705 – kalorischer 599
– – Versorgungsgebiete 25 . – HIV-assoziierte 711 – optokinetischer 14, 16, 18, 19
– trochlearis 10 – hypertrophische Dejerine-Sottas 702 – pathologischer 19, 20
– – Lähmung 11, 12, 12 ., 16, 657 – kongenitale sensorische, mit Anhidrose – physiologischer 19
– – Läsion 657 713 – Provokationsverfahren 19
– ulnaris – multifokale – retractorius 17, 18, 21
– – Lähmung 671, 722 – – motorische 709, 722, 728 – Untersuchung 19
– – supramaximale Reizung 357 . – – subakute 711 – vestibulärer 17
– vagus 28 – periphere 117 – – richtungsbestimmter 19, 20
– vestibularis 429 . – sensible 359 – zentraler 44
– – Schädigung 646 – subakute sensorische 359 – zerebelläre Ataxie 567
– vestibulocochlearis 28 – tomakulöse 704
Nervus-ilioinguinalis-Syndrom 685 – vegetative 710
Netzhautblutung, bei erhöhtem Hirndruck
299
– – bei Diabetes 696
Neurorestauration 608
O
Neugeborenenkrampf 373 Neurosarkoidose 523
Neugeborenenmyasthenie 752 Neurosonologie 140–144 Oberflächensensibilität 59, 59 ., 60, 61
Neuralgie 59 Neurotoxizität, Chemotherapie 339 Oberkörperhochlagerung, Schädel-Hirn-
Neurasthenisch-depressives Syndrom 602 Neurotrophine 159, 161 Trauma 595
Neurinom 323, 324, 776 Neurozystizerkose 480 Obliquus-superior-Myoklonie 17
– Epidemiologie 295 Niemann-Pick-Krankheit 622 Ocular Bobbing 21, 74
– spinales 344, 348 Niereninsuffizienz 620, 621 Ocular-tilt-Reaktion 16, 18
– thorakales 776 . Nierenversagen OFO-Test 199
Neuritis – akutes 620 Okklusivhydrozephalus 267
A4 · Sachverzeichnis
837 N–P
Okulomotorik Panenzephalitis – Hirnstimulation 539, 540
– Störungen 103, 507, 545, 635 – Röteln 483 – idiopathisches 530–540
– Untersuchung 74 – subakut-sklerosierende 483 – Körperhaltungsstörung 532, 532 .
Okulomotoriuslähmung 12, 12 ., 190, PAP 304 – Krankengymnastik 540
265, 299, 657 Papaverin, intraarterielle Infusion 272 – Leitsymptome 530
– innere 265, 299 Papez-Schleife 96 – medikamenteninduziertes 644, 645
– äußere 657 Papillenödem 646 – medikamentös-toxisches 542
– bei Herniation 297 Paralyse 39 – Pathophysiologie 531, 632, 532 .
– komplette 657 – progressive 453 – postenzephalitisches 542
Okzipitallappen 16 Paramyotonia congenita 739 – posthypoxisches 542
Olfaktorius 7 Nervus olfactorius Paramyotonie 737, 740 – Rigor 530
Olfaktoriusrinne 30 paraneoplastische Syndrome 353–360 – Rigor 531, 532
Oligoastrozytom 315, 317 – Diagnostik 354 – Ruhetremor 530
Oligodendrogliom 315–317, 315 . – Leitlinien 359 – sporadisches 154
– anaplastisches 316 paraneoplastische zerebelläre Degenera- – Stimmungsveränderungen 532
Ophthalmoplegia interna 657 tion 355 – Symptomatik 531, 532
Ophthalmoplegie Paraparese, zentrale 44, 71 – symptomatisches 530
– chronisch progressive externe 625 Paraphasie 83 – Therapie 535–540
– diabetische 275 – phonematische 84, 85 – – chirurgische 538, 539
– internukleäre 15, 15 ., 189, 635 Paraplegie, bei multipler Sklerose 507 – – medikamentöse 535–538
– progressive supranukleäre 542, 543 Parapraxie 91 – Tremor 47, 47 ., 531, 532, 535
Oppenheim-Reflex 35 Paraproteinämie 712 – tremordominanter 533
opportunistische Infektion 337 Parästhesie 58, 59 – Verlauf 533
Opsoklonus-Myoklonus-Syndrom 358, – halbseitige, Migräne 409 Partialfertigkeiten 81
558 Parasympathikus 63 Patellarsehnenreflex 32, 34, 34 .
Optikusatrophie 9, 566, 702 Parese 39 PCR 111, 113, 148
– doppelseitige 622 – 7 s.a. Lähmung Peitschschlagverletzung 608
– Meningeom 323 – Atemmuskulatur 70 Pellagra, Polyneuropathie 698
– tabische 453 – Hals- und Nackenmuskulatur 7 Penumbra 173, 174, 175, 176 .
Optikusgliom 311, 312 ., 776 – spastische 766 Perfusionscomputertomographie,
Optikusneuritis 9, 505, 506, 512, 646 – zentrale faziale 659 zerebrale Durchblutungsstörungen
Optikusneuropathie, Lebersche hereditäre Parietallappenanfall 370 192, 194 .
626 Parinaud-Syndrom 18, 318, 768 Perfusionsdruck 172, 173
Orbicularis-oculi-Reflex 118, 119 . Parkinonmedikamente 535, 536, 537 – zerebraler, verminderter 298
Orbitaspitzen-Syndrom 30 Parkinsonismus Perfusionsmagnetresonanztomographie
Orbitopathie, endokrine 745, 745 . – akinetischer 728 131, 134
Orgasmuskopfschmerz 417 – enzephalitischer 542 – zerebrale Durchblutungsstörungen
Orientierungsstörung, räumliche 92 Parkinson-Krankheit 197, 197 .
Osmotherapie, Schlaganfall 209 – genetische Ursache 147 Perimetrie 9
Overlap-Syndrom 732 – psychotische Epidsode 644 Perkussionsmyotonie 737
Oxcarbazepin 379, 383 – Stadieneinteilung 810 Peronäusparese 703
Parkinson-Syndrom 45, 530–544 Perseveration 90
– akinetische Krise 540 – bei Hirntumoren 296

P – akinetisches 645
– akinetisch-rigider Typ 533
Persönlichkeitsfragebogen 81
Persönlichkeitstest 81, 82
– Äquivalenztyp 533 PET 136, 137
Pachymeningeosis haemorrhagica interna – Ätiologie 531 – Hirntumoren 302
602, 638 – atypisches 530 Petit-mal-Anfall 371
Paläocerebellum 49, 53 – Bradykinesie 535 – altersgebundener 371, 372
Pallanästhesie 58 – Depression 532, 535 – pyknoleptischer 372 .
Pallhypästhesie 58 – Diagnostik 533, 534 Phakomatosen 772, 774, 775
Pallidotomie 539 – diagnostische und therapeutische Phalentest 670
Palmonmentalreflex 38 Leitlinien 539 Phantomschmerz 59
Pan-Angiographie 269 – Epidemiologie 530 Pharaphasie, semantische 84, 85
Panarteriitis nodosa 182, 183, 700 – familiäres 154 Phasenkontrastangiographie 134
Pancoast-Tumor 347 – Frühsymptome 531 Phenobarbital 379–381
Pandysautonomie 713 – Genetik 153, 530, 531 Phenytoin 379, 381
– akute 705 – Handschrift 532 . Phosphorylasemangel 743, 744
838 Anhang

Photostimulation, Epilepsie 368 – tumorbedingte 359 Polyradikulitis 713


Phytansäure 694 Polyneuritis – akute 479
Pick-Komplex 579, 580 – allergische 710 Polyradikuloneuritis
Pick-Körper 579 – cranialis 710 – akute inflammatorische demyelini-
Pick-Syndrom 579, 580 – serogenetische 710 sierende 711
Piloarrektion 62 Polyneuropathie 689–713 – opportunistische Erreger 711
– gestörte 67 – 7 s.a. Guillain-Barré-Syndrom 690 Polyradikuloneuropathie, chronische
Pilocarpin 63 – akute inflammatorische demyelini- inflammatorische demyelinisierende
Pilzinfektionen, ZNS 493, 494 sierende 705, 706 711
Pinealom 318, 319 . – alkoholbedingte 634–638, 690, 691 POM 358
– ektopisches 318 – axonale 690, 692 Ponsblutung 230 ., 232
Pineoblastom 318 – bei Amyloidose 704 Ponsgliom 312, 312 .
Piokilotonus 545 – bei Arsenvergiftung 700 Pons-Infarkt, paramedianer 190
Plaque – bei Bleivergiftung 699 Porenzephalie, agenetische 765
– Morphologie 180 – bei Gammopathie 691 Porphyrie
– sonographische Darstellung 200 . – bei Kollagenosen 691 – akute intermittierende 621, 622
Plasmapherese – bei Leukodystrophie 704 – Attacke 622
– Guillain-Barré-Syndrom 707 – bei Lymphozytose-Syndrom 711 – Prophylaxe 622
– Myasthenie 751 – bei Porphyrie 690, 691, 704 Positronen-Emissions-Tomographie 136,
Plasminogenaktivator 206, 207 – bei primärer Amyloidose 691 137
Plasmozytom, Wirbel 347 – bei rheumatoider Arthritis 701 – Alzheimer-Demenz 574 .
Plectin 733 – bei Schilddrüsenkrankheit 697 – Hirntumoren 302
Pleozytose 111 – bei Thalliumvergiftung 699 Posteriorinfarkt, doppelseitiger 190, 192,
Plexus – bei Urämie 697 195 .
– brachialis 665 . – bei Vaskulitiden 700, 701 Posteriorverschluss, bilateraler 190
– – Läsion 67 – chronisch inflammatorische demyelini- Postpoliosyndrom 723, 724, 736
– cervicobrachialis, Läsion 662–664 sierende 708, 709, 728 Post-Thymektomie-Myasthenie 751
– lumbosacralis 673 . – chronische motorische 728 Potential
– – Läsion 67, 673, 674 – Definition 690 – evoziertes 106, 121–123
Plexuskarzinom 318 – diabetische 690, 695, 696 – motorische Einheit 113, 114, 114 .
Plexuslähmung 662, 647 – – distale, sensomotorische 695 – olfaktorisch evoziertes 123
– komplette 662 – – proximale assymmetrische 695, – Pudendus-evoziertes 119
– obere 662 696 – somatosensibel evoziertes 122, 122 .,
– untere 662, 722 – Diagnostik 692–695 599, 681
Plexusläsion 662, 663 – distale symmetrische 690 – somatosensorisch evoziertes 346
– traumatische 663 – dysproteinämische 712 – visuell evoziertes 121 ., 121, 122
Plexus-lumbalis-Lähmung 647 – Einteilung 690 Prädelir 634
Plexuspapillom 318 – entzündliche 691 Prätektalsyndrom 18
Plexusschädigung 39, 60 – hepatische 697 Pregabalin 379, 383
Plexustumoren 318 – hereditäre 694 PRES 518, 519
Plussyndrom 97 – HIV-assoziierte 711 primitiv neuroektodermale Tumoren 319,
Pneumokokkenmeningitis 448 . – Lepra 710, 711 320
Poliodystrophie 622 – lösungsmittelinduzierte 698 Prione 154, 155, 155 ., 482, 485
Polioencephalopathia haemorrhagica – medikamenteninduzierte 647, 698 – Definition 482
superior 635 – medikamentös-toxische 711 Prionkrankheiten 482–486
Poliomyelitis acuta anterior 474 – metabolische 655, 690, 691, 695–697 – genetische 485
Polyarteriitis nodosa 219 – nephrogene 621, 691 – tierische 486
Polyarthritis – paraneoplastische 690, 712 – übertragbare 485
– mit Densbefall 500 – primärer Markscheidenbefall 690, Problemlösen 97
– rheumatische, chronische 278 692 Prolaktin 146
Polygraphie, Schlafapnoesyndrom 401, – proximal betonte 736 – hormonaktive Adenome 324
401 . – symmetrische sensomotorische 698 Prolaktinom 326 325
Polymerasekettenreaktion 111, 113, 148 – Symptomatik 691–693 Prolaps 7 Bandscheibenvorfall
Polymikrogyrie 765, 773, 774 . – Therapie 695–697 Pronatorreflex 32, 33, 33 .
Polymyalgia rheumatica 756, 757 – toxische 655, 690, 691, 698–700, 711 Propulsion 45
Polymyalgie 756, 757 – Vaskulitis-assoziierte 694 Prosodie 84, 87
Polymyositis 752, 754–756, 756 . – vitaminmangelbedingte 697, 698 Prostatakarzinom, Hirnmetastasen 332
– Differentialdiagnostik 736 Polyphasie 115, 116 Proteinaggregation, gestörte 153
A4 · Sachverzeichnis
839 P–R
Proteine Pupillotonie 23, 24 ., 454 Reflex 31–38
– dysfunktionelle 153 Puppenkopfphänomen 18 – okulozephaler 74
– pathologische 153 Purpura, thrombotisch-thrombozyto- – – gestörter 644
Proteinfaltung, gestörte 153 penische 236 – – horizontaler 75
Proteinstruktur 153, 154 . Putamen 45 – – vertikaler 75
Proteolipoprotein 503 Pyknolepsie 372 . – optokinetischer 13, 14
Protozoenerkrankungen, ZNS 490–492 Pyramidenbahn 40 – vestibulookulärer 14, 15,52
Protrusio bulbi 745, 757 – Degeneration 719 Reflexblase 65
PSA 304 Pyrimidinanaloga 339 Reflexmyoklonie 48
Pseudoaneurysma 263, 274 Reflexpolygraphie 119, 120
– nach Dissektion 603 Reflexsteigerung 32
– mykotisches 278
Pseudobulbärparalyse 728
Q Reflexsynkope 395
Reflextachykardie 706
Pseudotumor cerebri 246, 247, 247 . Reflexuntersuchung 31, 32, 118–120
psychoorganisches Syndrom 598 QST 692 Reithosenhypoästhesie 682
Psychopharmaka Quadrantenanopsie 8 ., 9 Reizpleozytose 466
– akinetisches Parkinson-Syndrom 645 Quantitative Sensorische Testung 692 Rekanalisation 207
– Hirnstammsymptome 645 Quebec-Task-Force-Klassifikation 608 REM-Schlaf 125
– Myasthenie 752, 753 Querschnittslähmung 68, 69, 344 Renshaw-Hemmung 456
Psychose – akute 608 Restless-Legs-Syndrom 398, 559, 560,
– alkoholassozierte 630–633 – hohe 71 621, 696
– dopamininduzierte 538 – psychogene 287 Retikularissystem 7 Formatio reticularis
– epileptische 390 – Schweißsekretion 67 Retinitis pigmentosa 626, 702
PTA 216 – Sexualfunktion 67 Retrobulbärneuritis 506, 510 .
Ptose 11 – Symptomatik 68, 69 Retrocollis 46
Punktionsnadel 110 – Therapie 607, 608 Retropulsion 45
Pupille – traumatische 606–608 Rezeptorenstörung, zentrale 102
– Konvergenzreaktion 23 Querschnittssyndrom 344, 345 Rhabdomyolyse 648
– paralytische 22 – akutes 607 Rickettsiose 458
– tonische 22 – Dekubitus 607 Riesenwuchs 325, 326
– Untersuchung 20 – komplettes 607 Riesenzellarteriitis 218, 219
Pupillenentrundung 22 – Neurorestauration 608 Rigor 45
Pupillenerweiterung – thorakales 611 – Nackenmuskulatur 7
– einseitige 20, 657 – zervikales 611 – Parkinson-Syndrom 530, 531, 532
– Kokain 646 Rinderwahnsinn 486
Pupilleninnervation 23 Rinne-Versuch 28
Pupillenmotorik, Störung 103
Pupillenreaktion 20
R Rituximab 519
Rivaroxaban 215
– Bahnen 22 . Robertson-Phänomen (-Pupille) 22
Pupillenreflex Rabies 464 475, 476 Romberg-Versuch 51
– Anatomie 23 Rachischisis 781 Rotationsbewegung 16
– beim Bewusstlosen 74 Radialislähmung 668, 669, 669 . Rotationstrauma 596
– direkter 220, 220 . – mittlere 668 Rötelnpanenzephalitis 483
– Störungen 22 – obere 668 Rot-Grün-Farbstörung 646
Pupillenstarre – untere 669 rtPA 206, 207
– absolute 22 Radicularis-magna-Syndrom 283, 284 Rubersyndrom, oberes 190
– amaurotische 22 Radionekrose 251, 337, 338 ., 611 Rückenmark 70 .
– reflektorische 22 Radiusperiostreflex 32, 33, 33 . – Anatomie 68, 68 .
Pupillenstörungen 22–24, 44 Ramsay-Hunt-Syndrom 625 – Blutversorgung 281, 282 .
– bei erhöhtem Hirndruck 299 Rankin-Skala 177, 802 – Durchblutung 281
– Bewusstseinstrübung 23 Rasmussen-Enzephalitis 521 – Elektrotrauma 611
– luische 453, 454 Rauchen, Schlaganfallrisiko 179 – Gefäßversorgung 280
– medikamenteninduzierte 646 Rausch, pathologischer 630 – Gefäßversorgung 285, 285 .
– progressive Paralyse 453 Reaktionsbereitschaft 96 – Strahlenschäden 611
Pupillenverengung 20 Reaktivität, Untersuchung 74 Rückenmarkschädigung
Pupillenweite 20 Rebound-Phänomen 50 – Höhenlokalisation 70
Pupillomotorik 13, 20, 22–25 Recklinghausen-Krankheit 7 Neuro- – traumatische 606–608
– gestörte 68 fibromatose – zentrale 69, 70
840 Anhang

Rückenmarksyndrom 68–72, 468 Schlaflähmung 398, 399 Schwangerschaftssinusvenenthrombose


– vorderes 607 Schlaflosigkeit, familiäre tödliche 486 241
– zentrales 607 Schlafstörungen 397–401 Schwannom 323, 324, 776
Rückenmarktrauma 605–611 Schlaf-Wach-Rhythmus, Störungen 397 Schwartz-Watson-Test 622
Rückenmarktumoren 7 Tumoren, Schlaganfall 167–227 Schweißsekretion
spinale – 7 s.a. Infarkt, ischämischer – funktionelle Anatomie 67
Rückenschmerzen, chronische, therapie- – 7 s.a. Ischämie, zerebrale – gestörte 62 ., 62, 63, 66, 68, 6
resistente 685 – Blutdruckbehandlung 204, 205 Schwerpunktpolyneuropathie 690
Ruhetremor 47, 555 – Blutzuckerkontrolle 205 Schwindel 425–435
– monosymptomatischer 533 – Dekompressionsoperation 209 – 7 s.a. Nystagmus
Rumpfataxie 51 – diagnostische Leitlinien 203 – Definition 426
Rumpfreflex 35 – Epidemiologie 175 – Formen 426 .
– Epilepsie 376 – Symptomatik 427
– Ergotherapie 211 – Therapie 428

S – hypertensive Volumentherapie 210


– Hyperventilation 209
– emotionales 67
– gustatorisches 68
– Hypothermie 209, 210 – pharmakologisches 67
Sakkade 13, 16 – Intensivmedizin 208–210 – Störungen 62 ., 62, 63, 66, 68, 69
Sakkadenstörung 16 – Krankengymnastik 211 – thermoregulatorisches 67
Sakralisation 782 – Logopädie 210, 211 Schwurhand 669
Saure-Maltase-Mangel 744 – migräne-assoziierter 223 Scrapie 486
SCC 304 – Notfallversorgung 204 Segawa-Syndrom 553
Schädelbasis, Anatomie 30 . – Osmotherapie 209 Sehbahn 8 ., 8
Schädelbasisbruch 589 – Oxygenierung 204 Sehkraft 9
Schädelbasissyndrom 29, 31 – Prognose 175, 176 Sehrinde 8
Schädelfraktur 589 – Prophylaxe 212–218 Sehstörungen 10
– Spätabszess 602 – – Leitlinien 214, 216 – medikamenteninduzierte 646
Schädel-Hirn-Trauma 588 – – primäre 212, 213 Semont-Manöver 428
– Diagnostik 129 – – sekundäre 213–218 Sensibilität 53–60
– Hypothermie 595 – Rehabilitation 211 Sensibilitätsprüfung 54–58
– Intensivtherapie 595 – Rezidiv 176 Sensibilitätsstörungen 58–60
– leichtes 590, 591 – Risikofaktoren 177–179, 213, 214, 216 – bei Polyneuropathie 691, 692
– Schweregrad 592 – therapeutische Leitlinien 204, 206 – dissoziierte 58, 60
– Therapie 595, 597, 598 – Therapie 204–218 – lokalisatorische Bedeutung 60
Schädelprellung 588, 589 – Thrombolyse 206–208 – psychogene 58
Schädeltrauma 588, 589 – Thromboseprophylaxe 205 – komplexe 60
Schaukelnystagmus 17, 21 Schleudertrauma 608–610 SEP 7 Potential, somatosensibel evoziertes
Schellong-Test 534 – Therapie 610 Sequesterektomie 684
Schiefhals 547, 549, 549 . Schlucksynkope 396 Serotonin 158
Schielen 7 Strabismus Schmerz Serotonin-Re-uptake-Inhibitoren, selektive
Schilddrüsenhormone 146 – chronischer 59 535
Schillingtest 616 – nach Amputation 59 Sexualfunktionsstörungen 65–67
Schistosoma 490 Schmerzbestimmung, objektive 692 Sexualhormone 146
Schizenzephalie 765, 772, 774 . Schmerzempfindung 56 Shy-Drager-Syndrom 540, 541
Schizophrenie, Virusenzephalitis 468 – fehlende 58 Sick-building-Syndrom 786, 787
Schlaf – gesteigerte 58 Siebbeinplatte, Fraktur 589
– paradoxer 125, 393 Schmerzsyndrom Signalwege, Störungen 157
– REM 125 – komplexes regionoalesl 713 Silikonimplantat, neurologische
Schlafanfall, imperativer 398, 399 – myofasziales 757 Beschwerden 791
Schlafapnoesyndrom 399, 400 Schmetterlingsgliom 296, 313 Simulationssyndrom 793–795
– Definition 399 Schock, spinaler 69 Single-Photon-Emissions-Tomographie
– Diagnostik 401 Schockblase 64 136, 137
– Epidemiologie 400 Schreckmyoklonie 559 Sinus
– obstruktives 399 Schreibkrampf 551, 551 . – cavernosus 256 .
– Pathophysiologie 400 Schriftprobe 51 – – Thrombose 242, 245
– Polygraphie 401, 401 . Schulteramyotrophie, neuralgische 663 – duraler, Anatomie 241
– Symptomatik 400 Schulterschütteln 52 – sagittalis superior, Thrombose 242,
Schlaflabor 124 Schwangerschaftschorea 546 243 ., 244
A4 · Sachverzeichnis
841 R–S
– transversus, Thrombose 242, 245 – occulta 781 – psychomotoricus 377
Sinus-cavernosus-Fistel, traumatsiche 603 Spinalerkrankung, funikuläre 616, 617, – – Therapie 386
Sinus-cavernosus-Syndrom 13, 30 719 Stauungshämorrhagie 611
Sinusthrombose 229 – Differentialdiagnose 286 Stauungspapille 9 ., 781
– aseptische 241, 242 Spinalis-anterior-Syndrom 280, 281, – bei erhöhtem Hirndruck 298
– – Symptomatik 244, 245 282 ., 284, 773 Steele-Richardson-Syndrom 542
– – Therapie 245, 246 Spinalparalyse, spastische 718, 719 Stenose
– Ätiologie 241 Spinalwurzelschädigung 67 – arteriosklerotische 181
– diagnostische und therapeutische Spiral-Computertomographie 129 – asymptomatische 180
Leitlinien 246 Spitzfuß 766 – Einteilung 180
– operative Disobliteration 246 – Peronäuslähmung 676 – intrakranielle 181, 216
– septische 241, 242 Split-Brain-Operation 95 – symptomatische 180
– – Therapie 245 Spondylitis 345 Stentangioplastie 217, 218
– Therapie 245, 246 Spondylodiszitis 498, 498 . Steppergang 676, 703
– Virusenzephalitis 468 Spontannystagmus Stereognosie 57
Sinusvenenthrombose 239–247 – horizontaler 430 Steroidmyopathie 647, 746
– aseptische 244, 245 – rotierender 21, 430 Stichstoff-Lost-Derivate 339
– Epidemiologie 240 Spontansprache 82–86 Stickoxid 175
– Therapie 245, 246 Sponylolisthesis 781, 782 . Stiff-Person-Syndrom 159, 524
Sitzstabilität 50 Sprachautomatismus, fortlaufender – paraneoplastisches 354, 358
Sjögren-Syndrom 219, 701 85 Stimulationselektromyographie 117, 118
Skalenuslücke 664 Sprachdominanz 87 – Myasthenie 750
Skalenussyndrom 663, 664 Sprachleistungen 83 Stirnhöhlenhinterwand, Fraktur 589
Skew-Deviation 17 Sprachregion 88, 89 . Storchenbein 701, 702
Sklerose Sprachtest 83 Strabismus
– multiple 7 multiple Sklerose Sprachverständnis 84, 86 – concomitans 11
– tuberöse 7 Hirnsklerose, tuberöse Sprechen – paralyticus 11
Skotom – skandierendes 52 Strabismus 11
– binokulares, Migräne 409 – spontanes 82–86 Strahlenenzephalopathie 611
– hemianopisches 9 – Telegrammstil 83 Strahlenleukenzephalopathie 337
SLE 182, 701 Sprechflüssigkeit 83 Strahlenmyelopathie 612
Slow-virus-Infektionen 483 Sprechstörungen 83 Strahlennekrose 251, 337, 338 ., 611
small fibre neuropathy 696 – artikulatorische 83, 84 Strahlentherapie 337
Sneddon-Syndrom 183, 220, 221 Sprue 698 – Angiom 251
Somnolenz 99, 644 squamous cell carcinoma antigen 304 – externe, Hirntumoren 305
Sonographie 140–144 SREAT 522, 523 – Hirntumoren 305, 306
– Angiom 251 SSRI 535 – interstitielle 306
– Kontrastmittel 144 Stammganglienblutung 228, 230 ., 231 – Nebenwirkungen 337
– zerebrale Durchblutungsstörungen Stammzellen 161 – spinale Tumoren 347
197–200, 198 ., 199 ., 200 . – fetale 161 – stereotaktische 251, 306, 307 .
Sopor 99 – neuronale 161, 161 . Strahlenvaskulitis 337
Southern-Hybridierung 148 Standataxie 51, 646 Streckspastik 607
Spannungskopfschmerz 406 Startle-Erkrankung 558 Streptomycin
– chronischer 414, 791 Statine – Hörstörungen 647
– episodischer 414 – Myasthenie 753 – Nervenschädigung 647
Spasmus – Myopathie 648, 746 Strümpell-Zeichen 35
– hemifacialis 549, 551, 660, 661 Status Stummheit 7 Mutismus
– infantiler 373 – dysraphicus 773 Stumpfschmerz 59
– mobilis 545 – epilepilepticus 376, 377 Sturge-Weber-Krankheit 257, 259 .
Spätdyskinesie, neuroleptikainduzierte – – alkoholbedingter 634 Subarachnoidalblutung 264–273
645 – – Diagnostik 376 – akute 264–273
SPECT 136, 137 – – subtiler 377 – Ätiologie 262
– Parkinson-Syndrom 534 – – Therapie 385, 387 – Definition 262
Spektroskopie 131 – – tumorbedingter 376 – Diagnostik 268–270
Sphincter-ani-Reflex 119 – – Ursachen 376 Subarachnoidalblutung, Diagnostik
Spina bifida 772, 781 – – Virusenzephalitis 468 268–272
– mit Meningomyelozele 781 – lacunaris 191 – Einteilung 803
– mit Meningozele 781 – migraenosus 409, 411 – Elektrolytstörungen 267
842 Anhang

Subarachnoidalblutung, Diagnostik – – Diagnostik 354 Tetanus 456, 457


– Elektrolytstörungen 272 – – Leitlinien 359 – Diagnostik 456
– Epidemiologie 262 – psychoorganisches 598 – Epidemiologie 456
– Komplikationen 265–268 – zerebelläres 635 – generalisierter 456
– Lumbalpunktion 269 – zervikozerebrales 609 – Impfung 446, 447
– nichtperimesenzephale ohne Synkope 393–396 – lokaler 456
Aneurysma 273, 274 – Auslöser 395 – Prophylaxe 456, 457
– perimesenzephale 269, 273 – bei neurologischen Krankheiten 396 – therapeutische Leitlinien 457
– präpontine 273 – Definition 394 – Therapie 457
– Prognose 273 – Diagnostik 395 Tethered cord 781
– Rezidiv 265, 266 – Pathophysiologie 395 Tetraparese 43 ., 44, 71
– Risikofaktoren 262, 264 – Therapie 395 – Dezerebration 104
– Schweregrad 265 – vasovagale 394 Tetraplegie, bei multipler Sklerose 507
– spinale 278 – vegetative 394 TGA 401, 402
– Symptomatik 265 Syphilis 453 Thalamotomie 539
– therapeutische Leitlinien 272 Syringobulbie 771 Thalamus 60
– Therapie 270–272 Syringomyelie 722, 728, 771, 772, 772 . Thalamusblutung 230 ., 231, 232
– traumatische 601 – symptomatische 771 Thalamushand 61, 64
– Verlauf 265–268 Syringostomie 772 Thalamusstimulation 685
Subclavian-Steal-Syndrom 187, 188 . Thalamussyndrom 61, 63
Subduralhämatom 7 Hämatom, subdurales Thallium-Polyneuropathie 699
Subklavia-Anzapfsyndrom 188 .
– Synkope 396
T Thenaratrophie 722
Thermanästhesie 58, 59
Subklaviastenose 187, 188 ., 216 Thermhypästhesie 58, 59
Subokzipitalpunktion 110 Tabak-Alkohol-Amblyopie 638 Thermokoagulation, Ganglion Gasseri 419
Substantia nigra 45 Tabes doralis 453 Thomsen-Myotonie 738
Subtraktionsangiographie, digitale 137, Tachykardie, paroxysmale 706 Thoracic-outlet-Syndrom 664
138, 139 . Taenia solium 480 Thrombinantagonisten 215
– Aneurysma 269 Takayashu-Arteriitis 182, 219, 220 Thrombolyse 206–208
– Angiom 247, 247 . Tako-Tsubo-Myopathie 201 – intraarterielle 207
– Hirntumoren 302, 302 . Tarsaltunnelsyndrom 655, 677 – intrazerebrale Blutung 229, 230
– intrazerebrale Blutung 233 Tasterkennen 57 – Kontraindikationen 207
– selektive spinale 286, 286 . Tau-Potein 575 – Leitlinien 209
– Sinusthrombose 244 . Taxane 339 – Sinusthrombose 245
– Subarachnoidalblutung 266, 266 . Tay-Sachs-Krankheit 622 – systemische 206, 207
– zerebrale Durchblutungsstörungen Tecthered-Cord-Syndrom 686 Thrombose
200, 201 Teleangiektasie 250 – arterielle, lokale 181
Sudeck-Syndrom 713 – kapilläre 254 – Hirngefäße 184
Sulcus-ulnaris-Syndrom 671, 672, 672 . Telegrammstil 83 – kaudale vertebrobasiläre 186, 189
Sulkokommisuralsyndrom 283, 284 Telethonin 733 Thromboseprophylaxe 205
Sumatriptan 409, 410 Temperaturempfindung 56 thrombotisch-thrombozytopenische
SUNCT-Syndrom 412, 414 – fehlende 58, 771 Purpura 236
Supinatorlogensyndrom 655, 669 Temperaturregulation 67 Thrombozytenaggregationshemmer 208
Supraskapularissyndrom 664, 665 . Temperaturregulationsstörungen 102 – Schlaganfall 213, 214, 216
Susac-Syndrom 524 Temporallappenepilepsie 370 Thymektomie 751, 754
Sylvische Furche 171, 268 – Operation 388 Thymom 747, 749 ., 751, 754
Sympathikus 60 ., 63, 63 . Temporallappenresektion 388, 389 . Thymushyperplasie 747
– Repräsentation 66 . TENS 677 TIA 182, 183, 184
Synapse 158, 158 . Tensilon-Test 356, 748, 750, 752 Tiagabin 379, 382
Syndrom Teratom 321 Tibialis-anterior-Syndrom 758
– apallisches 104 Territorialinfarkt 181, 184, 185 ., 186, Tibialislähmung 703
– apallisches 597, 598, 608 186 . Tibialis-posterior-Reflex 35
– delirantes 594 Tetanie 402, 403 Tic douloureux 418
– der mittleren Basilaris 189 – Diagnostik 403 Tics 560
– distale Ulnarisloge 672 – hypokalzämische 402 – vokale 560
– enzephalitisches 469 – normokalzämische 402 Tiefensensibilität 51, 59 ., 61
– neurasthenisch-depressives 602 – Pathophysiologie 402 – gestörte 69, 617
– paraneoplastisches 353–360 – Therapie 403 – herabgesetzte 61, 63
A4 · Sachverzeichnis
843 S–V
Time-of-flight-Angiographie 134, 135 .
Titin 733
– – verstärkter 555
– psychogene 555, 557
U
Titin-Antikörper 749 – tardiver 557
TKMS 7 Magnetstimulation, trans- – Therapie 557 Übergewicht, Schlaganfallrisiko 179
kranielle – toxischer 556 Überlaufblase 64
Tod 7 Hirntod – zerebellärer 47, 513, 555, 556 Überschussbewegungen 90
TOF-Magnetresonanzangiographie 134, Tremor-Ataxie-Syndrom, Fragile-X- Überträgerstoffe 62 ., 63
135 . assoziiertes 556, 566 – 7 s.a. Transmitter
Tollwut 475, 476 Treponema 450 Ulnaris-Engpasssyndrom 672
Tolosa-Hunt-Syndrom 12 ., 13, 275, Trichinose 492 Ulnarislähmung 671, 671, 722
657 Trigeminus 7 Nervus trigeminus – vollständige 672
Tonusverlust, affektiver 397 Trigeminusneuralgie 417–420, 507 Ultraschalluntersuchung
Topiramat 379, 382 – Definition 417 7 Sonographie
Torsionsdystonie 548 – Diagnostik 419 Unterberger-Tretversuch 51
Torticollis spasmodicus 547, 549, 549 . – Epidemiologie 417 Untersuchung
Toskana-Virusinfektion 476 – klassische 417 – 7 s.a. Diagnostik
Tourette-Syndrom 560 – Pathophysiologie 417 – internistische 6
Toxocara canis 490 – Symptomatik 418 – Kopf 7
Toxoplasma gondii 490 – symptomatische 420 – Liquor 111–113
Toxoplasmose 490, 491 – therapeutische Leitlinien 420 – neurologische 6
– akute 491 – Therapie – – Notfall 72, 73
– chronisch-rezidivierende 491 – – chirurgische 419, 420 – neurophysiologische 6, 82,
– HIV-Infektion 479 – – medikamentöse 419 113–129
– konnatale 491 – Triggerung 418 – neuroradiologische 129–140
– zerebrale 479 . Triptane 409–411 – Reflexe 118–120
TPS 304 Trismus 456 – sonographische 140–144
Tractus Trizepssehnenreflex 32, 33, 34 . Unverträglichkeit, idiopathische, umwelt-
– olfactorius 8 Trömmer-Zeichen 34 bezogene 787, 788
– solitarius 398 Trophikstörungen 62 Unzinatusanfall 370
– spinothalamicus 53, 55 Trousseau-Zeichen 403, 433 Up-beat-Nystagmus 21
Traktographie 136 Truncus brachiocephalisus 170 . Urämie 621
Tränensekretion, gestörte 658 TSH 146 – chronische, Polyneuropathie 697
Transferrin, carbodefizientes 694 Tuberculum sellae, Meningeom 323 Urodynamographie 119
transient global amnesia 401, 402 Tuberkulostatika 446 Urokinase 206, 207
transitorisch-ischämische Attacke 182, Tumorblutung 293 Uroporphyrinogen 621
183, 184 Tumoren
transkranielle Magnetstimulation – astrozytäre 7 Astrozytom
7 Magnetstimulation, transkranielle – 7 s.a. Hirntumoren
Transmitter 158, 159 – ependymale 7 Ependymom
V
– gestörte Ausschüttung 159 – hormoninaktive 328
– gestörter Abbau 159 – hormonproduzierende 325, 326 Vagus-Nerv-Stimulation 388
– Rezeptoren 159 – meningeale 348 Valproinsäure 379–381
– verminderte Bereitstellung 159 – mesenchymale 320–322 Valsalva-Manöver 200
Transsektion, subpiale 389 – primitive neuroektodermale 319, Varicosis spinalis 285
Trematoden 490 320 Varizella Zoster 467, 471–473
Tremor 47, 48, 553–558 – spinale 77, 343–349 Vaskulitis
– alkoholinduzierter 557, 558 – – Ätiologie 344 – bei bakterieller Meningitis 447
– bei peripherer Neuropathie 557 – – Diagnostik 344–346 – Herpes zoster 472
– Definition 47 – – Differentialdiagnose 286 – isolierte, des ZNS 219, 220
– dystoner 555, 536 – – Einteilung 344 – luische 454 .
– Einteilung 553 – – Epidemiologie 344 – zerebrale 218,–220, 220 .
– essentieller 47, 47 ., 554 ., 555, 556 – – extradurale 347 Vasomotorenreserve, zentrale 144
– medikamenteninduzierter 645, 556 – – extramedulläre 345, 348, 349 Vasospasmus 7 Gefäßspasmen
– orthostatischer 555, 556 – – intradurale 349 Vena cerebri magna Galeni, Aneurysma
– Parkinson-Syndrom 47, 47 ., 530, 531, – – intramedulläre 345, 349, 350 254, 255 .
532, 535, 555, 556 – – Symptomatik 341 Ventrikeldrainage 235, 595, 770
– Physiologie 47 – – Therapie 346, 347 Ventrikulographie 140
– physiologischer 47, 555, 556 Tumormarker, Hirntumoren 303, 304 VEP 7 Potential, visuell evoziertes
844 Anhang

Verhalten Wernicke-Aphasie 84, 85, 87, 88, 883 Zosterenzephalitis 471


– aggressives, enthemmtes 987 – bei Hirntumoren 296 Zostermyelitis 471
– sexuelles, enthemmtes 98 Wernicke-Enzephalopathie 635, 636, 636 . Zosterneuritis 471, 472
Verhaltensstörungen, bei Hirntumoren 295 – akute 698 Zostervaskulitis 472
Vernachlässigung 7 Neglect Wernicke-Korsakow-Syndrom 632, Zosterzerebellitis 472
Verschlusshydrozephalus 7 Hydro- 635–637 Zungenatrophie 29, 29 .
cephalus occlusus West-Nile-Virusinfektion 476 Zwangsaffekt 98
Vertebralisangiographie 138 Westphal-Edinger-Kerne 23 Zwangslachen 98
Vertebralisdissektion 191 West-Syndrom 373 Zwangsweinen 98
Vertebralisverschluss 194 Willison-Analyse 116 Zwerchfellparese 680
Verwirrtheit 99 Willküraktivität 116 Zwillingsaneurysma 263 .
Verzögerungstrauma 596 Willkürnystagmus 19 Zyklorotation 16, 17
Vestibulariskern 16 Wochenbettsinusthrombose 241 Zystizerkose 492, 493 .
Vestibularisparoxysmie 432 Wortfindungsstörung 86 Zytomegalievirusinfektion 473, 480
Vestibulopathie, bilaterale 429 – 7 s.a. Aphasie Zytopathie, mitochondriale 623, 624
Vibrationsempfindung 57, 57 . Wulpian-Bernhard-Krankheit 723 Zytostatika, Polyneuropathie 698
– fehlende 58 Würgereflex, Auslösung 75
– gestörte 691, 703 Wurminfektionen, ZNS 492, 493
Video-EEG 124 Wurzelneurinom 776
Vigabatrin 379, 380, 382 Wurzelsyndrom 681
Vigilanzstörung 398
Virusenzephalitis 7 Enzephalitis, virale
Visusausfall 10
Viszeromegalie 325
X
Vitamin-B1-Mangel 637
Vitamin-B12-Mangel 616 Xanthochromie, Liquor 111
– Polyneuropathie 697, 698 Xanthomatose, zerebrotendinöse 565
Vitamin-B12-Stoffwechsel 617
VOR 14, 15
Vorderhorn, Schädigung 70
Vorhofflimmern
Z
– Schlaganfallprophylaxe 214
– Schlaganfallrisiko 177 Zahnradphänomen 45
– Territorialinfarkt 186 Zellmetabolismus, Störungen 155, 156
Vorhofseptumaneurysma 178, 201, 202 . Zellnekrose 162, 162 .
Vulpian-Bernhard-Krankheit 723 Zelltod 162
zerebelläres Syndrom 635
Zerebellitis, Zoster 472
Zerebellum 7 Kleinhirn
W Zerebralparese, infantile 768, 769
zervikozerebrales Syndrom 609
Wachkoma 104 Zieltremor 50, 52
Wachstumshormon 146 Zirkumferenzarterien 172
– hormonaktive Adenome 325 ZNS-Lymphom 335, 336, 336 .
Wada-Test 88, 89 – HIV-assoziiertes 481
Wahrnehmung, sensible 55 – Leitlinien 337
Wallenberg-Arterie 171 ZNS-Prophylaxe 334
Wallenberg-Syndrom 189, 190 ZNS-Toxoplasmose 479, 479 .
Waller-Degeneration 659, 690 Zöliakie 698
Warm-up-Phänomen 738 Zonisamid 379
Warnblutung 264 Zoster
Wartenberg-Zeichen 35 – ophthalmicus 421, 472
Weber-Syndrom 190 – oticus 472
Weber-Versuch 28 – Diagnostik 472
Wegener-Granulomatose 182, 183, 219, – Epidemiologie 471
701 – Symptomatik 471, 472
Weinen, pathologisches 98 – symptomatischer 472
Werdnig-Hoffmann-Krankheit 720 – Therapie 472, 473

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