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Das Fach Psychiatrie und Psychotherapie betrachtet den Menschen ganzheitlich. Der Zugang zum
Patienten geschieht somit nicht über das betroffene Organsystem, sondern über einen breiteren
Zugang, der biologische, psychische, soziale und medizinische Faktoren sowie die unbedingte
Wertschätzung dem Patienten gegenüber umfasst. Die Persönlichkeit des Patienten muss immer
respektiert werden und darf nicht mit der Krankheit gleichgesetzt werden. Der Patient „ist“ nicht
depressiv oder schizophren, sondern „hat“ eine depressive oder psychotische Störung“.
Die prinzipielle Vorgehensweise folgt jedoch einer strengen Logik und ähnelt anderen medizinischen
Fächern. Beim Erstgespräch werden folgende Schritte eingehalten:
Im Unterschied z. B. zur Neurologie oder Inneren Medizin wird die Befunderhebung in der Psychiatrie
jedoch nicht in Form von „Geräten“ wie Reflexhammer oder Stethoskop durchgeführt, sondern mittels
Gespräch („sprechende Medizin“).
Aufgrund der Besonderheiten der Psychiatrie möchten wir Ihnen einige Punkte jedoch genauer
erläutern.
Das erste Arzt-Patient Gespräch in der Psychiatrie dient dazu, eine tragfähige, vertrauensvolle
Beziehung zum Patienten aufzubauen. Oft erinnern sich Patienten vor allem an den Erstkontakt. Daher
sind folgende Punkte besonders wichtig:
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Dann einige offene W-Fragen zum „warming up“, z. B.: „Was hat Sie hier in die Klinik geführt?“ oder,
„Können Sie uns berichten, wie es Ihnen aktuell geht?“, „Können Sie uns sagen, warum Sie hier in
Behandlung sind?“
2. Anamnese
Mit offenen Fragen beginnen; den Patienten möglichst lange mit eigenen Worten sprechen lassen
möglichst lange nicht durch Zwischenfragen unterbrechen. Wenn Sie etwas nicht verstehen,
nachfragen. Im weiteren Verlauf oder bei weitschweifigen Patienten gehen sie dazu über, das
Anamnesegespräch zu strukturieren und durch gezieltes Nachfragen die Anamnese zu ergänzen, z. B.
die Suchtanamnese, die Sozialanamnese, die Familienanamnese usw. Hier können Sie dann auch
geschlossene Fragen verwenden.
Zum Ende die wichtigsten Punkte der Anamnese mit eigenen Worten zusammenfassen und den
Patienten fragen, ob dies seinem Erleben entspricht.
Beispiel: „Wenn ich Sie also richtig verstanden habe, sind sie hier wegen einer Depression, die sich durch
schlechte Stimmung, fehlende Energie und Schlafstörungen äußerte“.
Bitten Sie den Patienten, sie zu korrigieren oder fehlende Aspekte zu ergänzen. Prinzipiell muss die
Form des Gespräches den äußeren Umständen angepasst werden. Im Allgemeinen gilt: Je weniger der
Patient aufgrund des Krankheitsbildes in der Lage ist, zu strukturieren (z. B. bei Delir. Demenz,
Psychose, schwerer Depression), desto strukturierter ist die Gesprächsführung des Arztes. Ist ein
Patient nicht in der Lage oder nicht willens zu sprechen, oder sind seine Aussagen unverständlich oder
nicht nachvollziehbar, ist auch diese Information wertvoll. In keinen Fall sollten sie ungeduldig werden.
Konzentrieren Sie sich auf die Beobachtung und Beschreibung des Zustandsbildes einschließlich
Bewusstsein, Psychomotorik und Sprache und ziehen Sie daraus Ihre Rückschlüsse auf den
Psychopathologischen Befund.
Als Student sollten Sie Anamnese und Befund möglichst vollständig erheben. Als erfahrener Psychiater
bzw. je nach Setting und Zeit (Notfall, Ambulanz, Praxis) kann man sich später auf das wesentliche
Problem bzw. Leitsymptom oder Syndrom konzentrieren.
Folgende Aspekte des Psychopathologischen Befundes ergeben sich bereits „wie von selbst“ aus der
Kontaktaufnahme und einem gut geführten Anamnesegespräch:
• Bewusstsein,
• Auffassung,
• Psychomotorik
• Stimmungslage
• Schwingungsfähigkeit
• Denkstörungen
Beispiel für Denkstörungen: Typischerweise wird der Patient Ihnen auf eine offene Frage mit 2-3 Sätzen
antworten, deren logischer Zusammenhang sich Ihnen intuitiv erschließt. Sind die gedanklichen Brücken
zwischen den Sätzen für sie unklar, könnte das auf eine Zerfahrenheit (z. B. bei Psychose) oder
Ideenflucht (z. B. bei Manie) hinweisen.
TIP: Das Wort „Logorrhö“ sollte nicht mehr verwendet werden. Wenn jedoch ein Patient
abschweift oder weitschweifig antwortet, ist dies auch ein Hinweis für eine formale Denkstörung
Die nach der gründlichen Anamnese noch nicht beurteilten Punkte müssen Sie durch gezieltes
Nachfragen klären, um den Befund zu vervollständigen. Beispielfragen bzw. Einstiegsfragen finden Sie
dazu jeweils in der Checkliste zum Psychopathologischen Befund.
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CHECKLISTE: Anamnese
1. Aufnahmegrund und –modus (z. B. Notfall; mit Angehörigen; mit Sanitäter/Polizei; aus anderer
Klinik/Heim; Einweisung; wievielte Aufnahme; Rechtsgrundlage; Tageszeit; Erscheinungsbild des Patienten)
3. Fremdanamnese:
4. Psychiatrische Vorgeschichte: (Dauer, Zahl und Grund der Voraufenthalte; Art und Erfolg bisheriger
Behandlungsversuche; Erkrankungsintervalle; mit/ohne Residuum; soziale und berufliche Leistungsfähigkeit in
gesunden Intervallen; Minderbegabung)
5. Vegetative Anamnese:
Größe: cm; Gewicht kg Gewichtsverlauf: + - gewollt / ungew.;+ - kg in Monaten
Temperaturen/Nachtschweiß Stuhlgang und Mictio:
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Drogenabusus:
Medikamentenabhängigkeit (V. a. Benzodiazepine, Opiate, Hypnotika Zolpidem o. ä.):
Nikotin: Päckchenjahre:
Arbeitsplatzbelastung / sonstige:
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Einstiegsfragen:
Fällt es Ihnen schwer, dem Gespräch zu folgen?
Fällt es Ihnen in bestimmten Situationen schwer, bei der Sache zu
bleiben?
Können Sie sich nicht so gut wie früher konzentrieren? Bitte geben
Sie ein Beispiel!
Wie schätzen Sie Ihr Gedächtnis ein?
Vermissen Sie z. Zt. vermehrt Dinge?
Haben Sie Schwierigkeiten, sich etwas zu merken? Bitte geben Sie
ein Beispiel!
4. Denkstörungen:
Formale Denkstörung: (geordnet/gehemmt/verlangsamt/umständlich/
weitschweifig/eingeengt/perseverierend/grübelnd/Gedankendrängen/beschleunigt/ideenflüchtig/gesp
errt-abreißend/ inköhärent-zerfahren/Neologismen
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Einstiegsfragen:
Haben Sie das Gefühl, dass sich an Ihrem Denken etwas
verändert hat?
Fällt Ihnen das Denken schwerer/leichter als üblicherweise?
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Müssen Sie über bestimmte Dinge vermehrt grübeln?
Haben Sie das Gefühl, zu viele Gedanken gleichzeitig im Kopf
zu haben?
Inhaltliche Denkstörung (unmögliche oder Kreisen die Gedanken im Kopf?
unplausible Denkinhalte) Drängen sich Ihnen zu viele Gedanken auf?
Haben Sie das Gefühl, dass Ihnen der Gedanke öfter einfach
abhanden gekommen oder abgerissen ist?
5. Wahn
z.B. Wahnwahrnehmung / Wahneinfall /
systematisierter Wahn / überwertige Einstiegsfragen Wahn:
Ideen. Haben Sie das Gefühl, am Arbeitsplatz „gemobbt“ zu werden?
Haben Sie das Gefühl, bestohlen oder betrogen zu werden?
Haben Sie das Gefühl am Telefon belauscht zu werde oder on Kameras
gefilmt zu werden
Haben Sie das Gefühl, dass Alles miteinander in Verbindung steht, mit
dem Ziel, ihnen Übles anzutun?
Haben Sie das Gefühl beobachtet oder verfolgt zu werden?
Haben Sie das Gefühl, vergiftet oder ermordet zu werden?
Einstiegsfragen Halluzinationen:
Gibt es etwas, was Sie ängstigt oder ablenkt?
Wirkt irgendetwas auf Sie ein, was Sie stört oder beunruhigt?
Hören Sie manchmal jemanden sprechen oder Gerüche , obwohl niemand
im Raum ist?
Hören Sie Stimmen?
Sind es vielleicht nur Ihre eigenen Gedanken, die da laut werden?
Haben Sie Personen oder Gegenstände gesehen, die andere nicht sehen
konnten?
Haben Sie in letzter Zeit merkwürdige Gerüche bemerkt?
Haben Speisen oder Getränke irgendwie anders als sonst geschmeckt?
Gehen in Ihrem Körper merkwürdige Dinge vor?
Haben Sie noch andere eigenartige Wahrnehmungen gemacht?
Einstiegsfragen:
Hat sich ihre Energie und Initiative, bestimmte Dinge zu
tun, etwas geändert?
10. Schlaf: Ein-, Durchschlafstörungen, Früherwachen Gehen Ihnen z. Zt. alltägliche Verrichtungen schwerer
von der Hand?
Haben Sie z. Zt. besonders viel Aktivität, sind Sie
besonders unternehmungslustig?
Unternehmen Sie mehr als üblich?
Fühlen Sie sich innerlich unruhig?
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Einstiegsfragen:
• Waren Siein den letzten Tagen besonders ängstlich?
• Ängstigen Sie sich im Augenblick mehr als üblich?
• Haben Sie Angst, weil Sie erwarten, etwas8
Schlimmes könnte passieren?
• Geraten Sie in bestimmten Situationen in massive
Angst und Panik mit dem Gefühl, sterben zu
müssen?
• Hatten Sie schon einmal einen Angstanfall, bei dem
Sie ganz plötzlich von starker Angst, Beklommenheit
oder Unruhe überfallen wurden (Panikstörung)
• Haben Sie übermäßige Furcht vor bestimmten
Dingen?
• Haben Sie sich schon einmal über mindestens einen
Zwänge: Gedanken, Handlungen (Schmutz / Waschen /
Monat oder länger ängstlich, angespannt und voll
Reinigen / Kontrollieren / Wiederholen / Zählen) ängstlicher Besorgnis gefühlt (generalisierte Angst)?
• Geraten Sie in bestimmten Situationen in starke
12. Eigengefährdung/ Suizidalität/Fremdgefährdung: Angst (öffentliche Plätze, Kaufhäuser, Aufzüge;
Selbstverletzung (Ritzen, Kopf gegen Wand; Zigaretten); spezifische Phobie)?
Passive Todeswünsche / Suizidgedanken / vorbereitende • Leiden Sie unter unbegündeten Ängsten öffentliche
Handlungen. Verkehrsmittel zu benutzen, in Geschäfte zu gehen
oder sich auf öffentlichen Plätzen aufzuhalten?
• Befürchten Sie ernsthaft krank zu sein?
• Haben Sie das Gefühl, dass im Körper irgendetwas
nicht in Ordnung ist?
• Denken Sie viel über Ihr körperliches Befinden nach?
Einstiegsfragen Einwilligung
Syndromdiagnose: (z. B. depressives (nach Grisso/Appelbaum, ´98):
1. Bitte erzählen Sie mir mit eigenen Worten etwas
Syndrom, ängstlich-agitiertes Syndrom, manisches über Ihre Situation, Behandlung (Art; Vorteile;
Syndrom. paranoid-halluzinatorisches Syndrom, Risiken; Alternativen; Wahrscheinlichkeit für Risiko
delirantes Syndrom; dementielles Syndrom): X)
2. Was glauben Sie ist mit Ihrer Gesundheit nicht in
Ordnung?
Glauben Sie, dass Sie Behandlung brauchen?
Was denken Sie wird passieren, wenn Sie sich
nicht behandeln lassen
Wieso habe ich Ihnen diese Therapie empfohlen?
3. Haben Sie sich entschieden, ob Sie mit der
Verlaufsbeschreibung: Erstmanifestation, Behandlung einverstanden sind?
1., 2. 3. oder X-te Episode, Schub oder Rezidiv; Können Sie mir Ihre Entscheidung erklären?
4. Erzählen Sie mir wie Sie zu Ihrer Entscheidung
chronisch-progredienter Verlauf, Residuum) gekommen sind Was war ausschlaggebend?
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Arbeitsdiagnose:
Differentialdiagnosen:
Therapieplan:
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40. Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn ( Gedanken/Vorstellungen werden als von außen
Pat. erlebt sich als Ziel von Feinseligkeiten. Wähnt her beeinflusst, gemacht, gelenkt, gesteuert, 75. Ambivalent
sich bedroht, gekränkt, beleidigt, verspottet, eingegeben, aufgedrängt empfunden. „Sie Koexistenz widersprüchlicher Gefühle,
verhöhnt, die Umgebung trachte nach seinem Hab hypnotisieren mir Gedanken in den Kopf, die nicht Vorstellungen, Wünsche, Intentionen und/oder
und Gut, nach seiner Gesundheit oder gar seinem meine sind. Impulse. Gleichzeitig vorhanden, meist quälend.
Leben.
58. Andere Fremdbeeinflussungsergebnisse 76. Parathymie
41. Eifersuchtswahn Fühlen, Streben, Wollen oder Handeln werden als Gefühlsausdruck und Inhalt stimmen nicht überein
Überzeugung, vom Lebenspartner betrogen und von außen gemacht erlebt. (paradoxe Affekte, inadäquate Gefühlsreaktion).
hintergangen zu werden. „Ich bin eine Marionette, die gesteuert wird.“
77. Affektlabil
42. Schuldwahn Störungen der Affektivität Schneller Stimmungswechsel, auf Anstoß von
Überzeugung, Schuld auf sich geladen zu haben. 59. Ratlos außen erfolgt (Vergrößerung der affektiven
Pat. Findet sich nicht zurechtf; Situation, Ablenkbarkeit) oder auch scheinbar spontan
43. Verarmungswahn Umgebung/Zukunft werden nicht mehr begriffen. auftritt.
Überzeugung, nicht genug Mittel zum Versteht nicht mehr, was geschieht, wirkt
Lebensunterhalt zu haben. verwundert, hilflos. 78. Affektinkontinent
Affekte können bei geringem Anstoß überschießen,
44. Hypochondrischer Wahn 60. Gefühl der Gefühllosigkeit nicht beherrscht werden, manchmal eine
Überzeugung, krank zu sein. Reduktion oder Verlust affektiven Erlebens, übermäßige Stärke annehmen.
Gefühlsleere. Erlebt sich als gefühlsverarmt, -leer, -
45. Größenwahn verödet, für Freude und Trauer. 79. Affektstarr
Wahnhafte Selbstüberschätzung und Verminderung der affektiven Modulationsfähigkeit.
Selbstüberhöhung. 61. Affektarm Schwingungsfähigkeit verringert.
Spektrum der Gefühle vermindert. Wenige dürftige
46. Andere Inhalte Affekte beobachtbar. 80. Antriebsarm
Mangel an Energie, Initiative und Anteilnahme.
Sinnestäuschungen 62. Störung der Vitalgefühle
47. Illusionen Herabsetzung des Gefühls von Kraft und 81. Antriebsgehemmt
Verfälschte wirkliche Wahrnehmungen. Reizquelle Lebendigkeit der körperlichen und seelischen Energie, Initiative und Anteilnahme werden als
wird verkannt. Frische und Ungestörtheit. gebremst/blockiert erlebt.