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Springer-Lehrbuch

Martin W. Schnell (Hrsg.)


Christian Schulz (Hrsg.)

Basiswissen
Palliativmedizin
Mit 18 Abbildungen und 70 Tabellen

123
Univ.-Prof. Dr. Martin W. Schnell, MA Dr. med. Christian Schulz, MSc
Institut für Ethik und Kommunikation im Interdisziplinäres Zentrum
Gesundheitswesen (IEKG) und Integrierte für Palliativmedizin (IZP)
Curricula, Department Pflegewissenschaft Universitätsklinikum
Fakultät für Gesundheit Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Universität Witten/Herdecke Moorenstraße 5
Alfred-Herrhausen-Straße 50 40225 Düsseldorf
58448 Witten

ISBN-13 978-3-642-19411-5 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York

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Planung: Christine Ströhla, Heidelberg


Lektorat: Dajana Napiralla, Heidelberg
Projektmanagement: Rose-Marie Doyon, Heidelberg
Umschlaggestaltung & Design: deblik Berlin
Abbildung Umschlag und Patientenfotos: Nicole Kesting, Düsseldorf
Satz und Reproduktion der Abbildungen:
Fotosatz-Service Köhler GmbH – Reinhold Schöberl, Würzburg
Druck- und Bindearbeiten: Stürtz, Würzburg

Ordernumber: 80020706

Gedruckt auf säurefreiem Papier 18/5135 – 5 4 3 2 1 0


V

Vorwort
Dieses Buch richtet sich an Studierende der Humanmedizin, die sich mit der
Palliativmedizin auseinandersetzen und verpflichtend eine Prüfung in diesem Fach
abzulegen haben. Es möchte Studierenden Basiswissen anbieten und beansprucht
daher nicht, die Palliativmedizin erschöpfend zu behandeln.
Das Curriculum, das zu diesem Zweck an dieser Stelle veröffentlicht wird,
wurde unter dem Namen Undergraduate Palliative Care Education Curriculum am
Institut für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen (Universität Witten/
Herdecke) erstellt und in Kooperation mit dem Interdisziplinären Zentrum für
Palliativmedizin (Universitätsklinikum der Heinrich-Heine Universität Düssel-
dorf) weiter entwickelt.
Das vorliegende Buch betont, dass jeder geborene und lebende Mensch sterb-
lich ist und ein Lebensende vor sich hat. Der Mensch wird für den Palliativmedi-
ziner dann bedeutsam, wenn er zum Palliativpatienten wird.
Palliativpatienten sind Patienten mit einer nicht heilbaren und fortgeschritte-
nen Erkrankung mit begrenzter Lebenserwartung, die an den körperlichen, psy-
chosozialen oder seelischen Folgen dieser Erkrankung leiden. Meist hat der Verlauf
der Erkrankung einen Punkt erreicht, bei dem die Erhaltung der Lebensqualität
ganz im Vordergrund steht. Palliativpatienten benötigen in besonderem Maße Lin-
derung von körperlichen Symptomen, Achtung ihrer Würde, Schutz, psychosoziale
Unterstützung sowie Angebote der spirituellen Begleitung bis zum Tod.
Die Beiträge dieses Lehrbuches weisen untereinander eine gewisse Heteroge-
nität auf. Es gibt Kapitel, die eher konzeptionell angelegt sind, andere diskutieren
Fallbeispiele, wieder andere sind stark klinisch und auf die Vermittlung konkreten
und, wenn möglich, exakten Wissens ausgerichtet. Eine solche Heterogenität
ist auch den verschiedenen Inhalten und Wissensarten der Palliativmedizin ge-
schuldet.
Bei aller Heterogenität der Themen, die zur Palliativmedizin zählen und ihr
zentral, nah oder nur von Ferne zugeordnet sind, existiert doch ein Hauptmotiv,
das sich als roter Faden durch das vorliegende Buch zieht. Das Motiv besagt:
Begleitung am Lebensende findet unter Bedingungen einer Diversität statt, auf
die die Palliativmedizin als interprofessionelle, klinisch und kommunikativ aus-
gerichtete Teamleistung eingeht!
Der Status der Beiträge, die dieses Motiv ausgestalten und entsprechend defi-
nieren, ist der einer best practice. Damit ist gemeint, dass Palliativmedizin an dieser
Stelle von ihren optimalen Möglichkeiten her dargestellt wird, eben so, wie es wäre,
wenn alle Parameter in bester Weise zusammen wirken würden.
Es versteht sich von selbst, dass die Realität von Menschen und deren Versor-
gung am Lebensende leider oft nicht optimal aussieht. Zudem existieren zahlreiche
VI Vorwort

Problemfelder, die mit Begriffen wie Hirntod, Organspende, Biomacht, ökonomi-


schen und anderen strukturellen Komponenten verbunden sind. All diese Punkte
sind uns bewusst, sie gehören der Sache nach aber nicht in das vorliegende Buch.
Sie sind von vielen anderen Autoren und von uns selbst an anderer Stelle reflektiert
worden.
Das vorliegende Buch ist selbst eine Teamarbeit. Der primäre Dank gilt den
Autorinnen und Autoren. Ein besonderer Dank für die Mitarbeit an der Fertigstel-
lung des Buches, auch zwischen den Kapiteln und in mancher Nachtsitzung, gilt
den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts für Ethik und Kommunika-
tion im Gesundheitswesen: Christine Dunger, Nadja Mchiri, Mischa Möller, Sonja
Rogusch und Lisa Schurer. Darüber hinaus gilt unser Dank Margit Schröer für ihre
fachliche und inhaltliche Unterstützung.

Martin W. Schnell und Christian Schulz, im Juli 2011


VII

Die Herausgeber

Martin W. Schnell Christian Schulz

Univ.-Prof. Dr. Martin W. Schnell, MA


Philosoph, Direktor des Instituts für Ethik und Kommunikation im Gesundheits-
wesen, Universität Witten/Herdecke.
Magister 1989, Promotion 1993, Habilitation und venia legendi 1999. Tätigkeiten
an verschiedenen Hochschulen im In- und Ausland. Bundesvorsitzender der Ethik-
kommission der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft e.V., Zahlreiche
(Buch-) Publikationen zu den Schwerpunkten: Ethik als Schutzbereich, Forschungs-
ethik, empirische Ethikforschung, Palliative Care, Sprache und Kommunikation in
der Medizin und der Pflege, Wissenschaftstheorie.

Dr. med. Christian Schulz, MSc


Stellvertretender Leiter und Oberarzt am Interdisziplinären Zentrum für Palliativme-
dizin (IZP) am Universitätsklinikum der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
2007 Approbation und Promotion, 2010 Master of Science in Palliative Care am
King’s College, London, UK. Facharztweiterbildung am Klinischen Institut für
Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Düssel-
dorf. Seit 2011 Doktorandenstudium in Existentieller Psychotherapie (DProf) an
der New School of Psychotherapy and Counselling (NSPC), London, UK.
VIII

Die Autoren
Dr. Claudia Bausewein, PhD MD MSc PD Dr. rer. biol. hum. Dipl.-Psych.
Senior Clinical Research Fellow & Martin Fegg
Saunders Scholar Interdisziplinäres Zentrum
Department of Palliative Care, für Palliativmedizin
Policy & Rehabilitation Klinikum der Universität München
Cicely Saunders Institute Marchioninistr. 15
King’s College London 81377 München
Bessemer Road
London SE5 9PJ, UK Manuela Galgan
Berufsgenossenschaftliches
Dr. med. Isabel Dietz Universitätsklinikum
Lehrstuhl für Anästhesie I Bergmannsheil GmbH
der Universität Witten/Herdecke Bürkle-de-la-Camp-Platz 1
Klinik für Anästhesiologie 44789 Bochum
HELIOS Klinikum Wuppertal
Heusnerstr. 40 Margit Gratz
42283 Wuppertal Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der
Professur für Spiritual Care
Christine Dunger Interdisziplinäres Zentrum
Institut für Ethik und Kommunikation für Palliativmedizin
im Gesundheitswesen (IEKG) Klinikum der Universität München
Fakultät für Gesundheit Marchioninistr. 15
Universität Witten/Herdecke 81377 München
Alfred-Herrhausen-Straße 50
58448 Witten Harald Haynert, MScN
Institut für Ethik und Kommunikation
PD Dr. med. Dr. Berend Feddersen im Gesundheitswesen (IEKG)
Neurologische Klinik Fakultät für Gesundheit
Klinikum der Universität München Universität Witten/Herdecke
Marchioninistr. 15 Alfred-Herrhausen-Straße 50
81377 München 58448 Witten

Dr. med. Susanne Hirsmüller, MA


Hospizleitung
Hospiz am Evangelischen Kranken-
haus Düsseldorf
Kirchfeldstr. 35
40217 Düsseldorf
IX
Die Autoren

Prof. Dr. med. Wolfgang Huckenbeck Dr. med. Michaela Kuhlen


Institut für Rechtsmedizin Klinik für Kinder-Onkologie,
Universitätsklinikum -Hämatologie und Klinische
Heinrich-Heine-Universität Immunologie
Düsseldorf Universitätsklinikum
Moorenstr. 5 Heinrich-Heine-Universität
40225 Düsseldorf Düsseldorf
Moorenstr. 5
Dr. Gisela Janßen 40225 Düsseldorf
Oberärztin K4 Ambulanz
Klinik für Kinder-Onkologie,- Dr. med. Bernd Oliver Maier
Hämatologie und Klin. Immunologie Abteilungsleiter Palliativmedizin
Heinrich-Heine-Universität HKS, Dr. Horst Schmidt Kliniken
Düsseldorf GmbH
Moorenstr. 5 Ludwig-Erhard-Straße 100
40225 Düsseldorf 65199 Wiesbaden

Dr. med. Johannes M. Just Esther Meister


Institut für Ethik und Kommunikation Leiterin Wundsprechstunde
im Gesundheitswesen (IEKG) Referentin für Wundmanagement
Fakultät für Gesundheit Spital Zofingen
Universität Witten/Herdecke Sonnrain 15
Alfred-Herrhausen-Straße 50 CH-6247 Schötz
58448 Witten
Mischa Möller
Dr. jur. Heinz Kammeier Institut für Ethik und Kommunikation
Lehrbeauftragter für im Gesundheitswesen (IEKG)
»Recht im Gesundheitswesen« Fakultät für Gesundheit
Fakultät für Gesundheit Universität Witten/Herdecke
Universität Witten/Herdecke Alfred-Herrhausen-Straße 50
Rilkeweg 11 58448 Witten
48165 Münster
Prof. Dr. med. H. Christof
Müller-Busch
Ltd. Arzt i.R. Gemeinschaftskranken-
haus Havelhöhe Berlin
Universität Witten/Herdecke
Rüsternallee 45
14050 Berlin
X Die Autoren

Constanze Rémi Dr. med. Andrea Schmitz


Apotheke und Interdisziplinäres Oberärztin der Klinik
Zentrum für Palliativmedizin für Anästhesiologie
Klinikum der Universität München Leiterin des Interdisziplinären
Marchioninistr. 15 Zentrums für Palliativmedizin (IZP)
81377 München Universitätsklinikum
Heinrich-Heine-Universität
Dr. med. Jan Rémi Düsseldorf
Neurologische Klinik Moorenstr. 5
Klinikum der Universität München 40255 Düsseldorf
Marchioninistr. 15
81377 München Prof. Dr. med. Nils Schneider MPH
Institut für Epidemiologie, Sozial-
Sonja Rogusch medizin und Gesundheitssystem-
Luisenstr. 87 forschung
42103 Wuppertal Forschungsschwerpunkt Palliativ-
und Alternsforschung
Prof. Dr. theol. Traugott Roser Medizinische Hochschule Hannover
Professur für Spiritual Care Carl-Neuberg-Str.1
Interdisziplinäres Zentrum 30625 Hannover
für Palliativmedizin
Klinikum der Universität München Univ.-Prof. Dr. Martin W. Schnell, MA
Marchioninistr. 15 Direktor
81377 München Institut für Ethik und Kommunikation
im Gesundheitswesen
Dr. Eva Katharina Schildmann (IEKG) und Integrierte Curricula,
Palliativstation der Klinik Department Pflegewissenschaft
für Hämatologie, Onkologie Fakultät für Gesundheit
und Tumorimmunologie Universität Witten/Herdecke
HELIOS Klinikum Berlin Buch Alfred-Herrhausen-Straße 50
Schwanebecker Chaussee 50 58448 Witten
13125 Berlin
Dipl.-Psych. Margit Schröer
Hospiz am Evangelischen
Krankenhaus Düsseldorf
Kirchfeldstr. 35
40217 Düsseldorf
XI
Die Autoren

Dr. med. Christian Schulz, MSc Prof. Dr. Maria Wasner


Interdisziplinäres Zentrum Professur für Soziale Arbeit
für Palliativmedizin (IZP) in Palliative Care
Universitätsklinikum Katholische Stiftungsfachhochschule
Heinrich-Heine-Universität München
Düsseldorf Preysingstr. 83
Moorenstr. 5 81667 München und
40225 Düsseldorf Interdisziplinäres Zentrum
für Palliativmedizin
Nadine Schüßler, BScN, MSc Klinikum der Universität München
Institut für Pflegewissenschaft Marchioninistr. 15
Paracelsus Medizinische Universität 81377 München
Salzburg
Strubergasse 21 A. Cornelia Weigle
A-5020 Salzburg Praxis für Kunsttherapie,
Psychoonkologische Beratung
Dr. Steffen Simon MSc und Entspannungspädagogik
Oberarzt Zentrum für Palliativmedizin Luhnsfelder Höhe 55
und Leitender Arzt 42369 Wuppertal
des Klinischen Studienzentrums
Palliativmedizin Cordula Zehnder-Kiworr
Universitätsklinik Köln Westpfalz-Klinikum Kaiserslautern
Kerpener Str. 62 Hellmut-Hartert-Straße 1
50937 Köln 67655 Kaiserslautern

Elke Steudter
Pflegewissenschaftlerin
Studiengangsleitung DAS Palliative
Care
WE’G Hochschule Gesundheit
Kalaidos Fachhochschule
Departement Gesundheit
Mühlemattstrasse 42
CH-5001 Aarau
Basiswissen Palliativmedizin:
Das Layout

Inhaltliche Struktur:
Klare Gliederung
durch alle Kapitel

Leitsystem: Orientie-
rung über die Kapitel
und den Anhang

Einleitung: Kurzer
Einstieg ins Thema

Verweise: Deutlich
herausgestellt und
leicht zu finden

Schlüsselbegriffe:
Sind fett hervorge-
hoben

Definition:
Erklärung wichtiger
Begriffe

Merke: Wichtige
Aussagen zum Ler-
nen und Verstehen

Fallbeispiele: Aus der


Praxis
Navigation: Seitenzahl und Kapitel-
nummer für die schnelle Orientierung

Tabellen: Hilfen
und Fakten zum
schnellen Erfassen

Übersicht:
Nützliche Tipps und
Anleitungen

Klinische Binnen-
struktur: Einheitliche
Gliederung der klini-
schen Symptome

Zusammenfassung:
Kurze Zusammen-
fassung der wichtigs-
ten Inhalte

Literatur: Die im Text


erwähnten Artikel
XV

Inhaltsverzeichnis

I Einleitung

1 Eine kurze Geschichte der Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . 2


Müller-Busch
1.1 Ursprünge von Palliative Care und Hospizbewegung . . . . . . . . . . . . 3
1.2 Cicely Saunders und die moderne Hospizbewegung . . . . . . . . . . . . 4
1.3 Entwicklung und Stellenwert der Palliativmedizin in Deutschland . . . 5
1.4 Zukunftsperspektiven der Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

2 Interprofessionelle Teamarbeit als Ausgangspunkt


für Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
Hirsmüller, Schröer
2.1 Interprofessionalität oder Multiprofessionalität? . . . . . . . . . . . . . . . 9
2.2 Team . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2.3 Kommunikation im Team . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
2.4 Probleme und Lösungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
2.5 Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

3 Der Mensch als sterbliches Wesen


und die Diversität am Lebensende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Schnell, Schulz
3.1 Der Mensch zwischen Geburt und Sterblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 20
3.2 Krankheit und Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
3.3 Der sterbende Mensch im System seiner Angehörigen . . . . . . . . . . . 26

II Der Patient und seine Symptome

4 Testinstrumente in der Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . 32


Bausewein, Simon, Schulz
4.1 Typen von Testinstrumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
4.2 Gütekriterien von Testinstrumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
4.3 Testinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
XVI Inhaltsverzeichnis

5 Grundlagen des Symptommanagements . . . . . . . . . . . . . . . . 40


Bausewein, Rémi
5.1 Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
5.2 Arzneimitteltherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
5.3 Subkutangabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
5.4 Arzneimittelpumpen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

6 Symptome in der Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53


6.1 Fatigue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
Rogusch, Schulz
6.2 Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Schmitz, Schulz
6.3 Appetitlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
Zehnder-Kiworr
6.4 Ernährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Zehnder-Kiworr
6.5 Übelkeit und Erbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
Bausewein, Rémi
6.6 Obstipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Bausewein, Rémi
6.7 Obstruktion/Ileus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Bausewein, Rémi
6.8 Diarrhö . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
Bausewein, Rémi
6.9 Dyspnoe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
Simon, Bausewein, Rémi
6.10 Husten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Rémi, Bausewein, Simon
6.11 Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
Schulz
6.12 Depression . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Fegg
6.13 Verwirrtheit/Delir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Feddersen, Rémi
6.14 Epileptischer Anfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Rémi, Feddersen
6.15 Wunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Meister
6.16 Jucken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Steudter
XVII
Inhaltsverzeichnis

6.17 Symptomlinderung durch Mundpflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117


Galgan
6.18 Durst/Flüssigkeitsgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
Galgan
6.19 Symptome in der Finalphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
Dietz, Rémi, Schildmann, Schulz

III Kommunikation und Interaktion

7 Kommunikation in der Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . 138


7.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Schulz, Schnell
7.2 Übermitteln schwieriger Nachrichten in der Palliativsituation . . . . . . 150
Schulz, Möller, Schnell
7.3 Gespräch über Prognose und Perspektivenplanung . . . . . . . . . . . . . 157
Schulz
7.4 Gespräche zur Entscheidungsfindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Möller, Schulz
7.5 Gespräch über Sterbe- und Todeswunsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
Schulz
7.6 Umgang mit Angriffen und Wut im Gespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
Schulz
7.7 Was tun, wenn Fehler passiert sind? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
Schulz
7.8 Ein Wort zur Selbstsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
Schnell

8 Kommunikation in der Kunsttherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186


Weigle, Schulz
8.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
8.2 Der kunsttherapeutische Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
8.3 Fallbeispiel aus der kunsttherapeutischen Arbeit
in der Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

9 Familienzentrierte Medizin, Angehörige . . . . . . . . . . . . . . . . . 199


Möller
9.1 Familienzentrierte Medizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
9.2 Voraussetzungen für eine professionelle Familienzentrierte Medizin . 200
XVIII Inhaltsverzeichnis

10 Spiritualität in der Medizin – ein Widerspruch? . . . . . . . . . . . . 208


Gratz, Roser
10.1 Spirituelle Begleitung – eine ärztliche Aufgabe? . . . . . . . . . . . . . . . 209
10.2 Was kennzeichnet Spiritual Care? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

11 Humor in der Palliativmedizin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215


Hirsmüller, Schröer
11.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
11.2 Funktionen des Humors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
11.3 Humor am Lebensende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

IV Ethik, Recht, Interprofessionalität

12 Ethik und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226


12.1 Ethik am Lebensende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Schnell
12.2 Recht am Lebensende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
Kammeier
12.3 Instrument zur Evaluation des Patientenwillens:
Witten Will Pathway 2.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242
Schnell/Schulz

13 Interprofessionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
13.1 Herausforderungen für das Team . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250
Schüßler
13.2 Interprofessionelle Fallbesprechungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
Wasner
13.3 Ethikkonsil – Der »Witten-Nimweger-Leitfaden« (WNL) . . . . . . . . . . . 260
Dunger/Schnell

14 Palliativmedizin im gesellschaftlichen System . . . . . . . . . . . . 271


14.1 Gesundheitssystemische und -ökonomische Perspektiven . . . . . . . . 272
Schneider, Maier
14.2 Leichenschau und Bestattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Huckenbeck
XIX
Inhaltsverzeichnis

V Besondere Felder der Palliativmedizin

15 Der alte Mensch am Lebensende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290


Just, Schnell, Schulz
15.1 Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291
15.2 Klinisches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292

16 Kinder und Jugendliche mit lebensverkürzenden


Erkrankungen/in der palliativen Versorgung . . . . . . . . . . . . . . 301
Janßen, Kuhlen
16.1 Epidemiologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
16.2 Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . 303
16.3 Strukturen pädiatrischer Palliativversorgung in Deutschland . . . . . . 303
16.4 Psychosoziale Aspekte der pädiatrischen Palliativversorgung . . . . . . 304
16.5 Symptome und Symptomkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306

17 Integrative Palliativversorgung – soziale Inklusion:


Behinderung, Psychiatrie, Forensik am Lebensende . . . . . . . . 311
Haynert
17.1 Palliative Praxis und soziale Exklusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
17.2 Zukünftige Felder integrativer Palliativversorgung . . . . . . . . . . . . . 315

Anhang

Weiterführende Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322


Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
1 I

Einleitung
Kapitel 1 Eine kurze Geschichte
der Palliativmedizin – 2
Müller-Busch

Kapitel 2 Interprofessionelle Teamarbeit


als Ausgangspunkt
für Palliativmedizin – 8
Hirsmüller, Schröer

Kapitel 3 Der Mensch als sterbliches Wesen und


die Diversität am Lebensende – 19
Schnell, Schulz
2 1
Eine kurze Geschichte
der Palliativmedizin
Müller-Busch

1.1 Ursprünge von Palliative Care


und Hospizbewegung – 3

1.2 Cicely Saunders und die moderne


Hospizbewegung – 4

1.3 Entwicklung und Stellenwert der Palliativmedizin


in Deutschland – 5

1.4 Zukunftsperspektiven der Palliativmedizin –7

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2_1, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
1.1 · Ursprünge von Palliative Care und Hospizbewegung
3 1
>>

Mit dem Begriff »palliativ« verbindet sich ein Grundverständnis medizinischen


Handelns, welches eine lange Tradition hat, aber erst in der 2. Hälfte des 20. Jahr-
hunderts wieder neu entdeckt wurde.

Im 17., 18. und 19. Jahrhundert kann man in der deutschsprachigen Literatur eine
Reihe von Literaturstellen finden, in denen das Wort »palliativ« in unterschied-
lichen Bedeutungszusammenhängen auftaucht, so z. B. bei Goethe, Claudius,
Hölderlin, Schiller, Kant oder Ebner-Eschenbach. Die Verwendung des Wortes »pal-
liativ« im Sinne von »dämpfend, erleichternd, lindernd, täuschend« war bis ins
19. Jahrhundert in gebildeten Kreisen geläufig – sie lässt sich auch in englischen und
französischen Literaturzitaten nachweisen. Eindrucksvoll ist die Verwendung des
Wortes palliativ im politischen Kontext. So finden wir das Wort mehrfach bei Karl
Marx, später auch bei Rosa Luxemburg im Sinne von »das Übel nicht kurierend,
nicht ursächlich, bei der Wurzel packend, oberflächlich bleibend«.

1.1 Ursprünge von Palliative Care und Hospizbewegung

In der vormodernen Medizin (ca. 1500–1850) gab es eine intensive Diskussion zur
»Cura palliativa«, die als unverzichtbare Alternative zur einer radikalen, kurativen
Behandlung angesehen wurde [1].
Der Begriff palliativ wird in der Regel auf das lateinischen Wort »pallium«
(Mantel, Umhang) bzw. »palliare« (bedecken, tarnen, lindern) zurückgeführt. In
althochdeutschen Wörterbüchern wird auch auf die Nähe zu pallere oder pallescere
(bleichen, blass sein) hingewiesen. Die älteste bisher bekannte Quelle, in der von
Palliation gesprochen wird, findet sich bei Henri de Mondeville (ca. 1260–1320)‚
Lehrer der Anatomie und Chirurgie in Montpellier und Leibarzt Philipps des
Schönen [2]. Leidenslinderung bei schwerstkranken und sterbenden Menschen als
ärztliche und pflegerische Aufgabe geht jedoch noch weiter zurück.
Die Hospizidee ist ähnlich alt wie der palliative Ansatz in der Medizin. So gab
es wohl schon im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. in Syrien Gasthäuser, Xenodochions,
die sich der Betreuung Kranker und Sterbender widmeten, wobei die Pflege der
Sterbenden ganz im Vordergrund stand. Mit den Anfängen der modernen Medizin
wurden im 18. Jahrhundert die ausschließlich pflegerischen Hospize deutlicher von
den zur Behandlung von Kranken gegründeten medizinischen Krankenanstalten
unterschieden. Seit der Gründung des Hospizes Calvaire durch Madame Jean Gar-
nier (1842) wurde der Begriff Hospiz nur noch für Einrichtungen zur Betreuung
Sterbender verwendet. In Deutschland wurde als erstes Hospiz 1986 das Haus Horn
in Aachen eröffnet [3].
4 Kapitel 1 · Eine kurze Geschichte der Palliativmedizin

Palliative Care und Hospizbewegung sind Schwestern, die sich ergänzen.


1 Während Palliative Care eher die professionellen Aufgaben umschreibt, ist die Hos-
pizbewegung eher eine praktizierte Idee und ein Engagement, das Sterben wieder
in das gesellschaftliche Leben und Miteinander zu integrieren.

1.2 Cicely Saunders und die moderne Hospizbewegung

Die Gründung des St. Christopher Hospice in London durch Cicely Saunders
(1918–2005) gilt allgemein als der historische Impuls für die Entwicklung der mo-
dernen Hospizbewegung und von Palliative Care.
Cicely Saunders griff während ihrer Arbeit als Sozialarbeiterin bzw. Kranken-
schwester im St. Lukes den mittelalterlichen Hospizgedanken »Beistehen und
Begleiten« auf, um ihn weiter zu entwickeln. Die nur wenige Wochen dauernde
Beziehung zu dem 40-Jährigen sterbenskranken und unter starken Schmerzen
leidenden David Tasma, einem aus Polen stammenden Juden, veränderte ihr Leben.
Das entfremdete Sterben in einem Krankenhaus, mit Schmerzen, Ängsten und
Träumen, erlebte sie als Herausforderung und Auftrag. David vermachte ihr sein
Vermögen – 500 Pfund – und verband es mit dem Wunsch, mit diesem Vermächt-
nis ein Sterbeheim zu gründen, das in der Zeit des Sterbens ein Zuhause sein könnte
und in dem er sich wünsche, ein Fenster der Erinnerung zu sein. Um den medizi-
nischen Problemen sterbenskranker und sterbender Menschen fachlich besser
entsprechen zu können, studierte Cicely Saunders nun Medizin und widmete sich
ganz der Frage, wie eine optimale und umfassende medizinische, pflegerische, so-
ziale und spirituelle Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in der
modernen Medizin ermöglicht und verwirklicht werden könnte.
In Deutschland hingegen hieß es noch 1978 von offizieller katholischer Seite
auf eine Anfrage des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit:

»Ein menschenwürdiges Sterben kann nicht durch die Errichtung eigener Sterbe-
kliniken oder Sterbeheime gewährleistet werden, in die der Schwerkranke abge-
schoben wird. ... Sterbekliniken oder Sterbeheime dienen – gewollt oder ungewollt
– der Verdrängung der letzten menschlichen Aufgabe. ... Mit der Einlieferung in eine
Sterbeklinik oder in ein Sterbeheim wird dem Schwerkranken jede Hoffnung abge-
sprochen und genommen. ... In der öffentlichen Diskussion wird die Einrichtung von
Sterbekliniken jetzt schon als ein Schritt hin zur Euthanasie gedeutet. ... Vorhandene
und bereitzustellende Mittel des Bundes und der Länder sollten nach unserer Auf-
fassung nicht dazu benutzt werden, solche Sterbekliniken einzurichten [4].«

Diese Stellungnahmen hatten zur Folge, dass in Deutschland die Entwicklung der
Palliativversorgung im Vergleich zu anderen Ländern doch mit einer erheblichen
1.3 · Entwicklung und Stellenwert der Palliativmedizin
5 1
Verzögerung begann. So wurde erst im Jahre 1983 eine Palliativstation mit 5 Betten
in der Chirurgischen Klinik der Universität Köln eröffnet.

1.3 Entwicklung und Stellenwert der Palliativmedizin


in Deutschland

Seit Beginn der 90er-Jahre ist in den industrialisierten Ländern eine dynamische
Entwicklung von palliativmedizinischen Versorgungsangeboten festzustellen. Füh-
rend waren vor allem Großbritannien, Kanada und die skandinavischen Länder.
Wie in allen Ländern lässt sich auch in Deutschland eine Pionierphase (ca. 1971–
1993), eine Differenzierungsphase (ca. 1994–2005) und eine Stabilisierungs- bzw.
Integrationsphase (seit 2005) unterscheiden.

jMeilensteine der Palliativmedizin in Deutschland:

Pionierphase (1971–1993)
1971 »Noch 16 Tage ... eine Sterbeklinik in London«
1983 1. Palliativstation in Köln
1984 Gründung der Arbeitsgruppe »Zuhause sterben« in Hannover
1985 Christophorus Hospiz Verein München; 1. Ambulanter Hospizdienst in
Haale/Saale
1986 1. Stationäres Hospiz in Aachen
1988 Tübinger Modell zur ambulanten Palliativversorgung
1991 Modellprogramm des BMG – Bosofo Studie legt den Bedarf an
stationären Hospiz- und Palliativbetten fest
1992 Gründung der Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz
1993 Gründung von Home Care Berlin (palliativmedizinischer Dienst zur
Versorgung schwerstkranker Patienten)

Differenzierungsphase (1994–2005)
1994 Gründung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP)
1996 1. Kongress für Palliativmedizin in Köln; Curriculum Palliativmedizin
1997 Gesetz zur Förderung stationärer Hospize (§ 39a SGBV)
2000 1. Lehrstuhl für Palliativmedizin; Zeitschrift für Palliativmedizin
2002 Gesetz zur Förderung ambulanter Hospizdienste (§ 39a Abs. 2 SGB V)
2003 Zusatzbezeichnung »Palliativmedizin« (Facharzt)
2005 Bericht der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags
6 Kapitel 1 · Eine kurze Geschichte der Palliativmedizin

1 Integrationsphase (seit 2005)


2005 Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD: »Hospizarbeit und
Palliativmedizin wollen wir stärken, um Menschen ein Sterben in
Würde zu ermöglichen.«
2005 Palliativmedizin in der Integrierten Versorgung nach § 140 SGB V
2007 GKV-Wettbewerbs-Stärkungs-Gesetz
2009 Palliativmedizin als Pflichtfach in der Approbationsordnung
SAPV (Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung) nach § 37b und
132d; Palliativmedizin: Pflichtfach im Studium
2010 Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen

In Deutschland konzentrierte sich Palliativmedizin zunächst stark auf die Spe-


zialversorgung im stationären Sektor, erst in den letzten Jahren sind zunehmend
auch ambulante Versorgungsmodelle entwickelt worden. Es lassen sich ein pallia-
tiver Ansatz, eine allgemeine Palliativversorgung und spezialisierte Versorgungs-
modelle unterscheiden [5].
Die verschiedenen Ebenen des englischen care, das im Deutschen sowohl Sorge,
Kümmern, Fürsorge, Pflege wie auch Behandlung bedeutet, lassen sich nur teilweise
ins Deutsche übertragen. Palliative Care steht nicht – wie oft missverstanden – im
Gegensatz zur kurativen Medizin, sondern stellt eine Ergänzung dar, die darauf ver-
weist, dass die Worte care und cure gemeinsame Wurzeln haben.
Leitgedanke von Palliative Care bzw. der Palliativmedizin ist die würdige Be-
gleitung der letzten Lebensphase und des Sterbens bei schwerstkranken Menschen.
Vor allem die modernen Möglichkeiten der Schmerztherapie, die in den 70er Jahren
des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden, haben dazu beigetragen, dass Palliative
Care zunehmend Anerkennung und Bedeutung erlangte. In diesem Zusammen-
hang ist der Name Robert Twycross, ein Mitarbeiter von Cicely Saunders, von Be-
deutung, der als einer der wichtigsten Pioniere der modernen Schmerztherapie
mit Opiaten und der Palliativmedizin gilt. Leidenslinderung bzw. Prävention des
Leidens mit den Möglichkeiten der modernen Medizin bedeutet nicht nur optimale
Symptomlinderung und Verbesserung der Lebenssituation des Sterbenskranken,
sondern es geht in der Palliativbegleitung auch darum, Sterben und Tod als etwas
dem Leben Zugehöriges erfahrbar zu machen. Diese Aufgabe reicht sicherlich über
eine professionell und kompetent durchgeführte medizinische Auftragsleistung
hinaus, sie stellt auch eine Herausforderung in der Annäherung an Ungewisses dar.
1.4 · Zukunftsperspektiven der Palliativmedizin
7 1
1.4 Zukunftsperspektiven der Palliativmedizin

Im Jahre 2010 gibt es in Deutschland fast 400 Palliativstationen und stationäre


Hospize mit ca. 3000 Betten. Eine besondere Bedeutung wird Palliative Care in den
nächsten Jahren aufgrund der demographischen Entwicklung im Rahmen der sog.
Altersmedizin haben. Die Altersstruktur der Bevölkerung verschiebt sich seit dem
Ende des 19. Jahrhunderts zugunsten der älteren Altersgruppen; eine Entwicklung,
die sich noch weiter beschleunigen wird. Insbesondere die Anzahl der Hochbe-
tagten wird in Zukunft erheblich anwachsen. Ca. 1.8 Mio. (60 %) der über 80-Jäh-
rigen haben chronische Schmerzen, ca. 600.000–900.000 haben Krebs, 20 % haben
Depressionen, 20 % haben eine Demenz. Ca. 30 % der Menschen über 80 Jahre und
über 50 % der Menschen über 90 Jahre sind pflegebedürftig [6]. Für die Versorgung
dieser Menschen stellt die Palliativmedizin eine wichtige Orientierung dar.

Zusammenfassung
Der Begriff palliativ wird in der Regel auf das lateinischen Wort »pallium«
(Mantel, Umhang) bzw. »palliare« (bedecken, tarnen, lindern) zurückgeführt.
Palliative Maßnahmen in der Medizin werden schon 13. Jahrhundert beschrie-
ben. Die Hospizidee ist ähnlich alt wie der palliative Ansatz in der Medizin. Die
Gründung des St. Christopher Hospice in London durch Cicely Saunders gilt
allgemein als der historische Impuls für die Entwicklung der modernen Hospiz-
bewegung und von Palliative Care.
In Deutschland ist nach zögerlichem Beginn in den letzten 15 Jahren eine
dynamische Entwicklung in der Palliativversorgung festzustellen. Es kann eine
Pionier-, eine Differenzierungs- und eine Integrationsphase unterschieden werden.
Palliativmedizin wird aufgrund der demografischen Entwicklung eine
zunehmende Bedeutung für die Versorgung alter und mehrfach kranker Men-
schen bekommen.

Literatur
[1] Stolberg M (2007) »Cura palliativa«. Begriff und Diskussion der palliativen Krankheitsbe-
handlung in der vormodernen Medizin (ca. 1500-1850). Med Hist J 42:7-29
[2] Weiss L (2003) Early concepts of cancer. Cancer and Metastasis Reviews 19:205-217
[3] Pleschberger S (2006) Die historische Entwicklung von Hospizarbeit und Palliative Care.
In: Knipping C (Hrsg.) Lehrbuch Palliative Care. Huber, Bern, S. 24-29
[4] Godzik P (1993) Die Hospizbewegung in Deutschland – Stand und Perspektiven. In: Akade-
mie Sankelmark (Hrsg.) Nordische Hospiztage. Internationale Fachtagung vom 1.-5. März
1993, Sankelmark, S. 27-36
[5] Schindler T (2008) Allgemeine und spezialisierte Palliativversorgung. ASUP 1:10-13
[6] Kuhlmey A, Schaeffer D (2008) Alter, Gesundheit und Krankheit. Handbuch Gesundheits-
wissenschaften. Huber, Bern
8 2
Interprofessionelle
Teamarbeit als Ausgangspunkt
für Palliativmedizin
Hirsmüller, Schröer

2.1 Interprofessionalität oder


Multiprofessionalität? – 9

2.2 Team –9

2.3 Kommunikation im Team – 15

2.4 Probleme und Lösungsmöglichkeiten – 17

2.5 Rahmenbedingungen – 17

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2_2, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
2.2 · Team
9 2
>>

Die Zusammenarbeit im interprofessionellen Team ist integraler Bestandteil von Pallia-


tive Care. Der Blick auf Schwerstkranke, Sterbende und ihre An- und Zugehörigen
erfordert die abgestimmte Versorgung durch Vertreter zahlreicher Professionen und
Fachgebiete, deren Ziel die bestmögliche Lebensqualität der Betroffenen ist.

2.1 Interprofessionalität oder Multiprofessionalität?

Interprofessionalität geht über Multiprofessionalität (-disziplinarität) hinaus und


beinhaltet eine gelebte Kooperation verschiedener Fachdisziplinen und Berufs-
gruppen im Sinne des Patienten auf Augenhöhe.

2.2 Team
Team
Ein Team ist eine aus max. 10–14 Personen unterschiedlicher Fähigkeiten
bestehende Organisationseinheit, die zusammen an einem Projekt (Aufgabe)
arbeiten.

Schwerstkranke und sterbende Patienten und ihre Angehörigen weisen in der letz-
ten Lebensphase häufig vielfältige Symptome auf, die nicht von einer einzelnen
Fachkraft, gleich welcher Profession, gelindert und im besten Falle gelöst werden
können.
Für die Teamarbeit wurden 2003 in der Recommendation 24 des Ministerko-
mitees an die Mitgliedsstaaten des Europarates folgende Kriterien benannt:
4 Fachexpertise aller an der Versorgung Beteiligten
4 Bewusstsein über die eigene Rolle, die damit verbundenen Möglichkeiten, aber
auch der Grenzen sowohl bei sich selbst als auch den anderen Teammitgliedern
4 optimaler Informationsaustausch zwischen allen beteiligten Diensten
4 Schweigepflicht
4 Einbindung Ehrenamtlicher
4 »Caring for the Caregivers« (Maßnahmen der Psychohygiene für alle Teammit-
glieder in Form von Supervision u. a.) [1]

In einem Palliativteam gibt es daher keine alleinbestimmende Disziplin; alle ar-


beiten auf Augenhöhe miteinander zum Wohle des Patienten und seiner Ange-
hörigen.
10 Kapitel 2 · Interprofessionelle Teamarbeit als Ausgangspunkt für Palliativmedizin

2.2.1 Teammitglieder

Ausgehend von Erich Loewys Gedanken einer »Orchestrierung des Lebensendes«


2 sehen wir in diesem Rahmen das Bild eines Musikensembles vor uns: die Zusam-
mensetzung und die geforderten Leistungen sind abhängig von den Bedürfnissen
des Patienten und seiner An- und Zugehörigen sowie vom Ort des Lebens und
Sterbens (zuhause oder in einer Institution). Je nach Anforderung und Situation
sind unterschiedlich viele »Musizierende« erforderlich: vom Trio bis zum Dezett
(Musikgemeinschaft von 10 Solisten). Das heißt:
4 Alle spielen mit verschiedenen, aber aufeinander abgestimmten Instrumenten
(Professionen).
4 Alle sind aufmerksam, konzentriert und kennen sowohl den eigenen als auch
die fremden Einsätze.
4 Es gibt gelegentliche Soli, das Kunstwerk entsteht aber nur durch das Zusam-
menspiel aller Musiker (Professionen).
4 Dabei erleichtern bestimmte Regeln wie Noten, Tempobezeichnungen u. a. das
Zusammenspiel.
4 Jeder »Instrumentalist« muss sich dabei auf »den guten Ton« im doppelten
Wortsinn verlassen können.
4 Es gibt keinen durchgängig leitenden Dirigenten, allenfalls könnte der Patient
als solcher angesehen werden.

In einem Palliativteam gibt es daher keine alleinbestimmende Disziplin. Im Ge-


gensatz zu einem Musikensemble spielt das Palliativteam jedesmal »live« und ein
immer neues »Konzert«.
! Einige Autoren ([2], [7]) betrachten den Patienten und seine Angehö-
rigen als zum Team gehörend, andere – wie auch nur – nicht.
Vertreter folgender 10 Professionen können in unterschiedlichem Ausmaß an der Ver-
sorgung beteiligt sein, dies wird insbesondere durch die hochkomplexe und sich oft
schnell ändernde Situation eines Palliativpatienten und seiner Angehörigen bedingt:
1. Pflege
2. Medizin
3. Physiotherapie
4. sonstige Therapie (Ergo-, Musik-, Kunst-, Logo-, Atem-, und weitere Therapien)
5. Ehrenamt
6. Seelsorge
7. Sozialarbeit
8. Psychologie/Psychoonkologie/Psychotherapie
9. Pharmazie
10. Hauswirtschaft
2.2 · Team
11 2
Pflegekräfte
Sie haben sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Versorgung meist
den engsten und zeitlich längsten Kontakt zu den Patienten und ihren Angehöri-
gen. Zu ihren Aufgaben gehören unter anderem:
4 symptomorientierte, empathische Patientenbeobachtung, Wahrnehmung von
Veränderungen zum Positiven wie Negativen sowie deren Ursachen
4 Beziehungsgestaltung durch informierende sowie unterstützende Gespräche
4 Hilfe bei der Anpassung an die Folgen der fortschreitenden Erkrankung und
soweit möglich Minimierung der Auswirkungen des zunehmenden Kontroll-
verlustes
4 Körperpflege und Lagerungsmaßnahmen ausgehend von den individuellen
Möglichkeiten des Patienten unter dem besonderen Aspekt der Symptom-
linderung
4 Anleitung und Beratung der Angehörigen im Hinblick auf Pflege und Pflege-
hilfsmittel
4 rehabilitative Aspekte in der Bewältigung des Alltags (Essen, Körperpflege,
Mobilität …)
4 Kontrolle bzw. Verabreichung der medikamentösen Therapie in enger Ab-
sprache mit dem behandelnden Arzt, weitergehende Informationen über die
bereits durch den Arzt erklärte Verabreichungsform, Indikation und Neben-
wirkungen, da Patienten sich dies häufig nochmals vom Pflegepersonal er-
klären lassen

Ärzte
Sie sind während der gesamten Krankheit für Diagnosestellung und Therapie
verantwortlich. Außerdem zählt es zu ihren Aufgaben, Patienten und auf deren
Wunsch auch die Angehörigen über die Prognose und ggf. die Aussichtslosigkeit
weiterer Therapieversuche aufzuklären. Darüber hinaus:
4 Information der weiteren Teammitglieder über die Diagnose und Behand-
lung
4 fachliche Expertise im eigenen Fach
4 Hinzuziehung von konsiliarischen Expertisen anderer Fächer
4 Ausarbeitung und Besprechung eines Notfallplans für Krisensituationen des
Palliativpatienten
4 Beachtung und Förderung der Autonomie des Patienten
4 Beratung bei der Abfassung einer Patientenverfügung
4 Einweisung in das und Entlassung aus dem stationären Setting
12 Kapitel 2 · Interprofessionelle Teamarbeit als Ausgangspunkt für Palliativmedizin

Physiotherapeuten
Im Gegensatz zur gewöhnlichen Physiotherapie im kurativen Setting kann Physio-
therapie in der Palliativsituation dafür sorgen, dass ein Patient sich z. B. beim
2 Waschen und Ankleiden unterstützen lässt, obwohl er es mit Mühe selbst könnte,
damit er seine Kraft z. B. für den anstehenden Besuch von Freunden einsetzen
kann. Weitere Aufgaben können u. a. sein:
4 Unterstützung und Erleichterung der körperlichen Aktivitäten und Mobilität,
trotz schwächer werdender Muskulatur
4 Unterstützung bei der Symptomkontrolle z. B. durch Lymphdrainage, Mas-
sagen, Wickel oder gezielte Bewegungsanleitung
4 Lagerungs- und Hilfsmittelempfehlungen

Sonstige Therapeuten (Ergo-, Musik-, Kunst-, Logo-, Atem-,


und weitere Therapeuten)
Die verschiedenen Professionen sind nicht regelhaft Teil des Palliativteams, son-
dern werden in den meisten Fällen bedarfsweise hinzugezogen und sind dann für
diesen speziellen Patienten Teil des Teams. Mögliche Angebote können sein:
4 Ausdruck von Wünschen, Bearbeiten von emotionalen Konflikten durch non-
verbale Kommunikationstechniken, Vermittlung eines Zugangs zu bisher nicht
genutzten Ressourcen durch Kunst- oder Musiktherapie
4 Schluck-, Sprach-, Sprechtraining durch Logotherapie
4 Selbstwertstärkung, Momente von Wohlbefinden, Finden persönlicher Aus-
drucksmöglichkeiten
4 Unterstützung bei der Anfertigung von »letzten Werken« für die Hinterbliebenen

Ehrenamtliche
Im interprofessionellen Team ersetzen Ehrenamtliche niemanden; sie ergänzen die
Arbeit der anderen und greifen nicht in die Belange der anderen ein, sondern leis-
ten einfach ihren eigenen Beitrag [1].
Ehrenamtliche Mitarbeit hat die folgenden Kennzeichen:
4 Das Ehrenamt in der Sterbebegleitung ist eine geschulte (Qualifizierungskur-
se), begleitete und supervidierte Tätigkeit von unbezahlten Freiwilligen!
4 bringt Normalität abseits der bezahlten professionellen Behandler ins Team
(Verbindung zwischen der Einrichtung und der Alltagswelt)
4 Begleiten, da sein, Gespräche, Handreichungen, Begleitung bei Spaziergängen
o. ä.
4 »patientenferne« Tätigkeiten auf der Station oder im stationären Hospiz und
damit Ermöglichung von Zeitfenstern für die professionellen Behandler (Tele-
fondienste etc.)
2.2 · Team
13 2
4 holen den Sterbenden und damit den Tod wieder in die Gesellschaft zurück
und zeigen den Patienten und Angehörigen, dass Sterben nicht nur die Fach-
kräfte, sondern die gesamte Gesellschaft angeht

Seelsorger
Sie sind Gesprächspartner für spirituelle Fragen. Weitere Angebote:
4 Unterstützung beim Umgang mit Schuld und Vergebung
4 da sein, Begleiten, Zeithaben, Zuhören
4 Gespräche über Lebens- und Glaubensfragen, Unterstützung bei der Sinnfindung
4 Trauerbegleitung
4 beim Umgang mit Schuld und Vergebung
4 Beratung des Patienten und des gesamten Teams bei ethischen Fragestellungen
4 Gebete, Sakramente, Rituale

Sozialarbeiter
Patienten, die keinen Kontakt zu Seelsorgern/Psychologen wünschen, sehen Sozial-
arbeiter als emotionale Stütze an. Weitere Aufgaben:
4 Koordination der Betreuung und weiteren Versorgung, besonders im Hinblick
auf sozialrechtliche Ansprüche und Unterstützung beim Kontakt zu Behörden,
Versicherungen etc.
4 Entlassungsmanagement aus der stationären Behandlung und Organisation
der weiteren Versorgung (Auswahl einer geeigneten Institution oder Vorberei-
tung der Entlassung nach Hause)
4 psychosoziale Entlastung durch Lösung von Sachfragen, v. a. finanziellen Fragen

Psychologen/Psychoonkologen/Psychotherapeuten
In der Auseinandersetzung mit der Krankheit, den physischen und psychischen
Folgen der Krankheit und mit der infausten Prognose unterstützen diese Thera-
peuten sowohl Patienten als auch deren Angehörige. Außerdem entlasten sie das
Team bei Krisensituationen und in der Umsetzung des Teamgedankens mit Hilfe
von Kommunikationstechniken, Bewältigung von Stress etc. Zudem sind sie die
Spezialisten für:
4 Gespräche, aktives Zuhören
4 therapeutische Interventionen
4 Behandlung von Ängsten, Depressionen oder anderen psychischen Symptomen
4 Unterstützung der Angehörigen
4 erforderlichenfalls Vermittlung zwischen Angehörigen und Team, Angehö-
rigen und Patienten, Patienten und Team
14 Kapitel 2 · Interprofessionelle Teamarbeit als Ausgangspunkt für Palliativmedizin

Apotheker
Apotheker liefern benötigte Medikamente zeitnah, auch nachts oder an Wochen-
enden. Zu ihren Aufgaben zählen:
2 4 Bereitstellung und Abgabe von schulmedizinischen und komplementären Me-
dikamenten bzw. Pflegemittel
4 Beratung bzgl. der Beschaffung von Medikamenten z. B. aus internationalen
Apotheken
4 Beratung bei »Off Label Use«
4 Beratung bzgl. Neben- und Wechselwirkungen

Hauswirtschaftliche Mitarbeiter(innen)
Essen und Trinken am Lebensende haben eine oft falsch eingeschätzte Bedeutung
für die Patienten. Hier geht es keinesfalls um Kalorien, Nährstoffe oder BMI,
sondern um sinnliche Genüsse im wahrsten Sinne des Wortes. Die Gestaltung
der angebotenen Mahlzeiten und Getränke (und im stationären Umfeld auch die
wohnliche Gestaltung der Patientenzimmer, Aufenthaltsräume, Wohnzimmer,
Küchen etc.) erfordert viel Kreativität und Einfühlungsvermögen.
Ihre Aufgaben sind:
4 Zubereitung von speziellen Speisen und Getränke zu jeder Zeit
4 Schaffung von »Atmosphäre« in stationären Einrichtungen trotz notwendiger
Sauberkeit und Ordnung
4 Lieblingsspeisen zubereiten

Aus der Vielfalt der aufgelisteten Aufgaben und Anforderungen ergibt sich zukünf-
tig die Notwendigkeit, in den Curricula der Palliative Care mehr darauf zu achten,
dass den unterschiedlichen Berufsgruppen neben der berufsspezifischen Perspek-
tive auch Sichtweisen anderer Berufsgruppen vermittelt werden.

»Nur mit der Sicht der anderen Fachrichtung gelingt ein tiefes Verständnis, was zu
einer Relativierung der Aufgaben für eine bestimmte Berufsgruppe führen kann.
Dabei orientieren sich die Handlungen des Teams an den Bedürfnissen und Werten
der Patienten und nicht an denen der Berufsgruppe« [3].

! »Schwerstkranke und sterbende Menschen bedürfen einer Versorgung,


die je nach individueller Situation multiprofessionell, interdisziplinär,
sektoren- und berufsgruppenübergreifendes Handeln in enger Koope-
ration aller Beteiligten erfordert.« [4]
2.3 · Kommunikation im Team
15 2
2.2.2 Voraussetzungen für erfolgreiche Teamarbeit

Alle Mitglieder des interprofessionellen Teams müssen eine hohe fachliche,


ethische und menschliche Kompetenz mitbringen.
»Not-wendende« Fähigkeiten und Kompetenzen aller Teammitglieder – neben
ihrer eigenen fachspezifischen Kenntnisse – sind u. a.:
4 positive Einstellung zur Teamarbeit, ohne das eigene Ich zu verleugnen
4 gelernte und immer wieder geübte Kommunikation, Empathie und soziale
Kompetenz
4 immer wiederkehrende Auseinandersetzung mit sich selbst, der beruflichen
Rolle, mit Sterben und Tod allgemein sowie der eigenen Endlichkeit
4 Wertschätzung sich selbst und den anderen gegenüber
4 Beachten der fremden wie der eigenen Fähigkeiten, Aufgaben, Grenzen und
Rollen im Team
4 Humor (7 Kap. 11)
4 Offenheit und Vertrauen, aber auch Konfliktfähigkeit, denn selbst Palliative
Care-Fachleute sind nicht frei von Rivalität und Konkurrenzdenken
4 »hospizliche Haltung« und Demut (wo nötig)
4 Aushalten können (auch »etwas sein zu lassen« als aktive Handlungsmöglich-
keit verstehen)
4 Achtsamkeit

2.3 Kommunikation im Team

Für Patienten ist es von maßgeblicher Bedeutung, dass sie von unterschiedlichen
Teammitgliedern inhaltlich gleich lautende Informationen bekommen. Hierzu ist
eine Gesprächskultur mit transparenten Kommunikationswegen erforderlich. Re-
gelmäßige Besprechungen (Fallbesprechungen) sind dabei unumgänglich. Eine Mög-
lichkeit im stationären Setting sind sogenannte »Sitzvisiten«: tägliche Besprechungen
des multidisziplinären Team im Gegensatz zur sonst üblichen alleinigen »Übergabe«
der Pflegekräfte bzw. alleinige Visiten des Arztes. Die fachspezifischen Sichtweisen
der einzelnen Professionen sollten dabei aufeinander abgestimmt werden.

2.3.1 Grundsätze der Teamkommunikation

Müller und Kern beschreiben unter anderem die folgenden drei Leitsätze [5]:
1. Alle Grundsätze, die bei der Kommunikation mit Patienten und Angehöri-
gen berücksichtigt werden sollen, gelten genauso für die Kommunikation inner-
halb des Teams. Hierin zeigt sich nicht nur die erlernte Technik der Gesprächsfüh-
16 Kapitel 2 · Interprofessionelle Teamarbeit als Ausgangspunkt für Palliativmedizin

. Tab. 2.1 Übersicht über Problemfelder in der Teamarbeit

2 Problem Lösungsmöglichkeit

Wenig gegenseitige Akzeptanz 4 Frühzeitiges Einbeziehen von Hauptamtlichen


zwischen hauptamtlichen und in die Qualifizierungskurse der Ehrenamtlichen
ehrenamtlichen Mitarbeitern 4 Gemeinsame Supervision im Arbeitsfeld
4 Gemeinsame Fortbildungen mit »gemischter
Gruppenarbeit«

Hierarchische Strukturen 4 Fairness und Respekt stehen an erster Stelle


werden von einzelnen Team- 4 Rollenklärung (Rollenselbstverständnis)
mitgliedern unterschiedlich 4 Offene Kommunikation
aufgefasst 4 Supervision im Gesamtteam

Mitarbeiter mit sehr unter- 4 Akzeptanz des lebenslangen Lernens aller


schiedlichem Hintergrund- Beteiligten
wissen und Berufserfahrung 4 Rücksicht von Routiniers gegenüber Neulingen
4 Kritik wird konkret und konstruktiv geäußert

Führungsanspruch der medi- 4 Die historisch entstandene hierarchisch-verti-


zinischen Disziplin kale Arbeitsweise wird durch eine horizontal
ausgerichtete ersetzt
4 Selbstreflektion des Arztes

Belastende Arbeits- 4 Gemeinsamer Versuch, die Bedingungen zu


bedingungen verbessern
4 Offener Umgang, wenn einzelne Mitglieder
«Burn-Out«-Symptome zeigen
4 Gemeinsames Feiern (z. B. Geburtstage)

Erwartung, zu allen Patienten/ 4 Offene Kommunikation im Umgang mit


Angehörigen eine »gleich unrealistisch hohen Ansprüchen [6]
gute« Beziehung zu haben 4 Vorbildfunktion erfahrener Kollegen
4 Regelmäßige Fortbildungen
4 Ethische Fallbesprechungen

rung, sondern vor allem die zugrunde liegende Haltung in der palliativen Versor-
gung. Hierzu gehören vor allem Empathie, Wertschätzung, Vertrauen, Respekt vor
anderen Ansichten (sowohl des Patienten, seiner Angehörigen als auch der Mitar-
beiter) und Ehrlichkeit.
2. Eine offene Kommunikation, in der persönliche Gefühle und Wahrneh-
mungen als solche frei geäußert werden können, führt zu gegenseitigem Vertrauen
und unterstützt das Zusammenwachsen des Teams. Hierbei gilt es ein gutes Emp-
finden für die Relevanz von Informationen für das Gesamtteam zu entwickeln.
2.5 · Rahmenbedingungen
17 2
3. Voraussetzung für eine gelingende Kommunikation im Palliativteam ist die
fortwährende Auseinandersetzung mit sich selbst, mit eigenen Erfahrungen und
Empfindungen im Zusammenhang mit Leiden, schwerer Krankheit, Sterben, Tod
und Trauer (innere Kommunikation).
Diese drei Aspekte werden ergänzt durch die Verständlichkeit, ohne die Kom-
munikation nicht gelingen kann. Sie ist eine Voraussetzung für das erfolgreiche
Gespräch zwischen Team und Patient bzw. Angehörigen.

2.4 Probleme und Lösungsmöglichkeiten

In der . Tab. 2.1 sind mögliche Problemfelder und Lösungsansätze aufgeführt.

2.5 Rahmenbedingungen

Neben all den »menschlichen« Voraussetzungen (u. a. Haltung und Wissen aller
Teammitglieder), die zum Gelingen einer interprofessionellen Teamarbeit zum
Wohle des Patienten und seiner Angehörigen beitragen, dürfen auch die »sach-
lichen« Rahmenbedingungen nicht außer Acht gelassen werden (Infrastruktur in
Form von Räumlichkeiten, Soft- und Hardware, Fahrzeugen, Refinanzierung durch
die Kostenträger usw.).

Zusammenfassung
Die exzellente Linderung der Symptome der Palliativpatienten und Probleme
ihrer Angehörigen ist zu komplex, als dass die Perspektive einer einzelnen
Disziplin für umfassende Lösungen ausreichen würde. Sie erfordert vielmehr
ein Team aus Pflegekräften, Ärzten, Sozialarbeitern, Psychologen, Physiothera-
peuten, Seelsorgern und anderen Disziplinen. Neben den hauptamtlichen
Mitarbeitern ist die Einbindung von ehrenamtlichen Mitarbeitern wichtig.
Interprofessionelle Zusammenarbeit…
…fördert das Verständnis und den Respekt für andere Disziplinen.
…verringert Ignoranz und Arroganz anderen gegenüber.
…bewirkt die erfreuliche Erweiterung der eigenen Sichtweise.
…trägt zur Persönlichkeitsbildung und Sozialentwicklung des Einzelnen bei.
…reiht nicht Fachwissen an Fachwissen, sondern entwirft neue Problem-
lösungen und Modelle.
…fördert Problemlösungen auf Augenhöhe und im Diskurs.
…setzt Konfliktbereitschaft voraus.
…fördert sämtliche kommunikativen Fähigkeiten.
6
18 Kapitel 2 · Interprofessionelle Teamarbeit als Ausgangspunkt für Palliativmedizin

Stimmt der Leser diesen Sätzen in einem ersten Durchgang mehrheitlich zu,
folgt die gemeinsame Überlegung, wie viel davon im eigenen palliativen Berufs-
2 alltag tatsächlich umgesetzt ist. [4]

Literatur
[1] Empfehlung 24 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten zur Strukturierung der
palliativmedizinischen und –pflegerischen Versorgung. Council of Europe (2003)
[2] Kaiser H, Kieseritzky K, Sittig H-B (2009) Kursbuch Palliative Care. Angewandte Palliativ-
medizin und –pflege. UNI-MED Science, Bremen
[3] Reckinger K, Duddek-Baier M (2009) Das Multiprofessionelle Team. In: Kloke M, Reckin-
ger K, Kloke O (Hrsg.) Grundwissen Palliativmedizin. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln
[4] Hess C, Hess-Cabalzar A (2006) Menschenmedizin. Für eine kluge Heilkunst. Suhrkamp,
Frankfurt
[5] Müller M, Kern M (2007) Kommunikation im Team. In: Aulbert E, Nauck F, Radbruch L
(Hrsg.) Lehrbuch der Palliativmedizin. Schattauer, Stuttgart
[6] Müller M et al. (2009) Wie viel Tod verträgt das Team? Eine bundesweite Befragung der
Palliativstationen in Deutschland. Schmerz 23:600-608
[7] Bausewein C, Roller S, Voltz R (2007) Leitfaden Palliativmedizin – Palliative Care. Urban &
Fischer, München
19 3
Der Mensch als sterbliches
Wesen und die Diversität
am Lebensende
Schnell, Schulz

3.1 Der Mensch zwischen Geburt


und Sterblichkeit – 20

3.2 Krankheit und Palliativmedizin – 22

3.3 Der sterbende Mensch im System


seiner Angehörigen – 26

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2_3, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
20 Kapitel 3 · Der Mensch als sterbliches Wesen und die Diversität am Lebensende

>>

Vor dem Hintergrund, dass Sterben und Tod in erster Linie keine medizinischen Sach-
verhalte sind, sondern Phänomene, die zum Leben gehören, erläutert dieses Kapitel,
wie der Mensch als Palliativpatient in Beziehung zu einem Arzt tritt.
3

3.1 Der Mensch zwischen Geburt und Sterblichkeit

In gewisser Hinsicht ist jeder Mensch ein Individuum. Anders als andere, ja unver-
gleichlich anders. Zugleich haben alle Menschen aber auch Gemeinsamkeiten, die
sie miteinander teilen. Nicht jeder hat zwei Arme oder Beine, Augen oder Haare,
aber alle Menschen sind geboren worden und alle Menschen sind sterblich.
Geburt bedeutet:
4 ein Organismus beginnt eigenständig zu leben, mit der Unterstützung durch
Eltern und andere Personen
4 das Hineingeworfen sein in eine Welt, die existiert und innerhalb derer eine
Sinnsuche beginnt
4 eine Zukunft, die durch Initiative gestaltet werden kann [1]
4 eine Perspektive für ein Kollektiv und seine Individuen. »Ich bin. Wir sind. Das
ist genug. Nun haben wir zu beginnen.« [2]

Der mit der Geburt initiativ werdende Mensch ist als leiblich-körperliches Wesen
geboren worden. Und das heißt: mit der Geburt ist die Sterblichkeit automatisch
beschlossen! Der Leib des Menschen altert nämlich, er kann nicht nur stark sein,
er ist auch hinfällig bis zum Faktum, dass er definitiv verfallen wird. Durch seinen
Leib hat der Mensch zugleich Potenzen, also Möglichkeiten, mit seinem Leben
etwas Besonderes zu realisieren und er hat das Faktum der Endlichkeit auf sich zu
nehmen [3]. Das Ende jeglicher mit der Geburt gesetzten Initiativkraft ist der Tod.
Den Zusammenhang zwischen Geburt und Sterblichkeit bildet das menschliche
Zeitbewusstsein. Wer geboren wurde, erwartet in einer zunächst noch unbestimm-
ten Zukunft seinen Tod!
Wie soll man mit der Endlichkeit leben? Einerseits gilt es, sein Leben zu gestal-
ten, andererseits wartet am Ende aller Mühe der Tod, der aller Gestaltung ein Ende
setzt. Mit dieser Konstellation beschäftigt sich der Existentialismus.
Der Schriftsteller Albert Camus, der dem Existentialismus angehört, bezeichnet
die grundsätzliche Konstellation als absurd. Die Absurdität unserer Situation muss
nicht zwangsläufig zu einer Ausweglosigkeit in der Gestaltung des eigenen Lebens,
des eigenen Selbst, führen. Jedoch ist das Wissen um unsere Endlichkeit nicht abzu-
weisen. Dieses Wissen kann seinerseits Angst in uns auszulösen; eine Angst, deren
Bewegkraft die Auflösung des Selbst, die ultimative Annihilation, ist.
3.1 · Der Mensch zwischen Geburt und Sterblichkeit
21 3
Der amerikanische Regisseur Woody Allen lässt hierzu eine Hauptperson in
einem seiner Filme sagen: »Oh, ich will nicht im Herzen meiner Freund überle-
ben, sondern in meinem Apartment!« Dieser Wunsch verweist auf die grundsätz-
liche Möglichkeit, individuell mit dem Faktum einer möglichen Todesfurcht um-
zugehen [4].
Bereits vor über 100 Jahren wies der Psychoanalytiker und Arzt Sigmund Freud
darauf hin, dass der Mensch seine Sterblichkeit verdrängen würde (und dies auch
tue), um möglichst unbelastet leben zu können und nicht permanent an Sinnlosig-
keit und Selbstmord denken zu müssen. Damit ist eine individuelle Haltung der
Person gegenüber ihrer eigenen Endlichkeit gemeint und nicht gesagt, dass eine
ganze Gesellschaft Fragen des Alters und der Todes aus der öffentlichen Aufmerk-
samkeit ausblenden solle! Man kann sehr wohl individuell seine eigene Sterblich-
keit im Alltag unbeachtet lassen und sich zugleich für Fragen der medizinischen
Versorgung von Patienten am Lebensende engagieren!
Der Psychoanalytiker Otto Rank hat sich mit der Relevanz und Anwendung
dieser Fragen auf die ärztlich-psychotherapeutische Praxis befasst. Der von Ranks
Existenzanalyse beeinflusste Sozialanthropologe Ernest Becker wies auf die Un-
erträglichkeit der permanenten Auseinandersetzung mit Todesangst hin, um
zu erklären, wie wir uns gegen die doch reichlich unangenehme und unlustvolle
Erkenntnis unserer Endlichkeit schützen. Die in der existentiellen Psychologie
und Existenzanalyse entstandene Überlegung lässt sich wie folgt zusammen-
fassen:
Wenn mir auch als Mensch meine körperliche Vergänglichkeit gegeben und
unabwendbar ist, so kann ich als Teil einer kulturellen Weltanschauung doch im-
merhin symbolisch unsterblich sein!
Jeder Mensch kann die grundsätzliche Unabwendbarkeit der Sterblichkeit ver-
stehen und muss sie aushalten. Aber durch die Entwicklung einer kulturellen Welt-
anschauung, einer Sicht auf die Welt, die von anderen Mitgliedern einer Gruppe
geteilt wird, kann der Existenz ein verallgemeinerter Sinn gegeben und damit
die Angst reduziert werden. Durch symbolische Immortalität werde ich selbst Teil
einer Gemeinschaft, die auch über meinen individuellen Tod hinaus Bestand hat.
Der Psychiater Robert Jay Lifton beschrieb fünf Modi, mit denen Menschen
versuchen symbolische Immortalität zu erreichen:

Modi der symbolischen Immortalität


1. Der biologische Modus (Weiterleben durch die eigenen Nachkommen).
2. Der theologische Modus (religiöser Glaube über die Jenseitigkeit des Tod;
meist: Auferstehung oder Reinkarnation).
6
22 Kapitel 3 · Der Mensch als sterbliches Wesen und die Diversität am Lebensende

3. Der kreative Modus (Immortalität durch das Erschaffen überdauernder


Kunstwerke).
4. Das Thema der ewigen Natur (Überleben durch die Verbindung mit der
Natur).
3 5. Der experientiell-transzendente Modus (Immortalität durch Sinnbildung,
die über das eigene, lebendige Selbst hinausgeht; die Fähigkeit eine
Balance zwischen existentieller Angst und Hingabe und Liebe zu finden).

Wenn ein Mensch im Laufe seines Lebens mehrere dieser Modi gleichzeitig und/
oder in unterschiedlichen Kombinationen realisiert, hat er eine Möglichkeit gefun-
den, mit der Absurdität der Existenz positiv zu leben.
Für die Palliativmedizin ist es wichtig, diese Modi zu kennen, da sie Aufschluss
darüber geben, welche Art der Begleitung die größte stabilisierende Auswirkung
auf den Patienten hat. Aber auch die Kenntnis der eigenen symbolischen Überzeu-
gungen ist notwendig, um eine professionelle Haltung gegenüber dem Sterben
und dem Tod entwickeln zu können. In der Beziehung zwischen Arzt und Patient
kommt es somit darauf an, dass beide – Arzt und Patient – ihre Modi der symbo-
lischen Immortalität aufeinander abstimmen.
! Endlichkeit, Angst, Absurdität, symbolische Immortalität – diese und
andere von der Existenzialität herrührenden Aspekte findet der Arzt
vor, so bald er sich einem Menschen, der zum Patienten geworden ist,
zuwendet. Diese Aspekte müssen sich Arzt und Behandlungsteam ver-
deutlichen, um den Patienten verstehen zu können.

3.2 Krankheit und Palliativmedizin


Palliativpatient
Wenn ein sterbender Mensch sich über seine Sterblichkeit hinaus als krank
empfindet und die Krankheit als Leidensdruck durch Symptome artikuliert,
wird er vom sterbenden Menschen zum Palliativpatienten, der unserer Behand-
lung und Begleitung bedarf. Dies gilt auch, wenn der Leidensdruck des Patien-
ten durch seine bevollmächtigten Vertreter artikuliert wird.

Die palliativmedizinische Behandlung und Begleitung eines Patienten, die Linde-


rung seiner Symptome geschieht an einem Punkt, an dem Endlichkeit und
Sterblichkeit auf den individuellen Tod eines Menschen hinauslaufen. Die Sterb-
3.2 · Krankheit und Palliativmedizin
23 3
lichkeit macht grundsätzlich alle Menschen gleich, da jeder sterben muss.
Zugleich verweist die Sterblichkeit einen jeden auf etwas, das zu ihm gehört und
von ihm nicht abgelöst werden kann. »Keiner kann dem Anderen sein Sterben
abnehmen.« [5] Alles – mein Eigentum, meine Heimat, meine Überzeugungen,
mein Aussehen kann verändert oder von mir abgelöst werden. Das Sterben aber
nicht!
Wenn sich die Sterblichkeit konkretisiert und damit zur Frage des Todes führt,
rückt sie aus der Anonymität der Tatsache, dass jeder Mensch sterben muss, in den
Vordergrund.

»Der Tod beansprucht … das Dasein als einzelnes.« [5]

Jetzt wird mir am eigenen Leibe deutlich, dass es um mich geht! Um meinen Tod,
der nun zu etwas Besonderem wird. Nicht irgendeiner, sondern ich bin gemeint.
Mein Nachbar kann weiter leben, ohne auf seine Endlichkeit achten zu müssen. Das
konnte ich früher auch. Jetzt nicht mehr.

Diversität
Wenn ein Patient vom Tod beansprucht wird, ist er aus der Gemeinschaft derer,
die lebendig sind, indem sie ihre Endlichkeit verdrängen, herausgelöst. Der
Arzt und das Behandlungsteam leben indes, ohne sich mit ihrer persönlichen
Sterblichkeit dauerhaft bewusst befassen zu müssen. Der palliativmedizini-
schen Behandlung und Begleitung von Patienten am Lebensende liegt eine
Diversität zugrunde.

! Es gehört zur Professionalität der in der Palliativversorgung tätigen


Mediziner, Therapeuten und Pflegenden, die Diversität nicht zu miss-
achten, sondern ihr gegenüber eine Haltung auszubilden.

Peter Noll, ein Jurist aus Zürich, beginnt kurz nach seiner Krebsdiagnose damit, ein
Tagebuch zu verfassen. In diesem Tagebuch beschreibt er aus Sicht des Patienten,
was unter Diversität zu verstehen ist.

»Das Gespräch zwischen einem, der weiß, dass seine Zeit bald abläuft, und einem,
der noch eine unbestimmte Zeit vor sich hat, ist sehr schwierig. Das Gespräch
bricht nicht erst mit dem Tod ab, sondern schon vorher. Es fehlt ein sonst still-
schweigend vorausgesetztes Grundelement der Gemeinsamkeit … Auf beiden
Seiten wird viel Heuchelei verlangt. Darum auch die gequälten Gespräche an den
Spitalbetten. Der Weiterlebende ist froh, wenn er wieder draußen ist, und der Ster-
benden versucht zu schlafen.« [6]
24 Kapitel 3 · Der Mensch als sterbliches Wesen und die Diversität am Lebensende

Dieses Zitat von 1978 aus dem Mund eines Patienten mag für einen Arzt und auch
einen Studierenden sehr hart klingen. Sicherlich steht es nicht für alle Patienten der
Palliativmedizin und es haben sich seither die kommunikativen Kompetenzen von
Medizinern verbessert, so dass ein Arzt heute nicht mehr einfach heucheln und
dem Sterbenden in unverantwortlicher Weise versichern würde, dass er wisse, wie
3 der Sterbende sich fühle. Dennoch ist die Aussage von Peter Noll wertvoll, da sie
zeigt, was es heißt, dass der eine, der Patient, vom Tod, nämlich von seinem Tod als
einzelner in Anspruch genommen ist [5], während der andere, der Arzt, an dieser
Erfahrung nicht teilhaben kann. Die Gemeinsamkeit, wie Noll sie nennt, also die
gemeinsame Ausrichtung auf die Welt fehlt. In diese Diversität sind der Arzt und
das Behandlungsteam gestellt und sie versuchen mit dem Patienten zu kommuni-
zieren, ihn zu begleiten und zu behandeln. Arzt und Team müssen dazu eine pro-
fessionelle Haltung ausbilden.
Diversität in der Palliativmedizin hat aus der Sicht des Arztes verschiedene
Komponenten:
4 Die Diversität liegt im Phänomen des Lebensendes selbst: der Andere kommt
zu seinem Ende, ich selbst als Arzt gerate dadurch in die Position des Überle-
benden im Zeichen des Abschieds.
4 Der Abschied nimmt verschiedene soziale, kulturelle, religiöse, ethisch ge-
prägte Formen an.
4 Der Arzt trifft in der Begleitung des Patienten auf weitere Personen.

Diversität am Lebensende
Diversität am Lebensende ist die Asymmetrie zwischen dem überlebendem
Begleiter des Patienten und dem sterbenden Patienten selbst. Dieser Situation
gegenüber müssen der Arzt und die Mitglieder des Behandlungsteams, die Be-
gleiter des Patienten sind, eine professionelle Haltung ausbilden.

Eine professionelle Haltung gegenüber der Diversität am Lebensende beinhaltet,


dass sich der Heilberufler selbstreflexiv mit seinem eigenen Umgang mit Tod und
Sterben auseinandersetzt und dadurch eine »Diversitätskompetenz am Lebens-
ende« [7] ausbildet.

Fragen zur Reflexion der eigenen Haltung zu Sterben und Tod


4 Welche persönlichen Erfahrungen habe ich mit dem Tod?
4 Welche Vorstellung habe ich vom Sterben und dem Sterbeprozess?
4 Was halte ich für einen »guten Tod«?
6
3.2 · Krankheit und Palliativmedizin
25 3

4 Wie stelle ich mir mein eigenes Sterben vor?


4 Wovor hätte ich am meisten Angst?
4 Was wäre mir am wichtigsten?
4 Welche Gedanken habe ich zu dem, was nach dem Tod ist?
4 Welche kulturellen Einflüsse prägen mein Verständnis von Sterben und
Tod?
4 Welchen Modus symbolischer Unsterblichkeit kann ich an mir derzeit am
besten nachvollziehen?

Die Beantwortung dieser Fragen ist notwendig, um eine professionelle Haltung in der
palliativmedizinischen Begleitung von Patienten einnehmen zu können. Arzt, Thera-
peuten und Pflegende sind ihrerseits mit einer je eigenen Endlichkeit konfrontiert.
Elemente einer gelungenen Haltung zu Tod und Sterben können bereits im
Medizinstudium eingeübt werden.
ä Ein Medizinstudent führte im Rahmen seiner Kommunikationsausbildung im
Medizinstudium fünf Interviews mit einem Sterbenden, der sich im Rahmen
des Real-Patienten-Kontakts (7 Kap. 7) zu Gesprächen mit Studierenden bereit
erklärt hatte. In einem Interview, das nach der 2-monatigen Begleitungsphase
von uns geführt wurde, spricht der Patient über die Haltung des Medizinstudie-
renden:

»Sie haben mich gefragt, wie das mit dem Studenten ist, der hier war, der
Student (räuspert sich) der mich von Anfang an hier na nicht begleitete aber
sehr ... übermenschliche Züge aufwies ... das hat mich sehr bewegt ... der war
dieser junge Mann war wirklich berührt von meinem Schicksal und hat nicht
irgendwo irgendetwas sich aus den Fingern gesaugt und dann mir vorgespielt
und das ist das was mich so sehr daran erfreut hat das es Menschen gibt, die
sich für andere einsetzen und sie verstehen und versuchen wo möglich zu
helfen auf dem psychologischen Wege.« (weint, Stimme sehr zittrig)

Wenn eine Auseinandersetzung mit der Diversität zwischen Arzt und Patient in
der Palliativmedizin nicht stattfindet, kann die Begleitung des Patienten misslingen.
Wenn Sterben und Tod nicht angesprochen werden können oder dürfen, oder die
damit verbundenen Emotionen als unprofessionelle Reaktionen fehlverstanden
werden, dann wird die Begegnung am Lebensende unerträglich. Dieses Lehrbuch
macht sich zur Aufgabe einen Weg zur professionellen Haltung im Umgang mit
Sterben und Tod aufzuzeigen.
Medizinstudenten begegnen Sterben und Tod im klinischen Kontext bereits
während des Studiums. Die Art und Weise, wie der erste Patiententod erlebt wird,
26 Kapitel 3 · Der Mensch als sterbliches Wesen und die Diversität am Lebensende

hat eine große Auswirkung auf die Entwicklung des eigenen Rollenverständnisses
und dem Umgang mit der erlebten Diversität. Medizinstudenten erinnern sich
meist intensiv an ihre Erfahrungen mit verstorbenen Patienten. Wenn das Behand-
lungsteam die Betroffenheit und Fragen des Studierenden aufnehmen und be-
sprechen kann, wird dem Studierenden die Chance eröffnet, eine professionelle
3 Haltung zu entwickeln.

3.3 Der sterbende Mensch im System


seiner Angehörigen

Eine Diversitätserfahrung beinhaltet auch, dass Arzt und Patient nicht einsam und
allein miteinander umgehen. Eine Mitgegenwart weiterer Personen ergibt sich aus
dem Faktum Angehöriger. Ein Patient hat eine Familie und Freunde! Zudem findet
das Leben des Patienten – wie das eines jeden Menschen innerhalb eines kulturellen
Kontextes statt. Zur Diversität zählt auch eine Erfahrung kultureller Diversität.
Patienten mit Migrationshintergrund werden oft auf andere Weise von ihrer Fami-
lie umsorgt als wir es deutschen Patienten gegenüber erleben.
Die WHO (World Health Organisation) hat 2002 die Bedeutung der Familie
für einen Patienten anerkannt. Sie versteht Palliative Care als:
4 einen Ansatz zur Verbesserung von Lebensqualität von Patienten und deren
Angehörigen, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind
4 einen Ansatz der Prävention und Linderung von Leid in physischer, psycho-
sozialer und spiritueller Hinsicht
4 einen Ansatz, in dessen Mittelpunkt die interprofessionelle Kommunikation
eines Teams mit Patient und Angehörigen steht

Die Angehörigen eines Patienten haben einen eigentümlichen Status. Es sind Men-
schen, die nicht durch sich selbst definiert sind, sondern durch ihren Bezug zu je-
mand anderem. »Das ist die Frau von Herrn Meier.« Frau Meier ist auch eine eigen-
ständige Person, aber im Bereich der Gesundheitsversorgung tritt die Tatsache
hervor, dass sie auf jemanden bezogen ist, nämlich auf ihren Mann, den Patienten
Herrn Meier.
Angehörige sind für Patienten wichtig, da sie deren Verbindung in das »nor-
male Leben« außerhalb der Krankheit darstellen. Zugleich sind Angehörige durch
die Krankheit des Patienten zwar nicht selbst erkrankt, aber doch mit betroffen, da
der gesamte Lebensentwurf der Familie in Mitleidenschaft gezogen ist.
Angehörige einzubeziehen in die Begleitung eines Patienten ist laut WHO eine
wichtige Aufgabe des Arztes und des Behandlungsteams.
3.3 · Der sterbende Mensch im System
27 3
Zusammenfassung
Der geborene Mensch ist ein leibliches Wesen, das gleichermaßen Möglichkeiten
hat, sein Leben zu verwirklichen und das dabei dennoch sterblich ist. Ein Leben
mit der Sterblichkeit beruht in Zeiten der alltäglichen Gesundheit auf einer Ver-
drängung der Endlichkeit.
Der Tod nimmt jeden individuell in Anspruch. Wenn ein Mensch zum Pa-
tienten wird, tritt eine Diversität in den Mittelpunkt. Diversität am Lebensende
ist die Asymmetrie zwischen dem überlebendem Begleiter des Patienten und
dem sterbenden Patienten selbst. Dieser Situation gegenüber müssen der Arzt
und die Mitglieder des Behandlungsteams, die Begleiter des Patienten sind,
eine professionelle Haltung ausbilden.
Die Ausbildung einer professionellen Haltung beinhaltet einen selbstrefle-
xiven Umgang mit Tod und Sterben. Diese Haltung und spezielles palliativ-
medizinisches Wissen sind eine Voraussetzung für eine gute Begleitung eines
sterbender Menschen an dessen Lebensende.
Im Zentrum der Palliativmedizin stehen der Mensch am Lebensende, seine
Angehörigen, Ärzte, Pflegende, das Team und andere Begleiter. Professionelle
Begleitung am Lebensende kann während des Studiums eingeübt werden.

Literatur
[1] Schnell M W (2004) Art. Geburt. In: Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe.
Meiner, Hamburg
[2] Bloch E (1964) Geist der Utopie. Suhrkamp, Frankfurt
[3] Schnell M W (2004) Leib. Körper. Maschine. Verlag Selbstbestimmtes Leben, Düsseldorf
[4] Schulz C, Schnell M W (2009) Angst – Motor und Bremse am Lebensende. pflegen:
palliativ 3:40-45
[5] Heidegger M (1979) Sein und Zeit. Niemeyer, Tübingen
[6] Noll P (1984) Diktate über Sterben und Tod. Pendo, Zürich
[7] Schulz C, Karger A, Schnell M W (2010) Diversitätskompetenz am Lebensende. In: Keuk G
van, Joksimovic D (Hrsg.) Diversität. Transkulturelle Kompetenz in klinischen und sozia-
len Arbeitsfeldern. Kohlhammer, Stuttgart
29 II

Der Patient und


seine Symptome
Kapitel 4 Testinstrumente in der
Palliativmedizin – 32
Bausewein, Simon, Schulz

Kapitel 5 Grundlagen des Symptom-


managements – 40
Bausewein, Rémi

Kapitel 6 Symptome in der Palliativmedizin – 53


Rogusch, Schulz, Schmitz, Zehnder-Kiworr,
Bausewein, Rémi, Simon, Fegg, Feddersen,
Meister, Steudter, Galgan, Dietz, Schildmann
»Wieso musste ich so viel Schmerzen aushalten, wieso hat mir der Arzt nicht geglaubt?
Wieso musste ich so leiden, bevor ich hierher (auf die Palliativstation) kam?«
Aus einem Gespräch mit einer Palliativpatientin

I: Frau (Name), wenn Sie zurückdenken, die Zeit, bevor Sie im Krankenhaus auf-
genommen wurden, wie wichtig ist es davon zu wissen, wenn man Sie als junger Arzt
kennenlernt?

P: Ich konnte nicht atmen, ich konnte nicht sitzen, ich konnte nicht stehen, nicht liegen,
gar nichts mehr. Ich wusste mir keinen Rat. Ich habe jede drei Stunden 40 Tropfen
Tilidin geschluckt. Und Novalgin geschluckt. Und ich habe schon gemixt alles, weil ich,
ich habe gesagt, entweder werde ich Junkie und werde so das weiter leben, oder ich
wusste nicht, kein Rat mehr, weil kein Arzt wollte mir helfen. Wäre ich hier nicht nach
(Stadt) gekommen und hier nicht in die Klinik, ich weiß nicht, ob ich heute noch leben
würde. Ich war schon mit Selbstmordversuch am Gedanken. (weint) Und ich habe
zwischendurch schon nachgedacht, du springst einfach vom Balkon runter. (...) Also
der Weg bis hier her, dass ich hier her gekommen bin, war ziemlich, also ziemlich
schwerer Weg.

P: Da ich erfahren habe, dass ich im vierten Stadium Krebs bin, habe ich gesagt, na
gut, musst du dich verabschieden von dem Leben. Also die begleiten dich einfach nur
dabei. Aber das stimmt gar nicht, ne? Mich hat das mehr ermutigt und weiter zu
kämpfen, ne? Und ich habe gemerkt, also wenn ich Probleme hatte, ich konnte auch
mit der Frau Doktor und mit euch allen über alles reden. Und wir haben immer eine
Lösung gefunden.
32 4
Testinstrumente
in der Palliativmedizin
Bausewein, Simon, Schulz

4.1 Typen von Testinstrumenten – 33

4.2 Gütekriterien von Testinstrumenten – 34

4.3 Testinstrumente – 35

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2_4, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
4.1 · Typen von Testinstrumenten
33 4
>>

Testinstrumente werden im Gesundheitswesen, so auch in der Palliativmedizin, zu-


nehmend verwendet, um »Outcomes« zu messen. Der Zustand des Patienten, seine
Symptome oder andere Palliativbedürfnisse werden zu Beginn der Betreuung und
dann im Verlauf erhoben, um die Veränderungen zu beurteilen.

Outcome
Ergebnisqualität (»Outcome«) ist die Veränderung im aktuellen oder zukünf-
tigen Gesundheitszustand eines Patienten, die auf die vorausgehende medizi-
nische Betreuung zurückgeführt werden kann.
Zur Beurteilung der Qualität der Betreuung sind neben der Ergebnisquali-
tät auch Struktur- und Prozessqualität von Bedeutung.

Das Messen von »Outcomes« in der Palliativmedizin hilft:


4 Symptome und andere Bedürfnisse des Patienten sowie der Angehörigen ein-
zuschätzen
4 Veränderungen in der Lebensqualität zu messen
4 Kommunikation mit Patienten und Angehörigen zu fördern
4 bei der Entscheidungsfindung
4 die Effektivität einer Behandlung oder Intervention zu beurteilen
4 die Betreuung von Patienten und Angehörigen zu verbessern

4.1 Typen von Testinstrumenten

4.1.1 Allgemeine Testinstrumente

Allgemeine Testinstrumente beinhalten körperliche, psychische und soziale Kom-


ponenten, um z. B. Lebensqualität bei unterschiedlichen Patientengruppen oder
Erkrankungen zu messen. Viele dieser allgemeinen Testinstrumente spiegeln die
Situation von Patienten am Lebensende nicht ausreichend wider.

4.1.2 Spezifische Testinstrumente

Spezifische Testinstrumente sind für spezielle Patientengruppen, Symptome oder


Situationen entwickelt. Für die Palliativbetreuung wurden einige spezifische Test-
instrumente entwickelt, z. B. die Palliative Care Outcome Scale (POS) oder die
Hospiz-und Palliativerfassung (HOPE).
34 Kapitel 4 · Testinstrumente in der Palliativmedizin

4.1.3 Eindimensionale Testinstrumente

Eindimensionale Testinstrumente messen nur eine Dimension, also z. B. die Stärke


eines Symptoms oder die Belastung durch eine Situation.

4.1.4 Mehrdimensionale Instrumente


4
Mehrdimensionale Testinstrumente decken entweder verschiedene Dimensionen
eines Symptoms ab, z. B. die Stärke des Symptoms, die Beeinflussung des Alltags
durch das Symptom und die psychische Belastung. Oder das Testinstrument be-
inhaltet mehrere Symptome und andere Betreuungsaspekte.

4.2 Gütekriterien von Testinstrumenten

Die Qualität eines Testinstrumentes wird mit verschiedenen Gütekriterien beschrie-


ben, die im Rahmen der Entwicklung eines Testinstrumentes überprüft werden
müssen.
! Es sollten nur solche Testinstrumente verwendet werden, die ausrei-
chende Gütekriterien besitzen.

jValidität
Validität beschreibt, ob das Testinstrument das misst, was es messen soll. Wenn
ein Testinstrument z. B. die Qualität der Betreuung messen soll, dürfen nicht nur
Fragen nach Symptomen enthalten sein, sondern auch solche nach erhaltenen In-
formationen, Kommunikation usw.

jReliabilität
Reliabilität beschreibt die Zuverlässigkeit, mit der ein Testinstrument ein bestimm-
tes Merkmal misst, z. B., ob es unterschiedliche Ergebnisse bei wiederholter Mes-
sung gibt oder ob sich die Ergebnisse sehr verändern, wenn unterschiedliche Inter-
viewer den Patienten befragen.

jEmpfindlichkeit für Veränderungen


Wenn ein Testinstrument das Ansprechen auf eine Therapie oder andere Verände-
rungen messen soll, muss getestet werden, ob sich die Veränderungen in den erho-
benen Werten widerspiegeln.
4.3 · Testinstrumente
35 4
4.3 Testinstrumente

Es gibt eine Vielzahl von Testinstrumenten, die in der Palliativmedizin angewendet


werden. Im Folgenden werden einige Instrumente beispielhaft genannt, die häufig
Anwendung finden.

4.3.1 Numeric Rating Scale (NRS), Visual Analogue Scale (VAS)

Die Numeric Rating Scale (NRS) und die Visual Analogue Scale (VAS) sind eindimen-
sionale Testinstrumente. Beide Instrumente verwenden in der Analyse eine Skala von
0–10 bzw. von 0–100. Dabei führt die NRS in der Abfrage schon die numerische Skala
von 0–10 bzw. von 0–100 auf. Dagegen fragt die VAS mit Hilfe einer Skalenleiste ohne
Angabe von Zahlen den Parameter ab (z. B. mit einem Kreuz auf einer Leiste) und
ermittelt anschließend erst in der Analyse den numerischen Wert (z. B. mittels cm-Ab-
messung auf einer 10-cm-Leiste). Das Resultat wird also bei beiden mittels eines nume-
rischen Wertes angegeben. Die Endpunkte oder »Anker« der VAS/NRS müssen klar
benannt werden, z. B. 0 = »überhaupt keine Schmerzen«, 10 = »die am stärksten vor-
stellbaren Schmerzen«. Die Bezeichnung der Anker kann dabei variieren.
Die NRS und VAS finden in der Palliativmedizin eine sehr breite Anwendung
und man kann nahezu jeden Parameter mit diesen Instrumenten quantifizieren. Die
häufigste Anwendung ist die Angabe der Schmerzstärke auf einer NRS/VAS von
0–10. Aber auch andere Symptome, wie Atemnotintensität oder Stärke von Übelkeit,
werden durch eine NRS/VAS bestimmt. Darüber hinaus können auch komplexe
Parameter, wie z. B. Zufriedenheit, Lebensqualität oder allgemeine Belastung mit
Hilfe der NRS/VAS ermittelt werden. Die NRS/VAS kann sowohl als Fremd- wie
auch als Selbsteinschätzungsinstrument angewendet werden . Abb. 4.1.
Die Vorteile der NRS und VAS sind die einfache Handhabung, die breite und
nahezu universelle Anwendung und die einfache Ergebnisverwendung durch die
Reduktion häufig komplexer und multidimensionaler Situationen auf einen nume-
rischen Wert (z. B. Angabe der Zufriedenheit mit NRS 6). In dieser Reduktion liegt
gleichfalls der Nachteil dieser Instrumente, da sich die Komplexität der Parameter
nicht in der Angabe eines numerischen Wertes angemessen widerspiegeln lässt.

4.3.2 Karnofsky Performance Status (KPS),


Palliative Performance Status (PPS) und ECOG
(Eastern Cooperative Oncology Group)

Der Funktionsstatus ist ein wichtiger Prädiktor (Einflusswert) in der Palliativme-


dizin für die Abschätzung der Prognose in der Endphase einer lebenslimitierenden
36 Kapitel 4 · Testinstrumente in der Palliativmedizin

. Abb. 4.1 Numeric rating scale (NRS) und Visual Analogue Scale (VAS)

Erkrankung. Der Karnofsky Performance Status (KPS), seine Adaption Palliative


Performance Status (PPS) und der ECOG Funktionsstatus (Eastern Cooperative
Oncology Group) sind die 3 Testinstrumente, die am häufigsten zur Bestimmung
des Funktionsstatus verwendet werden. Alle 3 Instrumente sind Fremdeinschät-
zungsskalen.
Der KPS wird seit 1948 vor allem in der Onkologie eingesetzt und stützt sich
auf die 3 Dimensionen: Aktivität des Patienten, Arbeitsfähigkeit und Möglichkeit
der Selbstversorgung bzw. Abhängigkeit von fremder Hilfe. Die Skala wird in nume-
rischen Werten von 0–100 % in 10er Schritten angegeben, von 0 % (Tod) bis 100 %
(keine Anzeichen einer Krankheit). 1996 wurde in Kanada eine Adaption des KPS
für die Palliativmedizin entwickelt (PPS). Die 2007 aktualisierte Version des PPS
findet international Verwendung und wird ebenfalls zur Einschätzung des Funk-
tionsstatus und zur Prognoseabschätzung eingesetzt [1].
Der ECOG wurde 1982 von einer Forschungsgruppe für klinische Studien erst-
mals publiziert und vor allem in der Onkologie angewendet. Der ECOG verwendet
2 Dimensionen: Aktivität des Patienten und Arbeitsfähigkeit. Die Skala verwendet
ganzzahlige numerische Werte von 0 (volle Aktivität) bis 5 (Tod) . Tab. 4.1.
Die Instrumente KPS, PPS und ECOG sind mehrdimensionale Skalen. Die
Vorteile dieser Instrumente sind die einfache Handhabung in der Anwendung nur
einer Skala und die hohe Aussagekraft des Ergebniswertes. Ein Nachteil ist die
manchmal schwierige Einstufung, dass mehrere Dimensionen in einer Zeile aufge-
führt werden und nicht alle immer zutreffen.
4.3 · Testinstrumente
37 4

. Tab. 4.1 Karnofsky Performance Status und ECOG

Karnofsky ECOG Bedingung


in %

100 % ECOG = 0 Keine Beschwerden, keine Zeichen der Krankheit

90 % ECOG = 0 Fähig zu normaler Aktivität, kaum oder geringe Symp-


tome

80 % ECOG = 1 Normale Aktivität mit Anstrengung möglich, deutliche


Symptome

70 % ECOG = 1 Selbstversorgung, normale Aktivität oder Arbeit nicht


möglich

60 % ECOG = 2 Einige Hilfestellung nötig, selbständig in den meisten


Bereichen

50 % ECOG = 2 Hilfe und medizinische Versorgung wird oft in Anspruch


genommen

40 % ECOG = 3 Behindert, qualifizierte Hilfe benötigt

30 % ECOG = 3 Schwerbehindert, Hospitalisation erforderlich

20 % ECOG = 4 Schwerkrank, intensive medizinische Maßnahmen erfor-


derlich

10 % ECOG = 4 Moribund, unaufhaltsamer körperlicher Verfall

0% ECOG = 5 Tod

4.3.3 Palliative Outcome Scale (POS)

Die Palliative Outcome Scale (POS) ist ein mehrdimensionales und spezifisches
Messinstrument zur Untersuchung der Bedürfnisse von Palliativpatienten. Die
POS ist ein kurzes, für die klinische Anwendung gut geeignetes Instrument mit
10 geschlossenen Fragen zu körperlichen Symptomen, sowie emotionalen, sozialen
und spirituellen Bedürfnissen. Sie verwendet als Antwortkategorien eine Skala
von 0 (nein, gar nicht) bis 4 (außerordentlich stark). Zusätzlich wird in einer letz-
ten, offenen Frage nach den Hauptbeschwerden gefragt und eine Möglichkeit zur
freien Antwort und individuellen Gewichtung gegeben. Neben der Patientenver-
sion (Eigeneinschätzung) liegt auch eine Angehörigen- bzw. Betreuer-Version vor
(Fremdeinschätzung), die es ermöglicht, auch bei Patienten, die einen Fragebogen
38 Kapitel 4 · Testinstrumente in der Palliativmedizin

nicht mehr selbst ausfüllen können (z. B. wegen fortgeschrittener Erkrankung oder
Demenz) eine Bedürfniseinschätzung vorzunehmen.
Die POS wurde 1999 in England zunächst für Krebspatienten entwickelt, wird
aber inzwischen weltweit in vielen Einrichtungen und Studien bei verschiedenen
Patientengruppen eingesetzt [2]. Es gibt auch eine validierte deutsche Übersetzung
der POS, so dass die sie auch in Deutschland Anwendung findet [3].
4
4.3.4 HOPE (Hospiz- und Palliativ-Erfassung)

Die Hospiz- und Palliativerfassung (HOPE) ist eine in Deutschland landesweit


durchgeführte prospektive Erhebung zur Qualitätssicherung in der Palliativmedi-
zin, an der Palliativstationen, Hospize, onkologische Abteilungen, Konsildienste
und ambulante palliativärztliche und –pflegerische Dienste seit 1999 im jährlichen
Rhythmus teilnehmen. HOPE ist ein modulares Erfassungssystem durch Verwen-
dung eines Basisbogens, sowie optionaler zusätzlicher Testinstrumente.
Der Basisbogen ist ein Fremdeinschätzungsinstrument und gliedert sich in
mehrere Blöcke: u. a. demografische Angaben zum Patienten, Diagnosen, Behand-
lungsort, Funktionsstatus, Symptome und Probleme, Medikation und Maßnah-
men, Beurteilung der Behandlung, Therapieende. Die Bewertungsskalen der Prob-
leme und Symptome sind kategorial (keine, leicht, mittel, schwer) und sollen
wöchentlich, mindestens jedoch am Beginn und Ende einer Behandlungsphase
bestimmt werden. HOPE wird überwiegend als kontinuierliche Patientenerfassung
in Institutionen und Versorgungseinheiten (v. a. Palliativstationen) angewendet.
Zusätzlich zum Basisbogen können weitere Module optional eingesetzt wer-
den: z. B. zur ethischen Entscheidungsfindung, Prognose, Antibiotikatherapie oder
Spiritualität. Das ebenfalls zugehörige Testinstrument MIDOS (Minimales Doku-
mentationsprogramm für Palliativpatienten) ist ein Selbsteinschätzungsinstru-
ment, welches vom Patienten selbst ausgefüllt wird und 7 Symptome und das Be-
finden abfragt.

4.3.5 Palliative Prognostic Score (PaP-S)


und Palliative Prognostic Index (PPI)

Beide Instrumente dienen zur Einschätzung der kurzfristigen Überlebenszeit von


Palliativpatienten. Das PaP-S-Instrument wurde in Italien aus einer Multivarianz-
analyse von 36 klinischen und biologischen Variablen entwickelt und errechnet
einen Summenwert (0–17.5) aus den einzelnen relevanten Faktoren (KPS-Sum-
menwert, Anorexie, Dyspnoe, hoher Leukozytenwert, niedriger Lymphozytenan-
teil, klinische Prognoseeinschätzung). Der PaP-Score kategorisiert Patienten in
4.3 · Testinstrumente
39 4
eine von 3 prognostischen Gruppen mit hoher (>70 %), mittlerer (30–70 %) oder
niedriger (<30 %) Wahrscheinlichkeit, die nächsten 30 Tage zu überleben.
Der PPI erweitert die Prognoseaussage des PPS (7 Abschn. 4.3.2) um 4 weitere
Faktoren (Delirium, Dyspnoe in Ruhe, orale Nahrungsaufnahme, Ödeme) und
errechnet einen Summenwert, mit dem die Überlebenswahrscheinlichkeit in die
Gruppen kleiner 3 Wochen, kleiner 6 Wochen, mehr als 6 Wochen kategorisiert
wird [4].
Prognoseinstrumente können im Basis-Assessment eingesetzt werden, um
einen Anhalt für die Perspektiven- und Versorgungsplanung zu erhalten. Sie sollten
immer im Kontext mit anderen Daten interpretiert werden (Teameinschätzung,
Patienten- und Angehörigenperspektive). Wie eine Prognoseeinschätzung durch-
geführt wird und ein Gespräch über Prognose- und Perspektivenplanung verlaufen
kann, wird in Sektion 3 ausführlich dargestellt (7 Kap. 8.3).

Zusammenfassung
Testinstrumente werden im Gesundheitswesen, so auch in der Palliativmedizin,
zunehmend verwendet, um »Outcomes« zu messen.
Es werden allgemeine und spezifische Testinstrumente unterschieden. Als
Gütekriterien für Testinstrumente gelten Validität, Reliabilität und Empfindlich-
keit für Veränderungen.
Häufige Testinstrumente in der Palliativmedizin sind: Numerical Rating
Scale (NRS), Visual Analogue Scale (VAS), Karnofsky Performance Status Scale
(KPS), Palliative Performance Status (PPS), ECOG Funktionsstatus (Eastern
Cooperative Oncology Group), Palliative Outcome Scale (POS), Hospiz- und
Palliativerfassung (HOPE), Palliative Prognostic Score (PaP-S) und Palliative
Prognostic Index (PPI).

Literatur
[1] Lau F, Downing GM, lesperance M, Shaw J, Kuziemsky C (2006) Use of Palliative Perfor-
mance Scale in end-of-life prognostication. J Palliat Med 9(5):1066-1075
[2] Bausewein C, Le GC, Simon ST, Higginson IJ (2011) The use of two common palliative
outcome measures in clinical care and research: A systematic review of POS and STAS.
Palliat Med 25(4):304-313
[3] Bausewein C, Fegg M, Radbruch L, Nauck F, von MS, Borasio GD et al. (2005) Validation
and clinical application of the german version of the palliative care outcome scale. J Pain
Symptom Manage 30(1):51-62
[4] Glare PA, Sinclair CT (2008) Palliative Medicine Review: Prognostication. J Pall Med 11(1):
84-103
40 5
Grundlagen des
Symptommanagements
Bausewein, Rémi

5.1 Grundlagen – 41

5.2 Arzneimitteltherapie – 42

5.3 Subkutangabe – 49

5.4 Arzneimittelpumpen – 50

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2_5, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
5.1 · Grundlagen
41 5
5.1 Grundlagen

5.1.1 Individuelle Behandlung

Bei der palliativmedizinischen Betreuung stehen die Probleme des Patienten und
nicht die Erkrankung im Vordergrund. Die Betreuung erfolgt im interprofessio-
nellen Team von Pflegenden, Ärzten, Sozialarbeitern, Seelsorgern, Psychologen,
Physiotherapeuten und anderen Berufsgruppen. Für die Symptomkontrolle werden
medikamentöse und nicht-medikamentöse Maßnahmen eingesetzt, um die Lebens-
qualität der Patienten möglichst hoch zu halten. Da die meisten Palliativpatienten
unter mehreren Symptomen gleichzeitig leiden und eine vollständige Symptom-
freiheit meist nicht erreichbar ist, sollten bei der Therapie Prioritäten und realis-
tische Ziele für den Patienten, seine Angehörigen, aber auch die Betreuenden ge-
setzt werden.

5.1.2 Evaluation und Re-Evaluation

jEvaluation
Zu Beginn der Behandlung sollte anhand einer auf Symptome fokussierten Anam-
nese und körperlichen Untersuchung ein umfassendes Bild der Situation des Patien-
ten gewonnen werden. Um Symptome gezielt behandeln zu können, müssen mög-
liche Ursachen und zugrundeliegende Pathomechanismen erwogen und ggf. durch
zusätzliche Diagnostik (Labor, Röntgen, Ultraschall etc.) weiter abgeklärt werden.
Vorbefunde und ein fundiertes pathophysiologisches und pharmakologisches Wis-
sen geben meist eine Richtung für mögliche Ursachen der Symptome, so dass die
Diagnostik sehr gezielt erfolgen sollte. Insgesamt spielen diagnostische Maßnah-
men in der palliativmedizinischen Betreuung eine geringere Rolle als in der Akut-
medizin. Grundsätzlich sollten weitere Untersuchungen nur durchgeführt werden,
wenn sich daraus eine therapeutische Konsequenz für den Patienten ergibt.
! Keine Diagnostik ohne Konsequenz für den Patienten.

jRe-Evaluation
Symptomkontrolle kann herausfordernd sein und oft findet sich nicht auf Anhieb
die richtige Dosis oder das richtige Medikament. Zudem sind Symptome bei Pallia-
tivpatienten oft nicht stabil über einen längeren Zeitraum, sondern verändern sich.
Aus diesen Gründen ist eine engmaschige Re-Evaluation der Situation und Thera-
pie unbedingt notwendig. Um eine optimale Behandlung zu ermöglichen, sollte die
Aufmerksamkeit im Detail liegen. Häufig werden Nebenwirkungen oder Medika-
42 Kapitel 5 · Grundlagen des Symptommanagements

menteninteraktionen übersehen, Medikamente unter- oder überdosiert oder psy-


chosoziale Aspekte nicht ausreichend beachtet.

Folgende Fragen zur Symptomkontrolle sind hilfreich:


4 Warum ist das Symptom nicht besser geworden? Stimmen meine Über-
legungen zu Ursachen und Pathophysiologie?
4 Ist die Dosis richtig?
4 Sind Nebenwirkungen aufgetreten, die nicht behandelt oder vermeidbar
5 sind?
4 Sind neue Symptome hinzugekommen?
4 Muss bei den Zielen ein Kompromiss eingegangen werden?

5.1.3 Erklärung

Dem Patienten und seinen Angehörigen sollten in verständlicher Sprache Symp-


tome, deren Ursachen, Therapieoptionen mit möglichen unerwünschten Effekten
und Therapiezielen erklärt werden, um gemeinsam Therapieentscheidungen tref-
fen zu können. Das reduziert Ängste und andere psychische Einflüsse.

5.1.4 Rat einholen

Patienten wird immer wieder gesagt, dass nichts mehr für sie getan werden könnte.
Palliativmedizinischen Betreuung zeichnet sich aber dadurch aus, dass immer
versucht wird, die Situation für einen Patienten zu verbessern. Wenn Symptome
schwer zu kontrollieren sind, sollte immer der Rat eines Erfahreneren oder eines
Spezialisten eingeholt werden. Niemand kann Experte in allen Bereichen sein.

5.2 Arzneimitteltherapie

Die medikamentöse Symptomkontrolle stellt eine der Hauptsäulen in der Versor-


gung von Palliativpatienten dar. Nahezu jeder Patient in ambulanter oder stationä-
rer Palliativbetreuung erhält Arzneimittel zur Behandlung ein oder mehrerer
Symptome. Ein reflektierter Umgang mit Medikamenten ist daher von großer Be-
deutung zum Erreichen von Behandlungszielen.
5.2 · Arzneimitteltherapie
43 5
5.2.1 Grundregeln

1. Da Patienten dauerhaft unter Symptomen leiden, müssen Medikamente anti-


zipatorisch gegeben werden, d. h. die regelmäßige und erneute Gabe vor Ende
der Wirkungsdauer.
2. Wenn ein neues Medikament verordnet wird, sollte das Behandlungsziel klar
definiert werden. Wenn das Behandlungsziel in einem festgelegten Zeitraum
nicht erreicht wird, sollte entweder die Dosis angepasst oder das Medikament
wieder abgesetzt werden.
3. Änderungen am Arzneimittelregime sollten wenn möglich schrittweise erfolgen,
um die Effekte im zeitlichen Kontext bewerten und korrelieren zu können.
4. In der Palliativmedizin wird ein Medikament gelegentlich zur Behandlung
mehrerer Symptome eingesetzt (z. B. Butylscopolamin zur Behandlung kolik-
artiger abdomineller Schmerzen und zur Reduktion der gastrointestinalen
Sekretion bei Erbrechen). Auch werden manchmal die Nebenwirkungen eines
Medikamentes zur Behandlung genutzt, z. B. führt Amitriptylin zu Mundtro-
ckenheit, die bei Speichelfluss bei ALS-Patienten durchaus erwünscht ist.
5. Grundsätzlich sollten Therapien möglichst so gewählt werden, dass sie gut im
ambulanten Bereich durchgeführt werden können. Eine aufwendige Therapie,
die den Patienten an die Klinik bindet, hilft bei seinem Wunsch, zuhause zu
sterben nicht. Ebenso ist es empfehlenswert bei stationärer Einstellung die Er-
stattungsfähigkeit im ambulanten Bereich zu berücksichtigen, um zu ver-
meiden, dass ein Patient die Therapie aus Kostengründen zuhause nicht wei-
terführen kann.
6. Bei Entlassung sollte dem Patienten und seinen Angehörigen ein Medikamen-
tenplan mit genauer Uhrzeit und Indikation mitgegeben werden. Idealerweise
wird rechtzeitig vor Entlassung Kontakt mit dem weiterbehandelnden Arzt,
ggf. auch mit der Apotheke, aufgenommen, um Versorgungslücken oder Miss-
verständnissen insbesondere bezüglich der Indikationen vorzubeugen. Je nach
Verständnis und Einsicht von Patient oder Angehörigen für bzw. in die Arznei-
mitteltherapie sollte der behandelnde Arzt, ggf. der Klinikapotheker, diese Auf-
gabe übernehmen.

5.2.2 Arzneimittelauswahl

Bei der Arzneimitteltherapie muss dem Faktor Zeit gerade in der letzten Lebens-
phase des Patienten besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Nicht selten
kann das Arzneimittelregime erheblich gestrafft werden, wenn in den letzten Lebens-
wochen auf Medikamente zur langfristigen Prävention, z. B. kardiovaskulärer Ereig-
nisse, verzichtet wird (7 Kap. 6.19). In Deutschland erhält ein Palliativpatient durch-
44 Kapitel 5 · Grundlagen des Symptommanagements

. Tab. 5.1 Inzidenz unerwünschter Arzneimittelwirkungen - Nomenklatur

Bezeichnung in der Anzahl betroffener Patienten Häufigkeit in %


Fachinformation

Sehr häufig >1 von 10 > 10

Häufig > 1 von100, < 1 von 10 >1–<10

5 Gelegentlich > 1 von 1000, < 1 von 100 >0,1–<1

Selten > 1 von 10000, < 1 von 1000 >0,01–<0,1

Sehr selten < 1 von 10000 <0,01

Nicht bekannt Häufigkeit auf Grundlage


der verfügbaren Daten
nicht abschätzbar

schnittlich 5 verschiedene Arzneimittel. Aufgrund des eingesetzten Arzneimittel-


spektrums ist relativ häufig mit Arzneimittelinteraktionen zu rechnen. Neben- und
Wechselwirkungen vom Krankheitsprogress zu unterscheiden ist gerade am Lebens-
ende eine große Herausforderung für Ärzte. Bei der Arzneimittelauswahl sowie bei
neu auftretenden Problemen ist möglichen Arzneimittelnebenwirkungen und Inter-
aktionen daher ausreichende Aufmerksamkeit zu schenken, um Komplikationen zu
vermeiden und potentiell reversible Probleme frühzeitig zu erkennen.
In manchen Fällen können und sollten Nebenwirkungen bereits prophylak-
tisch behandelt werden, z. B. Obstipation bei der Opioidtherapie.
Zur Bewertung und Unterscheidung von Nebenwirkungen und (neu aufgetre-
tenen) Symptomen sollten folgende Überlegungen angestellt werden:
4 zeitlicher Zusammenhang mit Therapiebeginn bzw. Dosissteigerung
4 adäquate Dosierung bei Organdysfunktion
4 Besserung durch Auslassversuch oder Dosisreduktion
4 Häufigkeit der Nebenwirkung . Tab. 5.1
4 Plausibilität nicht-arzneimittelbezogener Ursachen

ä Nebenwirkungen in der Palliativmedizin


Herr M., 49 Jahre, malignes Melanom, ED wenige Monate zuvor, Metastasen in
Knochen, Leber und ZNS, litt wiederholt unter Unruhezuständen, Tremor und
Übelkeit. Vor 2 Tagen wurde das medikamentöse Therapieregime wie folgt ge-
ändert:
6
5.2 · Arzneimitteltherapie
45 5
4 Tramadol 100 mg retard 2 x tägl. (neu)
4 MCP 10 mg 4 x tägl.
4 Citalopram 20 mg tägl.
4 Haloperidol 2 mg zur Nacht
4 Movicol® 1 Beutel tägl. (neu)
4 Lorazepam 1 mg bei Bedarf

Möglicher Progress der onkologischen Grunderkrankung?


Arzneimittelnebenwirkung oder –interaktion?
Besonders auffällig erschien bei Herrn M. die Möglichkeit eines Serotonin-
Syndroms aufgrund der beschriebenen Symptomatik der kombinierten sero-
tonergen Arzneistoffe (Tramadol und Citalopram) und des engen zeitlichen
Zusammenhangs. Durch die sofortige Umstellung von Tramadol auf Tilidin/
Naloxon waren die Symptome schnell rückläufig.
Das Serotonin-Syndrom ist eine potentiell lebensgefährliche Arzneimittel-
nebenwirkung, die als Folge zu hoher Aktivität an Serotonin-Rezeptoren im
zentralen und peripheren Nervensystem auftritt. Es wird häufig nicht erkannt.
Die klinische Symptomatik reicht von einer leichten bis moderaten Ausprä-
gung, beispielsweise Tremor oder Myokloni, Schwitzen, Diarrhö und Akathisie,
hin bis zu lebensbedrohlicher Toxizität mit Hyperthermie, Delir, Muskelrigidität
und stark erhöhtem Muskeltonus. Viele der milden und moderaten, relativ
unspezifischen Symptome sind häufig bei Palliativpatienten zu beobachten
und werden meist mit der Erkrankung in Zusammenhang gebracht. Dabei ist
für auffallend viele Medikamente, die in der Palliativmedizin regelmäßig zur
Anwendung kommen, eine Assoziation mit dem Serotonin-Syndrom beschrie-
ben. Beispiele hierfür sind SSRI (selektive Serotonin-Reupatke-Inhibitoren),
Clomipramin, Venlafaxin, Mirtazapin, Tramadol, Methadon, Fentanyl, Pethidin,
Metoclopramid, Ondansetron und Johanniskraut.

Wechselwirkungen (Interaktionen) zwischen Medikamenten, aber auch zwischen


Medikamenten und Nahrungsbestandteilen oder Genussmitteln (z. B. Rauchen)
sind häufig. Die klinische Relevanz ist oftmals schwer einzuschätzen. Durch Inter-
aktionen kann es zu einem Wirkverlust von Arzneimitteln (7 Fallbeispiel), jedoch
auch zu einer Wirkverstärkung z. B. aufgrund von erhöhtem Serumkonzentra-
tionen und folglich einem erhöhtem Nebenwirkungspotential, kommen . Tab. 5.2.
Besonderes Augenmerk ist auf die enzymvermittelten Interaktionen zu richten, da
beispielsweise eine Induktion oder Inhibition im Cytochrom P450-Enzymsystem
noch Tage bis Wochen nach dem Absetzen des auslösenden Agens bestehen bleiben
und somit die Pharmakokinetik anderer Arzneimittel beeinflussen kann.
46 Kapitel 5 · Grundlagen des Symptommanagements

. Tab. 5.2 Interaktionsrisiko von in der Palliativmedizin relevanten Arzneimitteln im


Überblick

Arzneistoff Interaktions- Wichtige Effekte/ Einnahmehinweiseb


risikoa Nebenwirkungen

Metamizol grün Hypotension, Schwitzen unabh. vdM


Ibuprofen rot gastrointestinale Toxizi- zM/nM
5 tät, Hemmung tubuläre
Sekretion
Tramadol gelb motilitätshemmend, unretardiert:
zentraldämpfend, möglichst nüchtern
Serotoninsyndrom, retardiert: unabh. vdM
Schwitzen
Tilidin grün motilitätshemmend unretardiert:
zentraldämpfend, möglichst nüchtern
retardiert: unabh. vdM

Morphin grün motilitätshemmend, unretardiert:


zentraldämpfend möglichst nüchtern
retardiert: unabh. vdM
Hydromorphon grün motilitätshemmend, unretardiert:
zentraldämpfend möglichst nüchtern
retardiert: unabh. vdM
Oxycodon grün motilitätshemmend, unretardiert:
zentraldämpfend möglichst nüchtern
retardiert: unabh. vdM
Fentanyl grün motilitätshemmend, unabh. vdM
zentraldämpfend,
Serotoninsyndrom
Metoclopramid rot motilitätsfördernd, EPS vM
Ondansetron gelb motilitätshemmend,
Serotoninsyndrom
Amitriptylin rot zentraldämpfend, unabh. vdM
anticholinerg, SIADH
Mirtazapin grün zentraldämpfend unabh. vdM
Citalopram rot Mundtrockenheit, unabh. vdM
motilitätshemmend,
Serotoninsyndrom, EPS,
6 SIADH, Schwitzen,
5.2 · Arzneimitteltherapie
47 5

. Tab. 5.2 (Fortsetzung)

Arzneistoff Interaktions- Wichtige Effekte/ Einnahmehinweiseb


risikoa Nebenwirkungen

Haloperidol rot Mundtrockenheit, zM


motilitätshemmend,
EPS, Miktionsstörungen
Midazolam grün zentraldämpfend möglichst nüchtern
Lorazepam grün zentraldämpfend, unabh. vdM
Hypertonie, SIADH
Pregabalin grün Mundtrockenheit, unabh. vdM
motilitätshemmend,
zentraldämpfend,
Feindseligkeit
Carbamazepin rot Mundtrockenheit, zM/nM
zentraldämpfend,
Feindseligkeit, SIADH
Levetiracetam grün zentraldämpfend, unabh. vdM
Feindseligkeit
Dexamethason gelb erhöhtes gastrointesti- zM/nM
nales Blutungsrisiko mit
NSAR, Schwitzen
a nach [1]; grün: geringes Interaktionspotential, gelb: moderates Interaktionspoten-
tial, rot: hohes Interaktionspotential
b nach [2]; zM: zu den Mahlzeiten, unabh. vdM: unabhängig von den Mahlzeiten,
nM: nach den Mahlzeiten

ä Interaktionen in der Palliativmedizin


Bei Frau C. wurde vor ca. 8 Monaten ein Glioblastom diagnostiziert. Sie lehnte
jede Therapie ab. Vor einigen Wochen war Frau C. zunehmend schläfrig und leicht
verwirrt, ihr Hausarzt setzte daher Dexamethason 12 mg/d an. Daraufhin klarte
sie innerhalb eines Tages auf und war wieder voll kontaktfähig. Aufgrund eines
epileptischen Anfalls brachte ihre Tochter sie vor 2 Tagen in die Notaufnahme.
Dort wurde als Antiepileptikum Carbamazepin 800 mg/d neu angesetzt, außer-
dem Dalteparin 2500 I.E. und Paracetamol 500 mg bei Bedarf. Als Dauermedika-
tion nimmt sie bereits seit längerem Losartan 50 mg, Amlodipin 5 mg, Panto-
prazol 40 mg und Nitroglycerin-Spray bei Bedarf. Seit gestern Abend wird Frau C.
wieder zunehmend schläfriger, seit heute Morgen ist sie kaum noch kontaktfähig.
6
48 Kapitel 5 · Grundlagen des Symptommanagements

Interaktionen?
Carbamazepin beschleunigt durch eine starke Induktion des Cytochrom
P450-Isoenzyms 3A4 den Metabolismus von Dexamethason. Die Folge sind
um 60-100 % reduzierte Blutspiegel von Dexamethason. Bei der gemeinsamen
Gabe von Dexamethason mit Carbamazepin müssen die Dexamethason-Dosen
entsprechend angehoben werden.
Durch das Verdoppeln der Dexamethason-Dosis auf 24 mg klart Frau C. innerhalb
von wenigen Stunden wieder auf. Dexamethason beschleunigt den Abbau von
Carbamazepin ebenfalls durch Induktion des gleichen Cytochrom P450-Isoen-
5 zyms. Die Therapie mit Carbamazepin wird jedoch neu angesetzt und die Dosis
am klinischen Effekt titriert, die Interaktion fällt daher nicht so sehr ins Gewicht.
Weitere Interaktionen zwischen o. g. Arzneimitteln werden hier nicht weiter be-
rücksichtigt.

Im Zusammenhang mit Nieren- und Leberinsuffizienz kann es durch Verände-


rungen in Metabolismus, Verteilung und Elimination von Arzneistoffen kommen.
Mögliche Folgen sind die Schwierigkeiten in der Kontrolle von Symptomen, neue
Symptome oder eine Verschlechterung des Zustands des Patienten. Daher müssen
Medikamente entsprechend ihrer pharmakokinetischen Eigenschaften dem Aus-
maß der Organdysfunktion in ihrer Dosierung angepasst, teilweise sogar ganz ab-
gesetzt werden. Die isolierte Betrachtung des Serumkreatinins ist zur Beurteilung
der Nierenfunktion nicht ausreichend!
Eine pharmazeutische Beratung, z. B. durch die Krankenhausapotheke, kann
helfen, Risikofaktoren in der Arzneimitteltherapie zu identifizieren und Alterna-
tiven zu finden.
Vielfach lässt es sich nicht vermeiden, Medikamente außerhalb der Zulassung
anzuwenden (7 Definition Off-Label Use), nicht selten basierend auf einer nur sehr
dünnen Datenlage. In einem Balanceakt muss zwischen Nutzen und Risiko für den
Patienten abgewogen werden.

Off Label Use


Anwendung eines zugelassenen Arzneimittels außerhalb der von den natio-
nalen oder europäischen Zulassungsbehörden genehmigten Anwendungsge-
bieten. Hierzu zählen neben der Indikation auch der Applikationsweg, die Do-
sierung und die Behandlungsdauer.
Mögliche Konsequenzen von Off Label Use:
4 Haftungsausschluss des pharmazeutischen Unternehmens für auftretende
Schäden
4 keine Erstattung durch die gesetzlichen Krankenversicherungen
5.3 · Subkutangabe
49 5
5.2.3 Bedarfsmedikation

Zur regelmäßigen Medikation sollte bei jedem Patienten – insbesondere, aber nicht
nur zur Schmerztherapie – eine zusätzliche Bedarfsmedikation mit genauer Indika-
tion und erlaubtem Applikationsintervall aufgeschrieben werden. Bei der Gabe von
Analgetika richtet sich die Bedarfsmedikation fast immer an der Tagesgesamtdosis
und beträgt in der Regel 1/6 der Tagesdosis, die alle 4 Stunden gegeben werden darf.
Bei Erhöhung der Tagesdosis muss die Bedarfsdosis entsprechend angepasst wer-
den. Die Verordnung der Bedarfsmedikation muss sich auch auf drohende Kompli-
kationen im Rahmen der Erkrankung beziehen, z. B. Midazolam-Ampullen zur
Sedierung bei Patienten mit HNO-Tumoren und drohender massiver Blutung, Mor-
phin-Ampullen für Patienten mit Schluckstörungen, etc. Gerade im ambulanten
Bereich kann durch dieses Vorgehen besser auf Komplikationen bei schlechter Ver-
fügbarkeit eines Arztes, wie beispielsweise nachts oder an Wochenenden, reagiert
werden. Unnötige Krankenhauseinweisungen werden möglicherweise vermieden.

5.3 Subkutangabe

Die orale Gabe von Medikamenten ist die Applikationsform der Wahl in der Pallia-
tivmedizin, damit der Patient möglichst lange unabhängig und selbständig sein
kann. Wenn die orale Gabe aber nicht mehr möglich ist, müssen Medikamente
häufig parenteral verabreicht werden. Hier hat sich die subkutane Gabe von Medi-
kamenten und auch Flüssigkeit sehr bewährt, da sie einfach handhabbar ist und
besonders im ambulanten Bereich gut durchgeführt werden kann . Tab. 5.3. Die
s.c.-Gabe kann gut durch Pflegende oder Angehörige durchgeführt werden, aller-
dings muss eine Einweisung erfolgen.
Eine Butterflynadel (23–27 G) wird subkutan unter die Haut gelegt und mit
einer durchsichtigen Hautfolie fixiert. Alternativ kann auch eine Spezial-Subkutan-
nadel oder eine Baby-Braunüle verwendet werden. Die Einstichstelle sollte mehr-
mals täglich kontrolliert werden und die Nadel bei Rötung, Härtung oder Einblu-
tung gewechselt werden, da Entzündung und Schmerzen an der Injektionsstelle zu
reduzierter Absorption führen. Im Durchschnitt sollten s.c.-Nadeln alle 2–3 Tage
gewechselt werden, können aber auch bis zu 7 Tage liegen. Lokalisation der s.c.-
Nadel: Thoraxwand, Abdomen, Oberschenkel, Oberarm.
Indikation zur s.c.-Gabe:
4 Übelkeit und Erbrechen
4 inoperabler Ileus
4 Dysphagie
4 Schwäche
4 Bewusstseinsstörung
4 Terminalphase
50 Kapitel 5 · Grundlagen des Symptommanagements

. Tab. 5.3 Medikamente, die s.c. verabreicht werden können

Analgetika (Beispiel Handelspräparat) Andere (Beispiel Handelspräparat)

Metamizol (Novalgin®)* Metoclopramid (Paspertin®)*


Tramadol (Tramal®) Dimenhydrinat (Vomex®)*
Morphin (Morphin Merk®, MSI®) Haloperidol (Haldol®)*

5 Hydromorphin (Palladon®) Levomepromazin (Neurocil®)*


Methadon (Polamidon®) Octreotid (Sandostatin®)
Ketamin Butylscopolamin (Buscopan®)
Glycopyrrolate (Robinul®)
Midazolam (Dormicum®)*
Dexamethason (Fortecortin®)*
* Nicht für s.c.-Gabe zugelassen: »Off Label Use«

Die wichtigsten Kontraindikationen für eine s.c.-Gabe sind Thrombopenie und


Blutungsneigung, da es zu Einblutungen kommen kann. Keine subkutane Gabe von
Medikamenten oder Flüssigkeit in ödematösem Gewebe, Hautfalten oder Brustge-
webe!

5.4 Arzneimittelpumpen

Wenn Medikamente regelmäßig s.c. als Bolus verabreicht werden, können die Me-
dikamente alternativ über eine Arzneimittelpumpe (»Spritzenpumpe«) kontinuier-
lich s.c. injiziert werden. Aufgrund des vergleichsweise geringen technischen Auf-
wandes und den niedrigen Kosten für Verbrauchsmaterial haben sich Spritzen-
pumpen insbesondere in der ambulanten Palliativversorgung bewährt . Tab. 5.4.
Eine Infusionsrate von 2–3 ml/h oder ca. 50 ml/24 h sollte dabei nicht über-
schritten werden.

5.4.1 Arzneimittelmischungen

Die Kombination mehrerer Medikamente zusammen in einer Pumpe ist häufig


sinnvoll, darf jedoch nicht unreflektiert geschehen. Arzneimittel sind nicht beliebig
. Tab. 5.4 Arzneimittelpumpen

Mechanismus Beispiel Funktion Nachteile Vorteile

Peristaltik- CADD® Lösung wird aus Hohe Anschaffungskosten, Relativ kleines, gut transportables
pumpen, Legacy PCA, einem Reservoir relativ hohe Verbrauchmaterial- System, Infusionsrate kann variiert
Rollen- Rhythmic®Plus, (Beutel od. Kassette) kosten, relativ hoher Personal- werden, Bolusgabe und -dokumen-
pumpen Curlin® über eine Schlauch- schulungsaufwand (Pumpe tation, hohe Fördergenauigkeit,
5.4 · Arzneimittelpumpen

6000CMS quetschpumpe muss programmiert werden), Befüllung mit relativ großen Volu-
transportiert Stromquelle notwendig, ver- mina für mehrere Tage möglich
gleichsweise hohes Gewicht (250 ml), Batterie- oder Steck-
dosenbetrieb
Spritzen- Sims Deltec Herkömmliche Spritze Relativ kleine Volumina Niedrige Anschaffungskosten für
pumpe MS26® wird in die Pumpe (10-30 ml), angeforderte Boli Pumpe und Verbrauchmaterial,
eingespannt und nur grob abschätzbar, Strom- Batteriebetrieb, geringes Gewicht
Spritzenkolben über quelle notwendig, hoher Per-
einen definierten sonalschulungsbedarf, geringes
Zeitraum eingedrückt Bolusvolumen

Perfusor® Hohe Anschaffungskosten, Niedriges Kosten für Verbrauchs-


stationäres System, Stromquelle material, in Krankenhäusern gut
notwendig, i. d. R. keine patien- verfügbar
51

tengesteuerte Bolusfunktion

Elastomeren- Surefuser®, Kunststoffballon wird Relativ teure Einmalsysteme, Zur kurzfristigen Überbrückung
pumpe Easypump® befüllt und gibt auf- keine Bolusgabe möglich, hilfreich, Befüllung mit relativ
grund der Wandspan- große Schwankungen bei der großen Volumina für mehrere
nung die Arzneistoff- Infusionsrate möglich Tage möglich (250 ml), keine
lösung wieder ab Stromquelle notwendig, Geringes
Gewicht
5
52 Kapitel 5 · Grundlagen des Symptommanagements

mischbar. Je nach physikalischen und chemischen Eigenschaften kann es zu Unver-


träglichkeiten – sogenannten Inkompatibilitäten – zwischen Arzneimitteln, Arz-
neimittel und Trägerlösung oder Arzneimittel und Schlauchmaterial kommen. Die
möglichen Folgen für den Patienten sind Wirkverlust des Medikamentes, toxische
Reaktionen durch Abbauprodukte und lokale Reizungen bis hin zu Partikelembo-
lien. Um nachteilige Effekte für den Patienten zu vermeiden, sollten bei der Aus-
wahl der Arzneimittel für eine Pumpe folgende Aspekte berücksichtigt werden:
4 möglichst wenig Substanzen
4 möglichst kurze Kontaktzeit
5 4 vorhandene Kompatibilitätsdaten berücksichtigen (ggf. Apotheker konsul-
tieren)
4 bewährte Mischungen bevorzugen
4 nur Medikamente mit ähnlichem pH-Wert mischen; als Lösungsmittel Koch-
salzlösung oder Aqua dest. bevorzugen
4 ggf. Arzneistoffe mit langer Wirkdauer, z. B. Dexamethason separat einmal tgl.
injizieren
4 schwerlösliche Arzneistoffe nicht mischen

Zusammenfassung
Am Beginn einer palliativmedizinischen Behandlung steht eine ausführliche
Evaluation, um Symptome gezielt behandeln zu können. Danach richtet sich
die Arzneimitteltherapie.
Durch regelmäßige Re-Evaluationen können Interaktionen und Nebenwir-
kungen der Medikamente verringert bzw. vermieden werden. Die orale Gabe
von Medikamenten ist die Applikationsform der Wahl in der Palliativmedizin,
alternativ können Medikamente vor allem subkutan oder per Arzneimittelpum-
pe verabreicht werden.

Literatur
[1] Gärtner, J. and K. Ruberg, Drug interactions in palliative care. Palliative Medicine, 2011
[2] Zieglmeier, M., Einnahmeempfehlungen für orale Arzneimittel, WIPIG, Editor 2009,
WIPIG: München
53 6
Symptome
in der Palliativmedizin
6.1 Fatigue – 55
Rogusch, Schulz
6.2 Schmerz – 59
Schmitz, Schulz
6.3 Appetitlosigkeit – 70
Zehnder-Kiworr
6.4 Ernährung – 73
Zehnder-Kiworr
6.5 Übelkeit und Erbrechen – 76
Bausewein, Rémi
6.6 Obstipation – 79
Bausewein, Rémi
6.7 Obstruktion/Ileus – 83
Bausewein, Rémi
6.8 Diarrhö – 86
Bausewein, Rémi
6.9 Dyspnoe – 88
Simon, Bausewein, Rémi
6.10 Husten – 91
Rémi, Bausewein, Simon

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2_6, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
6.11 Angst – 94
Schulz
6.12 Depression – 100
Fegg
6.13 Verwirrtheit/Delir – 102
Feddersen, Rémi
6.14 Epileptischer Anfall – 107
Rémi, Feddersen
6.15 Wunden – 110
Meister
6.16 Jucken – 113
Steudter
6.17 Symptomlinderung durch Mundpflege – 117
Galgan
6.18 Durst/Flüssigkeitsgabe – 120
Galgan
6.19 Symptome in der Finalphase – 123
Dietz, Rémi, Schildmann, Schulz
6.1 · Fatigue
55 6
>>

Symptomkontrolle bedeutet immer eine Herangehensweise, bei der nicht das Symp-
tom, sondern der betroffene Mensch behandelt wird. In der Palliativmedizin werden
alle Symptome auf ihrer physischen, psychischen, sozialen und spirituellen Ebene er-
fasst und verstanden. Körperliche Schmerzen lösen Emotionen und manchmal Kon-
flikte aus, die den Schmerz verstärken können. Angst, Sinnverlust oder Scham können
die Ursache für die Entstehung eines körperlichen Symptoms sein. Ein ausführliches
Verständnis der Ausprägung eines Symptoms auf den vier verschiedenen Ebenen der
palliativmedizinischen Betrachtung bildet die notwendige Grundlage für eine gute
und lindernde interprofessionelle Symptomkontrolle. Als wissenschaftliche Grundlage
für das Vorgehen zur Symptomkontrolle wird das Akronym EEMMA, das im folgenden
erläutert wird, verwendet [1]:
4 Evaluation: Diagnostik zu jedem Symptom vor Beginn der Behandlung
4 Erklärung: Erläuterung des Vorgehens gegenüber dem Patienten vor Beginn der
Behandlung
4 Management: individualisierte Behandlung
4 Monitoring: regelmäßige Überprüfung der Auswirkung der Behandlung
4 Achten auf Details: keine ungerechtfertigten Vorannahmen

6.1 Fatigue

Rogusch, Schulz
kDefinition
Fatigue ist ein vielschichtiges, multidimensionales Symptom. Es manifestiert sich
jedoch stets im subjektiven Erleben des Patienten in Form von Müdigkeit, Er-
schöpfung oder Kraftlosigkeit auf physischer, kognitiver und/oder emotionaler
Ebene.
Bei gesunden Menschen ist Müdigkeit ein Schutzmechanismus des Körpers,
der vor Überbelastung schützt. Müdigkeit wird durch Ruhe gelindert und geht
vorüber. Im Gegensatz dazu erleben Menschen mit fortgeschrittenen, lebensbe-
drohlichen Erkrankungen häufig eine quälende Form der Abgeschlagenheit, die zu
einem ständigen Begleiter wird und alle Bereiche ihres Lebens beeinträchtigt. Ein-
fache Verrichtungen des Alltags können aufgrund körperlicher Erschöpfung nicht
mehr bewältigt werden. Mentale Ermattung und Konzentrationsverluste schrän-
ken die geistige Lebendigkeit ein. Emotional drückt sich Fatigue in Lustlosigkeit
und Antriebslosigkeit aus.
56 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

kEpidemiologie
Fatigue ist eines der häufigsten Symptomen in der Palliativmedizin bei onkolo-
gischen Grunderkrankungen. Darüber hinaus leiden auch nicht-onkologische
Patienten mit Erkrankungen wie HIV, Multiple Sklerose und chronischen Herz-
und Lungenerkrankungen zu hohen Prozentanteilen unter Fatigue [2].

kAuswirkungen auf die Lebensqualität


Fatigue hält Patienten davon ab, aktiv am Leben teilzunehmen und schränkt ihren
Alltag und ihre Freizeitmöglichkeiten stark ein. Sie können nicht mehr für sich
oder für andere sorgen, müssen sich aus sozialen Aktivitäten zurückziehen und
scheitern an mentalen Leistungen wie lesen oder Auto fahren. Fatigue-Patienten
6 fühlen sich zudem oft niedergeschlagen und leiden unter Depression, Schlafstö-
rungen und Schmerzen (7 Abschn. 6.12, 7 Abschn. 6.2) [3].
Die Auswirkungen von Fatigue müssen jedoch stets aus der individuellen Sicht
des Patienten betrachtet werden. Wer sich aus dem Leben zurückziehen möchte
oder unter chronischen Schmerzen leidet, kann Fatigue u. U. als angenehm emp-
finden. Im Sterbeprozess kann es ein natürliches und damit nützliches Erleben
sein, das vor Leid zu schützen vermag, indem es den Übergang zwischen Leben
und Tod erleichtert. Andererseits zeigen Studien, dass Ärzte den Leidensdruck
durch Fatigue bei onkologischen Patienten niedriger einschätzen als Patienten
selbst [4].

kUrsachen
Die Pathophysiologie von Fatigue ist nicht vollständig geklärt und kann nicht auf
einen einzigen Mechanismus zurückgeführt werden. Die Ursachen für Fatigue
können sich im Verlauf der Krankheit ändern . Tab. 6.1.

. Tab. 6.1 Formen von Fatigue

Form Entstehung

Primärer Erhöhte Zytokinkonzentration durch Grunderkrankung


Fatigue
Sekundärer Begleitsymptom ausgelöst durch:
Fatigue Anämie, Fieber, Infektionen, Dehydration, Störungen des Elektro-
lythaushalts und Hormonstörungen, Kachexie/Anorexie, Mangel-
ernährung (Vitaminmangel), Depression, Schlafstörungen,
(sedative) Medikation
6.1 · Fatigue
57 6
kDiagnostik/Assessment
Aufgrund des subjektiven Erlebens stehen Selbsteinschätzungsinstrumente bei
der Diagnostik im Vordergrund. Ziel ist es, die Bereiche größter Beeinträchtigung
abzuschätzen und vermeidbare Ursachen aufzudecken. Eine entsprechende Anam-
nese (Schlaf- und Medikamentenanamnese) sowie eine klinische Untersuchung
inklusive Laborparametern (Blutbild und Eisenstoffwechsel, Entzündungsparame-
ter, Elektrolyte, Nieren- und Leberwerte, Hormone, Zytokine bzw. deren Marker,
sowie Vitamine) gehören zur Diagnostik.
Ein Einstieg sollte über einfache Fragestellungen erfolgen wie »Fühlen sie
sich ungewöhnlich müde und erschöpft?« [2]. Zeigt ein Patient entsprechende Be-
lastungen, können multidimensionale Assessment-Tools herangezogen werden
(EORTC QLQ C30 [5], FACT-F [6]).

kTherapie
Grundlage der Therapieplanung sind die Wünsche und Bedürfnisse des Patienten
sowie das Stadium der Krankheit. In der Finalphase kann Fatigue zum natürlichen
Sterbeprozess dazu gehören und eine Funktion erfüllen. Eine Behandlung ist dann
nicht mehr indiziert!

Ursächliche Behandlung von sekundärem Fatigue Bei anämischen Patienten


kann die Erhöhung der Hämoglobin-Konzentration durch Vollbluttransfusionen
(Zielwert Hb 8–10g/dl) eine Besserung von Fatigue bewirken [7]. Der Einsatz von
hämopoetischen Wachstumsfaktoren (Erythropoetin) wird durch die lange Be-
handlungsdauer von bis zu 12 Wochen bis zum Wirkungseintritt, sowie uner-
wünschte Nebenwirkungen (z. B. lebensbedrohliche Thromboembolien) in Frage
gestellt [8].
Infektionen und Fieber sollten mit antipyretischen und antibiotischen Medika-
menten behandelt werden. Ebenso gilt es Elektrolyt-, Stoffwechsel-, Hormonstö-
rungen und Störungen des Wasserhaushaltes zu therapieren bzw. zu substituieren.
Auf eine ausgewogene Ernährung (7 Abschn. 6.4) sowie ausreichend Ruhezeiten
sollte geachtet werden. Stehen Medikamente im Verdacht, Fatigue-Symptomatik
auszulösen, sollten Dosisreduktion oder Medikamentenwechsel in Erwägung ge-
zogen werden. Patienten mit depressiven Symptomen sollten behandelt werden
(7 Abschn. 6.12).

Symptomatische, nicht-pharmakologische Behandlung von Fatigue Regelmä-


ßige sportliche oder körperliche Aktivität lindert Fatigue, während eine andauern-
de Einschränkung körperlicher Betätigung die Entstehung von Fatigue begüns-
tigen kann. Wie viel Bewegung möglich ist, hängt von der körperlichen Verfassung
des Patienten ab. Hier ist eine enge Abstimmung im Behandlungsteam notwendig
(Physiotherapie, Pflege, Kunst- und Musiktherapie).
58 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

Mit einem Fatigue-Tagebuch kann der Verlauf der Leistungsfähigkeit über den
Tag hinweg beobachtet werden. Kombiniert mit einem Aktivitäten-Tagebuch und
Tagesplänen kann der Patient seine zur Verfügung stehende Energie effizienter
einsetzen, indem er als wichtig erachtete Aktivitäten während eines Leistungshochs
durchführt und Aufgaben niedriger Priorität delegiert. Solche Energiekonservie-
rungsstrategien sollten mit Erholungsstrategien kombiniert werden. Hierzu zählen
regelmäßige Pausen und Entspannungsübungen, Reduzierung von Stress und Teil-
nahme an positiven oder faszinierenden Aktivitäten [2].

Symptomatische, pharmakologische Behandlung von Fatigue Die pharmako-


logische Behandlung von Fatigue konzentriert sich auf den Einsatz von Psychosti-
6 mulantien. Die Evidenzbasis für diese Medikation ist zurzeit jedoch noch klein.
Sowohl die Europäische Gesellschaft für Palliativmedizin [2] als auch ein Cochrane
Review zum Thema [9] können keine regelmäßige Gabe einer bestimmten Subs-
tanz zur Behandlung von Fatigue ausgesprochen empfehlen. Es gibt lediglich klei-
ne nachgewiesene Effekte.
Für Methylphenidat konnte in einer Metaanalyse eine geringe, aber signifi-
kante Gesamteffektstärke bei Patienten mit Krebs-assoziiertem Fatigue (CRF)
nachgewiesen werden. Alternativ zu Methylphenidat wurde in einer Studie mit
HIV-Patienten Pemolin mit gleichem positivem Effekt getestet [10]. Bei Patienten
mit Multipler Sklerose konnte eine Wirksamkeit von Amantadin festgestellt wer-
den. Für eine aktuelle Übersicht zu Therapieempfehlungen wird auf die weiter-
führende Literatur verwiesen [11].
Für definierte, kurzfristige Ziele – wie beispielsweise ein Weihnachtsfest mit
der Familie – werden in der klinischen Praxis Kortikosteroide (Methylprednisolon,
Dexamethason) verabreicht. Diese Anwendung ist durch Studien bisher nicht be-
legt.

Zusammenfassung
Fatigue ist ein häufig nicht beachtetes Symptom in der Palliativmedizin. Im
Frühstadium einer Krankheit kann es die Lebensqualität stark verschlechtern
und sollte mit dem Patienten vor dem Hintergrund seiner Wünsche und Be-
dürfnisse ausreichend diskutiert werden. Auf dieser Grundlage müssen die Be-
einträchtigung durch Fatigue und die Vor- und Nachteile einer Behandlung
über den Verlauf der Betreuung stetig abgewogen werden. Im Sterbeprozess
kann Fatigue einen Schutzfaktor darstellen. Es ist deshalb wichtig zu erkennen,
ab welchem Punkt die Behandlung von Fatigue nicht mehr indiziert ist!
6.2 · Schmerz
59 6
Literatur
[1] Twycross R, Wilcock A, Stark Toller C (2009) Symptom Management in Advanced Cancer,
Palliativdrugs.com Ltd, Nottingham
[2] Radbruch L, Strasser F et al. (2008) Fatigue in palliative care patients – an EAPC approach.
Palliat Med 22(1):13-32
[3] National Comprehensive Cancer Network. »Cancer related fatigue« – http://www.nccn.
org/professionals/physician_gls/pdf/fatigue.pdf (Februar 2011)
[4] Vogelzang NJ, Breitbart W et al. (1997) Patient, caregiver, and oncologist perceptions of
cancer-related fatigue: results of a tripart assessment survey. The Fatigue Coalition.
Semin Hematol 34(3,2):4-12
[5] Bjordal K, de Graeff A et al. (2000) A 12 country field study of the EORTC QLQ-C30 (ver-
sion 3.0) and the head and neck cancer specific module (EORTC QLQ-H&N35) in head
and neck patients. EORTC Quality of Life Group. Eur J Cancer 36(14):1796-1807
[6] Yellen SB, Cella DF et al. (1997) Measuring fatigue and other anemia-related symptoms
with the Functional Assessment of Cancer Therapy (FACT) measurement system. J Pain
Symptom Manage 13(2):63-74
[7] Brown E, Hurlow A et al. (2010) Assessment of fatigue after blood transfusion in palliative
care patients: a feasibility study. J Palliat Med 13(11):1327-1330
[8] Minton O, Richardson A et al. (2010) Drug therapy for the management of cancer-related
fatigue. Cochrane Database Syst Rev 7(7): CD006704
[9] Peuckmann V, Elsner F et al. (2010) Pharmacological treatments for fatigue associated
with palliative care. Cochrane Database Syst Rev 11(11): CD006788
[10] Breitbart W, Rosenfeld B et al. (2001) A randomized, double-blind, placebo-controlled
trial of psychostimulants for the treatment of fatigue in ambulatory patients with human
immunodeficiency virus disease. Arch Intern Med 161(3):411-420
[11] Breitbart W, Alici Y (2010) Psychostimulants for cancer-related fatigue. J Natl Compr Canc
Netw 8(8):933-942

6.2 Schmerz

Schmitz, Schulz

»Die schlimmste Kränkung, die wir einem Menschen zuführen können ist, ihm ab-
zusprechen, dass er leide …« Cesare Pavese

kDefinitionen
Die International Association for the Study of Pain (IASP) definiert Schmerz wie
folgt:
60 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

»Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktuellen
oder potentiellen Gewebeschädigungen verknüpft ist oder mit Begriffen solcher
Schädigungen beschrieben wird [12].«

Diese Definition geht von einem biomedizinischen Verständnis von Schmerz aus
und greift insbesondere bei der Behandlung von Palliativpatienten zu kurz. In der
Palliativmedizin werden Symptome in einem bio-psycho-sozialen Modell verstan-
den (7 Kap. 1). Daher schreibt Müller-Busch in seiner Auseinandersetzung mit
Schmerztherapie in der Palliativmedizin:

»Schmerz entsteht nicht nur infolge einer Gewebsverletzung, sondern wird als
6 Interaktion erregender und hemmender Systeme im zentralen Nervensystem durch
zahlreiche hormonelle, immunologische, affektive, behaviorale, kulturelle und ge-
netisch determinierte Variablen erlernt, gesteuert und moduliert [13].«

In der Palliativmedizin wird seit mehr als 40 Jahren Schmerz als ganzheitliches
Phänomen verstanden und behandelt. Dame Cicely Saunders führte hierfür den
Begriff des Total Pain ein.

Total Pain
Dieses Konzept beinhaltet die Vorstellung, dass das Phänomen Schmerz nur z. T.
durch körperlichen Schmerz mit objektivierbaren Ursachen erklärt werden kann
(7 Definition). Im Total Pain-Konzept wird psychischen, sozialen oder spirituellen
Faktoren eine ebenso wichtige Rolle im Schmerzerleben von Palliativpatienten
beigemessen. Trauer, Abschied, Angst, Depression und Hoffnungslosigkeit sind
gerade in der Palliativsituation Faktoren, die Teil des Schmerzes sein können [14].

Aus diesem Verständnis über das Symptom Schmerz ergeben sich zwingende Kon-
sequenzen für das therapeutische Vorgehen. Aus der Definition wird deutlich, dass
eine rein pharmakologische Vorgehensweise zur Linderung von Schmerzen bei
Palliativpatienten in den allermeisten Fällen unzureichend ist.

kUrsachen von Schmerz bei Tumorerkrankungen


Am Beginn einer Schmerztherapie sollte, wann immer möglich, die Schmerzgene-
se geklärt werden. Nur durch das Wissen um die Pathogenese des Schmerzes wird
die Therapie rational und zielgenau. Vier verschiedene Schmerzursachen können
in der palliativmedizinischen Praxis bei Patienten mit onkologischen Erkran-
kungen unterschieden werden . Tab. 6.2.
Die Voraussetzung zur Ermittlung verschiedener Schmerztypen sind eine
ausführliche Anamnese mit Erfassen der unterschiedlichen Schmerzqualitäten und
6.2 · Schmerz
61 6

. Tab. 6.2 Beispiele für Schmerzursachen

Ursache Häufigkeit Beispiele


(in %)

Tumorbedingt 60–90 4 Knochen-/Weichteilinfiltration


4 Kompression und Infiltration von Nerven-,
Blut- und Lymphgefäßen
4 Hirnödem

Therapiebedingt 10–25 4 Operation (postoperativ, Lymphödem)


4 Radiatio (Mukositis, Fibrose, Strahlencystitis,
-colitis)
4 Chemotherapie (Mukositis, Polyneuro-
pathie, Paravasat)
4 Schmerztherapie (opioidinduzierte
Obstipation, Ulcus duodeni)

Tumorassoziiert 5–20 4 Paraneoplastisches Syndrom


4 Dekubitus
4 Venenthrombose, Lymphödem
4 Postzosterische Neuralgie (PZN)

Tumorunabhängig 3–10 4 Primärer Kopfschmerz


4 Bandscheibenvorfall

Adaptiert nach [15], [16]

eine gründliche körperliche Untersuchung mit Erhebung des neurologischen Sta-


tus. Ob darüber hinausgehende diagnostische Untersuchungen (z. B. Ultraschall,
MRT, CT, Szintigrafie) notwendig und sinnvoll sind, ist abhängig vom jeweiligen
Krankheitsstadium des Palliativpatienten (Phase der Rehabilitation, Terminal-
oder Finalphase). Folgende Schmerztypen werden unterschieden:

Nozizeptor-Schmerz Schmerz nach Gewebetrauma, bei denen die peripheren


und zentralen Nervenstrukturen der Nozizeption intakt sind. Hierbei führen chro-
nische Noxen (chemisch, mechanisch, thermisch) zu einer andauernden Erregung
nozizeptiver Neurone.
Schmerzqualitäten: dumpf, hell, pulsierend, krampfartig, stechend; es liegen
keine Sensibilitätsstörungen vor.

Neuropathischer Schmerz Schmerz, der nach Schädigung oder Dysfunktion zen-


traler oder peripherer nozizeptiver Systeme entsteht. Dabei kommt es abhängig
62 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

vom Ort der Schädigung nozizeptiver Strukturen zum zentralen neuropathischen


und/oder peripheren neuropathischen Schmerz.
Schmerzqualitäten: brennend, schneidend, elektrisierend, einschießend; es lie-
gen Sensibilitätsstörungen vor, wie z. B. Hypästhesie, Hyperästhesie, Dysästhesie,
Hypalgesie, Hyperalgesie, Allodynie.

Mixed-Pain Schmerz, bei dem neuropathische und nozizeptive Schmerzkompo-


nenten gemeinsam auftreten.

Emotionaler Schmerz Psychische, soziale und spirituelle Faktoren können


den Schmerz beeinflussen und selbst Auslöser von Schmerzen sein. Bei Patien-
6 ten in einer Palliativsituation ist eine ausführliche Beurteilung der unerfüllten
Bedürfnisse und Leiden auf der psychischen, sozialen und spirituellen Ebene
notwendig, um das Schmerzerleben des Patienten zu verstehen und lindern zu
können.

kDiagnostik
Oft fällt es Patienten sehr schwer, überhaupt eine Aussage über die aktuelle
Schmerzstärke zu machen. Mehr als der absolute Wert ist der Verlauf der Schmerz-
stärke entscheidend. Eine allgemein etablierte Art, Schmerzintensität zu quantifi-
zieren, ist mit Hilfe des Numeric Rating Scale (NRS) oder der Visual Analog Scale
(VAS) möglich (7 Kap. 4.3). Diese Skalen können problemlos von allen Teammit-
gliedern angewendet werden. Es ist sinnvoll, mehrmals täglich eine routinemäßige
Erfassung der Schmerzintensität durchführen zu lassen, um einen Überblick über
den Schmerzverlauf erhalten zu können.
Neben der Schmerzstärke sollte der Patient aber auch nach seiner Zufrieden-
heit mit der Schmerzsituation befragt werden. So gibt es den Patienten, der mit
einem NRS von 7 mit seiner Schmerztherapie voll zufrieden ist und keine weitere
Steigerung der Schmerzmedikation wünscht, um einen »klaren Kopf« zu behalten.
Aber es gibt auch den Patienten, der mit einem NRS von 2 noch sehr unzufrieden
ist und eine Mobilisation aus Schmerzgründen ablehnt.
! Wichtiger als der absolute Wert einer jeden Schmerzskala ist die Zufrie-
denheit des Patienten mit seiner Schmerztherapie.

kTherapie
Eine multimodale Therapie sollte durch unterschiedliche ärztliche Disziplinen
(u. a. Onkologe, Schmerztherapeut, Strahlentherapeut, Nuklearmediziner, Psycho-
therapeut) und den anderen Mitgliedern des Palliativteams (u. a. Pflege, Physio-
therapie, physikalische Therapie, Psychologie, Kunst- und Musiktherapie, Sozial-
arbeitern, Seelsorge) erfolgen und ist die Grundvoraussetzung für eine erfolgs-
6.2 · Schmerz
63 6
versprechende Schmerztherapie bei Tumorpatienten (7 Kap. 2). Ebenso ist das
Therapieziel ehrlich mit dem Palliativpatienten und seinen Angehörigen zu be-
sprechen. Das leichtsinnige Versprechen einer zu erwartenden »Schmerzfreiheit«
kann sehr schnell das Vertrauen in das Behandlungsteam grundlegend erschüttern.
Besser ist es eine, »zufriedenstellende Schmerzreduktion« als Ziel zu definieren
. Tab. 6.3.

. Tab. 6.3 Beispielhafter Überblick über die allgemeinen Schmerztherapieoptionen


und ihre Indikationen

Schmerz- Therapie- Beispiel Mögliche Indikation


therapie option

Kausal Operation Laparotomie Colostoma-Anlage


bei Ileus
Tumordebulking

Chemo- z. B. Cisplatin, Ovarial-Karzinom


therapie Mitoxantron mit massivem
Aszites

Radiatio 1 x 8 Gy Fokale Knochenfiliae


Wirkung oft erst nach
>3 Wochen

Radionuklid- Strontium-89-Chlorid Multifokale


therapie Wirkung erst nach Knochenfiliae
>3 Wochen

Symptomatisch, Physikalische Wärmeanwendung Muskuläre


nicht-pharma- Maßnahmen Bäder Verspannung
kologisch

Physiotherapie Lymphdrainage, Lymphödem nach


Massage axillärer Dissektion;
Muskelverspannung

Psychotherapie Erlernen von Schmerz- Fast immer


bewältigungsstrate-
gien, Entspannungs-
verfahren

Neuro- transkutane elektri- Post-Zoster-


modulation sche Nervenstimula- Neuralgie
tion (TENS)
64 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

. Tab. 6.3 (Fortsetzung)

Schmerz- Therapie- Beispiel Mögliche Indikation


therapie option

Symptomatisch, Analgetika WHO-Stufe 1–3 Fast immer


pharmakolo-
gisch
Koanalgetika Antikonvulsiva Neuropathischer
Schmerz

6 Antidepressiva Neuropathischer
Schmerz
Kortikosteroide Nervenkompression,
Hirndruck; Organ-
kapseldehnung
Bisphosphonate Knochenfiliae
Spasmolytika Kolikartige, viszerale
Schmerzen
Muskelrelaxanzien Muskelverspannung,
Muskelspasmen
Begleit- Antiemetika Incident pain durch
medikation Emesis
Laxanzien Subileus
Invasive Periduralanalgesie Anders nicht zu
Verfahren kontrollierende
Alkoholneurolyse des Abdominal-
Plexus coeliacus schmerzen;
Pankreaskarzinom
Adaptiert nach [16], [17]

Für die pharmakologische Schmerztherapie gelten folgende Grundsätze


. Tab. 6.4.

WHO-Stufenschema Seit der Einführung des Stufenschemas durch die WHO in


Genf 1986 gibt es eine klare Orientierungshilfe in der Schmerztherapie von Tumor-
patienten, durch die bei den meisten Patienten eine zufriedenstellende Schmerzein-
stellung gelingt . Abb. 6.1. Der Gebrauch des WHO-Stufenschemas wird allgemein
als einfach, effektiv und relativ sicher angesehen [18]. Dabei sollte das Schema nicht
6.2 · Schmerz
65 6

. Tab. 6.4 Grundsätze der pharmakologischen Schmerztherapie

Prinzip Beschreibung

1 By the mouth 4 orale Therapie mit retardierten (langwirksamen)


Analgetika ist zu bevorzugen
4 Retardpräparate sollten nicht geteilt werden,
da hierdurch die Retardgalenik zerstört wird
(teilweise Gabe von Retardgranulat für enterale
Sonden möglich)
2 By the clock 4 Einnahme der Analgetika zu festen Uhrzeiten
3 By the ladder 4 Auswahl der Analgetika nach dem WHO-Stufen-
schema
4 Individuelle Auswahl 4 die Auswahl des geeigneten Analgetikums
des Analgetikums, der ist abhängig von Vor- und Begleiterkrankung
Dosierung und kontrol- des Patienten, sowie den Nebenwirkungen
lierte Dosisanpassung und Kontraindikationen des einzelnen Medika-
mentes.

. Abb. 6.1 WHO-Stufen-Schema

starr befolgt, sondern immer individuell auf den einzelnen Patienten angewandt
werden. So kann es auch notwendig sein, einen opioidnaiven Patienten direkt auf
ein Opioid der Stufe 3 einzustellen, wenn es die individuelle Schmerzsituation er-
fordert.
66 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

! Zur Prophylaxe von schmerzmittelinduzierten Nebenwirkungen ist eine


adäquate Gabe von Adjuvantien notwendig:
4 passagere Antiemetikagabe zu Beginn einer Opioidtherapie
4 Obstipationsprophylaxe bei Einnahme von Opioiden
4 Ulkusprophylaxe bei Einnahme von NSAR

In den . Tab. 6.5, . Tab. 6.6 und . Tab. 6.7 sind Beispiele für die einzelnen Stufen
aufgeführt.

Nicht-Opioide
6
. Tab. 6.5 Beispiele für Nicht-Opioid-Analgetika der WHO-Stufe 1

Wirkstoff- Wirkstoff/ Einzeldosis [mg] Inter- Mögliche


klasse Handelsname (maximal erlaubte vall [h] Indikation
(Beispiel) Tagesdosis [mg/d])

Pyrazol- Metamizol/ 500–1.000 (6000) 6 Kolikartige,


Derivat Novalgin® viszerale
Schmerzen
Anilin- Paracetamol/ 500–1.000 (6000) 6–8 Wg. nur geringer
Derivat ben-u-ron® analgetischer
Potenz, nur bei
Kontraindikatio-
nen anderer
Nicht-Opioid-
Analgetika
NSAR Ibuprofen/ 400–800 (2400) 8 Knochenfiliae
IbuHEXAL®
retard
Diclofenac/ 50–100 (150) 12 Knochenfiliae
Voltaren®
COX-2- Celecoxib/ 100–200 (400) 12 Knochenfiliae,
Hemmer Celebrex® bei gleichzeitig
bestehendem
GI-Risiko
Etoricoxib/ 60–120 (120) 24 Knochenfiliae,
Arcoxia® bei gleichzeitig
bestehendem
GI-Risiko
6.2 · Schmerz
67 6

. Tab. 6.5 (Fortsetzung)

Wirkstoff- Wirkstoff/ Einzeldosis [mg] Inter- Mögliche


klasse Handelsname (maximal erlaubte vall [h] Indikation
(Beispiel) Tagesdosis [mg/d])

Selektiver Flupirtin/ 100 (400) 8 Muskelverspan-


Neuronaler Katadolon® nung, Muskel-
Kaliumka- spasmen
nalöffner*
* wird im englischen Sprachgebrauch auch als Selective NEuronal Potassium Channel
Opener (SNEPCO) bezeichnet.

Opioide

. Tab. 6.6 Beispiele für Opioide der WHO-Stufe 2

Wirkstoff Handelsname Orale Dosis [mg] Zeitinter- Analge-


(Beispiel) (maximal erlaubte vall [h] tische
Tagesdosis [mg/d]) Äquivalenz

Tramadol Tramal®-Tropfen 50–100 (400) 4–8 0,1


Tramal® long retard 50–200 (400) 12
Tilidin/ Valoron® N-Tropfen 50–100 (600)* 4–6 0,1
Naloxon Valoron® N retard 50–200 (600)* 8–12
* Dosierungsangabe bezogen auf Tilidin

. Tab. 6.7 Beispiele für Opioide der WHO-Stufe 3

Wirkstoff Handelsname Initialdosis Zeitinter- Analge-


(Beispiel) vall [h] tische
Äquivalenz

Morphin Morphin Merck Tropfen 5–10 mg 4 1


MST Mundipharma® 10–30 mg 8–12
Oxycodon OXYGESIC® AKUT 5 mg 8–12 2
OXYGESIC® retard 5–10 mg
Oxycodon/ Targin® 5/2,5– 8–12 2
Naloxon 10/5 mg
68 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

. Tab. 6.7 (Fortsetzung)

Wirkstoff Handelsname Initialdosis Zeitinter- Analge-


(Beispiel) vall [h] tische
Äquivalenz

Hydro- Palladon® Hartkapseln 1,3 mg 4 5 (–7,5)


morphon Palladon® retard 4 mg 8–12
Jurnista® Retardtablette 8 mg 24
Fentanyl Abstral® 50 μg 15’ / 4 100
PecFent® 100 μg 10’ / 4
6 Durogesic® SMAT 12,5 μg/h (48–) 72
(Pflaster-
wechsel)
Buprenorphin Temgesic® 0,2 mg 6–8 70
Norspan® 5 μg/h 168
Transtec® 35 μg/h (Pflaster-
wechsel)
(48–) 96
(Pflaster-
wechsel)

Koanalgetika Nicht bei allen Patienten kann durch die Anwendung von Opioiden
und Nicht-Opioid-Analgetika eine zufriedenstellende Schmerzlinderung erreicht
werden. Koanalgetika sind Medikamente (. Tab. 6.8), die ursprünglich nicht zur
Schmerzbehandlung zugelassen sind, bei speziellen Schmerzformen jedoch eine
gute analgetische Wirkung zeigen [17].

. Tab. 6.8 Beispiele für mögliche Koanalgetika und ihre Dosierungen

Wirkstoffklasse Wirkstoff/Handelsname Dosis initial [mg/d] Zeitinter-


(Beispiel) (maximal erlaubte vall [h]
Tagesdosis [mg/d])

Antidepressiva Amitriptylin/Saroten® 10–25 (150) unret. zur Nacht


Mirtazapin/Remergil® 7,5–15 (45) zur Nacht
Antikonvulsiva Gabapentin/Neurontin® 300 (3600) 8
Pregabalin/Lyrica® 25–75 (600) (8–) 12
6.2 · Schmerz
69 6

. Tab. 6.8 (Fortsetzung)

Wirkstoffklasse Wirkstoff/Handelsname Dosis initial [mg/d] Zeitinter-


(Beispiel) (maximal erlaubte vall [h]
Tagesdosis [mg/d])

Bisphosphonate Alendronsäure/Fosamax® 70 (70) 168


Kortikosteroide Dexamethason/Fortecortin® 16–24 (48) Morgens
Spasmolytika Butylscopolamin/Buscopan® 10–20 (60) 8
Muskelrelaxanzien Tolperison/Mydocalm® 3 x 50 (150) 8

Bedarfsmedikation Bei breakthrough pain oder incident pain ist die bedarfsweise
Einnahme eines unretardierten (schnellwirksamen) Analgetikums erforderlich.
Ungefähr 60 % der Tumorpatienten leiden unter solchen kurzfristigen Schmerz-
exazerbationen [19]. Bei einem Bedarf von ≥ 3/d ist zu überprüfen, ob die Basis-
medikation ausreichend ist, evtl. ist eine Eskalation nach dem WHO-Stufenschema
notwendig. Die Bedarfsmedikation von nichtretardierten Opioiden sollte individu-
ell titriert werden. Primär kann jedoch mit 1/6–1/10 der retardierten Tages-Opioid-
dosis begonnen werden [16].

Zusammenfassung
Schmerztherapie in der Palliativmedizin geht von einem total pain Konzept
aus, das Schmerz als Gesamtausdruck von Leid auf der körperlichen, psychi-
schen, sozialen und spirituellen Ebene versteht. Jeder Schmerztherapie muss
eine differenzierte Anamnese zu Schmerzqualität, und -typ vorausgehen. Das
WHO-Stufenschema zur rationalen Schmerztherapie bildet als Orientierungs-
hilfe die Grundlage der pharmakologischen Schmerztherapie in der Palliativ-
medizin. Schmerzlinderung ist eine Aufgabe des gesamten interprofessionellen
Palliativteams.

Literatur
[12] Merskey H, Bogduk N (1994) Part III: Pain Terms, A Current List with Definitions and Notes
on Usage (pp 209-214), Classification of Chronic Pain, Second Edition, IASP Task Force on
Taxonomy. IASP Press, Seattle
[13] Diegelmann C, Isermann M (2009) Ressourcenorientierte Psychoonkologie. Kohlhammer,
Stuttgart
[14] Schwarzer A, Klaschik E, Nauck F (2005) Schmerztherapie bei Patienten mit inkurablen
Tumorerkrankungen, Dtsch Med Wochenschr 130:2561–2565
70 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

[15] Hatzenbühler M, Fresenius M, Heck M, Benrath J (2007) Repetitorium Schmerztherapie.


Springer, Berlin
[16] Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (2007) Empfehlungen zur Therapie
von Tumorschmerzen. Arzneiverordnung in der Praxis (Therapieempfehlungen). Band
34, Sonderheft 1
[17] Aulbert E, Nauck F, Radbruch L (2008) Lehrbuch der Palliativmedizin. 2. Auflage. Schattauer,
Stuttgart
[18] Azevedo São Leão Ferreira K, Kimura M, Jacobsen Teixeira M (2006) The WHO analgesic
ladder for cancer pain control, twenty years of use. How much pain relief does one get
from using it? Support Care Cancer 14:1086–1093
[19] Nauck F, Eulitz N (2007) Tumorschmerztherapie. Schmerz 21:359-372

6 Weiterführende Literatur
Fragebogen für Schmerz-Patienten, Schmerzfragebogen der Arbeitsgruppe Dokumentation
der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS); www.dgss.org
Basler HD et al. (2001) Ein strukturiertes Schmerzinterview für geriatrische Patienten. Schmerz
15:164-171
World Health Organization (1998) Manual on the Prevention and Control of Common Cancers
7. Chapter: Cancer pain relief and palliative care. WHO Regional Publications, Western
Pacific Series No. 20

6.3 Appetitlosigkeit

Zehnder-Kiworr
kDefinition
Appetitlosigkeit, griech. anorexie, bezeichnet einen verminderten Antrieb zur
Nahrungsaufnahme oder ein reduziertes Bedürfnis zu essen. Manche Patienten
empfinden aber auch ein verfrühtes Sättigungsgefühl oder eine Abneigung gegen
(spezielle) Nahrungsmittel.

kEpidemiologie
Ca. 75–80 % aller Patienten mit bösartigen Erkrankungen leiden unter Appetitlo-
sigkeit, auch bei nicht-malignen Erkrankungen tritt das Symptom häufig auf (z. B.
in ca. 40 % bei chronischer Niereninsuffizienz).

kAuswirkungen auf die Lebensqualität


Nahrungsaufnahme hat eine wichtige Bedeutung in sozialer Hinsicht (u. a. gemein-
same Mahlzeiten) und als »Genusserlebnis«. Die Zubereitung und Gabe von Nah-
rung ist für die Angehörigen oft ein wichtiger Akt der Fürsorge, die Ablehnung von
Nahrung wird als Zurückweisung empfunden.
6.3 · Appetitlosigkeit
71 6
kUrsachen
Appetitlosigkeit hat oft mehrere Ursachen. Sie kann krankheitsbedingt oder the-
rapiebedingt sein. Wichtig ist es, korrigierbare Ursachen zu finden und zu be-
handeln.

Primäre Ursache Durch die Ausschüttung von Zytokinen des Immunsystems als
Reaktion des Körpers auf die (Tumor)erkrankung wird die neurohormonelle
Steuerung der Nahrungsaufnahme im Hypothalamus gestört und Appetitlosigkeit
verursacht.

Sekundäre Ursachen
4 Mundtrockenheit
4 Stomatitis
4 Dysphagie
4 Geruchs- und Geschmackstörungen
4 Magenentleerungsstörungen
4 Obstipation
4 Obstruktion
4 Übelkeit
4 Schmerzen
4 Dyspnoe
4 Depression
4 Hyperkalzämie
4 bewusste Nahrungsverweigerung
4 Fatigue

kDiagnostik
Appetitlosigkeit ist ein subjektives Symptom, dessen Intensität am besten vom Pa-
tienten selbst eingeschätzt werden kann (Ggf. Verwendung einer visuellen oder
numerischen Analogskala 7 Kap. 4).
Der Ausschluss korrigierbarer Ursachen steht im Vordergrund der Diagnostik
bei Appetitlosigkeit, besonders Übelkeit und Erbrechen (7 Abschn. 6.5) sind häu-
fige Gründe für Appetitmangel. Appetitlosigkeit kann aber auch ein Ausdruck von
Angst und Depression sein (7 Abschn. 6.11 und 7 Abschn. 6.12).
Im Allgemeinen sollten die folgenden Punkte beachtet werden:
4 ausführliche Ernährungsanamnese (Vorlieben, tageszeitliche Veränderung des
Appetits, Probleme bei der Nahrungsaufnahme …)
4 Medikation überdenken (z. B. Größe und Menge von Tabletten, alternative
Applikationsformen)
4 körperliche Untersuchung mit Inspektion von Mund und Rachenraum
4 ggf. Laboruntersuchungen
72 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

kTherapie
Die Therapie der Appetitlosigkeit ist mehrstufig:
! Therapieziel ist nicht unbedingt eine Steigerung der Nahrungsaufnah-
me, sondern die Steigerung der Lebensqualität des Patienten. Die
Angehörigen sollten darüber aufgeklärt werden, dass Appetitlosigkeit
in der letzten Lebensphase »normal« ist.

Potentiell korrigierbare Ursachen bekämpfen Optimale Kontrolle u. a. von


Schmerzen 7 Abschn. 6.2, Übelkeit 7 Abschn. 6.5, Dyspnoe 7 Abschn. 6.9, Angst
7 Abschn. 6.11, Depression 7 Abschn. 6.12.
6
Nicht-pharmakologische Therapie Aufklärung von Patient und Angehörigen
darüber, dass weniger Appetit und geringere Nahrungsaufnahme in der letzten
Lebensphase normal sind, Ernährungsberatung (7 Abschn. 6.4).

Pharmakologische Therapie Eine medikamentöse Steigerung des Appetites ist


mit den folgenden Medikamenten möglich . Tab. 6.9:

. Tab. 6.9 Medikamente zur Appetitsteigerung

Wirkstoff- Wirkstoff Dosis Mögliche Indikation


klasse

Prokinetika Metoclopramid 60 mg/d p.o., Motilitätsstörungen, Dyspep-


sie, frühzeitiges Sättigungs-
gefühl
Kortikosteroide Dexamethason 2–4 mg/d Kurzfristiger Einsatz (Effekt
p.o. nur für einige Wochen nach-
weisbar)
Progesteron- Megestrolacetat 160–320 mg/ Langfristiger Einsatz (Neben-
analoga d p.o. wirkungen beachten!)
Cannabinoide Delta-9-Tetrahy- 2,5–20 mg/ Einsatz als 2. Wahl oder in
drocannabinol d p.o. Kombination, schwer zu
steuern
6.4 · Ernährung
73 6
Enterale Ernährung und parenterale Ernährung 7 Abschn. 6.4

Zusammenfassung
Nahrungsaufnahme ist überlebenswichtig. Deshalb wird Appetitlosigkeit oft
mit dem nahenden Ende des Lebens in Verbindung gebracht und führt zu
großer Angst und Sorge bei Patienten und Angehörigen. Appetitlosigkeit ist
deshalb ein wichtiges Symptom in der Palliativmedizin, welches zu Gesprächen
über Prognose und Prioritäten in der letzten Phase des Lebens mit Patienten
und Angehörigen anregen sollte.

Weiterführende Literatur
Grossberg A (2010) Hypothalamic mechanisms in cachexia. Physiol Behav 100:478-489
Steward GD, Skipworth RJE, Fearon KCH (2010) The Anorexia-Cachexia Syndrome. In: Walsh
DT (Hrsg.) Palliative Medicine. Saunders Elsevier, Philadelphia
Mantovani G (2001) Managing Cancer-Related Anorexia/Cachexia. Drugs 61(4):499-514

6.4 Ernährung

Zehnder-Kiworr

In der Palliativmedizin wird Ernährung häufig zum Thema, wenn ein Patient nicht
mehr in der Lage ist, die Mengen an Nahrung zu sich zu nehmen, die wir als gesun-
de Menschen gewohnt sind. Die Frage nach dem Einsatz von enteraler oder paren-
teraler Ernährung stellt sich zu diesem Zeitpunkt für Patienten, Angehörige und
das betreuende Team und kann zu kontroversen Diskussionen führen, die oft von
Angst geprägt sind (»Wir können ihn doch nicht verhungern lassen …«). Wichtig
ist es deshalb, die Indikationen für verschiedene Maßnahmen zu kennen und sich
bei der Entscheidung von ethischen Prinzipien leiten zu lassen.

jErnährungsberatung
Der Patient und seine Angehörigen sollten darüber aufgeklärt werden, dass die
Minderung der Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit ein Teil des natürlichen
Sterbeprozesses ist und dass der größte Teil der Patienten mit fortgeschrittenen
Erkrankungen kein Hungergefühl verspürt.
Die Förderung der oralen Nahrungsaufnahme ist der wichtigste Grundpfeiler
der Ernährung in der Palliativmedizin. Sie sollte jeder Form von enteraler oder
parenteraler Ernährung vorgezogen werden. Hierbei steht im Vordergrund, dem
Patient den Genuss des Essens möglich zu machen. Erst in zweiter Linie geht es um
74 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

die Zufuhr von Kalorien. Grundsätzlich gilt, dass der Patient entscheidet, ob, was
und wie viel er isst. Eine Reihe praktischer Tipps können helfen, die Nahrungsauf-
nahme zu fördern:
4 häufige kleine Mahlzeiten, kleine Portionen, kleine Teller, appetitliches An-
richten
4 Essensrituale beibehalten (z. B. Stoffserviette …), Essen in Gemeinschaft
4 auf Wunsch verstärkt flüssige Nahrung wie Milch, Suppen, Bier …
4 Essen zu den Tageszeiten, wenn der Hunger am größten ist
4 effektive Mundpflege (7 Abschn. 6.17)

jSondenernährung/Enterale Ernährung
6 Wenn die orale Nahrungsaufnahme bei einem Patienten gestört oder unmöglich
ist, kann die Nahrung mit industriell hergestellten, hochkalorischen Supplementen
(meist Trinknahrung) ergänzt werden. Alternativ kann diese Nahrung über eine
nasogastrale, nasoenterale oder perkutane (PEG, perkutane endoskopische Gas-
trostomie) Ernährungssonde verabreicht werden.
! Jede Anlage einer Ernährungssonde und jede Form von parenteraler
Ernährung ist eine medizinische Maßnahme, die Aufklärung und Einwil-
ligung des Patienten vorrausetzt! (7 Kap. 12.3)

Indikation Eine Indikation zur Sondenernährung besteht bei mechanischen oder


neurologischen Schluckstörungen, wenn die Verdauung und Absorption der Nähr-
stoffe intakt ist. Ein Ausgleich der mangelnden Kalorienzufuhr bei Appetitlosigkeit
(7 Abschn. 6.3) durch enterale Ernährung ist grundsätzlich möglich und in frühen
Erkrankungsstadien sinnvoll.

Risiko-Nutzen Abwägung Hauptkomplikation der Ernährung mit einer Ernäh-


rungssonde ist die Aspiration von Ernährungslösung mit einer eventuell folgenden
Aspirationspneumonie, es kann aber auch zu Infektionen oder Diarrhöen kom-
men. Auch Übelkeit und Erbrechen in der Finalphase können durch eine Ernäh-
rungssonde verursacht werden. Eine PEG-Sonde kann aber auch als Ablaufsonde
bei Obstruktion genutzt werden und ggf. die Fortsetzung der oralen Nahrungsauf-
nahme ermöglichen.
! Bei bestehender Indikation und in frühen Krankheitsstadien ist enterale
Ernährung sinnvoll.

jParenterale Ernährung
Indikation Wenn die enterale Resorption von Nahrungsstoffen eingeschränkt ist
(z. B. Kurzdarmsyndrom) oder eine maligne enterale Obstruktion vorliegt, besteht
6.4 · Ernährung
75 6
eine grundsätzliche Indikation zur parenteralen Ernährung (Ernährung unter Um-
gehung des Gastrointestinaltraktes).

Risiko-Nutzen-Abwägung Komplikationen wie Infektion, Sepsis, embolische Er-


eignisse und Flüssigkeitseinlagerungen sind häufig. Die Einschränkung der Bewe-
gungsfreiheit durch die Infusionstherapie wird von einigen Patienten zusätzlich als
belastend empfunden. Der logistische Aufwand der parenteralen Ernährung sollte
nicht unterschätzt werden.

Fazit Die parenterale Ernährung wird in der Palliativmedizin nur selten eingesetzt.
In Einzelfällen (siehe Indikationen) kann ihr Einsatz sinnvoll sein, dann muss die
optimale Zusammensetzung der Ernährung individuell berechnet werden.

jSterbephase
In der Sterbephase benötigt der menschliche Körper keine Nahrung mehr. Eine
bereits begonnene enterale oder parenterale Ernährung sollte beendet werden
[20].

Zusammenfassung
Maßnahmen zur Ernährung sollten abhängig von der Prognose des Patienten,
seinem Allgemeinzustand und seinen individuellen Wünschen eingeleitet
werden. Die Entscheidung sollte von einer Abwägung von Nutzen und Risiken
sowie von dem Streben nach Autonomie für den Patienten geleitet werden.
Therapieziel muss die Steigerung der Lebensqualität sein. Die Indikation für
eine enterale oder parenterale Ernährung muss sorgfältig gestellt und regel-
mäßig überprüft werden. Der Patientenwille hat oberste Priorität. In der Sterbe-
phase ist eine enterale oder parenterale Ernährung nicht mehr indiziert.

Literatur
[20] Arends J (2006) ESPEN Guidelines on Enteral Nutrition. Clin Nutr 25(2):245-259

Weiterführende Literatur
Bozzetti F (1996) Guidelines on Artificial Nutrition Versus Hydratation in Terminal Cancer
Patients. Nutrition 12(3):163-167
Van den Eynden B, Derycke N, Ceulemans L (2010) Nutrition in Palliative Medicine. In: Walsh
DT. (Hrsg.) Palliative Medicine, Philadelphia
76 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

6.5 Übelkeit und Erbrechen

Bausewein, Rémi
kDefinition
Übelkeit ist das unangenehme Gefühl, erbrechen zu müssen, oft verbunden mit
vegetativen Begleiterscheinungen wie Appetitlosigkeit, Speichelfluss oder vegeta-
tiver Symptomatik.
Beim Erbrechen kommt es zum kraftvollen Ausstoß von Mageninhalt über den
erweiterten Ösophagus und Pharynx. Es handelt sich um zwei eigenständige Symp-
tome, die jedoch häufig gemeinsam auftreten.
6 Ungefähr 60 % der Patienten mit fortgeschrittenen Karzinomen (v. a. Mamma-,
Magen- oder gynäkologischen Tumore) leiden an Übelkeit und/oder Erbrechen,
ca. 40 % sind in den letzten Lebenswochen betroffen. Insgesamt wird Übelkeit
häufiger als Erbrechen beklagt. Beide Symptome werden von Patienten als sehr
belastend empfunden, wobei anhaltende Übelkeit oftmals schwerer zu ertragen ist
als Erbrechen.
ä Patientin Frau M.
52 Jahre, metastasiertes Ovarialkarzinom, Obstruktion im oberen Gastrointesti-
nal-Trakt, erbricht jegliche zugeführte Flüssigkeit oder Nahrung sofort. Trotz
Therapieversuche mit verschiedensten Antiemetika ist keine Besserung des
Erbrechens festzustellen. Ein ausgiebiges Gespräch mit der Patientin ergibt
jedoch, dass Frau M. kaum unter Übelkeit leidet. Das regelmäßige Erbrechen
empfindet sie nicht belastend, solange sie weiterhin ihre Lieblingsgerichte ver-
zehren kann.

kUrsachen und Differentialdiagnosen


Das Spektrum an Ursachen und Differentialdiagnosen ist sehr breit und heterogen
. Tab. 6.10. Oft bestehen mehrere Ursachen gleichzeitig. Die Identifikation mög-
licher Ursachen ist von großer Bedeutung für adäquate Therapieentscheidungen.

kAnamnese und Diagnostik


Anamnese Aussehen, Farbe, Geruch und Menge des Erbrochenen; zeitlicher Zu-
sammenhang mit Nahrungsaufnahme und anderen Ereignissen.

Körperliche Untersuchung Fieber, Herdneurologie, Exsikkose, Papillenödem,


Mundsoor, abdominelle Tumormassen, Hepatomegalie, epigastrischer Druck-
schmerz, rektale Untersuchung (harter Stuhl in der Ampulle).

Labor Kalzium, Elektrolyte, Kreatinin, Harnstoff, Bakteriologie des Urins.


6.5 · Übelkeit und Erbrechen
77 6

. Tab. 6.10 Ursachen und Differentialdiagnosen von Übelkeit und Erbrechen

Ursachen Differentialdiagnosen

Gastrointestinal Mund: Mukositis, Soorbefall


Ösophagus: Soor, Obstruktion, Ulzeration, Spasmus
Gastrale Irritation: Gastritis, Ulkus, Tumor, NSAR, Antibiotika,
Alkohol, Blut
Gastrale Stase: Hepatomegalie, Tumor, Aszites, Anticholiner-
gika, autonome Dysfunktion
Obstipation, gastrointestinale Obstruktion
Bestrahlung im Bereich des Gastrointestinaltraktes
Metabolisch – Metabolisch: Hyperkalzämie, Urämie, Hyponatriämie, Infek-
chemisch induzierte tionen, Toxine
Veränderungen Medikamente: Opioide, NSAR, Antikonvulsiva, Antibiotika,
Zytostatika
ZNS-Veränderungen Erhöhter intrakranieller Druck durch Primärtumor oder
Metastasen, zerebrale Blutung, Meningeosis carcinomatosa,
Meningitis
Vestibuläre Veränderungen: Knochenmetastasen in Schädel-
basis, Labyrinthaffektionen
Psychische Stress, Erinnerung, Angst, Depression, Schmerz
Veränderungen

Bildgebende Verfahren Sonographie, Endoskopie.

kTherapie
Interventionelle Therapie Selten notwendig; Ggf. Stent oder Ablauf-PEG bei obe-
rer GI-Obstruktion.

Medikamentöse Therapie Die Substanzauswahl sollte nach wahrscheinlicher Ur-


sache und Wirkspektrum des Antiemetikums erfolgen . Tab. 6.11.
4 Antiemetikum regelmäßig und zusätzlich bei Bedarf
4 prophylaktische Gabe
4 engmaschige Re-Evaluation mit Dosiserhöhung des gewählten Antiemeti-
kums
4 bei Versagen Ersetzen durch anderes Antiemetikum
4 ggf. Kombination zweier Antiemetika mit unterschiedlichen Wirkspektren
4 orale Gabe nur sinnvoll, um Übelkeit vorzubeugen oder bei leichter Übelkeit
78 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

. Tab. 6.11 Ursachenorientierte Substanzauswahl

Ursachen Hauptwirkstoff und Dosierung

Gastrointestinal Magenparese, Reduk- Metoclopramid 10–20 mg alle 4–6 h


tion GI-Motilität p.o., s.c., i.v.
Maligne GI-Obstrukti- Haloperidol 0,5–1 mg alle 8 h p.o., s.c.
on, Bestrahlungsfolgen Levomepromazin 1–5 mg alle 12 h
p.o., s.c.
5HT3 Antagonisten p.o., i.v.

6 Metabolisch – Opioide Haloperidol 0,5–1 mg alle 8–24 h


chemische Hyperkalzämie, Urämie p.o., s.c.
Veränderungen Levomepromazin 1–5 mg alle 12 h
p.o., s.c.
ZNS-Verände- Hirndruck Dimenhydrinat 50–100 mg alle 6–8 h
rungen Bewegungsbedingt p.o., i.v.,
Dexamethason 2–8 mg alle 24 h p.o.,
i.v., s.c.
Psychische Angst, Stress Lorazepam p.o. 0,5–2 mg
Veränderungen
Nicht alle Medikamente sind in den aufgeführten Indikationen, Applikationswegen
oder Dosierungen zugelassen (off-label use)

4 bei anhaltender Übelkeit oder wiederholtem Erbrechen parenterale oder rek-


tale Gabe, da orale Medikamente nicht resorbiert werden.

Nicht-medikamentöse Therapie
4 Absetzen verzichtbarer Medikamente
4 Behandlung reversibler Ursachen soweit möglich (z. B. Hirndruck, Hyperkal-
zämie, Obstipation, Aszites, Husten)
4 Diätberatung: Viele kleine Mahlzeiten, Lieblingsspeisen, kalte Speisen werden
oft bevorzugt, Essen in entspannter Atmosphäre, Vermeidung von zu starkem
Essensgeruch
4 unterstützende Maßnahmen: autogenes Training, psychische Begleitung,
Kunsttherapie
6.6 · Obstipation
79 6
Zusammenfassung
Die beiden eigenständigen Symptome Übelkeit und Erbrechen haben massi-
ven Einfluss auf die Lebensqualität des Patienten sowie sein soziales Umfeld.
Komplikationen von Übelkeit und Erbrechen wie die unsichere Medikamenten-
wirkung, Elektrolytentgleisungen und Aspiration können weitreichende Konse-
quenzen haben. Reversible Ursachen sollten, soweit möglich, als erstes behan-
delt werden. Die medikamentöse Therapie muss ursachenspezifisch erfolgen.

Weiterführende Literatur
Glare PA et al. (2008) Treatment of nausea and vomiting in terminally ill cancer patients.
Drugs 68(18):2575-2590
Twycross R et al (2009) Symptom Management in Advanced Cancer. 4th Ed. palliativedrugs.
com, Nottingham

6.6 Obstipation

Bausewein, Rémi
kDefinition
Unregelmäßige bzw. fehlende Entleerung von hartem Stuhl. Subjektive Anhalts-
punkte für Obstipation: Schwierigkeiten beim Absetzen des Stuhles, evtl. auch mit
Schmerzen verbunden, geringe Stuhlmenge.
Etwa die Hälfte der Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankungen ist
obstipiert. Für die Patienten ist eine über mehrere Tage bis zwei Wochen fehlende
Stuhlentleerung sehr belastend. Mögliche Komplikationen einer Obstipation sind
Ileus, Durchwanderungsperitonitis sowie eine Problemverschiebung durch zu star-
ke Fixierung auf die Obstipation. Obstipation wird häufig der Opioidtherapie zu-
geschrieben, kommt jedoch bereits in der normalen Bevölkerung mit hoher Prä-
valenz vor. Eine orale Obstipationsprophylaxe ist für die meisten Patienten ange-
nehmer als die Anwendung rektaler Abführmaßnahmen.

kUrsachen und Differentialdiagnosen


4 v. a. Schwäche, verminderte Nahrungsaufnahme, Bewegungsmangel durch
eingeschränkte Mobilität, Bettlägerigkeit und Flüssigkeitsmangel
4 Medikamente: Opioide, Medikamente mit anticholinerger Wirkungen (z. B.
trizyklische Antidepressiva, Levomepromazin, Butylscopolamin), Sedativa,
Diuretika, Antazida (aluminiumhaltige), längerer Laxanzienabusus
4 gastrointestinale Obstruktion (7 Kap. 6.7), neurogene Störungen durch Tumor-
infiltration oder neurologische Grunderkrankung
80 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

4 Hyperkalzämie, Hypokaliämie
4 als Differentialdiagnose: gastrointestinale Obstruktion

kAnamnese und Diagnostik


Anamnese Häufigkeit der Darmentleerungen, Beschaffenheit und Menge des
Stuhls (selbst anschauen), frühere Stuhlgewohnheiten, Ernährung, vorausgegan-
gene Medikamenten- und Laxanzieneinnahme.

»Paradoxe Diarrhö«
Diarrhö und Obstipation wechseln sich ab. Dies kann auf impaktierten Stuhl
6 infolge stark verhärteten Darminhaltes hinweisen (»Kotsteine«). Das Darmvolu-
men kann dabei fast vollständig verschlossen werden, was oberhalb des Ver-
schlusses zu einer Verflüssigung des Darminhaltes durch bakterielle Zersetzung
führt.

Körperliche Untersuchung Tastbare Kotansammlung im Abdomen, Darmge-


räusche, rektale Untersuchung: schmerzhafte Analulzera, -fissuren, Hämorrhoi-
den, Ampulle mit harten Kotansammlungen, tastbarer Tumor.

Apparative Untersuchungen Selten notwendig, ggf. Abdomensonografie, Abdo-


menübersichtsaufnahme.

Labor Bei Verdacht auf Hyperkalzämie und Hypokaliämie.


! Die Aussage des Patienten, frühere Stuhlgewohnheiten und mögliches
multifaktorielles Geschehen sollte man in die Diagnose miteinbeziehen.

kTherapie
Die Therapie setzt sich aus medikamentösen und nicht-medikamentösen Behand-
lungsstrategien zusammen. Eine interventionelle Behandlung ist selten indiziert.
Meist dauert es einige Tage bis zu zwei Wochen, einen obstipierten Darm wieder in
Gang zu bekommen. Die Patienten sollten etwa alle 3 Tage Stuhlgang haben.

Medikamentöse Therapie
4 keine Zurückhaltung bei der Verordnung von Laxanzien
4 Laxanzien . Tab. 6.12
4 Langzeitfolgen der Laxanzien kommen bei Palliativpatienten selten zum Tra-
gen, rechtzeitige Prophylaxe und rechtzeitiges Handeln beim Auftreten einer
Obstipation wichtig
6.6 · Obstipation
81 6

. Tab. 6.12 Substanzengruppen und Wirkstoffe in der Laxanzientherapie

Substanz- Hauptwirkstoff Applikation Bemerkungen


gruppe

Osmotische Lactulose Oral NW: Blähungen und Völle-


Laxanzien 7,5–30 ml/d gefühl für einige Zeit

Macrogol Oral Sehr gute Verträglichkeit


1–3 Beutel/d Bilanzneutral, keine klinisch
relevante Wasser- und
-Elektrolytverschiebung
Nachteil: relativ große Flüs-
sigkeitsmenge notwendig
Initialer Wirkeintritt: 2–3 d,
dann 8–24 h
Sorbitol Rektal Kann oft nicht »gehalten«
1 Klistier werden

Stimulierende Natriumpicosulfat Oral/rektal Nicht bei gastrointestinaler


Laxanzien 10 mg p.o./d Obstruktion
10 mg rektal

Bisacodyl Oral/rektal Bei Subileus Schmerzen


5–20 mg p.o./d möglich
1–2 Supp. rektal
Gleitmittel Paraffin Oral Nachteil: Geschmack
10–30 ml/d
Glyzerin Rektal Gute Verträglichkeit
1–2 Supp.
Sonstige Methylnaltrexon Subkutan Wirkungseintritt: 30–60 min.
8–12 mg s.c. alle NW: abdominelle Schmerzen,
2 Tage Übelkeit, Schwindel, nur bei
opioidinduzierter Obstipation,
Dosisreduktion bei Leber-
und Niereninsuffizienz;
Nicht alle Medikamente sind in den aufgeführten Indikationen, Applikationswegen
oder Dosierungen zugelassen (Off-Label Use)
82 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

. Tab. 6.13 Therapeutischer Stufenplan bei Obstipation

Stufe Maßnahme

1 Orale Laxanzien z. B. Macrogol und/oder stimulierendes Laxans, individuelle


Dosierung nach Schweregrad
2 Rektale Abführmaßnahmen
3 Hohe Einläufe
4 Methylnaltrexon (bei opioidbedingter Obstipation bzw. Nichterfolg von
1–3)
6
5 Für sehr schwere Fälle: Amidotrizoesäure oral
Nicht alle Medikamente sind in den aufgeführten Indikationen zugelassen (off-label use)

4 Reduktion obstipationsverstärkender Medikamente


4 Stufenplan für medikamentöse Prophylaxe und Therapie . Tab. 6.13

Nicht-medikamentöse Therapie Pflegerische Maßnahmen: Kolonmassage, Ein-


läufe (z. B. mit Milch und Honig).

Zusammenfassung
Wichtig für die Diagnosestellung sind frühere Stuhlgewohnheiten sowie aktu-
elle Beschwerden des Patienten. Obstipation tritt als häufige Nebenwirkung
der Opioidtherapie auf, andere Ursachen müssen jedoch auch in Betracht
gezogen werden. Ein stufenweises Behandlungsprotokoll mit rektalen Maß-
nahmen nach Scheitern der oralen Prophylaxe/Therapie ist empfehlenswert.

Weiterführende Literatur
Foxx-Orenstein AE et al. (2008) Update on constipation: one treatment does not fit all. Cleve
Clin J Med 75(11):813-824
Larkin PJ et al. (2008) The management of constipation in palliative care: clinical practice
recommendations. Palliat Med 22(7):796-807
Solomon R et al. (2006) Constipation and diarrhea in patients with cancer. Cancer J 12(5):355-
364
Wirz S et al. (2008) Obstipation in der Palliativmedizin. Zeitschrift für Palliativmedizin 9:
11-26
6.7 · Obstruktion/Ileus
83 6
6.7 Obstruktion/Ileus

Bausewein, Rémi
kDefinition
Passagebehinderung des Magen-Darm-Traktes durch Verschluss des Darmlumens
(mechanischer Ileus). Die Hauptsymptome sind Übelkeit und Erbrechen (intermit-
tierend oder kontinuierlich), Schmerzen (kontinuierlich oder kolikartig), Obstipa-
tion, aber auch (»paradoxe«) Diarrhöen.

kEpidemiologie
Bei kolorektalen Tumoren tritt eine Obstruktion bei 10–28 %, bei Ovarialkarzino-
men bei ca. 20–50 % der Patienten auf. Ein erhöhtes Obstruktionsrisiko besteht
auch bei Patienten mit Zervix-, Prostata- und Blasenkarzinomen. Bei 60 % der
Betroffenen handelt es sich um einen Dünndarmbefall, bei ca. 33 % um den Befall
des Kolons. Bei über 20 % der Patienten sind beide Darmabschnitte befallen.
In Abhängig von der Schwere der Symptome sind die Einschränkungen der
Lebensqualität mäßig bis stark, v. a. aufgrund eingeschränkter Nahrungs- und
Flüssigkeitsaufnahme.
Mögliche Komplikationen sind die erfolglose Kontrolle von Übelkeit und Er-
brechen sowie eine Darmperforation.

Die Unterscheidung zwischen einem kompletten und einem inkompletten


Verschluss ist oft schwierig; bei komplettem Verschluss hat der Patient keine
Winde mehr. Eine spontane Rückbildung der Symptome ist auch ohne Therapie
möglich.
84 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

kUrsachen und Differentialdiagnosen


j. Tab. 6.14

. Tab. 6.14 Ursachen und Differentialdiagnosen einer gastrointestinalen Obstruktion

Tumorbedingt Therapiebedingt Differentialdiagnosen

4 Druck auf das Darm- 4 Adhäsionen nach 4 Obstipation


lumen von außen abdomineller OP oder 4 paralytischer Ileus
durch Tumormassen Bestrahlung (Darmlähmung infolge
oder Adhäsionen 4 Nebenwirkung von mangelnder Propulsion)
6 4 intraluminaler Ver- Medikamenten auf 4 Adhäsionen
schluss des Darms gastrointestinale 4 Briden
4 Motilitätsstörungen Motilität: 4 entzündliche Darmer-
des Darms durch – Opioide krankungen
Tumorinfiltration in – trizyklische Anti- 4 Darmstrikturen als
das Mesenterium depressiva Spätfolge einer Strah-
oder den Plexus – Anticholinergika lentherapie
coeliacus – Neuroleptika

kAnamnese und Diagnostik


Abdomenübersichtsaufnahme, wenn möglich im Stehen, sonst in Linksseitenlage,
Sonografie, Abdomen CT.

kTherapie
Interventionelle Therapie
4 gastro-duodenale Obstruktionen: selbst-expandierende Metallstents, z. B. nach
Laserung oder Ballondilatation; kolorektale Verschlüsse: Metallstent
4 Operation: nicht routinemäßig, da häufig inoperable Situation; grundsätzlich
aber bei jedem Patienten zu erwägen
4 Magensonde: nur vorübergehend bis Entscheidung über Operation getroffen,
keine Dauerlösung; alternativ Ablauf-PEG

Medikamentöse Therapie Symptomorientierte medikamentöse Therapie als Al-


ternative, wenn Operation nicht möglich.
Kombination von verschiedenen Medikamenten in einer Spritzenpumpe zur
parenteralen Gabe (s.c. oder i.v.) . Tab. 6.15.
6.7 · Obstruktion/Ileus
85 6

. Tab. 6.15 Symptomorientierte medikamentöse Therapie bei gastrointestinaler


Obstruktion

Symptom Hauptwirkstoff Kommentar

Übelkeit und Metoclopramid 4 Metoclopramid nur, wenn kein kom-


Erbrechen pletter Verschluss; bei Verstärkung von
Erbrechen und abdominellen Schmer-
zen sofort absetzen

Dimenhydrinat, 4 bei komplettem Verschluss, wenn


Haloperidol, Metoclopramid kontraindiziert ist
Levomepromazin, 4 Zur Reduktion der gastrointestinalen
Butylscopolamin, Sekretion (nicht Haloperidol)
Octreotid

Dexamethason 4 antiödematös, zur Wiedereröffnung des


Lumens, auch antiemetisch
Schmerzen Metamizol, Morphin Häufig in Kombination notwendig

Butylscopolamin Spasmolytisch
Obstipation Paraffin (Gleitmittel), Nur bei Verdacht auf partiellen Verschluss;
Docusat-Natrium Propulsiv wirksame Laxanzien und hohe
Einläufe nur unter enger Überwachung
einsetzen
Dosierungen . Tab. 6.11. Nicht alle Medikamente sind für die aufgeführten Indikatio-
nen zugelassen (Off-Label Use).

Nicht-medikamentöse Therapie
4 kaum diätetische Einschränkungen: Nahrungsauswahl nach Vorlieben des Pa-
tienten, sinnvoll sind eher kleinere Portionen und weiche Zubereitungen; viele
Patienten bevorzugen Eis
4 wenn kein anhaltendes Erbrechen besteht, ist keine zusätzliche parenterale
Flüssigkeitszufuhr notwendig
4 bei Durstgefühl Eiswürfel zum Lutschen und korrekte Mundpflege
86 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

Zusammenfassung
Gastrointestinale Obstruktionen können in jeder Höhe des Verdauungstraktes
auftreten und werden in proximale Obstruktionen (gastro-ösophagealer Über-
gang, Magenausgang, proximaler Dünndarm) und in distale Obstruktionen
(distaler Dünndarm und Dickdarm) unterschieden. Eine Einschränkung für die
Lebensqualität der Patienten entsteht in den meisten Fällen durch die Folge-
wirkungen der Obstruktion (Übelkeit, Erbrechen, gastrointestinale Krämpfe).
Wenn eine kausale Therapie der Obstruktion nicht mehr möglich ist, wird das
Ziel der pharmakologischen Symptomkontrolle auf Schmerzlinderung sowie
Reduktion von Übelkeit und Erbrechen gerichtet.
6
Weiterführende Literatur
Muir JC et al. (2000) Antisecretory agents in gastrointestinal obstruction. Clin Geriatr Med
16(2):327-334
Roeland E et al. (2009) Current concepts in malignant bowel obstruction management. Curr
Oncol Rep 11(4):298-303
Von Gunten C et al. (2002) Fast facts and concepts #45. Medical management of bowel ob-
struction. J Palliat Med 5(5): 739-740

6.8 Diarrhö

Bausewein, Rémi
kDefinition
Häufige Darmentleerungen (>3x/d) und/oder voluminöser, wässriger Stuhl.
Diarrhö tritt bei 7–10 % der Patienten mit fortgeschrittenen Krebserkrankun-
gen auf. Bei Patienten mit AIDS stellt es mit einer Prävalenz von über 50 % das
häufigste Symptom dar.
Es ist ein häufig extrem belastendes Symptom für Patienten, z. B. wenn sie das
Haus nicht mehr verlassen können. Zu Komplikationen kann es durch Mangel-
ernährung, Flüssigkeits- und Elektrolytverschiebungen, Wundsein der Perianal-
region und ein erhöhtes Dekubitusrisiko kommen.

kUrsachen und Differentialdiagnosen


4 Einnahme von Laxanzien
4 Obstipation oder verhärtete Kotansammlungen mit »paradoxer Diarrhö«
4 gastrointestinale Obstruktion mit teilweiser oder zeitweiser Durchgängigkeit,
d. h. veränderte Motilität
6.8 · Diarrhö
87 6
4 Chemotherapie, Bestrahlung des Abdomens, des Beckens
4 Antibiotika
4 Differentialdiagnose: Stuhlinkontinenz

kAnamnese und Diagnostik


Anamnese Stuhlfrequenz, Aussehen des Stuhls (ungeformt, flüssig), Farbe und
Geruch, allmähliche oder plötzliche Änderung der bestehenden Stuhlgewohn-
heiten, andere abdominelle Symptome (z. B. Krämpfe), vorausgegangene Obsti-
pation, Medikamente.

Abdominelle Untersuchung Palpation von Stuhlansammlungen oder Kotballen,


Darmgeräusche; rektale Untersuchung (Ampulle mit Stuhl gefüllt, rektaler Aus-
fluss, Sphinktertonus?).

Mikrobiologische Untersuchung Bei V. a. bakterielle, virale oder parasitäre Infek-


tion.

Labor Kontrolle der Elektrolyte und Nierenretentionswerte nur bei lang dauernder
und schwerer Diarrhö.

Apparative Untersuchungen Röntgen-Abdomen, Abdomen-Sonografie, endo-


skopische Untersuchung.

kTherapie
Medikamentöse Therapie
4 Absetzen von Laxanzien für mind. 3 Tage; bei gleichzeitiger Opioidtherapie:
Laxanzientherapie in niedrigerer Dosierung nach einigen Tagen wieder auf-
nehmen, um (erneute) Obstipation zu verhindern
4 Opioide: Loperamid, Opiumtinktur
4 absorbierende, adstringierende Substanzen (nicht bei pseudomembranöser
Kolitis): z. B. SMEKTIT® oder Apfelpektin

Nicht-medikamentöse Therapie
4 impaktierter Stuhl im Rektum: digitale Ausräumung, evtl. unter Sedierung
4 vorübergehende Diät: reichlich flüssige Kost zum Flüssigkeits- und Elektrolyt-
ausgleich, Kohlenhydrate (Zwieback, Toastbrot, Reis)
4 keine Milchprodukte außer Naturjoghurt zur Vorbeugung und Behandlung
antibiotikainduzierter Diarrhö
4 falls Patient nicht ausreichend Flüssigkeit aufnehmen kann, parenterale Flüs-
sigkeits- und Elektrolytgabe (i.v. oder s.c.)
88 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

Zusammenfassung
Bei der Diagnosestellung sind vor allem Laxanziengabe oder eine paradoxe
Diarrhö ausreichend zu berücksichtigen; ebenso ist frühzeitig an eine Elektro-
lyt- und Flüssigkeitsubstitution zu denken. Als Therapie ggf. Kombination aus
Opioid und absorbierenden Substanzen.

Weiterführende Literatur
Cherny NI (2008) Evaluation and management of treatment-related diarrhea in patients with
advanced cancer: a review. J Pain Symptom Manage 36(4):413-423
6 Solomon R et al. (2006) Constipation and diarrhea in patients with cancer. Cancer J 12(5):355-
364

6.9 Dyspnoe

Simon, Bausewein, Rémi


kDefinition
Dyspnoe ist eine rein subjektive Erfahrung von Atembeschwerden und stimmt
häufig nicht mit objektiven Messparametern wie Sauerstoffgehalt, Lungenfunktion
oder Bildgebung überein. Dyspnoe wird durch vielfältige körperliche, psycholo-
gische, soziale und umweltbezogene Faktoren beeinflusst und kann eine sekundäre
Verhaltensreaktionen, z. B. Angst auslösen [21].

kAnamnese und Diagnostik


Ziel von Anamnese und Diagnostik sind zum einen der Ausschluss von reversiblen
Ursachen und zum anderen die genaue Erfassung des Symptoms zur effektiven
Therapieplanung und -kontrolle. Reversible Ursachen sind z. B. eine Infektion/
Pneumonie, Anämie, Pleuraerguss, Aszites, Bronchospasmus oder Pneumothorax
und sollten vor einer rein symptomatischen Therapie der Dyspnoe differentialdi-
agnostisch abgeklärt werden.
Neben der Erfassung von Grund- und Begleiterkrankungen und der Medika-
tion werden in der Anamnese der Schweregrad der Dyspnoe (Intensität, z. B. mit-
tels Numeric Rating Skala (NRS) 0–10), die Art der Dyspnoe (kontinuierlich und/
oder Dyspnoeepisoden), die verstärkenden und lindernden Faktoren und die Aus-
löser der Dyspnoe erhoben, sowie die weiteren Begleitsymptome (z. B. Schmerz,
Angst). Bei der körperlichen Untersuchung steht die Auskultation der Lunge im
Vordergrund.
6.9 · Dyspnoe
89 6
kSymptomatische Therapie
Die symptomatische Therapie der Dyspnoe umfasst nicht-medikamentöse und
medikamentöse Therapieoptionen, die möglichst kombiniert werden sollten. Der
Patient sollte über den allgemeinen Umgang mit der Dyspnoe aufgeklärt werden.
Hierzu zählen z. B. regelmäßige Bewegungen, Pausen bei Belastungen, Lagerungs-
hilfen beim Liegen und Sitzen oder Fenster öffnen. Die Einbeziehung des Patienten
(Patientenedukation) ist vor allem bei der Therapie der akuten Verschlimmerung
der Dyspnoe (Dyspnoeepisoden) wichtig und sollte in einem individuellen »Not-
fallplan« festgehalten werden.

kNicht-medikamentöse Therapien
Die nicht-medikamentösen Therapieoptionen umfassen Atemtraining und Beru-
higungstechniken, Ventilatoren und Gehilfen (Rollator) [22].
Es stehen verschiedene Atem- und Beruhigungstechniken zu Verfügung, die
primär das Ziel verfolgen, dass der Patient trotz Dyspnoe ruhiger atmet (Atemfre-
quenzregulierung) und die Kontrolle über seine Atmung zurückerhält, um nicht
durch Angst und Panik die Dyspnoe zu verschlimmern. Hierzu zählen z. B. die
Lippenbremse, Einatmen in den Bauch, gemeinsames Atmen mit einem Partner
und Techniken aus der kognitiven Verhaltenstherapie.
Die Zufuhr frischer oder kühler Luft wird von Patienten mit Dyspnoe häufig
als angenehm und lindernd empfunden. Aus diesem Grund werden zunehmend
Ventilatoren eingesetzt, ob als Ventilator im Zimmer stehend oder von der Decke
hängend oder als Handventilator. Letztere haben den Vorteil, dass sie universell
eingesetzt werden können (Handtaschengröße), kostengünstig sind und die Selbst-
ständigkeit des Patienten fördern. Die Effektivität wurde durch randomisiert-kont-
rollierte Studien belegt [23]. Die Wirkung erfolgt vermutlich über den Trigeminus-
nerv mit Wirkung auf das Atemzentrum [24].
Patienten, die einen Rollator als Gehilfe benutzen, zeigen neben einer längeren
Gehstrecke auch eine Linderung der Dyspnoe. Dieser Effekt wurde in mehreren
Studien demonstriert und beruht vermutlich auf der Unterstützung der Atemhilfs-
muskulatur durch das Aufstützen der Arme, sowie der Unterstützung der Beinmus-
kulatur [25].

kMedikamentöse Therapien
Opioide Opioide (z. B. Morphin) sind die Mittel der 1. Wahl bei der medika-
mentösen Behandlung der Dyspnoe. In Abhängigkeit der Vormedikation des Patien-
ten (opioid-naiv oder -tolerant) und der Grunderkrankung wird mit einer geringen
Dosis eines nicht-retardierten Opioids begonnen (z. B. Morphintropfen) und nach
dem Erreichen der effektiven Dosis auf ein retardiertes Präparat als Dauermedikation
umgestellt. Dieses wird analog zur Schmerztherapie fest angesetzt und nicht nur bei
Bedarf gegeben. In mehreren Studien konnte eine Wirksamkeit für orale und paren-
90 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

terale Morphine gezeigt werden, aber nicht für vernebeltes Morphin (inhalativ) [26].
Schnellwirksame Opioide (z. B. Fentanyl) könnten in der Therapie der Dyspnoe-
episoden eine hilfreiche Option sein, allerdings beruht das Vorgehen derzeit nur auf
klinischer Erfahrung und muss noch in Studien getestet werden. Bei therapie-
gerechter Titration führen Opioide nicht zur Atemdepression. Eine Prophylaxe der
Obstipation wird regelmäßig von Übelkeit des Öfteren benötigt.

Anxiolytika und Sedativa Benzodiazepine werden häufig in der Palliativmedizin zur


Linderung der Dyspnoe eingesetzt, auch wenn sich hierfür in Studien keine Evidenz
zeigt [27]. Als Anxiolytika haben Benzodiazepine möglicherweise eine unterstüt-
zende Rolle in Kontrolle der Angst oder Panik, die häufig mit Dyspnoe einhergehen.
6 Aus diesem Grund sind Benzodiazepine nur bei koexistenter Angst oder bei Thera-
pieversagen der Opioide indiziert oder als Kombination mit einem Opioid.
Für die Anwendung von Promethazin und Levomepromazin gibt es nur kli-
nische Erfahrungen, aber keine ausreichende Studienlage, um die Wirksamkeit
beurteilen zu können.

Sauerstoff Im klinischen Alltag wird Patienten mit Dyspnoe häufig reflexartig Sauer-
stoff verabreicht. Dies kann dem Patienten mehr Schaden als Nutzen zufügen. Ne-
benwirkungen wie die Austrocknung der Schleimhäute, Bewegungseinschränkung
durch Applikationsschläuche und hohe Kosten und Aufwand in der häuslichen Ver-
sorgung sollten kritisch dem Nutzen gegenübergestellt werden. Nur ein kleiner Teil
der Patienten profitiert von der Sauerstoffgabe (Patienten mit Hypoxämie oder
COPD) und es konnte kein Unterschied zwischen Sauerstoff und Raumluft in der
Wirksamkeit festgestellt werden [28]. Aus diesem Grund sollte die Wirksamkeit bei
jedem Patienten in einem kurzen Test (Sauerstoff-Raumluft) getestet werden und ggf.
weniger belastende Therapieverfahren (z. B. Handventilator) eingesetzt werden.

Zusammenfassung
Dyspnoe ist ein häufiges Symptom, unter dem ca. die Hälfte aller Palliativpati-
enten leiden [29]. Patienten mit einer COPD, Lungenkarzinom oder chronischer
Herzinsuffizienz und Patienten in den letzten 6 Lebensmonaten zeigen eine
deutlich höhere Prävalenz (60–95 %). Da Dyspnoe ein sehr belastendes
Symptom ist – nicht nur für den Patienten, sondern auch für die Angehörigen
und Versorger – trägt eine effektive Symptomlinderung zur Verbesserung der
Lebensqualität bei.
Die symptomatische Therapie der Dyspnoe beinhaltet Atemtraining, Hand-
ventilator, Rollator, Medikamente (Opioide, Titration: Start mit Morphin 2,5–
5 mg p.o./s.c. alle 4 Stunden) und Sauerstoff; häufig ist Raumluft ebenso wirk-
sam, dann sollte man einen Handventilator einsetzen.
6.10 · Husten
91 6
Literatur
[21] ATS – American Thoracic Society (1999) Dyspnea. Mechanisms, assessment, and man-
agement: a consensus statement. Am J Respir Crit Care Med159(1):321-340
[22] Bausewein C, Booth S, Gysels M et al. (2008) Non-pharmacological interventions for
breathlessness in advanced stages of malignant and non-malignant diseases. Cochrane
Database Syst Rev:CD005623
[23] Galbraith S, Fagan P, Perkins P et al. (2010) Does the use of a handheld fan improve
chronic dyspnea? A randomized, controlled, crossover trial. J Pain Symptom Manage
39:831-838
[24] Schwartzstein RM, Lahive K, Pope A et al. (1987) Cold facial stimulation reduces breath-
lessness induced in normal subjects. Am Rev Respir Dis 136:58-61
[25] Probst VS, Troosters T, Coosemans I et al. (2004) Mechanisms of improvement in exercise
capacity using a rollator in patients with COPD. Chest 126:1102-1107
[26] Jennings AL, Davies AN, Higgins JP et al. (2001) Opioids for the palliation of breathless-
ness in terminal illness. Cochrane Database Syst Rev:CD002066
[27] Simon ST, Higginson IJ, Booth S et al. (2010) Benzodiazepines for the relief of breathless-
ness in advanced malignant and non-malignant diseases in adults. Cochrane Database
Syst Rev:CD007354
[28] Abernethy AP, McDonald CF, Frith PA et al. (2010) Effect of palliative oxygen versus room
air in relief of breathlessness in patients with refractory dyspnoea: a double-blind, ran-
domised controlled trial. Lancet 376:784-793
[29] Altfelder N, Nauck F, Alt-Epping B, Ostgathe C, Bausewein C, Simon ST (2010) Charakte-
ristika von Palliativpatienten mit Atemnot – Ergebnisse der Hospiz- und Palliativerhe-
bungen (HOPE) von 2006 bis 2008. Zeitschrift für Palliativmedizin 11:243

Weiterführende Literatur
Solano JP, Gomes B, Higginson IJ (2006) A comparison of symptom prevalence in far advan-
ced cancer, AIDS, heart disease, chronic obstructive pulmonary disease and renal di-
sease. J Pain Symptom Manage 31:58-69

6.10 Husten

Rémi, Bausewein, Simon


kDefinition
Husten ist primär eine natürliche Reaktion auf physikalische oder chemische Sti-
muli und dient als Reinigungsmechanismus des Bronchialsystems. Er wird patho-
logisch wenn er ineffektiv ist, andere belastende Symptome verursacht oder nach-
teilige Auswirkungen auf Ruhephasen, Nahrungsaufnahme oder soziale Aktivi-
täten hat.
Klinisch erfolgt eine Einteilung in produktiven und unproduktiven (trockenen
Reiz-)Husten.
92 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

kEpidemiologie
Die Prävalenz von Husten bei onkologischen Erkrankungen liegt bei 50–80 %,
wobei Patienten mit Lungentumoren am häufigsten betroffen sind. Bis zu einer
Dauer von 8 Wochen spricht man von akutem, anschließend von chronischem
Husten. Faktoren wie Rauchen, Muskelschwäche oder Infektionen verringern die
Effektivität von Husten.
Husten kann als sehr quälend empfunden werden, insbesondere von ohnehin
geschwächten Patienten, denen die Kraft zum Abhusten nicht mehr reicht. Er kann
Atemnot und weitere Symptome wie Muskelzerrungen, Rippenfrakturen, Erbre-
chen, Synkopen, Kopfschmerzen oder Harninkontinenz auslösen bzw. verstärken.

6 kUrsachen
Husten kann verschiedenste Ursachen haben, für die Palliativmedizin sind vor
allem die in . Tab. 6.16 aufgeführten relevant.

kAnamnese und Diagnostik


Anamnese Dauer des Hustens, Atemnot, Thoraxschmerzen, Unterscheidung
produktiver Husten mit Beurteilung von Viskosität, Flüssigkeitsgehalt, und Far-

. Tab. 6.16 Ursachen für Husten in der Palliativmedizin

Ursache Akut (< 8 Wochen)

Kardiopulmonal 4 Lungentumore/-metastasen
4 Infektionen/postinfektiös
4 Lungenembolie
4 Lymphangiosis carcinomatosa der Lunge
4 Asthma
4 COPD
4 kardiale Erkrankung mit akuter oder chronischer Lungen-
stauung
4 Pleuraerguss
4 Aspiration
Tumortherapie 4 Strahlentherapie (Pneumonitis/Fibrose)
4 Chemotherapie (z. B. Bleomycin)
Muskulär 4 bulbäre Muskelschwäche
4 neuromuskuläre Inkoordination
Sonstige 4 gastroösophagealer Reflux
4 Rauchen
4 Medikamente (z. B. ACE-Hemmer, β-Blocker, Methotrexat)
4 tracheoösophageale Fisteln
6.10 · Husten
93 6
be des Auswurfs (mukös, serös, purulent, blutig) vs. unproduktiver, trockener
(Reiz-)Husten.

Körperliche Untersuchung Auskultation, Fieber, in seltenen Fällen Lungenfunktion.

Labor Ggf. Serologie und Sputum-Mikrobiologie, wenn infektiöse Ursache ver-


mutet und antibiotische Therapie sinnvoll erscheint.

Bildgebende Verfahren Röntgen-Thorax, in seltenen Fällen Bronchoskopie, CT.

kTherapie
Auslassversuch möglicher verstärkender bzw. auslösender Medikamente, wenn
möglich. Ein Raucherhusten bessert sich bei Nikotinkarenz innerhalb von 4–6
Wochen und sollte daher immer im Kontext von Symptomschwere, Prognose und
patientenindividueller Lebensqualität durch das Rauchen beurteilt werden.

Medikamentöse Therapie Zur medikamentösen Therapie werden pro- und anti-


tussiv wirkende Substanzen eingesetzt . Tab. 6.17. Bei produktivem Husten stellen
die Sekrete einen wichtigen Auslöser für den Hustenreiz dar, das Abhusten sollte
daher durch Einsatz von Protussiva erleichtert werden. Bei unproduktivem Husten

. Tab. 6.17 Medikamentöse Therapie bei produktivem und unproduktivem Husten

Effekt Substanzklasse Medikamente (Beispiele)

Sekretverflüssi- Expektorantien ACC, Ambroxol, Bromhexin,


gung Kombination aus Efeu, Primel und Thymian
Sekretminderung Anticholinergika Scopolamin, Butylscopolamin, Amitriptylin
Erhöhung muko- β2-Agonisten Salbutamol, Terbutalin
ziliäre Clearance
Reduktion lokaler Demulzenzien Zucker (Sirup, Bonbons), Spitzwegerich,
Irritation Isländisch Moos, Eibischblätter
Kortikosteroide Mometason, Dexamethason
Sonstige Cromoglicinsäure, Lidocain inhalativ
Zentral antitussiv Antitussiva Opioide z. B. Codein
Dextromethorphan
Noscapin
Pentoxyverin
94 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

steht die primäre Hustenstillung im Vordergrund. Phytopharmaka spielen nach wie


vor eine wichtige Rolle.
Bei behandelbaren extrapulmonalen Ursachen für den Husten sind entspre-
chende ursachenorientierte Therapie zu wählen, z. B. Protonenpumpeninhibitoren
bei gastroösophagealem Reflux.

Nicht-medikamentöse Therapie Bei produktivem Husten Sekretverflüssigung


und -mobilisation durch Befeuchtung der Raumluft und/oder Inhalation mit iso-
tonischer Kochsalzlösung, Atemphysiotherapie, Lagerung, ggf. oszillierendes PEP-
Gerät. Zur Sekretelimination kann das Erlernen spezieller Hustentechniken hilf-
reich sein (»Huffing«). Für Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen ist der
6 Einsatz von Geräten wie dem CoughAssist® zu diskutieren.

Zusammenfassung
Die Prävalenz von Husten bei onkologischen Erkrankungen liegt bei 50–80 %,
wobei Patienten mit Lungentumoren am häufigsten betroffen sind. Husten
kann als sehr quälend empfunden werden, insbesondere von ohnehin ge-
schwächten Patienten, denen die Kraft zum Abhusten nicht mehr reicht. Zur
Therapie werden pro- und antitussiv wirkende Substanzen, sowie nicht-medi-
kamentöse Verfahren eingesetzt.

Weiterführende Literatur
Twycross RG, Wilcock A (2001) Symptom Management in Advanced Cancer. Radcliffe Medical
Press, Oxford
Homsi J et al. (2001) Important drugs for cough in advanced cancer. Supportive Care in Can-
cer 9:565–574
Fathi et al. (2008) Cough in palliative care. Progress in Palliative Care 16:31-37
Kardos P et al. (2010) Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungs-
medizin zur Diagnostik und Therapie von erwachsenen Patienten mit akutem und chro-
nischem Husten. Pneumologie 64(6):336-373
Wee B (2008) Chronic cough. Curr Opin Support Palliat Care 2(2):105-109

6.11 Angst

Schulz

Palliativpatienten haben häufig gerade keine irrationalen Ängste, sondern erleben


eine der Existentialität ihres Umstandes angemessene Reaktion [30]: das Weiter-
leben, die Existenz, die innere Sicherheit ist bedroht. Angst kann Bestandteil der
Diversitätserfahrung sein 7 Kapitel 3.
6.11 · Angst
95 6
kDefinition
Nyatanga und de Vocht definieren Todesangst als »eine unangenehme Emotion
multi-dimenstionaler Bedenken, welche existentiellen Ursprungs ist und durch die
Betrachtung des eigenen Todes oder dem Tod anderer verursacht wird.« [31]
Todesangst ist nach dem Philosophen Martin Heidegger (7 Kap. 3) die Angst
des Einzelnen vor dem Nichtsein, die Angst vor der »Unmöglichkeit weiterer Mög-
lichkeiten« [32]. Diese bis in einen existentiellen Terror steigerbare Angst vor to-
taler Annihilation bildet laut Terror-Management-Theorie die Grundlage für eine
Reihe von psychogenen Schutzmechanismen und Abwehrformen, mit denen
die Stabilität des Selbstwertes und die daraus resultierende Reduktion von Angst
erfolgt [33]. Eine lebensbedrohliche Erkrankung kann diese Abwehr stören und
damit existentielle Angst verursachen.

kEpidemiologie
Die meisten Daten zur Prävalenz von Angststörungen nach ICD-10 oder DSM-IV
liegen bisher aus der Beobachtung bei Krebspatienten vor. Untersuchungen zur
Prävalenz von Angst bei Patienten mit fortgeschrittener chronischer Herzinsuffi-
zienz weisen darauf hin, dass bis zu 50 % dieser Palliativpatienten unter Angst-
symptomen leiden. Die meisten Studien, in denen psychogene Störungen in
Palliativpatienten untersucht wurden, zeigten eine höhere Prävalenz von ge-
mischten ängstlichen und depressiven Symptomen, als Angstsymptome allein [34],
[35]. Dies entspricht dem aktuellen Verständnis des Zusammenhangs zwischen
Angst und Depression, welches beide Phänomene entlang eines Kontinuums
sieht . Tab. 6.18.

. Tab. 6.18 Prävalenz von Angst-assoziierten Störungen bei fortgeschrittener


Krebserkrankung

Fortgeschrittene Terminalphase Angehörige


Erkrankung

Anpassungsstörung 14 %–34,7 % 10,6–16,3 % –


Angststörungen gesamt 6 %–8,2 % 13,9 % –
Generalisierte Angststörung 3,2 %–5,3 % 5,8 % 3,5 %
Panikstörung 4,2 % 5,5 % 8,0 %
PTBS 2,4 % – 4,0 %
Unspezifisch – 4,7 % –
PTBS = Posttraumatische Belastungsstörung; Datensynthese nach [36]
96 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

kUrsachen

. Tab. 6.19 Übersicht über verschiedene Ursachen von Angst

Angstform Beschreibung

Situative 4 Furcht, die auf ein Ziel gerichtet ist (Chemotherapie, medizi-
Angst nische Prozedur, körperliche Entstellung, Verlust von Lebens-
qualität)
4 Furcht vor der Möglichkeit von Symptomen (Luftnot, Schmer-
zen, Isolation, Abhängigkeit u. a.)
6 Psychiatrische 4 Angststörungen im engeren Sinne . Tab. 6.18
Angst 4 Patienten erkennen im Regelfall, dass ihre Ängste irrational sind
Organische 4 Angstzustände, die durch vorhandene somatische Faktoren
Angst ausgelöst werden (Luftnot, Schmerzen, Übelkeit, Erbrechen,
Fatigue, Sepsis, Blutungen) [37]
4 Angst durch metabolische Störungen (Hyperkalzämie, Hypo-
glykämie)
4 Angst durch organische Veränderungen (z. B. Hirnmetastasen)
4 Medikamenten-induzierte Angst: Kortikosteroide, Opioide,
Antiemetika, Bronchodilatatoren, Entzugsphänomene [38]
Existentielle 4 Angst vor dem Tod als Jenseitigkeit (Spiritualität, Religiosität)
Angst 4 Angst vor der Endlichkeit (Bilanzierungsangst, Angst vor der
Sinnlosigkeit des eigenen Lebens) [39]
4 Angst vor existentieller Isolation [40]
Einteilung von Angstsymptomen bei fortgeschrittener Krebserkrankung. Adaptiert
nach [37] und [38]

kDiagnostik
Das wichtigste Instrument zur Erfassung von Angstsymptomen bei Palliativpati-
enten bleibt das Gespräch (7 Kap. 7). Hierin können qualitative Informationen über
das Angsterleben und die Differenzierung verschiedener Ursachen . Tab. 6.19 er-
fragt werden. Darüber hinaus kommen psychologische Testinstrumente zum Ein-
satz, um die Intensität des Angsterlebens zu messen . Tab. 6.20.

kTherapie
Pharmakologische Therapie Grundsätzlich muss vor jeder Verordnung von Psy-
chopharmaka geklärt werden, mit welcher Indikation und mit welchem Ziel die
Therapie eingeleitet wird . Tab. 6.21.
6.11 · Angst
97 6

. Tab. 6.20 Instrumente zur diagnostischen Erfassung von Angst bei Palliativ-
patienten

Instrument Umfang und Versionen Autoren

Hospital Anxiety and 14 Items Zigmond und Snaith 1982


Depression Scale 1 Version/2 Cut-off-Werte (engl.)
(HADS) Herrmann 1995 (deutsch)
Distress-Thermometer 1 Item Roth et al. 1998 (engl.)
36 zusätzliche Problemfelder Mehnert et al. 2006
(deutsch)
Hornheider Screening 7 Items Strittmatter et al. 1997
Instrument (HSI) 2 Versionen (Interview/ (deutsch)
Fremdbeurteilung)
Psychoonkologische 3 Versionen (Standard, Herschbach et al. 2008
Basisdokumentation Kurzform, Brustkrebs)
(PO-BADO)
Progredienzangst- 43/12 Items Herschbach et al. 2005
Fragebogen (PA-F) 2 Versionen (Standard, Mehnert et al. 2006
Kurzform)
Demoralization Scale 24 Items Kissane et al. 2004 (engl.)
(DS) Mehnert et al. 2010
(deutsch)
Validierte Messinstrumente zur Erhebung von Angstsymptomen bei Palliativ-
patienten

4 Wie sind die Umstände der psychischen Belastung oder Beeinträchtigung?


4 Ist eine Behandlung sinnvoll?
4 Sind entsprechende Screeningverfahren oder Assessmentinstrumente einge-
setzt worden?
4 Sind nicht-pharmakologische Interventionen eine bessere Alternative?
4 Sind andere Substanzen bessere Alternativen?
4 Was sagt der Patient selbst und was sind seine Wünsche?

Nicht-pharmakologische Therapie In der Begleitung von Palliativpatienten sind


alle Teammitglieder angesprochen, wenn Patienten Verunsicherung, Furcht oder
Angst erleben. Ein offenes Gespräch, in dem in der Begegnung zwischen Patient
und Teammitglied der Versuch unternommen wird zu verstehen und zuzu-
hören, kann eine ausreichende Intervention bei milder situativer Angst darstellen
98 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

. Tab. 6.21 Stoffgruppen und Beispiele zur pharmakologischen Therapie von Angst
in der Palliativsituation

Medikamenten- Medikament Anfangsdosierung


gruppe

Benzodiazepine Lorazepam (HWZ 10–20h) 0,5–2 mg p.o. 1-3 x tgl. *


Oxazepam (HWZ 5–15h) 10–15 mg p.o. 1-3 x tgl.
Diazepam (HWZ 20–100h) 2–20 mg p.o. zur Nacht
Antidepressiva Venlafaxin (SNRI) 37,5 mg zweimal täglich
6 Citaloprama (SSRI) 10–20 mg pro Tag
Escitaloprama (SSRI) 5–10 mg pro Tag
Neuroleptika Promethazin (HWZ 12h) 25 mg p.o.
Bei terminaler Agitiertheit:
Haloperidol (HWZ 12–36h) 0,5–5 mg p.o./s.c./i.v.b
Levomepromazin (HWZ 15–30h) 25 mg s.c. als Sofortgabe
* Für Lorazepam liegt eine schnellwirksame sublinguale Applikation vor, die als
Schmelztablette auch bei Schluckstörungen oder HNO-Tumoren eingesetzt werden
kann. ; a = Für diese Medikamente liegen flüssige Präparate vor, die bei Patienten
mit Schluckstörungen eingesetzt werden können. ; b = i.v. Boli müssen langsam
injiziert werden

(7 Kap. 7). In schweren Fällen sind jedoch spezielle Fachkenntnisse notwendig


. Tab. 6.22.

! Für Patienten mit leichter bis mittlerer Angst können psychotherapeu-


tische Interventionen allein ausreichend sein, um die Symptomatik zu
lindern [41].

Zusammenfassung
Eine lebensverkürzende, fortschreitende Erkrankung stellt eine große Belas-
tung für den Patienten als auch seine An- und Zugehörigen dar. Neben zuneh-
mender körperlicher Einschränkung müssen die emotionalen Auswirkungen
der Bedrohung durch die Erkrankung verarbeitet werden, was zu ausgepräg-
tem psychischem Leid führen kann. Psychische Belastungen bei Palliativ-
patienten sind laut der aktuellen Literaturlage häufig unterdiagnostiziert und
untertherapiert [44].
6.11 · Angst
99 6

. Tab. 6.22 Beispiele für psychotherapeutische Verfahren zur Behandlung von


Angst bei Palliativpatienten

Non-direktive Verfahren Direktive Verfahren

Individuell Individuell
4 Informieren/Beraten 4 behaviorale Verfahren
4 psychodynamische Psychotherapie – Hypnose
– supportive Psychotherapie – Entspannungstraining
– narrative Verfahren – Progressive Muskelrelaxation
– z. B. Dignity-Therapy – Biofeedback
4 existentielle Psychotherapie – Ablenkung
4 komplementäre Verfahren 4 kognitive Verfahren
– Musiktherapie – Umattribuierung
– Kunsttherapie – geführte Imagination
– Psychoedukation
Gruppe Gruppe
4 psychodynamische Verfahren 4 kognitive Verfahren
– supportiv-expressive Gruppen- – kognitiv existentielle Gruppen-
therapie (SEGT) therapie
4 existentielle Verfahren – »The Healing Journey« Manual
– Sinn-zentrierte Gruppenpsycho- – Meaning-making intervention (MMi)
therapie
Familie Familie
4 systemische Psychotherapie 4 psychoedukative Verfahren
– Family-focused grief therapy – Life-threatening illness supportive-
(FFGT) affective group experience (LTI-SAGE)
Übersicht adaptiert nach [42] und [43]

Literatur
[30] Heußner P, Besseler M, Dietzfelbinger H, Fegg M, Lang K, Mehl U, Pouget-Schors D, Ried-
ner C, Sellschopp A (2009) Psychoonkologie. Zuckschwerdt Verlag, München
[31] Nyatanga B, de Vocht H (2006) Towards a definition of death anxiety. International Jour-
nal of Palliative Nursing 12(9):410-413
[32] Heidegger M (1979) Sein und Zeit. Niemeyer, Tübingen
[33] Greenberg J, Koole S, Pyszczynski T (2004) Handbook of Experimental Existential
Psychology. Guilford, New York
[34] Derogatis LR, Morrow GR, Fetting J et al. (1983) The prevalence of psychiatric disorders
among cancer patients. JAMA 249:751-757
[35] Massie MJ, Payne DK (2000) Anxiety in palliative care. In: Chochinov HMC, Breitbart W
(Hrsg.) Handbook of Psychiatry in Palliative Medicine. Oxford University Press, New York
100 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

[36] Miovic M, Block S (2007) Psychiatric Disorders in Advanced Cancer. Cancer 110(8):1665-
1676
[37] Stiefel F, Razavi D (1994) Common psychiatric disorders in cancer patients. II Anxiety and
acute confusional states. Support Care Cancer 2:233-237
[38] Roth AJ, Massie MJ (2007) Anxiety and its management in advanced cancer. Curr Opin
Support Palliat Care 1:50-56
[39] Clarke DM, Kissane DW (2002) Demoralization: its phenomenology and importance.
Aust N Z J Psychiatry 36:733-742
[40] Yalom I (1980) Existential Psychotherapy. Basic Books, New York
[41] Maguire P, Faulkner A, Regnard C (1993) Managing the anxious patient with advancing
disease: a flow diagram. Palliat Med 7:239-244
[42] Razavi D, Stiefel F (1994) Common psychiatric disorders in cancer patients. I. Adjustment
6 disorders and depressive disorders. Support Care Cancer 2:223-232
[43] LeMay K, Wilson K (2007) Treatment of existential distress in life threatening illness:
A review of manualized interventions. Clinical Psychology Review 28:472-493
[44] Lloyd-Williams M, Friedman T, Rudd N (1999) A survey of antidepressant prescribing in
the terminally ill. Pall Med 13:243-248

6.12 Depression

Fegg
kDefinition
Depressionen zählen zu den affektiven Erkrankungen und äußern sich in kogni-
tiven, affektiven und psychovegetativen Symptomen. Hauptmerkmale sind Nieder-
geschlagenheit und Interessensverlust für einen Zeitraum von mehr als 2 Wochen.
Depressive Symptome kommen bei Palliativpatienten häufig vor und gehen mit
erhöhter Komorbidität und Einschränkungen der Lebensqualität einher.

kTypische Symptome einer Depression


4 kognitiv: Grübeln; Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen; Schuld- und Wert-
losigkeitsgefühle; Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen; Wunsch
nach Lebensverkürzung, Suizidgedanken
4 affektiv: Niedergeschlagenheit; Freud- und Interessenlosigkeit; Insuffi-
zienzgefühle; Verzweiflung; Gleichgültigkeit
4 psychovegetativ: Unruhe; Erschöpfung; Appetit- und Gewichtsverlust; Schlaf-
störungen; Antriebsverlust

Je nach Anzahl der Symptome wird eine depressive Episode als leicht, mittel oder
schwer eingestuft. Häufig gehen depressive Störungen mit Angstsymptomen einher
(7 Kap. 6.11).
6.12 · Depression
101 6
6.12.1 Besonderheiten der Palliativsituation

! Die Häufigkeit depressiver Störungen in der Palliativmedizin ist mit


ca. 30–40 % im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung um das 2–4fache
erhöht [45], [46].

kUrsachen von Depressionen


Das Risiko, an einer Depression zu erkranken ist für Patienten mit psychiatrischer
Anamnese, akzentuierter Persönlichkeit, familiärer Disposition, mangelnder sozi-
aler Unterstützung oder Selbstwertproblemen erhöht [45].

Biologische Ursachen:
4 pharmakogene Depressionen (z. B. Nebenwirkungen von Chemotherapien,
Steroide, Interferon etc.)
4 zerebrale Tumore, Metastasen und Infarkte, ZNS-Bestrahlung
4 metabolische Störungen (z. B. Hyperkalzämie)
4 endokrine Störungen (z. B. paraneoplastische Hormonproduktion, Schilddrü-
senerkrankungen)

Psychosoziale Ursachen:
4 Verlust von Autonomie
4 verändertes Körperbild, Verlust von Körperfunktionen, Behinderung
4 mangelnde oder dysfunktionale soziale Unterstützung
4 individuelle Konflikt- und Belastungssituationen

kDiagnostische Schwierigkeiten
Aufgrund der komplexen biopsychosozialen Ätiologie ist die Diagnose bei Palliativ-
patienten oftmals erschwert. Adäquate Trauerreaktionen müssen von depressiven
Episoden unterschieden werden. Vereinfacht ausgedrückt ist Trauer ein aktiver,
emotionaler Prozess, während Depressionen gekennzeichnet sind durch Passivität
und Emotionsleere (Verlust der »Schwingungsfähigkeit«) [45].
! Depressionen sind in der Palliativsituation oft schwer zu diagnosti-
zieren. Es besteht die Gefahr falsch-positiver und falsch-negativer Be-
funde.
Falsch-positiv wäre die Diagnose einer depressiven Störung bei adäquaten Trauer-
reaktionen, falsch-negativ wäre die Verkennung einer depressiven Störung und
Interpretation als natürliche Reaktion [46].
Da psychovegetative Symptome oft durch das Krankheitsgeschehen ausgelöst
sind, sprechen bei Palliativpatienten eher kognitive und affektive Symptome für das
Vorliegen einer Depression.
102 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

kTherapie
Die Behandlung umfasst pharmakologische und psychotherapeutische Interven-
tionen.
Bei der antidepressiven Behandlung sind Interaktionseffekte und Wechselwir-
kungen mit anderen, verabreichten Medikamenten zu beachten. Der Wirkungsein-
tritt von Antidepressiva (z. B. mit Trizyklika, SSRIs etc.) beträgt oft mehrere Tage.
Daher werden z. T. auch rasch wirkende Psychostimulanzien eingesetzt [45].
Psychotherapeutische Interventionen haben das Ziel, die Krankheitsverarbei-
tung (Coping) zu fördern, Ressourcen und positive Aktivitäten aufzubauen, die
soziale Unterstützung zu verbessern und dysfunktionale Gedanken zu hinterfragen
[46]. Vor allem verhaltenstherapeutische und psychodynamische Methoden wer-
6 den in der Behandlung eingesetzt.

Zusammenfassung
Depressive Störungen kommen bei Palliativpatienten häufig vor. Besonders af-
fektive und kognitive Symptome sind bei der Diagnosestellung zu berücksich-
tigen, da der Krankheitsprogress psychovegetative Symptome hervorruft, die
bei Gesunden indikativ für das Vorliegen einer Depression wären. Multimodale
Behandlungskonzepte umfassen pharmakologische und psychotherapeutische
Interventionen.

Literatur
[45] Bausewein C, Roller S, Voltz R (2010) Leitfaden Palliative Care. Urban & Fischer/Elsevier,
München
[46] Heußner P, Besseler M, Dietzfelbinger H, Fegg M, Lang K, Mehl U, Pouget-Schors D, Ried-
ner C, Sellschopp A (2009) Manual Psychoonkologie. Zuckschwerdt Verlag, München

6.13 Verwirrtheit/Delir

Feddersen, Rémi
kDefinition
Ein Delir ist eine akute, potentiell (50 %) reversible Störung von Orientierung,
Aufmerksamkeit, Kognition, z. T. mit psychotischen Symptomen, Unruhe, Aggres-
sion, Affektstörungen. Es können drei typische Formen unterschieden werden:
hypervigilant, hypovigilant oder kombiniert.
6.13 · Verwirrtheit/Delir
103 6
kEpidemiologie
Die Prävalenz des Delirs ist je nach Aufbau der Studien als sehr unterschiedlich
angegeben, und Angaben schwanken zwischen 4 und 42 %. Besonders häufig tritt
es als terminales Delir (bis zu 88 %) auf, dann oft gekennzeichnet durch ein letztes
klares Intervall vor dem Versterben.

kRisikofaktoren
4 Demenz
4 Alter >65 Jahre
4 neurologische Grunderkrankung
4 multiple Komorbiditäten
4 chronische Leber- oder Nierenfunktionsstörung
4 männliches Geschlecht

kÄtiologie
4 systemischer Infekt
4 metabolische Störung (Elektrolyte, Leber, Niere)
4 Medikamente
4 postoperativ
4 nach einem epileptischen Anfall
4 Status epilepticus
4 Meningitis/Enzephalitis
4 Hirneigener Tumor
4 Zerebrale Metastasen / Meningeosis carcinomatosa

kDiagnostik
In der Anamnese sollten die möglichen ätiologischen Faktoren erhoben werden,
typischerweise steht hier nur die Fremdanamnese zur Verfügung. Insbesondere die
Vorerkrankungen und die derzeitigen Medikamenten sollten erfragt werden. In der
klinischen Untersuchung ergibt sich unter Umständen ein Hinweis auf die Ätiolo-
gie, wie zum Beispiel Fieber, Leberzeichen (Gelbsucht), Foetor (Alkohol, Nieren-
insuffizienz) oder neurologische Zeichen.
Sinnvolle apparative Untersuchung sind Labor (metabolische, entzündliche
Ursachen, möglicherweise inklusive Liquorpunktion), Bildgebung und EEG . Tab.
6.23. Da eine Verwirrtheit sowohl durch Beeinträchtigung von Kognition als auch
von Aufmerksamkeit als auch durch Auftreten von psychiatrischen Symptomen
(Unruhe, Aggression, Affektstörung) gekennzeichnet sein kann, sollten diese As-
pekte erfasst werden. Subtilere Defizite der Kognition können mit dem MoCa-Test
(www.mocatest.org) objektiviert werden. Die Delirium Rating Scale (DRS) oder die
Memorial Delirium Assessment Scale (MDAS) sind spezifische Instrumente zur
Einteilung der Schwere eines Delirs [47].
104 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

. Tab. 6.23 Screening für typische Ätiologien

Ursache Screening

Toxisch Medikamente (Opioide, Steroide, Antidepressiva, Scopola-


min, Neuroleptika, Zytostatika), Drogenurinscreening
Entzugssyndrome Alkohol, Nikotin, Benzodiazepine
Sepsis Körpertemperatur, Blut/Urinkulturen, CRP, Leukozyten
Status epilepticus EEG
6 Hypoxie Pulsoxymetrie, Blutgase, Kreislaufparameter
Elektrolytstörungen Serum Elektrolyte (Na+, K+, Cl, Mg, Ca)
Metabolisch Blutzucker
Nierenversagen Kreatinin, Harnstoff
Leberversagen Ammoniak, Leberenzyme, Lebersyntheseparameter
ZNS-Läsion CCT oder cMRT, Liquor
Paraneoplasie Autoantikörper
Mangelernährung Vitaminbestimmung (v. a. B1, bzw. immer substituieren;
B12, Folsäure)
Endokrine Störung Schilddrüsenhormone, Nebennierenhormone

kTherapie akuter Verwirrtheit


Zunächst sollte versucht werden, die zugrundeliegende Pathologie zu behandeln,
also Antiepileptika bei einem Status epilepticus oder vorsichtiger Ausgleich von
Elektrolyt- oder Flüssigkeitshaushaltsstörungen.
Bei einem Delir ist die Kommunikation mit den Angehörigen und eine ent-
sprechende Aufklärung über die Hintergründe des Delirs entscheidend, um die
Belastung der Angehörigen aufzufangen, da ein Delir potentiell reversibel ist. Im
Verlauf sollte mit dem Patienten und den Angehörigen auch besprochen werden,
dass gewisse Fluktuationen im Bewusstsein Ausdruck des Fortschreitens der Grund-
erkrankung sein können.
Falls die Ätiologie eines Delirs nicht diagnostiziert werden kann oder falls
primär psychiatrische Gründe für ein Delir vorliegen, kann die Therapie sympto-
matisch erfolgen . Tab. 6.24.
Nach Durchbrechung eines akuten Delirs sollten weitere Episoden durch Prä-
vention vermieden werden. Zum Beispiel sollte nach einem Status epilepticus die
antiepileptische Therapie fortgeführt werden oder bei entsprechender Disposition
. Tab. 6.24 Symptomatische Delirbehandlung

Substanz Dosierung Wirkung/ Nebenwirkungen/KI


Indikation

Neuroleptika Für alle gültig:


6.13 · Verwirrtheit/Delir

cave bei Herzerkrankungen


cave: Leber-/Niereninsuff.
Cave: Engwinkelglaukom
QT-Verl., Hypotonie,
Parkinsonoid, Akathisie,
hohes Risiko extra-pyramidaler NW (Dosis!)
Melperon 25 mg p.o. bei Bedarf; Sedierend und wenig
Tagesdosis nach Wirkung antipsychotisch
(z. B. 25 – 0 – 75 mg, maximal
400 mg/d)
Haloperidol initial 1–2 mg p.o. (i.v.) Antipsychotisch
maximal 60 mg/ und wenig sedierend
Olanzapin initial 5 mg p.o. Mäßig antipsychotisch
105

maximal 20 mg/d und mäßig sedierend


Quetiapin initial 25 mg p.o. Antipsychotisch und am günstigsten bei Parkinson (wenig extra-
maximal 600 mg/d wenig sedierend pyramidale NW);
zahlreiche Medikamenten-Interaktionen
(CYP450)
6
6
106
. Tab. 6.24 (Fortsetzung)

Substanz Dosierung Wirkung/ Nebenwirkungen/KI


Indikation

Benzodiazepine GABAerg: Vigilanzminderung


sedierend, Atemdepression
antikonvulsiv, Übelkeit, Erbrechen,
anxiolytisch Durchfall, Kopfschmerz,
Transaminasenanstieg;
cave: paradoxe Exzitation
Lorazepam initial 1 mg p.o. (i.v.)
maximal 8 mg/d
Diazepam initial 5 mg p.o.
maximal 60 mg/d
Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin
6.13 · Verwirrtheit/Delir
107 6
(Niereninsuffizienz) die Einfuhr von Flüssigkeit und Elektrolyten besser überwacht
werden. Eine Konstanz der Umgebung, eine klare Kommunikation und zum Bei-
spiel Vermeidung von Schlafentzug reduzieren die Gefahr eines erneuten Delirs bei
Patienten mit kognitiven und sensorischen Defiziten. Bei älteren Patienten in der
Behandlung Dosis reduzieren und Medikamentendosen grundsätzlich individuell
anpassen!

Literatur
[47] Trzepacz PT et al. (2001) Validation of the Delirium Rating Scale-revised-98: comparison
with the delirium rating scale and the cognitive test for delirium. J Neuropsychiatry Clin
Neurosci 13:229-242

Weiterführende Literatur
Breitbart W, Rosenfeld B, Roth A, Smith MJ, Cohen K, Passik S (1997) The Memorial Delirium
Assessment Scale. J Pain Symptom Manage 13:128-37
Derogatis LR et al. (1983) The prevalence of psychiatric disorders among cancer patients.
JAMA 249:751-7
Lawlor PG, Fainsinger RL, Bruera ED (2000) Delirium at the end of life: critical issues in clinical
practice and research. JAMA 284:2427-9

6.14 Epileptischer Anfall

Rémi, Feddersen
kDefinition und Einteilung
Ein epileptischer Anfall ist Ausdruck plötzlicher, nicht-physiologischer Entla-
dungen von Neuronen. Einen epileptischen Anfall kann bei adäquatem Reiz jedes
Gehirn erleiden, zum Beispiel bei der Elektrokrampftherapie. Davon ist der Gele-
genheitsanfall abzugrenzen, der sich dadurch auszeichnet, dass er gewisse Um-
stände (Schlafentzug, Alkoholkonsum) benötigt, um aufzutreten und nicht mehr
auftritt, wenn diese Gelegenheit vermieden wird. Eine Epilepsie ist letztlich durch
nicht provozierte, spontan wiederkehrende Anfälle gekennzeichnet. Dabei reicht
es nach neuester Definition bereits aus, einen Anfall und eine entsprechende Prä-
disposition in Bildgebung (Tumor, alte Schlaganfallnarbe) oder EEG (epilepsiety-
pisches Potential) zu haben [48]. Die Epilepsien sollten grundlegend in fokale
Epilepsien (Anfälle begonnen konzeptuell in einem Areal des Gehirns) und gene-
ralisierte Epilepsien (Anfälle beginnen in beiden Hemisphären gleichzeitig) un-
terschieden werden. Dies ist entscheidend, da die Behandlung sehr unterschiedlich
ist, natriumkanalblockierende Medikamente können generalisierte Epilepsien ver-
schlechtern [49].
108 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

kEpidemiologie
Im palliativmedizinischen Setting werden allerdings meist fokale Epilepsien auf-
treten, sie sind die typische Epilepsie als Folge eines Hirntumors oder einer Hirn-
metastase, also fokale Prozesse, die zu einer fokalen epileptogenen Zone führen. In
der alternden Bevölkerung steigt zudem die Inzidenz der Epilepsien nach Schlag-
anfall. Generalisierte Epilepsien beginnen hingegen typischerweise schon im Kin-
des- oder Jugendalter.
Es sind 2 Situationen zu unterscheiden: der Patient hat eine vorbestehende
Epilepsie oder der Patient hat einen ersten Anfall im palliativmedizinischen Setting.
Bei einer vorbestehenden Epilepsie sollte die Therapie grundsätzlich fortgeführt
werden, aber an den erneuten Anfall angepasst werden. Bei einem ersten Anfall
6 liegt die Vermutung nahe, dass der Anfall in Zusammenhang mit der Grunderkran-
kung steht, hier sollte entsprechende Diagnostik erfolgen.

kDiagnostik
Neben Anamnese (bestanden schon Anfälle?) und körperlicher Untersuchung
(eine Hemiparese deutet auf eine hemisphärische Läsion hin) sind EEG und
Bildgebung die entscheidenden Schritte. Im EEG werden epilepsietypische Po-
tentiale dargestellt, allerdings finden sich diese bei nur 12–55 % der initialen
EEGs [50], daher muss dies unter Umständen wiederholt werden. Eine kranielle
CT zeigt in der Akutsituation eine Blutung, einen Tumor mit Raumforderung
oder einen Infarkt an, in der MRT wird die Läsion genauer dargestellt. Eine Lum-
balpunktion kann eine mögliche Enzephalitis oder Meningitis zeigen oder aus-
schließen.

kTherapie
Epileptische Anfälle sind in der Regel kurz dauernde (60 Sekunden), selbst limitie-
rende Ereignisse. Der Patient sollte im Anfall vor Verletzungen oder Aspiration
(Seitenlage) geschützt werden. Die Auslöser von Gelegenheitsanfällen (z. B. Hypo-
glykämie) sollten ausgeglichen oder vermieden werden. Eine antiepileptisch-me-
dikamentöse Therapie des einzelnen Anfalls ist nur nötig, falls die Gefahr eines
Status epilepticus besteht.

Langfristige Therapie Die Epilepsien im palliativmedizinischen Setting werden


typischerweise ohne medikamentöse Behandlung nicht sistieren, eine Fortführung
bzw. Anpassung der Therapie ist nötig. Es stehen mittlerweile viele verschiedene
Medikamente zur Verfügung, die sich in ihrer Effektivität kaum unterscheiden
(7 neurologische Leitlinien: www.dgn.org), aber hauptsächlich durch ihre Neben-
und Wechselwirkungen (z. B. Sedierung, Enzyminduktion) in ihrem Einsatz limi-
tiert sein können. Die positive Auswirkung auf Komorbiditäten kann die Auswahl
beeinflussen (z. B. Pregabalin bei schmerzhafter Polyneuropathie oder bei genera-
6.14 · Epileptischer Anfall
109 6

. Tab. 6.25 Medikamentöse Stufentherapie des Status epilepticus

Stufe Wirkstoff Beachten

1. Benzodiazepine Lorazepam i.v. 0,1 mg/kg Atemdepression


max. 10mg
2. Phenytoin 15–20 mg/kg i.v. EKG-Überwachung, sicherer
Zugang (Hautnekrosen),
nicht bei gen. Epilepsien
3. Valproat 20–30 mg/kg i.v.

lisierten Angststörungen). Einzig der Unterschied der Therapie bei fokalen und
generalisierten Epilepsien ist entscheidend, Natriumkanalblocker (z. B. Carbama-
zepin) sind bei generalisierten Epilepsien zu vermeiden [49]. Die mittel- bis lang-
fristige Therapie mit Benzodiazepinen wird wegen einer Toleranzentwicklung bei
anderen Epilepsiepatienten typischerweise vermieden. Bei Palliativpatienten ist
dies möglicherweise eine Option, es gibt hier allerdings keine kontrollierten Stu-
dien.

Therapie des Status epilepticus Bildet sich zwischen 2 oder mehr Anfällen die
neurologische Symptomatik nicht vollständig zurück oder hält die epileptische
Aktivität über mindestens 5 Minuten mehr oder weniger kontinuierlich an, spricht
man von einem Status epilepticus. Eine differentialdiagnostische Herausforderung
ist der Patient mit eingeschränktem Bewusstsein, bei dem äußerlich nicht zwischen
einer Enzephalopathie und einem nicht-konvulsivem Status zu unterscheiden ist;
hier kann das EEG helfen. Ein Status führt je nach Form und Schweregrad zu irre-
versiblen Hirnschäden und erhöhter Mortalität. Die Therapie des Status epilepticus
ist besonders wichtig, da es sich um einen potentiell voll reversiblen Zustand han-
delt, dessen Durchbrechung die Partizipationsfähigkeit und Lebensqualität des
Patienten deutlich verbessert. Die Behandlung sind zunächst Benzodiazepine,
dann Phenytoin und Valproat. Im Weiteren können andere Antiepileptika addiert
werden . Tab. 6.25.
110 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

Zusammenfassung
Epilepsie ist durch unprovoziert wiederkehrende epileptische Anfälle charak-
terisiert und hat eine Prävalenz von 0,5–1 %. Ungefähr 5 % der Bevölkerung
erleiden zumindest einmal im Leben einen epileptischen Anfall. Die Inzidenz
epileptischer Anfälle ist bei Palliativpatienten noch höher, da häufiger struktu-
relle Läsionen des Gehirns wie zum Beispiel zerebralen Metastasen bestehen.
Epileptische Anfälle sind in der Regel kurz dauernde (60 Sekunden), selbst
limitierende Ereignisse. Der Patient sollte im Anfall vor Verletzungen oder Aspi-
ration (Seitenlage) geschützt werden. Eine antiepileptisch-medikamentöse
Therapie des einzelnen Anfalls ist nur nötig, falls die Gefahr eines Status epilep-
6 ticus besteht.

Literatur
[48] Fisher RS et al. (2005) Epileptic seizures and epilepsy: definitions proposed by the Inter-
national League Against Epilepsy (ILAE) and the International Bureau for Epilepsy (IBE).
Epilepsia 46: 470-472
[49] Rémi J, Stoyke C, Noachtar S (2008) Die juvenile myoklonische Epilepsie wird oft inadä-
quat behandelt. Z Epileptol 21: 2-5
[50] van Donselaar CA, Schimsheimer RJ, Geerts AT, Declerck AC (1992) Value of the electro-
encephalogram in adult patients with untreated idiopathic first seizures. Arch Neurol
49:231-237

6.15 Wunden

Meister
kPalliative Wundbehandlung
Das allgemeingültige Ziel der Wundversorgung ist die Wundheilung. Doch nicht
immer ist dieses Ziel zu erreichen. Doch was dann? Behandlungsmöglichkeiten,
die zur Linderung der Symptome und um maximale Lebensqualität des Betroffe-
nen zu erreichen, müssen angewendet und überprüft werden.
In der Begleitung von Patient und Angehörigen in der letzten Lebensphase
wird ein Höchstmaß an fachlicher und menschlicher Kompetenz erwartet. Gerade
die Wundbehandlung steht neben den üblichen Pflegestandards auch symptom-
orientierten, praktischen, patientenorientierten sowie kosmetischen Aspekten
gegenüber. Wie oft wird der Patient auf seine Wunde reduziert und der Mensch
als Ganzes verdrängt, um die Wundheilung als oberstes Ziel zu erzwingen. Bei der
palliativen Wundbehandlung steht nicht die Wundheilung im Vordergrund, son-
6.15 · Wunden
111 6
dern der Erhalt der individuellen Lebensqualität. Diese wird durch erkennen und
behandeln von Symptomen und Komplikationen, sowie der persönlichen Betreu-
ung des Patienten, inklusive der Angehörigen, erreicht.
Die palliative Wundbehandlung unterscheidet sich von der kurativen in meh-
reren Punkten. Vor allem die Zielsetzung differiert. Bei der palliativen Wundbe-
handlung steht Symptomkontrolle als definiertes Ziel, in der kurativen Medizin das
Abheilen der Wunde im Vordergrund. Doch grundsätzlich stellt sich die Frage:
Welche Faktoren entscheiden über eine palliative Behandlung?

kEinteilung nach palliativ-medizinischen Grundlagen


»Benigne« Wunden Als »benigne« wird die Gutartigkeit einer Krankheit oder
eines Krankheitsverlauf bezeichnet. Die Benignität ist aber keine Garantie für eine
Abheilung. Hier spielen noch andere, unterschiedliche Ursachen eine erhebliche
Rolle:
4 Grundursache kann nicht behoben werden
4 Compliance
4 andere, zusätzliche Erkrankungen
4 eingeschränkter Allgemeinzustand

»Maligne« Wunden Eine maligne Läsion der Haut wird verursacht durch einen
primären Hauttumor, eine Hautmetastase eines anderen primären Tumors
oder den Durchbruch eines Tumors aus tieferen Gewebeschichten. Kennzeichen
sind schnelles Wachstum, Kraterbildung, Geruch, massive Exsudation, Schmer-
zen, Fistelbildung und Blutungen (Definition der British Columbia Cancer
Agency).
Der Unterschied zu Krebserkrankungen der inneren Organe ist bei einem
aufbrechenden, nach außen hin sichtbaren Tumorwachstum als ein sichtbares
Geschehen mit einer offensichtlichen Zerstörung des eigenen Körpers, also ein
sichtbares Fortschreiten der Erkrankung erkennbar. Diese häufig sehr stark
riechenden, teilweise sehr schmerzhaften und sehr nässenden Wunden rufen
beim Betroffenen neben Angst auch Wut im Wechsel mit Ratlosigkeit, Scham und
Ekel hervor [51]. Extrem werden diese Konflikte bei Wunden im Kopf-, Gesicht-
oder Halsbereich. Neben der Wahrnehmung der allmählichen Zerstörung des
eigenen Körpers werden sie mit den Reaktionen von Mitmenschen und/oder sogar
der eigenen Angehörige, mit schockierten, ekelverzerrten und sogar ablehnenden
Gesichter, konfrontiert. Dies führt sehr oft in soziale Isolation und zwingender-
maßen zur Vereinsamung [52], [53]. Betroffene fühlen sich als Last, ja sogar für
die Gesellschaft nicht mehr tragbar zu sein; der Wunsch nach Euthanasie wird ver-
ständlich.
Dieses Wissen ist eine wichtige Grundlage im Umgang mit dem betroffenen
Menschen, denn auch »routinierte« Pflegepersonen können aufgrund der Ge-
112 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

ruchsbelastung sowie ein Anblick eines zerfallenden Tumors an ihre Belastungs-


grenze stoßen und Gefühle wie Ekel oder Berührungsängste können auftreten.
Fällt die Entscheidung zur palliativen Wundbehandlung, steht die Zielformu-
lierung im Vordergrund.

Ziele der palliativen Wundbehandlung:


4 Erhaltung von Lebensqualität und Wohlbefinden
4 »akzeptables« Äußeres für den Patienten
4 Selbständigkeit und soziale Integration erhalten
4 Belastungsgrenzen für Patient und Angehörige
6 4 mögliche Komplikationen erkennen und behandeln

kSymptomkontrolle
Schmerz
4 Schmerzauslöser erkennen und behandeln (häufigster Grund: verklebende
Wundverbände → phasengerechte Wundauflagen verhindern das Verkleben
von Wundverbänden)
4 zeitlich angepasste Schmerzerfassung und -behandlung (mind. 1 Stunde vor
Verbandwechsel)
4 WHO-Stufenschema kennen und anwenden [54]

Geruch
4 sanfte Wundreinigung (Ausspülen unter der Dusche, mit Berücksichtigung
und in Absprache von Temperatur und Wasserdruck mit dem Betroffenen)
4 Kennen der gängigen Wundauflagen mit Kohlepulver
4 Antibiose systemisch und/oder lokal

Exsudatmanagement
4 Auffangen von Sekret, freien Abfluss gewährleisten, Sekretionshemmung, Ma-
zerationen vermeiden

Tragekomfort/ästhetischer Verband
4 Kennen der gängigen Wundauflagen und individuell nach den Ansprüche des
Betroffenen anwenden

Komplikationen (Blutungen, Sepsis etc.)


4 hohe Gefahr der Sepsis bei Tumorzerfall sowie die hohe Blutungsneigung
erkennen und Betroffene sowie Angehörige adäquat informieren und auf-
klären
6.16 · Jucken
113 6
Zusammenfassung
Der Schlüssel für das Management von Lebensqualität liegt in der frühen Ent-
scheidung für eine palliative Behandlung. Ist die Entscheidung gefallen, so
muss der Schwerpunkt auf guter Symptomkontrolle liegen, wobei die Schmerz-
beseitigung für alle Patienten eine Priorität darstellen muss, unabhängig von
der Erkrankung oder Prognose. Dies erfordert einen exakten Behandlungsplan
mit einem interprofessionellen Team und den Einbezug des Betroffenen als zu-
sätzlichen Partner.

Literatur
[51] Hopkins A (2004) Disrupted lives: investigation coping strategies for non-healing leg
ulcers. Br J Nurs 13:556-564
[52] Hopkins A, Dealey C, Bale S, Defloor T, Worboys F (2006) Patient stories of living with a
pressure ulcer. J Adv Nurs 56:345-353
[53] Fox C (2002) Living with a pressure ulcer: a descriptive study patients’ experiences. Br J
Community 7:10-22
[54] European Wound Management Association (EWMA) Position Document (2002) Pain at
wound dressings. MEP Ltd, London

Weiterführende Literatur
Panfil EM, Schröder G (2009) Pflegen von Menschen mit chronischen Wunden. Huber, Bern
European Wound Management Association (EWMA) Position Document (2008) Hard-to-heal
wounds: a holistic approach. Ltd. 2
Pschyrembel (2011) Klinisches Wörterbuch. De Gruyter, Berlin

6.16 Jucken

Steudter
kDefinition
Pruritus (lat. prurire: jucken) Hautjucken mit zwanghaftem Kratzen, an dessen
Zustandekommen und Verarbeitung spezifisch marklose Typ C-Nervenfasern und
Chemosensoren, das vegetative Nervensystem, die Hirnrinde und Psyche, be-
stimmte Mediatoren, das Gefäßsystem der Haut und die inneren Organe beteiligt
sind [55]. Jucken kann die Haut sowie die Schleimhaut betreffen. Jucken kann akut
oder chronisch, lokal begrenzt oder generalisiert auftreten. Es kann mit und ohne
sichtbare Hautreizung einhergehen.
114 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

kEpidemiologie
Jucken tritt bei 60–80 % der alten Menschen auf. Da Palliativpatienten häufig ein
fortgeschrittenes Alter aufweisen, ist Jucken hier ein häufiges Symptom. Auf-
grund von fortgeschrittenen unheilbaren Krankheiten, wie sie in der Palliativ-
medizin vorkommen, ist die Prävalenz des starken Juckens eher niedrig. Genaue
Angaben sind schwierig, da Jucken subjektiv empfunden und häufig von anderen
prominenten Symptomen (Schmerz, Atemnot, Übelkeit und Erbrechen) überlagert
wird [56].

kLebensqualität
Jucken beeinflusst das Wohlbefinden des Betroffenen mehrdimensional und zählt
6 zu den Symptomen, die die Lebensqualität akut oder chronisch einschränken. Ju-
cken hat folgende Auswirkungen:
4 körperlich: ständiges Jucken mit dem Bedürfnis, sich zu kratzen, kann zu Haut-
verletzungen und erhöhtem Infektionsrisiko führen
4 psychisch: lang anhaltendes Jucken kann zur psychischen Belastung des Pati-
enten und infolge zu Hoffnungslosigkeit, Machtlosigkeit und Depressionen
führen
4 geistig/spirituell: lang andauerndes Jucken kann die Betroffenen zur existen-
ziellen Verzweiflung führen
4 sozial: der ständige Drang, sich zu kratzen, kann dazu führen, dass sich der
Betroffene zurückzieht, soziale Kontakte meidet und sich in der Folge isoliert
fühlt

kUrsachen [56]
4 Abflusshinderung der Gallenflüssigkeit (Cholestase) als Folge von Lebererkran-
kungen oder tumorbedingten Verengungen der Gallenwege und im Bereich
der Vaterschen Papille
4 urämisch bedingt bei Patienten mit fortgeschrittener chronischer Nierenin-
suffizienz Tumorerkrankungen, z. B. bei Tumoren in zentralen Nervensystem
oder im Vorfeld von soliden Tumoren
4 Medikamente; hier sind vor allem die Opioide von Bedeutung, die sehr häufig
in der Schmerzbehandlung von Palliativpatienten eingesetzt werden; neben
den Opioiden können auch Dexamethason, Furosemid oder bestimmte Anti-
biotika für das Jucken verantwortlich sein
4 neuropathisch durch Schädigung der Nervenbahnen (Degeneration oder
Kompression)
4 psychogen: Menschen in palliativen Behandlungssituationen stehen häufig
unter großen Stress (verursacht durch Schmerzen, Unsicherheit oder Macht-
losigkeit) oder leiden an Angst; beide Reaktionen können zu Jucken
führen
6.16 · Jucken
115 6

. Tab. 6.26 Übersicht der Behandlungsoptionen nach [57]

Topisch lokale Therapie Systemische Therapie

Lokalanästetika (z. B. Lidocain, Benzocain) Antihistaminika


Glukokortikoide (z. B. Hydrokortison); Glukokortikoide bei schwerem Jucken
nicht zur Monotherapie und für die lang- und hohem Leidensdruck, nicht zur
fristige Therapie geeignet langfristigen Therapie
Capsicin (0,025–0,5 %); verursacht vo- Opioidrezeptor-Antagonist
rübergehendes Brenn- und Wärmegefühl (z. B. Naltrexon)
Calcineurininhibitoren Antikonvulsiva (z. B. Gabapentin)
Antidepressiva (z. B. Parexetin,
Sertralin, Mirtazapin, Doxepin)

4 trockene Haut: besonders im Alter leiden viele Patienten an trockener Haut


(Xerosis); dieses Symptom verschlimmert sich durch eine verminderte Flüssig-
keitsaufnahme, Vitaminmangel und an bestimmten Hautpartien durch Bett-
lägerigkeit oft zusätzlich

kDiagnostik
Die umfassende Anamnese und die körperliche Untersuchung stehen zu Beginn
des diagnostischen Prozesses. Die Haut sollte auf ihre Farbe, den Feuchtigkeitsgrad,
evtl. Schuppenbildung und Infektionen untersucht werden. Laboruntersuchungen
(z. B. großes Blutbild, Leberenzyme, Plasmaharnsäure) können Auskunft über
mögliche Ursachen des Juckens geben. Die Kratzaktivität kann beobachtet bzw.
erfragt werden. Im Rahmen der palliativen Behandlung wird auf aufwändige Mess-
verfahren hingegen verzichtet [56].

kTherapie
Pharmakologische Therapie Die Behandlung der Patienten erfolgt mehrdimen-
sional und soll sich stets an die Person in ihrer Gesamtheit richten. Hier gilt der
Grundsatz: Vorbeugen ist besser als Behandeln. Das heißt, alle Juckreiz beeinflus-
senden Faktoren sollten möglichst im Rahmen der palliativen Behandlung ausge-
schaltet oder deutlich verringert werden. Pharmakologisch kann topisch und/oder
systemisch therapiert werden . Tab. 6.26.

Nicht-pharmakologische Therapie Eine UV-Therapie hat in klinischen Studien


gute Ergebnisse gezeigt. Der Einsatz im Rahmen einer palliativen Behandlung muss
116 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

jedoch sorgfältig abgewogen werden. Zusätzlich sollte die Möglichkeit einer psy-
chosomatischen Begleittherapie bedacht werden.
Das Kühlen der Haut führt zu vermindertem Jucken. Dies kann mit kühlenden
Umschlägen (z. B. kühler Quark), Waschungen (z. B. mit Essigwasser 1:20 ver-
dünnt; Haut anschließend nicht reiben) oder kurzfristig mit Kühlelementen bei
lokal begrenztem, ausgeprägtem Jucken erreicht werden. Einreibungen mit Pfeffer-
minzöl (0,5 %) wirken ebenfalls kühlend [58].

kKomplikationen
Zu den häufigsten Komplikationen gehört neben der psychischen Belastung und
möglichem unwirksamen Coping die erhöhte Infektionsgefahr der durch Kratzen
6 verletzten Haut. Die Bewältigung der Grunderkrankung sowie der Umgang mit
den durch Jucken belastenden Situationen gehört zu den Herausforderungen der
Krankheitsverarbeitung. Stehen hier nicht die nötigen individuellen Strategien und
Ressourcen zur Verfügung, kann sich der psycho-emotionale Zustand des Pati-
enten bis zur existenziellen Krise verschlechtern.

Zusammenfassung
Jucken beeinflusst das Wohlbefinden des Betroffenen mehrdimensional und
zählt zu den Symptomen, die die Lebensqualität akut oder chronisch ein-
schränken. Zu den häufigsten Komplikationen gehört neben der psychischen
Belastung und möglichem unwirksamen Coping die erhöhte Infektionsgefahr
der durch Kratzen verletzten Haut. Juckreiz beeinflussende Faktoren sollten im
Rahmen der palliativen Behandlung deutlich verringert werden.

Literatur
[55] Pschyrembel (2011) Klinisches Wörterbuch. De Gruyter, Berlin, S. 1696
[56] Zylicz Z, Twycross R, Jones EA (2009) Pruritus. Huber, Bern
[57] Ständer et al. (2009) AWMF Leitlinie. Chronischer Pruritus
[58] Bausewein C, Roller S, Voltz R (2010) Leitfaden Palliative Care. Palliativmedizin und Hos-
pizbetreuung. Urban & Fischer, München

Weiterführende Literatur
Jones EA, Bergasa NV (2009) Cholestasebedingter Pruritus und das Opioid-Neurotransmitter-
system. In: Zylicz Z, Twycross R, Jones EA (Hrsg.) Pruritus. Huber, Bern, S. 69–80
Szepietowiski JC (2009) Urämisch bedingter Pruritus. In: Zylicz Z, Twycross R, Jones EA (Hrsg.)
Pruritus. Huber, Bern, S. 81–95
Krajnik M, Zylicz Z (2009) Pruritus als Begleiterscheinung solider Tumore. Zylicz Z, Twycross R,
Jones EA (Hrsg.) Pruritus. Huber, Bern, S. 109–117
Zylicz, Z. (2009) Neuropathisch bedingter Pruritus. In: Zylicz Z, Twycross R, Jones EA (Hrsg.)
Pruritus. Huber, Bern, S. 129–142
6.17 · Symptomlinderung durch Mundpflege
117 6
Koo JY, Lo RS (2009) Somaoformer Pruritus. In: Zylicz Z, Twycross R, Jones EA (Hrsg.) Pruritus.
Huber, Bern, S. 143–160
Zylicz Z (2009) Klinisches Assessment von Patienten mit Pruritus. In: Zylicz Z, Twycross R,
Jones EA (Hrsg.) Pruritus. Huber, Bern, S. 47–58

6.17 Symptomlinderung durch Mundpflege

Galgan

Die Mundpflege ist ein häufig vernachlässigter, jedoch äußerst wichtiger Aspekt in
der Palliativersorgung. Der Mund stellt für viele Menschen eine sehr intime Zone
dar.

kEpidemiologie
23–78 % der Patienten mit fortgeschrittener Krebserkrankung haben Probleme im
oralen Bereich [59]. Eines der fünf häufigsten Symptome in der Palliativversorgung
von Krebspatienten ist die Xerostomie (Mundtrockenheit). 88 % der Patienten mit
fortgeschrittener Krebserkrankung gaben die Intensität der Xerostomie mit 6,2 auf
einer Skala zwischen 1–10 an [60]. Eine Herpes Simplex-Infektion tritt bei 11–65 %
der Betroffenen auf [61].

kAuswirkungen auf die Lebensqualität


Eine Veränderung im Bereich des Mundes, als zentrales Sinnesorgan und Intimzone
des Menschen, hat Auswirkungen auf physiologische Funktionen wie sprechen,
schlucken, atmen, kauen und auf den Geschmack sowie den Appetit. Durch schlech-
te Mundhygiene und auftretenden Mundgeruch rücken psychosoziale Aspekte (z. B.
Isolation) in den Vordergrund. Ebenso können Aspekte auf der spirituellen Ebene
betroffen sein. Belastungen durch Scham, reduziertes Selbstwertgefühl oder Erinne-
rungen an Vergangenes wie z. B. Krieg, Traumata (einschließlich Erinnerungen an
orale Vergewaltigungen) können durch die Mundpflege ausgelöst werden.

kDiagnostik/Assessment
Eine effektive Mundpflege beinhaltet die regelmäßige Inspektion der Mundhöhle
(einschließlich Lippen, Zähne, Wangentaschen und Gaumen), die Protokollierung
der Beurteilung sowie alle Möglichkeiten, welche die Schleimhaut intakt halten
bzw. zu ihrer Regeneration beitragen. Gängige Assessment-Instrumente fokussie-
ren nur ein Problem, wie beispielsweise der Oral Assessment Guide nach Eilers
(OAG) und der Oral Mukositis Index. Da die Patienten meist aus Unsicherheit oder
Scham nicht über ihre Probleme sprechen, sollten Fragen zu folgenden Aspekten
zur Anamnese Berücksichtigung finden [62], [63]:
118 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

4 Wie ist das Gefühl im Mund- und Rachenbereich?


4 Sind Schmerzen, Mundtrockenheit, Ulzerationen, Infektionen, vermehrter
Speichelfluss, Mundgeruch oder Geschmacksirritationen aufgetreten?
4 Gibt es Probleme beim Kauen, Schlucken oder Sprechen?
4 Hat die Person eine Magensonde oder PEG?
4 Wird Sauerstoff verabreicht?
4 Werden oder wurden Medikamente wie z. B. Anticholinergika, Bisphospho-
nate oder Chemotherapeutika verabreicht?
4 Des Weiteren sollte erfragt bzw. beobachtet werden, ob aufgetretene Probleme
akut oder chronisch sind und durch welche Maßnahmen ggf. eine Linderung
spürbar ist.
6
kTherapie
Maßnahmen bei gesunder Mundschleimhaut und intakten Zähnen
4 Prophylaxe von oralen Infektionen, Mundgeruch und Zahnerkrankungen
4 Mund und Lippen sauber, feucht und intakt halten; Plaques und Beläge stets
entfernen
4 zur Mundbefeuchtung häufig etwas Flüssigkeit anbieten oder den Mund mit
Tees oder Lieblingsgetränken auswischen; die Lippen mit Gel oder Creme
feucht halten
4 gefrorene Früchte, Wassereis, zuckerfreie Kaugummis anbieten (bei bewusst-
seinseingeschränkten Personen in Mullkompressen einwickeln)
4 Zahnpflege mit einer weichen »Kurz-Kopf-Zahnbürste« und fluoridhaltiger
Zahncreme nach jeder Mahlzeit und vor dem zu Bett gehen durchführen
4 bei bewusstseinsgetrübten Patienten oder Personen, die nicht in der Lage sind
mit der Zahnbürste zu arbeiten, Gaze mit Wasser oder Chlorhexidine 0,2 %
tränken und den Mund damit reinigen
4 das Gebiss über Nacht in Reinigungslösung legen

Maßnahmen bei Borken und Belägen


4 Mundpflege mit Brausepulver oder Vitaminbrausetabletten durchführen; den
Patienten Kiwi – Stückchen lutschen lassen
4 Sahne, Teebaumöl, Sonnenblumenöl (da geschmacksneutral, ggf. mit etwas
Zitrone anreichern)
4 Cave: kein Glyzerin, Thymol oder Lemonsticks, da diese den Mund sekundär
austrocknen
4 bei Halitosis (Mundgeruch) Chlorophyll-Lösung oder Dragees, ggf. auch An-
tibiotikalösung anbieten
6.17 · Symptomlinderung durch Mundpflege
119 6
Therapie beim Schmerzen (painful mouth)
4 Lokalanästhetika, Lidocain-Spray oder Gel (enthält kein Alkohol) Benzocain-
Lutschtabletten
4 Benzydamin hydrochloride 0,15 % Sprüh- oder Gurgellösung 15 ml, alle 2–3
Stunden (7 Abschn. 6.2)

Therapie bei Pilzinfektionen


4 Spülung mit Chlorhexidingluconat 0,2 %, 10 ml zweimal pro Tag
4 Spülung mit 1 ml Nystatin-Suspension, anschließend schlucken, 4 x pro Tag
7–14 Tage (Nystatin ohne Zahnprothese verabreichen und ca. 30 Min. nach der
Chlorhexidine-Gabe)
4 Fluconazol bei Systemcandidose
4 Zahnprothesen über Nacht in Hexetidin-Lösung einlegen

Therapie bei Infektionen und Ulzerationen


4 Chlorhexidingluconat 0,2 %, 10 ml zweimal pro Tag
4 bei persistenter Mukositis einen Abstrich in Betracht ziehen
4 bei Herpes Befall Aciclovir und Aciclovir-Creme bei Ulzerationen auf den
Lippen
4 bei Schmerzen (7 Abschn. 6.2)
4 bei wenig ausgeprägten Infektionen und zur Unterstützung der pharmakolo-
gischen Therapie bieten sich Mundspülungen mit Salbei-, Pfefferminz- oder
Ringelblumentees an

Zusammenfassung
Die Maßnahmen zur Mundpflege berücksichtigen stets die Wünsche der Patien-
ten. Die Ursachen für aufgetretene Probleme sind zu identifizieren und wenn
möglich zu beheben. Zahnärzte und zahnmedizinische Prophylaxe-Assistentin
in die Versorgung integrieren, da sie individuelle Problemlösungen anbieten
können. Der Einbezug der individuellen Geschmacksgewohnheiten helfen in
der Sterbephase die Lebensqualität zu fördern. Das Ziel der Mundpflege ist es,
dass die Person den Mund freiwillig öffnet und mit der Reinigung des Mundes
ein angenehmes Gefühl verbindet.
120 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

Literatur
[59] Davies A (2005) Introduction. In: Davies A, Finlay I (Hrsg.) Oral care in advanced disease.
Oxford University Press, New York
[60] Oneschuk D, Hanson J, Bruera E (2000) A survey of mouth pain and dryness in patients
with advanced cancer. Support Care Cancer 8(5):372–376
[61] De Conno F, Sbanotto A, Ripamonti C, Ventafridda V (2004) Mouth care. In: Doyle D, Hanks
G, Cherny N, Calman K (Hrsg.) Oxford Textbook of Palliative Medicine. Oxford, New York
[62] Davies A (2005a) Oral assessment. In: Davies A, Finlay I (Hrsg.) Oral care in advanced
disease. Oxford University Press, New York
[63] NHS Lothian (2010) Mouth Care in Palliative Care. http://www.palliativecareguidelines.
scot.nhs.uk/documents/Mouthcarefinal.pdf (Dezember 2010)

6
6.18 Durst/Flüssigkeitsgabe

Galgan
kDefinition
Unter Flüssigkeitssubstitution oder Hydratation versteht man in der Palliativ-
medizin den künstlichen Volumenersatz, wenn eine ausreichende orale Flüssig-
keitsaufnahme nicht mehr möglich ist. Durst beschreibt ein qualvolles, subjektives
Gefühl, dessen Schwere nur die Person selbst beurteilen kann.

kEpidemiologie
Die Aspekte Durst und Flüssigkeitsgabe treten meist in den letzten Wochen, Tagen
oder Stunden einer palliativen Versorgung in den Vordergrund. Nehmen Ster-
bende keine oder nur noch geringe Mengen an Flüssigkeiten zu sich, führt dies
oft zu Ängsten und Nöten bei ihnen und den Angehörigen. Wir benötigen eine
Haltung, welche die Wünsche und Ängste der Sterbenden und ihrer Angehörigen
erkennt und die Therapie mit ihnen und dem gesamten therapeutischen Team
bespricht und umsetzt.

kAuswirkungen auf die Lebensqualität


Die Aufnahme von Getränken dient physiologischen Funktionen wie z. B. dem
Stillen des Durstgefühls und der regelmäßigen Urin- und Stuhlausscheidung. Eine
Veränderung in den Bedürfnissen der Flüssigkeitsaufnahme kann sich jedoch auch
auf die psychosoziale Ebene auswirken. Das gemütliche Zusammensein, bzw. der
Akt der Fürsorge bei einer Tasse Kaffee oder einem Glas Wein fällt für die Betrof-
fenen häufig weg. Ebenso können Aspekte auf der spirituellen Ebene betroffen sein.
Durch Aussagen von Angehörigen, z. B. »Wenn du nichts mehr trinkst, kommst du
nicht wieder auf die Beine«, können Gedanken über den bevorstehenden Tod aus-
gelöst werden.
6.18 · Durst/Flüssigkeitsgabe
121 6
kDiagnostik/Assessment
Durst und Mundtrockenheit können objektiv nicht ausreichend erfasst werden.
Die gezielte Befragung der Betroffenen bzw. eine gute Beobachtung bei bewusst-
seinseingeschränkten Menschen ist von Nöten. Bei einer aufgetretenen Dehydra-
tation stellt sich die Frage, ist diese Folge einer Krise, welche durch eine adäquate
Behandlung überwunden werden kann oder ist sie Teil des Sterbeprozesses? Es gibt
bisher kein evaluiertes Assessment-Instrument, welches aussagt, wann eine Flüs-
sigkeitsgabe erfolgen soll. Zur Entscheidungshilfe dienen folgende Themenkom-
plexe, welche mit den Patienten, den Angehörigen und dem therapeutischen Team
besprochen und regelmäßig evaluiert werden sollen [64], [65]:
4 Verbessert die Flüssigkeitsgabe die Lebensqualität der Person?
4 Welche Symptome werden durch die Gabe verbessert, welche verschlechtern
sich?
4 Verbessert die Gabe den Bewusstseinszustand der Person? Wenn ja, war dies
das Ziel des Patienten bzw. der Wunsch für die Versorgung am Lebensende?
4 Verlängert die Gabe das Leben der Person? Wenn ja, war dies das Ziel des Pa-
tienten bzw. der Wunsch für die Versorgung am Lebensende?
4 Welche Effekte hat die technische Seite der Therapie für die Person? Erschwe-
ren Infusionsleitungen oder Sondenkostpumpen die Mobilität oder die Teil-
nahme am Sozialleben?
4 Lenkt die Therapie den Patienten und die Angehörigen von der eigentlichen
Auseinandersetzung mit dem bevorstehenden Tod ab?
4 Jede Gabe von Flüssigkeiten in künstlicher Form ist eine medizinische Maß-
nahme und setzt die Einwilligung des Patienten voraus (7 Kap. 12.3).
4 Durst resultiert weniger aus einer Dehydratation als aus einer Mundtrocken-
heit (7 Abschn. 6.17).

Vorteile der terminalen Dehydratation


4 verringerte Sekretion in das Lungen- und Bronchialsystem und den GI-Trakt;
dadurch sind weniger Interventionen zur Symptombehandlung erforderlich,
z. B. tritt die »terminale Rasselatmung« seltener auf (7 Abschn. 6.19)
4 störende Ödeme, Aszites, Pleuraergüsse und Lungenödeme sind geringer aus-
geprägt
4 durch geringeres Tumorödem kommt es zu weniger Druck auf die Umgebung
und damit zu weniger Schmerzen
4 eine relative Hypohydratation führt möglicherweise zur vermehrten Ausschüt-
tung von Endorphinen, welche eine analgesierende Wirkung zeigen [64]
4 durch die geringere Urinproduktion sind der schwierige Toilettengang oder das
Umlagern auf die Bettpfanne seltener notwendig
122 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

Wann sind Flüssigkeitsgaben aus palliativer Sicht sinnvoll?


4 bei raschen Flüssigkeitsverlusten z. B. durch anhaltendes Erbrechen, Durchfäl-
le oder bei Übelkeit
4 bei Unruhe, einem Delir oder wenn der Patient plötzlich aus unklarer Ursache
eintrübt
4 bei toxischen Medikamentenkonzentrationen oder einer Hyperkalzämie

Bedeutung für die Angehörigen Wenn sich bei Sterbenden die Flüssigkeitsein-
fuhr verringert, führt dies oft zu einer Verbesserung der Lebensqualität der Betrof-
fenen, ebenfalls jedoch zu Schuldgefühlen (»Wird mein Angehöriger jetzt verdurs-
ten?«) bei den Angehörigen. Mit Hydratation zu reagieren würde den Bedürfnissen
6 der sterbenden Person nicht gerecht werden. Zum Abbau der Ängste ist die frühe
Aufklärung der Patienten und Angehörigen hilfreich. Die Angehörigen können
angeleitet werden die Mundpflege durchzuführen und so etwas »Gutes zu tun«.
! Vielen Angehörigen hilft es, wenn sie erläutert bekommen, dass die
sterbende Person alles essen und trinken darf, was sie möchte, jedoch
nichts von dem tun muss! Diese Information nimmt erfahrungsgemäß
sehr viel Druck und Anspannung aus der Betreuungssituation.

kTherapie
Wird eine Flüssigkeitszufuhr gewünscht empfiehlt sich die (nächtliche) Substitu-
tion mittels subkutaner Infusion. Sie erlaubt eine schonende Gabe von Flüssigkeit
und den meisten, in der Palliativbetreuung erforderlichen, Medikamenten. Die
Anlage von Magensonde, PEG’s oder Venenverweilkathetern oder -kanülen kann
dadurch unterbleiben (7 Abschn. 6.4). Subkutan können problemlos 500–1000 ml
Flüssigkeit verabreicht werden. Es eignen sich NaCl 0,9 %, Ringerlösung oder Glu-
coselösung 5 %. Dabei gilt es zu beachten, dass auch die Flüssigkeiten der Medika-
mentengaben mit in die Bilanzierung eingehen. Durch Kurzinfusionen, Perfusoren
etc. ergeben sich manchmal große Mengen an Flüssigkeit, welche in der Bilanzie-
rung keine Beachtung finden.

Zusammenfassung
Der Nutzen der Flüssigkeitsgabe in der palliativen Versorgung ist begrenzt.
Ausschlaggebend für die Entscheidungsfindung sind der Wille des Patienten,
ethische Kriterien und eine optimale Symptombehandlung. Eine begonnen
Flüssigkeitsgabe kann jederzeit abgesetzt werden, die Indikation muss regel-
mäßig evaluiert werden.
6.19 · Symptome in der Finalphase
123 6
Literatur
[64] Bridge D, Miller C, Cameron D, Goldmann H (2011) The Role of Nutrition and Hydration
when Sedation is used in Palliative Patients. European Association for Palliative Care
http://www.eapcnet.org/forum/default.asp?category=The%20Role%20of%20Nutrition
%20and%20Hydration (Stand Januar 2011)
[65] NHS Lothian (2010) Palliative Care Guidelines: Subcutaneous fluid. http://www.palliati-
vecareguidelines.scot.nhs.uk/documents/SCFluids.pdf (Stand Januar 2011)

6.19 Symptome in der Finalphase

Dietz, Rémi, Schildmann, Schulz


Finalphase
Der Begriff Finalphase (lat. finalis = endgültig, finis = Ende, Abschluss, Ziel)
steht für die eigentliche Sterbephase und bezieht sich auf die letzten Stunden
bis Tage des Lebens.

Der Eintritt in die Finalphase, der als präziser Zeitpunkt schwer zu erkennen sein
kann, darf nicht als Rückzug des Arztes bzw. des behandelnden Teams verstanden
werden, sondern fordert im Gegenteil eine aktive Begleitung des Patienten und
seiner Angehörigen. Das ärztliche und pflegerische Handeln sollte flexibel an die
Symptome und Veränderungen in den letzten Lebenstagen und Stunden angepasst
werden.

Häufige allgemeine Veränderungen bzw. klinische Zeichen, die sich im


Verlauf der Finalphase zeigen:
4 zunehmende Schwäche und Schlafbedürfnis, abnehmendes Interesse an
der Umgebung und an Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, abnehmende
Kontaktfähigkeit bis hin zum Bewusstseinsverlust
4 eine »vita reducta« oder »vita minima« (= reduziertes bzw. geringes
Leben): Abnahme von Körper- und Organfunktionen (z. B. Rückgang der
Urinausscheidung), Veränderungen der Atmung (»Röcheln«, Cheyne-
Stokes-Atmung, Rasselatmung), Herzarrhythmien, Blutdruckabfall
bis zur Pulslosigkeit, Erlöschen des Muskeltonus und der Muskeleigen-
reflexe
4 zunehmende »facies hippocratica« (fahlgraue, blasse Gesichtshaut, einge-
fallene Wangen und Augen, spitze Nase, vorgeschobenes Kinn)
124 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

6.19.1 Medikamentöse Therapie

. Tab. 6.27 Die wichtigsten Medikamente in der Finalphase

Medikament Applikation Einzeldosis Parenteral Indikation


(Auswahl) über 24h

Morphin* s.c., i.v. 5–10 mg oder Je nach Schmerzen,


1/3 bis 1/6 Klinik Atemnot
der Tagesdosis
6 Hydromorphon s.c., i.v. 1–2 mg oder Je nach Schmerzen,
(Pallodon®) 1/3 bis 1/6 der Klinik Atemnot
Tagesdosis

Midazolam s.c., i.v. 2,5–5–10 mg 10–60 mg Unruhe, Atem-


(Dormicum®) not, Sedierung

Lorazepam s.l. 1–2,5 mg – Unruhe, Atem-


(Tavor®expidet) not, Sedierung

Haloperidol s.c., i.v. 2,5–5 mg 5–20 mg Übelkeit, Delir


(Haldol®)

Metoclopramid s.c., i.v. 10 mg 40–80 mg Übelkeit


(Paspertin®)

Butylscopolamin s.c. 20 mg 40–100 mg Rasselatmung


(Buscopan®)

* aufgrund der Akkumulationsgefahr von Morphin und den pharmakologisch aktiven


Metaboliten ist auch der Einsatz von beispielsweise Hydromorphon in Erwägung zu
ziehen.
Nicht alle Medikamente sind in den aufgeführten Indikationen, Applikationswegen
oder Dosierungen zugelassen (Off Label Use)
6.19 · Symptome in der Finalphase
125 6
6.19.2 Symptome
Schmerzen 7 Kap. 6.2
Ursachen Folgende Faktoren können in der Finalphase zusätzlich Einfluss auf die
Schmerzsymptomatik nehmen:
4 Dehydratation: die mit der Finalphase einhergehende Niereninsuffizienz för-
dert die Endorphinausschüttung → Schmerzreduktion
4 gleichzeitig verringert sich die renale Ausscheidung von Morphin und seiner
teilweise aktiven Metabolite; hierdurch kann es zu einer verstärkten Morphin-
wirkung, jedoch auch zu toxischen Effekten kommen → Schmerzreduktion
(jedoch sind auch (neuro-)toxische Effekte möglich)
4 metabolische Veränderungen, z. B. eine Hyperkalzämie: → Schmerzver-
stärkung
4 unregelmäßige Medikamenteneinnahme durch erschwertes Schlucken oder
häufige Schlafphasen → Schmerzverstärkung
4 Angst (z. B. vor dem Sterben, Autonomieverlust): → Schmerzverstärkung

Somit ist zumeist eine Anpassung der Schmerzmedikation in der Finalphase


nötig.

Diagnostik Im Rahmen der zunehmenden Schwäche des Patienten in der Final-


phase und der ebenfalls nicht selten vorliegenden Bewusstseinstrübung bis hin zu
Bewusstlosigkeit ist eine adäquate Schmerzanamnese im Sinne einer Selbstein-
schätzung oft deutlich erschwert oder nicht möglich. In diesem Stadium wird die
Fremdeinschätzung der Schmerzen durch das Behandlungsteam und die Angehö-
rigen umso wichtiger.
Wichtige Parameter bei der Schmerzbeurteilung können hier sein:
4 Gesichtsausdruck (z. B. gerunzelte Stirn, zusammengekniffene Augen)
4 Veränderungen der Körpersprache (stereotypes Reiben über schmerzhafte
Körperstelle, Vermeidung bestimmter Bewegungen, körperliche Anspan-
nung)
4 psychomotorische Unruhe
4 vegetative Zeichen (z. B. kaltschweißige Stirn, Tachykardie)

Dyspnoe 7 Kap. 6.9


Ursachen Eine Verstärkung des Symptoms in der Finalphase kann beispielsweise
durch eine Zunahme von Angst und Anspannung, die zunehmende Schwäche
sowie durch den weiteren Progress der mit Dyspnoe assoziierten Grunderkran-
kung (z. B. pulmonale Metastasen, maligner Pleuraerguss, Herzinsuffizienz) ver-
ursacht sein. Vor diesem Hintergrund sind auch die therapeutischen Konzepte in
126 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

der Sterbephase zu bewerten, die vor allem auf eine Abnahme der Atemarbeit, auf
die Beeinflussung der Wahrnehmung der Atemnot sowie auf die Verminderung
von Kofaktoren, wie z. B. Angst, abzielen.

Rasselatmung (Todesrasseln, Death rattle)


Ursachen Mit zunehmender Schwäche im Rahmen der Sterbephase, aber auch im
Laufe neurologischer Erkrankungen, verliert der Patient die Fähigkeit zu husten
und zu schlucken und somit den sich ansammelnden Speichel bzw. Schleim zu
entfernen.

6 ! Am wichtigsten ist die rechtzeitige Aufklärung der Angehörigen und


Mitpatienten: Rasselatmung ist kein Zeichen von Atemnot, geschweige
denn »Ersticken«! Für den Patienten selbst stellt die Rasselatmung
wahrscheinlich keine Belastung dar. Die Therapie erfolgt daher in die-
sem Fall »für die Angehörigen«.

Pharmakologische Therapie Die medikamentöse Therapie wirkt lediglich auf die


Neubildung von Sekret. Bereits vorhandener Schleim und Speichel wird nicht be-
einflusst . Tab. 6.28.

Nicht-pharmakologische Therapie
4 Infusionen absetzen
4 Lagerung, z. B. Seitenlage (nur, wenn der Patient es toleriert)

. Tab. 6.28 Medikamentöse Therapie mit Anticholinergika

Wirkstoff (Auswahl) Dosierung Bemerkung

Butylscopolamin/ 20–40 mg s.c. alle 4 Stunden,


Buscopan® 20–120 mg kontinuierlich über 24 h,
ca. 1–2 Std. bis Wirkungseintritt
Atropin 0,4 mg s.c, alle 4 Stunden, Zentralnervös
1,2–2 mg kontinuierlich über 24 h; sedierende Wirkung
Glycopyrrolat/Robinul® 0,2–0,4 mg s.c. alle 6 h, 0,6–1,2 mg
kontinuierlich über 24 h

Nicht alle Medikamente sind in den aufgeführten Indikationen, Applikationen oder


Dosierungen zugelassen (off-label use).
6.19 · Symptome in der Finalphase
127 6
4 Absaugen ist meistens nicht hilfreich, da die Wirkung nicht von langer Dauer
ist, die Prozedur belastend ist oder sogar noch zu einer vermehrten Sekretbil-
dung führen kann

Unruhe/Verwirrtheit/Delir 7 Abschn. 6.13


Ursachen
4 multifaktorielles Geschehen
4 am ehesten terminales Organversagen oder Progress der Grunderkrankung mit
zerebraler Manifestation
4 Kofaktoren wie Schmerzen, Harnverhalt (!) oder Obstipation und Ängste kön-
nen ein terminales Delir mit verursachen oder unterhalten

Diagnostik
! Das terminale Delir ist eine Ausschlussdiagnose: Zur Unterscheidung
eines terminalen, irreversiblen Delirs von einem Delir oder einer Ver-
wirrtheit anderer Ursache muss im Ausschlussverfahren nach anderen,
potentiell reversiblen bzw. behandelbaren Ursachen (z. B. Hyperkalzä-
mie, Flüssigkeitsverschiebungen, Nebenwirkungen von Medikamenten,
nonkonvulsiver Status) gesucht werden.

Durst/Flüssigkeitssubstitution 7 Abschn. 6.18


Die Flüssigkeitssubstitution in der Finalphase kann durch Einlagerung der für den
Körper nicht mehr verwertbaren Flüssigkeit (periphere Ödembildung, Hirn- oder
Lungenödem, vermehrte Aszitesbildung) sogar noch zu einer Symptomverstär-
kung und somit zu einer unnötigen Belastung des Patienten führen.
Beim Sterbenden machen eine gute Mundpflege in Kombination mit einer
minimalen oralen Flüssigkeitszufuhr (z. B. tiefgefrorene Früchte, zerkleinertes Eis,
Bier, Wein u. a.) eine darüber hinausgehende Flüssigkeitssubstitution meist über-
flüssig 7 Abschn. 6.17.
Die Gabe von Sauerstoff über Nasenbrillen oder Masken sollte vermieden wer-
den, da dies zu einer Austrocknung der Mund- und Nasenschleimhäute führt und
so ein Durstgefühl hervorrufen kann, das den Teufelskreislauf zwischen Durst-
gefühl, Flüssigkeitsgabe, Gefühl des Erstickens und Sauerstoffgabe weiter unter-
hält.
128 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

6.19.3 Notfälle in der Finalphase


Ursachen
4 akute Blutungen
4 Atemnotattacken/Erstickungsanfälle
4 zerebrale Krampfanfälle
4 Schmerzkrisen
4 plötzliche Verwirrtheit

Pharmakologische Therapie
6 Dyspnoe-Attacke, Hämoptysis, Hämorrhagie
4 Morphin 5–10 mg s.c. oder i.v.
4 bei Patienten, die bereits Opioide erhalten, 1/6 bis 1/3 der Tagesdosis
4 ggf. Kombination mit 5–10 mg Midazolam (Dormicum®) s.c. oder i.v., Titra-
tion nach Wirkung

Panik-/Angstattacke
4 Lorazepam (Tavor®expidet): Dosis 1–2 mg bukkal
4 wenn nicht ausreichend: Titration mit 5–10 mg Midazolam (Dormicum®)
s.c./i.v.

Zerebraler Krampfanfall
4 Midazolam 5 mg nasal/bukkal/s.c. oder Lorazepam 1–2,5 mg (Tavor®expidet)
bukkal/s.l.

Nicht-pharmakologische Therapie
Sowohl das behandelnde Team als auch die Angehörigen und wenn möglich
der Patient selbst sollten im Voraus auf mögliche Notfallsituationen vorbereitet
werden.

6.19.4 Liverpool Care Pathway (LCP)

Liverpool Care Pathway


Der Liverpool Care Pathway (LCP) ist ein Instrument zur bestmöglichen
Begleitung und Versorgung Sterbender in den letzten Lebenstagen- und
stunden.
6.19 · Symptome in der Finalphase
129 6

. Tab. 6.29 Item-Checkliste des Liverpool Care Pathways (LCP) [66]

Item Inhalt

1 Aktuelle Medikation ist überprüft worden, nicht unbedingt notwendige


Medikamente wurden abgesetzt
2 Subkutane Bedarfsmedikamente für häufige Symptome sind verordnet
3 Unangebrachte medizinische Maßnahmen wurden beendet (Blutentnahme,
Antibiose, Ernährung/Flüssigkeit …)
4 Verständliche Kommunikation ist sichergestellt
5 Einschätzung der Situation durch den Patienten/seine Angehörigen ist
beurteilt
6 Religiöse und spirituelle Bedürfnisse sind erfasst
7 Es wurde geklärt, wie die Familie/andere nahe stehende Personen über den
Tod des Patienten informiert werden sollen
8 Unterstützung für die Angehörigen ist abgeklärt und in die Wege geleitet
9 Der Hausarzt ist über den Zustand des Patienten informiert
10 Der Betreuungsplan ist mit dem Patient und den Angehörigen diskutiert
11 Die Angehörigen bestätigen, dass sie den Betreuungsplan verstanden haben
12 Der Hausarzt ist über den Tod des Patienten informiert
13 Prozeduren für die Aufbahrung sind entsprechend den hausinternen Vor-
gaben durchgeführt worden
14 Prozeduren nach dem Tod sind diskutiert oder durchgeführt worden
(Autopsie, Rituale, etc.)
15 Die Angehörigen sind über hausinterne Prozeduren in Kenntnis gesetzt
worden
16 Die Krankenhausrichtlinien bzgl. Wertgegenständen des Patienten sind
befolgt worden
17 Die notwendigen Dokumentationen und Hinweise sind an die entspre-
chende Person weitergegeben worden
18 Faltblatt mit Trauerinformationen ist ausgehändigt worden
19 Wurden häufige Symptome in der Sterbephase regelmäßig beurteilt?
20 Wurden medizinische und pflegerische Maßnahmen (Mundpflege, Urinaus-
scheidung, Medikamente, etc.) regelmäßig ausgeführt bzw. beurteilt?
130 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

6.19.5 Palliative Sedierung

Palliative Sedierung (PS)


Überwachter Einsatz von Medikamenten mit dem Ziel einer verminderten oder
aufgehobenen Bewusstseinslage (Bewusstlosigkeit), um die Symptomlast in
anderweitig therapierefraktären Situationen in einer für Patienten, Angehörige
und Mitarbeiter ethisch akzeptablen Weise zu reduzieren (gem. European Asso-
ciation for Palliative Care, EAPC).

6 Refraktäres Symptom
Symptom, für das alle möglichen Therapieversuche versagt haben oder die Ein-
schätzung besteht, dass keine Methoden der Palliation innerhalb eines akzeptab-
len Zeitrahmens und ohne unzumutbare Nebenwirkungen zur Verfügung stehen.

Indikationen in der Finalphase Situationen in der Finalphase, in denen palliative


Sedierung eingesetzt wird, sind die folgenden:
4 Entwöhnung von Beatmung am Lebensende (terminales Weaning)
4 Sedierung zur Behandlung anderweitig refraktärer Symptome in der Final-
phase
4 Sedierung in Notfallsituationen, z. B. massive Blutungen, Asphyxie, schwere
Dyspnoe im Sterbeprozess, Schmerzkrise im Sterbeprozess
4 ggf. Sedierung bei psychischen Symptomen und existentiellen Krisen in der
Finalphase (refraktäre depressive Zustände, Angst, Demoralisation oder exis-
tentielle Not): kein Konsens zu PS für diese Indikation, besondere Vorsichts-
maßnahmen für diese klinischen Umstände

Die häufigsten therapierefraktären Symptome, für die PS eingesetzt wird, sind:


4 Delir/agitierte Verwirrtheit
4 Dyspnoe
4 Schmerzen

Auswahl der Sedierungsmethode


! Es sollte stets der niedrigste Grad der Sedierung angestrebt werden, der
eine adäquate Symptomlinderung bewirkt.

Klinische Einschätzung Vor Beginn einer PS sollte die klinische Einschätzung des
Zustandes des Patienten durch einen ausreichend in der Palliativmedizin erfah-
6.19 · Symptome in der Finalphase
131 6
renen und fachkompetenten Arzt sowie ein interprofessionelles Team erfolgen (ggf.
Fallbesprechung, Teamkonferenz). Um das tatsächliche Vorliegen refraktärer
Symptome und die Indikation zur palliativen Sedierung als letzte Möglichkeit
zur Symptomkontrolle sicher zu stellen, sollten auch folgende Aspekte abgeklärt
werden:
4 Kann eine akute Beeinträchtigung des Patienten durch behandelbare Kompli-
kationen (wie z. B. Harnverhalt, Arzneimitteleffekte) ausgeschlossen werden?
4 Liegen aggravierende psychosoziale Faktoren vor?
4 Wie wird die Lebenserwartung eingeschätzt?
4 Inwieweit ist der Patient fähig, an der Entscheidungsfindung teilzuhaben?

Der Hausarzt sollte in den Evaluationsprozess und die Entscheidungsfindung ein-


bezogen werden. Falls Unklarheiten bestehen bleiben, sollten weitere Experten
hinzugezogen werden (z. B. Psychosomatiker, Psychiater, Anästhesisten, Schmerz-
therapeuten, Onkologen, Fachpflegende).
! Die Indikation für die PS, der Entscheidungsprozess, die Ziele der PS
und die geplante Sedierungstiefe und –dauer sollten sorgsam doku-
mentiert werden.

Informiertes Einverständnis Das informierte Einverständnis muss vom Patienten


(möglichst in Anwesenheit von Angehörigen) oder Betreuer nach entsprechender
Aufklärung, u. a. zur Rationale für die Entscheidung für PS, die Ziele, die Methode,
Effekte und Risiken der PS, eingeholt werden. Die Angehörigen sollten – nach
Zustimmung des Patienten hierzu – über die Entscheidung zur PS informiert wer-
den. In Sterbesituationen mit erheblichem symptombezogenem Leiden, in denen
der Patient nicht einwilligungsfähig ist, keine Patientenverfügung/Vorsorgevoll-
macht vorliegt und keine Betreuung besteht, sind Maßnahmen der Symptom-
kontrolle, falls nötig einschließlich PS, der Therapiestandard.

Potentielle unerwünschte Folgen und Risiken Zu den Risiken der PS zählen pa-
radoxe Agitiertheit, inadäquate Symptomkontrolle und Komplikationen inkl. Be-
schleunigung des Todes. Es gibt Daten, die darauf hinweisen, dass adäquate PS je-
doch das Eintreten des Todes nicht beschleunigt.

Durchführung/Medikamente Eine PS sollte von einem Arzt (vorzugsweise in


leitender Position und mit Erfahrung in Palliativmedizin) und einer Pflegekraft
gemeinsam eingeleitet werden. Zur PS werden vor allem die in . Tab. 6.30 genann-
ten Medikamente verwendet:
132 Kapitel 6 · Symptome in der Palliativmedizin

. Tab. 6.30 Medikamente zur Durchführung von palliativer Sedierung

Medikament Dosis Bemerkung

Benzodiazepine Anfangsdosis Anxiolytisch, sedierend,


v. a. Midazolam (kurz- 0.5–1 mg/h kontinuierlich, antikonvulsiv
wirksames Benzo- übliche Wirkdosis
diazepin) i.v. od. s.c. 1–20 mg/h

Neuroleptika Anfangsdosis Sedierend, antipsycho-


6 z. B. Levomepromazin 12,5–25 mg Bolus, 50–75 mg/h tisch, antiemetisch
i.v. od. s.c., vor allem kontinuierlich
bei Therapie-refrak- übliche Wirkdosis
tärem Delir 12,5 oder 25 mg alle 8 Stunden
und stündlich bei Bedarf oder
bis zu 300 mg/d Dauerinfusion
Anästhetika Anfangsdosis Schnell und kurz wirk-
ggf. Propofol i.v. 0,5 mg/kg/h, 0,5–1 mg/kg sames Allgemeinanäs-
Bolus thetikum; aufgrund der
übliche Dosis extrem kurzen Wirk-
1–4 mg/kg/h kontinuierlich dauer sollte zur Sicher-
über Perfusor heit ein zweiter Zugang
vorhanden sein
Angaben laut EAPC recommended framework for the use of sedation in palliative
care [79]

Zusammenfassung
Das Erkennen des Beginns der Finalphase ist Aufgabe des Palliativteams, da in
dieser letzten Zeit mehr denn je die Bedürfnisse des Sterbenden maßgebend
für alle Therapien und Prozeduren sind. Es sollten nur solche Maßnahmen fort-
gesetzt und ggf. ergänzt oder ausgeweitet werden, die der Symptomkontrolle
und dem bestmöglichen Wohl des Patienten im Sterbeprozess dienen. Der
Liverpool Care Pathway (LCP) ist ein Instrument, um eine adäquate Behandlung
und Symptomkontrolle sowie bestmögliche Erfüllung der Bedürfnisse des Pa-
tienten und seiner Angehörigen in der Finalphase zu gewährleisten.
Häufige, aber größtenteils gut behandelbare Symptome in der Finalphase
sind vor allem Schmerzen, Dyspnoe, Übelkeit, Mundtrockenheit, Unruhe/Agita-
tion, Verwirrtheit und die terminale Rasselatmung.
6
6.19 · Symptome in der Finalphase
133 6

Notfälle in der Finalphase erfordern unter der Maßgabe der schnellstmög-


lichen Symptomlinderung und der Inkaufnahme einer möglichen Lebensver-
kürzung ein rasches, zielgerichtetes Handeln und sollten von allen Beteiligten
im Voraus bedacht werden. Für ausgewählte Patienten in der Finalphase, die
unter ansonsten therapierefraktären Symptomen leiden, kann der Einsatz einer
palliativen Sedierung als Behandlungsoption in Betracht gezogen werden.

Literatur
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index.htm
[67] Ventafridda V, Ripamonti C, De Conno F, Tamburini M, Cassileth BR (1990) Symptom
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[78] Alt-Epping B, Sitte E, Nauck F, Radbruch L (2010) Sedierung in der Palliativmedizin – Leit-
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Übersetzung des European Association for Palliative Care (EAPC) recommended frame-
work for the use of sedation in palliative care). Zeitschrift für Palliativmedizin 11:112-
122
[79] Cherny NI, Radbruch L (2009) Board of the European Association for Palliative C. Euro-
pean Association for Palliative Care (EAPC) recommended framework for the use of se-
dation in palliative care. Palliat Med 23(7):581-593
[80] de Graeff A, Dean M (2007) Palliative sedation therapy in the last weeks of life: a literature
review and recommendations for standards. J Palliat Med 10(1):67-85
135 III

Kommunikation
und Interaktion
Kapitel 7 Kommunikation in der Palliativ-
medizin – 138
Schulz, Schnell, Möller

Kapitel 8 Kommunikation
in der Kunsttherapie – 186
Weigle, Schulz

Kapitel 9 Familienzentrierte Medizin,


Angehörige – 199
Möller

Kapitel 10 Spiritualität in der Medizin –


ein Widerspruch? – 208
Gratz, Roser

Kapitel 11 Humor in der Palliativmedizin – 215


Hirsmüller, Schröer
»Die größte Enttäuschung ist der Moment, in dem der Gegenüber nicht mehr den
Mensch, sondern nur noch die Diagnose sieht.«
Aus einem Gespräch mit einem Palliativpatienten
I: Was glauben Sie, muss ein junger Arzt wissen und verstehen? Was muss er begreifen?
P: Dass man sich vielleicht (betont) die Zeit nimmt. Jeder Mensch ist anders. Und für
mich ist auch, wenn ich da noch eine Zeit lang drüber reden kann, wenn ich das noch
irgendwie relativieren kann, dass ich einfach ruhiger werde und meine Angst irgend-
wie im Griff bekomme. Und ich meine, ein guter Arzt sollte das schon irgendwo im
Gespräch ermitteln können, oder raus kriegen können wie der jenige drauf ist. Also so
ein bisschen Feingefühl.
I: Feingefühl für was genau?
P: So, wo steht der Patient jetzt? Ich habe dem die Diagnose gesagt. Auf der einen
Seite ich halte nichts davon, das schön zu reden oder sonst irgendwas. Und ich bin
immer für die Wahrheit, ich die will, ich will die ja auch wissen. Aber einfach so die
Diagnose Krebs, Chemotherapie, eventuell OP oder Bestrahlung oder sonst irgend-
etwas und dann Punkt (betont). Dass man vielleicht darüber redet oder dem Patien-
ten Mut macht und dass man alles was dran machen, dass das Leben damit nicht zu
Ende ist und und dass dass man auf den Patienten noch eingehen sollte. Für mich wäre
gut gewesen, wenn er sich noch eine halbe Stunde mit mir unterhalten hätte. Dass ich
ruhiger geworden wäre, dass er mir die Angst ein bisschen genommen hätte und das
wäre für mich in der Situation besser gewesen.
I: Können Sie sich ganz konkret vorstellen, was der Dr. (Name) hätte machen können,
um Ihnen in der Situation, die Sie ganz konkret da erlebt haben, besser zu helfen?
P: Ja, vielleicht ein bisschen mehr besser darauf eingehen, dass man das behandeln
kann, dass man das immer eben erfolgreich behandeln kann und dass es gar nicht so
schlimm ist mit der Chemotherapie und so weiter und so fort. Und einfach nicht
trösten, aber aber ein bisschen intensiver darauf eingehen, dass ich eine Chance habe.
Dass ich mich selber hier nicht aufs Abstellgleis. Bei mir kam dann so kannst dich
eigentlich verabschieden, so extrem dann, ne? Ich habe zu Hause gesessen und habe
gedacht, eigentlich brauchst du ja nichts mehr zu machen, kannst dich ja so wie so
demnächst verabschieden. Hast eh keine Chance mehr.
I: Was heißt das?
P: Ja, dass ich sterben muss und dass ich keine Chance mehr habe und und das war
ganz schlimm (Stimme bricht). Ich meine, der eine Arzt hat es mehr, der andere hat
es weniger ... manche können das nicht. ... aber trotzdem sollte jeder irgendwie versu-
chen irgendwo zu ermitteln. Was kann ich dem Patienten auch zumuten? Und was
kann ich auch dem Patienten, wie kann ich dem auch helfen, wenn ich dem solche
schlimmen Diagnosen vermitteln muss und so? Und kann ich den nachher damit al-
leine lassen? Und das finde ich ganz wichtig, dass man auch nicht alleine gelassen wird
damit.
138 7
Kommunikation
in der Palliativmedizin
7.1 Einführung – 139
Schulz, Schnell
7.2 Übermitteln schwieriger Nachrichten
in der Palliativsituation – 150
Schulz, Möller, Schnell
7.3 Gespräch über Prognose
und Perspektivenplanung – 157
Schulz
7.4 Gespräche zur Entscheidungsfindung – 163
Möller, Schulz
7.5 Gespräch über Sterbe- und Todeswunsch – 168
Schulz
7.6 Umgang mit Angriffen und Wut im Gespräch – 176
Schulz
7.7 Was tun, wenn Fehler passiert sind? – 179
Schulz
7.8 Ein Wort zur Selbstsorge – 183
Schnell

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2_7, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
7.1 · Einführung
139 7
>>

Kommunikation bildet die Grundlage der palliativmedizinischen Philosophie und Pra-


xis: Kommunikation zwischen Arzt, Patient und Angehörigen, zwischen Patient und
Angehörigen, sowie zwischen den beteiligten Mitarbeitern des Palliativteams; all die-
se Ebenen der Kommunikation tragen maßgeblich zur Begleitung des Menschen am
Lebensende bei. In diesem Kapitel sollen wichtige palliativmedizinische Gesprächs-
situationen und Grundsätze der Gesprächsführung zwischen Arzt und der »unit of care«,
dem Patienten und seine ihm bedeutsamen Nahestehenden, dargestellt werden.

7.1 Einführung

Schulz, Schnell

Jeder, der ein guter Arzt sein will, muss effektive Kommunikationsfertigkeiten be-
sitzen. Diese Erwartung steht im Widerspruch dazu, dass Ärzte die Fähigkeit zu
kommunizieren häufig als gegeben voraussetzen: entweder man kann »das« oder
man kann »es eben nicht«. In der Palliativmedizin ist gute Kommunikation oft
schwierig, aber sie kann nachweislich durch professionelle Ausbildung und Trai-
ning verbessert werden. Manchmal ist Kommunikation das einzige, was wir in der
Palliativmedizin noch »tun« können.
In diesem Kapitel möchten wir konkretes Wissen und Fertigkeiten für wichtige
palliativmedizinische Gesprächssituationen vermitteln. Grundlagenkenntnisse,
wie sie im Rahmen der medizinischen Ausbildung durch die Approbationsordnung
in Kommunikationstheorie, Kommunikationspsychologie und Kommunikations-
techniken gefordert werden, setzen wir voraus.

7.1.1 Was sagen Palliativpatienten und ihre Angehörigen?


Kommunikationsbedürfnisse und Erwartungen von Palliativ-
patienten und deren Angehörigen
»Zu aller erst müssen sie eines lernen: Zuhören. Das ist wirklich alles. Zu allererst
muss ich ein Gefühl von der Person bekommen, der ich zuhöre und sie anschauen
und dann werde ich schnell feststellen, ob ich sie begrüßen oder lieber nicht mit ihr
sprechen möchte. Aufrichtigkeit ist das wichtigste für mich.« (Patient, 56 Jahre, ver-
heiratet, zwei Kinder; im Interview über Gespräche mit Medizinstudierenden auf
einer Palliativstation)
140 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

. Tab. 7.1 Faktoren, die Patienten und ihren Angehörigen wichtig sind in der Arzt-
Patient-Kommunikation und Arzt-Patient-Beziehung

Erwartungen und Wünsche an den Arzt Mängel im ärztlichen Gespräch

Vermittlung krankheitsrelevanter Fehlendes Angebot, über Ängste und


Informationen Sorgen zu sprechen
Erwecken von Hoffnung und Zuversicht Fehlende emotionale Unterstützung
Fachlich kompetentes und empathi- Unterbrechung durch den Arzt, wenn
sches Handeln Informationen mitgeteilt oder Fragen
gestellt werden
Fragen ohne Zeitdruck stellen zu können Gefühl, nur ein beliebiger Fall zu sein
7 Ausreichend Zeit mit dem Arzt zu haben Keinen primären ärztlichen Ansprech-
partner zu haben
Verständnis für psychosoziale Probleme Fehlende Zeit, um zuzuhören
Ehrliches Interesse, Mitgefühl Spürbare Hektik
Als Person ernst genommen zu werden Als Person nicht ernst genommen zu
werden
Vertrauensvolle und persönliche Bezie- Durch mangelndes Gesprächsangebot,
hung zum Arzt Hemmung empfinden, alternative Thera-
pieoptionen anzusprechen
Patientenzentrierter Kommunikationsstil Arztzentrierter Kommunikationsstil
Adaptiert nach Vogel et al. [1]

Kommunikation in der Palliativmedizin geht von einem bio-psycho-sozialen Mo-


dell aus, dass durch Patienten- und Familienzentrierte Kommunikation (7 Kap. 9)
gelebt wird: die »unit of care« aus Patient und seinen ihm bedeutsamen Naheste-
henden bildet das Zentrum aller kommunikativen Bemühungen des Behandlungs-
teams, mit dem Ziel der Erhaltung von Lebensqualität. Palliativpatienten haben
eine klare Vorstellung davon, was zu einer guten Arzt-Patienten-Kommunikation
und zu einer guten Arzt-Patienten-Beziehung gehört . Tab. 7.1.

Wahrheit kann weh tun, aber Täuschung schmerzt mehr:


Informationsbedürfnisse von Palliativpatienten
Weltweit werden die Informationsbedürfnisse von Patienten mit schwerwiegenden
Krankheiten ernsthaft unterschätzt. Zu einem Zeitpunkt, an dem Palliativpatienten
Aufrichtigkeit und Unterstützung benötigen, um ihre wechselnden Gedanken und
Gefühle auszudrücken und sie zu wichtigen Entscheidungen finden müssen, sind
7.1 · Einführung
141 7

. Tab. 7.2 Allgemeiner Informationsbedarf von Patienten mit Krebsdiagnose

Welche Aussage beschreibt ihre Haltung zum Palliativ- Nicht-Palliativ-


Informationsbedürfnis über ihre patienten patienten
Erkrankung am besten? (n=1032) (n=1777)

Ich möchte keinerlei Details wissen; ich lasse 81 (7,8 %) 126 (7,1 %)
den Arzt entscheiden.
Ich möchte zusätzliche Informationen nur dann, 75 (7,3 %) 69 (3,9 %)
wenn es gute Nachrichten sind.
Ich möchte so viele Informationen wie möglich, 876 (84,9 %) 1582 (89 %)
gute und schlechte.
Adaptiert nach Fallowfield et al. [2]

sie oft von einer konspirativen Stille (‚conspiracy of silence‘) umgeben, die Anpas-
sungsprozesse behindert [2]. Es gibt eine breite Basis empirischer Forschung, quan-
titativer und qualitativer Natur, die einer unbesprochen protektiven, zurückhalten-
den Kommunikation in der Informationsvermittlung zwischen Arzt und Patient
deutlich widerspricht . Tab. 7.2.
In einer Studie (2006) wurden 165 Patienten mit fortgeschrittener Krebsdiag-
nose zuhause interviewt. 78 % aller Patienten wollten in vollem Umfang informiert
werden. 25 % der Patienten wollten darüber hinaus an allen medizinischen Ent-
scheidungen im vollen Umfang eingebunden werden [3]. Ein Großteil der empi-
rischen Forschung über Informationsbedürfnisse von Patienten wurde in Groß-
britannien, den Niederlanden, den USA, Kanada und Australien durchgeführt. Die
Ergebnisse zeigen, dass es eine allgemeine Präferenz von offener Kommunikation
durch Patienten und ihren Angehörige gibt. Es gibt Autoren, die die Meinung
vertreten, für Südeuropa und Asien müssten andere Informationsbedürfnisse an-
genommen werden, weil dort eine andere soziokulturelle Prägung die Kommu-
nikationsbedürfnisse der Patienten beeinflussen würde [4]. Im Sinne kultureller
Diversitätskompetenz ist es grundsätzlich wichtig, unterschiedliche Informations-
bedürfnisse von Patienten am Lebensende zu erfassen und zu respektieren [5].
Allerdings zeigt eine zunehmende Anzahl von Studien, dass auch Menschen
aus Ländern mit anderen kulturellen Normen offen und aufrichtig informiert wer-
den wollen, selbst dann, wenn dies den kulturellen Normen der eigenen Gesell-
schaft widerspricht [6]. Es ist daher in jedem Einzelfall wichtig zu überprüfen, ob
es eine tatsächliche kulturelle Unterschiedlichkeit in der Kommunikation am Le-
bensende gibt oder ob vielmehr die traditionelle medizinische Kommunikations-
kultur in anderen Ländern noch aufrecht gehalten wird.
142 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

! Es gehört zur kommunikativen Haltung in der Palliativmedizin, die indi-


viduellen Informationsbedürfnisse eines jeden Patienten und seiner
Angehörigen ernst zu nehmen und gezielt zu erfragen. Vorannahmen
aufgrund kultureller oder ethnografischer Unterschiede können im Ge-
spräch mit dem Patienten und seinen Angehörigen helfen, Barrieren in
der Kommunikation zu überwinden (Diversitätskompetenz). Sie sind
aber keine sichere Grundlage für die Einschätzung individueller Infor-
mationsbedürfnisse. Am Lebensende begegnen sich zwei oder mehrere
Menschen, die sich gegenseitig zu achten haben und eine gemeinsame
Sprache entwickeln müssen.

Eine besondere Form der Kommunikationsausbildung stellt die direkte Begegnung


zwischen schwerkranken Patienten und Medizinstudierenden dar. Die als Real-Pati-
7 enten-Kontakt bezeichnete didaktische Methode bringt den Patienten in die Rolle des
Lehrenden; durch die direkte 1:1-Begegnung zwischen Patient und Medizinstudent,
in der der Student für eine Reihe von Gesprächen Gast beim Patienten ist, besteht die
Möglichkeit einer intensiven Begegnung und Lernerfahrung [7]. Die Methode selbst
ist nicht neu; schon Elisabeth Kübler-Ross konnte durch ihre Interviews mit Ster-
benden Generationen von Medizinstudierende in die Erlebniswelt von schwerkran-
ken Menschen einführen [8]. Der Real-Patienten-Kontakt wurde bereits in einer
Reihe von palliativmedizinischen Settings angewendet und findet auch in Deutsch-
land zunehmende Anwendung in der medizinischen Ausbildung [9].

ä Erfahrungen von Palliativpatienten aus Gesprächen mit Medizin-


studierenden
In einer qualitativen Untersuchung (2010) befragten wir Palliativpatienten, die
am Seminar »Kommunikation mit Sterbenden« teilnahmen, nach den Begeg-
nungen mit ihren Studierenden. Uns interessierte insbesondere, welchen Ein-
druck die Patienten von ihren Studierenden hatten und ob Menschen in einer
solch vulnerablen Situation diese Gespräche überhaupt zumutbar sind.
Die Ergebnisse der qualitativen Inhaltsanalyse zeigten, dass die befragten
Palliativpatienten die Gelegenheit zu den Studierendengesprächen grundsätz-
lich wertschätzten. Allen befragten Patienten war bewusst, dass die Studieren-
den keine trainierten Experten waren und erwarteten dies auch nicht von
ihnen. Die meisten Patienten sahen sich in der Rolle von Lehrenden, die durch
das Angebot echter Gesprächserfahrung den Lernprozess der Studierenden
begleiten wollten. Als Fertigkeiten für einen guten Lernerfolg gaben die Patien-
ten an, dass aktives Zuhören, das Stellen von emotions-zentrierten Fragen und
offenes und authentisches Auftreten die besten Möglichkeiten hierfür seien.
Hierzu sagt eine Patientin im Interview:
6
7.1 · Einführung
143 7
»… wenn ich sage, dass ich vorbereitet bin dies zu tun, dann bin ich auch darauf
vorbereitet Fragen zu beantworten. … Wenn ich zusage teilzunehmen, dann
versuche ich mein Bestes, sie in ihrer Lernphase oder Lehrphase, wie auch im-
mer sie es bezeichnen wollen, weiter zu bringen und ihnen ihre Angst zu neh-
men, nein, nicht Angst. Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Jedenfalls müssen
sie es [dieses Gefühl] nicht haben. Und falls jemand schlecht reagiert, muss es
einfach die falsche Person gewesen sein, die zugestimmt hat teilzunehmen.« [9]

Empfehlungen der Patienten an die Studierenden:


4 weniger Angst haben
4 mehr Fragen stellen
4 Schüchternheit überwinden
4 mehr Fragen über Gefühle stellen
4 offen sein, keine Angst haben, zu nahe zu kommen
4 Lernen mit Fehlern umzugehen, aber sie auch realisieren
4 Fehlern sollten mit Verständnis und Fragen begegnet werden
4 Gesprächstechniken nutzen, um Leute zum Reden zu bringen
4 eigene Meinung äußern und dem anderen erlauben, seine Meinung zu
schildern
4 mehr auf die Patienten eingehen
4 bereit sein, mehr Informationen zu geben und im Gespräch aktiver zu sein

Diese Ergebnisse unterstreichen die Bereitschaft von Palliativpatienten, sich auf


Kontakt und Begegnung, insbesondere mit Lernenden, einzulassen. Darüber
hinaus ermutigen die befragten Palliativpatienten Medizinstudierende dazu,
mehr Fragen zu stellen, noch offener zu sein und aufrichtig über Unsicherheit
und Scham zu sprechen. In unserer Studie konnten wir zeigen, dass Gespräche
über Tod und Sterben für die Medizinstudierenden schwieriger zu sein schie-
nen als für die betroffenen Patienten selbst. Ein 67-Jähriger Patient (verwitwet,
keine Kinder) mit metastasiertem Rektumkarzinom fasst dies nach 5 Gesprä-
chen mit seinem studentischen Gesprächspartner so zusammen:

»Die Studenten sollten nicht so viel Angst haben, so viele Hemmungen haben
diesen Menschen gegenüber, also ruhig fragen, ruhig denen entgegenkom-
men und sagen, ja wie haben Sie das empfunden oder wie Sie vorhin auch
fragten, was für ein Gefühl hatten Sie dabei, ja was, was kommt bei Ihnen da
hoch, ja also sich nicht scheuen, diese Fragen zu stellen, weil ich finde das
wichtig; ich finde genau das hat mir gefehlt bei Ihrem Studenten; diese Scheu
kann man ja auch sagen; eine gewisse Scheu oder Angst, jemandem zu nahe
zu treten, ja und ich denke, dass sollte nicht der Fall sein. Sie sollten ruhig mehr
aktiver sein und, ähm, ja eben diese Scheu ein bisschen ablassen weglassen.«
144 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

7.1.2 Erfahrungen, Erwartungen und Einstellung


von Medizinstudierenden zur Kommunikation
am Lebensende

Damit Studierende Kommunikation mit Menschen am Lebensende erlernen


können, müssen systematische Ausbildungsprogramme im Medizinstudium
etabliert werden [7]. Die entsprechenden Empfehlungen der Fachgesellschaften
(Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP); European Association for Pal-
liative Care [EAPC]) und erste best-practice-Umsetzungen existieren bereits [10].
Medizinstudierende erlernen Palliativmedizin jedoch nicht nur durch »formale«
Curricula, sondern insbesondere durch sogenannte »informelle Curricula« oder
»hidden curricula«. Gemeint sind hiermit die Erfahrungen, die Medizinstudieren-
de während ihrer Ausbildung durch eigene Erlebnisse oder Beobachtung anhand
7 von Rollenmodellen sammeln.
! Die Ausbildung zur Kommunikation mit Menschen am Lebensende ist
im Medizinstudium bisher unterrepräsentiert und unzureichend gewe-
sen. Es ist ein Fehler davon auszugehen, dass Menschen, die ein Medizin-
studium durchlaufen, automatisch in die Lage versetzt sind, Menschen
am Lebensende zu begleiten. Wenn keine spezifische Ausbildung statt-
findet, dann sind Ärzte auf ihre je eigene menschliche Erfahrung und
Fertigkeit zurückgeworfen und alleingelassen.
In Deutschland hat eine systematische Ausbildung von Medizinstudierenden in
Palliativmedizin gerade erst begonnen, nachdem im Jahr 2009 Palliativmedizin als
Pflichtprüfungsfach (Querschnittsbereich 13) in die Approbationsordnung für
Ärzte aufgenommen wurde (7 Kap. 1). In Großbritannien und den USA bestehen
bereits längere Erfahrungen in der Ausbildung von Medizinstudierenden . Tab. 7.3.
Aus der Literatur wissen wir, wie anstrengend auch für erfahrene Ärzte Ge-
spräche mit Patienten und ihren Angehörigen über den Übergang von kurativer zu
palliativer Therapieausrichtung sind. In einer randomisierten Studie wurden Ärzte
nach ihrer Zufriedenheit mit einem eben geführten Patientengespräch gefragt,
nachdem der Patient (und ggf. seine Angehörigen) gerade den Besprechungsraum
verlassen hatten. Die 1039 geführten palliativmedizinischen Gespräche wurden
von den befragten Ärzten im Durchschnitt signifikant niedriger bewertet, als die
1768 Arztgespräche, in denen es um kuratives Therapieansätze und Remission der
Grunderkrankung ging [2].
7.1 · Einführung
145 7

. Tab. 7.3 Barrieren im Führen von schweren Gesprächen

Ängste von jungen Ärzten Bedürfnisse von jungen Ärzten

Fehler zu machen Ausbildung


Nicht vorbereitet zu sein »best practice« Beispiele beobachten zu
dürfen
Scham davor zu haben, um Unterstüt- Die eigene Haltung zu Sterben und Tod
zung zu bitten reflektieren zu können
Persönliche Betroffenheit in Bezug auf Zu lernen, wie man ein emotional belas-
die zu übermittelnde Nachricht tendes Gespräch gut beendet
Verlegenheitsgefühl oder Nervosität im Zu lernen, wie man mit einem Angehö-
Gespräch rigen spricht, der den Patienten vor der
Wahrheit schützen möchte
Missverstanden zu werden Zu lernen, mit Sterbenden und ihren An-
gehörigen in der Finalphase zu sprechen
Nachricht am Telefon übermitteln zu Praktische Rahmenbedingungen
müssen
Keine Möglichkeit der Nachverfolgung Teil eines interprofessionellen Teams
zu haben zu sein
Starke Emotionen auszulösen und nicht Zeit zur Vorbereitung für schwere Gesprä-
mehr kontrollieren zu können (Wut, che zu haben
Verzweiflung, Angst, Trauer)
Zuviel Zeit zu verlieren/durch Gesprä- Zeit zum Verarbeiten von schweren
che die Arbeit insgesamt nicht zu Gespräch zu haben
schaffen
Durch das Ansprechen von schwierigen
Themen die Hoffnung beim Patienten
auszulösen, das Problem auch lösen zu
können
Zusammengefasst aus Ergebnissen der Literatur [11] und [12]

7.1.3 Grundprinzipien der Kommunikation


in der Palliativmedizin

Kommunikation mit Menschen am Lebensende überträgt dem Behandlungsteam


eine besondere Verantwortung, die gleichzeitig eine außerordentliche Möglichkeit
darstellt. Besonders ist die Verantwortung, weil die lebensverkürzende Diagnose
146 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

die zur Verfügung stehende Zeit begrenzt und damit auch die Unmöglichkeit
weiterer Möglichkeiten (nach Heidegger, 7 Kap. 3) bereits in Aussicht stellt.
Gleichzeitig stehen dem Behandlungsauftrag zur Erhaltung der Lebensqualität be-
reits aktuell eingeschränkte Möglichkeiten des Patienten gegenüber. Das Sterben
kann nicht auf eine andere Person übertragen oder verschoben werden, es ge-
schieht im Hier und Jetzt und erfordert demgegenüber eine Haltung. Diese Diver-
sitätserfahrung muss das Palliativteam aushalten und in die Kommunikation auf-
nehmen.

Basis und Grundlage aller Kommunikation in der Palliativmedizin ist:


4 eine Grundhaltung offener, interessierter und aufrichtiger Glaubhaftigkeit
4 die Kenntnis der eigenen Grenzen des Wissens, der Kompetenz und der
7 Kräfte
4 die Kenntnis der Diversitätserfahrung zwischen überlebendem Begleiter
und sterbendem Patienten
4 die Bereitschaft zu einer Patienten- und Familienzentrierten Kommunikation
4 die Entwicklung einer eigenen, reflektierten Haltung gegenüber Sterben
und Tod

Back et al. (2009) haben Grundprinzipien der Kommunikation mit schwerkranken


Patienten formuliert, denen wir uns als Ausgangspunkt für die folgenden Kapitel
anschließen möchten [13]:
1. Beginne jedes Gespräch mit den aktuellen Gedankeninhalten des Patienten.
(Die eigenen Gesprächsinhalte gehen dadurch nicht verloren; der Patient wird
nur da abgeholt, wo er sich gedanklich gerade befindet.)
2. Beachte sowohl die emotionalen, als auch die kognitiven Informationen, die
Du vom Patienten erhältst. (Nimm die emotionalen Hinweise ernst und über-
gehe sie nicht.)
3. Kommuniziere in der Geschwindigkeit des Patienten und bringe das Gespräch
immer nur einen Schritt pro Zeitpunkt voran. (Alles andere ist verlorene Zeit,
da der Patient nicht folgen kann.)
4. Drücke Empathie explizit aus. (Rückmeldung und Bestätigung von Gefühlen
ermöglicht eine sichere und vertraute Gesprächsatmosphäre.)
5. Sprich über das, was Du tun kannst, bevor Du über das sprichst, was Du nicht
tun kannst. (Dies ist Ausdruck der Partnerschaft und Beziehung mit dem Pa-
tienten.)
6. Starte mit den übergeordneten Zielen, bevor Du zu den konkreten medizini-
schen Interventionen kommst. (Erst wenn die gegenseitigen Ziele abgestimmt
sind, macht es Sinn, über konkrete Maßnahmen zu sprechen.)
7.1 · Einführung
147 7

. Tab. 7.4 Möglichkeiten zur Verstärkung nonverbaler Aufmerksamkeitssignale

S-O-L-A-R Akronym zur nonverbalen Kommunikation

S Schaue den Patienten direkt an


O Nimm eine offene Körperhaltung ein
L Lehne Dich zum Patienten hin
A Suche Augenkontakt
R Versuche ruhig und gelassen zu sitzen

7. Biete dem Patient in jedem Gespräch zumindest für einen Moment Deine un-
geteilte Aufmerksamkeit an. (Auch wenn die Zeit knapp ist: Wenn der Patient
etwas Wichtiges mitteilen möchte: lege den Stift oder Notizen beiseite und
zeige unmissverständlich, dass Du zuhörst.) . Tab. 7.4

7.1.4 Ein Wort zu Kognition und Empathie

Die Diversitätserfahrung setzt der Möglichkeit, dass der überlebende Arzt das Le-
bensende des Patienten und die Sorgen der Angehörigen quasi von innen 1:1 mit-
fühlt, eine deutliche Grenze. Eine empathische Einstellung einzunehmen bedeutet,
dass der Arzt verstehend die Äußerungen des Patienten aufnimmt und mit eigenen
Worten darauf eingeht.
Die kognitive Einstellung bezieht sich darauf, dass der Arzt oder Mitglieder des
Teams Informationen geben, erläutern oder zur Diskussion stellen.
Wenn in einem Familiengespräch die Ehefrau des Patienten von einer Internet-
recherche berichtet, in der sie eine besondere Form der Therapie für die Krebs-
erkrankung ihres Mannes gefunden hat, dann ist das eine kognitive Information
. Tab. 7.5. Wir erfahren, dass die Angehörige aktiv und bewusst nach Informa-
tionen gesucht hat, um die aktuelle Situation zu verstehen und zu begreifen.
Wenn die Angehörige während dieser Informationsmitteilungen ihren Mann
ansieht und dabei aus Sorge errötet und mit den Händen nestelt, dann ist dies eine
eher emotionale Information.
Die Literatur beschreibt Erfahrungen, in denen Patienten sich unverstanden
fühlen, weil ihre emotionalen Hinweise missachtet wurden . Tab. 7.1. In einer
Studie (2010) wurden 264 aufgezeichnete Gespräche zwischen Ärzten und Patien-
ten mit fortgeschrittener Krebserkrankung analysiert. In nur 35 % aller Fälle rea-
gierten die untersuchten Fachärzte auf negative emotionale Hinweise des Patienten
148 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

. Tab. 7.5 Auf kognitive Informationshinweise eingehen

»Ask-Tell-Ask« (Frage-Antwort-Frage); Thema: Internetrecherche

Frage »Können Sie mir in Ihren eigenen Worten wiedergeben, was Sie bisher
von den Therapiemöglichkeiten verstanden haben, die wir zum aktuel-
len Zeitpunkt noch haben?«
Antwort »Nein, die von Ihnen genannte Klinik kenne ich persönlich nicht. Wenn
Sie mir Ihre Informationen zur Verfügung stellen könnten, würde ich das
aber gerne im Team besprechen und Ihnen eine konkrete Rückmeldung
geben.«
Frage »Haben Sie noch Fragen zu den Informationen, die Sie gelesen haben?«
7 Adaptiert nach Back et al. [13]

mit empathischer Sprache. Wenn die Patienten Angst oder Ärger ausdrückten,
wichen fast alle Ärzte in ihrem Antwortverhalten auf den zugrundliegenden bio-
medizinischen Grund für die Angst oder Verärgerung aus, anstatt die Emotion
selbst zu benennen, in empathischer Weise verstehend die Äußerungen des Pati-
enten aufzunehmen und mit eigenen Worten auf sie einzugehen [14].

. Tab. 7.6 Mit Worten auf emotionale Hinweise reagieren

Patientenhinweis: »Ich halte das alles einfach nicht mehr aus!«

Empathie-orientierte Antwort des Arztes:


N NAME »Ich höre große Verzweiflung aus ihren Worten.«
Benennen
U UNDERSTAND »Es muss für Sie unerträglich sein, diesen Schmerz auszu-
Verstehen halten.«
R RESPECT »Sie haben ihre Situation bisher mit einer unglaublichen
Respektieren Stärke getragen.«
S SUPPORT »Wie auch immer der Weg weitergeht, unser Team wird da
Unterstützen sein. Wir werden für Sie da sein.«
E EXPLORE »Ich möchte noch besser verstehen, was gerade mit Ihnen
Vertiefen passiert. Können Sie mir genauer beschreiben, was sie
gerade so verzweifelt macht?«
Adaptiert nach Fischer et al. [15]
7.1 · Einführung
149 7
Die empirische Forschung zeigt, dass, wenn Ärzte lernen effektiv zu kommu-
nizieren, sowohl Patient und Angehörige davon profitieren, als auch die Ärzte
selbst . Tab. 7.6. Erstens werden die Probleme der »unit of care« genauer identifi-
ziert und besser verstanden. Zweitens sind die Patienten mit ihrer Versorgung und
Begleitung zufriedener und verstehen die klinischen Probleme, Untersuchungen
und Behandlungsoptionen besser. Drittens befolgen Patienten besprochene Be-
handlungspläne genauer und reagieren eher auf empfohlene Verhaltensänderun-
gen. Viertens wird der Leidensdruck der Patienten sowie die Wahrscheinlichkeit
des Auftretens von Angst und Depression deutlich reduziert. Schließlich konnte
mehrfach gezeigt werden, dass sich durch effektive Kommunikation auch das
Wohlempfinden der behandelnden Ärzte bessert. Zum Erlernen guter Kommuni-
kation am Lebensende gibt es unterschiedliche didaktische Methoden, die sich in
das Medizinstudium und die ärztliche Weiterbildung integrieren lassen [7].

Zusammenfassung
Die ärztliche Tätigkeit ist eine kommunikative Tätigkeit. Es gibt fast keine Situa-
tion, in der ein Arzt nicht kommuniziert oder kommunizieren sollte. Eine pro-
fessionelle Einstellung beinhaltet, dass ein Arzt und das Behandlungsteam sich
die Diversität bewusst machen und eine Kommunikation durchführen, die an
den Patienten und die Angehörigen gerichtet ist.

Literatur
[1] Vogel BA et al. (2006) Arzt-Patienten-Kommunikation in der Tumorbehandlung. Erwar-
tungen und Erfahrungen aus Patientensicht. Z Med Psychol 15(4):149-161
[2] Fallowfield LJ, Jenkins VA, Beveridge HA (2002)Truth may hurt but deceit hurts more.
Communication in palliative care. Palliat Med 16:297-303
[3] Barnett MM (2006) Does it hurt to know the worst? – psychological morbidity, informa-
tion preferences and understanding of prognosis in patients with advanced cancer. Psy-
cho-Oncology 15:44-55
[4] Kai I, Ohi G, Yano E, Kobayashi Y, Miyama T, Niino N, Naka K (1993) Communication be-
tween patients and physicians about terminal care. A survey in Japan. Soc Sci Med
36:1151-1159
[5] Schulz C, Karger A, Schnell MW (2011) Diversity-Kompetenz am Lebensende. In: Van
Keuk E, Ghaderi C, Joksimovic L, David DM (Hrsg.) Diversity. Transkulturelle Kompetenz
in klinischen und sozialen Arbeitsfeldern. Kohlhammer, Stuttgart, S. 242-256
[6] Lavrentiadis G, Manos N, Christakis J, Semoglou C (1988) The Greek cancer patient‘s
knowledge and attitudes towards his diagnosis and prognosis. Psychother Psychosom
49:171-178
[7] Schulz C, Katerla J, Möller M, Karger A, Schnell MW (2009) How to evaluate the commu-
nication skills of palliative care professionals. European Journal of Palliative Care
16(5):236-239
150 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

[8] Kübler-Ross E (2003) On death and dying: What the dying have to teach doctors, nurses,
clergy, and their own families. Scribner, New York
[9] Schulz C (2010) The encounter between dying patients and medical undergraduates
during a course in end-of-life communication in the medical curriculum: a qualitative
approach to insights into the patient perspective. Master Thesis. King‘s College London,
Department of Palliative Care, Rehabilitation, Policy & Rehabilitation, in Publ.
[10] Schulz C, Schnell MW (2009) Ausbildung in der Kommunikation als Grundlage der Be-
gleitung am Lebensende. In: Schnell MW (2009) Patientenverfügung. Begleitung am
Lebensende im Zeichen des verfügten Patientenwillens - Kurzlehrbuch für die Palliative
Care. Huber, Bern
[11] Dosanjh S, Barnes J, Bhandari M (2001) Barriers to breaking bad news among medical
and surgical residents. Med Educ 35:197-205
[12] Lloyd-Williams M (2008) Psychosocial issues in palliative care. Oxford University Press,
New York
7 [13] Back A, Arnold RM, Tulsky JA (2009) Mastering communication with seriously ill patients.
Balancing honesty with empathy and hope. Cambridge University Press, Cambridge
[14] Kennifer SL, Alexander SC, Pollak KI, Jeffreys AS, Olsen MK, Rodriguez KL, Arnold RM,
Tulsky JA (2009) Negative emotions in cancer care. Do oncologists’ responses depend on
severity and type of emotion? Patient Educ Couns 76:51-56
[15] Fischer G, Tulsky J, Arnold R (2000) Communicating a poor prognosis. In: Portenoy R,
Bruera E (Hrsg.) Topics in palliative care. Oxford University Press, New York, S. 75-94

7.2 Übermitteln schwieriger Nachrichten in der Palliativ-


situation

»Das Herz reagiert kaum noch auf unsere Medikamente …«

Schulz, Möller, Schnell

>>

Der Umgang mit schwierigen Nachrichten und deren Vermittlung gehören zum Alltag
der Arbeit eines Palliativteams. Es ist ärztliche Aufgabe Diagnosen mitzuteilen, Therapie-
möglichkeiten zu diskutieren, gemeinsam mit dem Patienten Therapieentscheidungen
zu beratschlagen und Angehörige über den Tod eines Patienten zu informieren.

In den überwiegenden Fällen der ersten Begegnung zwischen Palliativteam und der
»unit of care« hat eine erste Konfrontation mit der Diagnose bereits stattgefunden.
Patient und Angehörige haben bereits begonnen, eine Haltung gegenüber der
schwierigen Nachricht einer potentiell lebensverkürzenden Erkrankung auszubil-
den. Als Konsequenz der High-Tech-Medizin und den sich stetig verbessernden
7.2 · Übermitteln schwieriger Nachrichten
151 7
technischen und diagnostischen Möglichkeiten erfahren heute Menschen viel frü-
her von schweren Diagnosen als noch vor 20 Jahren. Dies führt in vielen Fällen zu
einer effektiveren Therapie der Erkrankung. Die Kehrseite dieser Entwicklung ist
das häufig fehlende körperliche Erleben der Betroffenen. So kann ein Patient mit
einem fortgeschrittenen nicht-kleinzelligen Bronchialkarzinom durch einen reinen
Zufallsbefund im Röntgen-Thorax-Befund von seiner Erkrankung erfahren, ohne
bisher körperliche Beschwerden gehabt zu haben. In der Übermittlung schwieriger
Nachrichten geht es also auch um die Verbindung zwischen sachlicher Information
und Eigenvorstellung; also zwischen dem, was das Behandlungsteam feststellt und
dem, was der Patient von sich aus wahrgenommen hat.

Für den Arzt zählt das Übermitteln schwieriger Nachrichten in der


Palliativmedizin zu den schwersten Aufgaben, weil:
4 der Arzt den Patienten mit einer Wahrheit konfrontieren muss, die wie ein
»Todesurteil« wirken könnte
4 für den Arzt mit der Übermittlung der schwierigen Nachricht, die das zu-
künftige Sterben eines Patienten betrifft, die Diversitätserfahrung einsetzt
(7 Kap. 3)

Das Aufnehmen und Bewältigen von schwierigen Nachrichten ist


gerade für Patienten am Lebensende eine existentielle Situation, da sie:
4 eine Wahrheit erfahren, die ihre möglichen Vorahnungen zur Gewissheit
machen und Angst auslösen oder verstärken kann
4 die Diversitätserfahrung auch für den Patienten entstehen lässt

7.2.1 Was ist eine schwierige Nachricht?

Sehr häufig werden die Begriffe »Überbringen schlechter Nachrichten« oder die
englische Entsprechung »Breaking Bad News« verwendet. Durch unsere Erfah-
rungen in der palliativmedizinischen Ausbildung von Medizinstudierenden,
Ärzten und Pflegenden haben wir uns jedoch der Argumentation von Back et al.
(2009) angeschlossen, wonach »Übermitteln schwieriger Nachrichten« aus fol-
genden Gründen eine hilfreichere Formulierung darstellt [16]:
1. Im Gespräch zur Übermittlung schwieriger Nachrichten geht es nicht um das
Abladen von Informationen, sondern um einen konstruktiven Rahmen zum
Umgang mit Unerträglichem.
152 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

2. Aus unserer Sicht liegt der Fokus auf der Art der Vermittlung und nicht auf dem
Überbringen an sich; wir wollen mit unserer Formulierung die Traurigkeit und
Schrecklichkeit von »schlechten Nachrichten« nicht mildern, sondern den Arzt
auf seine Aufgabe als Vermittler zwischen kognitiven Daten und emotionalen
Reaktionen fokussieren.
3. Das Ziel des Arztes sollte im Gespräch über schwierige Nachrichten sein, dem
Patienten beim Verstehen und Verarbeiten seiner Nachricht zur Seite zu ste-
hen und nicht seine Abwehrformen zu durchbrechen und ihn über sein erträg-
liches Maß hinaus zu belasten.

Schwierige Nachricht
Eine schwierige Nachricht ist eine Information, die in negativer und schwerwie-
gender Weise die Sicht eines Individuums auf seine Zukunft beeinflusst [17].
7
Ein Gespräch zur Übermittlung schwieriger Nachrichten beginnt zunächst mit Vor-
annahmen auf Seiten des Palliativteams, das eine potentiell schwierige Nachricht ja
zunächst noch übermittelt werden muss. Das Team stuft eine Nachricht als schwie-
rig ein, wenn die Information den bekannten und/oder vermuteten Wünschen und
Erwartungen des Patienten über seine Zukunft widerspricht oder diese ernsthaft in
Frage stellen. Für die Beurteilung der Patientenperspektive ist es notwendig, ein
ausführliches Basisassessment durchzuführen (7 Kap. 4) und die verschiedenen Per-
spektiven des interprofessionellen Teams zusammenzuführen (7 Kap. 13). Nur dann
ist es möglich, eine mögliche Aussage über Wünsche und Erwartungen des Patien-
ten und seinen ihm bedeutsamen Nahestehenden zu treffen.
! Es gehört zur palliativmedizinischen Haltung einer Patienten- und Fa-
milienzentrierten Kommunikation, nicht die eigenen Annahmen und
Wertevorstellungen der eigenen Weltsicht zur Grundlage für die Beur-
teilung einer möglicherweise »schwierigen« Nachricht zu nehmen.

ä »Wir verschieben das einfach um einen Tag …«


Herr B. wurde vor 3 Tagen auf einer onkologischen Station aufgenommen. Der
59-Jährige Koch und Vater von 4 Kindern befindet sich im Stadium IV eines ko-
lorektalen Karzinoms. Vier Tage später ist die Hochzeit der Tochter, die seit lan-
gem geplant ist und an der Herr B. unbedingt noch teilnehmen will. Aufgrund
einer tumorbedingten Obstruktion des oberen Verdauungstraktes kann er seit
14 Tagen oral keine Nahrung mehr zu sich nehmen. Herr B. hat sich bisher sehr
intensiv mit seinem Sterben auseinandergesetzt und seine Familie, sowie ein
enger Freundeskreis stellen eine stabile Ressource für ihn dar. Das konsiliarisch
6
7.2 · Übermitteln schwieriger Nachrichten
153 7
hinzugezogene Palliativteam diskutiert nach erfolgtem Basisassessment die
Möglichkeit einer perkutanen enteralen Gastrostomie (PEG) als Ablaufsonde,
um die Erfahrung von Nahrungsaufnahme, Riechen und Schmecken weiterhin
aufrechtzuerhalten. Er bespricht die Situation mit seiner Ehefrau und willigt in
die palliative Intervention zum Erhalt seiner Lebensqualität ein. Am ersten Tag
muss die Intervention aufgrund eines Notfalls bei einem anderen Patienten ver-
schoben werden. Am zweiten Tag kommt der engagierte Assistenzarzt nachmit-
tags zur Visite in Herrn B.’s Zimmer. Da der Arzt gerade aufgrund von Personalaus-
fall allein für 25 Patienten zuständig ist, hat er vergessen, die Intervention erneut
anzumelden. Als Herr B. den Arzt auf die geplante PEG-Anlage anspricht, sagt
dieser ungeduldig: »Oh je, das ist gut, dass sie mich daran erinnern, da werde ich
nachhaken. Aber kein Problem, wir verschieben das einfach um einen Tag …«.

ä »Es tut mir sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Frau vor
15 Minuten gestorben ist.«
Frau K. ist eine 47-Jährige Bühnenbildnerin, die seit 25 Jahren mit ihrem Ehemann
(Fotograf ) verheiratet ist; das Paar hat keine Kinder und ist international tätig. Frau
K. befindet sich in der Terminalphase einer seltenen T-Zell-Lymphom-Erkrankung.
Im Rahmen des Krankheitsverlaufs erleidet die Patientin eine schwere Komplika-
tion mit Nekrotisierung der Körperakren (Nase, Lippen, Ohren, Augenlider, Finger-
spitzen, beide Vorderfüße). Die Nekrosen sind kaum schmerzhaft (NRS 2-3), füh-
ren aber zu extremer ästhetischer Entstellung der Patientin. Der Ehemann ist
täglich für mehrere Stunden bei seiner Ehefrau und übernimmt auf Wunsch der
Patientin einen Großteil der körperlichen Pflege. Andere Familienmitglieder und
Freunde will Frau K. unter keinen Umständen sehen. Der Ehemann fleht das Be-
handlungsteam mehrfach um aktive Sterbehilfe an, um das »grässliche Verfaulen«
seiner Ehefrau zu beenden. Die Patientin selbst gibt an, sie möchte so nicht wei-
terleben, aber freue sich jeden Morgen, die Vögel auf der Wiese vor dem Fenster
zu sehen und zu hören. Das Team der Palliativstation versucht, den psychischen,
sozialen und spirituellen Schmerz des Paars aufzufangen und den Ehemann zu
entlasten und zu stützen. Nach 3 Wochen stationärer Begleitung verstirbt die Pa-
tientin in Folge der fortschreitenden Erkrankung bei guter Symptomkontrolle. Der
Ehemann war 30 Minuten zuvor sehr erschöpft nach Hause gefahren, um sich für
ein paar Stunden auszuruhen. Wie vorher fest vereinbart, ruft der diensthabende
Arzt den Ehemann zuhause an und informiert ihn über den Tod seiner Ehefrau.
Die erste Reaktion des Ehemanns ist: »Danke. Danke! Ich muss … (weint) … wei-
nen, aber ich kann Ihnen nicht sagen … wie … wie viel Erleichterung ich empfin-
de. Danke, danke für diese gute Nachricht. Ich komme sofort …«.

Buckmann und Baile (2000) haben ein Protokoll entwickelt, um das Übermitteln
schwieriger Nachrichten auf der Basis empirischer Forschung und Leitlinien-
154 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

empfehlungen zu strukturieren [18]. Dieses Protokoll hat mittlerweile unter dem


Akronym »SPIKES«-Modell eine große Verbreitung erfahren. Auf der Basis dieses
6-Schritt-Protokolls wird das Übermitteln schwieriger Nachrichten für den Arzt
strukturiert und in einzelne Abschnitte unterteilt . Tab. 7.7.

. Tab. 7.7 Protokoll zum Übermitteln schwieriger Nachrichten

Bedeutung Beispiele1

S SETTING 4 Stehen alle medizinischen Daten zur Verfügung?


Gesprächsrah- 4 Wo wird das Gespräch stattfinden? Gibt es einen Raum?
men schaffen 4 Ist klar, ob Angehörige beim Gespräch dabei sein sollen?
4 Taschentücher? Pieper/Telefon aus?
7 4 Weiß das Team Bescheid und sorgt für keine Unterbre-
chungen?
4 Falls es zeitliche Beschränkungen gibt, mache diese am
Anfang des Gespräches deutlich.
P PERCEPTION 4 Frage-Antwort-Frage . Tab. 7.5:
Kenntnisstand
»Können Sie mir in ihren eigenen Worten sagen, was Sie
erfragen
über den aktuellen Stand der Behandlung wissen/verstan-
den haben?«
I INVITATION »Wie möchten sie gerne von mir informiert werden? Möch-
Einladung an ten Sie alle zur Verfügung stehenden Informationen oder
den Patienten nur die wesentlichen Eckdaten?«
aussprechen »Sind Sie bereit darüber zu reden?«
K KNOWLEDGE 4 Sende eine Warnung an den Patienten, die ihm ermög-
Wissens- licht, sich zu schützen:
vermittlung
»Was ich Ihnen jetzt mitteilen werde, wird für Sie anstren-
gend sein.«
»Die Ergebnisse der Untersuchung sind da und leider sind
die Ergebnisse nicht gut.«
4 Verwende eine einfache, nicht-medizinische Sprache.
4 Sprich in kurzen Informationseinheiten in präziser Sprache.
4 Vermeide unnötige Extremaussagen:
»Sie sind gestern mit Übelkeit und Erbrechen zu uns in die
Klinik gekommen. Wir haben dann eine Schnittbildaufnah-
me des Bauchraums gemacht. Wie wir befürchtet haben, hat
der Krebs wieder gestreut. Er hat sich in der Leber und den
Lymphknoten angesiedelt. Außerdem wird der Dünndarm
vom Tumor blockiert. Das erklärt ihre Übelkeit und das
Erbrechen. Ich wünschte, ich könnte Ihnen bessere Nach-
richten überbringen. Aber diese Situation ist sehr ernst.«
7.2 · Übermitteln schwieriger Nachrichten
155 7

. Tab. 7.7 (Fortsetzung)

Bedeutung Beispiele1

E EMOTIONS 4 Warte, bis der Patient reagiert. Der Patient wird signali-
Emotionen sieren, wann er bereit ist wieder in Kontakt zu treten.
ansprechen und 4 Nonverbale Kommunikation 7 SOLAR-Modell,
mit Empathie . Tab. 7.4
reagieren 4 Auf Emotionen eingehen 7 NURSE-Modell, . Tab. 7.6
S SUMMARY 4 Gehe nur auf Behandlungsoptionen und Prognose-
Planen und fragen ein, wenn der Patient aktiv danach fragt.
Zusammen- 4 Zeige klare Perspektiven auf: vereinbare, wann es ein
fassen nächstes Gespräch geben wird, um die entstehenden
Fragen zu besprechen. Versprich nur das, was Du auch
halten kannst.
4 Mache deutlich, dass das Palliativteam zur Verfügung
stehen wird, egal, welchen Verlauf die Erkrankung nimmt.
»Ich würde unser Gespräch gerne morgen noch einmal
aufnehmen. Wahrscheinlich werden Sie und ihre Familie
morgen einige Fragen haben, die wir dann in Ruhe bespre-
chen können. Meine Teamkollegen stehen Ihnen den
ganzen Abend zur Verfügung. Wenn Sie einverstanden sind,
werde ich ihnen sagen, dass wir miteinander über die Ergeb-
nisse gesprochen haben. Wie auch immer diese Erkrankung
voranschreiten wird: wir als Palliativteam werden da sein.«
adaptiert nach [18] und [19]
1Die genannten Beispielformulierungen sind keine Handlungsanweisungen, sondern
sollen die Umsetzung der theoretischen Kategorien in der Praxis veranschaulichen.

Gölz et al. haben für die Anwendung des SPIKES-Protokolls im Gespräch mit
Palliativpatienten eine Anpassung vorgeschlagen, die die Diskussion von palliativ-
medizinischer Symptomkontrolle, Lebensqualität und Therapiebegrenzung mit
einschließt [20]. Hierfür wird nach dem Punkt »E = EMOTIONS« ein neuer Punkt
»P = Discussing Palliative Care and DNR-Orders« eingefügt . Tab. 7.8.
Das SPIKES-Protokoll und daran angelehnte Erweiterungen wurden auf der
Basis empirischer Forschung entwickelt. Die Unsicherheit von Ärzten in der Über-
mittlung schwieriger Nachrichten sollte durch eine klare Struktur verringert
werden. Es ist wichtig im Kopf zu behalten, dass das SPIKES-Protokoll für Ärzte
entwickelt wurde, um Patienten schwierige Nachrichten zu übermitteln. Unter-
sucht man die Anwendung des SPIKES-Protokolls aus der Patientenperspektive,
dann wird deutlich, dass der Ablauf der verschiedenen Phasen des Protokolls für
die betroffenen Patienten nicht die wichtigste Rolle spielt. In einer Untersuchung
156 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

. Tab. 7.8 SPIKE-P-S – Erweiterung des SPIKES-Protokolls für Palliativpatienten

Bedeutung Beispiel1

P Discussing 4 Entwickle eine palliativmedizinische Behandlungsstrategie


Palliative zusammen mit dem Patienten und seinen Angehörigen.
Care and 4 Frage explizit nach Bedürfnissen, Wünschen, Zielen und
DNR-Orders* Ängsten (Basisassessment 7 Kap. 4).
4 Sei konkret: besprich Symptome, mögliche Therapieopti-
onen und deren Effekte auf die Lebensqualität.
4 Wenn notwendig, besprich Therapiebegrenzung und
Vertreterregelungen (Patientenverfügung und Vorsorge-
vollmacht 7 Kap. 11.3).
4 Biete interprofessionelle Unterstützung an (Pflege, Psycho-
7 therapie, Seelsorge, Kunsttherapie).
adaptiert [20] *DNR=do not resuscitate (engl.) = keine Wiederbelebung; 1 Die ge-
nannten Beispielformulierungen sind keine Handlungsanweisungen, sondern sollen
die Umsetzung der theoretischen Kategorien in der Praxis veranschaulichen.

(2004) wurden Patienten mit der Neudiagnose Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)


und ihre Angehörigen auf die Zufriedenheit mit der Vermittlung dieser Nachricht
befragt. Im Ergebnis kamen die Autoren zu dem Schluss, dass Patienten und An-
gehörige die effektive Zeit, die die Ärzte mit ihnen in der Diskussion der Diagnose
verbrachten, als hilfreichsten Faktor identifizierten [21].

Zusammenfassung
Das Übermitteln schwieriger Nachrichten ist eine wichtige Aufgabe in der Pallia-
tivmedizin und gehört zum Alltag der Arbeit eines Palliativteams. Es ist ärzt-
liche Aufgabe, Diagnosen mitzuteilen, Therapiemöglichkeiten zu diskutieren,
gemeinsam mit dem Patienten Therapieentscheidungen zu beratschlagen und
Angehörige über den Tod eines Patienten zu informieren. Diese Aufgabe muss
mit fachlicher und emotionaler Kompetenz ausgefüllt werden. Eine Nachricht
ist dann schwierig, wenn sie vom Patienten als solche erlebt wird.
Die Übermittlung von schwierigen Nachrichten ist dann gut gelungen,
wenn sich Patient und seine An- und Zugehörigen bei der Verarbeitung der
Mitteilung und ihrer Konsequenzen ernst genommen und unterstützt fühlen.
Die Diversitätserfahrung setzt mit der Mitteilung einer schwierigen Diagnose
ein und bleibt in der Verarbeitung und Integration der Nachricht bestehen.
Das Arzt-Patient-Gespräch zur Übermittlung schwieriger Nachrichten kann
nach dem SPIKES-Modell strukturiert werden.
7.3 · Gespräch über Prognose und Perspektivenplanung
157 7
Literatur
[16] Back AL, Anderson WG, Bunch L, Marr LA, Wallace JA, Yang HB, Arnold RM (2008) Com-
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[17] Schildmann J, Schildmann E (2009) Das Überbringen einer schlechten Nachricht. In: Lan-
ger T (Hrsg.) Das Arzt-Patient - Patient-Arzt Gespräch. Marseille, München, S. 89-98
[18] Baile WF, Buckman R, Lenzi R, Glober G, Beale EA, Kudelka AP (2000) SPIKES-A six-step
protocol for delivering bad news: application to the patient with cancer. Oncologist
5:302-311
[19] Clayton JM et al. (2007) Clinical practice guidelines for communicating prognosis and
end-of-life issues with adults in the advanced stages of a life-limiting illness, and their
caregivers. Med J Aust 186(12):77-108
[20] Goelz T, Wuensch A, Stubenrauch S, Bertz H, Wirsching M, Fritzsche K (2010) Addressing
the Transition from Curative to Palliative Care. Concept and Acceptance of a Specific
Communication Skills Training for Physicians in Oncology – COM-ON-p. Onkologie 33:
65-69
[21] McCluskey L, Houseman G (2004) Medicare hospice referral criteria for patients with
amyotrophic lateral sclerosis. A need for improvement. J Palliat Med 7:47-53

7.3 Gespräch über Prognose und Perspektivenplanung

»Doktor, wie viel Zeit bleibt mir noch?«

Schulz

>>

Prognosestellung und Perspektivenplanung gehören zu den Kernkompetenzen in der


Palliativmedizin.

Bevor ein Gespräch über Prognose und Perspektivenplanung geführt wird, ist es
notwendig, zuerst den Grad des Informationsbedürfnisses des Patienten zu erfra-
gen. Es ist wichtig zu beachten, dass es eine kleine Zahl von Patienten gibt, die nicht
im vollen Umfang oder gar nicht aufgeklärt werden wollen [22]. In diesen wenigen
Fällen ist das Recht auf Nichtwissen zu respektieren.
158 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

Ein Gespräch mit dem Patienten und (wenn vom Patienten gewollt)
mit seinen Angehörigen über Prognose und Perspektivenplanung sollte
in folgenden Situationen geplant oder geführt werden:
4 wenn der Patient das Thema anspricht oder nachfragt
4 wenn feststeht, dass der Patient eine lebensverkürzende, fortgeschrittene,
progrediente Erkrankung hat
4 wenn das Behandlungsteam nicht überrascht wäre, wenn der Patient inner-
halb der nächsten 6 Monate sterben würde
4 wenn eine Verschlechterung des Zustands des Patienten eintritt oder eine
solche von Seiten des Patienten und/oder seiner Angehörigen wahrge-
nommen wird
4 wenn eine Therapieentscheidung getroffen werden muss
7 4 wenn es Erwartungen oder Forderungen des Patienten oder seiner Ange-
hörigen an die Behandlung gibt, die nicht im Einklang mit der klinischen
Einschätzung des Behandlungsteams sind
4 immer dann, wenn ein Patient durch ein Palliativteam mit behandelt wer-
den soll oder in ein Hospiz oder auf eine Palliativstation verlegt werden soll

Gespräche über Prognose und Perspektivenplanung sind für Patienten und ihre
Angehörigen oft sehr belastend und anstrengend. Es ist wichtig, sicher zu stellen,
dass der Patient zum geplanten Zeitpunkt bereit ist, über diese Fragen zu spre-
chen.
Prognosegespräche sind auch für den Arzt belastend und anstrengend. Das
Formulieren einer Prognose ist eine komplexe Aufgabe, die einen hohen An-
spruch an den Arzt stellt. In der Palliativmedizin bedeuten Prognosegespräche
häufig, dass mit einer Einschätzung der noch zu erwartenden Lebenszeit gerechnet
wird. Aus der Literatur wissen wir, dass viele Ärzte sich nicht ausreichend trainiert
fühlen, um Prognosen einzuschätzen und zu kommunizieren. Die medizinische
Literatur befasst sich bis heute nur unzureichend mit diesem Thema [23]. Häufig
fühlen sich Ärzte von Patienten und ihrer Mitwelt unter Druck gesetzt, allzu genaue
Aussagen zur Prognose zu treffen. Zudem haben Ärzte dann oft Angst vor der
Bewertung durch Patienten und fachliche Kollegen, wenn sich die Prognose im
Nachhinein als nicht zutreffend herausstellt [24]. Arzt-Patient-Gespräche über
Prognose und Perspektive werden daher von manchen Ärzten als emotional belas-
tender erlebt, als die Übermittlung einer schweren Diagnose.
7.3 · Gespräch über Prognose und Perspektivenplanung
159 7

Prognosestellung in der Palliativmedizin


Der Akt der Prognosestellung besteht aus zwei Komponenten:
1. Formulierung der Prognose: die Einschätzung der Prognose anhand von
objektiven Daten, kognitiven Informationen und subjektiver Erfahrung
2. Kommunikation der Prognose: die Übermittlung der prognostischen Ein-
schätzung an den Patienten und seine An- und Zugehörigen

7.3.1 Formulierung der Prognose

Glare et al. fassen die folgenden Schritte zusammen, die der Formulierung einer
Prognose vorausgehen sollten [25]:
4 eine gründliche Aufarbeitung der klinischen Situation (Diagnose, Komorbidität,
Pathologie)
4 Diskussion der verschiedenen Behandlungsoptionen auf der Basis der klini-
schen Situation (z. B. Tumorkonferenz, interdisziplinäre Fallbesprechung)
4 Auswirkungen der verschiedenen Behandlungsoptionen in Bezug auf Toxizität,
Nebenwirkungen und die Lebenserwartung
4 Klärung des zu erwartenden Krankheitsverlaufes (Symptome, Funktionsverlust,
Auswirkungen auf die An- und Zugehörigen, finanzielle Aspekte)
4 Klärung der Willensäußerungen und damit verbundenen Behandlungswün-
sche des Patienten und seiner An- und Zugehörigen

Diese Punkte müssen zu einem kohärenten prognostischen Modell zusammenge-


führt werden und mit den zur Verfügung stehenden Betreuungs- und ggf. Sterbe-
orten abgeglichen werden (zuhause, Pflegeheim, Hospiz, Krankenhaus).

7.3.2 Kommunikation der Prognose

Grundsätzlich werden zwei Methoden der Prognoseermittlung unterschieden


. Tab. 7.9.
Wenn Patient und Mitwelt keine ehrliche, professionelle Einschätzung zur
verbleibenden gemeinsamen Lebenszeit erhalten, geben wir nicht den Tagen mehr
Leben, sondern nehmen in den verbleibenden Tagen die Chance zu leben. Eine
nicht ehrliche kommunizierte Prognose kann verhindern, dass der Patient ihm
wichtige letzte Dinge und Probleme nicht mehr abschließen kann . Abb. 7.1.
Die Literatur zu den Präferenzen von Patienten und Angehörigen in Bezug auf
Prognose- und Perspektivenplanungsgespräche zeigt, dass die Betroffenen diese
160 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

. Abb. 7.1 Faktoren der Beeinflussung der individuellen Prognose. Adaptiert nach Glare
et al. 2008

. Tab. 7.9 Methoden der Prognoseermittlung

Methode Beschreibung

CPS = clinician’s prediction Die Prognosestellung hängt von der klinischen Erfah-
of survival rung und Expertise des Arztes ab.
AES = actuarial estimation Unabhängige Faktoren (Laborparameter, Assessment-
of survival daten) werden zu einem Prognosemodell zusammen-
geführt.
Klinische Instrumente zur Prognoseeinschätzung werden im 7 Kap. 4 dargestellt.

Gespräche am liebsten mit sicher auftretenden, erfahrenen Ärzten führen. Dies


steht jedoch im Gegensatz zur klinischen Realität, in der diese Aufgabe oft an die
unerfahrensten Kollegen im Team delegiert wird. Patienten führen Prognose-
gespräche am liebsten mit Ärzten, zu denen sie eine stabile Beziehung auf-
gebaut haben und denen sie vertrauen. Allerdings gibt es eine breite Datenbasis
aus der Literatur, die aufzeigt, dass Gespräche über Prognose und Perspektiven-
planung auch bereits im ersten Arzt-Patient-Kontakt sinnvoll geführt werden
können und zur Entlastung des Patienten und seiner Angehörigen beitragen können
. Tab. 7.10.
7.3 · Gespräch über Prognose und Perspektivenplanung
161 7

. Tab. 7.10 Hinweise für das Führen von Prognosegesprächen: »Doktor, wie lange
habe ich noch?«

Empfehlung Beispiel1

Erfrage, was der Patient wissen »Wie viel möchten Sie wissen?«
will und wie viele Details er »Einige Menschen möchten sehr genau wissen,
hören möchte. was mit ihnen los ist und was zukünftig zu erwar-
ten ist. Andere möchten nicht so viele Details
erfahren. Was sind Sie denn für ein Mensch?«
»Wie viele Informationen möchten Sie?«
Überlege, den Patienten oder »Bevor ich diese Frage beantworten kann, brau-
seine Angehörigen zu fragen, che ich Ihre Hilfe. Ich muss wissen, welche Ver-
wie sich die Dinge aus ihrer änderungen Sie in den letzten Tagen/Wochen/
Sicht in den letzten Tagen/ Monaten in Ihrem Körper wahrgenommen haben.
Wochen/Monaten entwickelt Das gibt uns einen Anhaltspunkt dafür, wie sich
haben und wie die körperliche die Dinge entwickeln. Wie viel Energie hatten Sie
Verfassung eingeschätzt wird. in den letzten Tagen/Wochen/Monaten?«
»Welche Dinge fallen Ihnen jetzt schwer, die Sie
vor einer Woche/Monat noch machen konnten?«
»Wie hat sich Ihr Gewicht und Ihr Appetit ent-
wickelt?«
Sprich die Faktoren an, die bei »Es gibt verschiedene Faktoren, die beeinflussen,
der Beurteilung einer Prognose wie lange Sie mit Ihrer Erkrankung leben können.
eine Rolle spielen. Zum Beispiel kommt es darauf an, wie stark der
Krebs [die Erkrankung] auf die Therapie anspricht,
welche weiteren Nebenerkrankungen Sie haben
und so weiter.«
»Häufig merken wir, dass die verbleibende Zeit
geringer wird, wenn Patienten nicht mehr in der
Lage sind, das Bett zu verlassen oder wichtige
innere Organe ihre Funktion einstellen. Ich denke,
dieser Punkt ist bei Ihnen gekommen.«
Mache keine exakten Voraus- »Es ist sehr schwer zu sagen, wie lange ein
sagen (außer in der Finalphase). Mensch noch zu leben hat. Ich kann mich nur in
Verdeutliche, dass die Prognose Tagen, Wochen oder Monaten ausdrücken. In
maßgeblich vom Voranschrei- Ihrem Fall würde ich schätzen …«
ten der Erkrankung/des Krebses »Die Zeit ist jetzt sehr begrenzt. Der Tod kann
entschieden wird, dass es aber jederzeit eintreten, es kann aber auch noch einige
sehr schwer ist eine genaue Stunden oder Tage dauern.«
Aussage für den einzelnen
Patienten zu treffen.
162 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

. Tab. 7.10 (Fortsetzung)

Empfehlung Beispiel1

Gib eine Bandbreite an, wenn »Nach meiner Einschätzung handelt es sich bei
Du eine Aussage zur Prognose Ihnen wahrscheinlich eher um Wochen als um
triffst. Monate.«
Wenn genauere Angaben »Viele Studien zeigen, dass Ärzte nicht sehr gut
gefordert werden, dann weise darin sind, eine genaue Vorhersage des Sterbe-
darauf hin, dass es sich um eine zeitpunktes zu treffen.«
Schätzung handelt. Weise »Die Situation ändert sich jetzt wöchentlich/täg-
darauf hin, dass die Prognose- lich/stündlich. Deswegen muss unser Team seine
einschätzung regelmäßig Einschätzung auch regelmäßig sehr genau über-
7 überprüft werden muss. prüfen. Ich würde dies gerne regelmäßig mit Ihnen
besprechen, vorausgesetzt, Sie wünschen dies.«
Verwende eine Prognoseaussa- »Wir drücken unsere Einschätzung zur Lebenser-
ge, mit der Du Dich sicher fühlst. wartung in Tagen, Wochen, Monaten oder Jahren
Wenn Du Dich mit verschiede- aus. In Ihrem Fall sieht es so aus, als wenn wir über
nen Formen sicher fühlst, richte einen Bereich von Monaten sprechen.«
Dich nach dem Patienten. Frage »Wir wissen durch andere Menschen mit einer
nach, ob Du eher eine grund- ähnlichen Krankheitssituation wie Ihrer, dass ein
sätzliche Vorstellung der verblei- Drittel der Betroffenen noch nach einem Jahr lebt;
benden Zeit geben sollst (Zeit- die Hälfte aller betroffenen Patienten lebt min-
räume) oder die Wahrscheinlich- destens sechs Monate. Was genau in Ihrem Fall
keit zu einem bestimmten passiert, kann ich nicht genau sagen.«
Zeitpunkt noch zu leben (Wahr-
scheinlichkeitsaussagen).
Wenn Du Statistiken oder »Wenn ich dies erwähne, dann spreche ich nur
Prognosescores einbindest, vom statistischen Durchschnitt. Einige Menschen
dann erkläre ihre Einschrän- leben deutlich länger, einige aber auch deutlich
kungen. kürzer.«
»Diese Zahlen helfen uns nur, den großen Zusam-
menhang zu verstehen, nicht aber, um Ihnen in
Ihrer individuellen Krankheitssituation eine kon-
krete Aussage zu machen.«
Verwende die Worte »sterben«
und »Tod« an den passenden
Stellen.
Adaptiert nach [25] und [26]; 1Die genannten Beispielformulierungen sind keine
Handlungsanweisungen, sondern sollen die Umsetzung der theoretischen Kate-
gorien in der Praxis veranschaulichen.
7.4 · Gespräche zur Entscheidungsfindung
163 7
Zusammenfassung
Alle Palliativpatienten sollten die Möglichkeit haben, mit ihrem Arzt über ihre
Prognose, Lebenserwartung, das Voranschreiten der Erkrankung, zu erwartende
Symptome und deren Auswirkung auf die Lebensqualität zu sprechen. Wenn
eine Prognoseeinschätzung getroffen wurde, dann ist es die Aufgabe des Arztes,
in einem Gespräch mit dem Patienten und (wenn der Patient damit einverstan-
den ist) seinen ihm wichtigen Nahestehenden über die Prognose zu sprechen.
Gespräche über Prognose und Perspektivenplanung können für Patient,
seine Mitwelt und den Arzt emotional sehr belastend sein, da sie u. a. die Diver-
sitätserfahrung verdeutlichen. Ärzte kommunizieren Prognoseeinschätzungen
häufig über-optimistisch oder sind nicht ehrlich gegenüber dem Patienten.
Eine aufrichtig besprochene Prognoseeinschätzung nimmt die Autonomie des
Patienten ernst und ermöglicht dem Patienten und seinen An- und Zugehö-
rigen in der letzten Krankheitsphase mit der begrenzten Zeit leben zu können.

Literatur
[22] Greisinger AJ, Lorimor RJ, La Aday, Winn RJ, Baile WF (1997) Terminally ill cancer patients.
Their most important concerns. Cancer Pract 5:147-154
[23] Glare P, Sinclair C, Downing M, Stone P, Maltoni M, Vigano A (2008) Predicting survival in
patients with advanced disease. Eur J Cancer 44:1146-1156
[24] Lamont EB, Christakis NA (2003) Complexities in prognostication in advanced cancer: »to
help them live their lives the way they want to«. JAMA 290:98-104
[25] Glare PA, Sinclair CT (2008) Palliative medicine review: prognostication. J Palliat Med
11:84-103
[26] Clayton JM et al. (2007) Clinical practice guidelines for communicating prognosis and
end-of-life issues with adults in the advanced stages of a life-limiting illness, and their
caregivers. Med J Aust 186:77-108

7.4 Gespräche zur Entscheidungsfindung

»Ich weiß nicht, ob ich die Tracheotomie noch machen möchte …«

Möller, Schulz

Das Beteiligen des Patienten an der Entscheidungsfindung in klinischen Ge-


sprächen wird Shared-Decision-Making (SDM) oder Partizipative Entschei-
dungsfindung genannt [27]. Die Frage, inwieweit Patienten in die medizinische
Entscheidungsfindung einbezogen werden sollten wird, noch immer angeregt dis-
kutiert. Die Befürworter betonen das zugrundliegende ethische Prinzip der Auto-
nomie des Patienten und vermuten einen positiven Effekt auf die Behandlungser-
164 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

gebnisse, während die Gegner die Probleme betonen, die mit der Mit-Entscheidung
von medizinischen Laien einhergehen [28]. In der Palliativmedizin gilt es, vor
Gesprächen zur Entscheidungsfindung die individuellen Bedürfnisse des Patienten
bei der Partizipation in medizinischen Entscheidungen zu erfassen, um eine even-
tuelle Überforderung im Gespräch zu vermeiden [29].
ä Eine Patientin mit metastasiertem Urothelkarzinom der Harnblase berichtet hier-
zu in einem Interviewgespräch, wie nonverbale und verbale Gesprächsbereit-
schaft der Teammitglieder sich auf Ihren Entscheidungsprozess ausgewirkt haben:

»Ich hatte natürlich auch schon Angst, aber der Dr. (Name) hat sich dann wirk-
lich die Zeit genommen und hat sich abends hin gesetzt und hat mir praktisch
jeden Handgriff erklärt, den die während der OP machen. So dass ich vor der
OP überhaupt keine Angst mehr hatte. Und so das ist für mich, für mich jetzt
7 persönlich war das unheimlich wichtig, dass, wie ich an so eine Sache ran gehe,
wie ich sie verstehe. Und so war das dann später hier auch. Dass man mir Sicher-
heit gegeben hat. Dass auch die Schwester einfach auch mal die Hand einfach
gegeben hat und gesagt hat, das wird schon, und wenn ich mal einen Durch-
hänger hatte oder mal traurig war. Und ich meine, Sie haben mir da auch ge-
holfen, wenn ich da einfach mal drüber reden konnte. Und dazu gehört aber,
dass junge Ärzte lernen, wie gesagt, heraus zu bekommen, einfach persönlich
ein Feingefühl zu haben, persönlich irgendwie versuchen heraus zu bekom-
men, wo steht der Patient? Wie geht’s dem? Und wenn ich den nur frage, was
denken sie wirklich? Was müssen wir klären?«

Nach dem OPTION-Modell . Tab. 7.11 zeigt sich SDM in einem Gespräch anhand
folgender Eigenschaften der ärztlichen Kommunikation:

. Tab. 7.11 OPTION-Modell zum Shared-Decision-Making

Schritt Beschreibung Beispiel1

1 Ein Problem wird »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann
erkannt, welches geht es um das Wachstum des Zungenkrebses.
einen Entscheidungs- Ich würde mich gerne mit Ihnen darüber unter-
prozess verlangt. halten, welchen Schritt wir gehen sollen, um die
Beschwerden durch den Zungenkrebs zu lin-
dern. Sind Sie damit einverstanden?«
»Ich kann Ihnen anbieten, dass wir unser Ge-
spräch aufzeichnen. Sie können sich dann später
damit weiter auseinandersetzen und entstehen-
de Fragen stellen. Was denken Sie dazu?«
7.4 · Gespräche zur Entscheidungsfindung
165 7

. Tab. 7.11 (Fortsetzung)

Schritt Beschreibung Beispiel1

2 Das Vorhandensein »Wir stehen vor einer Entscheidung, bei der es


verschiedener Optio- verschiedene Möglichkeiten der weiteren Thera-
nen wird betont. pie gibt. Es ist mir wichtig, dass Sie verstehen,
dass es nicht nur den einen, richtigen Weg gibt.
Ich und unser ganzes Team möchten Sie bei der
Entscheidungsfindung beraten.«
3 Alle Optionen inklu- »Neben den eben genannten Verfahren, gibt
sive der Option nichts es immer auch die Möglichkeit einer Ent-
zu tun werden be- scheidung, für den Moment nichts zu tun und
nannt. abzuwarten. Auch das ist eine Handlungs-
option. Wir würden dann die Situation in re-
gelmäßigen Abständen gemeinsam neu
durchdenken, besprechen und evtl. neu ent-
scheiden.«
4 Die Vor- und Nachteile »Ich habe mich bemüht, Ihnen die Vor- und
aller Optionen werden Nachteile der verschiedenen Behandlungswege
erklärt. zu verdeutlichen. Können Sie mir aus Ihrer Sicht
noch einmal wiederholen, was Sie verstanden
haben? Dann weiß ich besser, was ich noch
erläutern muss.«
5 Dem Patienten wer- »Ich merke, dass es mir schwer fällt, diesen
den die Informationen Vorgang nur in Worten zu beschreiben. Ich bin
in einer Art und Weise kein Künstler, aber ich könnte mir vorstellen,
präsentiert, die der dass es hilft, wenn ich versuche, das Vorgehen
Patient bevorzugt aufzuzeichnen.«
(Worte, Zahlen, Zeich-
nungen).
6 Die Erwartungen des »Helfen Sie mir zu verstehen, wie Sie sich selbst
Patienten, wie ein bisher das Herangehen vorgestellt haben.«
Problem behandelt »Können Sie mir in Ihren eigenen Worten be-
werden sollte, werden schreiben, was Sie selbst für Vorstellungen zur
besprochen. Therapie haben?«
7 Die Sorgen und SOLAR-Modell . Tab. 7.4
Ängste des Patienten NURSE-Modell . Tab. 7.6
bzgl. über die weitere
Vorgehensweise
werden besprochen.
166 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

. Tab. 7.11 (Fortsetzung)

Schritt Beschreibung Beispiel1

8 Der Arzt versichert Ask-Tell-Ask . Tab. 7.5


sich, ob der Patient
das Besprochene
verstanden hat.
9 Der Patient erhält die
Möglichkeit, Fragen zu
stellen.
10 Der gewünschte »Wie stark möchten Sie in die Entscheidungs-
7 Umfang des Patienten
an der Entscheidungs-
findung eingebunden werden?«
»Manche Menschen möchten gerne in alle
findung wird erfragt. Entscheidungsschritt eingebunden sein und
viele Details erfahren, andere finden es ange-
nehmer, wenn sie nicht so häufig entscheiden
müssen. Wie würden Sie sich aus Ihrer eigenen
Erfahrung heraus einschätzen?«
11 Dem Patienten wird »Das, was wir heute besprechen, muss nicht
die Möglichkeit ange- sofort entschieden werden. Wir haben in diesem
boten, eine Entschei- Fall noch einige Tage/Wochen Zeit. Wenn es die
dung zu verschieben. Zeit erlaubt, kann es sinnvoll sein, noch etwas
Bedenkzeit zu nutzen.«
12 Es werden Vereinba- »Ich würde dieses Thema sehr gerne mit Ihnen
rungen getroffen, weiterbesprechen. Heute werde ich leider nicht
die Entscheidung genügend Zeit dafür haben. Würde es Ihnen
(oder den Aufschub) passen, wenn ich [benenne Zeitpunkt] wieder-
zu überprüfen. komme?«
»Ich möchte Ihnen den Vorschlag machen, dass
wir uns nächste Woche erneut mit diesem
Thema beschäftigen. Lassen Sie uns einen
konkreten Termin festlegen, einverstanden?«
1 Die genannten Beispielformulierungen sind keine Handlungsanweisungen, sondern
sollen die Umsetzung der theoretischen Kategorien in der Praxis veranschaulichen.

ä Frau S. wird notfallmäßig auf einer Palliativstation aufgenommen. Die 70-Jäh-


rige Rentnerin ist Mutter von 3 Kindern, hat 3 Enkel und ist verwitwet. Der Kon-
takt zum mittleren Sohn ist abgebrochen. Seit 2 Jahren ist ein Plattenepithel-
karzinom des Mundbodens diagnostiziert (TNM: cT4, N0, M0, AJCC Stadium III,
6
7.4 · Gespräche zur Entscheidungsfindung
167 7
G2). Die Patientin hat eine primäre Radiatio (GD 70, 2Gy) und eine additive
Chemotherapie (5-FU/Carboplatin) erhalten. Bei der Aufnahme auf der Palliativ-
station wird sofort ein palliativmedizinisches Basisassessment durchgeführt.
Die Patienten ist bei vollem Bewusstsein, hat Durchbruchsschmerzen (NRS
7/10), fötiden Soor der Mundhöhle, Superinfektion des Tumorgebietes, starke
Dysphagie, Hypersalivation und rezidivierende Panikattacken (Frequenz: 4–5/
Nacht). Die Prognoseinstrumente nach AES-Modell (. Tab. 7.9):
4 PaP-Score: 30–70 % 30-Tage-Überleben
4 PPI: 4 Wochen-Überleben: >60 %
4 Palliative Performance Scale: 40 %
4 Palliativstadium: frühe Terminalphase
Die Symptome können palliativmedizinisch in den folgenden 4 Tagen gut ge-
lindert werden. Im MIDOS-Bogen (HOPE Basisdokumentation 7 Kap. 4) werden
von der Patienten alle Beschwerden als »leicht« angegeben, einzig im Bereich
»Schwäche« empfindet sich die Patienten noch immer »mittelgradig« beein-
trächtigt.
Das fortschreitende Tumorwachstum in Richtung Hypopharynx führt im
Verlauf zu zunehmenden Atembeschwerden mit Globusgefühl, Dyspnoe und
Erstickungsangst. In einer interdisziplinären onkologischen Fallkonferenz wer-
den keine weiteren antineoplastischen Therapieoptionen mehr gesehen. Die
Patientin droht innerhalb von 72 Stunden an ihrem Tumor zu ersticken. Mit der
Patientin und zwei ihrer Kinder werden nach dem OPTION-Modell (. Tab. 7.11)
folgende 3 Therapiemöglichkeiten diskutiert:
1. Palliativ-operatives Debulking. Aussage der Kiefer- und Gesichtschirur-
gen: sehr hohes Risiko, weil der Tumor stark durchblutet ist; wahrscheinlich
würde die Pat. während der OP versterben.
2. Tiefe atypische Tracheotomie, um einen alternativen Atemweg zu er-
möglichen. Die HNO-Konsilärzte sind sehr skeptisch, sehen ein hohes
Komplikationsrisiko, wären aber zu einem Eingriffsversuch bereit.
3. Palliativmedizinische, pharmakologische Symptomkontrolle. (7 Kap. 5)
Zusätzlich Diskussion palliativer Sedierungstherapie bei bevorstehendem
Erstickungstod (7 Kap. 6.19).

Die gemeinsamen Entscheidungsgespräche werden aufgezeichnet und von


der Familie zur Diskussion genutzt. Frau S. befindet sich in einer depressiven
Stimmungslage und verweigert für 36 Stunden den Kontakt mit dem Palliativ-
team. Nur die Kunsttherapeutin kann durch eine bereits im Verlauf des Aufent-
haltes erlangte vertrauensvolle Beziehung kurze Kontakte durchführen. Am
3. Tag nach Situationseröffnung entscheidet sich die Patientin für den Versuch
der atypischen Tracheotomie und verabschiedet sich in einem kunsttherapeu-
6
168 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

tischen Prozess und mit einem Brief von ihrer Familie. Der Eingriff gelingt, aller-
dings spricht Frau S. seit diesem Tag kaum noch, weil sie ihre neue Ventilstim-
me nicht ertragen kann. Es folgen 3 Wochen intensiver familiärer Begleitung im
Hospiz. Die Patientin bearbeitet den Bruch mit ihrem jüngeren Sohn und es
kommt zu einer tief bewegenden Wiederbegegnung. 48 Stunden später ver-
stirbt die Patientin im Beisein ihrer Familie bei guter Symptomkontrolle.

Zusammenfassung
Das Beteiligen des Patienten an der Entscheidungsfindung in klinischen Ge-
sprächen wird Shared-Decision-Making (SDM) oder Partizipative Entscheidungs-
findung genannt. Das OPTION-Modell ist ein Instrument, bestehend aus 12 Ka-
tegorien effektiver Kommunikation, das den Patienten in den Entscheidungs-
prozess einbindet und grundlegende Anforderungen an das Arzt-Patient-
7 Gespräch stellt. In Gesprächen zur Entscheidungsfindung sind die individuellen
Bedürfnisse des Patienten bei der Partizipation in medizinischen Entschei-
dungen zu erfassen und zu beachten.

Literatur
[27] Elwyn G, Edwards A, Wensing M, Hood K, Atwell C, Grol R (2003) Shared decision making.
Developing the OPTION scale for measuring patient involvement. Qual Saf Health Care
12:93-99
[28] Edwards A, Elwyn G (2001) Evidence-based patient choice: Inevitable or impossible? Ox-
ford University Press, Oxford
[29] Rodin G, Zimmermann C, Mayer C, Howell D, Katz M, Sussman J, Mackay JA, Brouwers M
(2009) Clinician-patient communication: evidence-based recommendations to guide
practice in cancer. Curr Oncol 16:42-49

7.5 Gespräch über Sterbe- und Todeswunsch

»Bitte helfen Sie mir sterben.«

Schulz

In der Literatur werden formulierte Sterbewünsche als »desire to die statement«


(DTDS) bezeichnet; der Begriff »desire for hastened death« (DHD) ist weiter ge-
fasst und schließt auch innere Phantasien und unartikulierte Wünsche mit ein. Laut
des systematischen Reviews (2006) zeigten verschiedene empirische Studien, dass
8–15 % aller Krebs- und AIDS-Patienten DTDS äußern [30]. In der Befragung von
Patienten, die DTDS geäußert hatten (n=8 Studien) oder sich in der Zukunft vor-
7.5 · Gespräch über Sterbe- und Todeswunsch
169 7
stellen konnten, einen Sterbewunsch zu äußern (n=12 Studien), wurden als Haupt-
faktoren zur Begründung des Sterbewunsches angegeben:
4 eine Last für andere zu sein
4 Verlust von Autonomie (und dadurch ausgelöster Versuch der Selbstkontrolle)
4 körperliche Symptome (wie Schmerzen)
4 Depression und Hoffnungslosigkeit
4 existentielle Sorgen und Zukunftsangst

Inhalt und Intensität von DHD und DTDS scheinen sich im Krankheitsverlauf zu
verändern [31], [32]. In einer qualitativen Untersuchung, bei der 27 Patienten mit
Sterbewunsch über einen längeren Zeitraum im Erkrankungsverlauf begleitet wurden,
konnte gezeigt werden, dass die Gedanken zum vorzeitigen Sterben unterschiedliche
Qualitäten haben können, sich im Krankheitsverlauf verändern, häufig nicht ausge-
führt werden sollen und einen protektiven Faktor darstellen können . Tab. 7.12.

. Tab. 7.12 Qualitatives Erleben von Palliativpatienten mit Sterbewunsch (DHD) in


der Selbstaussage

Kategorie von Sterbe- Beschreibung


wünschen als …

… hypothetischer DHD als Ausdruck von Autonomie für den Fall, dass die
Notausgang Krankheit nicht länger kontrolliert werden könne. Reak-
tionsbildung auf Furcht vor dem Sterbeprozess, die die
Angst vor dem Tod überwog. DHD als »Sicherheitsnetz«
für den Fall, dass der Sterbeprozess Realität würde.
… Ausdruck von DHD als einziger Weg, um überwältigende Verzweiflung,
Verzweiflung Hoffnungslosigkeit oder Panik zu begrenzen. Im Regelfall
war dies eine vorübergehende Kategorie, die meist nach
wenigen Tagen in den Hintergrund trat und durch das
Überbringen schwieriger Nachrichten ausgelöst wurde.
Besonders häufig trat diese Kategorie bei Patienten mit
unkontrollierten, stärksten Schmerzen auf.
… Manifestation des Zeitspezifisch für die späte Terminalphase und Finalphase
Loslassens (die letzten 72 Stunden). Körperliches Erleben, dass der
Tod nah ist und nicht aufgehalten werden kann. Äußere
Einflüsse und Kontakte werden häufig als störend und
anstrengend erlebt, was in der Beziehung zu den An- und
Zugehörigen besonders schwer vermittelbar sein kann.
Zusammenfassung von Ergebnissen aus der qualitativen Forschung nach Grounded
Theory [30] und [33]
170 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

! Insgesamt wird aus der Literatur deutlich, dass Sterbewünsche bei


Palliativpatienten nicht ungewöhnlich sind, allerdings nur ein geringer
Anteil diese Gedanken äußert oder bespricht. Das Palliativteam muss
auf Gespräche über Sterbe- und Tötungswünsche vorbereitet sein und
eine professionelle Haltung im Rahmen der gesetzlichen Bedingungen
dazu entwickeln (7 Kap. 14.2).

Ein offenes Gespräch über Gedanken zu Sterben und Tod oder explizite Sterbe-
wünsche ist eine große Herausforderung für alle Beteiligten . Tab. 7.13.
Unabhängig von der Notwendigkeit, psychische Belastungen wahrzunehmen
und zu erheben, um ein vollständiges palliativmedizinisches Assessment durchzu-
führen, ist das Palliativteam häufig der einzige Ort in der professionellen Begleitung
von schwerstkranken und sterbenden Menschen, an dem die Betroffenen Entlas-
7 tung finden könnten, ohne dabei gleichzeitig ihre Mitwelt noch mehr zu belasten.
! Die Bereitschaft zum offenen Gespräch über Sterbewünsche ist kein
Ausdruck von mangelnder ärztlicher Kompetenz oder fehlendem Ver-
ständnis von Palliativmedizin, sondern Zeichen einer ausgebildeten
professionellen Haltung zur Diversität am Lebensende. Gespräche über
Sterbewünsche sind nicht die Aufgabe einer einzelnen Berufsgruppe,
sondern hängen von der Offenheit und dem gegenseitigen Vertrauen
zwischen Patient und Begleitern ab.

! Die Antwort auf die Frage: »Können Sie mir helfen zu sterben?« sollte
niemals nur »ja« oder »nein« sein. »Ja« ohne den genaueren Kontext
und die Botschaft der Anfrage zu verstehen ist unprofessionell und da-
rüber hinaus potentiell strafrechtlich relevant. Ein einfaches »Nein« ent-
zieht dem Patienten noch mehr Selbstkontrolle und kann die Kommuni-
kation zwischen Arzt, Team und Patient nachhaltig zerstören.
Wenn Patienten Sterbewünsche oder Selbsttötungsabsichten äußern, ist eine ge-
naue Abklärung der psychischen Belastung notwendig, um depressive Symptome,
ein Demoralisationssyndrom oder akute Selbsttötungsgefahr nicht zu übersehen.
In jedem Fall sollte das Team, soweit vom Patienten genehmigt und mit ihm ab-
gesprochen, über die aktuelle Situation informiert werden und der Inhalt des
Gespräches dokumentiert werden. Neben der konsiliarischen Einbindung von
Fachkollegen aus der Psychosomatischen Medizin oder Psychiatrie sollte an eine
seelsorgliche Begleitung bei existentiellen und spirituellen Fragestellungen gedacht
werden. Es gibt eine Reihe von psychotherapeutischen Kurzinterventionen, die bei
existentieller Belastung eingesetzt werden können und auf eine Stabilisierung des
Selbstwertes und Lebenssinnes abzielen [34], [35]. Hierzu wird auf die entspre-
chende Fachliteratur verwiesen.
. Tab. 7.13 Beispielsätze und Fragen im Gespräch über Sterbe- und Todeswunsch1

Thema des Patienten Phase 1: Verstehen des Ursprungs des Sterbe- Phase 2: Erfassen der relevanten Faktoren und erste
in der Eröffnung des wunsches und initiale Antwort Interventionen
Gespräches

Aktuelle Gefühle »Ich möchte versuchen alles zu tun, um mit Ihnen 4 Ist der Patient in vollem Umfang über seine Er-
zusammen zu arbeiten und Ihnen die beste Unter- krankung, Prognose und Perspektive aufge-
stützung zu bieten, die mir möglich ist.« klärt?
»Manchmal sind Menschen so überwältigt von 4 Einbeziehung psychosomatischer/psychiatrischer
Geschehnissen, dass sie das Gefühl haben ‚es ist Fachkollegen zur weiteren Abklärung einer mög-
einfach alles zu viel’. Würden Sie sagen, dass sie in lichen Depression oder Angststörung.
der letzten Zeit solche Gedanken hatten?« 4 Weiß der Patient, dass er frei ist in seiner Entschei-
»Können Sie mir erzählen, was Sie im Moment am dung zu Behandlung, Therapieverfahren und
7.5 · Gespräch über Sterbe- und Todeswunsch

meisten besorgt macht oder ängstigt?« Aufenthaltsort? Ist er über die Möglichkeiten
»Ist das Gefühl die ganze Zeit da oder kommt und palliativmedizinischer Symptomkontrolle aufge-
geht es?« klärt?
4 Diskutiere mögliche Anpassung der Besuche
durch Nahestehende des Patienten, (Ehren-
amtliche, Nachbarn …), um Phasen von Ein-
samkeit und Isolationsempfinden zu redu-
171

zieren.
7
7
172
. Tab. 7.13 (Fortsetzung)

Thema des Patienten Phase 1: Verstehen des Ursprungs des Sterbe- Phase 2: Erfassen der relevanten Faktoren und erste
in der Eröffnung des wunsches und initiale Antwort Interventionen
Gespräches

Leid – physisch, »Was ist für Sie im Moment am allerschlimmsten? 4 Gibt es reversible Symptome, die besser therapiert
psychisch, sozial, (…) Was bereitet Ihnen die größte Sorge?« werden können?
spirituell, existentiell »Was sollte aus Ihrer Sicht in Bezug auf Ihre Thera- 4 Kann durch die Erläuterung von Palliativmedizin
pie und Begleitung verbessert werden?« und dem Fokus auf Symptomlinderung Entlastung
»Manchmal fühlen sich Menschen in ähnlichen geschaffen werden?
Situationen verlassen und sind von ihren Überzeu- 4 Gibt es Wege, dem Patienten mehr Kontrolle über
gungen oder ihrem Glauben enttäuscht. Haben den Zeitpunkt seines Todes zu geben (Patienten-
Sie solche Gedanken gehabt? Können Sie mir das verfügung, Vorsorgevollmacht, Abbruch von
beschreiben?« medizinischen Therapien)?
»Manche Menschen denken sehr intensiv über 4 Zeigt der Patient Anzeichen einer psychogenen
ihren Tod nach und wie es wohl sein könnte. Wie Belastung, die ein Konsil oder Einbindung anderer
ist das bei Ihnen?« Fachkollegen rechtfertigen?
Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

»Können Sie mir sagen, wie andere auf Sie und 4 Gibt es konkret formulierte Ängste rund um den
ihren Krankheitszustand reagiert haben? Wer, Sterbeprozess, die besprochen und abgesprochen
glauben Sie, versteht Sie im Moment am besten? werden können?
Wen möchten Sie am liebsten noch bei sich ha- 4 Sind die religiösen und spirituellen Bedürfnisse
ben?« des Patienten klar erfasst und besprochen bzw.
»Welche Bereiche geben Ihnen in Ihrer gegen- umgesetzt? (Seelsorge einbinden)
wärtigen Lebenssituation Sinn?« 4 Verwende das SMILE-Inventar, um zu verstehen,
was oder wer dem Patienten aktuell (noch) Sinn
gibt [34].
. Tab. 7.13 (Fortsetzung)

Thema des Patienten Phase 1: Verstehen des Ursprungs des Sterbe- Phase 2: Erfassen der relevanten Faktoren und erste
in der Eröffnung des wunsches und initiale Antwort Interventionen
Gespräches

Selbsttötung/ »Haben Sie jemals das Gefühl gehabt, dass Sie den 4 Sind die Abläufe rund um Sterben und Tod mit
Euthanasie Tod herbeisehnen und sich wünschen würden, dem Patienten und seinen An- und Zugehörigen
dass er schneller käme?« besprochen worden? Gibt es offene Fragen oder
»Sie haben mehrmals erwähnt, dass Sie sich wün- Unsicherheiten, die durch ein Aufklärungsge-
schen, dass alles vorbei sei. Können Sie mir Ihre spräch beseitigt werden können?
Gedanken dazu mitteilen?« 4 Ist dem Patienten ganz deutlich, was Palliativ-
»Können Sie mir sagen, wieso Sie sich wünschen medizin bewirken möchte, was das Ziel ist?
würden, dass ihr Leben zu Ende ginge?« 4 Hat der Patient eine Patientenverfügung und
7.5 · Gespräch über Sterbe- und Todeswunsch

»Wer weiß noch davon, dass Sie diesen Wunsch Vorsorgevollmacht? Falls ein konkretes Problem
haben?« eruiert werden kann, frage nach: »Wenn wir das
»Es hört sich für mich so an, als wenn Sie sich sehr Problem beseitigen könnten, würden Sie sich
hoffnungslos gefühlt haben. (…) War es jemals so dann noch wünschen zu sterben?«
schlimm, dass Sie sich gewünscht hätten, Sie 4 Ask-Tell-Ask . Tab. 7.5
wären tot? Haben Sie darüber nachgedacht, sich 4 Sind dem Patienten die Auswirkungen der Umset-
selbst zu töten?« zung seiner Wünsche auf seine An- und Zugehöri-
173

»Haben Sie jemanden darum gebeten, Ihnen dabei gen klar?


zu helfen oder planen Sie das für sich alleine?« 4 Denke über die Einbeziehung von anderen Fach-
»Welchen Standpunkt hatten Sie in der Vergan- kollegen nach, wenn sich suizidale Gedanken mit/
genheit zu aktiver Sterbehilfe? Waren Sie je der ohne Ausführungsplanungen bestätigen oder
Meinung, aktive Sterbehilfe sollte legal sein?« wenn Du Dich in dieser Situation überfordert
fühlst.
7
7
174
. Tab. 7.13 (Fortsetzung)

Thema des Patienten Phase 1: Verstehen des Ursprungs des Sterbe- Phase 2: Erfassen der relevanten Faktoren und erste
in der Eröffnung des wunsches und initiale Antwort Interventionen
Gespräches

Suche nach Assistenz »Darüber sollten wir etwas ausführlicher spre- 4 Ist der Patient bei vollem, klarem Bewusstsein?
bei der Umsetzung chen. Bevor wir gemeinsam entscheiden können, Gibt es aktuelle Anzeichen oder eine Voranamne-
des Sterbewunsches wie es weitergeht, möchte ich gerne verstehen, se von psychiatrischen Erkrankungen?
warum genau Sie mich fragen, ob ich Ihnen beim 4 Wie häufig und in welchen Situationen treten die
Sterben helfen könne …« Gedanken auf oder sind sie kontinuierlich prä-
»Können Sie mir erzählen, wie Sie dazu gekom- sent?
men sind so zu fühlen?« 4 Ist dem Patienten bewusst, dass die rechtliche
»Hatten Sie bisher die Möglichkeit, auch mit ande- Situation ein solches Handeln nicht erlaubt?
ren Teammitgliedern über Ihre Sorgen in Bezug 4 Versuche genau zu verstehen, aus welchen Grün-
auf die Zukunft zu sprechen?« den der Patient aus seiner Perspektive nicht mehr
»Ich möchte Ihnen sagen, dass ich für Ihre Offen- leben möchte/kann. Ziehe in jedem Fall das restli-
heit dankbar bin. Ich nehme Sie mit Ihrem Anlie- che Team hinzu und dokumentiere die Gesprächs-
Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

gen sehr ernst. Auch wenn ich Ihrem Wunsch nicht inhalte.
entsprechen kann, werden ich und das Team Sie 4 Gib eine verbindliche Zusage für kurzfristige
nicht alleine lassen. Ich werde, mit Ihrem Einver- weitere Gespräche zu diesem Thema.
ständnis, mit dem Team intensiv diskutieren, was 4 Diskutiere palliativmedizinische Therapieoptionen
wir tun können, um Ihnen zu helfen.« (u. a. 7 Kap. 6.19).
Gekürzte Adaption der Untersuchungen und Empfehlungen aus der Literatur [30] und [32] mit einigen Ergänzungen des Autors;
1 Die genannten Beispielformulierungen sind keine Handlungsanweisungen, sondern sollen die Umsetzung der theoretischen Kate-

gorien in die Praxis veranschaulichen.


7.5 · Gespräch über Sterbe- und Todeswunsch
175 7
Zusammenfassung
Die Palliativmedizin begegnet der Diversität am Lebensende mit zwei
ethischen Prinzipien: der Autonomie des Patienten und der Fürsorge um den
Anderen. Beide Prinzipien stehen sich entlang eines Kontinuums gegenüber
und können zum Konflikt führen: Wenn der Patient einen Sterbewunsch an ein
Mitglied des Palliativteams richtet, ist dieses aufgefordert, eine Haltung dazu
zu entwickeln.
In der Literatur werden formulierte Sterbewünsche als »desire to die state-
ment« (DTDS) bezeichnet; der Begriff »desire for hastened death« (DHD) ist
weiter gefasst und schließt auch innere Phantasien und unartikulierte Wünsche
mit ein. Epidemiologische Studien zur Umsetzung von Tötungswünschen zei-
gen durchgehend eine niedrige Suizidrate bei Krebspatienten, allerdings ist die
Inzidenz gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöht und nimmt mit voran-
schreitender Erkrankung zu.
Gedanken über einen beschleunigten Tod sind bei Palliativpatienten nicht
ungewöhnlich, allerdings bespricht nur ein geringer Anteil der Patienten diese
Gedanken mit den Begleitern. Das Palliativteam muss auf Gespräche über Ster-
be- und Tötungswünsche vorbereitet sein, um eine professionelle Haltung aus-
bilden zu können.

Literatur
[30] Hudson PL, Kristjanson LJ, Ashby M, Kelly B, Schofield P, Hudson R, Aranda S, O‘Connor
M, Street A (2006) Desire for hastened death in patients with advanced disease and the
evidence base of clinical guideline. A systematic review. Palliat Med 20:693-701
[31] Johansen S, Holen JC, Kaasa S, Loge HJ, Materstvedt LJ (2005) Attitudes towards, and
wishes for, euthanasia in advanced cancer patients at a palliative medicine unit. Palliat
Med 19:454-460
[32] Hudson PL, Schofield P, Kelly B, Hudson R, O‹Connor M, Kristjanson LJ, Ashby M, Aranda
S (2006) Responding to desire to die statements from patients with advanced disease:
recommendations for health professionals. Palliat Med 20:703-710
[33] Nissim R, Gagliese L, Rodin G (2009) The desire for hastened death in individuals with
advanced cancer: a longitudinal qualitative study. Soc Sci Med 69:165-171
[34] Fegg MJ, Kramer M, L‹hoste S, Borasio GD (2008) The Schedule for Meaning in Life Evalu-
ation (SMiLE). A validation of a new instrument for meaning-in-life research. J Pain
Symptom Manage 35:356-364
[35] Breitbart W (2002) Spirituality and meaning in supportive care. spirituality- and mea-
ning-centered group psychotherapy interventions in advanced cancer. Supportive Care
in Cancer 10:272-280
176 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

7.6 Umgang mit Angriffen und Wut im Gespräch


»Das ist ihre verdammte Aufgabe – keiner tut etwas!«

Schulz
Wenn Patienten Vorwürfe oder Enttäuschung in Richtung der Mitglieder des Pal-
liativteams richten, kann dies schwer auszuhalten sein. Manche Ärzte versuchen
dann, schwierige Themen zu umgehen, ihre Betroffenheit durch Übertherapie zu
kompensieren oder empfinden vielleicht ein Gefühl des Versagens gegenüber dem
Patienten [36]. Darüber hinaus weist die Literatur darauf hin, dass Ärzte Unter-
schiede in der Bereitwilligkeit zum empathischen Gespräch über Gefühlszustände
zeigen, abhängig davon, welche Qualität der Gefühlsausdruck hat. In einer nord-
amerikanischen Studie wurden 264 aufgezeichnete Gespräche zwischen Krebs-
7 patienten im fortgeschritten Erkrankungsstadium und ihren behandelnden Onko-
logen analysiert. Dabei fanden man heraus, dass nur in 35 % aller Fälle überhaupt
auf emotionale Hinweise empathisch eingegangen wurde und auf Traurigkeit deut-
lich häufiger reagiert wurde als auf Angst oder Ärger [37]. Die Ärzte, die auf Frus-
tration oder Verärgerung eingingen, konzentrierten sich auf die biomedizinischen
Fakten, die dem Ärger zugrunde lagen und nicht auf das Gefühl selbst. . Tab. 7.14.

. Tab. 7.14 CALM-Modell zur Deeskalation

Schritt Beschreibung Vorgehen Beispiel

C Contact 4 Entspannung SOLAR-Modell . Tab. 7.4


durch Körperspra- Ask-Tell-Ask-Modell . Tab. 7.5
che und Mimik
4 Eingestehen von
Fehlern
4 Anerkennen der
schwierigen
Situation
4 Erklären der
Zusammenhänge
A Appoint 4 Verstehen der NURSE-Modell . Tab. 7.6
Emotionen
4 Tolerieren/Immu-
nisieren gegenü-
ber Angriffen
4 Verbalisieren der
Emotionen
7.6 · Umgang mit Angriffen und Wut im Gespräch
177 7

. Tab. 7.14 (Fortsetzung)

Schritt Beschreibung Vorgehen Beispiel

L Look ahead 4 Rollenklärung/ »Mir ist wichtig, dass ich Ihnen


Beziehung als Ansprechpartner zur Ver-
4 Planen, Benennen fügung stehen kann. Ich möchte
mit Ihnen gemeinsam daran
arbeiten, dass wir einander
besser vertrauen können.«
M Make a 4 Entscheiden »Ab heute möchte ich Sie
decision bitten, dass Sie alle Fragen als
kurze Notizen aufschreiben. Ich
werde mir dann mindestens
einmal täglich Zeit nehmen, um
die Liste mit Ihnen durchzuge-
hen. Falls ich persönlich nicht
anwesend sein kann, sage ich
Ihnen zu, dass sich ein Team-
mitglied mit Ihren Fragen
auseinander setzen wird. Wenn
nötig, wird mein Kollege/meine
Kollegin mich über alle noch
offenen Fragen informieren.«

Konflikte entstehen, wenn sich die Wünsche der Kommunikationspartner


widersprechen. Konflikte können produktiv und hilfreich sein, wenn sie in einer
sicheren und wertschätzenden Atmosphäre besprochen und gelöst werden. Hin-
weise auf einen bevorstehenden Konflikt können z. B. durch das Empfinden aus-
gedrückt sein, dass das Gespräch sich im Kreis bewegt oder wenn innere negative
Bewertungen des Gesprächspartners auftreten (»Der schnallt’s einfach nicht!«) und
zu Frustration führen. Es gibt typische klinische Gesprächssituationen, in denen
Konflikte entstehen können. In der folgenden Tabelle sind häufig verwendete Aus-
drücke und alternative Möglichkeiten zusammengefasst . Tab. 7.15.
178 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

. Tab. 7.15 Beispiele zur verbalen Prävention von Wut

Häufig verwendete Ausdrücke und ihre Alternative


Auswirkungen

»Es gibt nichts mehr, was wir tun »Ich wünschte es gäbe eine Möglichkeit
können.« Ihre Krankheit zu heilen. Lassen Sie uns
(Es gibt immer etwas, was man tun jetzt auf das konzentrierten, was wir tun
kann!) können.«
»Wünschen Sie, dass wir alles tun, was »Was ist ihre Vorstellung davon, wie wir
möglich ist?« helfen sollen?«
(Ja klar! Was denn sonst?)

7 »Schalten Sie die Maschinen aus.« »Um seinen Willen zu respektieren,


(Sie wollen einfach so aufhören?) werden wir die Beatmungsunterstützung
beenden und Medikamente verwenden,
um ihm sein Atmen angenehm zu
machen.«
»Wir wissen, wie gerne Sie ihren Mann »Es hört sich so an, als wenn aus ärzt-
nach Hause holen wollen, aber er ist licher Sicht die Situation sehr ernst ist
wirklich sehr krank.« und Sie trotzdem hoffen, dass es wieder
(Alles, was vor dem »aber« steht, wird besser wird.«
durch das »aber« entwertet.«
»Es tut mir leid.« »Ich wünschte wir hätten bessere Thera-
(Kann als Entschuldigung fehlverstan- piemöglichkeiten für Ihre Erkrankung.«
den werden, wenn es eigentlich als »Ich wünschte, die Dinge wären besser
Anteilnahme gemeint ist.) für Sie gelaufen.«
Zusammenfassung und Adaption von Empfehlungen aus der Literatur [36], [38] und
[39]

Zusammenfassung
In der Begleitung von Palliativpatienten und ihre Mitwelt kann es nicht selten
zur Begegnung mit intensiven und schmerzhaften Gefühlen kommen. Ärger
und Wut, Traurigkeit, Kummer, Verlustgefühl, Hoffnungslosigkeit und Schuld-
gefühl sind einige Beispiele für emotionale Zustände, die in der Auseinander-
setzung mit Sterben und Tod auftreten können [40]. Intensive und schmerz-
hafte Gefühle gehören zum normalen emotionalen Spektrum des Erlebens.
Wenn sie in der Kommunikation in der Palliativmedizin auftreten, gilt es zunächst
zu prüfen, ob sich die ausgedrückten Gefühle auf einen konkreten Fehler be-
6
7.7 · Was tun, wenn Fehler passiert sind?
179 7

ziehen oder ob sie Ausdruck einen Anpassungsprozesses sind. Es ist wichtig,


auf emotionale Hinweise einzugehen, insbesondere, wenn sie auf mögliche
Wut oder Angst deuten.
Das CALM-Modell kann helfen, in emotional anstrengenden Situationen
eine konstruktive Arbeitsbeziehung aufrecht zu erhalten. Darüber hinaus ist
die regelmäßige Reflexion der eigenen Sprache und verwendeten Begriffe
eine wichtige Übung, um implizite Aussagen oder Doppelbotschaften zu ver-
meiden.

Literatur
[36] Quill TE, Arnold RM, Platt F (2001) »I wish things were different«: expressing wishes in
response to loss, futility, and unrealistic hopes. Ann Intern Med 135:551-555
[37] Kennifer SL, Alexander SC, Pollak KI, Jeffreys AS, Olsen MK, Rodriguez KL, Arnold RM,
Tulsky JA (2009) Negative emotions in cancer care: do oncologists‹ responses depend on
severity and type of emotion? Patient Educ Couns 76:51-56
[38] Pantilat SZ (2009) Communicating With Seriously Ill Patients: Better Words to Say. JAMA
301:1279-1281
[39] Fallowfield L, Jenkins V (2004) Communicating sad, bad, and difficult news in medicine.
Lancet 363:312-319
[40] Becker E (1985) Die Überwindung der Todesfurcht: Dynamik des Todes. Goldmann,
München

7.7 Was tun, wenn Fehler passiert sind?

Schulz

»Nur mit denen können wir freimütig über unsere Fehler sprechen, die An-
erkennung für unsere Fähigkeiten haben. André Maurois, 1885-1967«

ä 63-Jährige Palliativpatienten, verwitwet, eine Tochter, mit metastasiertem


Pankreaskopftumor, berichtet im Interview über ihre Erfahrungen auf einer In-
tensivstation nach einem ausgedehnten abdominal-chirurgischen Eingriff:
»... nachts, wenn ich da lag, wo ich noch nicht sprechen konnte oder die Kraft
nicht hatte in die Hände zu klatschen oder was, das ich mich bemerkbar ma-
chen konnte und nachts, wenn ich dann Durst hatte und wirklich, wo es so heiß
war und vor dann habe ich immer ich habe so einen Klipser am Finger gehabt
und dann habe ich immer gegen das Bett gehauen und dann hat die Schwester
6
180 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

dann pampig gesagt: Frau (Name), es ist Zeit zum Schlafen. Schlafen Sie jetzt.
Ich kam mir vor wie unmündig; ich kam mir vor wie ja ... als hätte ich sie nicht
mehr alle, als wüsste ich nicht, dass nachts wäre; das es nachts ist; klar ist Schla-
fenszeit; ich bin kein Kind, dem man das sagen muss; ja also ich kam mir dann
vor, ich konnte mich ja sowieso so schlecht artikulieren, das ich dann und dann
habe ich immer, dann habe immer so gemacht (Geste), dass ich trinken möch-
te, aber es kam keine Reaktion, da wurde einfach die Tür zugemacht und das
ignoriert und das war für mich eine ... ich fand das schlimm, ich fand das ganz
schlimm für mich persönlich.«

Kritische Ereignisse treten in der Betreuung von Palliativpatienten genauso auf, wie
in anderen Bereichen des Gesundheitswesens. Durch die inhaltliche Konzentration
auf schwer kranke und sterbende Menschen mit häufig komplexen Erkrankungs-
7 bildern in fortgeschrittenen Stadien ist es in der Palliativmedizin jedoch besonders
wichtig, aus Fehlern zu lernen. Vor allem im Bereich der Verwendung zugelassener
Arzneimittel für nicht spezifisch zugelassene Indikationen und/oder nicht zugelas-
sene Art der Anwendung sowie dem Einsatz von Medikamenten, die dem Betäu-
bungsmittelgesetz unterliegen, ist neben großer Sorgfalt eine transparente Fehler-
analyse zwingend notwendig. In der Palliativmedizin werden zum Erreichen einer
individuellen Symptomkontrolle bis zu 25 % der verwendeten Arzneimittel im
sogenannten Off Label Use eingesetzt [41]. Eine besondere Situation stellt die Ster-
bephase dar (7 Kap. 6.19). Hier können eventuell aufgetretene Fehler in der Be-
handlung oder Kommunikation für den Einzelfall meist nicht mehr korrigiert
werden, da der Patient verstorben ist. Umso wichtiger ist eine routinemäßige und
konsequente Qualitätssicherung der Sterbebegleitung durch geeignete Instrumen-
te (z. B. dem Liverpool-Care-Pathway 7 Kap. 6.19).
Eine ernsthafte Fehlerkultur zu entwickeln ist eine große Herausforderung für
jeden Einzelnen und für das gesamte Team. Nur wenn Vertrauen und Wertschät-
zung die Basis der Zusammenarbeit bilden, wird eine Atmosphäre professioneller
Offenheit im Umgang mit kritischen Ereignissen zu einem stets lernenden und
veränderungsbereiten Team führen . Tab. 7.16.

jWie sage ich es dem Patienten oder seinen Angehörigen? [44]


Gerade in restriktiven Institutionen des Gesundheitswesens fällt es besonders
schwer, einen Fehler zuzugeben und damit einen möglichen Lernprozess bei Be-
teiligten wie auch den Nicht-Beteiligten anzustoßen. Betroffene Patienten und/
oder ihren Angehörigen zu offenbaren, dass etwas schief gelaufen ist, will gelernt
sein, damit eventuelle Folgen in einer Atmosphäre des Vertrauens gemeinsam be-
wältigt werden können. Die Stiftung für Patientensicherheit der Schweiz hat hier
Empfehlungen erarbeitet, wie man unerwünschte Zwischenfälle den Betroffenen
kommuniziert und damit umgeht [45].
7.7 · Was tun, wenn Fehler passiert sind?
181 7

. Tab. 7.16 Mögliche Faktoren, die bei kritischen Ereignissen relevant sind

Dimension Teilaspekte

Patientenfaktoren 4 Krankheitszustand des Patienten


4 Sprache/Kommunikation
4 Persönlichkeit/soziale Faktoren
Faktoren der Tätigkeit 4 Design des Arbeitsschrittes/Klarheit der Struktur
(Art der Aufgabe) 4 Vorhandensein und Verwendung von Protokollen
4 Vorhandensein und Genauigkeit von Untersuchungs-
ergebnissen
4 Vorhandensein von Entscheidungshilfen
Individuelle Faktoren 4 Wissen und Fähigkeiten
des Mitarbeiters 4 Kompetenz
4 Physische und psychische Gesundheit
Teamfaktoren 4 Verbale Kommunikation
4 Schriftliche Kommunikation
4 Supervision und »Hilfesuchen«
4 Teamstruktur (Übereinstimmung, Führung, Zusam-
mensetzung)
Arbeitsbedingungen/ 4 Personalausstattung und Qualifikation des Personals
Umwelt 4 Arbeitsbelastung und Dienstbelastung
4 Design, Vorhandensein und Wartung der Ausrüstung/
Geräte
4 Administrative Unterstützung
4 Umgebungsbedingungen, Lärm etc.
Organisations- und 4 Finanzielle Ressourcen, Budgetierung, Zuzahlungen
Managementfaktoren 4 Organisationsstruktur
4 Regeln, Verfahren, Vorschriften und Ziele
4 Sicherheitskultur und Prioritäten
Kontext der Institution 4 Ökonomischer und gesetzlicher Kontext
4 Verbindungen zu externen Institutionen
Adaptiert nach [42] und [43]

kWeiteren Schaden abwehren


Oberstes Gebot nach einem Zwischenfall ist, den Patienten vor weiterem Schaden
zu bewahren. Zwischenfälle, die folgenlos für den Patienten und womöglich von
ihm unbemerkt geblieben sind, sollten ihm nicht mitgeteilt werden. In den Fällen,
in dem ein Fehler Folgen für den Patienten hatte, sollte er kommuniziert werden
182 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

– und zwar bedacht und koordiniert. Alle Beteiligten sollten schnellstmöglich ein
Gedächtnisprotokoll erstellen. Bei interventionellen Zwischenfällen sollten die ver-
wendeten Gerätschaften, Verbrauchsmaterialien (auch Abfälle!), Medikamente
und Akten sichergestellt werden.

kWann soll ein Fehler kommuniziert werden?


So schnell wie möglich – am besten innerhalb der ersten 24 Stunden nach seinem
Auftreten.

kWer sollte den Fehler kommunizieren?


Ein verantwortliches Teammitglied, zudem der Patient (oder Angehörige) auch
Vertrauen hat. Schwere Fehler sind Chefsache!

7 kWo sollte über den Fehler gesprochen werden?


In einer ruhigen Atmosphäre, in der auch die Privatsphäre des Patienten ge-
schützt ist. . Tab. 7.17 stellt ein schrittweises Vorgehen in der Fehlerkommunika-
tion vor.

. Tab. 7.17 Vorgehen zur Fehlerkommunikation

Thema Inhalt

F Fakten Darlegen, was passiert ist; nur die Fakten, keine Mutmaßungen.
E Emotion Bedauern ausdrücken.
H Hilfe Informieren, welche eventuellen Folgen das unerwünschte
Ereignis für den Betroffenen haben kann und zugleich die Mög-
lichkeiten der Bewältigung aufzeigen.
L Alternative Dem Betroffenen das Angebot machen, von einem anderen
Team betreut zu werden.
E Einsicht Zeigen, dass Team und Institution aus dem Fehler lernen wollen
und wie.
R Re-Kontakt Den Patienten (und/oder seine Angehörigen) über neue Erkennt-
nisse regelmäßig auf dem Laufenden halten und auf diese Weise
die Beziehung aufrecht erhalten.
Adaptiert nach [46]
7.8 · Ein Wort zur Selbstsorge
183 7
Zusammenfassung
Es gehört zur Professionalität des palliativmedizinischen Teams kritische Ereig-
nisse in der Behandlung, Versorgung und Begleitung von Patienten zu erken-
nen und zu analysieren. Nur wenn Vertrauen und Wertschätzung die Basis der
Zusammenarbeit bilden, werden kritische Ereignisse zu einem stets lernenden
und veränderungsbereiten Team führen können.

Literatur
[41] Bausewein C, Rémi C, Twycross R, Wilcock A (2005) Arzneimitteltherapie in der Palliativ-
medizin. Elsevier, München
[42] Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V.: Aus Fehlern lernen – Profis aus Medizin und
Pflege berichten, (http://www.aktionsbuendnis-patientensicherheit.de/apsside/Aus_
Fehlern_lernen_0.pdf [ April 2011])
[43] Taylor-Adams S, Vincent C (2004) Systems analysis of clinical incidents. The London Pro-
tocol. London, St Mary Hospital, Clinical Safety, Research Unit
[44] Hochreutener MA (2010) Wie sage ich’s dem Patienten? In: Borgwart J, Kolpatzik K (Hrsg.)
Aus Fehlern lernen – Fehlermanagement in Gesundheitsberufen. Springer, Berlin
[45] Patientensicherheit Schweiz (2009) Schriftenreihe Nr. 1 der Patientensicherheit Schweiz:
Wenn etwas schief geht – Kommunizieren und Handeln nach einem Zwischenfall, Zürich
[46] Borgwart J, Kolpatzik K (2010) Aus Fehlern lernen – Fehlermanagement in Gesundheits-
berufen. Springer, Berlin

7.8 Ein Wort zur Selbstsorge

Schnell
Selbstsorge
Das Miteinander von Selbst- und Fürsorge ist von Diversität gekennzeichnet.
Obwohl es normal ist, dass die Selbstsorge eines Patienten am Lebensende ab-
nimmt, begegnet das Team dem mit Fürsorge. Obwohl das Team fürsorglich ist,
kann es den Mangel an Selbstsorge nicht ausgleichen.

Das Lebensende selbst zählt noch zum Leben und Selbstsorge am Lebensende hat
die besondere Eigenschaft, auf die Fürsorge Anderer angewiesen zu sein. Bei einem
Patienten schwinden die Möglichkeiten zur Selbstsorge, das Behandlungsteam geht
auf dieses Schwinden mit Fürsorge ein. Die Dimension der Selbstsorge bezieht
sich nicht nur auf die Person, die an ihr Lebensende gelangt, sondern auch auf die
Überlebenden. Neben den Angehörigen sind das die Mitglieder des Behandlungs-
teams.
184 Kapitel 7 · Kommunikation in der Palliativmedizin

! Es gehört zur professionellen Haltung des Mitglieds eines Palliative


Care-Teams, sich um die eigene Selbstsorge zu kümmern.

Selbstsorge im professionellen Zusammenhängen bedeutet, neben der Fürsorge um


einen Patienten und dessen Angehörige die eigene Person nicht zu vergessen.
Eine Tätigkeit in der Begleitung und Versorgung von Mensch an deren Lebens-
ende kann nicht nur die Angehörige, sondern auch für Mitglieder des Behand-
lungsteams belastend sein und die eigene Selbstsorge beeinträchtigen.
In einer Untersuchung wurden Belastungsfaktoren für Behandlungsteams auf
Palliativstationen ermittelt [47]. Die Palliativmedizin hat einen hohen Anspruch.
Ihr geht es darum, Patienten eine möglichst große Lebensqualität zu ermöglichen,
indem sie auf physische, psychische, emotionale und spirituelle Bedürfnisse einer
Person eingeht. Von den Mitgliedern eines Teams wird es einerseits besonders
7 belastend empfunden, wenn dieser Anspruch nicht erfüllt wird und wenn dieses
zweitens unter den Bedingungen einer besonderen Nähe zum Patienten ge-
schieht.

Die Mitglieder eines Behandlungsteams können Selbstsorge mit Rück-


sicht auf die Fürsorge um Patienten betreiben, wenn sie unter anderem
folgende Gesichtspunkte verfolgen:
4 ein starkes Team, in dem sich die Mitglieder gegenseitig stärken und in der
Konfrontation mit dem Tod entlasten, wird als Schutz gegen Burn-Out
empfunden [48]
4 ein funktionierendes Privatleben ist hilfreich bei der Ausbildung einer
stabilen Berufsidentität
4 um ermessen zu können, wann Beruf und Privatleben aufeinander
bezogen und wann von einander getrennt werden sollten, bietet die
regelmäßige Supervision hier gezielt Unterstützung an
4 der fürsorgliche Bezug auf Patienten beinhalten auch das Setzen und
Erkennen eigener Grenzen
7.8 · Ein Wort zur Selbstsorge
185 7
Zusammenfassung
Das Lebensende selbst zählt noch zum Leben und Selbstsorge am Lebensende
hat die besondere Eigenschaft, auf die Fürsorge Anderer angewiesen zu sein.
Supervision innerhalb der Palliativmedizin kann unterschiedlich eingesetzt
werden: für einzelne Mitglieder des Behandlungsteams oder für das Team ins-
gesamt. Beim Einsatz von Supervision und auch von Burn-Out-Prophylaxe gilt
es Indikatoren und Evaluationskriterien zu beachten [47].

Literatur
[47] Müller M, Pfister D, Markett S, Jaspers B (2009) Wie viel Tod verträgt das Team? Palliativ-
med 2010; 11:227-234
[48] Fengler J (2007) Entlastung des Personals, Burnout, Supervision. In: Aulbert E, Nauck F,
Radbruch L (Hrsg.) Lehrbuch der Palliativmedizin. Schattauer, Stuttgart
186 8
Kommunikation
in der Kunsttherapie
Weigle, Schulz

8.1 Einleitung – 187

8.2 Der kunsttherapeutische Prozess – 187

8.3 Fallbeispiel aus der kunsttherapeutischen Arbeit


in der Palliativmedizin – 189

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2_8, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
8.2 · Der kunsttherapeutische Prozess
187 8
>>

Kunsttherapie beruht auf einem tiefgreifenden Verständnis des Zusammenwirkens


von Kunst und Therapie und folgt einem theoretisch-methodischen Ansatz, der auf
einem psychodynamischen Grundverständnis sowie einem untrennbaren Zusammen-
spiel von bildnerischen und psychischen Prozessen basiert.

8.1 Einleitung

Die Besonderheit der Kommunikation in der Kunsttherapie liegt in der Vermittlung


der herkömmlichen therapeutischen Dyade (zwischen Patient und Therapeut)
durch die Beteiligung der Kunst. Palliativpatienten fällt es oft schwer, das in Verbin-
dung mit ihrer Erkrankung stehende innere Gefühlschaos in Worte zu fassen [1].
Ein Verarbeitungsprozess im Sinne einer Anpassungsleistung auf kognitiver, emo-
tionaler, handlungsbezogener und systemischer Ebene wird dadurch erschwert.
Hier kann die Kunsttherapie einen wertvollen Beitrag leisten und kann dort den
Dialog in Gang setzen, wo die bewusste Sprache versagt. In der bildnerischen Dy-
namik wird der Zustand und die Befindlichkeit eines Menschen gespiegelt und be-
einflusst [2]. Kunsttherapie kann so zur Krankheitsbewältigung beitragen [3].

»Ein kunsttherapeutisches Produkt kann analysiert und beschrieben werden, um es


sich selbst und anderen Menschen zu öffnen – dennoch bleibt es immer ein Werk
an sich, das in seiner Komplexität über die differenzierte Beschreibung hinaus seine
eigene Wirkung entfaltet. Auch ein therapeutischer Prozess kann detailgetreu auf-
gezeichnet werden – dennoch bleibt seine Entwicklung in der Seele des Menschen
nicht umfassend greifbar. Ebenso kann die künstlerisch-therapeutische Arbeit in
sich beschrieben ... werden. Gleichwohl bleibt sie in ihrer Wirkung und Besonder-
heit ein einheitliches Ganzes, dessen Heilkräfte des Schöpferischen über die Sum-
me ihrer Einzelteile hinaus reichen [4].«

! Wenn Worte fehlen, sprechen Bilder [5].

8.2 Der kunsttherapeutische Prozess

In der kunsttherapeutischen Arbeit geht es sowohl um den Prozess des Gestaltens


als auch um die Auseinandersetzung mit dem Gestalteten. Das entstandene Pro-
dukt ist als Momentaufnahme Ausdruck innerpsychischer Zustände und liefert
wichtige Anhaltspunkte für den therapeutischen Prozess. Dabei kann bereits der
gestalterische Prozess durch seine spontane, expressive Darstellung selbst entlas-
188 Kapitel 8 · Kommunikation in der Kunsttherapie

8 . Abb. 8.1 Der kunsttherapeutische Prozess im Palliativmedizinischen Konsiliardienst

tend, spannungslösend und entwicklungsfördernd wirken [6]. Das kreative Tun hat
sowohl stabilisierende als auch harmonisierende Wirkung, ist oft Trost spendend
und beruhigend. Durch das Realisieren der eigenen Leistung und Schaffenskraft
erfährt der Patient Selbstaufbau, Selbstermutigung und Beachtung [7].

»Das Wechselspiel der psychischen Kräfte und Gegenkräfte, regressive und progres-
sive Dynamik, spaltende und zentrierende Bewegung – all das wird im Bild sichtbar,
(ab)fühlbar und nachvollziehbar. Das Bild wird zum Helfer, zum Dritten, der auf bis-
her Übersehenes hinweist, Ressourcen und Lösungen anbietet [8].«

In der Literatur wird die Möglichkeiten der Kunsttherapie als Mittel der Kommu-
nikation am Lebensende unterstrichen. Dem Symbol kommt hierbei eine beson-
dere Bedeutung zu.

»Symbole erfordern Deutung im Kontext der einzigen Realität, die zählt: der Person,
die träumt, handelt oder zeichnet [9].«

Das Symbol besetzt die Gestaltung mit bestimmten Qualitäten, in dem es aus-
drückt, in welchem seelischen Kontext das Bildgeschehen steht. Prognostische oder
prospektive Symbolik kann so für den Verarbeitungs- und/oder Bewältigungspro-
zess des Palliativpatienten im Sinne der Integrationsarbeit genutzt werden.

»Die Erfahrung des Patienten, vom Therapeuten verstanden zu werden, ist (dabei)
ein in sich selbst machtvoller, die Entwicklung fördernder Faktor [10].«
8.3 · Fallbeispiel aus der kunsttherapeutischen Arbeit
189 8
Durch das Bild wird die therapeutische Beziehung zwischen Patient und Therapeut
zu einer Triade. Das Kunstwerk ist dabei die sichtbare Objektivierung (das sicht-
bare Ergebnis) aller Prozesse seiner Erzeugung. Es ist von sinnlicher Dauer, denn
es ist gegenständlich, visuell und haptisch wahrnehmbar [11].
! Durch die Konfrontation mit dem eigenen Werk erhalten die Phäno-
mene – also die gestalteten Bildinhalte – Sinn und Bedeutung. In der
(psychoanalytischen) Kunsttherapie steht daher der Erkenntnisprozess
im Vordergrund. Der Patient soll sich quasi im Sinne einer Selbstexplo-
ration mit Hilfe seines Bildes auf die Spur kommen.

8.3 Fallbeispiel aus der kunsttherapeutischen Arbeit


in der Palliativmedizin

ä Bei dem Fallbeispiel handelt es sich natürlich um eine exemplarische Darstel-


lung von äußerst verschiedenartigen, komplexen und sehr individuellen Pro-
zessen im Krankheitserleben. Unser Dank gilt an dieser Stelle noch einmal dem
Patienten sowie seiner Ehefrau, die ihr Einverständnis zur Publikation dieser
Bilder gegeben haben.
Herr N. ist ein 55-Jähriger Patient (verheiratet, keine Kinder) mit der Diag-
nose eines Plasmozytoms [Multiples Myelom]: IgG lambda St III (Internationales
Staging System), multiple Osteolysen, extrameduläres Myelom in BWK. Dritt-
Linien-Chemotherapie mit progressivem Krankheitsverlauf, palliative
Radiotherapie BWK 8, fraktioniert mit 5 x 2,5 Gy pro Woche.
Der Patient wird auf einer onkologischen Station betreut, der Palliativme-
dizinische Konsiliardienst wird hinzugezogen. Im palliativmedizinischen Basis-
assessment mit der HOPE Basisdokumentation (7 Kap. 4) ECOG 4, Barthel-In-
dex 20, PaP-S: nicht durchführbar (kein solider Tumor), PPI: >6 Wochen Über-
lebenswahrscheinlichkeit. Probleme des Patienten: Schmerzen (mittel), Schwä-
che (stark), Appetitmangel (stark), Wunden/Dekubitus (mittel), Hilfebedarf
bei Aktivitäten des tägl. Lebens (stark), Depressivität (mittel), Angst (stark),
Anspannung (stark), Überforderung der Familie (leicht).
Die Fragestellung an das Konsiliarteam lautet:
4 Beurteilung des Patienten
4 Schmerztherapieoptimierung
4 psychoonkologische Betreuung
4 palliativmedizinische Komplexbehandlung
6
190 Kapitel 8 · Kommunikation in der Kunsttherapie

Im Behandlungsplan werden nach Rücksprache zwischen der aufnehmenden


Palliative Care-Pflegekraft und dem ärztlichen Teammitglied die folgenden
Punkte vorgesehen:
4 psychische Stabilisierung durch ausreichendes Gesprächsangebot
sowie KT-Angebot
4 Bestärkung der Selbstwirksamkeit
4 Unterstützung der postoperativen Schmerztherapie bei geplanter
atypischer LT-Resektion bei Aspergillom

Für die interprofessionelle Zusammenarbeit werden die folgenden Teammit-


glieder einbezogen: Palliativmedizin, Psychotherapie, Palliativpflege, Kunstthe-
rapie, Physiotherapie. Im Folgenden wird die kunsttherapeutische Arbeit mit
dem Patienten in ihrem Verlauf genauer dargestellt.

jÜber 8 Windstärken
8

. Abb. 8.2 Über 8 Windstärken

Der Patient malt einen Windsurfer, der die Herausforderungen von Wind und
Meer auch bei extremsten Verhältnissen annimmt. Bei der sich anschließenden
Bildbesprechung berichtet er unter Tränen, dass Windsurfen seine allergrößte Lei-
denschaft war. Beim Surfen wäre er früher nie ein solches Risiko eingegangen, doch
durch die Diagnose erlebt er nun den heftigsten Sturm seines Lebens, dem er sich
8.3 · Fallbeispiel aus der kunsttherapeutischen Arbeit
191 8
mit großem Kampfgeist stellen will. Dieses Initialbild dient hier als wichtiger Helfer
in der Auseinandersetzung mit der Erkrankung und verbindet Aspekte der Ver-
gangenheit, Gegenwart und Zukunft. Gleichzeitig dient es als hilfreiches Kontakt-
angebot für die Ehefrau, fördert den Bezug zur Realität, die Kommunikation,
Authentizität sowie den ehrlichen Umgang mit Gefühlen.

jFluss des Lebens

. Abb. 8.3 Fluss des Lebens

In dieser metaphorischen Darstellung fließt ein fröhlich plätschernder Gebirgs-


bach hinab ins Tal. Am Ufer blühen Blumen. Alles ist so wunderschön und voller
Frieden. Der Patient liebt die Natur, er liebt sein Leben, seine Frau, seine Freunde,
seinen Beruf. Plötzlich und unvermittelt verändert er nach bereits erfolgter Fertig-
stellung der Gestaltung die gemalte Idylle, da er sie nicht mehr für stimmig erachtet.
Die Erkrankung empfindet er als Zumutung, als schreckliche Kränkung, die seinen
Lebensentwurf zunichte macht. Zwischen die Bergmassive malt er daher eine zer-
störerische, dunkle Energie, die droht, alles zunichte zu machen, was er liebt. Sie
soll die Erkrankung symbolisieren. In der Phase der Problemaktualisierung ist
das Bild gleichzeitig der Beginn einer aktiven Krankheitsverarbeitung und Integra-
tion.
192 Kapitel 8 · Kommunikation in der Kunsttherapie

jRuhe und Gelassenheit

. Abb. 8.4 Ruhe und Gelassenheit

Als Kontrast zu dem tosenden Meer seines Initialbildes malt der Patient ein voll-
kommen regungsloses Gewässer, einen tiefen See, den er mit den Untiefen seiner
Gedanken vergleicht. Er sagt, er liebe das Meer, die Bewegung der Wellen, das
Rauschen der Flüsse und dies alles assoziiere er mit Aktivität, Lebendigkeit und
Lebensfreude. Jetzt müsse er sich wohl oder übel mit dem anderen Extrem anfreun-
den. Er fühle sich ausgeliefert und jeglicher Autonomie beraubt. Während seiner
Ausführungen empfindet er ein fast unerträgliches Gefühl der Einsamkeit und
verweist auf seine schwindende Lebensqualität. Das Bild, das in seiner verschlüs-
selten Form seine Situation beschreibt, wirkt gleichzeitig entlastend. Im Zuge der
Intervention gelingt der Aufbau von Zuversicht, Mut und Vertrauen sowie die
schrittweise Erarbeitung eines Bewusstseins für Kraftquellen, Sinnhaftigkeit, Freu-
de und Erfüllung auch im Kontext der schweren Erkrankung. Die Bearbeitung
seiner zunächst fast sarkastisch gemeinten Bemerkung »Stille Wasser sind tief«
fördert eine positive Ausrichtung seiner Gedanken. Die Hoffnung auf ein Sich-
Wieder-Finden, ein sich Neu-Erfinden mündet so in dem Titel »Gelassenheit und
Ruhe«.
8.3 · Fallbeispiel aus der kunsttherapeutischen Arbeit
193 8
jHoffnung und Traurigkeit

. Abb. 8.5 Hoffnung und Traurigkeit

Der Patient malt ein Gesicht. Im bildnerischen Ausdruck entspricht es der Polarität
von Leben und Tod. Die eine Gesichtshälfte lacht, die andere ist geprägt von gro-
ßer Traurigkeit, Ohnmacht und Verzweiflung. Während der Bildbetrachtung erlebt
er ein stark verdichtetes Gefühlschaos und einen inneren Zwiespalt, den er mit
seiner momentanen Gesamtsituation vergleicht. Die das Gesicht umschließende
dunkle Farbe assoziiert er – wie auch in seiner zweiten Gestaltung – mit der durch
die Erkrankung ausgelösten existentiellen Bedrohung und reagiert darauf mit einer
Mischung aus Aggression und Wut sowie Hoffnung und Optimismus. Deutlich zu
spüren ist die große Ambivalenz aber auch die tiefe Sehnsucht nach Verbesserung
seines Lebensgefühls.
194 Kapitel 8 · Kommunikation in der Kunsttherapie

jLebenswille

8
. Abb. 8.6 Lebenswille

In der nächsten Intervention malt der Patient eine Ente. Eine möglichst originalge-
treue Ausführung ist ihm wichtig, daher schaut er ab und zu auf das Foto des Tieres,
das er seit vielen Jahren auf seinem Handy gespeichert hat. Genauso hätte sie aus-
gesehen, die Ente, die er fast verendet gefunden hat. Mit großer Fürsorglichkeit und
Geduld hat er sie wieder aufgepäppelt und so vor ihrem sonst sicheren Tod gerettet.
In der sich anschließenden Bildanalyse erkennt er unter Beteiligung größter Emo-
tionalität die starke ICH-Identifikation mit dem Tier und wird sich in Dankbarkeit
der großen eigenen Unterstützungspotentiale bewusst. Sie lebt und ich will auch
leben! Das Bild kann im Sinne der Klärungsperspektive zur Ressourcenaktivie-
rung und als Entlastungspotential genutzt werden. Darüber hinaus hat es eine stark
motivierende Wirkung und öffnet in der Diskussion um Tod und Sterben auch den
Themenbereich der Spiritualität.
8.3 · Fallbeispiel aus der kunsttherapeutischen Arbeit
195 8
jGemeinsame Träume

. Abb. 8.7 Gemeinsame Träume

Das Bild ist eine Kombination aus verschiedenen Gestaltungselementen sowie


selbst verfassten Texten. Diese unterstreichen die Kernaussage. Der Patient strotzt
vor Optimismus und Lebensmut, denn es wächst zunehmend der Wunsch nach
Definition neuer Lebensziele – auch mit der Erkrankung. In der Bildbesprechung
spürt er in großer Deutlichkeit das Spannungsfeld zwischen dem Ideal und der
Realität und empfindet das Bild plötzlich als schreiende Opposition zu dem, was
ist. Dennoch siegt die Hoffnung und mit ihr die Botschaft an seine Frau: »Gemein-
sam sind wir stark und schaffen alles!« Während der Gestaltung erlebt er eine
deutliche ICH-Stärkung. Sie schafft gegenwartsbildende Kräfte und ein zuneh-
mendes Bewusstsein für die eigenen Potentiale, seine Eigenverantwortung sowie
die Auswirkung seiner Grundüberzeugungen auf die Körperebene und sein sozia-
les Umfeld. Er wünscht sich fliegen zu können, wie diese Möwe – der Krankheit
einfach auf und davon.
196 Kapitel 8 · Kommunikation in der Kunsttherapie

jUnd Tschüss …

. Abb. 8.8 Und Tschüss…

Der Patient kommentiert sein Bild folgendermaßen: Das Bild zeigt einen Men-
schen, der zielstrebig auf dem »Boden der Hoffnung« einer gelben, wärmenden
und nährenden Sonne entgegen geht; einer Sonne, die ihn berührt und die Leben
verspricht. Er habe keine Lust mehr auf Krankenhaus. Als Sportler fiele es ihm von
Tag zu Tag schwerer, die ihm von der Krankheit aufgezwungene Immobilität aus-
zuhalten. Er möchte einfach aufstehen, alles vergessen, doch meist überwiegen die
Angst vor unerträglichen Schmerzen oder quälende Antizipationen, es vielleicht
nie mehr schaffen zu können. Das Bild hat einen stark motivierenden Effekt, stärkt
die Eigenverantwortung und erinnert an die eigenen Potentiale. Mit Hilfe der Phy-
siotherapie will er es jetzt auf jeden Fall wagen und wird in diesem Moment von
der Übermacht seiner Erkrankung entlastet.
8.3 · Fallbeispiel aus der kunsttherapeutischen Arbeit
197 8
jAuf geht’s! Es ist zu schaffen!

. Abb. 8.9 Auf geht’s! Es ist zu schaffen!

Zwischenzeitlich hat eine erfolgreiche Mobilisierung in den Stuhl stattgefunden.


Mit diesem Bild malt der Patient nun sein nächstes Etappenziel: die ersten eigenen
Schritte am Gehwagen. Die Gestaltung gibt als strukturbildendes Element Halt und
Orientierung zugleich und verstärkt seinen innewohnenden Wunsch nach mehr
Autonomie und Lebensqualität. Der Aufbau von Vertrauen hilft die Angst zu über-
winden, entlastet und trägt maßgeblich zu einer Ressourcenaktivierung bei.
Nach erfolgter Symptomkontrolle, Prognosebesprechung und Perspektiven-
planung kann der Patient in das häusliche Umfeld entlassen werden. In der vorhe-
rigen Versorgungsplanung, die federführend von einem Teammitglied aus der
Sozialarbeit koordiniert wurde, konnten die Pflegestufe beantragt und bewilligt
werden, Hilfsmittel und Pflegedienst eingebunden werden sowie ein ehrenamt-
licher Hospizdienst und Informationen über Möglichkeiten zur Angehörigenun-
terstützung bereitgestellt werden.
198 Kapitel 8 · Kommunikation in der Kunsttherapie

Zusammenfassung
Bilder stellen ein mögliches Mittel dar, um durch Farben, Formen und Motive
Gefühle auszudrücken. Der Prozessverlauf ist Zeugnis eines großen Span-
nungsfeldes zwischen Leben und Tod und spiegelt in seinen Gestaltungen so-
wohl die tief empfundene Ohnmacht und Verzweiflung des Patienten aber
auch die Aktivierung seiner Ressourcen auf geistiger, seelischer, körperlicher
und sozialer Ebene.
Ebenso ist auch ein schwerstkranker oder sterbender Mensch mehr als die
Summe seiner Krankheitssymptome, dem wir – neben aller Fachkompetenz –
in erster Linie als Mensch mit Herz begegnen sollten.

Literatur
[1] Herrlen-Pelzer S, Rechenberg P (1998) Malen mit Krebspatienten. Fischer, Ulm
8 [2] Menzen KH (2004) Grundlagen der Kunsttherapie. Reinhardt, München
[3] Sinapius P (2009) So möchte ich sein. Krankheitsbewältigung bei Krebs – Bilder aus der
Kunsttherapie. Richter, Köln
[4] Titze D (2008) Das gegenwärtige Produkt. Ein Plädoyer. Kunst & Therapie 2:11-19
[5] Schottenloher G (1994) Wenn Worte fehlen, sprechen Bilder. Bildnerisches Gestalten und
Therapie. Kösel, München
[6] Furth G (1997) Heilen durch Malen. Walter, Zürich
[7] Gruber H (2004) Wissenschaftstheoretische Implikationen der Bildanalyse von Patien-
tenbildern. In: Henn W, Gruber H (Hrsg.) Kunsttherapie in der Onkologie. Grundlagen,
Forschungsprojekte, Praxisberichte. Richter; Köln
[8] Jacobi J (1969) Vom Bilderreich der Seele. Wege und Umwege zu sich selbst. Walter,
Olten
[9] DiLeo JH (1989) Die Deutung von Kinderzeichnungen. Gerardi, Karlsruhe
[10] Rogers CR (2002) Therapeut und Klient. Fischer, Frankfurt a. Main
[11] Dannecker K (2006) Psyche und Ästhetik. Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesell-
schaft, Berlin
[12] Arnheim R (1972) Anschauliches Denken. Zur Einheit von Bild und Begriff. DuMont,
Köln
199 9
Familienzentrierte Medizin,
Angehörige
Möller

9.1 Familienzentrierte Medizin – 200

9.2 Voraussetzungen für eine professionelle


Familienzentrierte Medizin – 200

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2_9, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
200 Kapitel 9 · Familienzentrierte Medizin, Angehörige

Familie
Eine Familie ist eine Gruppe von Individuen, die durch starke emotionale
Beziehungen verbunden sind, sich gegenseitig zugehörig fühlen und sich für
ihr Leben wechselseitig interessieren und engagieren [1].

9.1 Familienzentrierte Medizin

Der Begriff »Familienzentrierte Medizin« (FM) ist ein Konstrukt, welches direkt
an die fundierten Erkenntnisse der Pflegewissenschaften in der Familienzentrierten
Pflege anknüpft (family-nursing [engl.], family-centered care [engl.], Familien-
zentrierte Pflege). Wir möchten den Begriff »Familienzentrierte Medizin« einfüh-
ren, um darauf hinzuweisen, dass im Bereich der (ärztlichen) Medizin das Konzept
der Familienzentrierten Pflege in angepasster und erweiterter Form ebenso
verwendet werden sollte, wie es in der Pflege bereits in vielen Gebieten, u. a. der
Palliativmedizin, realisiert worden ist.
9 Die Grundlage für die Anwendung von Familienzentrierter Medizin (FM) in-
nerhalb der Palliativmedizin leistet die Definition von Palliative Care der WHO [2].
Die Definition der WHO rückt den Patienten und sein Familiensystem ins Zen-
trum aller ärztlichen und pflegerischen Bemühungen.

9.2 Voraussetzungen für eine professionelle


Familienzentrierte Medizin

Um mit Familien und einzelnen Familienmitgliedern arbeiten zu können, benötigt


das Behandlungsteam als Grundlage erweiterte Kenntnisse und Fähigkeiten, die es
erlauben, die Prozesse innerhalb des Familiensystems wahrzunehmen und darin
gezielt zu interagieren. Diese Kenntnisse und Fähigkeiten werden im Folgenden
vorgestellt.

9.2.1 Wissen über systemisches Denken

Die Familie erfüllt die Bedingungen, um unter den Gesichtspunkten der System-
theorie betrachtet zu werden. Das Familiensystem zeichnet sich durch die Fähig-
keit zur Selbstregulation aus; die Familienmitglieder können durch ihre Zuge-
hörigkeit zum System die Regeln für das Verhalten in diesem System in einem
komplizierten Interaktionsprozess gestalten (Autopoiese). Die Familienmitglieder
unterhalten dabei wechselseitige (reziproke) Beziehungen zueinander, welche sich
9.2 · Professionelle Familienzentrierte Medizin
201 9
durch zirkuläre anstatt lineare Kausalität auszeichnen. Folglich hat eine Änderung
in einem Teil des Familiensystems Auswirkung auf alle anderen Teile [3].
ä Lineare Kausalität
Während der Nacht erwacht ein Patient (P) auf einer Palliativstation mit furcht-
baren, nicht aushaltbaren Schmerzen (NRS 10). Er betätigt die Klingel und ruft
eine Schwester (S) herbei. Diese stellt fest, dass die Bedarfsmedikation bereits
ausgeschöpft ist und ruft den Dienstarzt herbei. Der Dienstarzt (A) verabreicht
gegen den Durchbruchschmerz ein stärkeres Opioid intravenös und überwacht
das Anfluten des Medikaments. Der Patient entspannt sich sichtlich und schläft
kurz darauf bei stabilen Vitalparametern ein. Der Arzt kontrolliert in anstei-
genden Intervallen (5, 10, 15 min.) die Vitalparameter und geht danach wieder
in Bereitschaft.

Linear: P → S → A

ä Zirkulare Kausalität
Ein Arzt (A) auf einer onkologischen Station führt ein Aufklärungsgespräch mit
Herrn G. (HG) nach dem SPIKES-Protokoll (7 Kap. 7.2.1), da bei ihm ein metas-
tasierten Bronchial-CA diagnostiziert wurde. Nach dem Angebot, Angehörige
hinzuzuziehen, hat es der 48-Jährige Immobilienmakler vorgezogen, alleine
mit dem Arzt zu sprechen. Trotz behutsamen Vorgehens ist er nach dem Ge-
spräch sehr verzweifelt und hoffnungslos. In den darauffolgenden Tagen
verunsichert sein Erscheinungsbild die Ehefrau (FG) und seinen 16-Jährigen
Sohn (S) bei ihren Besuchen sehr. Die Ehefrau wendet sich schließlich an den
Arzt und bittet ihn um Informationen zu ihrem Mann, doch der Arzt hat dazu
nicht die Erlaubnis des Patienten. Er sagt jedoch zu, mit ihm über ihren Wunsch
zu sprechen. Im Gespräch mit Herrn G. erfährt er, dass dieser große Schuld-
gefühle gegenüber seiner Familie habe, die ihn immer darum gebeten hatte,
mit dem Rauchen aufzuhören; jetzt habe er sie so bitterlich im Stich gelassen.
Er wisse einfach nicht, wie er mit ihnen reden könnte. Der Arzt ermöglicht
Herrn G. im Gespräch seine Angst, von der Familie abgewiesen zu werden, zu
verbalisieren und bietet ihm an, gemeinsam mit seiner Familie zu sprechen. Sie
verabreden einen gemeinsamen Termin mit der Ehefrau und dem Sohn. Beide
sind sehr erschüttert während des Gesprächs, in dem Herr G. auch seine
Schuldgefühle ansprechen kann, welche durch die verbale und non-verbale
Reaktion der Familie entkräftet werden. Frau G. wendet sich nach einer Woche
an den Arzt, um ihm für sein persönliches Engagement zu danken. Die Bezie-
hung zwischen Sohn und Vater wäre seit dem Gespräch so viel besser gewor-
den und habe es ihr ermöglicht, wieder Zugang zu ihrem Mann zu finden.

Zirkular: A → HG → FG + S → A → HG → FG + S → HG → FG → A
202 Kapitel 9 · Familienzentrierte Medizin, Angehörige

Die Zugehörigkeit zum System ist dabei keine starre Funktion, abhängig vom Ver-
wandtschaftsgrad, sondern wird vom System immer wieder neu definiert. Nahe
Verwandte können vom Familiensystem aufgrund eines Beziehungsabbruchs ge-
trennt werden und Freunde der Familie können wie Familienmitglieder behandelt
werden.

9.2.2 Kommunikative Kompetenz

Das Erleben von Krankheit eines Familienmitglieds und dem möglichen, bevor-
stehenden Tod kann von den Angehörigen als existenzielle Krise des Familien-
systems wahrgenommen werden. Immer wird der Tod eines Familienmitglieds das
System verändern. Unter dieser Voraussetzung können medizinische und pflege-
rische Maßnahmen Unsicherheit erzeugen, als bedrohlich wahrgenommen und
abgelehnt werden. Es können Konflikte mit dem Behandlungsteam über das Thera-
pievorgehen entstehen und die wiederum können zu inadäquater Etikettierung
der Angehörigen durch das Behandlungsteam führen (»schwieriger Patient«, »an-
9 strengende Familie«, »non-compliance«) [4]. Es gilt zu beachten, dass Angehörige
in der Regel in der Intention handeln, ihr Familienmitglied zu schützen. Sie sind
aber an ihre Perspektive und ihren meist medizinisch unerfahrenen Wissenshori-
zont gebunden. Das Behandlungsteam sollte Angehörige (sofern dies der Patient
wünscht) ausführliche Informationen zu Krankheit und Therapieverfahren an-
bieten und sie als gleichberechtigte Partner in Diskussionen über weiteres Vor-
gehen mit einbeziehen. Nur so kann eine vertrauensvolle Beziehung zwischen dem
Behandlungsteam und dem Familiensystem entstehen, welche die Ressourcen der
Angehörigen aktiviert (7 Kap. 7).
Informationen oder Anleitungen können nicht in einen anderen eingegeben,
sondern nur in einem Interaktionsprozess angeboten werden [5].

Familieninterviews sollten folgende Elemente enthalten [1]:


4 Therapeutische Konversation
Jegliche kommunikative Interaktion mit dem Patienten und seinen Angehöri-
gen auf der einen und dem Arzt auf der anderen Seite bewirkt Veränderungs-
prozesse in der bio-psycho-sozialen Struktur der Gesprächspartner. Die Zu-
stimmung des Patienten vorausgesetzt, sollten Familienangehörige an klini-
schen Gesprächen mit einbezogen und die Familie ermuntert werden, Fragen
zu stellen.
4 Höfliches Benehmen
Unhöfliches Benehmen kann eine therapeutische Beziehung von Anfang an
strapazieren und scheitern lassen. Die Vorstellung des Arztes mit vollem Na-
9.2 · Professionelle Familienzentrierte Medizin
203 9
men und Funktion, das Ansprechen des Patienten mit Nachnamen und das
Erklären der Absicht des Besuchs sollte eine Selbstverständlichkeit sein.
4 Familiengenogramm anfertigen
Das Familiengenogramm (grafische Darstellung eines Familienstammbaum)
kann während den Gesprächen oder kurz danach skizziert werden. Es besteht
kein Zwang zur Vollständigkeit und sollte allen anderen Mitgliedern des thera-
peutischen Teams zur Verfügung stehen.
4 Therapeutische Fragen
Therapeutische Fragen lenken die Aufmerksamkeit des Patienten/Familie auf
mögliche oder bestehende Probleme, um einen Lösungsprozess anzustoßen
und Unterstützung anzubieten.
Bsp.: »Welche Fragen sind in diesem Moment am wichtigsten für Sie zu
klären?«;
»Wie können wir Sie und Ihre Familie bei der Entlassung unterstützen?«
4 Ressourcen anerkennen und bestärken
Das Benennen von individuellen Stärken und Ressourcen lenkt den Fokus weg
von den Defiziten auf potenziell hilfreiche Verhaltensmuster und bestärkt diese.
Bsp.: »Ihre Kinder sind so umsichtig und hilfsbereit trotz der Krebserkrankung
Ihrer Frau.«

9.2.3 Persönliche Haltung

Die Beziehung zwischen den Familienmitgliedern und dem Behandlungsteam ba-


siert auf dem Ansatz der Gleichberechtigung und wohlwollendem Verständnis, um
eine Atmosphäre des gegenseitigen Vertrauens zu schaffen. Die Rolle als Berater
des Familiensystems erfordert von dem Betreuungsteam, die eigenen Familien-
strukturen zu reflektieren und eine Haltung gegenüber Sterben und Tod im eige-
nen System zu entwickeln. Zentrales Element dieser Haltung ist die Auseinander-
setzung mit der Diversität am Lebensende (7 Kap. 3). Diversität meint die Differenz
und Asymmetrie zwischen den Überlebenden und demjenigen, dessen Leben dem
Ende entgegen geht. Sie tritt in der therapeutischen Beziehung zu einem Familien-
system doppelt auf: einmal als Beziehungselement zwischen den professionellen
Beratern und dem sterbenden Menschen und auch zwischen diesem Menschen
und seinen Angehörigen. Es ist die Aufgabe der Berater, verantwortlich gegenüber
dem Patienten zu agieren und den Eigensinn der Familie im Hinblick auf den Ab-
schied von ihrem Familienmitglied zu achten. Diese Achtung beinhaltet eine Bera-
tung der Familie und ein Angebot zur Auseinandersetzung mit ihrer speziellen
Situation.
204 Kapitel 9 · Familienzentrierte Medizin, Angehörige

9.2.4 Ressourcen

Wie passiert es, dass Angehörige als störend erlebt werden? In einer Studie über
unbeschränkte Besuchszeiten auf Intensivstationen konnte gezeigt werden, dass
der Mangel an räumlichen Rückzugsmöglichkeiten und der gleichzeitige Zeitdruck
in der Versorgung der Patienten die Hauptgründe für ablehnendes Verhalten des
Behandlungsteam waren [6]. Angehörige können besonders dann als Stressoren
erlebt werden, wenn nicht genügend Raum oder Zeit zur Verfügung steht. Bewährt
haben sich zum Beispiel gemeinsame Aufenthaltsräume für Angehörige mit Kü-
che und Essbereich. Das in der Kinderheilkunde bewährte Rooming-In, d. h. die
Übernachtungsmöglichkeit für einen Angehörigen im Zimmer des Patienten, bie-
tet sich auch im palliativen Setting an. Ist es auf einer Palliativstation aufgrund des
permanenten Bettenbedarfs nicht möglich, einen Verstorbenen 24 Stunden in sei-
nem Zimmer aufzubahren, ist es für die Trauerarbeit erforderlich, einen Abschieds-
raum für die Angehörigen einzurichten. Diese Beispiele zeigen, dass neben einer
familienorientierten Grundhaltung des Behandlungsteams Ressourcen wie Zeit
(Pflegeschlüssel, multiprofessionelle Teambesprechungen) und Raum (Aufent-
9 haltsräume, Abschiedsraum) von der Leitung bereit gestellt werden müssen, um die
Prinzipien der FM zu achten.

9.2.5 Bedürfnisse der Angehörigen

Für die Anwendung von FM in der Palliativmedizin sprechen Argumente der sys-
temischen Familienbetrachtung [7]. Gesundheitserfahrungen und Gesundheits-
verhalten jedes einzelnen Familienmitgliedes nehmen Einfluss auf die gesamte
Familie und verändern die Interaktion innerhalb des Familiensystems. Das Ge-
sundheits- und Krankheitsverhalten wird zu großen Teilen im Kontext der Fa-
milie erlernt (z. B. Bewegungsmangel, Essverhalten, Nikotin-und Alkoholkonsum).
Familien gelten daher als wichtiger Einflussfaktor für den Gesundheitszustand und
das Wohlbefinden des Patienten. Ihr Beitrag zur Versorgung unterscheidet sich je
nach dem Setting auf einer Palliativstation oder in ambulanter palliativer Betreu-
ung sowie dem Beziehungsmuster innerhalb der Familie. Angehörige übernehmen
dabei Aufgaben, die von einfacher Unterhaltung bis zu schwerster körperlicher
Pflege reichen. In Fällen, in denen von Patienten- und Angehörigenseite familiäre
Pflege erwünscht wird, kann diese durch das interdisziplinäre Behandlungsteam
unterstützt werden.
9.2 · Professionelle Familienzentrierte Medizin
205 9
ä Herr R. ist ein 74-Jähriger Mann mit metastasiertem Prostata-CA in der frühen
Terminalphase. Er wird zu Hause von seiner Ehefrau gepflegt. Herr R. ist inzwi-
schen bettlägerig, leidet unter permanenten Dauerschmerz und mehrmals am
Tag an Episoden von fulminanten Durchbruchschmerzen. Von der ambulanten
Pflege wurde die Ehefrau in die wichtigsten Pflegehandgriffe eingewiesen. Das
spezialisierte ambulante Palliativteam kommt zweimal die Woche und jeder-
zeit, wenn Hilfe benötigt wird. Das Palliativteam bespricht mit der Ehefrau den
Behandlungsplan und weist sie in den Fentanyl-Pflasterwechsel ein. Da die
Schmerzsymptomatik nicht ausreichend gelindert werden kann, wird die Ehe-
frau wenig später in den Umgang mit einer Pumpe für die kontinuierliche sub-
kutane Infusion (CSCI) eingewiesen, um ihren Mann während Durchbruchs-
schmerzen zu helfen, da er selbst nicht in der Lage dazu ist. Regelmäßig wer-
den ausführliche Gespräche über ihr eigenes Befinden geführt, um Probleme in
der Versorgung zu identifizieren und, wo immer möglich, zu lösen. Sie dienen
aber auch dazu, im Gespräch psychosoziale Hilfe für ihre Trauer zu leisten und
ihr weitere Therapieangebote anzubieten.

9.2.6 Trauerarbeit

Die Trauer um einen schwerkranken Angehörigen beginnt in der Regel nicht mit
seinem Tod. Während einer Phase langer Krankheit tritt Trauer auf als Reaktion
auf den körperlichen Verfall, der auf den nahenden Tod hinweist und als Verlust
erlebt wird. Trauer verspüren dabei Angehörige und Patienten.
Aus der Intensivmedizin stehen bereits Erkenntnisse zur Verfügung, wie sich
eine lebensbedrohliche Erkrankung mit intensivmedizinischer Versorgung auf die
pflegenden Angehörigen auswirkt. Pflegende Angehörige eines kritisch kranken
Patienten haben ein signifikant höheres Risiko an Angststörungen, Depression und
Posttraumatischer Belastungsstörung zu erkranken als die Referenzbevölkerung.
Eine Studie mit Krebspatienten und deren pflegenden Angehörigen zeigte, dass bei
einem Aufenthalt von mehr als sieben Tagen auf einer Intensivstation 71 % der
Familienmitglieder unter starker Angst und 50,3 % unter Depressionen litten [7].
Pflegende Angehörige von kritisch kranken Patienten erleben erhebliche Be-
lastungen. Das Behandlungsteam kann durch regelmäßige Gespräche einerseits
dem Bedürfnis nach Kommunikation und Anteilnahme entsprechen, andererseits
bei schwerer Trauersymptomatik erweiterte Hilfsangebote anbieten. Darunter fal-
len Psychotherapie, aber auch das Einrichten von Selbsthilfegruppen. Trauer nach
dem Tod des Angehörigen kann mit Abschiedszeremonien und Erinnerungstreffen
begegnet werden.
206 Kapitel 9 · Familienzentrierte Medizin, Angehörige

9.2.7 Informationen

Das unvorbereitete Erleben von schweren Krisen schafft Unsicherheit und Angst.
Auch wenn ausführliche patientenzentrierte Kommunikation geleistet wird, kön-
nen Gesprächsinhalte vergessen und auch verdrängt werden. Vorbereitete Informa-
tionsmaterialien stehen immer dann zur Seite, wenn es dem Leser möglich ist, sich
mit der betreffenden Thematik zu beschäftigen. Gleichzeitig können sie helfen,
Redundanz zu vermeiden und damit die Ressourcen des Behandlungsteams zu
schonen. Im Sinne eines FAQs (Frequently Asked Questions) können die grund-
legenden Dinge vorab geklärt werden, z. B. Besuchszeiten, Rooming-In, Aufent-
haltsräume, Ansprechpartner, Selbsthilfegruppen etc.

9.2.8 Privatsphäre

Sowohl der stationäre Aufenthalt als auch die ambulante palliative Pflege bringen
eine Verletzung der Privatsphäre mit sich, in der es oftmals nicht mehr möglich ist,
9 familieneigene Lebensweisen und Traditionen zu praktizieren, die einen stabili-
sierenden Effekt auf das Befinden der Familie ausüben.
Dabei kann die Privatsphäre schon durch geringe Änderungen im Stationsab-
lauf geschützt werden. Im üblichen Stationsablauf wird der Patient mehrfach durch
Blutentnahmen, Blutzucker- und Blutdruckmessung, ärztliche Visite, Pflegeuten-
silienbestückung und Zimmerreinigung gestört. Das Einführen fester Interven-
tionszeiten erlaubt es, die nötigen Interventionen zu bündeln und dazwischen
planbaren Raum für den Patienten zu schaffen. Bei längeren Aufenthalten schafft
das Einrichten des Zimmers mit Gegenständen der heimischen Wohnung Norma-
lität, die ein karges Krankenhauszimmer nicht bieten kann.
Die Anerkennung des Patienten und seines Familiensystems verlangt einen
Paradigmenwechsel, der im Widerspruch steht zu streng regulierten Besuchs-
zeiten und dem Ausgrenzen der Angehörigen während des Klinikaufenthalts ihres
Angehörigen. Wenn ein Mensch stirbt, stirbt ein ganzes Familiensystem. Patienten
in der Palliativmedizin werden daher immer im Gesamtkontext ihrer sozialen
Wirklichkeit betrachtet. Dies ist Teil der professionellen Haltung in der Palliativ-
medizin.
9.2 · Professionelle Familienzentrierte Medizin
207 9
Zusammenfassung
Jeder Mensch fühlt sich einem sozialen Netz, meist einem Familiensystem, zu-
gehörig, dass ihm das Erleben von Normalität und Sicherheit ermöglicht. Die
Beziehungen zum Familiensystem werden durch medizinische Behandlung
und Isolation im Krankenhaus gefährdet. Wenn ein Mensch stirbt, wirkt sich das
auf das gesamte Familiensystem aus. In der Palliativmedizin gilt es, neben dem
Patienten auch seine Angehörigen mit in die Behandlung einzubeziehen und
das Familiensystem zu schützen. Familienzentrierte Medizin verlangt vom Be-
handlungsteam Wissen über systemisches Denken, kommunikative Kompetenz
sowie eine wertschätzende und professionelle Haltung gegenüber dem Patien-
ten sowie seinen Angehörigen; letztlich Ressourcen, um familienzentrierte
Maßnahmen durchzuführen. Familienzentrierte Medizin umfasst alle Maßnah-
men, die das Familiensystem stärken oder stützen, insbesondere Trauerarbeit,
patientenzentrierte Kommunikation, umfassende Informationen und das Wah-
ren der Privatsphäre.

Literatur
[1] Wright LM, Nelson WW, Bell JM (1996) Beliefs. The heart of healing in families and illness.
Basic Books, New York
[2] Definition of Palliative care (2007) World Health Organisation, http://www.who.int/
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[3] Bateson G, Holl HG (2006) Ökologie des Geistes, Anthropologische, psychologische,
biologische und epistemologische Perspektiven. Suhrkamp, Frankfurt a. Main
[4] Wright LM, Levac AM (1992) The non-existence of non-compliant families. The influence
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[5] Wright LM, Leahey M (2005) Nurses and families. A guide to family assessment and inter-
vention. FA Davis, Philadelphia
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chure for relatives of patients dying in the ICU. N Engl J Med 356:469–478
[9] Fumagalli S, Boncinelli L, Lo Nostro A et al. (2006) Reduced cardiocirculatory complica-
tions with unrestrictive visiting policy in an intensive care unit. Results from a pilot, ran-
domized trial. Circulation 113(7):946–952
208 10
Spiritualität in der Medizin
– ein Widerspruch?
Gratz, Roser

10.1 Spirituelle Begleitung – eine ärztliche


Aufgabe? – 209

10.2 Was kennzeichnet Spiritual Care? – 211

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2_10, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
10.1 · Spirituelle Begleitung – eine ärztliche Aufgabe?
209 10
>>

Die WHO definiert Palliative Care sehr umfassend, indem sie die »Behandlung von
Schmerzen sowie anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller
Art« in einem Satz benennt und Palliativmedizin als eine Medizin beschreibt, die u. a.
»psychologische und spirituelle Aspekte der Betreuung« (WHO-Definition 2002)
integriert.

Auch die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin beschreibt Spiritualität wie folgt:

Spiritualität
Unter Spiritualität kann die innere Einstellung, der innere Geist wie auch das
persönliche Suchen nach Sinngebung eines Menschen verstanden werden, mit
dem er Erfahrungen des Lebens und insbesondere auch existenziellen Bedro-
hungen zu begegnen versucht [1].

Weil diese Aspekte in der Konfrontation mit einer unheilbaren Erkrankung von
zentraler Bedeutung sind, kann Spiritual Care aus der medizinischen Versorgung
nicht ausgeklammert werden.

10.1 Spirituelle Begleitung – eine ärztliche Aufgabe?

Üblicherweise verläuft die Integration von Spiritualität in die medizinische Versor-


gung über Seelsorge, Krankensalbung oder ein Abschiedsritual. Sie kann darauf
allein aber nicht reduziert werden.

10.1.1 Positionierung von Sinn und Trauer


in der medizinischen Behandlung

Eine schwere Erkrankung, die lebensverkürzend ist, provoziert Fragen, die sich
dem Patienten stellen und die nicht einfach ausgeblendet werden können. Diese
Widerfahrnisse (z. B. »Warum gerade ich?«) überschreiten den Horizont des Lebens
und werfen Sinnfragen auf: z.B. nach dem Sinn der Krankheit, nach dem Sinn des
eigenen Lebens und nach der Sinnhaftigkeit von Behandlungen.
Krankheit verlangt Abschiede von nicht mehr Erlebbarem in der Zukunft und
nicht mehr Korrigierbarem aus der Vergangenheit. Diese als antizipatorisch be-
zeichnete Trauer, die bereits vor dem Tod von Angehörigen und Patienten erlebt
wird, spielt im Krankheitsverlauf eine wichtige Rolle.
210 Kapitel 10 · Spiritualität in der Medizin – ein Widerspruch?

Die religiöse Sprache kennt die Unterscheidung zwischen Heil und Heilung. In
der palliativen Phase ist Heilung im Sinne einer körperlichen Genesung nicht das
behandlungsleitende Ziel, während Heil im spirituellen Sinn an Bedeutung ge-
winnt, z. B. als intrapersonale und interpersonale Prozesse von Schuld und Versöh-
nung mit sich, also der eigenen Biographie, mit anderen und mit unerfüllten und
unerfüllbaren Lebenszielen [2]. Das, was dem Menschen bislang wichtig war und
Sinn und Halt gegeben hat, kommt auf den Prüfstand:

»Gerade bei schwerer Erkrankung und in der Nähe des Todes tritt die Spiritualität
der Betroffenen aus den Alltagshaltungen heraus. Sie ist dann mehr als nur spiritu-
eller Hintergrund. Es werden die langfristigen Lebensziele und Grundüberzeu-
gungen wach und es wird deutlich, was dem Menschen zutiefst wichtig ist [3].«

! Abschied und Sinnfindung ereignen sich nicht nur vor und nach, son-
dern gerade während einer medizinischen (kurativen oder palliativen)
Behandlung.

10.1.2 Zuordnung von spirituellen Fragen


10 im interprofessionellen Team

Aber wessen Aufgabe ist es, Menschen in diesem Stadium einer Erkrankung zu
begleiten? In erster Linie begegnen dem kranken Menschen Ärzte, Pflegende und
Mitarbeiter der verschiedenen Professionen aus der psychosozialen Berufsgruppe,
ehrenamtlich und hauptamtlich. Zu ihnen bauen kranke Menschen eine Beziehung
auf und entwickeln in unterschiedlichem Grad eine Vertrauensbasis. Vertrauen ist
eine wichtige Grundlage der spirituellen Begleitung. Eine Untersuchung hat ge-
zeigt: »Die Mehrheit der Patienten wünscht, dass sich der behandelnde Arzt für ihre
spirituelle Ausrichtung interessiert.« [4] Damit geben schwerkranke Menschen
ihren Ärzten einen klaren Auftrag. Ebenso konnte gezeigt werden, dass es »Krebs-
patienten in der Regel sehr schwer gefallen ist, über beinahe schon tabuisierte
Themen wie Glaubensüberzeugungen und Hoffnungen zu sprechen, aber dass die
Gespräche, wenn das Vertrauen einmal aufgebaut war, eine befreiende Qualität
hatten« [5].

! Dies ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass es zu einem Gespräch über
spirituelle Bedürfnisse in der medizinischen Versorgung häufig der
Initiative von Ärzten bedarf. Spirituelle Begleitung, die Fähigkeit, den
Bedarf zu erkennen und den Mut, den Zweifeln gezielt Raum zu geben,
gehen also zunächst einmal alle Berufsgruppen an, auch und gerade
die Mitarbeitenden der medizinischen Profession!
10.2 · Was kennzeichnet Spiritual Care?
211 10
Der Perspektivenwechsel gelingt, wenn der Tod nicht als das zu bekämpfende Ziel
fokussiert wird, sondern eine Rahmenbedingung darstellt [6], in die das gesamte
Handeln eingebettet ist. Dabei geht es nicht unmittelbar um Intervention, sondern
vielmehr darum, »die spirituelle Not zusammen mit der realen Not zu sehen und
sich darauf zu konzentrieren. ... Es ist entscheidend, ob sich die jeweilige Profession
über den eigenen spezifischen Bereich hinaus einen Blick, eine Sensibilität dafür
bewahrt hat, den ganzen Menschen mit all seinen Dimensionen zu sehen, um dann
erahnen zu können, wo dessen ›Seele‹, dessen spirituelle Kraftquelle liegt«.[1]
! Spiritual Care hat es in einer multikulturellen Gesellschaft nicht mehr
nur mit dem entweder »religiösen Menschen« zu tun, der einer Religi-
onsgemeinschaft angehört und von dieser betreut wird oder mit dem
vermeintlich »nicht religiösen Menschen«, dem leichtfertig unterstellt
werden kann, dass er keine seelsorgliche Begleitung braucht. Vielmehr
geht es in der medizinischen Versorgung um Menschen, die jeweils auf
ihre Weise spirituell sind und sich angesichts einer bedrohlichen Le-
benssituation mit Sinn-, Glaubens- und Wertfragen auseinandersetzen.
Für Spiritual Care gilt der gleiche Dreischritt, den die WHO-Definition von Palli-
ative Care für alle Formen der Begleitung vorsieht: Anamnese – Indikation – Inter-
vention (7 WHO-Definition 2002).

10.2 Was kennzeichnet Spiritual Care?


10.2.1 Grundlegung der spirituellen Begleitung
Palliative Care ist grundsätzlich eine patientenzentrierte Versorgung. Diese erfor-
dert ein offenes Verständnis des Spiritualitätsbegriffes. Diese Offenheit ist Chance
und Begrenzung zugleich: Es besteht die Chance, mit einem individuellen Blick der
Persönlichkeit Raum zu geben. Dies kann eine spirituelle Notsituation sein, die sich
als kompletter Orientierungsverlust (»Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie es weiter-
gehen soll«) oder Verzweiflung äußern kann (»Ich kann nicht mehr beten«). Es kann
sich aber auch um eine Ressource handeln, die in der Biografie des Patienten angelegt
ist und auf die der Patient in der Krankheitsbewältigung zurückgreifen kann (»Wenn
es mir früher schlecht ging, habe ich in der Natur oft zur Ruhe gefunden«).
! Spiritualität im Palliativkontext ist diesem Verständnis nach »genau –
und ausschließlich – das, was der Patient dafür hält« [1]. An dieser Stelle
verknüpfen sich medizinische Versorgung und spirituelle Begleitung
und verfolgen, zeitgleich und am gleichen Menschen, eine gemeinsame
Linie, denn auch Schmerz ist das, was der Patient als solchen in der kon-
kreten Situation benennt.
212 Kapitel 10 · Spiritualität in der Medizin – ein Widerspruch?

Die Begrenzung – und hier unterscheidet sich Spiritual Care von Palliativmedizin
– besteht darin, dass in der ersten Begegnung nicht unmittelbar erkennbar ist, was
das spirituelle Leiden ausmacht. Die Behandlung von physischen Schmerzen kann
kurzfristig nach Leitlinien und Erfahrungswerten unverzüglich und verhältnis-
mäßig regelhaft erfolgen. Die Erkundung eines spirituellen Schmerzes bedarf in-
tensiver und mitunter zeitaufwendiger Gespräche. Sie ist nur schwer in Leitlinien
zu fassen. Gerade deshalb bedarf es einer Wahrnehmungskompetenz aller in der
Versorgung beteiligten Personen: spirituelle Begleitung des Patienten ist damit
auch Aufgabe der behandelnden Ärzte.
Spiritual Care als Teil von Palliative Care geht in einem personenbezogenen
Ansatz von der Annahme aus, dass den Angehörigen mit ihren Sorgen und Ängs-
ten die gleiche Haltung und Aufmerksamkeit zukommt wie dem kranken Men-
schen selbst. Zudem gilt der personenzentrierte Ansatz auch für die Mitarbeiter des
Betreuungsteams, ihren spirituellen Ressourcen und Nöten angesichts beständiger
Konfrontation mit Krankheit und Leid.

10.2.2 Diversität am Lebensende


10 Das Sterben eines Menschen stellt alle Mitarbeitenden vor eine uneinholbare und
unüberwindbare Grenze. Einen Menschen im Sterben zu versorgen und zu beglei-
ten heißt, sich einer Situation auszusetzen, die sich dem eigenen Erfahrungshori-
zont entzieht bzw. diesen prinzipiell übersteigt. Begleitung am Lebensende ist mög-
lich unter Anerkennung der Verschiedenheit der Betroffenheit des Einzelnen
durch die Situation des Sterbens. Die Betroffenheit des Patienten unterscheidet sich
von der des Angehörigen wie auch des Mitarbeiters im Team. Deshalb bedarf es
eines sorgenden und sorgsamen Blicks nicht nur auf die Bedürfnisse des Kranken
und Angehörigen, sondern auch auf die eigenen Bedürfnisse und Erfahrungen.
Sich diese Erfahrungen in Erinnerung zu rufen, eigene Ressourcen und Bewäl-
tigungsformen, aber auch Unerledigtes zu (er)kennen, sich der eigenen Spiritualität
bewusst zu werden, sind ein erster unerlässlicher Schritt, um für die Einzigartigkeit
des Anderen in der Begegnung (bewusst) Raum zu schaffen. Wenn ein Mitarbeiter
weiß, wo er selber steht, was ihn im Leben trägt und hält, wird es möglich, dem
anderen in seiner Krise, in seiner Lebenswende zu begegnen und Projektionen zu
vermeiden.

! Sterbebegleitung setzt die Fähigkeit zu Reflexion der eigenen Haltung


gegenüber einem sterbenden Menschen, seinen Angehörigen und an-
deren Betreuenden voraus.
10.2 · Was kennzeichnet Spiritual Care?
213 10
10.2.3 Ein praktischer Ansatz

Die personenbezogene Sichtweise wird ergänzt durch eine genuin kommunikative


Perspektive und mündet im Kontext von Spiritual Care in konkrete Handlungs-
möglichkeiten, die es Ärzten erleichtern, mit Patienten über spirituelle Fragen zu
kommunizieren. Ein Beispiel: Das halbstrukturierte Interview SPIR ist eine er-
probte, leicht zugängliche und wirkungsvolle Methode, mit spirituellen Fragen,
Nöten und Ressourcen schwer kranker Menschen ihren Bedürfnissen entspre-
chend umzugehen.
Im Rahmen des Arzt-Patienten-Gespräches, etwa einer ärztlichen Anamnese,
können die im Folgenden (. Tab. 10.1) formulierten 4 offenen Fragen gestellt
werden:

. Tab. 10.1 Klinisches Interview »SPIR« zur Erfassung spiritueller Überzeugungen


und Bedürfnisse von Patienten

Facetten der Spiritualität Fragen

Spirituelle und Glaubensüberzeu- Würden Sie sich im weitesten Sinne als


gungen gläubigen (religiösen/spirituellen) Men-
schen betrachten?
Platz und Einfluss, den diese Über- Sind die Überzeugungen, von denen Sie
zeugungen im Leben des Patienten gesprochen haben, wichtig für Ihr Leben
einnehmen und Ihre gegenwärtige Situation?
Integration in eine spirituelle, Gehören Sie zu einer spirituellen/religiösen
religiöse, kirchliche Gemeinschaft/ Gemeinschaft (Gemeinde, Kirche, spirituelle
Gruppe Gruppe)?
Rolle des Arztes Wie soll ich als Arzt/Seelsorger/Kranken-
schwester usw. mit diesen Fragen umgehen?

10.2.4 Ärztliche und seelsorgerliche Rolle

Für den ärztlichen Behandlungsauftrag ist also ein Rollenbewusstsein wichtig. Die
ärztliche Rolle ist klar und doch nicht klar: bin ich in der konkreten Situation ge-
fragt als Mediziner oder als spiritueller Begleiter? Als Mediziner liegt der Auftrag
(mit Blick auf die Krankheit) in einer Aktivität, z. B. Schmerztherapie, Symptom-
kontrolle. Die Rolle des Begleiters zeichnet sich (mit Blick über die Krankheit hi-
naus) zunächst aus durch Passivität, denn Wahrnehmen und Verstehen gehen
allem Tun, aller Aktivität (z. B. Beratung, Klärung und Begleitung) voraus.
214 Kapitel 10 · Spiritualität in der Medizin – ein Widerspruch?

Spirituelle Begleitung durch alle Mitarbeitenden ist ein wichtiger Bestandteil in


der medizinischen Versorgung, für die es Grundkompetenzen braucht. Deshalb ist
spirituelle Begleitung nicht nur ein Angebot an Sakramenten und Ritualen durch
Seelsorger, sie mündet vielmehr darin und in anderen (Gesprächs-)Angeboten, für
die es eine theologische Qualifizierung braucht. Darüber hinaus muss Seelsorge in
dem beschriebenen Kontext von spiritueller Begleitung unter multikulturellen Vo-
raussetzungen eine neue Ausrichtung und Positionierung erfahren.

Zusammenfassung
4 Abschied und Sinnfindung ereignen sich nicht nur vor und nach, sondern
gerade während einer medizinischen (kurativen oder palliativen) Behand-
lung.
4 Spiritual Care hat ihren Platz in der palliativmedizinischen Versorgung.
4 Spiritual Care hat den Sinn einer Diversität am Lebensende in sich auf-
zunehmen.

Literatur
[1] Spirituelle Begleitung in der Palliativversorgung. Konzept des Arbeitskreises Spirituelle
10 Begleitung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, 10. Mai 2007, http://www.
dgpalliativmedizin.de/arbeitskreise/ak-spirituelle-begleitung.html (Januar 2011)
[2] Frick E (2011) Spiritual Care in der Humanmedizin: Profilierung und Vernetzung: In: Klein
C, Berth H, Balck F (Hrsg.) Gesundheit – Religion – Spiritualität. Konzepte, Befunde und
Erklärungsansätze. Juventa, Weinheim
[3] Weiher E (2009) Das Geheimnis des Lebens berühren. Spiritualität bei Krankheit, Ster-
ben, Tod. Kohlhammer, Stuttgart
[4] Frick E, Riedner C, Fegg M, Hauf S, Borasio GD (2005) A clinical interview assessing cancer
patients’ spiritual needs and preferences. Eur J Cancer Care 15: 238-243
[5] Büssing A, Ostermann T, Glöckler M, Matthiessen PF (2006) Spiritualität, Krankheit und
Heilung – Bedeutung und Ausdrucksformen der Spiritualität in der Medizin. Verlag für
Akademische Schriften, Waldkirchen
[6] Borasio GD, Roser T (2008) Der Tod als Rahmenbedingung. Spiritual Care in der Palliativ-
medizin. Praktische Theologie 43(1):43-51
215 11
Humor in der
Palliativmedizin
Hirsmüller, Schröer

11.1 Einführung – 216

11.2 Funktionen des Humors – 216

11.3 Humor am Lebensende – 218

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2_11, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
216 Kapitel 11 · Humor in der Palliativmedizinzin

>>

»Der Mensch hat gegenüber den Widrigkeiten des Lebens drei Dinge zum Schutz: die
Hoffnung, den Schlaf und das Lachen.« Immanuel Kant

11.1 Einführung

Auf den ersten Blick scheinen sich Humor und das Lebensende zu widersprechen.
Beim genaueren Hinsehen zeigen sich jedoch zahlreiche Schnittstellen und thera-
peutische Einsatzmöglichkeiten.

Humor
Humor ist ein komplexes Konstrukt des »Komischen« und zeigt viele Facetten,
daher gibt es zahlreiche Definitionen und Zitate.
»Humor wird sowohl als kognitive Leistung, die mit einer emotionalen Re-
aktion verbunden ist, wie auch als allgegenwärtiges soziales Phänomen aufge-
fasst, das dem Menschen in seiner Entwicklung von der frühen Kindheit bis ins
hohe Alter begleitet.« [1]

11 Jeder Mensch hat einen individuellen Humor, der von persönlichen Erfahrungen,
seinem sozialen und kulturellen Umfeld geformt wurde sowie auch ein indivi-
duelles Lachen. Humor besteht nicht nur im Lachen über Witziges, sondern ist eine
innere Haltung, den Widrigkeiten und Belastungen im Leben mit heiterer Gelas-
senheit zu begegnen und sich so den Umgang mit dem Unvermeidlichen (wie
Sterben und Tod) zu erleichtern. So fragte ein Patient die Palliativschwester: »Ken-
nen Sie den Unterschied zwischen einem Tumor und einer Krankenschwester?«
»Nein? Ein Tumor kann auch gutartig sein!«
Zu unterscheiden sind daher der »Sinn für Humor« als Persönlichkeitseigen-
schaft, das »Lachen« als menschliche Grundausdrucksform und der »Humor« (lat.
(h)umor = Feuchtigkeit, Saft) als Einstellung/Haltung zum Leben allgemein.

11.2 Funktionen des Humors

Bezogen auf den Umgang mit Krankheit lassen sich unterschiedliche Funktionen
des Humors sowohl für die Betroffenen als auch für die professionellen Begleiter
und Behandler beschreiben:
11.2 · Funktionen des Humors
217 11
11.2.1 Funktionen und Auswirkungen in körperlicher,
psychischer und sozialer Hinsicht

In den 80er Jahren des 20sten Jahrhunderts wurde eine neue Forschungsrichtung,
die »Gelatologie« (griechisch, gelos = Lachen), unter anderem von dem amerika-
nischen Wissenschaftsjournalisten Norman Cousins angestoßen. Er beschrieb fol-
gende körperliche Veränderungen:
4 Herabsetzung des Schmerzempfindens (durch Ausschüttung von β-Endor-
phinen) [2], [3]
4 Aktivierung des kardio-vaskuläres Systems (Anregung des Kreislaufs, aber
auch Stabilisierung des Blutdrucks)
4 Abbau von Cortisol und Adrenalin (Stresshormone)
4 Abnahme des Muskeltonus
4 Stärkung der Abwehrkräfte durch die vermehrte Bildung von T-Zellen [4]
4 Befreiung der oberen Atemwege, Verbesserung der Atemkapazität
4 Erhöhung der peripheren Sauerstoffsättigung des Blutes

Neben den körperlichen Auswirkungen wurden in Studien folgende psychische


Veränderungen gefunden:
4 Hervorrufen »positiver Emotionen« (Freude, Erheiterung, Spaß)
4 Ablenkung (Distanzierung von unangenehmen, angstbesetzten Situationen)
4 Förderung innerer Gelassenheit und optimistischer Einstellung zum Leben
4 Entspannung sowie Entlastung von Sorgen, Stress und anderen Belastungen
4 Anregung der Phantasie und Steigerung des kreativen Potentials
4 Aufbau einer Copingstrategie zum Umgang mit der Erkrankung
4 Förderung des Selbstwertgefühls und der Selbstsicherheit
4 Verbesserung der eigenen Psychohygiene (Ventil für Frustrationen, Neid,
Wut …), besonders auch für das Team [5]

In einem Review wurde die Frage behandelt: »Ist Lachen die beste Medizin?« Die
Kernaussage der Ergebnisse: Die Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung
und die notwendigen Therapien sind für Patienten sehr belastend und oft be-
schwerlich. In diesen Situationen kann Humor helfen, das Unabwendbare besser
zu ertragen [6].

ä Ein Patient wird gebettet. Die Schwester begleitet ihre Handgriffe mit erklären-
den Worten: »So jetzt schütteln wir eben noch die Kissen … und unter die Füße
legen wir die Wärmflasche. So und jetzt ist alles wieder in Ordnung.« Der Pa-
tient, der scheinbar teilnahmslos im Bett gelegen hatte, führt die Kommentare
der Schwester im gleichen bemutternden Tonfall fort und sagt: »Und dann
bringen wir ihm noch einen Sarg.«
218 Kapitel 11 · Humor in der Palliativmedizinzin

Darüber hinaus kann der Patient im Humor der Ärzte, Pflegenden usw. die mensch-
liche Seite des Behandlungsteams kennen lernen. Humor hilft so beiden Seiten
(Patient und Arzt) beim Coping. Wenn Patienten humorvolle Bemerkungen ma-
chen, um ein schwieriges Gespräch mit Ärzten aufzulockern oder Mitglieder des
Behandlungsteams sich damit gegenseitig durch den Tag helfen, sind Humor und
Lachen hierbei nachweislich hilfreiche Werkzeuge. Die Isolation, die Patienten und
Behandlungsteam manchmal spüren, kann durch Heiterkeit aufgelockert werden.
Humor ändert nicht die Situation an sich, aber die Art, wie wir sie wahrnehmen
und damit umgehen. Der amerikanische Arzt P. Weingold bringt es auf den Punkt:
»The tragedy has happend to us, but it does not define us.« [7]

Humor erleichtert die Betonung der sozialen Aspekte zwischen Men-


schen und in Gruppen durch:
4 Unterstützung beim Aufbau von sozialen Beziehungen (z. B. wenn Ärzte
und Patienten sehr rasch über »intime« Fakten sprechen müssen und ge-
hemmt sind)
4 Förderung von Interaktion, Kommunikation und Zusammengehörigkeits-
gefühl sowie
4 von Verständnis, Vertrauen, emotionaler Nähe
4 Entschärfung von Konflikten
11 4 (im besten Falle) Verhinderung von Sprachlosigkeit

Besonders für die Mitglieder eines Palliativ Care-Teams gehören diese Funktionen
zu den wichtigsten Kernressourcen. In einer bundesweiten Befragung von Ärzten
und Pflegenden auf Palliativstationen zum Thema »Wie viel Tod verträgt das
Team?« wurde der Humor direkt nach der Unterstützung des Einzelnen durch das
Team selbst, als zweitwichtigster Schutzfaktor gegen Burn-out genannt [5].

11.3 Humor am Lebensende

Selbst im Bewusstsein der eigenen Endlichkeit, des eigenen Sterbens ist von Zeit zu
Zeit – auch bei den Behandlern – eine gewisse Distanz zum Tod erforderlich. Vik-
tor Frankl, Begründer der Logotherapie und KZ-Überlebender schreibt in seinem
Buch »Ärztliche Seelsorge«: »Nichts ist mehr geeignet, Distanz zu schaffen, als der
Humor.« [8] Genau auf diese Haltung kommt es bei der Anwendung von Humor
am Lebensende an. Grundvoraussetzungen für heitere Bemerkungen, Schmunzeln
und miteinander Lachen sind Einfühlungsvermögen, Feinfühligkeit, Respekt, Zu-
neigung sowie Verantwortungsbewusstsein.
11.3 · Humor am Lebensende
219 11
Trotz ihrer Angst vor dem Tod machen Patienten immer wieder humorvolle
Bemerkungen über Sterben, Tod, Beerdigung oder ähnliches, erzählen sogar Witze
darüber. Über diesen »Umweg« testen sie sowohl das Vorhandensein einer humor-
vollen Einstellung beim Gegenüber, als auch dessen Bereitschaft, sich auf diese
Tabuthemen einzulassen. So fragte eine Patientin die Ärztin der Palliativstation:
»Wissen Sie, wo ich meine Asche verstreuen lassen möchte?« Als die Ärztin dies
verneint, fährt sie fort: »Auf dem Parkplatz von Aldi!« Ganz erstaunt fragt die
Ärztin: »Aber, wieso das denn?« »Na, dann kommen meine Kinder wenigstens ab
und zu bei mir vorbei!« Finden Patienten beim Gegenüber für diese Tabuthemen
»offene Ohren«, gewinnen sie emotionale Unterstützung in ihrer Auseinander-
setzung.

11.3.1 Umsetzungsmöglichkeiten

Häufiger zeigen Pflegende, Therapeuten, ehrenamtliche Hospizmitarbeiter und


andere in der Versorgung von Schwerkranken und im Umgang mit Angehörigen
eine Scheu davor, humorvoll zu sein. Doch der einfühlsame, der Situation ange-
passte, feinsinnige, leise Humor kann sehr wohl eine äußerst wertvolle therapeu-
tische Unterstützung sein. In einem Pilotprojekt in Ravensburg wurde ein Konzept
zur Integration von Humortherapie in die Palliativmedizin entwickelt. Alle Mit-
arbeiter der Palliativstation wurden u. a. in Humortechniken geschult, ein Humor-
koffer wurde zusammengestellt, ein Humorfragebogen ausgewertet und ein Humor-
tag mit 2 Palliativclowns veranstaltet. Das Ergebnis waren eine verbesserte Arbeits-
atmosphäre auf den beteiligten Stationen und eine Zunahme des »Teamgeistes«.
Auch die Patienten gaben überwiegend positive Rückmeldungen. Sie empfanden
die Humortherapie hilfreich für die Bewältigung der Krankheitssituation und sa-
hen darin einen willkommenen Anlass, den Alltag für eine Zeit zu vergessen. Ihre
erhobenen Schmerzwerte auf der VAS waren nach Humorinterventionen niedriger.
Insgesamt stellten die Autoren fest, dass der Einsatz von Humor gut erlernbar war
und auch nach Abschluss der Projektphase von den beteiligten Mitarbeitern wei-
tergeführt wurde [9].
220 Kapitel 11 · Humor in der Palliativmedizinzin

Der regelmäßige Einsatz von Humor als »Therapeutikum« kann


auf Palliativstationen gefördert werden z. B. durch:
4 Humorfortbildungen für das Team
4 »Humorkoffer« (Scherzartikel, rote Nasen, Quietschgegenstände …)
4 Palliativclowns
4 lustige Filme, Bücher
4 Anlegen eines Humortagebuchs auf der Station (Sammeln lustiger
Begebenheiten und Aussprüche …)

Der Einsatz von Humor in der Palliativmedizin will (wie andere Fertigkeiten) ge-
lernt sein, jeder kann seine Humorkompetenz verbessern.

Zusammenfassung
Gebrauchsanweisung
4 Bei unachtsamen Gebrauch kann Humor schaden und das Vertrauen zwi-
schen Arzt und Patient gefährden.
4 Humor ist nicht das, was der Scherzende sagt oder tut, sondern das, was
sein Gegenüber davon versteht.
4 Manche Menschen haben große Angst davor, ausgelacht zu werden und
11 fürchten sich daher vor jeder Art von Humor.
4 Witze zu erzählen ist nicht gleich Humor.
4 Über Handicaps, Behinderungen, Einschränkungen, Entstellungen usw.
dürfen nur die Betroffenen selbst Witze machen.
4 Es gilt, Grenzen zu beachten (gesellschaftliche/kulturelle und individuelle),
da der Übergang von lustig zu verletzend fließend ist und vom Humorver-
ständnis der Beteiligten abhängt.
4 Humor darf nie aufgedrängt werden.
4 Zynismus und Lästern von Mitarbeitern sind kein Ausdruck von Humor,
sondern können Anzeichen von Überlastung sein.

Ziel muss daher immer sein, dass Patient und Arzt/Pflegekraft gemeinsam
lachen.
11.3 · Humor am Lebensende
221 11
Literatur
[1] Wicki W (2000) Humor und Entwicklung. Eine kritische Übersicht. Z Entw Päd Psych
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[8] Frankl VE (2005) Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse.
Zsolnay, Wien
[9] Keßler A, Iser K, Dreher U, Mueller M (2007) Humor in der Palliativmedizin. Innovatives
Konzept der Pflege und Behandlung schwerkranker Patienten. Poster beim 7. Kongress
der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Wiesbaden
223 IV

Ethik, Recht, Inter-


professionalität
Kapitel 12 Ethik und Recht – 226
Schnell, Kammeier, Schulz

Kapitel 13 Interprofessionalität – 249


Schüßler, Wasner, Dunger, Schnell

Kapitel 14 Palliativmedizin im gesellschaftlichen


System – 271
Schneider, Maier, Huckenbeck
»Ich war ja immer ein Haudegen, ne, aber vor der Entlassung und wegen zuhause
gehen und so, da ging mir die Pumpe. Ich pack das nicht mehr!«
Aus einem Gespräch mit einem Palliativpatienten

P: Hallo, was bist du denn hier? Wo bist du denn gelandet? Da hab ich zu der Ärztin
gesagt, das hat mich wirklich so dermaßen runter gezogen, dass ich fix und fertig war.
Ich merkte, ich komme aus dem Loch nicht raus. Das muss raus, das muss ausgespro-
chen werden.

I: Wie konnten Sie das machen?

P: Da habe ich die Frau Doktor angesprochen. Hab ich da gesagt, ich möchte ein
Gespräch mit ihr haben. Hab ich die Situation ihr erläutert und da bin ich. Gott sei
Dank hat sie das eingefädelt, dass ich dann aus dem Zimmer raus komme, da kam
ich hier her. Und da ging es mir sofort automatisch gesundheitlich viel besser, ne? Da
war jemand da, der mir zugehört hat, der auf mich gehört hat. Der da meinen Willen
auch ernst genommen hat, ne? Da hab ich gesagt das geht, das kann doch nicht sein,
sage ich, du gehst da kaputt, ne? Also ich fühlte mich, als würde mich einer im Keller
eingesperrt haben und da kommst du nicht mehr raus (weint). Das ist so wichtig, ne,
wenn Du einfach so ein Gefühl hast, das der zuhört Dir.
226 12
Ethik und Recht
12.1 Ethik am Lebensende – 227
Schnell
12.2 Recht am Lebensende – 234
Kammeier
12.3 Instrument zur Evaluation des Patientenwillens:
Witten Will Pathway 2.0 – 242
Schnell/Schulz

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2_12, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
12.1 · Ethik am Lebensende
227 12
12.1 Ethik am Lebensende

Schnell
>>

In diesem Kapitel soll das Lebensende im Licht des Ethischen betrachtet werden: die
wertschätzende Haltung gegenüber dem Patienten, die zentralen ethischen Prinzipien
(Autonomie, Fürsorge, Gerechtigkeit), die öffentliche Beachtung der Themen Tod und
Sterben und die Bedeutung der Forschungsethik werden dabei zur Sprache kommen.

12.1.1 Einleitung

Heißt es Ethik oder Moral? Beide Begriffe, das griechische Wort ethos und das la-
teinische Wort mos/mores (Gebrauch, Sitte, Gewohnheit), gehen auf die Antike
zurück. Als die Römer die Weltherrschaft von den Griechen übernahmen, demons-
trierten sie ihre Macht dadurch, dass sie alle Bezeichnungen, die bis dahin grie-
chisch waren, durch lateinische ersetzen. Die Welt war damals identisch mit dem
Mittelmeerraum, also kleiner als heute.
Beide Begriffe haben sich allerdings bis in die Gegenwart gehalten. Sie werden
zum Teil identisch, zum Teil unterschiedlich definiert [1]. Wichtig für eine Ethik
(oder Moral) am Lebensende ist aber nicht so sehr der Begriff, sondern die Sache.
Es gilt, einem Menschen, der im Zeichen seiner Endlichkeit lebt, Achtung und
Schutz zu gewähren!
Im Zentrum sehr vieler Ethiken (oder Moraltheorien) steht allerdings der ge-
sunde Mensch, der sich auf der Höhe seiner kognitiven und praktischen Leis-
tungsfähigkeit befindet. Diese Engführung trägt dazu bei, dass alte Menschen,
Menschen mit Behinderungen und auch Menschen am Lebensende bisweilen als
weniger achtenswert angesehen werden. Gelegentlich wird sogar unterstellt, dass
kranke Menschen und Menschen, die ihr Lebensende vor Augen haben, angeblich
von sich aus rasch sterben wollen.

»Die freiwillige Euthanasie findet nur dann statt, wenn nach bestem medizinischem
Wissen eine Person an einem unheilbaren und schmerzhaften oder äußerst quälen-
den Zustand leidet. Unter diesen Umständen kann man nicht sagen, die Entschei-
dung, rasch sterben zu wollen, sei irrational [2].«

Diese Einschätzung, die die Möglichkeit, dass Menschen, die an Schmerzen leiden,
nicht automatisch sterben wollen oder sterben müssten, sondern Schmerzmittel
erhalten könnten, nicht berücksichtigt, leistet der sog. Euthanasie Vorschub [3].
228 Kapitel 12 · Ethik und Recht

Gründe für das Auftreten von Euthanasie sind:


4 Patienten wünschen angeblich den eigenen Tod, um »erlöst« zu werden
4 sie wollen anderen nicht »zur Last zu fallen«

In Deutschland sind zudem zahlreiche Fälle von Patiententötungen bekannt, in


denen Angehörige der Heilberufe glaubten, Patienten aus sog. »Mitleid« zu einem
rascheren Tod zu verhelfen [4].
! Die Tötung von Patienten und die entwürdigende Behandlung von
Menschen am Lebensende entsprechen nicht dem ärztlichen und pfle-
gerischen Ethos!
Die Bundesärztekammer sagt zu Beginn ihrer Richtlinie Sterben in Würde. Grund-
sätze und Empfehlungen für Ärztinnen und Ärzte:

»Aufgabe des Arztes ist es, unter Beachtung des Selbstbestimmungsrechtes des
Patienten Leben zu erhalten, Gesundheit zu schützen und wieder herzustellen so-
wie Leiden zu lindern und Sterbenden bis zum Tod beizustehen. Die ärztliche Ver-
pflichtung zur Lebenserhaltung besteht daher nicht unter allen Umständen. So gibt
es Situationen, in denen sonst angemessene Diagnostik und Therapieverfahren
nicht mehr angezeigt und Begrenzungen geboten sein können. Dann tritt palliativ-
medizinische Versorgung in den Vordergrund.« [5]

Die Bundesärztekammer verpflichtet mit dieser Bestimmung einen Arzt dazu, Pa-
12 tienten am Lebensende nicht durch »Erlösungsphantasien« zu begleiten, sondern
mit Palliativmedizin zu versorgen.
Ausgehend von einer Kritik an Euthanasie und dubiosen Sterbehelfern steht im
Zentrum der Ethik am Lebensende eine wertschätzende Haltung gegenüber
einem Menschen, der seine Endlichkeit vor Augen hat. Durch die Wertschätzung
wird eine Beziehung zum Patienten hergestellt und damit die Möglichkeit eröffnet,
mit der Diversitätserfahrung am Lebensende umgehen zu können.
Die wertschätzende Haltung als solche ist Ausdruck einer bestimmten Einstel-
lung, die sich mit folgenden Worten beschreiben lässt:

»Die Beunruhigung um den Tod des Anderen ist stärker als die Sorge um sich.« [6]

Die Haltung ist noch keine ethische Handlung, sondern deren Grundlage. Auf der
Basis der wertschätzenden Haltung können konkrete Handlungen dann als ethisch
bezeichnet werden, wenn sie sich an mindestens 3 zentralen ethischen Prinzipien
orientieren: Autonomie, Fürsorge, Gerechtigkeit . Tab. 12.1 [7].
12.1 · Ethik am Lebensende
229 12

Zentrale ethische Prinzipien


Autonomie = den Willen des Patienten kennen und achten!
Fürsorge = professionell auf den Willen und die Bedürfnisse des Patienten ein-
gehen!
Gerechtigkeit = Ressourcen und Güter der Gesundheitsversorgung angemes-
sen zum Einsatz bringen!

ä Herr A., seit 5 Jahren Rentner, war sein Leben lang ein agiler und leistungsorien-
tierter Mann. Seit seiner Rente kümmert sich der ehemalige Kleinunternehmer
um seine Familie (Ehefrau, 3 Kinder, 3 Enkel). Er organisiert Reisen für seine An-
gehörigen und eine Gruppe von Freunden.
Bei einer Untersuchung wurde vor 6 Monaten ein inoperables Pankreas-
karzinom entdeckt. Seit einer Woche befindet sich Herr A. nun zum zweiten
Mal auf der Palliativstation. Er ist nach seiner zweiten Chemotherapie ge-
schwächt. Er kann in seinem Zimmer im Krankenhaus nur wenig Besuch emp-
fangen. Seine Aufmerksamkeitsphasen sind sehr begrenzt.
Dennoch äußert Herr A. den Wunsch, nach Hause zu wollen. Er möchte im
Kreis seiner Familie sein und insbesondere seine Enkelkind sehen, die mit ihren
Eltern in der Nachbarschaft leben.
Die Ehefrau von Herrn A. und die Ärzte sind skeptisch, ob Herr A. zuhause
optimal versorgt werden kann. Sie sprechen deshalb mit ihm.

Ein rechtsverbindliches Instrument, mit dem ein Patient wie Herr A. seinen Willen
in Fragen der Gesundheitsversorgung für den Fall erklären kann, dass er eines
Tages nicht mehr einwilligungsfähig sein sollte, ist die Patientenverfügung (§ 1901a

. Tab. 12.1 Ethische Prinzipien im Kontext des Fallbeispiels

Prinzip Handlungsleitende Frage Bezug zum Fallbeispiel

Autonomie Was will der Patient? Herr A. möchte nach Hause.


Fürsorge Wie kann ich dem Patien- Ehefrau und Ärzte überlegen, ob und
ten helfen? wie sie dem Wunsch von Herrn A. zur
Umsetzung verhelfen können.
Gerechtigkeit Welche Ressourcen sind Könnte ein ambulanter Palliativpfle-
für die Behandlung einzu- gedienst die Versorgung von Herrn A.
setzen notwendig? unterstützen?
230 Kapitel 12 · Ethik und Recht

BGB). Durch die Patientenverfügung wird die Autonomie und Selbstbestimmung


von Patienten gestärkt [8]. Patientenverfügungen sind verbindlich und müssen von
Ärzten beachtet werden!
! Die Beachtung von Autonomie, Fürsorge und Gerechtigkeit sowie die
professionelle Zuwendung von Ärzten und Behandlungsteam an die
Adresse von Patienten und auch Angehörigen sind unverzichtbar, aber
allein nicht ausreichend. Gesellschaft und Politik müssen den Prozess
der palliativmedizinischen Versorgung und einen Diskurs über den Tod
und das Sterben unterstützen!

12.1.2 Charta zur Betreuung schwerkranker und sterbender


Menschen in Deutschland

Ein Beispiel für die öffentliche Behandlung dieser Themen ist die Charta zur Be-
treuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland [9]. Es ist das
Ziel dieser von der Bundesärztekammer, der Deutschen Gesellschaft für Palliativ-
medizin und dem Deutschen Hospiz- und PalliativVerband initiierten Charta Tod,
Sterben und Lebensende einen angemessenen Platz im gesellschaftlichen Leben
und in der Politik zu verschaffen, so dass die damit zusammenhängenden Phäno-
mene wie Schmerz, Leid und Trauer nicht kollektiv verdrängt und die betroffenen
Personen am Lebensende nicht allein gelassen werden.
12 Zu den Forderungen der Charta zählen:
1. Jeder Mensch hat ein Recht auf ein Sterben unter würdigen Bedingungen. Zu
diesen Bedingungen zählen ambulante und stationäre hospizliche und pallia-
tive Versorgungsstrukturen und die Behandlung und Begleitung durch quali-
fizierte Personen . Tab. 12.2.
2. Die professionellen Versorgungsstrukturen berücksichtigen das soziale Umfeld
des Patienten und sind behutsam in dieses eingegliedert.
3. Bei der Begleitung am Lebensende darf es keine Diskriminierung nach sozi-
alem Status, Behinderung, Geschlecht, Alter, Religion, Herkunft oder Werthal-
tung geben.
4. Die Trauer Angehöriger ist zu achten und ernst zu nehmen.
5. Im Bereich der Palliativversorgung ist für einen Ausbau wissenschaftlicher
Forschung zu sorgen.
12.1 · Ethik am Lebensende
231 12

. Tab. 12.2 Versorgungselemente in der Palliative Care in Deutschland

Versorgungs- Grundlage Folgen für Patienten


element

Spezialisierte Gesetz vom 01.04.2007, § 37b SGB Rechtsanspruch auf ärzt-


ambulante V (Sozialgesetzbuch V) – Speziali- liche und pflegerische
Palliativversor- sierte ambulante Palliativversor- Leistungen (Schmerzthera-
gung (SAPV) gung: Versicherte mit einer nicht pie, Symptomkontrolle) in
heilbaren, fortschreitenden und der vertrauten häuslichen
weit fortgeschrittenen Erkrankung Umgebung.
bei einer zugleich begrenzten
Lebenserwartung, die eine beson-
ders aufwändige Versorgung
benötigen, haben Anspruch auf
spezialisierte ambulante Palliativ-
versorgung. Dabei sind die beson-
deren Belange von Kindern zu
berücksichtigen.
Palliativstation Palliativstationen sind stationäre Patienten mit einer fortge-
Einrichtungen der Palliativmedizin. schrittenen unheilbaren
Palliativstationen stehen im engen Krankheit wird eine Linde-
Zusammenhang mit der Hospiz- rung der Symptome ge-
bewegung. währt, so dass sie den Rest
ihrer Lebenszeit mit einer
möglichst guten Lebens-
qualität verbringen können.
Sie erhalten im Bedarfsfall
einen angemessenen Ort
zum Sterben.
Hospiz Hospiz (lat. hospitium - »Herber- Unheilbar kranke Patienten
ge«) ist eine Einrichtung der Ster- erhalten in ihrer letzten
bebegleitung. Ein Hospiz verfügt Lebensphase eine respekt-
meist über wenige Betten und ist volle, umfassende Beglei-
ähnlich wie ein kleines Pflegeheim tung, die auch Schmerzthe-
organisiert. rapie beinhaltet.
Palliativ- »Im Querschnittsbereich Palliativ- Palliativmedizin ist ein
medizin medizin ist ein Leistungsnachweis Pflichtfach für jeden Studie-
zu erbringen.« (§ 27 Approbations- renden der Humanmedizin
ordnung zur Regelung der ärztli- und damit für jeden zukünf-
chen Ausbildung für Ärzte, Stand tigen Arzt.
04.08.2009).
232 Kapitel 12 · Ethik und Recht

. Tab. 12.3 Wissenschaftliche Forschung im Bereich der Palliativersorgung

Forschungsbereich Beispiele

Grundlagenforschung/ Entwicklung von Medikamenten und Schmerzmitteln


Laborforschung (z. B. Antiemetika, Benzodiazepine) durch Experimente
Klinische Forschung Testung der Wirksamkeit von palliativmedizinischen
Behandlungen und Interventionen am Patienten
Versorgungsforschung Untersuchung der Rahmenbedingungen palliativmedizi-
nischer Versorgung

12.1.3 Wissenschaftliche Forschung im Bereich


der Palliativmedizin

Wissenschaftliche Forschung im Bereich der Palliativmedizin ist auf mehreren


Ebenen wichtig, um mehr über die Bedürfnisse von Menschen am Lebensende und
die Versorgungsmöglichkeiten erfahren zu können . Tab. 12.3.
Palliativpatienten zählen meist zu den sog. vulnerablen Personen, das heißt,
sie sind aufgrund ihrer Situation verletzt bzw. verletzlich und bedürfen daher wie-
derum Schutz. Diesen haben nicht nur Ärzte und Mitglieder des Behandlungs-
teams zu gewährleisten, die Patienten behandeln und begleiten, sondern auch For-
12 scher, die mit und an Probanden forschen.
Patienten werden zu Probanden, wenn sie an einer Forschung teilnehmen.
Während eine Behandlung einem Patienten direkt nützen und helfen soll, muss
dieses bei einer Forschung nicht der Fall sein . Tab. 12.4.

. Tab. 12.4 Patient oder Proband

Person Maßnahme Ergebnis

Ein Patient als Patient … … erhält vom Arzt ein Das Medikament muss dem
Medikament. individuellen Patienten nutzen.
Ein Patient nimmt als … an einem For- Die Teilnahme an dem For-
Proband … schungsprojekt teil. schungsprojekt darf dem
Probanden nicht schaden.
12.1 · Ethik am Lebensende
233 12
ä Frau B. ist Patientin auf der Palliativstation. Sie erhält täglich ein Medikament
(Opioid), das ihre Schmerzen lindert. Allerdings fördert das Medikament zu-
gleich Müdigkeit bei Frau B. und auch bei anderen Patienten, die das Medika-
ment einnehmen.
Das Team der Palliativstation beschließt daraufhin, eine kleine Studie
durchzuführen, um das Erleben von Müdigkeit bei Patienten zu erforschen.
Den durch die Studie gewonnen Einblick in das Müdigkeitserleben möchte das
Team nutzen, um zukünftig die pflegerischen und therapeutischen Angebote
darauf abzustellen.
Frau B. entschließt sich, an der Studie teilzunehmen. Sie soll als Probandin
einen Fragebogen ausfüllen und innerhalb einer Woche für 2 Interviews zur
Verfügung stehen.
Es ist möglich, dass die Erkenntnisse des Forschungsprojekts Frau B. nicht
direkt und persönlich zu Gute kommen, weil Forschung oft ein lang andauern-
der Prozess ist und Ergebnisse daher erst nachfolgenden Patienten helfen
könnten. In der aktuellen Situation ist es daher wichtig, dass die Teilnahme an
der Forschung Frau B. nicht schadet.

Forschung zielt auf Erkenntnisse. Damit die Durchführung von Forschung Proban-
den achtet, schützt und somit nicht schadet, muss sie sich an Prinzipien der For-
schungsethik orientieren und die Paragraphen des Rechts beachten [10].

Zusammenfassung
1. Ethik am Lebensende hat einem Patienten Achtung und Schutz entgegen-
zubringen. Sie ist eine Grundlage palliativmedizinischer Versorgung.
2. Ethik am Lebensende verhält sich kritisch zu Euthanasie und dubiosen
Sterbehelfern.
3. Die Grundlage einer Ethik am Lebensende ist eine wertschätzende Haltung
gegenüber dem Patienten. Diese Haltung kommt in der Orientierung an
den Prinzipien Autonomie, Fürsorge, Gerechtigkeit zur Geltung.
4. Die persönliche Zuwendung von Ärzten und Behandlungsteam an die
Adresse von Patienten und auch Angehörigen ist unverzichtbar, aber allein
nicht ausreichend. Gesellschaft und Politik müssen den Prozess der pallia-
tivmedizinischen Versorgung und einen Diskurs über den Tod und das
Sterben unterstützen!
5. Wissenschaftliche Forschung im Bereich der Palliativmedizin ist auf mehre-
ren Eben wichtig.
234 Kapitel 12 · Ethik und Recht

Literatur
[1] Schnell MW (2004) Art. Ethik, Art. Moral. in: Wörterbuch der phänomenologischen Be-
griffe. Meiner, Hamburg
[2] Singer P (1994) Praktische Ethik. Neuausgabe. Reclam, Stuttgart
[3] Simon E (2006) Euthanasie-Debatte an ausgewählten Beispielen im europäischen Ver-
gleich. In: Knipping C (Hrsg.) Lehrbuch Palliative Care. Huber, Bern
[4] Schüßler N, Schnell MW (2010) Patiententötung – Die Verantwortung liegt im Team. Die
Schwester/Der Pfleger 8:806-808
[5] Bundesärztekammer/ Kassenärztliche Bundesvereinigung (2009) Sterben in Würde.
Grundsätze und Empfehlungen für Ärztinnen und Ärzte, http://www.aerzteblatt.de/v4/
plus/down.asp?id=1955 (März 2011)
[6] Levinas E (1987) »Sterben für …«. In: Levinas E (1995) Zwischen uns. Versuche über das
Denken an den Anderen. Hanser, München
[7] Schnell MW (2008) Ethik als Schutzbereich. Lehrbuch für Medizin, Pflege und Philoso-
phie. Huber, Bern
[8] Schnell MW (2009) Patientenverfügung – Begleitung am Lebensende im Zeichen des
verfügten Patientenwillens. Lehrbuch für Palliative Care. Huber, Bern
[9] Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin e. V./Deutscher Hospiz- und PalliativVerband
e. V./Bundesärztekammer (2010): Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender
Menschen in Deutschland, http://www.charta-zur-betreuung-sterbender.de/ (März 2011)
[10] Schnell MW, Heinritz C (2006) Forschungsethik. Huber, Bern

12.2 Recht am Lebensende


12
Kammeier

>>

In zahlreichen Behandlungs- und Betreuungsfällen ist die genaue Kenntnis der Rechts-
positionen von Ärzten und Patienten entbehrlich. Angesichts zunehmender pharma-
kologischer und medizintechnischer Möglichkeiten, Krankheiten zu behandeln, min-
destens die beeinträchtigenden Symptome zu lindern, die Aufnahme von Nahrung
auch auf nicht-natürlichem Wege zu ermöglichen und durch all dies das Sterben hin-
auszuzögern, fürchten sich manche Menschen vor einer hiermit einhergehenden
qualvollen Verlängerung von Leiden und dem Nicht-Sterben-Können, − vielleicht bes-
ser: dem Nicht-Sterben-Dürfen. Sie möchten in schwerer Krankheit und/oder wenn es
auf den Tod zugeht, in passiver Haltung »der Natur ihren Lauf lassen« oder gar selbst
bestimmen, welche ärztlichen Maßnahmen sie noch in Anspruch nehmen wollen und
welche bzw. ab wann gar keine mehr.
12.2 · Recht am Lebensende
235 12
In einer solchen Situation begegnet der Arzt mit seiner Indikation und seinem Hilfe-
angebot nicht mehr einem »dankbaren Abnehmer«, dem er sich helfend (und inso-
weit auch sich selbst verwirklichend) zuwenden kann. Vielmehr sieht er sich einem
kritisch nachfragenden und skeptischen bis ablehnenden Patienten gegenüber, der
seinem Rat nicht folgen will und der ihn durch diese Missachtung kränkt. Und
dieser Aspekt der Lebenswirklichkeit wird von der Rechtsordnung unterstützt.

12.2.1 Übersicht

Es gibt keine »Vernunfthoheit« des Arztes! [11]. − Berufung und Beruf lassen den
Arzt zum Fachmann werden, der es versteht, sein Fachwissen zum Heilen und
Lindern von Krankheiten und Schmerzen einzusetzen. Ein Patient mag spüren,
ahnen oder ziemlich genau wissen, wie es um ihn steht. Aber er ist der medizinische
Laie und in Fragen der Behandlung dem wissenden Arzt unterlegen.
Aufgrund dieser Asymmetrie galt lange Zeit der Satz: salus aegroti suprema lex
– das Wohl des Patienten ist die oberste Leitlinie ärztlichen Handelns. Und wie das
»Wohl« zu verstehen und ihm gemäß zu handeln war, das wusste niemand besser
als der Arzt.
Aber diese Einstellung hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend
geändert [12]. Patienten »wissen« mehr über Krankheiten und fordern den Arzt
zum Dialog auf. Und sie lassen ihn wissen, ob und welche Behandlung sie akzep-
tieren und wann es – insbesondere wenn es erkennbar dem Lebensende zugeht –
genug ist. So gilt heute der Satz: voluntas aegroti suprema lex – der Wille des Pa-
tienten bestimmt das ärztliche Handeln.
Die Reduzierung dieser Asymmetrie, der Wandel vom Primat des Wohls zu
dem der vorrangigen Geltung des Willens des Patienten, hat viele Ursachen. Sie
reichen von negativen Berichten über unsachgemäße Ausübung ärztlichen Herr-
schaftswissens bis zur richterlichen und normativen Stärkungen der Persönlich-
keitsrechte des Einzelnen gegenüber »übermächtigen« – oder mindestens so er-
scheinenden – Institutionen, Professionen und Personen. Hinzu kommt die man-
chem Arzt unbequeme Anerkennung der Tatsache, dass sich sein Handeln in der
geltenden deutschen Rechtsordnung vollzieht und nicht über dem Recht steht.
Auch dann nicht, wenn er meint, seine Berufsethik, sein Gewissen oder sein
Arbeits- bzw. Dienstvertrag verpflichteten ihn, solange ihm Hilfe möglich ist, diese
auszuüben und keinesfalls auf eine (noch) indizierte Maßnahme zu verzichten. In
unserer Rechtsordnung begegnet ihm aber ein Patient, auch wenn er krank und/
oder ohne Bewusstsein ist oder sich bereits im Sterbeprozess befindet und vor ihm
liegt, rechtlich »auf Augenhöhe«! (7 BGH NJW 2010, 2963 [18]). Das hat bedeutende
Konsequenzen für das – hier im Vordergrund stehende – rechtliche Verhältnis
zwischen Arzt und Patient.
236 Kapitel 12 · Ethik und Recht

Wenn und solange ein volljähriger Patient einsichts- und einwilligungsfähig ist,
kann er dem Arzt seinen aktuellen Willen hinsichtlich Aufnahme, Fortführung,
Änderung oder Beendigung seiner Behandlung jederzeit mitteilen. Ein so geäußer-
ter aktueller Wille des Patienten ist für das Handeln des Arztes absolut verbindlich.
Insbesondere aufgrund eines Unfalls, infolge einer psychischen Erkrankung,
einer intellektuellen Behinderung, von fortschreitender Demenz oder einer länger
anhaltenden Sedierung kann eine Situation eintreten, in der ein volljähriger Patient
nicht (mehr) einsichts- und damit einwilligungsfähig und deswegen nicht mehr
in der Lage ist, seinen Willen aktuell zu äußern. Für einen solchen Fall stellt das
Recht dem Arzt andere rechtlich tragfähige Optionen bereit, die ihm ein legitimes
Handeln eröffnen.
In einer Unglücks- bzw. Notfallsituation handelt der Arzt nach dem, was in
dieser Situation lege artis (nach den Regeln/Gesetzen) indiziert ist. Die einschlä-
gigen Rechtsnormen finden sich in § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) bzw. in
§ 323c StGB (unterlassene Hilfeleistung).
Besteht bei einem einwilligungsunfähigen Patienten kein dringender ärztlicher
Handlungsbedarf, ist aber von einer länger anhaltenden Einwilligungsunfähig-
keit auszugehen, dann ist beim zuständigen Betreuungsgericht die Einsetzung
eines Betreuers als gesetzlicher Vertreter des Patienten anzuregen (§§ 1896 ff.
BGB). Die Zahl von Bewohnern in Alten- und Pflegeheimen, von Patienten in
psychiatrischen Einrichtungen, aber auch von solchen in somatischen Kranken-
häusern, bei denen ihre Erkrankung einen längeren Aufenthalt – unter Umständen
bis zum Lebensende – erforderlich macht und die unter Betreuung stehen, hat in
12 den letzten Jahren erheblich zugenommen. Von daher liegt es nahe, sich auch
künftig vermehrt auf solche Patienten, für die ein Betreuer bestellt ist, einzu-
stellen.
Benötigt der Arzt nach Anregung einer Betreuung und vor der rechtskräftigen
Bestellung eines Betreuers dringend eine Entscheidung über eine Behandlungs-
maßnahme, dann kann er eine Eilentscheidung beim Betreuungsgericht (§§ 1908i,
1846 BGB) beantragen.
Für einen vom Gericht bestellten Betreuer regelt das Gesetz im Blick auf einen
einwilligungsunfähigen Betreuten, bei dem es um eine Einwilligung in eine Unter-
suchung seines Gesundheitszustandes, eine Heilbehandlung oder in einen ärzt-
licher Eingriff geht, zwei Verhaltenskonstellationen:
4 Er findet eine schriftliche Patientenverfügung vor, deren Aussagen auf die
aktuelle Lebens- und Behandlungssituation des Patienten zutreffen. Wenn dies
der Fall ist, dann hat er dem in der Patientenverfügung niedergeschriebenen
Willen Ausdruck und Geltung zu verschaffen (§ 1901a I 1 u. 2 BGB).
Der Arzt ist von Rechts wegen verpflichtet, sich daran zu halten.
4 Liegt keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patien-
tenverfügung nicht auf die aktuelle Situation des Patienten zu, dann hat der
12.2 · Recht am Lebensende
237 12
Betreuer die Behandlungswünsche oder den mutmaßlichen Willen des Be-
treuten (Patienten) festzustellen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, ob
er in eine vom Arzt als indiziert vorgeschlagene Maßnahme einwilligt oder sie
untersagt (§ 1901a II BGB).
Auch an diese vom Betreuer getroffene Entscheidung ist der Arzt rechtlich ge-
bunden.

Vor einer Behandlungsentscheidung des Betreuers hat der Arzt bei beiden Alter-
nativen zunächst seine Diagnose im Hinblick auf die gegenwärtige Situation des
Patienten zu stellen, entsprechend indizierte Maßnahmen vorzuschlagen und diese
mit dem Betreuer zu erörtern (§ 1901b I BGB). Dabei ist der Wille des Patienten
in die letztlich vom Betreuer zu treffende Entscheidung einzubeziehen.
Danach ist die Aufgabenverteilung zwischen Betreuer und Arzt vom Gesetz
(§§ 1901a, 1901b BGB) eindeutig geregelt: Der Betreuer allein ermittelt den
Willen des Patienten. Der Arzt stellt die Indikation und bespricht diese mit dem
Betreuer. Der Betreuer entscheidet, ob und wie zu behandeln ist. Und der Arzt ist
an diese Betreuerentscheidung gebunden. (Insofern stimmt die Aussage in Kap. IV.
der Grundsätze der BÄK zur ärztlichen Sterbebegleitung von 2011, wonach der
Arzt den Patientenwillen festzustellen habe, nicht mit dem Wortlaut des Gesetzes
überein – und ist damit unbeachtlich!)
Wenn dies ohne zeitliche Verzögerung möglich ist, soll bei der Feststellung des
Patientenwillens, seiner Behandlungswünsche oder des mutmaßlichen Willens des
Patienten nahen Angehörigen oder Vertrauenspersonen Gelegenheit gegeben
werden, sich hierzu zu äußern.
Besteht infolge einer Einwilligung, Nicht-Einwilligung oder des Widerrufs der
Einwilligung in eine Untersuchung des Gesundheitszustands, in eine Behandlung
oder in einen ärztlichen Eingriff die begründete Gefahr, dass der unter Betreuung
stehende Patient aufgrund der Maßnahme, ihres Unterbleibens oder ihres Ab-
bruchs stirbt oder einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Scha-
den erleidet, bedarf die Entscheidung des Betreuers der Genehmigung durch das
Betreuungsgericht (§ 1904 I, II BGB). Hierum hat sich der Betreuer zu kümmern.
Erst dann darf der Arzt die vorgesehene Maßnahme durchführen. Die Entschei-
dung des Betreuungsgerichts nach § 1904 II BGB wird gemäß § 287 III FamFG aber
erst zwei Wochen nach ihrer Bekanntgabe wirksam. Danach muss der Arzt auf die
weitere Durchführung der nicht eingewilligten Behandlung (insbesondere auch
der künstlichen Ernährung) verzichten oder die widerrufene beenden (Behand-
lung- bzw. Ernährungsabbruch, Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen). – Eine
Entscheidung des Betreuungsgerichts ist dann nicht erforderlich, wenn Betreuer
und Arzt sich darüber einig sind, dass die Erteilung, die Nicht-Erteilung oder der
Widerruf der Einwilligung dem Willen des unter Betreuung stehenden Patienten
(§ 1901a BGB) entspricht, § 1904 IV BGB (7 LG Kleve NJW 2010, 2666).
238 Kapitel 12 · Ethik und Recht

Was hier über die rechtlichen Möglichkeiten des Betreuers gesagt ist, gilt auch
für einen Bevollmächtigten, soweit hinsichtlich seiner Vollmacht die gesetzlichen
Formerfordernisse erfüllt sind, (§§ 1901a V, 1901b III, 1904 V BGB).
Der in einer Patientenverfügung vom Betroffenen selbst niedergelegte Wille,
aber auch die vom Betreuer festgestellten Behandlungswünsche sowie der ermit-
telte mutmaßliche Wille gelten unabhängig von der Art und vom Stadium der
Erkrankung gemäß § 1901a III BGB (NJW 2010, 2963 [16]). Damit stellen Gesetz
und höchstrichterliche Rechtsprechung klar, dass die hier angesprochenen Ent-
scheidungen in jeder (!) Lebensphase und bei jeder Art und jedem Verlauf einer
Erkrankung Geltung beanspruchen. Und sie sind nicht nur in einer terminalen
Phase (Sterbeprozess) sondern auch dann zu beachten, wenn sich der Patient z. B.
im Wachkoma oder in einer Demenz befindet, also auch nach ärztlicher Indikation
noch keineswegs von einem Beginn des Sterbens gesprochen werden kann.
Im Blick auf eine erlaubte Sterbehilfe haben der Rechtsprechung und dem
Arzt lange Zeit eine gesetzeskonforme Handhabung des Abbruchs einer Behand-
lung oder einer künstlichen Ernährung besondere Schwierigkeiten gemacht; vor
allem, wenn sie auf dem in einer Patientenverfügung antizipierten oder – nur – auf
dem gemutmaßten Willen beruhten. Hier hat inzwischen der Bundesgerichtshof
(BGH) Rechtssicherheit und Handlungsklarheit dadurch geschaffen, dass er alle
diesbezüglichen Handlungen in einem »normativ-wertenden Oberbegriff des Be-
handlungsabbruchs zusammengefasst« hat. Wenn demnach ein Patient das Un-
terlassen einer Behandlung verlangen kann, gilt dies gleichermaßen auch für die
Beendigung einer nicht (mehr) gewollten Behandlung, gleich, ob dies durch Un-
12 terlassen weiterer Behandlungsmaßnahmen oder durch ein aktives Tun umzuset-
zen ist, wie etwa das Abschalten eines Respirators oder die Entfernung einer Ernäh-
rungssonde (BGH NJW 2010, 2963 [31]). In diesem Zusammenhang weist der
BGH darauf hin, dass ein solches Vorgehen häufig von einem Bündel meist pallia-
tiv-medizinischer Maßnahmen begleitet wird, die nicht notwendig vom Arzt selbst
vorgenommen werden müssen, sondern z. B. auch von Pflegekräften durchgeführt
werden können.
Damit wird vom BGH auch eine klare Abgrenzung zur Tötung auf Verlangen
(§ 216 StGB) gezogen: Der nunmehr entscheidende Bezugspunkt ist eine Krank-
heit, die ohne Behandlung zum Tode führt. Damit bleibt z. B. das Verabreichen
eines tödlich wirkenden Giftes – auch wenn dies auf ausdrücklichen Wunsch des
Patienten erfolgt – eine verbotene Tötungshandlung, da es sich hierbei nicht um
eine Behandlungsmaßnahme handelt. Und eigenmächtige Patiententötungen
bleiben selbst dann nach §§ 212, 211 StGB strafbar, wenn sie der Begrenzung einer
indizierten Behandlung dienen sollen [13].
12.2 · Recht am Lebensende
239 12
12.2.2 Definitionen
jEinsichts-/Einwilligungsfähigkeit
Ein Patient ist einwilligungsfähig, wenn sein Einsichtsvermögen in Grund, Be-
deutung und Tragweite (ständige Rechtsprechung des BGH) des im Aufklärungs-
gespräch Dargelegten und seine Urteilskraft ausreichen, um eine Nutzen-Risiko-
Abwägung vorzunehmen und eine subjektive und eigenverantwortliche Entschei-
dung über die Aufnahme, die Nicht-Aufnahme oder den Widerruf bzw. die Be-
endigung einer Behandlung treffen zu können. Hierbei kommt es nicht auf die
(zivilrechtliche) Geschäftsfähigkeit an. Allein aus der Bestellung eines Betreuers
kann (noch) keine Einwilligungsunfähigkeit des Patienten abgeleitet werden. Die
Prüfung der Einwilligungsfähigkeit ist Aufgabe des behandelnden Arztes [14].

jAktuell geäußerter Wille


Er ist die für das Handeln des Arztes rechtlich verbindliche Willenserklärung des
einsichts- und einwilligungsfähigen volljährigen Patienten als Einwilligung, als
Nicht-Einwilligung oder als Widerruf einer zuvor erteilten Einwilligung in die
Durchführung einer ärztlichen Maßnahme. Der aktuell geäußerte Wille geht dem
in einer Patientenverfügung niedergelegten und vom Betreuer durchzusetzenden
Willen vor.

jPatientenverfügung als antizipierter Wille


Nach der Einfügung der §§ 1901a und 1901b ins BGB im Jahr 2009 liegt eine Patien-
tenverfügung dann vor, wenn eine volljährige Person in einwilligungsfähigem Zu-
stand schriftlich festgelegt hat, ob sie in bestimmte, noch nicht unmittelbar bevor-
stehende Untersuchungen ihres Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen oder
ärztliche Eingriffe einwilligt oder sie untersagt. Sie kann jederzeit formlos wider-
rufen werden. Eine solche formgerechte Patientenverfügung richtet sich an den
Betreuer. Er hat ihr Ausdruck und Geltung zu verschaffen und bestimmt damit das
Handeln des Arztes.

jBehandlungswünsche
Als Behandlungswünsche sind im Wesentlichen antizipierende Äußerungen eines
Patienten aufzufassen, die nicht den Formerfordernissen einer Patientenverfügung
nach § 1901a BGB genügen oder die vor Eintritt der Volljährigkeit erfolgten oder
die in nichteinwilligungsfähigem Zustand als aktueller »natürlicher Wille« abge-
geben wurden.

j»Mutmaßlicher Wille«
In der Hierarchie der in einer Willensäußerung zum Ausdruck kommenden Ent-
scheidungen über Aufnahme, Fortführung oder Beendigung von Behandlungs-
240 Kapitel 12 · Ethik und Recht

maßnahmen nimmt der »mutmaßliche Wille« einen deutlichen Nachrang ein.


Liegt keine schriftliche oder keine auf die aktuelle Situation zutreffende Verfügung
des Patienten vor und sind auch seine Behandlungswünsche nicht festzustellen,
dann ist zu ermitteln, wie er wohl »mutmaßlich« in der jetzigen Situation entschei-
den würde, wenn er denn könnte. Die Ermittlung des mutmaßlichen Willens muss
sich auf konkrete Anhaltspunkte stützen. Hierbei sind strenge Maßstäbe anzulegen.
So sind frühere mündliche oder schriftliche Äußerungen, ethische oder religiöse
Überzeugungen sowie sonstige persönliche Wertvorstellungen zu berücksichtigen,
§ 1901a II 2 u. 3 BGB (7 BGH NJW 1995, 204).
Ein »mutmaßlicher Wille« kann aber nicht zur Rechtfertigung dafür herange-
zogen werden, eine aktuell erteilte oder in einer Patientenverfügung getroffene
Behandlungs- oder Nicht-Behandlungsentscheidung abzuändern oder gänzlich zu
missachten!

jNatürlicher Wille
»Natürlicher Wille« ist nicht ein anderer Begriff für Einwilligungsfähigkeit. Viel-
mehr ist er als hinreichend deutlicher Ausdruck eines Nicht-Einverständnisses des
Patienten mit einer beginnenden ärztlichen Maßnahme und damit in seiner Bedeu-
tung als »formloser Widerruf« einer Patientenverfügung aufzufassen und zu be-
achten (7 Kommentar Palandt-Diederichsen BGB, § 1901a Rz 25). Er kann sich in ab-
wehrenden körperlichen Gesten und Bewegungen oder auch in undeutlich artiku-
lierten Lauten des Widerstands Ausdruck verschaffen.

12 jBehandlungsabbruch (aktive, passive, indirekte Sterbehilfe)


Verboten ist und bleibt die aktive Tötung eines Menschen (§§ 211 ff. StGB). Auch
die Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) bleibt weiterhin strafbar.
Mit seiner Entscheidung vom 25.06.2010 hat der BGH den Rahmen für die
straflose Sterbehilfe neu bestimmt. Dabei ist von einem normativ-wertenden Ober-
begriff des Behandlungsabbruchs auszugehen. Er hat auf dem erklärten oder mut-
maßlichen Willen des Patienten zu gründen und ist darauf beschränkt, einen Zu-
stand (wieder-)herzustellen, der einer unbehandelt letalen Krankheit ihren natür-
lichen Lauf lässt [15]. Eine Unterscheidung des Handelns in aktiv (Tun) und passiv
(Unterlassen) entfällt. Dem Willen des Patienten, z. B. nicht mehr (künstlich) er-
nährt oder beatmet werden zu wollen, ist deshalb mit einem aktiven Handeln, dem
Entfernung einer PEG-Sonde oder dem Abschalten eines Gerätes, zu entsprechen.
Dieses Handeln ist jedoch nicht mehr – wie früher – eine aktive Tötungshandlung
im Sinne der §§ 211, 212 oder 216 StGB, sondern die Folge der Achtung des be-
handlungsbezogenen Patientenwillens.
12.2 · Recht am Lebensende
241 12
Zusammenfassung
Die Ablehnung einer indizierten und vom Arzt angebotenen Behandlung muss
immer beachtet werden − auch wenn sie objektiv unvernünftig erscheint oder
sogar ist. Der von einem Patienten in einwilligungsfähigem Zustand aktuell er-
klärte Wille hat immer Vorrang vor dem, was er in einer Patientenverfügung
niedergelegt hat. Dies gilt auch in Bezug auf die Nicht-Aufnahme oder den Ab-
bruch einer Behandlung oder Ernährung, selbst wenn dies zu seinem Tod führt.
Eigenmächtige Patiententötungen bleiben verboten. Der Wille des Patienten
gilt auch dann verbindlich weiter, wenn er in schwere psychische Krankheit,
Demenz oder andere Erscheinungsweisen von Bewusstlosigkeit verfällt.
Eine Missachtung des Patientenwillens kann zur zivilrechtlichen Haftung (Scha-
densersatz, Schmerzensgeld) und zu einer strafrechtlichen Verurteilung führen.
Ist für den Patienten ein Betreuer bestellt oder hat er selbst einen Bevoll-
mächtigten eingesetzt, kommt diesen Personen von Rechts wegen eine hand-
lungsleitende Gestaltungsmacht zu.
Das deutsche Recht kennt keine natürliche Stellvertretung von Angehöri-
gen oder anderen engen Bezugspersonen, die anstelle des Patienten oder des
Betreuers dem Arzt gegenüber in die Aufnahme, Weiterführung oder Beendi-
gung von Behandlungsmaßnahmen rechtsverbindlich einwilligen könnten. −
Zum abweichenden Recht bei einer Organ- oder Gewebeentnahme 7 § 4 TPG.

Literatur
[11] Tröndle H (1983) Selbstbestimmungsrecht des Patienten – Wohltat und Plage? MDR
83:881
[12] Geilen G (2006) Der ärztliche Spagat zwischen »salus« und »voluntas aegroti«. In: Krimi-
nalpolitik und ihre wissenschaftlichen Grundlagen. Festschrift für Professor Dr. Hans-
Dieter Schwind zum 70. Geburtstag. CF Müller, Heidelberg
[13] Verrel T (2010) Ein Grundsatzurteil? – Jedenfalls bitter nötig! Besprechung der Sterbehil-
feentscheidung des BGH vom 25.6.2010 – 2 StR 454/09 (Fall Fulda). NStZ 12:671-676
[14] Ulsenheimer K (2003) Arztstrafrecht in der Praxis. CF Müller, Heidelberg, Rz 108
[15] Gaede K (2010) Durchbruch ohne Dammbruch – Rechtssichere Neuvermessung der
Grenzen strafloser Sterbehilfe, NJW 40:2925
242 Kapitel 12 · Ethik und Recht

12.3 Instrument zur Evaluation des Patientenwillens:


Witten Will Pathway 2.0

Schnell/Schulz

>>

In diesem Kapitel wird der Witten Will Pathway 2.0 (WWP) vorgestellt, der ein Ins-
trument zur Unterstützung der gemeinsamen Entscheidungsfindung bei ärztlichen
Maßnahmen am Lebensende ist. Der Einsatz eines solchen Instruments ist sinnvoll,
wenn eine medizinische Behandlungsentscheidung am Lebensende ansteht und
dem Arzt der für die gebotene Durchführung der Behandlung maßgebliche Wille
eines Patienten unklar ist. Die Anwendung des Witten Will Pathway ermöglicht dem
Arzt und dem Behandlungsteam in solchen Situationen eine Entscheidungsfindung.

Die ärztliche Ethik überschneidet sich an vielen wichtigen Stellen mit dem Recht.
Ein zentraler Aspekt ist dabei, wie die Bundesärztekammer betont, die »Anerken-
nung des Rechts eines jeden Menschen auf Selbstbestimmung .« [16]
! Der Wille des Patienten bestimmt das ärztliche Handeln, der Arzt hat die
Selbstbestimmung des Patienten zu achten!
Wenn in Notfallsituationen die Einwilligung des Patienten nicht eingeholt werden
kann, darf der Arzt unterstellen, dass ein Patient den grundsätzlichen Auftrag des
12 Arztes, nämlich Leben zu retten und zu erhalten, befürwortet.
In Notfallsituationen, in denen der Wille des Patienten nicht bekannt ist und
für die Ermittlung individueller Umstände keine Zeit bleibt, ist die medizinisch
indizierte Behandlung einzuleiten, die im Zweifel auf die Erhaltung des Lebens
gerichtet ist. Hier darf der Arzt davon ausgehen, dass es dem mutmaßlichen Willen
des Patienten entspricht, den ärztlich indizierten Maßnahmen zuzustimmen. [16]
Trotz Vulnerabilität und Diversität am Lebensende begegnen Arzt und Patient
einander rechtlich auf Augenhöhe (7 Kap. 12.2). Für den Arzt und das Behandlungs-
team kann es in vielen Behandlungssituationen am Lebensende schwierig sein, den
Willen des Patienten in Erfahrung bringen zu können. Der Wille kann unklar, mehr-
deutig oder unbekannt sein. In diesem Fall ist einige Mühe aufzubringen, um den
die Selbstbestimmung anzeigenden Patientenwillen klären zu können.

12.3.1 Der einwilligungsfähige Patient

Ein Patient kann einer indizierten ärztlichen Maßnahme nur zustimmen, wenn er
einwilligungsfähig ist.
12.3 · Instrument zur Evaluation des Patientenwillens
243 12
Einwilligungsfähigkeit
Ein Patient ist einwilligungsfähig, wenn sein Einsichtsvermögen in Grund, Bedeu-
tung und Tragweite des im Aufklärungsgespräch Dargelegten und seine Urteils-
kraft ausreichen, um eine Nutzen-Risiko-Abwägung vorzunehmen und seine
subjektive und eigenverantwortliche Entscheidung über die Aufnahme, die
Nicht-Aufnahme oder den Widerruf bzw. die Beendigung einer Behandlung tref-
fen zu können. Hierbei kommt es nicht auf die (zivilrechtliche) Geschäftsfähigkeit
an. Die Prüfung der Einwilligungsfähigkeit ist Aufgabe des behandelnden Arztes.

Mit einem einwilligungsfähigen Patienten, der aktuell seinen Willen eindeutig zu


äußern vermag, führt der Arzt ein Gespräch. In diesem werden anstehende indizierte
ärztliche Maßnahmen besprochen und offene Fragen beantwortet. Wenn Arzt und
Patient einen Konsens finden, d.h., wenn es zu einer Einwilligung des Patienten in die
vom Arzt indizierten Maßnahmen kommt, können die Maßnahmen aus medizini-
scher, ethischer und rechtlicher Sicht durchgeführt werden. Lehnt der Patient die ärzt-
lich indizierte Maßnahme ab, darf die Behandlung nicht durchgeführt werden. Der
aktuelle Wille des Patienten steht immer über dem schriftlich niedergelegtem Willen.

12.3.2 Das Arzt-Patient-Gespräch

Das im Zeichen der Diversität stehende Gespräch zwischen Arzt und Patient sollte
mindestens folgende Rahmenbedingungen erfüllen:
4 ruhige und sichere Atmosphäre, Klärung der psychosozialen Situation: Einbe-
ziehung einer weiteren Person in das Gespräch, sofern der Patient es wünscht
4 Klärung der aktuellen Situation: den Patienten fragen, ob ihm seine Situation/
Diagnose bewusst ist; wenn nicht: Anwendung des SPIKES-Modells (7 Kap. 7.2)
4 Anwendung des OPTION-Instruments (7 Kap. 7.4)

12.3.3 Der unklare Patientenwille

Im Unterschied zu einer unproblematischen Situation, in der der Wille des Pa-


tienten für den Arzt klar und eindeutig ist, kann es zu drei Situationen kommen
(A, B, C), in denen der Wille unklar ist und in denen der Witten Will Pathway 2.0
(WWP) eine Hilfestellung bieten könnte.

! Bitte sehen Sie sich den WWP 2.0 in Form der Pocketcard auf den fol-
genden Seiten an! Die Verwendung des WWP 2.0 in der Praxis setzt eine
Schulung voraus, da er auf komplexen Grundannahmen basiert!
244 Kapitel 12 · Ethik und Recht

12
12.3 · Instrument zur Evaluation des Patientenwillens
245 12

. Abb. 12.1 Witten Will Pathway 2.0


246 Kapitel 12 · Ethik und Recht

. Tab. 12.5 Vorgehen bei unklarem Patientenwille – Situation A: einwilligungs-


fähiger Patient

Situation A: der Patient ist Nach dem Arzt-Patient-Gespräch erklärt der


einwilligungsfähig Patient keinen Willen! Was muss der Arzt tun?

4 Selbstbestimmung des 4 Klärung schaffen!


Patienten achten! 4 Den Patienten befragen, warum er keinen
4 Nichterklärung des Willens Willen äußert
beachten 4 Prüfen, ob trotz A-P-Gespräch Unklarheiten
4 Patienten Zeit einräumen bestehen
4 In dubio pro vita handeln 4 Eventuell fehlende Informationen nachreichen
4 Psychotherapeutisches od. Ethik-Konsil einbe-
rufen, wenn weiterhin Unklarheiten bestehen
4 OPTION-Instrument erneut einsetzen

12.3.4 Durchführung des Witten Will Pathway 2.0 (WWP)


bei Unklarheit des Patientenwillens

Wenn nach einer Klärung der Situation A durch den WWP der Patient seinen
Willen erklärt und in die medizinische Indikation einwilligt, kann die ärztliche
Maßnahme durchgeführt werden . Tab. 12.5.
12 Wenn nach einer Klärung der Situation B durch den WWP der Patient seinen
Willen erklärt und in die medizinische Indikation einwilligt, kann die ärztliche
Maßnahme durchgeführt werden . Tab. 12.6. Sofern ein dauerhafter Dissens beste-
hen bleibt, gilt es diesen zu dokumentieren. Ein Arzt ist nicht verpflichtet eine
Maßnahme durchzuführen, für die es keine Indikation gibt, auch dann nicht, wenn
der Patient diese Maßnahme ausdrücklich befürwortet.
In den Situationen A und B ging es um die Klärung des Willens eines einwilli-
gungsfähigen Patienten. Grundsätzlich anders verläuft die Frage nach dem Willen,
wenn der Arzt feststellt, dass ein Patient nicht einwilligungsfähig ist. In diesem Fall
sagt das BGB (§ 1896), dass auf Antrag oder von Amts wegen ein Betreuer zu be-
stellen ist, der im Namen des Patienten dem Willen des Patienten Ausdruck und
Geltung verleiht.
Sofern ein nicht einwilligungsfähiger Patient keinen Betreuer oder Vorsorge-
bevollmächtigten auf seiner Seite hat, ist die Bestellung eines solchen Betreuers
anzuregen, da allein der Betreuer den Willen des Patienten im Sinne des Patienten
formulieren darf. Der Arzt hat nur die Indikation einer ärztlichen Maßnahme zu
verantworten. Eine stellvertretende Bestimmung des Patientenwillens darf vom
Arzt nicht vorgenommen werden.
12.3 · Instrument zur Evaluation des Patientenwillens
247 12

. Tab. 12.6 Vorgehen bei einwilligungsfähigem Patienten – Situation B: einwilli-


gungsfähiger Patient

Situation B: der Patient ist Der Patient erklärt einen Willen, der mit der
einwilligungsfähig medizinischen Indikation nicht zu vereinbaren ist!
Was muss der Arzt tun?

4 Selbstbestimmung des 4 Klärung schaffen!


Patienten achten! 4 Erklären, in welcher Hinsicht der Patientenwille
4 Patientenwillen und die von ärztlicher Seite aus nicht befolgt werden
Rechtslage beachten kann
4 Dissens benennen 4 Motive des Patienten nachvollziehen
4 Psychotherapeutisches od. Ethik-Konsil einberu-
fen, wenn weiterhin Unklarheiten bestehen
4 OPTION-Instrument erneut einsetzen

Der Entscheidung zur Durchführung einer ärztlichen Maßnahme liegt ein Ge-
spräch zu Grunde, dass nun der Arzt und der Betreuer des Patienten führen. Wenn
Arzt und Betreuer einen Konsens finden, d. h., wenn es zu einer Einwilligung des
Betreuers in die vom Arzt indizierten Maßnahmen kommt, können die Maßnah-
men aus medizinischer, ethischer und rechtlicher Sicht durchgeführt werden
(7 Abschn. 12.2)
Sollte der vom Betreuer im Sinne des Patienten formulierte Wille jedoch für
den Arzt unklar sein, bedarf es erneut einer Klärung . Tab. 12.7.
Wenn nach einer Klärung der Situation C durch den WWP der Vertreter den
Willen im Sinne des Patienten erklärt und in die medizinische Indikation ein-
willigt, kann die ärztliche Maßnahme durchgeführt werden. Sofern ein dauer-
hafter Dissens bestehen bleibt, gilt es diesen gegenüber dem Betreuungsgericht
zu dokumentieren (§ 1904 BGB).
Ein Arzt ist nicht verpflichtet, eine Maßnahme durchzuführen, für die es keine
Indikation gibt und auch nicht, wenn die Maßnahme dem Patienten schwere und
länger andauernde gesundheitliche Schäden zufügt. Der Arzt ist dazu auch dann
nicht verpflichtet, wenn der Betreuer des Patienten diese Maßnahme ausdrücklich
befürwortet.
Sollten auf dem Wege der Klärung des Patientenwillens Unglücke oder Notfäl-
le geschehen oder sollte einfach nur Zeit ergebnislos verstreichen, so hat der Arzt,
wie die Bundesärztekammer betont, eine medizinisch indizierte Behandlung ein-
zuleiten, die im Zweifel auf die Erhaltung des Lebens gerichtet ist. Es gilt dann der
Grundsatz in dubio pro vita (idpv, im Zweifel für das Leben).
248 Kapitel 12 · Ethik und Recht

. Tab. 12.7 Vorgehen bei einwilligungsunfähigem Patienten – Situation C: nicht ein-


willigungsfähiger Patient

Situation C: der Patient ist nicht Der Vertreter (Betreuer) muss dem Gesetz
einwilligungsfähig zufolge den Willen des Patienten (gemäß
Patientenverfügung oder als mutmaßlichen
Willen bzw. als Behandlungswunsch) erklären,
tut dieses aber nicht. Was muss der Arzt tun?

4 Vertreterstellung des Be- 4 Klärung schaffen!


treuers achten! 4 Vertreter befragen, warum er keinen Willen
4 Nichterklärung des Willens erklärt
beachten 4 Prüfen, ob trotz des Arzt-Vertreter-Ge-
4 Beachten, dass der Patienten- sprächs Unklarheiten bestehen
wille nur vom Vertreter/Be- 4 Fehlende Informationen nachreichen
treuer formuliert werden darf 4 Psychotherapeutisches od. Ethik-Konsil
4 Vertreter darauf hinweisen, einberufen, wenn weiterhin Unklarheiten
dass er dem Patientenwillen bestehen
Ausdruck und Geltung zu 4 OPTION-Instrument erneut einsetzen
verschaffen hat

Zusammenfassung
Der Wille des Patienten bestimmt das ärztliche Handeln, der Arzt hat die Selbst-
12 bestimmung des Patienten zu achten. Ein Patient kann einer indizierten ärzt-
lichen Maßnahme nur zustimmen, wenn er einwilligungsfähig ist. Die Prüfung
der Einwilligungsfähigkeit ist Aufgabe des behandelnden Arztes.
Sollte ein Patient nicht einwilligungsfähig sein, dann ist die Bestellung
eines Betreuers anzuregen, da allein der Betreuer den Willen des Patienten im
Sinne des Patienten formulieren darf. Der Arzt hat die Indikation einer ärzt-
lichen Maßnahme zu verantworten. Eine stellvertretende Bestimmung des Pati-
entenwillens darf vom Arzt nicht vorgenommen werden.
Die medizinische Indikation ist die vom Arzt autonom zu treffende und zu
verantwortende Handlung.

Literatur
[16] Bundesärztekammer (2010) Empfehlungen der Bundesärztekammer und der Zentralen
Ethikkommission bei der Bundesärztekammer zum Umgang mit Vorsorgevollmacht und
Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis. Deutsches Ärzteblatt 107(18):877
249 13
Interprofessionalität
13.1 Herausforderungen für das Team – 250
Schüßler
13.2 Interprofessionelle Fallbesprechungen – 256
Wasner
13.3 Ethikkonsil – Der »Witten-Nimweger-Leitfaden«
(WNL) – 260
Dunger/Schnell

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2_13, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
250 Kapitel 13 · Interprofessionalität

13.1 Herausforderungen für das Team

Schüßler

>>

In der Definition der WHO (World Health Organisation) wird der Anspruch an Palliative
Care formuliert, die Versorgung aus einem interprofessionellen Team heraus mit Pa-
tient und Angehörigen zusammen zu entwickeln und zu leisten. In diesem Kapitel
werden folglich Herausforderungen der Teamarbeit für die palliative Versorgungs-
situation aufgezeigt. Keine Disziplin in der Medizin kennt eine so heterogene Ausrich-
tung von Teammitgliedern wie die Versorgung im Palliative Care-Bereich. Zugleich
funktioniert Teamarbeit nur effektiv, wenn alle Teammitglieder an dem gleichen Ziel
arbeiten und die Mitglieder Ihre Kompetenzen und Perspektiven sinnvoll koordiniert
einem gemeinsamen Ziel unterordnen.

jEffektive Teamarbeit erfordert:


4 eine gemeinsamen Aufgabe
4 eine Anzahl von mehreren Personen mit unterschiedlichen Bezügen zur Auf-
gabe und sich ergänzenden Qualifikationen [1]
4 kooperatives Interagieren zwischen den Mitgliedern [2]
4 ein Ziel, für dessen Erreichen gemeinsam Verantwortung übernommen
wird [3]
4 transparente Rollen- und Aufgabenverteilung [4]
4 koordinierende und motivierende Führungsperson(en) [5]
13 4 das Erleben und Verhalten der Gruppenmitglieder als Mitglieder des Teams [6]
4 eine erhöhte Aufmerksamkeit der Teammitglieder füreinander, die emotionale
Belastung und Belastbarkeit des einzelnen einschließt [7]

13.1.1 Vorzüge der Gruppe für die Versorgungsqualität

Ergebnisse aus internationalen Studien für Palliative Care-Teams (PCT) zeigen


[8], [9]:
4 PCTs konnten eine Reduktion des Bedarfs der Patienten an Schmerz- und
Symptommanagement erzielen
4 der Einsatz von Schmerzmitteln und schmerzlindernden Maßnahmen gelingt
zielorientierter
4 PCTs ermöglichen eine Beschleunigung von Prozessen, gesetzliche Vertretung
und gültige Patientenverfügungen bereit zu stellen
4 PCTs reduzieren Krankenhausaufenthaltstage
13.1 · Herausforderungen für das Team
251 13
13.1.2 Teamarbeit in der Palliative Care
kDefinition
Teamarbeit kommt im Palliative Care-Bereich in sehr unterschiedlichen Formen
vor. In der Regel kann zwischen dem Stationsteam, dem erweiterten Stationsteam,
dem therapeutischen Team und dem ambulanten Palliative Care-Team unterschie-
den werden. In vielen Bereichen lassen sich die real vorkommenden Teamformen
nicht einer dieser Definitionen zuordnen, sie bilden vielmehr Mischformen, die
einer kontinuierlichen Dynamik unterliegen. Teamarbeit liegt immer dann vor,
wenn sich Mitglieder unterschiedlicher Berufsgruppen und Kompetenzspektren
mindestens einem gemeinsamen Ziel verschreiben, dem sie in einem gemeinsam
gestalteten Prozess näher kommen wollen und dabei die Gruppe, in der sie dies tun,
als ein Team anerkennen. Die Teammitglieder übernehmen arbeitsteilig Verant-
wortung für das gemeinsame Ergebnis.
ä Interprofessionelle Fallbesprechung
In einem Krankenhaus wurde, als vorläufiger Ersatz für einen einrichtungs-
weiten Palliativ-Konsiliardienst, eine interprofessionelle Fallbesprechung ein-
gerichtet. Diese findet einmal wöchentlich statt und betrifft Patienten einer
onkologischen Normalstation. An der Besprechung nehmen die für den Patien-
ten verantwortlichen Ärzte, Sozialarbeiter, ein Pflegexperte für Palliative Care,
ehrenamtliche Hospizhelfer, Seelsorger und, unregelmäßig, Vertreter der Physio-
therapie teil (7 13.2).
In Besprechungssituationen wird immer nach einem ähnlichen Schema
vorgegangen:
4 Vorstellung des Patienten aus medizinischer Sicht
4 Überblick über alle am Patienten tätigen Teammitglieder
4 Ergänzungen zum Fall von allen am Patienten aktiven Teammitgliedern
4 Zielsetzung der bisherigen und der weiteren Therapie
4 Umsetzung der weiteren Versorgung und Therapie
4 Diskussion der Therapie- und Versorgungsoptionen unter Berücksichti-
gung der Prognose des Patienten
4 Diskussion der aktuellen Symptome des Patienten und deren Behandlung
4 Klärung potentieller Verlegungen, z. B. in ein Hospiz und die bereits getrof-
fene Vorbereitungen dafür

Das interprofessionelle Team begegnet in seinen Besprechungen verschiedenen


Herausforderungen:
252 Kapitel 13 · Interprofessionalität

jHerausforderung 1: vorhandene Fachkompetenz adäquat nutzen


Vielen Teammitgliedern ist die im Team vorhandene Fachkompetenz nicht unmit-
telbar bewusst und sie wird unter diesen Umständen auch gegenseitig nicht wertge-
schätzt. Die effektive Nutzung der im individuellen Team vorhandenen Fachkom-
petenz für die gemeinsame Zielsetzung ist jedoch sowohl für angenehme Arbeits-
platzbedingungen als auch für eine effektive Ressourcennutzung unerlässlich.
jHerausforderung 2: Koordination der Teammitglieder
In Fallkonferenzen des PCTs sollten mindestens immer folgende Aspekte bearbei-
tet werden:
4 Problemdefinition
4 patientenorientierte Priorisierung der Probleme (Was ist für den Patienten am
schlimmsten?)
4 Diskussion bei unterschiedlichen Meinungen, Einschätzungen
4 lang- und kurzfristige Zielsetzung
4 Priorisierung der Ziele
4 Lösungsstrategien
4 Realitätsprüfung der Strategien (Ist das erreichbar?)
4 weiteres Vorgehen
4 Festlegung auf einheitliche Positionen/Absprache [10]
jHerausforderung 3: Teamarbeit auf Palliativstationen
Für die Situation im Palliative Care-Team im stationären Setting ergeben sich ne-
ben den normalen Teamherausforderungen im Krankenhaus besondere Heraus-
forderungen, verschiedene außerhalb des Stationsteams liegende Personengruppen
in die Versorgung systemtisch einzubinden und die emotionale Belastung einzelner
13 Mitarbeiter im Auge behalten zu müssen.
jHerausforderung 4: fallorientierte Steuerung
Familienangehörige sind mit der Koordination der vielfältigen Akteure, die um den
Menschen am Lebensende agieren, in der Regel überfordert. Für diese Steuerungs-
aufgabe in PCTs bereitet außerdem ein Medizinstudium nicht unmittelbar vor. Hier
sollte eine Auswahl nach Kompetenzen und Bereitschaft erfolgen und weniger
nach Hierarchie und Weisungsbefugnis.
Für die effektive Arbeit im therapeutischen Palliative Care-Team bieten sich
Mitglieder verschiedener Personengruppen an:
4 der behandelnde Arzt hat einen großen Überblick über Maßnahmen und
krankheitsbezogene Prozesse, die den Patienten betreffen und kann inhaltlich
effektiv die Steuerung eines therapeutischen Teams übernehmen
4 auf Stationen und in Einrichtungen, die ein System der Bezugspflege eingerich-
tet haben, sind die für den einzelnen Patienten zuständigen Pflegenden gut
geeignet, um das therapeutische Team für den Einzelnen zu steuern
13.1 · Herausforderungen für das Team
253 13
4 Experten für Fallsteuerung/Case Manager/Sozialdienst sind Experten, die eine
Weiterbildung oder ein Aufbaustudium mit Fokus auf die Fallsteuerung und
Fallmanagement absolviert haben. Diese Ausbildung qualifiziert sie besonders,
die Steuerung des therapeutischen Teams zu übernehmen, da die Ausbildung
auch Techniken zur Moderation und Organisation von multiprofessionellen
Gruppen umfasst.

jHerausforderung 5: im Team die psychische Belastung teilen


Für die emotional u. U. außerordentlich anspruchsvolle Aufgabe, jeden Tag mit der
Sterblichkeit des anderen und permanentem Abschied konfrontiert zu sein, stellt
die fest installierte Teamarbeit auf Palliative Care-Abteilungen eine wichtige Ent-
lastungsfunktion dar. PCTs erhalten daher häufig regelhaft Supervisionsangebote,
in denen wichtige Kernthemen und die Binnenmoral des Teams thematisiert wer-
den können.

jHerausforderung 6: als Gruppe entscheidungsfähig sein


Das Kernteam, das sich mit der Versorgung eines oder mehrerer Palliativpatienten
befasst, muss in Größe und Struktur ein funktionierendes Gefüge haben, das weder
ethische, familiale noch fachbezogene Themen ausspart. Ein Team sollte 4–6 Mit-
glieder haben. Ist das Team deutlich größer, sollte es in Subgruppen geteilt werden,
damit Entscheidungen ggf. rasch gefällt werden können, ohne unnötige Diskus-
sionen. Dazu bieten sich therapeutische Teams an, die sich um wenige Fälle grup-
pieren und die Lösung von Aufgaben bezogen auf die individuelle Patientenversor-
gung und -situation zum Ziel haben.

jHerausforderung 7: Leadership
Um ein Team effizienter zu machen, so verschiedene Management-Ansätze, ist eine
Führungsperson notwendig [3], die sich für die innere und äußere Organisation
des Teams zuständig fühlt. Zu den Führungsaufgaben gehören:
4 Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen, durch Gesten und Worte
4 Steuerung und Koordination der Teamaktivitäten als Ganzes und ggf. einzelner
Prozesse und Personen
4 Verabredung von überprüfbaren Zielen lang- und kurzfristiger Natur für das
Team
4 Evaluation der Teamleistung und der Effektivität von im Team getroffenen
Entscheidungen
4 Feedback
4 Verteilung von Aufgaben, Beobachtung auf Über- und Unterforderung
4 Synchronisation und Kombination von Leistungen einzelner Teammitglieder
4 Entwicklung von teamspezifischem Wissen, Kompetenzen und Einstellungen
4 Planung und Organisation
254 Kapitel 13 · Interprofessionalität

4 Informationsfluss nach außen gewährleisten (z. B. mit der Klinikleitung oder


den Kostenträgern)
4 Etablierung einer konstruktiven Gesprächsatmosphäre

Jede dieser Aufgaben umfasst ein Spektrum an Kompetenzen, die in keinem der
primären Ausbildungsgänge für Mitglieder des PCT vorgesehen sind. Ein Auf-
bau von Führungskompetenz ist somit strukturell in die Teamentwicklung einzu-
binden [11].

13.1.3 Ambulante Palliative Care-Teams

Eine ambulantes Palliativ Care-Team steht vor anderen Anforderungen als im sta-
tionären Bereich, da die Teammitglieder nicht kontinuierlich am gleichen Ort an-
zutreffen sind und Schlüsselpersonen nicht notwendiger Weise am Teamprozess
teilnehmen.

ä Vor dem Hintergrund eines Hospizvereins gründen ehemals ehrenamtliche


Mitglieder ein professionelles Palliative Care-Team, das einen umfassenden Ver-
sorgungsvertrag für die Versorgung von Patienten nach SAPV durch die Kran-
kenkassen erhält. Angetrieben durch einen engagierten und respektierten
Mediziner in der Führungsrolle werden über Jahre Daten und Argumente
gesammelt und eine Unternehmensgründung wird durchgeführt. In zähen Ver-
handlungen mit den Vertretern der Kostenträger, an denen sich sämtliche
13 Teammitglieder beteiligen, gelingt der Vertragsabschluss und das Team kann
die Arbeit aufnehmen. Es handelt sich um rund 22 Ärzte und Pflegende mit
großer Erfahrung und spezifischer Expertise für die Arbeit mit dem Patienten
am Lebensende und dessen Angehörigen. Die wichtigsten alltäglichen Heraus-
forderungen sind familientherapeutischer Natur und die rasche Koordination
von Veränderungsnotwendigkeiten innerhalb der häuslichen Situation. Das
Team löst diese Herausforderungen durch folgende Strategien:
4 Alle Mitarbeiter werden mit einem Dienstfahrzeug, einem Diensthandy
und einem Dienst-Tablet-PC ausgestattet, mit dem auch ärztliche Verord-
nungen ausgesprochen werden können.
4 Alle Mitarbeiter schlagen über die online-Kommunikation Veränderungen
der Therapie vor und diese werden, falls nötig, online miteinander beraten.
Daten über Patienten werden unmittelbar übermittelt.
4 Alle Mitarbeiter genießen großen Gestaltungsspielraum, was die Arbeits-
zeit und die Entscheidungsfreiheit am Patienten angeht.
6
13.1 · Herausforderungen für das Team
255 13
4 Mitarbeiter haben jederzeit die Möglichkeit, Rücksprache zu halten.
4 Es findet mindestens einmal wöchentlich ein Besprechungsmoment aller
Mitglieder statt, bei dem Fälle, Teamaspekte oder supervisorische Aspekte
behandelt werden.
4 Im Team sind einander komplementär ergänzende Kompetenzen vorhan-
den, wie Master of Palliative Care, ärztlicher Psychotherapeut, Schmerzthe-
rapeut, Ernährungswissenschaftler usw.

Zusammenfassung
Fragen zur Reflexion des Teams [12]
4 Was ist das übergeordnete Ziel unsere Tätigkeit?
4 Wie tragen wir zum Erreichen dieses Zieles in der vor uns liegenden Einzel-
fallentscheidungen bei?
4 Welche Ziele verfolgen wir für den im Mittelpunkt stehenden Einzelfall?
4 Wie nimmt die Führungsperson ihre Rolle wahr?
4 Welche Rolle habe ich im Team und wissen andere von meiner Rolle?
4 Welche gruppendynamischen Prozesse hindern oder fördern die Zusam-
menarbeit?
4 Welche Kommunikationswege nutzen wir effektiv, welche weniger effektiv?
4 Wie zeigen wir wechselseitigen Respekt füreinander in der Gruppe?

Literatur
[1] Horn-Heine K (2003) Prozessorientiertes Vorgehen in der Teamentwicklung. In: Stumpf S,
Thomas A (Hrsg.) Teamarbeit und Teamentwicklung. Hogrefe, Göttingen, S. 299-316
[2] Gemünden HG et al. (2005) Teamarbeit in innovativen Projekten. In: Högl M, Gemünden,
HG (Hrsg.) Management von Teams. Theoretische Konzepte und empirische Befunde.
Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden, S. 1-32
[3] Hackman R (2002) Leading Teams. Harvard Business School Publishing Corporation, Bos-
ton
[4] Voigt B (2004) Team und Teamentwicklung. In: Velmering CO, Schattenhofer K, Schrap-
per C (Hrsg.) Teamarbeit Konzepte und Erfahrungen – eine gruppendynamische Zwi-
schenbilanz. Juventa, Weinheim, S. 157-207
[5] Hearn J, Higginson IJ (1998) Do specialist palliative care teams improve outcomes for
cancer patients? A systematic literature review. Palliat Med 12:317-332
[6] Stumpf S, Thomas A (2003) Teamarbeit und Teamentwicklung. Hogrefe, Göttingen
[7] Baker DP, Day R et al. (2006) Teamwork as an essential component of high-reliability
organizations. Health Serv Res 41(2):1576-1598
[8] Demanelis AR, Keresztury J et al. (2005) The development and outcomes of a statewide
network of hospital-based palliative care teams. J Palliat Med 8(2):324-332
[9] Higginson IJ et al. (2003) Is There Evidence That Palliaitive Care Teams Alter End-of-Life
Experience of Patients and Their Caregivers? J Pain Symptom Manage 25(2):150-168
256 Kapitel 13 · Interprofessionalität

[10] Behrenberger A et al. (2004) Erwerb von Teamkompetenz in gruppendynamischen Wei-


terbildungen. In: Velmering CO, Schattenhofer K, Schrapper C (Hrsg.) Teamarbeit – Kon-
zepte und Erfahrungen – eine gruppendynamische Zwischenbilanz. Juventa, Weinheim,
S. 74-93
[11] Schüßler N (2008) Evaluationsmethoden von Teamentwicklungsmaßnahmen anhand
von Fallbeispielen aus dem akutstationären Krankenhaus – ein Literaturanalyse. Unver-
öffentlichte Bachelorarbeit am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Witten/
Herdecke
[12] Mickan SM, Rodger SA (2005) Effective Health Care Teams. A model of six characteristics
developed from shared perceptions. J Interprof Care 19(4):358-370

13.2 Interprofessionelle Fallbesprechungen

Wasner

>>

Regelmäßige Teambesprechungen sind ein zentraler Bestandteil von interprofessio-


neller Zusammenarbeit [13]. Ziel ist es zu informieren, informiert zu werden, sich aus-
zutauschen und sich damit auch fortzubilden, und gemeinsam Entscheidungen zu
treffen. Interprofessionelle Fallbesprechungen sind am effektivsten, wenn alle Team-
mitglieder neben der inhaltlichen Ebene und ihren eigenen Überzeugungen immer
auch zugleich den Verlauf des Prozesses im Blick haben, gewissermaßen eine Meta-
ebene einnehmen und sich selbst beobachten.
13
Regeln und Strukturen müssen bekannt sein und von allen eingehalten werden. Es
muss einen klaren zeitlichen Rahmen geben, die Tagesordnung sollte bekannt sein.
Eine Gesprächsleitung oder Moderation ist unverzichtbar, um die Besprechung zu
strukturieren, auf die Zeit zu achten und vor allem darauf zu achten, dass jeder
Gelegenheit hat, sich zu äußern [14].

Interprofessionelle Fallbesprechungen
Interprofessionelle Fallbesprechungen sind eine organisierte Form des inter-
professionellen Teams mit fester Struktur und damit verbundenen Regeln; sie
sind patienten- und prozessorientiert.

Im Folgenden soll der Ablauf einer derartigen Besprechung exemplarisch vorge-


stellt und dann anhand eines Falls konkretisiert werden.
13.2 · Interprofessionelle Fallbesprechungen
257 13
13.2.1 Stationsbesprechung einer Palliativstation:
Beispiel einer interprofessionellen Fallbesprechung
jRahmenbedingungen
Auf einer Palliativstation (10 Betten) wird neben der täglichen Stationsbesprechung
(Dauer: 20 min) einmal pro Woche eine »große Stationsbesprechung« durchge-
führt, an der alle Teammitglieder und Professionen (Medizin, Pflege, Physiothera-
pie, Soziale Arbeit, Psychologie, Seelsorge, Atem- und Kunsttherapie) verpflichtend
teilnehmen. Sie dient dazu, ein Gesamtbild der Patienten und ihrer Familien zu
erhalten und das weitere Vorgehen gemeinsam zu planen.

jGestaltung
Für diese Besprechung sind 90 min eingeplant und sie hat folgende Regeln:
4 Die Besprechung wird von einem Teammitglied aus dem psychosozialen Be-
reich (Soziale Arbeit, Psychologie, Seelsorge, Atemtherapie oder Kunsttherapie)
moderiert.
4 Der Schwerpunkt dieser Besprechung liegt in den psychosozialen Bedürfnissen
der Patienten und ihrer Angehörigen.
4 Es werden alle Berufsgruppen gehört.
4 Wesentliches wird kurz zusammengefasst, Wiederholungen werden vermieden.
4 Störungen haben Vorrang.
4 Diskussionen werden im Fachbereich belassen. Falls Einzelheiten vertieft erör-
tert werden müssen, findet dies außerhalb dieser Besprechung statt.
4 Erst berichten alle Berufsgruppen und danach ist Zeit für die Diskussion.

jAblauf
Nach der Begrüßung der Teilnehmer fragt der Moderator nach besonderen Vor-
kommnissen in der letzten Woche und ob es hierzu noch Klärungsbedarf gibt.
Danach werden alle Patienten einzeln besprochen und zwar äußern sich die
Berufsgruppen in einer genau festgelegten Reihenfolge. Anfangs berichten die
Ärzte. Neue Patienten (die im Lauf der letzten Woche aufgenommen wurden)
werden ausführlich von ihnen vorgestellt, danach berichten sie nur noch über me-
dizinische Veränderungen oder Neuerungen. Fragen der anderen Berufsgruppen
sind nach jedem Bericht erlaubt, jedoch keine Diskussion. Danach sind die Pflege-
kräfte an der Reihe, die psychosozialen Mitarbeiterinnen und der Physiotherapeut.
Bevor man zum nächsten Patienten übergeht, werden die wichtigsten Punkte noch
einmal zusammengefasst und schriftlich festgehalten.
Mit einem kurzen Ausblick auf die nächste Woche (z. B. Aufnahmen, wichtige
Termine) endet die Besprechung.
258 Kapitel 13 · Interprofessionalität

ä Frau S., 33 Jahre, Rektum-Ca, Hirnmetastasen, wird wegen starken Schmerzen


8 Tage zuvor auf die Palliativstation aufgenommen. Aus der Vorgeschichte ist
folgendes bekannt:
4 Symptome: Schmerzen, Schwindel (sturzgefährdet), mehrfach starke Blu-
tungen aus dem Tumorgebiet
4 5-Jährige Tochter, Lebensgefährte
4 römisch-katholisch getauft

In der »großen Stationsbesprechung«:


Arzt: Frau S. ‘s Krebserkrankung ist weit fortgeschritten, ihre Prognose ist sehr
schlecht. Sie ist sehr schwach und leidet unter starken Schmerzattacken. Da sie
auf die bisherige Schmerzmedikation nicht mehr richtig anzusprechen scheint,
wird gerade eine Opioidrotation durchgeführt. Ansonsten wird die Patientin als
sehr abwehrend und wenig kommunikativ erlebt. Es konnte noch kein Famili-
enangehöriger der Patientin gesprochen werden. Von ärztlicher Seite könnte
die Patientin in 3–4 Tagen nach Hause gehen.
Pflegekraft: Patientin ist überwiegend bettlägerig, die Pflege muss fast voll-
ständig übernommen werden. Sie isst kaum, es ist nur ganz bestimmte Kost
möglich. Sie wirkt sehr unruhig und ängstlich. In der letzten Nacht fand sie die
Nachtschwester weinend vor. Auf Nachfrage erzählte sie, ihre größten Sorgen
seien, dass ihre Tochter unter der Situation leide und vor allem, wie es mit ihrer
Tochter nach ihrem Tod weitergehen solle. Der Lebensgefährte sei regelmäßig
zu Besuch, überwiegend aber erst abends.
Sozialarbeiterin: In einem Gespräch mit der Patientin und ihrem Lebensge-
fährten berichten beide von der häuslichen Situation: Sie leben in einer 3-Zim-
13 mer-Wohnung auf dem Dorf, fühlen sich gut integriert, die Eltern der Patientin
wohnen im gleichen Dorf. Der Lebensgefährte versorgt die Patientin alleine;
es sind noch keine Leistungen aus der Pflegeversicherung beantragt und keine
Hilfsmittel für die häusliche Pflege vorhanden. Der Lebensgefährte kann die
Versorgung nur gewährleisten, da er momentan arbeitslos ist. Er bekommt
aber zunehmend Druck von der Agentur für Arbeit, da er nicht genügend Be-
werbungen losschickt. Durch die Arbeitslosigkeit des Lebensgefährten (Patien-
tin bezieht Krankengeld) ist die finanzielle Situation extrem angespannt. Es
wird im Gespräch schnell deutlich, dass der Lebensgefährte mit der Situation
komplett überfordert ist: So macht ihm nicht nur die finanzielle Situation zu
schaffen, sondern er kann nicht akzeptieren, dass die Erkrankung nicht mehr
geheilt werden kann. Die größten Sorgen der Patientin drehen sich um ihre
Tochter. Sie hat Angst, dass der leibliche Vater, der sich noch nie um die Tochter
gekümmert hat, nach ihrem Tod das Sorgerecht bekommt. Zudem hätte sie
neulich einen Anruf von einer Erzieherin aus dem Kindergarten ihrer Tochter
6
13.2 · Interprofessionelle Fallbesprechungen
259 13
bekommen. Ihre Tochter würde andere Kinder schlagen oder würde sich an die
Erzieherin klammern und sie nicht mehr loslassen. Die Sozialarbeiterin erzählt,
dass sie gerade dabei ist, ein Unterstützungsnetzwerk vor Ort zu installieren
und mit dem Kindergarten der Tochter und dem Jugendamt Kontakt aufge-
nommen hat. Außerdem hat der Lebensgefährte dringenden Unterstützungs-
bedarf. Aufgrund der komplexen psychosozialen Problemstellung sollte die
Patientin noch eine Woche auf der Palliativstation bleiben können.
Seelsorger: Die Patientin bezeichnet sich selbst als »Feiertagschristin«. Sie
ging, als es ihr noch körperlich besser ging, mit ihrer Tochter in die Kirche,
hadert jetzt aber mit Gott. Der Lebensgefährte ist nicht gläubig und wehrt Ge-
spräche mit ihm entschieden ab, die Patientin dürfe er aber wieder besuchen.
Die anderen Berufsgruppen hatten noch keinen Kontakt.
Im anschließenden Gespräch wird gemeinsam überlegt, wie nächste
Schritte für die Patientin aussehen könnten: Die Patientin kann solange auf der
Palliativstation bleiben, bis das häusliche Versorgungsnetzwerk steht. Die
Schmerzsymptomatik muss noch entscheidend gebessert werden. Der Lebens-
gefährte wird von den Pflegekräften in der Pflege angeleitet. Es wird gemein-
sam mit allen Beteiligten ein Notfallplan erarbeitet, falls die Patientin zuhause
wieder Blutungen erleiden sollte. Aufgrund der ausgeprägten Schwäche und
der Schmerzen werden vorerst keine weiteren Professionen in die Begleitung
involviert. Die Sozialarbeiterin und der Seelsorger werden die Patientin weiter
betreuen. Die Psychologin wird versuchen, Kontakt mit dem Lebensgefährten
aufzunehmen und ihn in seiner Krankheitsbewältigung zu unterstützen; zu-
dem stellt sie einen Kontakt zu einer Kinder- und Jugendpsychotherapeutin
vor Ort her.
Die vereinbarten Ziele werden spätestens bei der nächsten »großen Sta-
tionsbesprechung« evaluiert und eventuell an veränderte Gegebenheiten an-
gepasst.

Zusammenfassung
Interprofessionelle Fallbesprechungen sind eine organisierte Form des inter-
professionellen Teams. Zum Gelingen muss jedes einzelne Teammitglied beitra-
gen. Dies setzt die regelmäßige Reflexion über die eigene Rolle im Team, das
Wissen um die Kompetenzen der anderen Teammitglieder und gegenseitigen
Respekt und Wertschätzung voraus. Das Ziel der Besprechung muss allen klar
sein, Regeln und Strukturen müssen eingehalten werden. Am wichtigsten ist
aber die Bereitschaft, von der eigenen Position ein Stück weit abzurücken und
auf Augenhöhe mit den anderen Teammitgliedern zu kommunizieren.
260 Kapitel 13 · Interprofessionalität

Literatur
[13] Xyrichis A, Lowton K (2008) What fosters or prevents interprofessional teamworking in
primary and community care. Int J Nurse Stud 45:140-153
[14] Herwig-Lempp J (2004) Ressourcenorientierte Teamarbeit. Vandenhoeck & Ruprecht,
Göttingen

13.3 Ethikkonsil – Der »Witten-Nimweger-Leitfaden«


(WNL)

Dunger/Schnell

13.3.1 Was ist ein Ethikkonsil?


Ethikkonsil
Ein Ethikkonsil ist eine interprofessionelle Fallbesprechung. Im Dialog zwischen
den Mitgliedern wird eine ethische Analyse und Bewertung des jeweiligen
Problems durchgeführt. Diese bezieht medizinische, rechtliche sowie familiäre
Aspekte ein. Häufig handelt es sich um den Fortgang einer Behandlung in pro-
blematischen Fällen wie der Nichteinwilligungsfähigkeit des Patienten.

Richtet eine Institution wie ein Krankenhaus oder ein Altenheim ein Ethikkonsil
ein, erweist sie sich als lernfähige Institution, denn sie stellt sich durch die Weiter-
entwicklung des Wissens und der Handlungsmöglichkeiten ihrer Mitarbeiter auf
13 neue, unbekannte oder schwierige Situationen ein.
Schwierige Entscheidungen am Lebensende sind solche Situationen. Rein
rechtlich sind sie vom Patienten (oder dessen Betreuer) zu treffen und vom zustän-
digen Arzt mit zu verantworten. Dennoch können sie im Hinblick auf die mögliche
Komplexität medizinisch zu bedenkender Optionen von diesen Personen oft nicht
allein getroffen werden.

Wie arbeitet ein Ethikkonsil?


Ethikkonsile kommen im Bedarfsfall bzw. auf Anfrage zu einer Fallbesprechung
zusammen. Die Teilnehmer sollten interprofessionell ausgerichtet sein, d. h.
die komplexen Versorgungsstrukturen sowie Problematiken vertreten können.
Zudem können Gäste, wie Angehörige oder Betreuer im Einzelfall hinzu gezo-
gen werden.
13.3 · Ethikkonsil – Der »Witten-Nimweger-Leitfaden«
261 13
13.3.2 Moderation des Ethikkonsils

! Es ist sinnvoll, dass eine Fallbesprechung von einem professionellen


Moderator, der klinisch erfahren ist und über eine Ausbildung im Be-
reich ethischer Kommunikation verfügt, geleitet wird.

Da rechtlich die Entscheidungsbefugnis bei den Patienten oder ihren Betreuern unter
Beratung durch den zuständigen Arzt liegt, ist die Empfehlung des Konsils rechtlich
nicht bindend. Sie stellt aber die angeforderte Diskussion und Reflexion dar und
nimmt somit eine nicht geringe Last in der Entscheidungsfindung ab [15].

ä Werner P. ist 82 Jahre alt. Er hatte bereits mehrere Schlaganfälle und Herzin-
farkte, von denen er sich aber gut erholt hat. Er lebt mit einer Herzinsuffizienz,
hat vor 2 Jahren einen Bypass bekommen und leidet unter einer peripheren ar-
teriellen Verschlusskrankheit (pAVK). In den letzten Wochen wurde er aufgrund
der pAVK in einem kleinen Krankenhaus pflegerisch versorgt, da er zu instabil
für eine Operation war, aber auch nicht nach Hause entlassen werden konnte.
Dort wurde er zunehmend verwirrt, bis er zuletzt Halluzinationen hatte und
seine Verwandten nicht mehr erkannte. Er ißt nicht mehr und trinkt kaum
noch.
Nachdem die behandelnde Ärztin den Angehörigen mitgeteilt hat, dass
Herr P. vermutlich bald versterben wird, wird dieser auf deren Drängen auf die
Palliativstation verlegt. Es wird schnell klar, dass Werner P. exsikkiert ist und in
einem schlechten pflegerischen Zustand. Nachdem er ausreichend Flüssig-
keitszufuhr bekommen hat, geht es ihm wesentlich besser, wenngleich die Ver-
wirrtheit noch anhält. Die Angehörigen berichten, dass Werner P. starker Rau-
cher und Alkoholiker ist. Trotz seinem zurzeit schlechten Allgemeinzustand
lebte er bis zu seiner Krankenhauseinweisung vor 3 Wochen alleine mit seiner
demenziell erkrankten Frau in der gemeinsamen Wohnung. Sie bekommen
Unterstützung durch eine Nachbarin. Die Angehörigen wohnen weiter weg,
erklären sich aber bereit, die Betreuung für Werner P. zu übernehmen und die
weitere Versorgung zu organisieren. Die Betreuung für Frau P. wird nach Ab-
sprache mit ihrer Hausärztin ebenfalls beantragt.
Herr P. ist seit einer Woche auf der Station. An einem Vormittag kommt die
Nachbarin zusammen mit Frau P. auf die Station und gemeinsam verlangen sie,
den Antrag auf Betreuung von Werner P. zurück zu ziehen und ihn nach Hause
zu entlassen. Die Angehörigen seien nur am Erbe interessiert und sollen sich
nicht weiter in die Versorgung einmischen. Frau P. wirkt dabei sehr durchset-
zungsstark und gut orientiert.
6
262 Kapitel 13 · Interprofessionalität

Wer bestellt ein Ethikkonsil ein und führt es durch?


Prinzipiell können alle Beteiligten ein Ethikkonsil beantragen. Angehörige
und Patienten selbst tun dies selten. Sie wissen oft nichts von der Existenz
einer solchen Einrichtung und sind zu eingespannt in die Umstände, Konflikte
und schwierigen Situationen. Die Mitarbeiter des Teams wiederum sehen
problematische Situationen oder sind von Entscheidungen betroffen, die sie
belasten sowie ihr Wissen (über den Einzelfall) und ihre Erfahrungen über-
schreiten.
Der behandelnde Arzt steht nun, zusammen mit den bereits eingebunde-
nen anderen Mitarbeitern (Pflege, Sozialdienst), vor der Entscheidung, wie die
weitere Versorgung organisiert werden kann. Die dargestellten Fakten stellen
einerseits die unterschiedlichen Positionen der Beteiligten dar, sind auf der an-
deren Seite nicht ausreichend, um eine gut begründete Entscheidung zu fällen.
Ein Ethikkonsil thematisiert diese Situation und ermöglicht eine differenzierte
Darstellung des Problems. Hierzu kommen die Teilnehmer der unterschied-
lichen Berufsgruppen unter der Leitung eines Moderators zusammen.

Ist der Patient einwilligungsfähig?


Die Frage ist von ethischer und auch von rechtlicher Bedeutung (7 Kap. 12),
da der Wille des Patienten für Ärzte bindend ist.

Welcher Konflikt wird beschrieben und was ist das ethische Problem?
Offensichtlich gibt es in der Familie P. zwischen den Eltern und Kindern Pro-
bleme, die bei dem Besuch von Frau P. deutlich werden. Diese können in der
Familiengeschichte und/oder in den Erkrankungen der Eltern, speziell in der
13 demenziellen Veränderung der Mutter, liegen. Der Konflikt wird an der wei-
teren Versorgungsplanung sowie der Frage nach Übernahme der Betreuung
für die Eltern deutlich: auf der einen Seite stehen die Kinder, die sich sorgen,
ihre Eltern für nicht entscheidungsfähig halten und eine gute weitere Versor-
gung sichern möchten. Auf der anderen Seite gibt es die klare Aussage von
Frau P., die ihre Kinder massiv beschuldigt und ihre Selbstständigkeit wahren
möchte.
Das ethische Problem (das sich für das Team ergibt) ist zunächst die Span-
nung zwischen der Fürsorge für Werner P., den Implikationen der beiden unter-
schiedlichen Positionen hierfür und seiner Selbstbestimmung.
Ein Ethikkonsil verdeutlicht die konflikthaften Wertvorstellungen und dis-
kutiert alternative Lösungsvorschläge. Somit wird die Basis für eine begründete
Entscheidung geschaffen.
6
13.3 · Ethikkonsil – Der »Witten-Nimweger-Leitfaden«
263 13
Was wissen wir über die Wünsche und Vorstellungen von Werner P.?
Leitend in Therapieentscheidungen ist immer der Wille des Patienten. Nur mit
dessen Zustimmung ist eine Therapie rechtmäßig. Im Falle nichteinwilligungs-
fähiger Patienten, deren jeweiliger Willen unbekannt ist, wird der mutmaßliche
Wille von einem Betreuer ermittelt.
Werner P. befindet sich in einem verwirrten Zustand, der langsam, aber
stetig besser wird. Da keine Betreuung besteht, sind seine Wünsche und Vor-
stellungen maßgeblich. Dennoch wurde seine Perspektive auf die Situation
(noch) nicht berücksichtigt. Teil der ethischen Fragestellung ist somit auch, wie
und wann man ihn auf adäquate Weise in die Entscheidungsfindung einbezie-
hen kann.
Ein Ethikkonsil integriert diesen Aspekt in die Beratung und sichert somit
das Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Als Orientierung und zur Iden-
tifizierung weiterer zentraler Fragen kann der »Witten-Nimweger-Leitfaden«
(WNL) zur strukturierten Durchführung eines Ethikkonsils in der palliativen
Versorgung dienen, der folgend dargestellt ist.

13.3.3 Der »Witten-Nimweger-Leitfaden« (WNL)

Der WNL wurde als Überarbeitung und Anpassung des Nimweger Modells [16] an
palliative Strukturen am Institut für Ethik und Kommunikation im Gesundheits-
wesen (IEKG) der Fakultät für Gesundheit an der Universität Witten/Herdecke
entwickelt. Grundlage war eine Literaturrecherche zu bestehenden Ethikkonsilen in
Krankenhäusern sowie zur (strukturierten) Durchführung von Ethikkonsilen. Der
WNL wurde schließlich hinsichtlich seiner praktischen Relevanz und Praktikabilität
von klinischen Experten geprüft.
Der WNL besteht aus zwei Teilen, einem Antrag auf ein Konsil . Abb. 13.1 und
einem Leitfaden zur Durchführung. Die Durchführung berücksichtigt
4 die Werte, Einstellungen und Wünsche des Patienten, die maßgeblich sind und
daher erforscht werden müssen
4 die Rehabilitations-, Terminal- und Finalphase. Die Palliativphasen beschrei-
ben unterschiedliche Phasen innerhalb der palliativen Versorgung [17]. Diese
international nicht gebräuchliche Einteilung ermöglicht eine genauere Ein-
schätzung der Handlungsoptionen . Tab. 13.1
4 die Angehörigen. Sie sind nicht selten extrem belastet und in einer schwierigen
Situation [18]. Einerseits möchten sie durchaus in die Versorgung des Patienten
eingebunden werden, andererseits konfrontiert dieser Wunsch sie mit der
schmerzlichen Tatsache, dass der Patient leidet und sterben wird. Ein Palliativ-
team muss daher darauf achten, wie es Angehörige unterstützen und in die
Begleitung am Lebensende einbeziehen kann.
264 Kapitel 13 · Interprofessionalität

13

. Abb. 13.1 Beantragung eines Ethikkonsils


13.3 · Ethikkonsil – Der »Witten-Nimweger-Leitfaden«
265 13

. Abb. 13.1 (Fortsetzung)


266 Kapitel 13 · Interprofessionalität

. Tab. 13.1 Phasen in der Palliativmedizin

Phase Definition

Rehabilitationsphase Die letzten Monate oder (selten) Jahre


Ein weitgehend normales aktives Leben ist möglich
Auseinandersetzung mit den durch die Erkrankung beding-
ten psychischen, sozialen und spirituellen Belastungen
Ziele: bestmögliche Symptomkontrolle, Erhaltung der
Mobilität, bestmögliche Lebensqualität
Terminalphase Einigen Wochen, manchmal Monate
Aktivität nimmt deutlich ab, bzw. ist zunehmend einge-
schränkt
Finalphase Die letzten Stunden und Tage des Lebens
Sterbephase

13.3.4 Leitfaden: Witten-Nimweger-Modell

Die . Tab. 13.2 ist angelehnt an die Nimweger Methode [16].

13.3.5 Implementierung und Nutzung des WNL

13 Eine Implementierung des WNL bedarf umfassenderer Anstrengungen. Die pro-


fessionellen Mitglieder des Konsils werden in der Handhabung eines Leitfadens
geschult, um die ethische Analyse und Beratung einer Situation strukturiert durch-
führen zu können. Zusätzlich bedarf es gewisser Regeln, innerhalb der Institution
und des Ethikkonsils.
Die möglichen Regeln betreffen
4 die Institutionalisierung (Implementierung, Rekrutierung, Besetzung und Er-
neuerungszyklus, sowie Qualitätssicherung) eines Ethikkonsils. Hierzu zählt
auch, ob das Ethikkonsil Teil eines klinischen Ethikkommitees sein soll, dass
weitere Aufgaben im Bereich Leitlinienentwicklung und Weiterbildung über-
nehmen kann.
4 den Input (z. B.: Wann wird das Ethikkonsil aktiviert und wofür ist es zustän-
dig?)
4 die Deliberation (normative Grundlagen sowie spezifische Ablaufregeln)
4 den Output (Darlegung und Formulierung der Stellungnahmen sowie Folgen
und Verbindlichkeit der Empfehlungen) [19]
. Tab. 13.2 Witten-Nimweger-Modell: Worin besteht das ethische Problem?

Fakten

Körperliche Dimension Psycho-soziale und lebensanschauliche Organisations- und Versorgungs-


Dimension dimension
Diagnosen? 4 Was ist über den Willen und die Wünsche 4 Wie sieht die aktuelle Versorgung
4 Welche Einschätzung der Patienten- hinsichtlich des Lebensendes des Patien- aus?
situation liegt aufgrund des Basis- ten bekannt (Willensäußerungen, Patien- 4 Gibt es Standards der Versorgung,
assessments vor? tenverfügung, Betreuer oder Bevoll- die hier weiterhin greifen würden?
4 In welcher Palliativphase befindet sich mächtigter)? Warum werden sie nicht gewählt?
der Patient? 4 Was ist über die Lebensanschauung 4 Wie und durch wen könnte eine
4 Warum wurde der Patient auf die sowie den kulturellen oder religiösen alternative Behandlung gewähr-
Palliativstation aufgenommen? Hintergrund des Patienten bekannt und leistet werden?
4 Welche Probleme stehen zu Zeit im wie kann darauf eingegangen werden? 4 Wird die Unterstützung der Be-
Vordergrund? 4 Welche positiven/negativen Folgen gleiter behindert? Wodurch?
13.3 · Ethikkonsil – Der »Witten-Nimweger-Leitfaden«

4 Wie sieht die aktuelle Behandlung/das haben aktuelle und alternative Behand- 4 Wie können die Begleiter unter-
Symptommanagement aus? lungen auf die Lebensqualität des Pa- stützt/entlastet werden?
4 Welche Behandlungen sind möglich? tienten?
4 Inwieweit ist der Patient in der Lage, 4 Welche sozialen Bindungen und Bezie-
sich selbst zu versorgen und/oder an hungen hat der Patient?
267

der Behandlung mitzuwirken? 4 Wer sind die Begleiter des Patienten?


4 Welche positiven/negativen Folgen 4 Welche positiven/negativen Folgen
sind durch aktuelle und alternative haben aktuelle und alternative Behand-
Behandlungen auf die Prognose zu lungen auf das soziale Umfeld und die
erwarten? Begleiter des Patienten?
13
13
268
. Tab. 13.2 (Fortsetzung)

Bewertung

Wohlbefinden des Patienten Autonomie/Wille des Patienten Verantwortlichkeit des betreuenden


4 Inwieweit dienen die Maßnahmen 4 Wie ist in der aktuellen Situation der Wille Teams sowie der Begleiter
dem physiologischen, psychosozialen des Patienten zu erforschen (WWP)? 4 Welche Werte und Einstellungen
und spirituellen Wohlbefinden des Einwilligungsfähiger Patient: werden im Hinblick auf die aktuelle
Patienten? 4 In welcher Weise nahm der Patient an Fragestellung vertreten?
4 Wie sind positive und negative Folgen bisherigen klinischen Entscheidungen 4 Gibt es Werte und Einstellungen,
gegeneinander abzuwägen? teil? die bisher nicht berücksichtigt
4 Wie urteilt der Patient über die Belas- wurden?
Kapitel 13 · Interprofessionalität

tung und den Nutzen der Maßnahmen? 4 Gibt es Meinungsverschiedenheiten


Nichteinwilligungsfähiger Patient: über das, was getan werden sollte
4 Patientenverfügung? Betreuer oder und welche Wertekonflikte werden
Bevollmächtigter? darin deutlich?
4 Gibt es verbale und nonverbale, aktuelle 4 Kann dieser Konflikt durch die Wahl
oder frühere Äußerungen des Patienten, einer bestimmten Behandlung
die seinen mutmaßlichen Willen erken- gelöst werden?
nen lassen?
4 Ist die Willenseinschränkung durchge-
hend oder gibt es Phasen, in denen der
Patient die Situation klar erfassen kann?
Minderjährige:
4 Wurde auch der Wille des minderjähri-
gen Patienten erfasst?
4 Ist der minderjährige Patient in der Lage,
die Situation einzuschätzen und im
Hinblick auf die Erkrankung selbst zu
entscheiden?
4 Was bedeutet es für den minderjährigen
Patienten, falls der Auffassung der Eltern
entsprochen bzw. nicht entsprochen
wird?
Ergebnis
4 Wie stellt sich das Problem nach Durchführung des klinisch-ethischen Konsils dar?
4 Müssen noch wichtige Informationen eingeholt werden? Von wem?
4 Gibt es ein Votum für eine Problemlösung?
4 Wie lautet dieses? Wie ist es begründet? Wie ist nun das weitere Vorgehen?
4 Wie wird die Einbindung des Patienten/der Patientin sichergestellt?
4 In welcher Situation muss die Entscheidung erneut überdacht werden?
13.3 · Ethikkonsil – Der »Witten-Nimweger-Leitfaden«
13 269
270 Kapitel 13 · Interprofessionalität

Eine Ausformulierung dieser Punkte innerhalb der Institution bedeutet zugleich


eine Anpassung des Ethikkonsils an/in die bestehenden Strukturen und der Struk-
turen an das Konsil.
Der WNL ist ein strukturgebendes Instrument zur Durchführung von Ethik-
konsilen, das speziell auf Entscheidungssituationen am Lebensende angepasst
wurde.

Zusammenfassung
Entscheidungen am Lebensende können schwierig und problematisch sein.
Das Ziel, Menschen in ihrer letzten Lebensphase zu begleiten und ihnen eine
möglichst hohe Lebensqualität zu ermöglichen, stellt einen speziellen An-
spruch an die Begleiter.
Der WNL ist ein strukturgebendes Instrument zur Durchführung von Ethik-
konsilen, das speziell auf Entscheidungssituationen am Lebensende angepasst
wurde.

Literatur
[15] Vollmann J (2006) Klinische Ethikkomitees: zur aktuellen Entwicklung in deutschen
Krankenhäusern. In: Kolb S et al. (Hrsg.) Medizin und Gewissen. Wenn Würde ein Wert
würde. Menschenrechte, Technologiefolgen, Gesundheitspolitik. Mabuse, Frankfurt a.
Main
[16] Gordijn B (2005) Ethik in Klinik und Pflegeeinrichtung. Ein Arbeitsbuch. Luchterhand,
Neuwied
[17] Klaschik E et al. (2000) Palliativmedizin. Springer, Berlin
[18] Andershed B (2006) Relatives in end-of-life care – part 1: a systematic review of the
13 literature the five last years, January 1999–February 2004. J Clin Nurs15(9):1158–1169
[19] Dörries A et al. (2010) Klinische Ethikberatung. Kohlhammer, Stuttgart
271 14
Palliativmedizin im
gesellschaftlichen System
14.1 Gesundheitssystemische und
-ökonomische Perspektiven – 272
Schneider, Maier
14.2 Leichenschau und Bestattung – 281
Huckenbeck

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2_14, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
272 Kapitel 14 · Palliativmedizin im gesellschaftlichen System

14.1 Gesundheitssystemische und -ökonomische


Perspektiven

Schneider, Maier

>>

Die Palliativversorgung kann nicht isoliert betrachtet werden, sondern ist Teil der
sozialen Sicherung in Deutschland. Dieses Kapitel ordnet die Palliativmedizin in den
Kontext des Gesundheitssystems ein und stellt die Strukturen und die Grundzüge
ihrer Finanzierung vor.

14.1.1 Systematik der Palliativversorgung


Palliativversorgung
Palliativversorgung im Sinne von Palliative Care ist ein umfassendes Konzept
zur Versorgung von Menschen mit unheilbaren, fortgeschrittenen und weiter
fortschreitenden Erkrankungen und integriert die Palliativmedizin (im Sinne
des ärztlichen Anteils an der Palliativversorgung), Palliativpflege (pflegerischer
Anteil), ehrenamtliche Hospizarbeit und weitere Bereiche (z. B. Sozialarbeit,
Seelsorge, Psychologie).

An der Palliativversorgung sind zahlreiche unterschiedliche Institutionen, Dienste


und Fachdisziplinen beteiligt. Die meisten davon kümmern sich nicht ausschließ-
lich um Palliativpatienten, sondern nehmen auch andere Aufgaben in der gesund-
heitlichen Versorgung der Bevölkerung wahr, so z. B. die Hausärzte, Fachärzte
14 unterschiedlicher Fachrichtungen und allgemeine Krankenhausstationen. Diese
Strukturen, die sich nicht schwerpunktmäßig auf die Versorgung von Palliativpa-
tienten spezialisiert haben, zählen zur allgemeinen Palliativversorgung. Davon zu
unterscheiden ist die spezialisierte Palliativversorgung, die von Hospizen, Palliativ-
stationen, Palliative Care-Teams und anderen Einrichtungen erbracht wird, die sich
vorrangig auf die Versorgung von Palliativpatienten spezialisiert haben.

14.1.2 Hausärztliche Versorgung von Palliativpatienten

Für die allgemeine Palliativversorgung im häuslichen Umfeld der Patienten spielen


– neben ambulanten Pflegediensten – Hausärzte eine zentrale Rolle. Der für die
Hausarztmedizin charakteristische bio-psycho-soziale Ansatz ist prädestiniert für
die umfassende Versorgung von Palliativpatienten.
14.1 · Gesundheitssystemische Perspektiven
273 14
Im hausärztlichen Bereich überwiegen Palliativpatienten (insbesondere ältere
Menschen) mit nicht-onkologischen Erkrankungen.
Die kontinuierliche Betreuung von Palliativpatienten ist zeitaufwendig und mit
oftmals vielen Hausbesuchen und intensiven Gesprächen, auch mit der Familie
eines Patienten, verbunden. Der Hausarzt in seiner Praxis kann dabei an ökono-
mische, strukturelle und persönliche Grenzen (fachlich, psychische Belastung u. a.)
stoßen, insbesondere, wenn er mehrere Palliativpatienten zugleich betreut. Ein
ökonomisches Problem liegt darin, dass Gesprächsleistungen und Hausbesuche
vergleichsweise weniger honoriert werden als technisch orientierte Leistungen, wie
zum Beispiel im Bereich der Diagnostik. Die Vergütung der ambulant tätigen Ärzte
für die Versorgung von gesetzlich krankenversicherten Patienten ist in der Gebüh-
renordnung (einheitlicher Bewertungsmaßstab) geregelt, für die die Selbstverwal-
tung der Vertragsärzte (Kassenärztliche Vereinigung) und der Krankenkassen
verantwortlich ist. Neue Konzepte zur Stärkung der hausärztlichen Palliativver-
sorgung auf allen Ebenen (Aus-, Weiter- und Fortbildung, Finanzierung, Koopera-
tionen) werden zunehmend diskutiert.
ä In einem Forschungsprojekt wurden Gruppendiskussionen mit Ärzten unter-
schiedlicher Fachrichtungen (Allgemeinmedizin, Geriatrie, Palliativmedizin)
durchgeführt, um ein Stimmungsbild zur Versorgung von Palliativpatienten
und den gesundheitssystemischen Rahmenbedingungen einzuholen. Viele
Teilnehmer kritisieren, dass das Gesundheitssystem zu stark auf technische As-
pekte in Diagnostik und Therapie ausgerichtet ist, während »weiche« Faktoren
vernachlässigt werden, nicht nur, aber auch in der Finanzierung. Dies führe
dazu, dass Ärzte und Pflegekräfte Palliativpatienten oft nicht so versorgen
könnten, wie es erforderlich wäre. Ein Hausarzt sagte:

»Es ist zu wenig Geld da für diese Medizin. Es zählt nur das Technische. Wir
brauchen mehr Zeit für den Menschen.«

14.1.3 Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV)

Die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) ergänzt das Versorgungs-


angebot von Haus- und Fachärzten sowie ambulanten Pflegediensten mit dem Ziel,
auch Patienten mit besonders aufwendigem palliativmedizinischem Versorgungs-
bedarf eine bestmögliche Lebensqualität und ein Sterben im häuslichen Umfeld zu
ermöglichen. SAPV kann in unterschiedlicher, abgestufter Form stattfinden:
4 als Koordinationsleistung
4 Teilversorgung, additiv zur hausärztlichen und pflegerischen Primärversor-
gung
4 Vollversorgung
274 Kapitel 14 · Palliativmedizin im gesellschaftlichen System

Im Sozialgesetzbuch (SGB) verankert wurde die SAPV erstmals im Jahr 2007 (§ 37b
und § 132d SGB V). Die Umsetzung in die Praxis verläuft jedoch schleppend, SAPV-
Teams waren bis 2011 bei weitem noch nicht flächendeckend verfügbar. Von Seiten
der Politik waren für den Zeitraum von 2007 bis 2010 rund 630 Mio. € Mehraus-
gaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für die SAPV veranschlagt
worden; tatsächlich wurden nur rund 50 Mio. € (8 %) aufgewendet. Zum Vergleich:
Die Gesamt-Ausgaben der GKV betrugen im Jahr 2007 rund 153 Mrd. €.
Die Verträge zur SAPV werden zwischen den Krankenkassen und den Leis-
tungsanbietern geschlossen. Vertragspartner kann dabei prinzipiell jede Träger-
struktur sein, die SAPV anbieten will, z. B Krankenhäuser, einzelne Ärzte, Arzt-
netze, Pflegedienste oder auch Hospizvereine.
Die bestehenden SAPV-Verträge unterscheiden sich regional erheblich. Dies
gilt für unterschiedliche Bundesländer, aufgrund der auf Länderebene verorteten
Vertragskompetenz der Krankenkassen, aber unabhängig davon auch für den Un-
terschied zwischen ländlichen und städtischen Versorgungsregionen.
Dies führt in der Summe dazu, dass zum jetzigen Zeitpunkt kaum Vergleich-
barkeit zwischen den unterschiedlichen Verträgen und damit verbundenen kon-
zeptionellen Ansätzen besteht.

ä In der Region Wiesbaden/Hessen (Stadtgebiet und Umkreis bis zu 20 km) leben


ca. 500.000 Menschen. Es besteht ein gut ausgebautes, tragfähiges Netz der
allgemeinen ambulanten Palliativversorgung. Zusätzlich gibt es zwei SAPV-
Teams: Ein Team agiert als Palliative Care-Team, getragen von der Abteilung
Palliativmedizin eines Krankenhauses (HSK, Dr. Horst Schmidt Klinik) und ein
Team aus einem niedergelassen geführten Zentrum für ambulante Palliativ-
versorgung (ZAPV).
Beide Teams arbeiten aufgrund eines identischen Vertrages, der als SAPV-
14 Mustervertrag für Hessen verhandelt wurde. Wesentliches wirtschaftlich-strate-
gisches Kennzeichen dieses Vertrages ist eine degressive SAPV-Komplexpau-
schale, die nach Länge des Behandlungszeitraumes gestaffelt eine über die
Leistungsinhalte Koordination, additiv unterstützende Teilversorgung und Voll-
versorgung gemittelte Tagespauschale erlöst.
Diese Pauschale deckt sämtliche SAPV-Leistungen des interprofessionellen
Teams ab. Dazu gehören unter anderen: geplante Monitoring-Besuche und
Telefonate, Case Management und Koordination der Versorgung durch Ärzte
und/oder Pflegende; Beratung, Anleitung und Behandlung des Patienten und
seiner Angehörigen in geplanten und/oder in Kriseneinsätzen bei täglicher
24-stündiger Ruf- und Einsatzbereitschaft qualifizierter Pflegefachkräfte und
Ärzte. Neben der Tätigkeit am Patienten sind als patientenferne Tätigkeit die
tägliche Information der weiteren Teammitglieder und Kooperationspartner,
6
14.1 · Gesundheitssystemische Perspektiven
275 14
Wegezeiten, die Dokumentation und Nachbereitung, Administration und Maß-
nahmen zur Qualitätssicherung über diese Pauschale abgedeckt.
Tag 1–10 werden mit pauschal 1500 €, Tag 11 bis 56 mit 120 €/Tag und ab
Tag 57 mit 80 €/Tag als SAPV-Komplexpauschale vergütet.
Auf Grundlage dieses Vertrages ist es gelungen, in der Versorgungsregion
unabhängig von der Trägerstruktur des jeweiligen Teams über 80 % der Betrof-
fenen den Verbleib am gewünschten Aufenthaltsort zu ermöglichen und nicht
indizierte, unerwünschte und unnötige Krankenhauseinweisungen zu ver-
meiden.

14.1.4 Palliativmedizin im Krankenhaus

Palliativmedizin im Krankenhaus lässt sich analog der Kategorisierung im ambu-


lanten Bereich in allgemeine und spezialisierte Palliativversorgung klassifizieren.
Dabei nimmt die Behandlung und Betreuung durch die primär zuständigen
Fachabteilungen die Rolle der allgemeinen Palliativversorgung ein.
! Ergänzende spezialisierte palliative Betreuungsangebote können ent-
weder als konsiliarische Mitbehandlung durch ein Palliativteam im
Sinne eines »Hospital Support Teams« und/oder auf einer eigenständi-
gen Einheit, einer spezialisierten Palliativstation, erfolgen.
Im Unterschied zum herkömmlichen Konsiliardienst schließt das Selbstverständ-
nis der palliativen konsiliarischen Mitbetreuung die kontinuierliche Begleitung des
betroffenen Patienten und seiner Angehörigen über die Länge des Krankenhaus-
aufenthaltes mit ein. Dies bedeutet einen vergleichsweise höheren Zeit- und Perso-
nalaufwand. Da entsprechend der bestehenden Vergütungsregeln für Krankenhäu-
ser Konsile bereits in den diagnosebezogenen Fallgruppen (G-DRG) und im Pfle-
gesatz des Krankenhauses enthalten sind, ist für diesen inhaltlich begründeten
Mehraufwand im palliativen Kontext bislang keine spezifische Kompensation vor-
gesehen. Für die Behandlung auf einer Palliativstation gelten ebenso prinzipiell
die bestehenden Grundsätze der Vergütungen von stationärer Krankenhausbe-
handlung.
Die Besonderheiten der Palliativbetreuung werden dabei in der Form berück-
sichtigt, dass hier ein eigener Operations- und Prozedurenschlüssel (OPS Code
8-982) eingeführt wurde, der über inhaltliche Leistungsbeschreibung eine »pallia-
tivmedizinische Komplexbehandlung« definiert. Entsprechend der Verweildauer-
analyse von Fällen mit diesem Code ist eine relevante Verschiebung hin zu höheren
Verweildauern ermittelt worden, so dass dieser Code ein verweildauerabhängiges
Zusatzentgelt (ZE 60) triggert. Dieses Zusatzentgelt ist an konkrete Leitungsmerk-
male geknüpft (7 Übersicht) und variiert je nach Dauer der Behandlung. Ab min-
276 Kapitel 14 · Palliativmedizin im gesellschaftlichen System

destens 7 Behandlungstagen (und bis maximal 13) ist es auf 1321,76 € festgelegt
(gültig für das Jahr 2011); für längere Behandlungszeiträume gelten abgestuft hö-
here Zusatzentgelte.

OPS 8-982 zur Definition einer palliativmedizinischen Komplexbehand-


lung (Mindestmerkmale, Stand 2011):
4 Durchführung eines standardisierten palliativmedizinischen Basisassess-
ments (PBA) zu Beginn der Behandlung.
4 Aktive, ganzheitliche Behandlung zur Symptomkontrolle und psychoso-
zialen Stabilisierung ohne kurative Intention und im Allgemeinen ohne Be-
einflussung der Grunderkrankung von Patienten mit einer progredienten,
fortgeschrittenen Erkrankung und begrenzter Lebenserwartung unter
Einbeziehung ihrer Angehörigen und unter Leitung eines Facharztes mit
der Zusatzweiterbildung Palliativmedizin.
4 Aktivierend- oder begleitend-therapeutische Pflege durch besonders in
diesem Bereich geschultes Pflegepersonal.
4 Erstellung und Dokumentation eines individuellen Behandlungsplans bei
Aufnahme.
4 Wöchentliche multidisziplinäre Teambesprechung mit wochenbezogener
Dokumentation bisheriger Behandlungsergebnisse und weiterer Behand-
lungsziele.
4 Einsatz von mindestens zwei der folgenden Therapiebereiche: Sozialarbeit/
Sozialpädagogik, Psychologie, Physiotherapie, künstlerische Therapie
(Kunst- und Musiktherapie), Entspannungstherapie, Patienten-, Angehöri-
gen- und/oder Familiengespräche mit insgesamt mindestens 6 Stunden
pro Patient und Woche in patientenbezogenen unterschiedlichen Kombi-
14 nationen.

Aufgrund der prinzipiell beschriebenen Schwierigkeiten der Abbildung palliativer


Behandlung im üblichen Krankenhausvergütungssystem besteht darüber hinaus
die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzungen die Behandlung auf einer Pal-
liativstation gemäß der »Vereinbarung zur Bestimmung von Besonderen Einrich-
tungen« gemäß § 17 Abs. 1 Satz 15 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes geltend
zu machen. Diese Regelung sieht die Aushandlung von tagesbezogenen Entgelten
zwischen Träger von Leistungserbringern und Krankenkassen vor in den Fällen, in
denen eine sachgerechte Vergütung über das bestehende DRG-System (noch) nicht
gewährleistet ist. Die tagesgleichen Entgelte für Palliativstationen, die dementspre-
chend als »Besondere Einrichtung« abrechnen, schwanken nach Daten aus dem
Jahr 2007 zwischen 310 € und 550 €.
14.1 · Gesundheitssystemische Perspektiven
277 14
ä Ein 69-Jähriger Patient mit fortgeschrittenem, metastasiertem Lungenkarzinom
wird wegen Luftnot über die Notaufnahme stationär auf die onkologische
Bettenstation aufgenommen.
Diagnostisch wird ein eindeutiger Progress der Grunderkrankung unter
zytostatischer Therapie gesichert, die aufgrund der Unwirksamkeit beendet
wird. Nach 3 Tagen Aufenthalt auf der onkologischen Station wird ein Konsil an
das Palliativteam ausgestellt.
In der konsiliarischen Erstbeurteilung werden folgende Belastungsfaktoren
des Patienten ermittelt:
4 ausgeprägte Ruhedyspnoe
4 Angststörung mit rezidivierenden Panikattacken
4 Fatigue- und Erschöpfungssymptomatik
4 Demoralisation mit hoher Ambivalenz zwischen Lebenshunger und Todes-
sehnsucht
4 psychosoziale Belastung durch Schuldgefühle gegenüber den Angehöri-
gen
4 Zukunftsängste aufgrund eines drohenden Autonomieverlustes bei zuneh-
mend eingeschränkter Selbsthilfefähigkeit

Aufgrund der Komplexität der bestehenden Polysymptomatik wird die Indika-


tion zur Übernahme auf die Palliativstation gestellt.
An Tag 4 des Krankenhausaufenthaltes erfolgt die Übernahme auf die Pallia-
tivstation. Dort wird die Klärung des aktuellen Therapieziels und des Vorgehens
mittels ausführlichem multiprofessionellem Assessment, Familienkonferenzen
und sozialrechtlicher Beratung erarbeitet. Nach 3 Tagen wird die Entscheidung
getroffen, den Patienten nach Hause zur Sterbebegleitung zu entlassen. Parallel
können die Symptome wie Angst und Luftnot medikamentös effektiv gelindert
werden. Weiterhin erfolgt die Anleitung des Patienten und seiner Angehörigen
zum zielgerichteten Einsatz von Bedarfsmedikation, die Organisation von Hilfs-
mitteln für zuhause und eines ambulanten Pflegedienstes, die Klärung der Vor-
aussetzung für SAPV und schließlich die Überleitung an ein SAPV-Team nach 7 Ta-
gen Aufenthalt im Krankenhaus. Eine Woche später verstirbt der Patient zu Hause.
Bei Aufnahme auf die onkologische Station greift die diagnosebezogene
Fallgruppe (DRG) für den Patienten. Die konsiliarische palliative Beratung ist in
dieser DRG enthalten. Mit Verlegung auf die Palliativstation wird die DRG fort-
geführt – jetzt allerdings ergänzt um die »palliativmedizinische Komplexbe-
handlung« gemäß der Mindestmerkmale von OPS 8-982 (7 Übersicht). Dies
führt jedoch in diesem Fall nicht zu einem Zusatzentgelt, da der Patient dafür
mindestens drei weitere Tage (insgesamt mindestens 7 Tage) auf der Palliativ-
station hätte verbleiben müssen; die OPS 8-982 gilt erst ab Verlegung auf die
Palliativstation, nicht aber für die vorherige Zeit auf der onkologischen Station.
278 Kapitel 14 · Palliativmedizin im gesellschaftlichen System

Das Fallbeispiel zeigt, dass der inhaltlich komprimierte multiprofessionelle Ansatz


mit hoher Problemlösungskapazität nicht in jedem Fall einen positiven Einfluss auf
das ökonomische Ergebnis hat. Dies trifft insbesondere für Patienten mit Verweil-
dauern kürzer als 7 Tage in der palliativmedizinischen Komplexbehandlung zu. Da
häufig Palliativstationen nicht die erste Anlaufstelle für Patienten während ihres
stationären Aufenthaltes sind und die OPS 8-982 in vielen Fällen erst mit Verlegung
in die spezialisierten Palliativeinheiten geltend gemacht werden kann, wird die
Zusatzentgelt relevante Verweildauer oft nicht erreicht. Dies steht in inhaltlichem
Widerspruch zu der Tatsache, dass gerade kurze stationäre Aufenthalte auf Pallia-
tivstationen einen hohen Einsatz von Zeit- und Personalressourcen erfordern, der
in der bestehenden Klassifikationssystematik nicht erfasst wird.

14.1.5 Hospizarbeit

Den Kern der Hospizarbeit bildet das Ehrenamt, unterstützt durch hauptamtliche
Strukturen. Schätzungsweise 80.000 Menschen engagieren sich in Deutschland
ehrenamtlich für die Hospizarbeit. Wichtige Organisationsformen sind stationäre
Hospize und ambulante Hospizdienste.

Stationäre Hospize
4 Ein stationäres Hospiz ist eine vom Krankenhaus oder Pflegeheim unab-
hängige Einrichtung.
4 Betreut werden Schwerstkranke mit absehbarem Lebensende, wenn eine
Versorgung zu Hause nicht möglich und im Krankenhaus nicht nötig ist.
4 Schwerpunkte sind die pflegerische und psychosoziale Betreuung.
14 4 Ärzte gehören in Deutschland nicht obligatorisch zum Behandlungsteam,
sondern werden meistens bei Bedarf hinzugezogen.
4 Es gibt derzeit (Stand 2011) 179 stationäre Hospize in Deutschland.

Ambulante Hospizdienste
4 Ambulante Hospizdienste verfügen über geschulte Hospizhelfer (Ehren-
amtliche).
4 Abhängig von der Anzahl der Hospizhelfer gibt es eine hauptamtliche
Koordinationskraft.
4 Es gibt derzeit (Stand 2011) bundesweit rund 1500 ambulante Hospizdienste.

Nach § 39a Sozialgesetzbuch V haben gesetzlich krankenversicherte Patienten An-


spruch auf stationäre oder teilstationäre Versorgung in Hospizen, wenn eine am-
14.1 · Gesundheitssystemische Perspektiven
279 14
bulante Versorgung nicht hinreichend möglich und eine Krankenhausbehandlung
nicht erforderlich ist. Die Zahlungen der Krankenkassen für den stationären Hos-
pizbereich sind in den letzten Jahren kontinuierlich von ca. 11 Mio. € im Jahr 1998
(für damals 58 Hospize) bis auf 46 Mio. € im Jahr 2007 (für 145 Hospize) gestiegen.
Für ambulante Hospizdienste wurden im Jahr 2002 sechs Mio. € (für 304 Dienste)
von der GKV ausgezahlt, auch diese Summe ist kontinuierlich gestiegen auf 19,7
Mio. € im Jahr 2007 (für 597 ambulante Hospizdienste; insgesamt gibt es mittler-
weile rund weit über 1500 Dienste in Deutschland).
Die Kosten für stationäre Hospizversorgung (Tagesbedarfssätze) schwanken
im bundesweiten Vergleich erheblich und liegen je nach Einrichtung etwa zwi-
schen 175 und 320 €. In § 39a SGB V ist festgelegt, dass die Krankenkasse 90 %
(bei Kinderhospizen 95 %) der zuschussfähigen Kosten des anerkannten Tages-
bedarfssatzes unter Anrechnung der Leistungen aus der Pflegeversicherung zu tra-
gen hat.
Bei ambulanten Hospizdiensten richtet sich die Bezuschussung durch die
Krankenkassen nach § 39a SGV V nach der Zahl der geleisteten Sterbebegleitungen
und der Anzahl einsatzbereiter ehrenamtlicher Mitarbeiter.

14.1.6 Bedarf

Der Bedarf an Palliativ- und Hospizbetten wird auf ca. 30–50 Betten/1 Mio. Ein-
wohner geschätzt. Angaben zu den tatsächlich verfügbaren Betten sind schwierig
zu treffen. Das Versorgungsangebot ist sehr heterogen und variiert je nach regio-
nalen Besonderheiten (städtische/ländliche Umgebung, Schwerpunkte von Kran-
kenhäusern u. a.). Deshalb kann die Versorgungslage zwar regional oft recht gut
beschrieben werden, aber überregional (bundesweit) betrachtet ergibt sich kein
schlüssiges Bild.
In der ambulanten Palliativversorgung besteht trotz Einführung der SAPV
nach wie vor eine erhebliche Unterversorgung. Experten gehen davon aus, dass ca.
330 Palliative Care-Teams bundesweit erforderlich sind, um den Bedarf zu decken
(ein Team für ca. 250.000 Einwohner). Auch wenn genauere Zahlen nicht vorliegen
und sich die vorhandenen Palliativdienste hinsichtlich ihrer Struktur sehr unter-
scheiden, ist der Bedarf bislang höchstens zu einem Drittel gedeckt.

! Unklar ist, wie sich die neue spezialisierte ambulante Palliativversor-


gung auf den Bedarf an Hospiz- und Palliativbetten auswirkt. Denkbar
ist eine Reduktion des Bedarfs, weil mehr Patienten ambulant betreut
werden können, aber auch eine Erhöhung des Bedarfs: sowohl als Folge
einer weiteren Sensibilisierung für den Palliative Care-Ansatz als auch
zur Kompensation einer derzeitigen Unterversorgung.
280 Kapitel 14 · Palliativmedizin im gesellschaftlichen System

Für die ambulanten Hospizdienste kann davon ausgegangen werden, dass sie in
den meisten Städten und Gemeinden verfügbar sind und somit insgesamt eine
flächendeckende Versorgung besteht.

Zusammenfassung
Die meisten schwerstkranken und sterbenden Menschen können im Rahmen
der Primärversorgung vor allem durch Hausärzte und ambulante Pflegedienste
betreut werden (allgemeine ambulante Palliativversorgung). Spezifische finan-
zielle Regelungen, die dem Versorgungsbedarf von Palliativpatienten gerecht
werden, bestehen in diesem Bereich nicht.
Ein Teil der Betroffenen hat einen so komplexen Versorgungsbedarf, dass
spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) erforderlich ist. Diese wur-
de im Jahr 2007 sozialgesetzlich verankert.
Die Differenzierung zwischen allgemeiner und spezialisierter Versorgung
findet sich auch im Krankenhaus, wo eine angemessene Abbildung der Pallia-
tivmedizin im bestehenden Vergütungssystem noch nicht gewährleistet ist.
Allerdings wurden Fortschritte erzielt, die eine Richtschnur für ökonomische
Planungen darstellen.
Zukünftige Aufgabe wird sein, alle Bausteine der Versorgungskette mit
stabilen finanziellen Voraussetzungen zu untermauern, um den Anspruch einer
bedarfsgerechten und zweckmäßigen, sowie auch qualitativ hochwertigen
Palliativversorgung flächendeckend und sektorenübergreifend nachhaltig um-
setzen zu können.

Weiterführende Literatur
14 [1] Ewald H, Maier BO, Amelung VE, Schindler T, Schneider N (2008) Perspektiven der Pallia-
tivversorgung. In: Klauber J, Robra BP, Schellschmidt H (Hrsg.) Krankenhausreport 2007.
Schattauer, Stuttgart
[2] Kruse A (2007) Das letzte Lebensjahr. Zur körperlichen, psychischen und sozialen Situa-
tion des alten Menschen am Ende seines Lebens. Kohlhammer, Stuttgart
[3] Moreno et al. (2008) Palliative care in the European Union. European Parliament. Policy
Department A: Economic and Scientific Policy. Brussels
[4] Schindler T (2006) Zur palliativmedizinischen Versorgungssituation in Deutschland.
Bundesgesundheitsblatt 49:1077-1086
[5] Schneider N, Mitchell G, Murray SA (2010) Ambulante Palliativversorgung. Der Hausarzt
als erster Ansprechpartner. Deutsches Ärzteblatt 107:A-925-A927
[6] Payne S, Coyne P, Smith TJ (2002) The health economics of palliative care. Oncology
16(6):801-808
[7] Smith TJ, Cassel B (2009) Cost and non-clinical outcomes of palliative care. J Pain Sym-
ptom Manage 38(1):32-44
14.2 · Leichenschau und Bestattung
281 14
[8] Gomes B, Harding R Foley K, Higginson IJ (2009) Optimal approaches to the health eco-
nomics of palliative care. Report of an international think tank. J Pain Symptom Manage
38(1): 4-10
[9] Harding R, Foley K, Gomes B, Higginson IJ (2009) Research Priorities in Health Economics
and Funding for Palliative Care: views of an international think tank. J Pain Symptom
Manage 38(1):11-14

14.2 Leichenschau und Bestattung

Huckenbeck

>>

Jeder Arzt hat sich nach entsprechenden landesrechtlichen Vorschriften der Verpflich-
tung zu unterziehen, den Tod eines Menschen festzustellen. Dies dient sowohl der
Feststellung der nicht mehr möglichen ärztlichen Behandlung des Patienten (Todes-
feststellung), der Wahrnehmung öffentlicher Verpflichtungen im Gesundheitswesen
(Todesursachenstatistik, Seuchenbekämpfung) sowie der Aufdeckung strafbarer
Handlungen. Das Leichenwesen wird durch Landesgesetze und -verordnungen gere-
gelt. Daher existieren für jedes Bundesland unterschiedlich formulierte Vorschriften
für einen identischen Sachverhalt. Auch die Todesbescheinigungen variieren, die ärzt-
liche Aufgabe hingegen nicht.

14.2.1 Feststellung des Todes

Für einen rechtsgültig ausgefüllten Totenschein ist die Feststellung und Dokumen-
tation von mindestens einem sicheren Zeichen des Todes notwendig.

jLivores (Totenflecke)
Die Entstehung erfolgt durch Hypostase. Beginnende Totenflecke sind mitunter
bereits beim Sterbenden sichtbar (Kirchhof-Rosen). In der Regel beginnen die
Totenflecken 20–30 Minuten nach dem Kreislaufstillstand. Aussparungen entste-
hen an aufliegenden Körperpartien sowie durch Kompression, beispielsweise durch
enge Kleidung. Bei abnormen Lageverhältnissen der Leiche kann es zu verwir-
renden Anordnungen und Verteilungsmustern kommen. Gerade im Rahmen der
Palliativmedizin kann es durch die Funktion von Anti-Dekubitus-Matratzen hier
zu Verzögerungen kommen.
Eine besondere Bedeutung kommt auch der Farbe der Leichenflecken zu. Nor-
malerweise ist sie düsterrot bis livide-violett. Die Farbe der Totenflecken hängt vom
282 Kapitel 14 · Palliativmedizin im gesellschaftlichen System

Grad der Sauerstoffsättigung ab. Da der an das Hämoglobin gebundene Sauerstoff


auch nach Eintritt des Herz-Kreislauf-Stillstandes noch verbraucht wird, ist Lei-
chenblut extrem sauerstoffarm. Jedes Abweichen von einer livide violetten Farbe
bedarf daher dringend einer Abklärung.

jRigor mortis (Totenstarre)


Das Auftreten der Totenstarre beginnt wenige Stunden nach dem Tod. In aller
Regel ist sie zwischen 6–12 Stunden nach dem Tod vollständig ausgeprägt. In-
nerhalb der ersten Stunden kann sie gebrochen werden und bildet sich dann er-
neut aus. Als Maximum werden hier 6–10 Stunden genannt. Nach ca. 48–60 Stun-
den beginnt die Starre sich zu lösen, da sie von Fäulnisprozessen überlagert wird.
Die Ausbildung der Totenstarre ist auf einen Mangel energiereicher Phosphate
(ATP) zurückzuführen. Die Überprüfung der Ausprägung sollte an mindestens
2 großen Körpergelenken erfolgen, um eine Vortäuschung durch athrotische Ver-
änderungen zu verhindern. Nach der Nysten’schen Regel beginnt die Totenstarre
im Kiefergelenk, breitet sich dann nach unten aus und löst sich in umgekehrter
Richtung.

jNicht mit dem Leben zu vereinbarende Körperzerstörungen


Dieses »sichere« Todeszeichen sollte nur bei tatsächlichem Vorliegen einer äußer-
lich sichtbaren Körperzerstörung, die nicht mit dem Leben vereinbar ist, ange-
kreuzt werden.

jHirntod
Der Hirntod darf nur gemäß den Kriterien der Bundesärztekammer festgestellt
werden. Der Feststellung geht demnach zwingend eine Hirntoddiagnostik voran,
die von mindestens 2 Ärzten durchgeführt werden muss. Die Feststellung des Hirn-
14 todes ist daher außerhalb der Transplantationsmedizin zu aufwändig.

jAutolyse, Fäulnis
Fäulniserscheinungen nach längerer Liegezeit dürfen im Rahmen der Palliativme-
dizin eine Ausnahmeerscheinung sein, weshalb auch hier auf die Standardlehrbü-
cher verwiesen wird.

jScheintod
Die Feststellung zumindest eines sicheren Todeszeichens dient der Verhinderung
einer falschen Todesfeststellung (Scheintod). Letzterer ist definiert als komatöser
Zustand mit Bewusstlosigkeit, Areflexie, Muskelatonie und scheinbarem Fehlen
von Atmung und Puls. Man muss jedoch prinzipiell auch bei alten und moribunden
Menschen mit einer solchen vita reducta rechnen. Für die Palliativmedizin sind
insbesondere Opiate und alle zentral wirksamen Gifte (Barbiturate!) sowie Urämie
14.2 · Leichenschau und Bestattung
283 14
und alle Formen von endokrinologischem und metabolischem Koma als mögliche
Ursachen wichtig.

14.2.2 Durchführung der Leichenschau


jAblauf der Leichenschau
Zur Erfüllung seiner Pflicht zur Leichenschau hat der Arzt die Leiche persönlich
zu besichtigen und zu untersuchen. Diese Verpflichtung setzt die vollständige Ent-
kleidung, die allseitige Besichtigung und die Inaugenscheinnahme aller Körper-
öffnungen voraus. Nur durch ein solches Vorgehen können sichere Zeichen für den
Tod erkannt und Fehlentscheidungen bei der Frage, ob Anhaltspunkte für einen
nichtnatürlichen Tod vorliegen, vermieden werden.

jIdentität
Die Identitätsfeststellung gehört ebenfalls zu den Aufgaben des leichenschauenden
Arztes. Im Rahmen der Palliativbehandlung dürften sich hier eher keine Probleme
ergeben. Kann der leichenschauende Arzt eine Leiche nicht sicher identifizieren,
so ist er verpflichtet, die Ermittlungsbehörden (Polizei) zu informieren.

jFeststellung der Todeszeit


Der Totenschein verlangt vom Arzt entweder die Angabe eines Todeszeitpunktes
oder eines Zeitpunktes der Leichenauffindung. Fremdauskünfte sollten auf dem
Leichenschauschein als solche gekennzeichnet werden.

jFeststellung der Todesursache und des Grundleidens


Im vertraulichen Teil des Totenscheins werden detaillierte Aussagen zur Todes-
ursache verlangt. Es soll eine Kausalkette vom Grundleiden bis zum Eintritt des
Todes dargestellt werden. Dies dürfte im Rahmen der Palliativmedizin eher selten
Probleme bereiten.

jFeststellung der Todesart


Während es sich bei der Feststellung der Todesursache um eine ärztliche Einschät-
zung handelt, wird hier vom Leichenschauer eine klare Zuordnung zu einer der
vorgegebenen Kategorien erwartet. Eine natürliche Todesart darf dabei nur be-
scheinigt werden, wenn auch eine natürliche Todesursache bekannt ist. Eine nicht
natürliche Todesart liegt immer dann vor, wenn eine irgendwie geartete äußere
Einwirkung den Tod herbeigeführt oder auch nur mit herbeigeführt hat. In vielen
Bundesländern ist daneben auch noch die Angabe einer ungeklärten Todesart
möglich. Viele Ärzte nutzen diese Möglichkeit und bescheinigen bei eigener Unsi-
cherheit eine ungeklärte Todesart. Bei nicht natürlicher oder ungeklärter Todesart
284 Kapitel 14 · Palliativmedizin im gesellschaftlichen System

sind in jedem Fall die Ermittlungsbehörden zu verständigen. Bei der Qualifikation


der Todesart empfiehlt es sich dem Arzt, sich an den von der Äquivalenztheorie des
Strafrechts angelehnten naturwissenschaftlichen Definitionen zu orientieren. So
kann der Arzt vermeiden, bei der Qualifikation eine Wertung vorzunehmen, die er
nicht leisten kann und die ihm nicht zukommt. Gegen eine Wertung der Todesart
nach kriminalistischer oder juristischer Definition, die bei nichtnatürlichem Tod
ein mögliches Fremdverschulden impliziert, sollte der Arzt/die Ärztin sich verweh-
ren. Der Arzt sollte den natürlichen Tod als einen Tod aus krankhafter, innerer
Ursache definieren, alle Einwirkungen von Außen, wie Gewalteinwirkung, Unfall,
Suizid, Vergiftung, aber auch Behandlungsfehler (Extremfall: Mors in tabula) als
nicht natürlichen Tod einordnen. Die Aufklärung eines Fremdverschuldens, also
die Beteiligung Dritter, legt er mit der Verständigung der Ermittlungsbehörden in
deren Hände. Auch der Notarzt muss sich manchmal mit dem von Ärzten oft
missverstandenen Kausalitätsprinzip beschäftigen. Findet er bei der Leichenschau
Spuren einer stattgehabten Operation oder wird er von Dritten auf einen zurück-
liegenden Krankenhausaufenthalt aufmerksam gemacht, muss er dies bei seiner
Fallbeurteilung berücksichtigen. Spuren älterer Verletzungen sind ebenso einzu-
ordnen. Die Klärung der Kausalitätsfrage (im Strafrecht) ist eigentlich relativ ein-
fach: Kann man das mutmaßlich schädigende Ereignis (Operation, Verletzung)
hinweg denken und der Erfolg (das Ableben) wäre zum gleichen Zeitpunkt einge-
treten?

jVerbleib des Leichenschauscheines


Der ausgefüllte Totenschein wird den Totensorgeberechtigten (beispielsweise an-
wesende Angehörige) übergeben, bei Krankenhaus- oder Hospizpatienten über-
nimmt die Verwaltungsleitung diese Aufgabe. Der Leichenschauschein gliedert
sich in einen vertraulichen und einen nichtvertraulichen Teil. Der vertrauliche Teil
14 wird in einen verschließbaren Umschlag gegeben, für den nichtvertraulichen Teil
ist ein offener Umschlag vorgesehen. Der nichtvertrauliche Teil ist für die Todes-
anzeige beim Standesamt bestimmt, der vertrauliche Teil (inklusive Kopien) wird
an die zuständige Gesundheitsbehörde weiter gereicht. Diese Aufgaben erledigt in
der Regel der Bestatter.

14.2.3 Bestattung

Das Bestattungswesen wird – wie bereits eingangs erwähnt – landesrechtlich gere-


gelt. Allgemein gültige Gesetze, die die klinische Sektion regeln, gibt es nicht. Hier-
für sind schriftliche Einwilligungen des Verstorbenen, der gesetzlichen Vertretung
oder einer bevollmächtigten Person notwendig. Die Obduktion dient der Klärung
der genauen Todesursache sowie der Überprüfung der Diagnose und Therapie.
14.2 · Leichenschau und Bestattung
285 14
Eine gerichtliche Obduktion (nicht natürlicher oder ungeklärter Tod, nicht sicher
bestimmbare Identität) wird vom Staatsanwalt beantragt, es muss aber ein richter-
licher Beschluss eingeholt werden.
Erdbestattungen dürfen frühestens 48 Stunden nach dem Eintritt des Todes
vorgenommen werden (Bestattungsgesetz NRW).

Literatur
[1] Gabriel F, Huckenbeck W (1999) Grundlagen des Arztrechts – ein praxisorientierter Leit-
faden unter besonderer Berücksichtigung der ärztlichen Leichenschau. Köster, Berlin
[2] Gabriel F, Huckenbeck W (2004) Grundlagen der Rechtsmedizin für die Praxis. Fachverlag
des Deutschen Bestattungswesens Köster, Berlin
[3] Madea B (1999) Die Ärztliche Leichenschau – Rechtsgrundlagen, Praktische Durchfüh-
rung, Problemlösungen. Springer, Berlin
287 V

Besondere Felder
der Palliativmedizin
Kapitel 15 Der alte Mensch am Lebensende – 290
Just, Schnell, Schulz

Kapitel 16 Kinder und Jugendliche mit lebens-


verkürzenden Erkrankungen/in
der palliativen Versorgung – 301
Janßen, Kuhlen

Kapitel 17 Integrative Palliativversorgung –


soziale Inklusion: Behinderung,
Psychiatrie, Forensik am Lebens-
ende – 311
Haynert
»Ich hab da gesessen mit der Frau (vom mobilen Palliativteam) und ich hatte diesen
Traum, mit der Brücke und dem Buch. Und da hatte ich total Angst, weil, das war sehr
intensiv. Aber die hat mit mir gesprochen, so warm, so ganz anders. Danach war ich
ganz ruhig.«
Aus einem Gespräch mit einer Palliativpatientin

I: Frau (Name), ich würde Sie gerne an dieser Stelle etwas fragen wollen. Sie haben
auch mit dem Medizinstudenten gesprochen, oder der Medizinstudierenden (P: Mhm,
mhm.) und Sie haben ja nun lange Erfahrung hier im Krankenhaus gesammelt.
(P: Mhm.) Gibt es Dinge aus Ihrer Sicht, aus Ihrer ganz persönlichen Erfahrung und
Ihrer ganz persönlichen Sicht, die Sie glauben, die Medizinstudierende besonders
wichtig verstehen müssen? Oder Dinge, die Medizinstudierende wissen sollten, wenn
sie sich um Menschen mit Ihrer Erkrankung kümmern?

P: Ja. Wichtig ist es, dass sie auch auf die Menschen zu gehen und gut zuhören, ne?
Welche Probleme die haben. Weil, es ist nicht alles möglich so mit Medizin zu bewäl-
tigen. Das kann man nicht alles mit Tabletten, mh? Ich meine, Tabletten hin, Tabletten
her, aber wenn ein, ein Mensch kann selber auch vieles dazu beizutragen, wenn er die
Geborgenheit spürt, die Wärme von den Menschen hier, die arbeiten hier. Wenn er
das spürt, dass er hier gut angekommen ist und für den getan wird, was möglich ist,
dass die Wärme auch rüber kommt, dann ist da schon vieles getan. Da haben sie die
Hälfte von der Medizin ist schon getan (betont). Der Rest, Medikamente das ist nur
der Begleiter. Aber zuhören und die Wärme zu geben, dem Menschen, der krank ist,
das ist A und O, ne?
290 15
Der alte Mensch am Lebensende
Just, Schnell, Schulz

15.1 Allgemeines – 291

15.2 Klinisches Wissen – 292

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2_15, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
15.1 · Allgemeines
291 15
>>

Nach Daten des statistischen Bundesamtes versterben in Deutschland circa 3 % der


Bevölkerung zwischen ihrem 60. und 80. Lebensjahr (»Junge Alte«), während über
60 % nach Erreichen des 80. Lebensjahres (»Hochbetagte«) versterben.

15.1 Allgemeines
Definition des alten Menschen
Da biologisches und kalendarisches Alter stark divergieren können, haben sich
in derVersorgung funktionell orientierte Definitionsmodelle bewährt. Die Defi-
nition des geriatrischen Patienten der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie
und Geriatrie beinhaltet u. a. folgende Hauptkriterien:
Der geriatrische Patient …
4 ist überwiegend 70 Jahre oder älter und
4 leidet unter mindesten zwei der geriatrietypischen Multimorbiditätskomplexe

jGeriatrietypische Multimorbiditätskomplexe:
4 Immobilität
4 Gebrechlichkeit
4 starke Seh- oder Hörbehinderung
4 Sturzneigung und Schwindel
4 Sensibilitätsstörungen
4 chronische Schmerzen
4 kognitive Defizite
4 Depression, Angststörung
4 Inkontinenz
4 Dekubitalulcera
4 Fehl- und Mangelernährung
4 Störungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt
4 Medikationsprobleme
4 hohes Komplikationsrisiko

Mit steigendem Alter steigt die Prävalenz der meisten Erkrankungen – allgemein
ist davon auszugehen, dass die Manifestation geriatrietypischer Multimorbidität in
der Gruppe der Hochbetagten besonders häufig ist. Daher beziehen sich die Aus-
sagen in diesem Kapitel vor allem auf hochbetagte Patienten.
292 Kapitel 15 · Der alte Mensch am Lebensende

15.1.1 Demografische Entwicklung

Die Patientengruppe der Hochbetagten leidet unter komplexen, vielschichtigen


Gesundheitsproblemen und Behinderungen, die eine qualitative Herausforde-
rung für die Versorger darstellen. Gleichzeitig existiert aber auch eine quantitative
Herausforderung. Die Zahl hochbetagter Menschen nimmt kontinuierlich zu. So
wird sich die Zahl der über 85-Jährigen nach Daten des statistischen Bundesamtes
bis ins Jahr 2050 circa verdoppelt haben.
Um dieser Herausforderung gerecht zu werden, bedarf es vielschichtigen En-
gagements aus Politik und Gesellschaft. Hierbei sind auch die Universitäten in der
Pflicht. Die Aufgabe der medizinischen Ausbildung ist es hierbei, Heilberuflern die
notwendigen Kompetenzen zu vermitteln, um alten Menschen am Lebensende die
Versorgung zukommen zu lassen, die diese brauchen und verdienen. Diese Kom-
petenzen beinhalten die entsprechende Haltung im Sinne einer nicht-exklusiven
Ethik [1] (7 Kap. 12.1), das spezifische medizinische Wissen und die benötigten
praktischen und kommunikativen Fähigkeiten.

15.1.2 Palliativmedizin und Geriatrie als Partner

Palliativmedizin und Geriatrie sind die zwei Fachbereiche der Medizin, die in
besonderem Maße zur Verbesserung der Versorgung alter Menschen am Lebens-
ende beitragen können. Dabei stehen folgende Gemeinsamkeiten im Vorder-
grund [2]:
1. Ein holistischer Ansatz ist das grundlegende Prinzip beider Disziplinen. An
Stelle von Organen sollen die Bedürfnisse des ganzen Menschen erfasst werden.
2. Im Vordergrund steht das aktive Bemühen um das Patientenwohl, sowie um
solche Patienten, deren Bedürfnisse lange unbeachtet blieben.
3. Beide Fachrichtungen betonen interprofessionelle Teamarbeit und sind stolz
15 auf diese.
4. Beide betonen die Fortführung der Bemühungen um den Patienten im priva-
ten Bereich, durch Hausbetreuung und Tageskliniken.
5. Tod und Sterben sowie die aufgeworfenen ethischen Fragen müssen in beiden
Disziplinen besonders beachtet werden.

15.2 Klinisches Wissen

Eine Basis palliativmedizinisch-geriatrischen Wissens ist bei der Versorgung alter


Menschen am Lebensende unerlässlich. Fünf wichtige Bereiche werden im Weite-
ren behandelt: Problemhierarchisierung und Assessment, Medikamentenproble-
15.2 · Klinisches Wissen
293 15
me, chronische Schmerzen, Prognosestellung und kognitive Defizite. Zu nennen
sind außerdem noch altersbedingte, organische Veränderungen.

jProblemhierarchisierung und Assessment


Probleme, die die Lebensqualität des Patienten am meisten beeinträchtigen, müssen
erkannt und gezielt behandelt werden. Ein wichtiger Schritt ist daher der Einsatz
eines Assessments (welche Probleme bestehen?) mit darauf folgender Problem-
hierarchisierung (welche Probleme müssen mit welcher Dringlichkeit behandelt
werden?).
Neben einigen nützlichen Instrumenten (7 Kap. 4) bildet das aufmerksame
Gespräch mit dem Patienten die Grundlage für jedes Assessment und der folgen-
den Problemhierarchisierung. Dabei ist es durchaus möglich, dass Probleme wie
Inkontinenz oder schlechter Geruch aufgrund ihrer schamhaften Komponente
vom Patienten als deutlich belastender empfunden werden, als objektiv zu erwarten
wäre. Zweifellos ist dabei die Fähigkeit, mit alten Menschen in Beziehung zu treten
und deren Vertrauen gewinnen zu können, von zentraler Bedeutung für die ge-
lungene Kommunikation.
Da die Probleme am Lebensende oft Prozesscharakter haben, reicht ein einma-
liges Assessment mit Problemhierarchisierung nicht aus. Die aktuelle Situation
muss immer wieder aufs Neue beleuchtet werden.

jMedikamente
Der veränderte Organismus des alten Menschen weist im Bezug auf die Pharma-
kokinetik einige Besonderheiten auf. Dazu gehören Störungen der/des:
4 Resorption: bedingt durch pH-Veränderungen, geringere Gastrointestinal-
Motalität und reduzierte GI-Durchblutung
4 Verteilung: bedingt durch einen erhöhten Körperfett- bei reduziertem Körper-
wasseranteil sowie ein erniedrigter Serumproteingehalt (erhöhter freier Phar-
makonanteil)
4 Lebermetabolismus (verlangsamt)
4 renalen Elimination
4 absichtliche und unabsichtliche Fehler bei der Arzneimitteleinnahme

Damit ist auch die Pharmakodynamik verändert. So wirken etwa Morphium und
Diazepam länger und stärker als bei jungen Menschen.
Daher muss besonders vor- und umsichtig therapiert werden. Allgemein gilt:
Die Häufigkeit unerwünschter Arzneimittelwirkungen im Alter korrespondiert
mit der Zahl gleichzeitig verordneter Medikamente. Auch müssen die unterschied-
lichen Medikamenteneffekte auf Lebensqualität und Mortalität/Morbidität gegen-
einander abgewogen werden
294 Kapitel 15 · Der alte Mensch am Lebensende

jChronische Schmerzen
Bei alten Menschen muss nach Selbstangaben von einer Prävalenz chronischer
Schmerzen zwischen 49–83 % ausgegangen werden [3]. Die geschätzte Prävalenz
von Schmerzen bei Menschen, die in Pflegeheimen leben, beträgt bis zu 80 % [4].
Der negative Einfluss akuter und chronischer Schmerzen auf die Lebensquali-
tät ist groß. Vor allem in der letzten Lebensphase können Schmerzen sehr domi-
nant werden und die gesamte Aufmerksamkeit des Patienten einnehmen. Dabei
werden häufig andere dringende Bedürfnisse, seien sie psychologischer, sozialer
oder spiritueller Natur, in den Hintergrund gedrängt. Allein die Angst vor Schmer-
zen kann bereits eine deutliche Störung der Lebensqualität bedeuten. Dieser Angst
sowie dem Schmerz selbst muss das Palliativteam begegnen. Die frühe Applikation
niedrig dosierter, starker Opiode ist u. a. beliebt, da die Anzahl verwendeter Phar-
maka bei Hochbetagten möglichst gering gehalten werden sollte und weil gute
Ergebnisse erzielt werden können [5]. Eine detaillierte Beschreibung schmerz-
therapeutischer Schemata und weiterer Medikamente finden sich in 7 Kap. 6.2.

Unterschiedliche Mythen und unbelegte Annahmen erschweren


die Schmerztherapie alter Menschen.
Dazu gehört:
4 Schmerzen sind Teil des Alterns
4 Demenzkranke haben keine Schmerzen
4 Schmerzen werden im Alter weniger stark empfunden
4 es ist gefährlich, Opioide bei alten Menschen anzuwenden
4 alte Menschen berichten Pflegenden und Ärzten von ihren Schmerzen

Alte Menschen neigen nicht selten dazu, ihren Schmerz zu bagatellisieren. Der
Schlüssel zu guter Schmerztherapie ist die richtige Indikationsstellung. Unerläss-
15 lich hierzu ist die gründliche Anamnese unter Zuhilfenahme strukturierter
Schmerzerhebungsbögen – die Selbstaussage des Patienten steht hierbei im Vorder-
grund. Bei nicht verbal kommunikationsfähigen Patienten ist die Schmerz-
evaluation jedoch häufig erschwert. Hier können Hilfsmittel zur Einschätzung von
Schmerzen wie die visuelle Analogskala oder Assessmentinstrumente für nonver-
bale Schmerzmitteilungen (z. B. BESD) genutzt werden . Tab. 15.1. Trotzdem gibt
es kein Instrument, das die gezielte, empathische Betrachtung des Patienten erset-
zen kann.

jPrognosestellung
Die Indikation zur palliativmedizinischen Versorgung ist häufig an die Prognose
geknüpft. Die richtige Prognosestellung fällt jedoch bereits bei jungen Krebspatien-
15.2 · Klinisches Wissen
295 15

. Tab. 15.1 Nonverbale Schmerzäußerungen

Merkmal Zeichen mittleren Zeichen starken Schmerzes


Schmerzes

Atmung Laut, angestrengt Hyperventilation


Gesichtsausdruck Ängstlich, sorgenvoll Grimassieren
Reaktion auf Tröstung Vorhanden Nicht vorhanden
Negative Lautäußerung Stöhnen, beunruhigtes Schreien, Weinen
Rufen
Körpersprache Angespannt, nestelnd Geballte Fäuste, angezo-
gene Beine

ten nicht immer leicht. Beim alten Menschen stellen Multimorbidität und chroni-
sche Erkrankungen ein zusätzliches Hindernis dar. So ist keineswegs davon auszu-
gehen, dass ein 85-Jähriger Patient, der an einem Kolonkarzinom erkrankt, auch
an dessen Folgen verstirbt. Die teilweise Unberechenbarkeit von Organversagen
und funktionellen Störungen als einzelne Krankheitsentitäten erweitert sich bei
deren gleichzeitigem Auftreten zusätzlich. Es stehen unterschiedliche Methoden
zur Verfügung, um die Identifikation von Patienten, die palliativmedizinischer
Unterstützung bedürfen, zu erleichtern [6], [7].

Klinische Hilfen zur Indikationsstellung palliativmedizinischer


Maßnahmen:
4 Die Überraschungsfrage: »Wären Sie überrascht, wenn der Patient im
nächsten halben Jahr verstürbe?« Ein intuitives Konzept, dass die Komor-
biditäten, soziale und andere Faktoren berücksichtigt.
4 Der Patientenwunsch: Der Patient selbst wünscht palliative Maßnahmen/
Unterbringung.
4 Klinische Indikatoren: Hierzu zählen die Stadieneinteilungen FEV1 bei
COPD, die LVEF bei Herzinsuffizienz, die Child-Klassifikation bei Leber-
zirrhose sowie der ADL-Score (Activities of Daily Living) bei Demenz.

jKognitive Defizite
Während Wortschatz, Allgemeinwissen und Erfahrung im Alter meist konstant
bleiben oder noch weiter wachsen, nehmen die Schnelligkeit der Wahrnehmung,
die Reaktionszeit und die Fähigkeit zum induktiven Denken mit steigendem Alter
296 Kapitel 15 · Der alte Mensch am Lebensende

stetig ab. Dies resultiert in einer eingeschränkten Fähigkeit, sich neuen Situationen
anzupassen und neuartige Probleme zu lösen [8]. Dabei handelt es sich um einen
physiologischen Alterungseffekt, der die Funktionen des täglichen Lebens nur
marginal betrifft.
Ein Krankheitsbild mit großem Einfluss auf die Funktionen des täglichen Le-
bens ist in diesem Kontext die Demenz. Es handelt sich um ein chronisches, pro-
gressives und nicht heilbares neurodegeneratives Syndrom, das eine große Heraus-
forderung für die Versorgung alter Menschen am Lebensende darstellt. Die Präva-
lenz der Demenz beträgt bei über 80-Jährigen in Deutschland ca. 13 % und steigt
exponentiell auf bis zu 35 % bei den über 90-Jährigen an [9].
Supportive Maßnahmen sind für den Demenzkranken erforderlich, wobei Ver-
sorgungsplanung und Management im Vordergrund stehen. Hierzu zählen:
4 Aufklärung von Betroffenem und Angehörigen über den zu erwartenden Ver-
lauf
4 Schulung der Familie und frühe Einbeziehung der Familie in das Behandlungs-
konzept
4 bei früher Diagnosestellung Erarbeiten einer Patientenverfügung mit dem Be-
troffenen und seinen Angehörigen
4 wenn häusliche Pflege nicht machbar oder unerwünscht ist, möglichst Unter-
bringung in spezialisierter Institution
! Die Versorgungsplanung bei Demenzkranken muss frühzeitig unter
Einbeziehung Angehöriger, und wenn möglich des Erkrankten selbst,
stattfinden. Ziel ist es, die Behandlungsplanung möglichst genau an die
Wünsche, Bedürfnisse, Möglichkeiten und Besonderheiten des Patien-
ten anzupassen.

15.2.1 Kommunikation mit alten Menschen


15
Die Kommunikation mit alten Menschen kann durch unterschiedliche Faktoren
beeinträchtigt sein: zu schnelles und/oder undeutliches Sprechen, generationen-
spezifische Wortwahl auf Seiten der Heilberufler (Beispiel: »Immer locker Frau W.,
ich check das für Sie ab!«), eine gestörte Hörfähigkeit, Müdigkeit, Verlangsamung,
Verflachung von Körpersprache und Mimik sowie eingeschränktes kognitives Ver-
ständnis auf Seiten der Patienten.

jKommunikationshindernisse bei Demenz


Bei Patienten mit Demenz besteht eine besondere Kommunikationssituation. Das
für Außenstehende teils befremdlich und abweisend wirkende Verhalten Demenz-
kranker und das gleichzeitig fehlende Verständnis des Demenzkranken für seine
15.2 · Klinisches Wissen
297 15

. Tab. 15.2 Kommunikationshindernisse beim Umgang mit Demenzpatienten

Heilberufler Demenzkranker

Möchte Patient nach Realität orientieren Bemerkt Kommunikationsangebot nicht


Kündigt nicht an was er tun will Weiß nicht, was Betreuer will
Spricht schnell, leise und viel Erschrickt (Betreuer «materialisiert”)
Nutzt wenig nonverbale Kommunikation Kann nicht antworten

Umwelt können zu Missverständnissen, Unsicherheit und Spannung auf beiden


Seiten führen . Tab. 15.2.
Bewährte Methoden wie die »Validation« nach Naomi Feil oder die der »Ba-
salen Stimulation« können in der Kommunikation mit schwer dementen Patienten
angewendet werden. Dies gilt auch für somnolente Patienten und für solche, die
sich in der Sterbephase befinden.

jVerändertes Kommunikationsbedürfnis im Alter


Bei der Überbringung schwieriger Nachrichten steht für einen jungen Patienten
meist der Lebenszeit limitierende Aspekt der Diagnose im Vordergrund, da er nicht
damit rechnen musste, bald zu versterben. Bei hochbetagten Menschen ist dieser
Umstand oft weniger wichtig, da das mögliche Lebensende in jedem Falle nahe
liegt. Für sie ist wichtiger, welcher Leidensweg mit der neuen Diagnose verbunden
ist. Daher muss im Rahmen der Übermittlung schwieriger Nachrichten (7 Kap. 7.2)
auf diesen Umstand Rücksicht genommen werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass
der alte Patient mit jeder möglichen, unangenehmen Komplikation seiner Erkran-
kung konfrontiert werden muss. Es bedeutet lediglich, dass der Arzt als Gesprächs-
führer und »Wissender« das eventuell vorhandene Informationsbedürfnis beach-
ten sollte.

15.2.2 Soziale Netze und Behandlungsmanagement


jSoziale Netze
So unterschiedlich wie die Weltsicht verschiedener Menschen sind deren Erwar-
tungen an das Altsein. Die einen sehen es als eine Phase neuer Potentiale, Kompe-
tenzen und Lebensoptionen. Andere sehen ein Bild des älteren Menschen, das
durch Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit, durch Isolation und Vereinsamung
charakterisiert ist. Während Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit in unterschied-
licher Ausprägung natürliche Begleiter des Altwerdens sind, gehören Isolation und
298 Kapitel 15 · Der alte Mensch am Lebensende

. Tab. 15.3 Gesicherte Risikofaktoren für Vereinsamung im Alter

beeinflussbare Risikofaktoren weniger beeinflussbare Risikofaktoren

Subjektives Kontaktbedürfnis Verlust des Lebenspartners


Mobilität Kinderlosigkeit
Gesundheitszustand Persönlichkeitsmerkmale
Eintritt ins Pflegeheim Art und Qualität des sozialen Netzwerks
Alleine leben

Vereinsamung nur bedingt zum Altwerden. Das Alter selbst, Geschlecht und
Schichtzugehörigkeit sind dabei lediglich unsichere Risikofaktoren, zusätzlich gibt
es auch eine Reihe gesicherter Risikofaktoren . Tab. 15.3.
Isolation und Einsamkeit werden nicht nur von vielen Menschen als subjektiv
quälend empfunden; das Fehlen sozialer Netze wirkt sich auch negativ auf die Be-
friedigung besonderer Bedürfnisse am Lebensende aus.
Im Rahmen des Behandlungsmanagements sollten sämtliche sozialen Ressour-
cen des Patienten so weit wie möglich bewahrt und in das Gesamtversorgungskon-
zept integriert werden. Daher gilt für das Palliativteam:
4 vorhandene soziale Netzwerke müssen einbezogen werden
4 wenn möglich müssen bedarfsgerechte Angebote vermittelt werden

Für bedarfsgerechte Angebote zur Linderung der empfundenen Einsamkeit gilt das
Gebot von Zeitlichkeit, Angemessenheit und Erwünschtheit. Beispiele sind auf-
suchende Angebote und Gruppenveranstaltungen durch Ehrenamtliche sowie Se-
nioren- und Trauercafés.
15 Besonders hervorzuheben ist dabei die Arbeit der ehrenamtlichen Helfer, die
Patienten und Angehörige unter anderem durch Dasein, Zuhören, Gespräche und
gemeinsame Tätigkeiten unterstützen. Dabei ist das ehrenamtliche Engagement
meist umso wichtiger, je schwächer das soziale Netz des Patienten ist.

jBehandlungsmanagement
Für das erfolgreiche Behandlungsmanagement im Allgemeinen gelten folgende
Vorgaben:
4 ein Versorgungskonzept muss möglichst früh mit Patient und Angehörigen
erarbeitet werden
4 individuelle Ressourcen müssen abgeklärt und eingeplant werden
4 Versorgungspartner müssen frühzeitig eingebunden werden
15.2 · Klinisches Wissen
299 15
Die frühe Ausarbeitung eines Versorgungskonzeptes ist ein zentraler Schritt, be-
sonders dann, wenn der Patient sich im Frühstadium einer Demenz befindet, aber
noch einwilligungsfähig ist. Dabei sind (neben Ärzten, Pflegenden und Hospizen)
Familie und Angehörige unbedingt mit einzubeziehen, da sie den Patienten gut
kennen und einschätzen können sowie häufig einen großen Teil der organisato-
rischen und finanziellen Last mittragen.

Zusammenfassung
Aufgrund der demografischen Entwicklung und dem großen Leidenspotential
alter Menschen muss Wissen über deren Versorgung integraler Bestandteil
ärztlicher Ausbildung sein. Vor allem die Gruppe der Hochbetagten hat beson-
dere Bedürfnisse an die palliativmedizinische Versorgung. Ihr Krankheitsverlauf
ist häufig durch Multimorbidität geprägt. Die veränderte Pharmakokinetik
und -dynamik muss beachtet und Polypharmakotherapie so weit wie möglich
vermieden werden. Demenz ist eine häufige Erkrankung im Alter. Aufklärung
und Schulung des Patienten und der Angehörigen sind ebenso wichtig wie
die rechtzeitige Versorgungsplanung unter Einbeziehung aller Beteiligten. Die
Kommunikation mit alten Menschen wird durch viele Hindernisse gestört.
Hilfreich sind deutliches, langsames Sprechen, einfache Sätze und das Ver-
meiden moderner Begriffe. Geriatrie und Palliativmedizin als die wichtigsten
Disziplinen in der Versorgung alter Menschen am Lebensende eint der holisti-
sche Ansatz, das Ziel der Wahrung von Lebensqualität, das Bemühen um den
Patienten auch im privaten Bereich, die Betonung interdisziplinärer Teamarbeit
sowie die von Sterben und Tod aufgeworfenen ethischen Fragen.

Literatur
[1] Schnell MW (2010) Würde des alten Menschen. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie
43:393-398
[2] Raymond S, Woo (2001) Palliative care in old age. Reviews in Clinical Gerontology 11:
149-157
[3] Bellach MB, Ellert U, Radoschewski M (2000) Epidemiologie des Schmerzes – Ergebnisse
des Bundes-Gesundheitssurveys 1998. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung
– Gesundheitsschutz 43(6):424-443
[4] Helme RD, Gibson SJ (2001) The epidemiology of pain in elderly people. Clinical Geriatric
Medicine 17(3):417-431
[5] Kojer M (2007) Symptomkontrolle in der Geriatrie. In: Aulbert E, Nauck F, Radbruch L
(Hrsg.) Lehrbuch für Palliativmedizin. Schattauer, Stuttgart
[6] The Gold standard Framework, http://www.goldstandardsframework.nhs.uk
[7] Coventry PA, Grande GE, Richards DA, Todd CJ (2005) Prediction of appropriate timing of
palliative care for older adults with non-malignant life-threatening disease. A systematic
review. Age and Ageing 34:218–227
300 Kapitel 15 · Der alte Mensch am Lebensende

[8] Oswald WD, Gunzelmann T (1991) Alter, Gedächtnis und Leistung – Veränderungen und
Interventionsmöglichkeiten. In: Lang E, Arnold K (Hrsg.) Altern und Leistung – Medizini-
sche, psychologische und soziale Aspekte. Ferdinand, Stuttgart, S. 272-281
[9] Ziegler U, Doblhammer G (2009) Prävalenz und Inzidenz von Demenz in Deutschland –
Eine Studie auf Basis von Daten der gesetzlichen Krankenversicherungen von 2002.
Gesundheitswesen 71(5):281-290

15
301 16
Kinder und Jugendliche
mit lebensverkürzenden
Erkrankungen/in der
palliativen Versorgung
Janßen, Kuhlen

16.1 Epidemiologie – 302

16.2 Besonderheiten bei Kindern


und Jugendlichen – 303

16.3 Strukturen pädiatrischer Palliativversorgung


in Deutschland – 303

16.4 Psychosoziale Aspekte der pädiatrischen


Palliativversorgung – 304

16.5 Symptome und Symptomkontrolle – 306

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2_16, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
302 Kapitel 16 · Kinder und Jugendliche mit lebensverkürzenden Erkrankungen

>>

Seit 2007 besteht ein gesetzlicher Anspruch auf ambulante Palliativversorgung


(§ 37b, 132d SGB V). In einer Richtlinie des GBA (Gemeinsamer Bundesausschuss der
Bundesärztlichen Kassenkammern) zur Verordnung von spezialisierter ambulanter
Palliativversorgung (2008) heißt es: »Den besonderen Belangen von Kindern ist
Rechnung zu tragen.« Trotz dieser Empfehlung befindet sich die pädiatrische Palliativ-
versorgung in Deutschland noch am Anfang.

16.1 Epidemiologie

In Deutschland leben etwa 22.000 Kinder und Jugendliche mit lebensverkürzenden


Erkrankungen, davon sterben jährlich ca. 3.000. Die meisten Kinder sterben im
1. Lebensjahr an den Folgen kongenitaler Anomalien oder perinataler Komplika-
tionen. Jenseits des 1. Lebensjahres stellen seltene Erkrankungen wie Krebs (25 %),
Fehlbildungen (15 %), neurologische (20 %) und kardiologische (12 %) Diagnosen
bzw. Stoffwechselerkrankungen (10 %) und andere, sehr seltene Erkrankungen
(18 %) die häufigsten Todesursachen dar. Der Verlauf dieser Krankheiten ist unter-
schiedlich und wurde daher von der britischen Organisation ACT (Association for
children with life-threatening or terminal conditions and their families) in ver-
schiedene Gruppen eingeteilt (. Tab. 16.1).

. Tab. 16.1 Lebensverkürzende Erkrankungen

Gruppe 1 Kurative Therapie möglich, kann aber scheitern


z.B. Krebserkrankungen, akutes Organversagen

Gruppe 2 Phasen intensiver Therapie zur Lebensverlängerung mit Teilnahme


an üblichen kindlichen Aktivitäten
16 z.B. Muskeldystrophie, zystische Fibrose

Gruppe 3 Progressive Erkrankung, Dauer über Jahre, Behandlung


ausschließlich palliativ
z.B. Mucopolysaccharidose, Zeroidlipofuszinose

Gruppe 4 Schwere meist neurologische Beeinträchtigung, die plötzlich


zu einer unvorhersehbaren Verschlechterung führen kann
z.B. schwere Zerebralparese, bronchopulmonale Dysplasie

Quelle: ACT 2003


16.3 · Strukturen pädiatrischer Palliativversorgung
303 16
16.2 Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen

Die palliative Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit lebensverkürzenden


Erkrankungen sollte bereits bei Diagnosestellung und nicht erst in der Finalphase
beginnen. Durch die heutigen Angebote einer hochtechnisierten Medizin und
Hilfsmittelversorgung erreichen diese Kinder nicht selten auch das Jugend- und
junge Erwachsenenalter. Im Rahmen krisenhafter Verschlechterungen ist jedoch
jederzeit ein unerwartet rascher Tod möglich. Bei genetisch bedingten Erkran-
kungen können mehrere Kinder einer Familie betroffen sein.
Für den niedergelassenen Kinder- und Jugendarzt ist die Versorgung eines
Palliativpatienten eine Seltenheit. Oft bereitet die Symptomkontrolle schon durch
eingeschränkte Kommunikationsmöglichkeiten mit dem Patienten und durch
unzureichende Fremdeinschätzungsverfahren Probleme. Weitere Barrieren der
Versorgung werden im hohen Zeitaufwand, in mangelnden Erfahrungen in der
Gesprächsführung und im Umgang mit dem bevorstehenden Tod gesehen.

16.3 Strukturen pädiatrischer Palliativversorgung


in Deutschland

Die »allgemeine palliative Versorgung« von Kindern und Jugendlichen erfolgt


seit Jahrzehnten durch niedergelassene Kinder- und Jugendärzte in Zusammen-
arbeit mit Kinderkrankenpflegediensten. Sie werden durch Kinderkliniken, statio-
näre Kinderhospize, sozialpädiatrische Zentren, Rehabilitationseinrichtungen,
Frühförderstellen, »Bunte Kreise« (ambulante Nachsorgeeinrichtung für chronisch
oder schwerkranke Kinder und Jugendliche), Seelsorge etc. unterstützt.
Aufgrund der bereits genannten Besonderheiten benötigen pädiatrische Pallia-
tivpatienten häufiger als Erwachsene eine »spezialisierte Palliativversorgung«.
Diese wird von Pädiatern und Pflegenden mit Schwerpunktbezeichnung Palliativ-
medizin bzw. Palliative Care übernommen. In Deutschland arbeiten aktuell 13
ambulante Pädiatrische Palliative Care-Teams (PäPCT). Jedes PäPCT versorgt
etwa 20–30 Kinder/Quartal in einer Entfernung von bis zu 120 km. Entsprechend
der Verordnung des behandelnden Pädiaters und nach eigener Prüfung wird das
PäPCT beratend bzw. koordinierend tätig. Darüber hinaus kann das PäPCT auch
eine Teil- oder Vollversorgung des Patienten übernehmen. Das Team steht mit einer
24-Stunden-Rufbereitschaft von Arzt und Pflegekraft zur Verfügung [1], [2].
Ambulante Kinderhospizdienste begleiten das betroffene Kind und bieten der
gesamten Familie Unterstützung im Alltag an. Ambulante Kinderhospizdienste
stehen bisher nicht flächendeckend zur Verfügung.
2010 wurde die erste Kinderpalliativstation an der Vestischen Kinderklinik in
Datteln eröffnet. Die Kinderpalliativstation steht für pädiatrische Patienten mit
304 Kapitel 16 · Kinder und Jugendliche mit lebensverkürzenden Erkrankungen

unheilbaren Erkrankungen zur medizinischen Krisenintervention zur Verfügung.


Patienten und ihre Familien werden von einem multiprofessionellen Team betreut
und stabilisiert, um dann wieder in die häusliche Umgebung zurück kehren zu
können.
Aktuell gibt es in Deutschland 10 stationäre Kinderhospize und 2 Hospize für
Jugendliche und junge Erwachsene, die der gesamten Familie im Rahmen von
Kurzzeitaufenthalten oder auch als Krisenintervention Entlastung bieten. Dieses
Angebot wird überwiegend von Kindern und Jugendlichen mit chronischen neuro-
logischen Erkrankungen oder Stoffwechselerkrankungen genutzt. Im Gegensatz zu
Erwachsenen sterben betroffene Kinder deutlich seltener im Hospiz.
Die Palliativversorgung kann nur im Rahmen einer Zusammenarbeit vieler
verschiedener Berufsgruppen (Kinder- und Jugendärzte, Gesundheits- und Kinder-
krankenpflegende, Psychologen, Sozialarbeiter, Physiotherapeuten, Logopäden,
Lehrer) und ehrenamtlicher Hospizmitarbeiter erfolgen.

16.4 Psychosoziale Aspekte der pädiatrischen


Palliativversorgung

Psychosoziale Aspekte haben in der Begleitung pädiatrischer Patienten und ihrer


Familien einen hohen Stellenwert. Die Beachtung der individuellen Wünsche trägt
maßgeblich zum Erhalt der Lebensqualität bei.

16.4.1 Die Situation des Patienten

ä Pierre, 7 Jahre, Medulloblastom


Wünsche eines Kindes in der Lebensendphase:
4 nie wieder ins Krankenhaus
4 mit der Familie in Urlaub fahren
4 auf einem Elefanten reiten
16
Das junge Kind lebt in enger Bindung zu seinen Bezugspersonen, die ihm Sicher-
heit und Geborgenheit geben. Eltern und Großeltern möchten das Kind behüten,
ihm jegliches Leid ersparen, Freude bereiten und jeden Wunsch erfüllen. Doch
kranke Kinder wollen sich spüren, fühlen, erleben, entdecken, kommunizieren,
lernen aber auch Grenzen erfahren und streiten. Sie wollen trotz ihrer Erkrankung
möglichst viel Normalität. Kinder sind ihren Bezugspersonen gegenüber sehr sen-
sibel. Durch das veränderte Verhalten der Eltern ahnen sie ihren bevorstehenden
Tod, auch wenn er unausgesprochen bleibt. Der Tod hat für junge Kinder eine
weniger emotionale Wertigkeit als für Erwachsene. Vielmehr beschäftigen sie sich
16.4 · Psychosoziale Aspekte
305 16
mit realen Fragen: »Wo gehe ich hin? Wer begleitet mich? Bin ich dort allein? Gibt
es im Himmel Toiletten?« Kinder äußern diese Fragen oft völlig unerwartet und
hoffen auf eine ehrliche Antwort.
Jugendliche, die sich entwicklungsgemäß in einer Phase der Ablösung befin-
den, sind durch die erkrankungsbedingte Abhängigkeit zu ihren Eltern besonders
getroffen. Für sie ist der Erhalt der Normalität mit Austausch mit Gleichaltrigen
und Schulbesuch von zentraler Bedeutung. Nicht selten suchen sie sich ihre Ge-
sprächspartner eher im Freundeskreis als in der Familie [3].

16.4.2 Die Situation der Eltern

ä Emilia, 3 Monate, Trisomie 18


Das Erleben einer Diagnose durch Eltern:
… wir waren wie gelähmt;
… was gestern noch planbar war, war planlos;
… was gestern noch Wert hatte, wertlos;

»Wir selbst hatten keine Richtung mehr und irrten mit dieser Diagnose in die
Welt hinaus …«

Eltern geraten durch die Diagnose einer lebensverkürzenden Erkrankung und den
drohenden Tod ihres Kindes in eine extreme Situation. Sie haben Schuldgefühle und
fragen sich, ob sie die Krankheit hätten verhindern können und ob alle therapeu-
tischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Hereditäre Erkrankungen stellen hier eine
zusätzliche Belastung dar. Die meisten Eltern möchten die Pflege des Kindes zuhau-
se übernehmen. Dies stellt die Familien vor große emotionale und physische Her-
ausforderungen. Wenn das Leid der Kinder unerträglich wird, hoffen manche Eltern
auf den baldigen Tod. Gleichzeitig schämen sie sich aber für diese Gedanken.
Viele Familien haben bedingt durch den zusätzlichen Aufwand im Rahmen
der Erkrankung und die oft fehlende Möglichkeit der Berufstätigkeit beider Eltern
finanzielle Probleme. Familien haben Anspruch auf Leistungen durch Kranken-
kasse, Pflegeversicherung, Kinder- und Jugendhilfe und Einrichtungen der Kom-
munen.
306 Kapitel 16 · Kinder und Jugendliche mit lebensverkürzenden Erkrankungen

16.4.3 Die Situation der Geschwister

ä Äußerungen betroffener Geschwister:


4 »Ich möchte auch mal krank sein!«
4 »Ich möchte auch so einen schönen Liegesessel wie mein Bruder haben!«
4 »Bin ich Schuld an der Krankheit meines Bruders, weil ich mich mit ihm so
oft gezankt habe?«

Geschwister sind von der Erkrankung ihres Bruders oder ihrer Schwester oft nach-
haltig betroffen. Eltern sollten frühzeitig auf die Bedürfnisse der Geschwisterkinder
nach altersgerechter, ehrlicher Information, Beachtung und emotionaler Zuwen-
dung achten. Angebote wie Gesprächsgruppen für Geschwister, Freizeiten und der
Einsatz von Ehrenamtlichen in den Familien können hier unterstützend wirken.
Die Eltern selbst bleiben aber die wichtigsten Ansprechpartner der Geschwister-
kinder, sodass nur eine Entlastung des gesamten Familiensystems eine dauerhafte
Stärkung darstellt.

16.5 Symptome und Symptomkontrolle

Auch in der pädiatrischen Palliativmedizin sollte die Symptomkontrolle (7 Kap. 5


und 6), in der letzten Lebensphase primär an der Verbesserung der individuellen
Lebensqualität orientiert sein. Daher stehen am Beginn jeder Therapiemaßnahme
die Fragen nach der Ursache und zugrunde liegenden Pathophysiologie des Symp-
toms, nach der Prognose im Kontext des Krankheitsverlaufs, nach dem Ziel und
der Angemessenheit der Behandlung und dem Willen des Kindes/des Jugend-
lichen und seiner Familie. Wenn möglich, ist zunächst eine an der Ursache orien-
tierte Therapie anzustreben. Darüber hinaus sollten nichtmedikamentöse (z. B.
Physiotherapie) und/oder psychologische Maßnahmen (Entspannungsverfahren)
erwogen werden [4], [5].

16
16.5.1 Probleme der Medikamentengabe

Ebenso wie in der Pädiatrie sieht sich auch der behandelnde Arzt in der pädia-
trischen Palliativmedizin mit dem Problem fehlender oder eingeschränkter Medi-
kamentenzulassungen (altersspezifische Kontraindikationen) konfrontiert. Für
die meisten in der Palliativsituation eingesetzten Medikamente gibt es keine Daten
zum Einsatz bei Kindern. Darüber hinaus gestaltet sich die Einnahme von Tablet-
ten im Kindesalter oft problematisch. Häufig fehlen spezielle kindgerechte Medi-
kamentenformulierungen und -dosierungen. Stattdessen müssen Tabletten geteilt
16.5 · Symptome und Symptomkontrolle
307 16
und/oder aufgelöst und über alternative Applikationswege verabreicht werden
(z. B. PEG–Sonde).

16.5.2 Schmerzen

Obwohl Schmerzen das häufigste berichtete Symptom in der Lebensendphase von


Kindern und Jugendlichen sind, variiert die Häufigkeit in Abhängigkeit von der
zugrunde liegenden Erkrankung zum Teil erheblich. Schmerzen sollten frühzeitig
erkannt und suffizient behandelt werden.
Alters- und erkrankungsabhängig variieren die Fähigkeit zur Beschreibung der
Schmerzen (Lokalisation, Intensität, Dauer, Charakter) erheblich, so dass vor allem
bei jüngeren und schwerst mehrfachbehinderten Kindern geschulte (Fremd-)Be-
obachter zur Schmerzeinschätzung mittels entsprechender Instrumente (z. B.
KUSS-Skala - Kindliche Unbehagen- und Schmerzskala nach Büttner) und indivi-
dueller typischer Schmerzzeichen notwendig sind. Ab dem 3. Lebensjahr sind vor
allem Kinder mit langer Krankengeschichte in der Regel in der Lage, mit altersge-
rechten Gesichtsskalen (z. B. Faces Pain Scale) ihre Schmerzen mit zu beurteilen.
Eine suffiziente Durchführung und Anpassung der Schmerztherapie ist nur mit
Hilfe einer regelmäßigen Dokumentation des Schmerzverlaufs möglich.

16.5.3 Gastrointestinale Symptome

Übelkeit und Erbrechen Übelkeit und Erbrechen sind häufige und als sehr be-
lastend empfundene Symptome in der Lebensendphase von Kindern und Jugend-
lichen. Die Ursachen können vielfältig sein und erfordern eine gründliche Anam-
nese und klinische Untersuchung. Neben nichtmedikamentösen Maßnahmen
(z. B. Strategien zur Angstbewältigung) kann bei schwer beherrschbaren Symp-
tomen der zusätzliche Einsatz von Neuroleptika und Psychopharmaka notwendig
werden.

Obstipation Häufigste Ursache für eine Obstipation in der Palliativsituation von


Kindern ist eine Opioidtherapie. Weitere Ursachen sind Bewegungsmangel, ver-
minderte Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme, neurogene und metabolische
Ursachen sowie Probleme mit/bei der Defäkation.
Vor allem schwerst-mehrfachbehinderte Kinder leiden – unabhängig von einer
Opioidtherapie – oft über Jahre an einer schweren Obstipation.

Ernährung und Flüssigkeitsgabe Die Gabe von Flüssigkeit und Nahrung in der
Palliativsituation ist ein viel diskutiertes Thema. In der Lebensendphase schwerst-
308 Kapitel 16 · Kinder und Jugendliche mit lebensverkürzenden Erkrankungen

kranker Kinder und Jugendlicher wird die Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme


meist zunehmend geringer. Oft ist das Wohlbefinden des Kindes dadurch jedoch
nicht wesentlich beeinträchtigt, so dass neben der Therapie behandelbarer Ur-
sachen vor dem Einsatz weiterer Maßnahmen (Medikamente, parenterale Ernäh-
rung oder Ernährung über nasogastrale Sonde) die Verbesserungsmöglichkeit der
individuellen Lebensqualität zu prüfen ist. Sofern toleriert, können regelmäßige
Mundpflege und Anfeuchten das mit trockener Mundschleimhaut einhergehende
Unbehagen verhindern.
Im Gegensatz dazu hat bei schwerst-mehrfachbehinderten Kindern und jahre-
langer Erkrankung die Gabe von Flüssigkeit und Nahrung über eine PEG-Sonde
einen festen Stellenwert.

16.5.4 Respiratorische Symptome

Die Dyspnoe als respiratorisches Symptom ist vor allem bei krebskranken Kindern
und Jugendlichen aber auch bei Kindern mit nichtmalignen Erkrankungen in der
Lebensendphase von Bedeutung. Aufgrund der häufig multifaktoriellen Genese ist
eine Ursachenklärung und kausale Therapie oft nicht möglich. Im Falle behandel-
barer Ursachen (z. B. Pleuraerguss) muss die Angemessenheit der Maßnahmen
vor dem Hintergrund der Gesamtprognose und dem Willen des Kindes diskutiert
werden. Eine optimale Therapie zur Linderung der Symptome richtet sich nach
dem Ausmaß der subjektiv empfundenen Atemnot und der dadurch hervorgeru-
fenen Ängste. Neben medikamentösen Therapiemaßnahmen (Opioide, Benzodia-
zepine) einschließlich der Gabe von Sauerstoff (zur Verbesserung der subjektiv
empfundenen Atemnot) haben nichtmedikamentöse Therapieansätze (z. B. Lage-
rung, Verbesserung der Luftzirkulation, Einsatz von Entspannungsverfahren)
einen hohen Stellenwert. Bei therapierefraktärer Symptomatik ist auch bei Kindern
und Jugendlichen eine Sedierung zu erwägen.

16 16.5.5 Zentralnervöse Symptome

Zentralnervöse Symptome sind in der pädiatrischen Palliativmedizin häufiger


und oft ausgeprägter als bei Erwachsenen. Ursächlich hierfür ist das prozentual
häufigere Auftreten von neurodegenerativen Erkrankungen und Hirntumoren im
Kindesalter.
Die damit einhergehenden progredienten Verluste von Hirnfunktionen, ins-
besondere der Ausfall isolierter Fähigkeiten (z. B. Sehen, Hören, Sprechen) und das
Auftreten von Verhaltensänderungen (z. B. Aggressivität, Agitiertheit) sind ab-
hängig von der Lokalisation des Prozesses und vom Entwicklungsstand bzw. Alter
16.5 · Symptome und Symptomkontrolle
309 16
des Kindes. Sie können sowohl für die Kinder als auch ihre Eltern extrem belastend
sein.
Neben einer frühzeitigen Aufklärung über die Möglichkeit des Auftretens neu-
rologischer Symptome und die Ausstattung mit Notfallmedikamenten (z. B. für
Krampfanfälle) sind physiotherapeutische Maßnahmen und eine gute Hilfsmittel-
versorgung wesentliche Therapieelemente. Darüber hinaus kommen Antispastika
und Myotonolytika zum Einsatz.

Zerebrale Krampfanfälle Bei fast allen Erkrankungen mit Beteiligung des Zentral-
nervensystems können zerebrale Krampfanfälle auftreten. Hiervon sind vor allem
Kinder und Jugendliche mit neurodegenerativen oder Stoffwechselerkrankungen
und komplexen Fehlbildungen betroffen, bei denen die Epilepsie häufig besonders
therapieresistent ist. Bei Kindern und Jugendlichen mit Hirntumoren oder –metas-
tasen treten epileptische Anfälle überwiegend bei hemisphäraler Lokalisation auf.

Störungen des Schlaf-Wach- bzw. Tag-Nacht-Rhythmus Viele Kinder mit neuro-


degenerativen Erkrankungen und schwerst-mehrfachbehinderte Kinder sowie
Kinder und Jugendliche in der letzten Lebensphase zeigen häufig Störungen des
Tag-Nacht- und Schlaf-Wach-Rhythmus. In Abhängigkeit von den anamnestischen
Daten sollten primär Allgemeinmaßnahmen (z. B. Fördern einer Schlafhygiene,
richtige Schlaftemperatur), verhaltenstherapeutische und physikalische Maßnah-
men versucht werden. Eine medikamentös schlafanstoßende Therapie mit Melato-
nin oder sedierenden Medikamenten kommen bei großem Leidensdruck zum
Einsatz.

16.5.6 Angst

Lebensbedrohlich erkrankte Kinder machen sich unabhängig von ihren Entwick-


lungsstufen Gedanken über die Erkrankung und haben Ängste und Sorgen. Auch
kleinste Veränderungen im Verhalten der Eltern oder Verschlechterungen ihres
Befindens können diese Ängste verstärken. Häufig bedeutet Angst das Bedürfnis,
über die Krankheit und das Sterben und die daraus resultierenden Ängste sprechen
und ernst genommen werden zu wollen.

16.5.7 Trauer und Tod

Die Vorstellungen vom Tod verändern sich bei Kindern und Jugendlichen entspre-
chend ihrer Entwicklung. Bis zum 2. Lebensjahr bemerkt das Kind Verhaltensver-
änderungen seiner unmittelbaren Bezugspersonen. Im Kindergartenalter erleben
310 Kapitel 16 · Kinder und Jugendliche mit lebensverkürzenden Erkrankungen

Kinder den Tod ähnlich wie den Schlaf. Daher ist es in dieser Altersgruppe wichtig,
den Tod zu benennen und vom Schlaf abzugrenzen. Ab dem Schulalter verstehen
Kinder den Tod als irreversibel und können Erklärungen zu Todesursachen auf-
nehmen. Sie verlangen nach sachlicher Information und sprechen mit Vertrauens-
personen darüber.
Die Trauer jedes einzelnen Familienmitgliedes beginnt nicht erst mit dem Tod,
sondern bereits viel früher. Schon während der Erkrankung empfindet das betrof-
fene Kind und die Familie Trauer um Verluste von Funktionen, Einschränkungen,
etc. Der Abschied findet stufenweise statt. Deshalb kann es ein sinnvolles Angebot
sein, der Familie in der Lebensendphase einen Trauerbegleiter zur Seite zu stellen.
In den letzten Jahren werden zunehmend Trauerseminare für Eltern oder Ge-
schwister angeboten.

Zusammenfassung
Besonderheiten der pädiatrischen Palliativversorgung sind die Vielfalt und die
Seltenheit der Krankheitsbilder sowie das breite Altersspektrum der Patienten
mit den entwicklungsspezifischen Konzepten von Krankheit und Sterben. Die
Erkrankungen zeigen eine hohe Varianz in Symptomatik, Krankheitsdauer und
Betreuungsaufwand. Gerade in der pädiatrischen Palliativversorgung ist eine
multidisziplinäre Betreuung der gesamten Familie für die spätere Trauerver-
arbeitung unabdingbar. Ein besonderes Augenmerk muss den Geschwister-
kindern gelten.

Literatur
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Deutschland. Strukturen und Initiativen. Monatsschr Kinderheilkd 153:552-556
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311 17
Integrative Palliativversor-
gung – soziale Inklusion:
Behinderung, Psychiatrie,
Forensik am Lebensende
Haynert

17.1 Palliative Praxis und soziale Exklusion – 312

17.2 Zukünftige Felder integrativer Palliativ-


versorgung – 315

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2_17, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
312 Kapitel 17 · Integrative Palliativversorgung

>>

Einige Menschen bedürfen aufgrund besonderer Bedürfnisse spezialisierter Ver-


sorgungsformen. Integrative Palliativversorgung kann dazu beitragen, diese zu ent-
wickeln und in Felder, in denen ungleiches Sterben auftritt, für Gerechtigkeit und
würdevolles Sterben zu sorgen.

Wenn wir ans Sterben denken, wünschen sich die meisten von uns ruhig und
friedlich einzuschlafen. Vor allen Dingen wollen wir eine hohe Lebensqualität
bis zum Lebensende. Fragt man unheilbar Kranke, Sterbende oder Menschen, die
sich bereits intensiver mit ihrer eigenen Sterblichkeit auseinandergesetzt haben,
dann erhält man unterschiedliche Antworten, so unterschiedlich wie das Leben an
sich. Es gibt allerdings eine Reihe von Wünschen, die im Rahmen von Studien
immer wieder genannt werden, die quasi die Kernaussage der Wünsche unheilbar
Kranker und sterbender Menschen bilden und deshalb als vorhersehbar gelten
[1], [2]:

Wünsche Sterbender:
1. In Würde,
2. zu Hause,
3. in hohem Alter,
4. schnell und schmerzlos,
5. nicht alleine, sondern von Bezugspersonen betreut,
6. sterben,
7. dabei dem Sinn des Lebens und des Sterbens und der Frage nach dem
Danach nachgehen und
8. vorher unerledigte Geschäfte zu Ende bringen dürfen.

17.1 Palliative Praxis und soziale Exklusion

17 Die Wünsche Betroffener sowie die Ansprüche der Experten können in der gegen-
wärtigen Praxis heutiger Institutionen, wie heilpädagogischen Heimen, psychia-
trischen Fachkrankenhäusern, Maßregelvollzugskliniken und Strafvollzugsan-
stalten, oftmals bisher wenig erfüllt werden. Trotz aller Anstrengungen der dort
und in der Palliativversorgung tätigen Heilberufe bleiben strukturelle Zwänge, die
eine an den Wünschen der Betroffenen und den Empfehlungen der Experten aus-
gerichtete Palliativversorgung erschweren oder gar unmöglich machen: Die Insti-
tutionalisierung begrenzt die eigenen Möglichkeiten und das subjektivierende
17.1 · Palliative Praxis und soziale Exklusion
313 17
Handeln durch Routinen. Die Spezialisierung verteilt die Ansprechpartner und
Dienstleister für die Bedürfnisse Sterbender und Trauernder in die verschiedensten
Zuständigkeitsbereiche. Und aufgrund des teils hoheitlichen Auftrag sind die Ins-
titutionen nur wenig auf Sterbebegleitung vorbereitet oder verfolgen einen ande-
ren, nämlich kurativen oder rehabilitativen Zweck, obwohl die demografische Ent-
wicklung eindeutig darauf hindeutet, dass auch in den genannten Institutionen die
Themen chronische und unheilbare Krankheiten, Multimorbidität und Lebensen-
de zukünftig von Bedeutung sein werden.
Es existieren unterschiedliche soziale Prozesse, die dazu führen, dass Menschen
innerhalb unserer Gesellschaft in Bezug auf Palliativversorgung ungleich behandelt
oder benachteiligt, teilweise oder gar vollständig davon ausgeschlossen werden. Die
verschiedenen Wirkungsweisen dieser sozialen Ordnungskräfte werden mit den
sozialwissenschaftlichen Fachbegriffen als soziale Exklusion, Separation oder In-
tegration bezeichnet.

Soziale Exklusion
Wörtlich Ausschluss, sinngemäß auch Ausgrenzung, beschreibt die Tatsache,
dass jemand von einem Vorhaben ausgeschlossen wird oder gar nicht erst die
Möglichkeit hat, teilzunehmen. Mit der sozialen Exklusion geht ein Verlust der
Anerkennung, sozialen Teilhabe, Interaktions- und Kommunikationschancen,
Positionen und sozialen Rollen einher.

Mit sozialer Exklusion wird der nachhaltige Ausschluss einzelner sozialer Akteure
oder ganzer Gruppierungen aus denjenigen sozialen Gruppen bezeichnet, die sich
als »eigentliche Gesellschaft« verstehen [3]. Dabei kann die soziale Exklusion als
sozialer Prozess durchaus gemeinschaftsstiftend wirken, indem sie eine Gruppe
gleich denkender und handelnder Menschen in Gemeinschaft verbindet. Diese
Deutung darf aber keinesfalls so verstanden werden, dass diese Funktion auch
ethisch gerechtfertigt ist, denn Ethik als nichtexklusiver Schutzbereich besagt, dass
niemand, auch nicht unheilbar kranke und sterbende Menschen, aus dem Ach-
tungs-und Schutzbereich des Ethischen herausfallen dürfen [4]. Ihre Wünsche und
Bedürfnisse gilt es zu erfüllen und zur Geltung zu bringen . Tab. 17.1.
Neu zu überdenken wären allerdings integrative Behandlungsansätze, um die
oben benannten Wünsche Sterbender umsetzen zu können. Integrative Palliativ-
behandlung bedeutet die Grenzen überschreitende Ausbildung einer neuen Hal-
tung und eines Wertesystems, so dass Interventionen auf Basis der Bedürfnisse der
Betroffenen gestaltet werden können, um ein Sterben in Würde zu gewährleisten.
Dazu gehört die Beteiligung externer, an der Palliativversorgung beteiligter Berufs-
gruppen ebenso wie die sozialräumliche Anpassung an das gestiegene Lebensalter
der Insassen sowie an ihre Erkrankungen.
314 Kapitel 17 · Integrative Palliativversorgung

. Tab. 17.1 Spannungsfelder und Herausforderungen für Sterbebegleitungen in


den Einrichtungen

Institutionelle Zwänge Wünsche Sterbender

Zeitlimitationen Viel Zeit


Gleichbehandlung Individualität
Fachlichkeit und Kontrolle Menschlichkeit und Fachlichkeit
Ressourcen- und Ablauforientierung persönliche Wahrnehmung
Auftrag der Besserung und Sicherung Linderung der (körperlichen) Leiden

Integrative Palliativversorgung zielt aber darauf ab, soziale Inklusion herzu-


stellen und zu erhalten.
! Herausforderung, Ziel und Aufgabe aller in der Palliativversorgung täti-
gen Heilberufe sollte die soziale Inklusion unheilbar kranker, sterben-
der und trauernder Menschen sein. Inklusion bedeutet, alle Menschen
vor dem Hintergrund ihrer Individualität gleich zu sehen und ihnen die
Möglichkeit zu bieten, durch Partizipation an palliativ-hospizlichen Ver-
sorgungsstrukturen ein würdevolles Sterben zu ermöglichen.
Am Beispiel der Hospizbewegung soll aufgezeigt werden, wie soziale Inklusion
unheilbar kranker und sterbender Menschen erfolgreich gestaltet werden kann.

jHospiz als Lebenskultur und Wegbereiter für würdevolles Sterben

Die fünf Kennzeichen eines Hospiz- bzw. Palliative Care-Angebotes


Um zu verstehen, was Hospiz bzw. Palliative Care bedeuten, sind weniger
formale Strukturen, als vielmehr eine Reihe inhaltlicher Kennzeichen zu be-
nennen [5]:
1. Der sterbende Mensch und seine Angehörigen stehen im Zentrum des
17
Dienstes.
2. Der Gruppe der Betroffenen steht ein interdisziplinäres Team zur Ver-
fügung.
3. Die Einbeziehung ehrenamtlicher Helferinnen und Helfer.
4. Gute Kenntnisse in der Symptomkontrolle und Leidenslinderung.
5. Die Kontinuität der Fürsorge für die betroffene Gruppe.
17.2 · Zukünftige Felder integrativer Palliativversorgung
315 17
Die Hospizbewegung kann als ein Modell bürgergemeinschaftlichen Engagements
gesehen werden, das die soziale Inklusion unheilbar Kranker und sterbender Men-
schen sowie von Trauernden erfolgreich geleistet hat. Von ihr entwickelte Ideen
und Konzepte gilt es auch in die zukünftigen Felder integrativer Palliativversor-
gung zu übertragen.

17.1.1 Integrative Palliativversorgung


und soziale Inklusion

Insbesondere diejenigen, die aus der Gesellschaft herausgefallen sind, weil sie eine
Straftat begangen haben oder aufgrund ihrer Leiblichkeit behindert oder psychisch
krank sind, haben oft nicht die Möglichkeit, all die Versorgungsangebote in An-
spruch zu nehmen. Im Folgenden werden Alltagsprobleme, Lösungsmöglichkeiten
sowie Begegnungen am Lebensende im Zeichen der Diversität geschildert.

17.2 Zukünftige Felder integrativer Palliativversorgung


jIntegrative Palliativversorgung und Behinderung
Eine zentrale Bedeutung hat das Prinzip der sozialen Inklusion in der UN-Kon-
vention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (2009) [6]. Dort wurde
programmatisch festgeschrieben, dass behinderte Menschen ebenso an allen ge-
sellschaftlichen Errungen teilhaben dürfen und müssen wie nicht behinderte Men-
schen. Dazu zählt auch die Palliativversorgung. Das Sterben und damit auch die
Anforderungen an die Sterbebegleitung von Menschen mit Behinderung unter-
scheiden sich nicht wesentlich von den entsprechenden Erfahrungen und Anfor-
derungen an die Begleitung bei Menschen ohne Behinderung.

jIntegrative Palliativversorgung und Psychiatrie, Maßregel-


und Justizvollzug
Neben der Versorgung von alten Menschen mit Behinderungen stellen die Versor-
gungssettings Psychiatrie, Maßregel- sowie Justizvollzug eine große Herausforde-
rung für die Palliativversorgung der Zukunft dar. Entgegen vieler Meinungen un-
terscheiden sich die genannten Einrichtungen wesentlich voneinander, was bei
der Gestaltung von integrativer Palliativversorgung berücksichtigt werden muss
. Tab. 17.2.

jAlltagsprobleme in der Psychiatrie


Das Verhältnis von Psychiatrie und integrativer Palliativversorgung stellt sich
innerhalb dreier Problemfelder dar:
316 Kapitel 17 · Integrative Palliativversorgung

. Tab. 17.2 Psychiatrie, Maßregel- und Strafvollzug im Vergleich

Psychiatrie Maßregelvollzug Strafvollzug


(Forensik)

Auftrag Würdevolles Leben Rehabilitation schuld- Resozialisierung durch


und einen neuen unfähiger psychisch Vollstreckung der
Alltag mit psychi- kranker Straftäter und gerichtlich verhängten
scher Störung oder Schutz der Bevölke- Freiheitsstrafe, Schutz
Symptomen ermög- rung vor gefährlichen der Bevölkerung vor
lichen Personen weiteren Straftaten
Träger Länder, freie private Länder, freie private Länder
sowie kirchliche Träger
Träger

1. Komorbidität von somatischen Erkrankungen und psychischen Störungen


2. unheilbare Krankheiten bei psychiatrischen Patienten
3. Sterben und Tod bei Demenz

Viele psychische Störungen weisen mittlerweile chronische Verläufe auf. Men-


schen, die an einer Schizophrenie erkrankt sind, können erfolgreich viele Jahr-
zehnte mit ihrer Krankheit bzw. ihren Symptomen leben. Bei Auftreten von
schweren und unheilbaren somatischen Erkrankungen, die zum Tode führen, kann
es vorkommen, dass individuelle Bewältigungsstrategien oder die Medikation
nicht mehr wie gewohnt Anwendung finden können oder wirken. Selbst einfachs-
te tägliche Verrichtungen, wie das Aus-und Anziehen, können zu Problemen wer-
den, da aufgrund einer plötzlich wieder neu auftretender Apraxie die Knöpfe einer
Bluse oder eines Hemdes nicht mehr gefasst werden können.

ä Lungen-Karzinom bei chronischer Schizophrenie


Herr T. ist 47 Jahre alt und ist bereits mit 26 an einer paranoiden Schizophrenie
erkrankt. Seitdem hat er mehrfach akute psychotische Episoden erlebt, worauf-
hin jedes Mal seine Medikation umgestellt worden ist. Mit 31 Jahren wurde er
17
auf eine Medikation eingestellt, die es ihm ermöglicht hat, symptomarm leben
zu können. Er konnte nicht nur in einer eigenen Wohnung leben, sondern auch
stundenweise in den gemeinnützigen Werkstätten arbeiten gehen. Vor 6 Mo-
naten wurde bei Herrn T. ein Lungen-Karzinom diagnostiziert. Aufgrund der
Operation mit anschließender Chemotherapie durfte Herr T. seine gewohnte
Medikation nicht mehr einnehmen. Er wurde auf ein anderes Präparat umge-
stellt, worunter er wieder leichte psychotische Symptome entwickelt hat.
17.2 · Zukünftige Felder integrativer Palliativversorgung
317 17
Ein weiteres Thema ist die Behandlung von Demenz und den Folgen der Erkran-
kung für Betroffene sowie ihre Angehörigen: Verhaltensänderungen, wie progre-
diente Vergesslichkeit, psychomotorische Unruhe, aggressives Verhalten, Schlaf-
störungen oder delirante Symptome. Bei fachgerechter Behandlung und kontinu-
ierlicher Pflege und Betreuung können Krankenhaus- oder Heimeinweisungen oft
vermieden werden.

jAlltagsprobleme im Maßregelvollzug
Der Unterschied zwischen Strafen und Maßregeln besteht darin, dass die Strafe eine
Schuld des Täters voraussetzt und in ihrer Schwere durch das Maß der Schuld be-
grenzt wird, während die Maßregeln auch gegen schuldlose Täter angeordnet wer-
den können und sich an der Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit orien-
tieren (StGB). Die Unterbringung im Maßregelvollzug ist zeitlich unbefristet und
orientiert sich dabei an der Gefährlichkeit der Person sowie ihren Therapiefort-
schritten.
Aufgrund gestiegener Einweisungszahlen und längerer Unterbringungszeiten
in Verbindung mit steigendem Lebensalter und Multimorbidität der unterge-
brachten Personen kommt es zunehmend zu Versorgungsschwierigkeiten. Zuneh-
mende Symptome und Pflegebedürftigkeit führen mitunter dazu, dass sie verlegt
oder der Maßregelvollzug erledigt werden muss.
Was ist aber, wenn eine Person aufgrund von chronischer oder unheilbarer
Krankheit irgendwann haftunfähig wird, aber dennoch gefährlich ist?
Ein Einrichtungsleiter gibt folgende Antworten darauf [7]:

»Versuchen Sie mal eine Einrichtung zu finden, die unsere Patienten aufnimmt.
Fallen auch nur die Begriffe »gefährlich«, »Gewalttäter« oder »Sexualstraftäter«,
dann siegt das Bedürfnis nach größtmöglicher öffentlicher Sicherheit und
plötzlich werden auch ansonsten aussichtsreiche Kontakte abgebrochen. Das
ist so unser Alltag.«

jAlltagsprobleme im Strafvollzug
Der demografische Wandel macht auch vor Justizvollzugsanstalten keinen Halt.
2008 waren bereits 2,9 % aller Häftlinge in deutschen Justizvollzugsanstalten über
60 Jahre alt. Für die Haftanstalten bedeutet dies ein Umdenken und Umorganisie-
ren: seniorengerechte Angebote, Netzwerke und Vernetzung – auch über Palliativ-
versorgung wird nachgedacht.
Zunehmend taucht ein Problem auf, das es früher gar nicht gab. Die Häftlinge
werden immer älter, sowohl die, die schon lange einsitzen als auch die, die im hö-
heren Alter ihre erste Straftat begehen. Wie im Fall Richard D.
318 Kapitel 17 · Integrative Palliativversorgung

ä Richard D. ist fast 68 Jahre alt. Seit 18 Jahren sitzt er in Haft ein. 7 Jahre muss er
noch, dann steht nach der lebenslänglich angeordneten Haftstrafe die Unter-
bringung in der Sicherungsverwahrung an. Wahrscheinlich kommt er nicht
mehr »raus«.
Herr D. leidet an hohem Blutdruck, Prostataproblemen sowie einer Herzin-
suffizienz. Aufgrund seiner Erkrankungen hat er eine Befreiung von der Arbeits-
pflicht bekommen. Nun verbringt er die meiste Zeit des Tages alleine auf dem
Wohnbereich und langweilt sich. Die Herzinsuffizienz ist progredient fort-
schreitend, Haftunfähigkeit und vorzeitige Entlassung sind aber nach Ansicht
der Gutachter nicht geboten. Zudem gibt es kaum Plätze mit adäquatem Ver-
sorgungsangebot für Menschen wie Richard D.

17.2.1 Begegnungen am Lebensende im Zeichen


der Diversität

Der Alltag von Institutionen wie Psychiatrien, forensischen Kliniken und Justiz-
vollzugsanstalten ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass die Begegnun-
gen zwischen den Heilberufen und den Patienten bzw. Insassen sehr stark durch
die Rahmenbedingungen vorstrukturiert ist.

jBegegnungen mit behinderten, psychisch kranken und delinquenten


Menschen am Lebensende
Behinderung kann unter anderem dadurch gekennzeichnet sein, dass die gemein-
same Ausrichtung auf die Welt fehlt. Im Film Snow Cake spielt Sigourney Weaver
eine autistische Mutter, die aufgrund eines Autounfalls ihre Tochter verloren hat.
Anstatt, wie erwartet, zu weinen und den Fahrer des Unfallautos Vorwürfe zu
machen, fragt sie lediglich, wer nun ihre Bedürfnisse befriedige? Diese Frage ist
nicht unberechtigt, da die Besonderheit in der Versorgung von Menschen mit Be-
hinderung darin bestehen kann, lange Zeit einen Alltag miteinander zu leben und
die betroffenen Personen darin anzuleiten, ihre Bedürfnisse zu artikulieren und
selbstständig oder mit Hilfe zu befriedigen. Was passiert aber nun, wenn aufgrund
von unheilbarer Krankheit dieses Begleitungskonzept und die langjährige Bezie-
17 hung beendet zu werden droht, die Begleitung in andere Hände abgegeben werden
muss?
Lachen, Weinen, Wut und Trauer sind Gefühle, die jeder von uns kennt. Bei
den Personen, die wir psychisch krank nennen, können diese Gefühle sich derart
verschränken und dazu führen, dass sie blockiert sind und Symptome wie Nieder-
geschlagenheit, Apathie oder Stimmen hören entwickeln. Dafür sind psychiatrisch
Tätige in der Regel sehr gut ausgebildet. Was aber bislang fehlt, ist oft eine ebenso
die somatischen Krankheiten berücksichtigende Betreuung. In Unkenntnis der
17.2 · Zukünftige Felder integrativer Palliativversorgung
319 17
Verläufe vieler somatischer Erkrankungen werden nicht nur die Patienten, sondern
auch die sie versorgenden Heilberufe häufig überrascht und schlagartig mit der
eigenen bzw. der Endlichkeit des Gegenübers konfrontiert. Zeit, die für voraus-
schauende Planung und Durchführung geeigneter Maßnahmen da gewesen wäre,
ist verstrichen; sie stehen einer weiteren, für sie alleine meist unauflöslichen Asym-
metrie gegenüber.
Dies ist umso intensiver im Strafvollzug anzutreffen, wo in der Regel nur wenig
in einem der Heilberufe ausgebildetes Stammpersonal arbeitet. Für die Berufsgrup-
pe der Justizvollzugsbeamten stellen körperliche Erkrankungen eine vollkommen
neue Erfahrung da, die nicht nur die ihnen anvertrauten Insassen, sondern auch sie
selbst mit der existentiellsten aller Erfahrungen konfrontiert: der eigenen Endlich-
keit bzw. dem Sterben. Um dennoch professionell darauf vorbereitet zu sein, bedarf
es neuer Schulungsinhalte und Versorgungsangebote, die bislang noch entwickelt
werden müssen.

Zusammenfassung
Die soziale Inklusion aller Sterbenden muss Herausforderung, Ziel und Aufgabe
aller in der Palliativversorgung tätigen Heilberufe sein. Inklusion bedeutet, alle
Menschen vor dem Hintergrund ihrer Individualität gleich zu sehen und ihnen
die Möglichkeit zu bieten, durch Partizipation an palliativ-hospizlichen Versor-
gungsstrukturen ein würdevolles Sterben zu ermöglichen.
Die Diversität des Sterbens und des Todes findet in den in diesem Kapitel
beschriebenen Populationen bzw. Settings eine weitere Ausdifferenzierung.
Neue Versorgungsformen und Interventionen auf Basis der Bedürfnisse der Be-
troffenen müssen gestaltet werden, um ein Sterben in Würde zu gewährleisten.
Die Umsetzung integrativer Palliativversorgung muss, um erfolgreich zu sein,
die setting- und personenspezifische Gegebenheiten berücksichtigen.

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320 Kapitel 17 · Integrative Palliativversorgung

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chiatrie. Psychiatrie-Verlag, Bonn

17
321

Anhang
Weiterführende Literatur – 322

Stichwortverzeichnis – 325

M. W. Schnell, C. Schulz (Hrsg.), Basiswissen Palliativmedizin,


DOI 10.1007/978-3-642-19412-2, © Springer Medizin Verlag Heidelberg 2012
322 Weiterführende Literatur

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325 A–D

Stichwortverzeichnis
A – HOPE 38
Bedarf 279
AES-Methode 159, 167 – Palliativ- und Hospizbetten 279
Altersmedizin 7 – ambulante Palliativversorgung
Analgetikum 48, 49, 64, 66 279
Angehörige 26, 202 – ambulante Hospizdienste 280
– Bedürfnisse 204, 305 Bedarfsmedikation 48, 69
Angst 22, 94, 169, 212 Behandlungsabbruch 237, 240
– bei Kindern 309 Behinderung 287, 312, 315
– Therapie 96 Benzodiazepin 98, 106, 132
– Ursachen 96 Bestattung 281, 284
Antidepressivum 68, 98, 102 Betreuer 236
Antiemetikum 77 Biografiearbeit 190, 203, 211
Antikonvulsivum 68 Breaking Bad News 151
Anxiolytikum 90 Burn-Out 184, 218
Appetitlosigkeit 70
– Therapie 72
– Ursachen 71
Appetitsteigerung 72
C
Approbationsordnung 231 CALM-Modell 176
Arzneimittelinteraktion 44, 293 Care 6
Arzneimittelpumpe 50 Charta zur Betreuung schwerstkranker
Arzneimitteltherapie 42 und sterbender Menschen 230
– Auswahl 43 CPS-Methode 159
– Bedarfsmedikation 48
– Grundregeln 43
– Inkompatibilität 50
– Interaktionspotential 46
D
– Subkutangabe 48 Dehydratation 122
Arzt-Patienten-Kommunikation 140, 144, – Therapie 122
147, 158, 218, 242 Delir 103
Ask-Tell-Ask-Modell 148, 166, 173, – Therapie 107
176 Delirium Rating Scale (DRS) 104
Autonomie 163, 169, 229, 241 Demenz 296, 316
Demoralization Scale (DS) 97
Depression 100
B – Therapie 102
– Ursachen 101
Basisassessment 276 Desire for hastened death (DHD) 168
– palliativmedizinische Komplex- Desire to die statement (DTDS) 168
behandlung 276 Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin
Basisbogen 38 (DGP) 5, 144
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326 Stichwortverzeichnis

Diarrhö 86
– Therapie 87
F
– Ursachen 86 Fallbesprechung
Distress-Thermometer 97 – Ablauf 257
Diversität 19, 23, 151, 203, 212, 242, – interdisziplinäre 251
146–147, 318 – interprofessionelle 256
– kulturelle 26,141 Familieninterview 202
Durst 120 Familiensystem 200
Dyspnoe 88 Familienzentrierte Medizin 200, 305
– bei Kindern 308 Fatigue 55
– Therapie 89 – primärer 56
– sekundärer 56
– Therapie 57
E – Ursachen 56
Fehleranalyse 180
ECOG (Eastern Cooperative Oncology Group) Fehlerkommunikation 179–180, 182
35 Feil, Naomi 297
EEMMA-Modell 55 Finalphase
Ehrenamt 9, 12, 278, 298 – Delir 127
Einwilligungsfähigkeit 239, 242, 262 – Durst 127
Einwilligungsunfähigkeit 236 – Dyspnoe 126
Empathie 16, 146, 147, 218 – Notfälle 128
Endlichkeit 20, 228 – Rasselatmung 126
Enterale Ernährung 74 – Schmerzen 125
Entscheidungsfindung 38, 157–168 – Therapie 124
Epileptischer Anfall 108 – Verwirrtheit 127
– Therapie 109 Flüssigkeitsgabe 120
Erbrechen 76 Forensik 287, 312, 314
– bei Kindern 307 Forschungsethik 233
– Therapie 77 Frankl, Viktor 218
– Ursachen 76 Fremdeinschätzungsinstrument 35–38
Ernährung 73 Freud, Sigmund 21
– bei Kindern 307 Fürsorge 229
– enterale 74
– parenterale 74
Ernährungsberatung 73
Erschöpfung 55
G
Ethik 227, 313 Geburt 20
Ethikkonsil 260 Gelatologie 217
Ethische Prinzipien 229 Gerechtigkeit 229, 312
Euthanasie 173, 228 Geriatrie 292
Evaluation 55 – chronische Schmerzen 294
– Symptome 32–38, 41 – kognitive Defizite 295
Existentialismus 20 – Medikamente 293
– Multimorbidität 291
– Problemhierarchisierung 293
Stichwortverzeichnis
327 D–M
Gesprächssituation Kausalität
– palliativmedizinische 139, 142, 169 – lineare 201
– zirkulare 201
Kinderhospiz 304
H Kinderpalliativstation 303
Koanalgetikum 68
Haltung, professionelle 22, 24, 120, 142, 228 Kommunikation 139
Hausarzt 272 – am Lebensende 144, 149, 171, 188
Hauswirtschaftliche Mitarbeiter 14 – Ausbildung 139, 142, 144
Hirntod 282 – bei Demenz 296
Hochbetagte 291 – Deeskalation 176, 177
HOPE (Hospiz- und Palliativ-Erfassung) 38 – Grundprinzipien 145
Hornheider Screening Instrument (HSI) 97 – im Team 15
Hospital Anxiety and Depression Scale – Informationsbedürfnis 140, 141
(HADS) 97 – Konflikt 176
Hospiz 3, 231, 278, 314 – kulturelle Unterschiede 141
– Finanzierung 279 – mit Kindern 304
Humor 216 – nonverbale 147
– Funktionen 216 Krankenpflege 11
Humortherapie 219 Krankheitsbewältigung 187
Husten 91 Kübler-Ross, Elisabeth 142
– Therapie 93 Kunsttherapie 12, 187
– Ursachen 92 Kurative Medizin 6
KUSS-Skala 295

I
ICH-Stärkung 195
L
Ileus 83 Lachen 216
– Therapie 84 Lebensendphase
– Ursachen 84 – Kinder 307
Interdisziplinäres Team 10, 15 Lebensqualität 33, 41, 56, 294
Interdisziplinarität 10, 15 Leichenschau 281
Interprofessionalität 9, 249 – Durchführung 283
Lifton, Robert Jay 21
Liverpool Care Pathway (LCP) 128
J Livores 281
Loewy, Erich 10
Jucken 114 Logotherapie 12
Junge Alte 291

M
K Maßregelvollzug 316
Karnofsky Performance Status Scale (KPS) Memorial Delirium Assessment Scale
35 (MDAS) 104
328 Stichwortverzeichnis

MIDOS (Minimales Dokumentations- Palliative Performance Status (PPS) 35


programm für Palliativpatienten) 38 Palliative Prognostic Index (PPI) 38
Moral 227 Palliative Prognostic Score (PaP-S) 38
Müdigkeit 55 Palliative Sedierung 130
Multimorbidität 291 Palliativmedizin
Mundpflege 117 – Differenzierungsphase 5
– Therapie 118 – Forschung 232
Musiktherapie 12 – Geschichte 2
– gesundheitsökonomischer Aspekt 223,
271
N – Integrationsphase 6
– Pflichtprüfungsfach 144
Neuroleptikum 98, 105, 132 – Phasen 266
Noll, Peter 23 – Pionierphase 5
Notfallsituation 236 Palliativpatient 22, 31, 52, 225
Numeric Rating Scale (NRS) 35, 88, 62 Palliativstadien 226
NURSE-Modell 155, 165, 176 – Rehabilitationsphase 266
– (frühe/späte) Terminalphase 266
– Finalphase 123, 266
O Palliativversorgung 272
– allgemeine 275
Obduktion 285 – im Krankenhaus 275
Obstipation 79 – integrative 287, 310, 315
– bei Kindern – pädiatrische 303
– Therapie 80 – spezialisierte 275
Obstruktion 83 – spezialisierte ambulante 273, 279
– Therapie 84 Pallium 3
– Ursachen 84 Paradoxe Diarrhö 80
Off Label Use 48 Parenterale Ernährung 74
Operations- und Prozedurenschlüssel 275 Partizipative Entscheidungsfindung 163
Opioid 89, 294 Patientenverfügung 131, 229, 236, 239,
Opioidtherapie 79 247, 267
OPTION-Modell 164, 167, 243 Perspektivenplanung 157, 160, 261
Orientierungsverlust 191, 211 Physiotherapie 12
Outcome 33 Privatsphäre 206
Prognoseermittlung 36
– Methode 159
P Prognosegespräch 158, 160
Prognosestellung 157, 159, 295
Pädiatrisches Palliative Care-Team 303 Progredienzangst-Fragebogen (PA-F) 97
Palliative Care 3, 7, 26, 231, 314 Pruritus 114
– Kinder und Jugendliche 302 Psychiatrie 287, 312, 316
– spezialisierte ambulante Palliativ- Psychoonkologische Basisdokumentation
versorgung 231 (PO-BADO) 97
Palliative Care-Team 250, 254
Palliative Outcome Scale (POS) 37
Stichwortverzeichnis
329 M–T

Q Sinn 20–21
– Sinnlosigkeit 96–97
Qualitätssicherung 38, 180, 266 – Demoralisierungssyndrom 96
– sinn-zentrierte Ansätze 170
– Spiritualität 209
R SMILE-Inventar 172
SOLAR-Modell 147, 155, 165, 176
Rank, Otto 21 Sozialarbeiter 13
Real-Patienten-Kontakt 25, 142 Soziale Exklusion 312, 313
Recht 234 Soziale Inklusion 287, 312, 314
Recht auf Nichtwissen 157 Soziale Netze 297
refraktäres Symptom 130 Spezialisierte ambulante Palliativ-
Ressourcenaktivierung 194, 197, 203, 204, versorgung (SAPV) 231
212 SPIKE-P-S-Modell 156
Rigor mortis 282 SPIKES-Modell 154, 243
Rollenbewusstsein 9, 24, 26, 213 SPIR-Interview 213
Spiritual Care 209, 211
Spiritualität 13, 209
S St. Christopher Hospice 4
Sterbebegleitung 212
Saunders, Cicely 4, 60 Sterbehilfe 238, 240
Scheintod 282 Sterbewunsch 168, 170–171, 174
Schmerzen 60 Sterblichkeit 20, 312, 319
– bei Kindern 307 Strafvollzug 317
– chronische 294 Symbol 188
– emotionaler 62 Symbolische Immortalität 21
– nonverbale Zeichen 295 Symbolische Kommunikation 188
– Therapie 62 Symptomkontrolle
– Typ 61 – pädiatrische 306
– Ursachen 60 Symptommanagement 40
– WHO-Stufenschema 64 – Evaluation 41
Schmerztherapie 6, 60, 65
Schwierige Nachricht 152
– Patientenperspektive 152
– Übermittlung 150, 153, 297
T
Sedativum 90 Tagebuch
Sedierung 130 – Fatigue 58
– palliative 130 – Schmerz 59
– Durchführung 131–132 Team 9
Seelsorge 13 Teamarbeit 9, 250, 251
Selbstbestimmung 241, 263 – Rahmenbedingungen 17
Selbsteinschätzungsinstrument 35, 37–38, – Voraussetzungen 15
57 Teamkommunikation 15
Selbstsorge 183 – Grundsätze 15
Serotonin-Syndrom 45 – Lösungsansätze bei Problemen 17
Shared-Decision-Making 163–166 – Probleme 17
330 Stichwortverzeichnis

Testinstrument 33 Wille des Patienten 235


– eindimensionales 34–35 Witten-Nimweger-Leitfaden 260, 263, 266
– Gütekriterium 34 Witten Will Pathway
– mehrdimensionales 34 – Durchführung 243
– spezifisches 33 Wunden 111
Total Pain 60 – Behandlung
Totenflecke 281 – benigne 111
Totenstarre 282 – maligne 111
Tötung auf Verlangen 170, 238 – Symptomkontrolle 112
Trauer 13, 309 – Therapie 115
– antizipatorische 209 – Ursachen 114
Trauerarbeit 205
Twycross, Robert 6
X
U Xenodochium 3

Übelkeit 76
– bei Kindern 307
– Therapie 77
– Ursachen 76
Umgang mit Sterben 24–25, 170

V
Versöhnung 210
Verwirrtheit 103
– Therapie 107
Visual Analog Scale (VAS) 35, 62

W
Wertschätzung 15, 188, 228, 253, 313
WHO-Stufen-Schema 64
– Stufe 1 66
– Stufe 2 67
– Stufe 3 67
Wille
– aktueller 236, 239, 268
– antizipierter 239
– Evaluation 241
– mutmaßlicher 237, 239, 247, 268
– natürlicher 240
– unklarer 243

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