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Psychologie der Märchen

Dieter Frey
Hrsg.

Psychologie der
­Märchen
41 Märchen wissenschaftlich analysiert – und was wir heute aus
­ihnen lernen können

Mit 42 Abbildungen
Herausgeber
Dieter Frey
Department Psychologie
Ludwig-Maximilians-Universität
München
Bayern
Deutschland

ISBN 978-3-662-53667-4     ISBN 978-3-662-53668-1 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-662-53668-1

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V

Dieses Buch widme ich meinen Kindern Lena, Johanna und Josef, die immer auch
Märchen vorgelesen haben wollten und sich insbesondere gefreut haben, wenn ich
mehrere Märchen miteinander verbunden habe.
VII

Vorwort

Wir versuchen, in diesem Buch zwei Dinge zusammenzubringen, die Menschen faszinieren:
Märchen und Psychologie. Dass Menschen von Märchen fasziniert sind, zeigt sich z. B. daran,
dass die Märchen der Gebrüder Grimm nach der Bibel und dem Koran weltweit am dritthäu-
figsten publiziert wurden. Dies ist nur so zu erklären, dass Märchen für die meisten Menschen
eine sehr hohe Anziehungskraft haben. Dazu kommt in unserem Buch eine weitere Faszination
hinzu: die Psychologie. Dass sich so viele Menschen für Psychologie interessieren, zeigt sich
beispielsweise daran, wie schwierig es ist, einen Studienplatz für Psychologie an den deutschen
Universitäten zu bekommen. Dieses hohe Interesse ist einerseits damit zu erklären, dass Men-
schen sich selbst, aber auch andere besser verstehen wollen. Warum bin ich so, wie ich bin? Was
passiert mit mir in verschiedenen Lebenssituationen? Andererseits ist dieses Interesse aber auch
in dem natürlichen Erkenntnisdrang des Menschen begründet. Wenn man seine Mitmenschen
versteht, kann man ihnen auch besser in schwierigen Situationen und Lebensphasen helfen
und sie unterstützen.

Fast alle Märchen thematisieren zentrale Phasen des menschlichen Lebens, die es vor Hun-
derten von Jahren gab und vermutlich in Hunderten von Jahren immer noch geben wird. So
wurde unser Leben schon immer von krisenhaften Lebensabschnitten, Übergangsphasen in der
menschlichen Entwicklung – z. B. vom Kind- zum Erwachsensein – oder auch Problematiken
zwischen Generationen geprägt.

Märchen und Psychologie beschäftigen sich also beide mit Themen, die ganz nah an der eigenen
Wirklichkeit sind. Darüber zu lesen, kann einem selbst helfen, sein Leben zu gestalten, seine
Probleme anzugehen, zu verstehen und zu lösen oder eben auch andere dabei zu unterstützen.

Unseres Erachtens ist dieses Buch einmalig, es gibt in dieser Form kein vergleichbares. Es exis-
tieren zwar eine Vielzahl von Analysen und Enzyklopädien über Märchen, aber nicht in der
Form, dass 41 Märchen individuell einer psychologischen Analyse und der Reflexion unterzogen
wurden, die einen engen Bezug zur Erziehung, Führung und Lebensgestaltung aufweisen sowie
vor allem bedeutsam für die konkrete Wirklichkeit sind.

Unsere Hoffnung ist, dass sowohl das Märchen selbst, aber auch die Diskussion über psycho-
logische Phänomene viele Anregungen und Diskussionsmöglichkeiten ergeben, was man aus
dem Märchen und unseren Analysen für die eigene Wirklichkeit schließen kann. Das bedeutet,
der Leser ist auf jeden Fall ermuntert, selbst zu überlegen, was er noch an ergänzenden psycho-
logischen Phänomenen und Anwendungen sieht neben den von uns diskutierten Phänomenen
und Erkenntnissen.

Natürlich war es nicht zu vermeiden, dass bei der Vielzahl der Analysen sich hie und da ähnliche
psychologische Aspekte ergeben. Das liegt in der Natur der Sache, da Märchen häufig ähnliche
Phänomene wie Modelllernen, Neid, Ungerechtigkeitsregulation, Aggression, Liebe und Hass
thematisieren. Im Kern gleicht aber kein Märchen exakt dem anderen und damit wird auch
keine psychologische Analyse exakt der anderen gleichen.
VIII Vorwort

Wir haben bewusst davon abgesehen, die Inhalte der Märchen zu kategorisieren. Kategorisie-
rungsaspekte wären gewesen: die böse Schwiegermutter, die Hexe, Märchen mit Tieren, Grimms
Märchen, außereuropäische Märchen und viele mehr. Wir haben darauf verzichtet, weil wir es
interessanter finden, die Heterogenität und Vielfalt der Märchen und psychologischen Ana-
lysen darzustellen. Das mag für den Leser mehr Abwechslung bedeuten, als wenn wir nach
Kategorien geclustert hätten.

Das Buch muss nicht von vorne nach hinten gelesen werden. Je nach Interessenstand, nach
Neugierde, kann man sich ein Märchen nach dem anderen beliebig aussuchen. Sie bauen nicht
aufeinander auf.

Die Märchenanalysen entstanden im Rahmen eines Seminars des Masterstudiengangs Wirt-


schafts-, Organisations- und Sozialpsychologie an der Ludwigs-Maximilians-Universität Mün-
chen. Jedes Jahr werden etwa 30 Studierende von über 400 Bewerbern für diesen Studiengang
ausgewählt. Die Bewerber haben dabei meist sowohl im Abitur wie in ihrem Bachelorabschluss
sehr gute Noten. Das Seminar war ein Vertiefungsseminar in Angewandter Sozialpsychologie,
für das der Seminarleiter (Herausgeber) die Märchenanalysen zum Studiengegenstand machte.
Zunächst wurde ein Überblick über eine Vielzahl von Märchen geschaffen sowie auch exem-
plarisch diskutiert, was diese psychologisch bedeuten. Im Anschluss konnte jeder Einzelne
seine persönliche Auswahl für die Analyse von einem bzw. mehreren Märchen selbst treffen.

Die Studierenden arbeiteten bei der Analyse der Märchen sehr eng mit dem Seminarleiter, aber
auch untereinander, zusammen. Der Seminarleiter gab mehrfach Feedback bei allen Stadien des
Schreibprozesses: dem Grobkonzept, einem ausführlicheren Feinkonzept sowie der Endfassung.
Auch im Seminar wurden in den wöchentlichen Plenarsitzungen die einzelnen Märchen ab-
wechselnd diskutiert. Durch den Austausch wurden häufig weitere psychologische Phänomene
entdeckt sowie Implikationen für Lebensgestaltung, Erziehung oder Führung abgeleitet. Keiner
weiß so viel wie alle – aus diesem Grund war der Austausch sehr gewinnbringend. Hilfreich
war es darüber hinaus, die Analysen mit befreundeten Nichtpsychologen zu diskutieren, damit
eine hohe Allgemeinverständlichkeit auch für Fachfremde garantiert werden konnte. Für die
Studierenden war es zudem zu Beginn eine große Herausforderung, unterhaltsam zu schrei-
ben. Denn dies ist eine gänzlich andere Schreibweise als die wissenschaftliche. Aber in einem
kontinuierlichen Verbesserungsprozess ist dies unseres Erachtens sehr gut gelungen.

Durch die Expertise des Seminarleiters, den hohen akademischen Ausbildungsgrad der Stu-
dierenden sowie den mehrstufigen Review-Prozess ist auf jeden Fall gewährleistet, dass die
psychologischen Analysen auf dem höchsten internationalen Forschungstand basieren. Wir
haben zu jedem Artikel Literatur zitiert, für diejenigen, die sich weiter orientieren wollen, und
dabei versucht, die goldene Mitte zwischen zu viel und zu wenig Literatur zu wählen.

Wir hatten den Konflikt, ob wir das Originalmärchen oder eine Kurzzusammenfassung des
Märchens zu Beginn einbinden sollen. Wir haben uns dann für Kurzfassungen entschieden, in
denen die wichtigsten Inhalte, Handlungen und Charaktere zusammengefasst werden. Hier-
bei wurde darauf geachtet, die Zusammenfassung möglichst im Stil und der Schreibweise des
Originalmärchens zu verfassen. Nur sehr unbekannte und kurze Märchen wurden im Original
belassen und sind entsprechend kenntlich gemacht. Zu den Märchen gibt es sehr viele verschie-
IX
Vorwort

denen Quellen, Interpretationen und Publikationen – wir haben uns hier die Freiheit genom-
men, wörtlich übernommene Passagen aus sehr alten Werken in die aktuelle Rechtschreibung
zu überführen, damit der Lesefluss gewährleistet bleibt. Zur historischen Einordnung ist das
uns bekannte Jahr der Ersterscheinung genannt, daneben die genutzte Literaturquelle.

Natürlich war es uns auch wichtig – so möglich – die jeweiligen kulturellen und historischen
Zusammenhänge der damaligen Zeit, in der das Märchen entstanden ist, zu beschreiben und
auf die damalige Gesellschaft einzugehen. Dies im Detail auszuführen, wäre eine weiterfüh-
rende Aufgabe für Historiker und Kulturwissenschaftler. Wir haben uns naturgemäß auf die
psychologischen Aspekte des spezifischen Märchenstoffs konzentriert und daher diesen Teil
zumeist recht kurz gehalten.

Das Buch folgt der humanistischen Grundidee, im Sinne von Respekt und Wertschätzung
und der Vorstellung einer Gesellschaft, die auf Toleranz, Menschlichkeit, Offenheit und der
Akzeptanz von Vielfalt beruht. Das bedeutet, dass das Ziel des Buches nicht nur psychologische
Analysen sein sollten, sondern auch einen Beitrag dazu liefern, wie wir die Welt besser machen
können und die Märchen als Ausgangsform für eine bessere Welt nutzen können.

Dieses Buchprojekt verdeutlicht gleichzeitig die Wichtigkeit intrinsischer Motivation. Es wurde


vom Seminarleiter und Herausgeber nicht vorgegeben, welches Märchen zu behandeln ist,
sondern jeder konnte sich sein eigenes Märchen aussuchen. Es war ein langer Prozess, wie
das Märchen verkürzt wird, wie die Charaktere beschrieben werden, welche psychologischen
Aspekte hinter dem Märchen stehen, und es hat sehr viel Diskussion sowohl bilateral als auch
im Plenum gegeben. Die Studierenden waren von sich aus motiviert, ständig ihre Konzepte
weiterzuentwickeln und zu diskutieren. Was ist eine optimale Seitenzahl, um den Leser nicht
zu langweilen, gleichzeitig aber inhaltliche Substanz zu vermitteln? Wie viel Literatur ist an-
gebracht? Welche Schlussfolgerungen können jeweils gezogen werden? Ist es für die heutige
Gesellschaft überhaupt noch relevant?

Wir wünschen dem Leser viel Freude und Spaß beim Lesen und hoffen auf eine Horizonterwei-
terung, viele Anregungen zum Nachdenken und zur Reflexion des eigenen Lebens.

Dieses Buch wäre nicht entstanden ohne die Mithilfe zahlreicher Personen, von denen ich hier
nur einige herausgreife. Ich danke den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern meines Lehrstuhls,
insbesondere Dipl.-Psych. Albrecht Schnabel, Michaela Bölt und Dr. Elisabeth Schneider für
die Umsetzung dieses Projekts sowie M.Sc. Martin Fladerer. Insbesondere möchte ich mich bei
M.Sc. Paula Münster bedanken, die als Sprecherin des Jahrgangs dieses Projekt sehr eng begleitet
hat; mit ihr habe ich sowohl die Einleitung als auch das Nachwort verfasst.

Besonderer Dank gilt meinen Kindern Lena, Johanna und Josef, denen ich nicht nur viele dieser
Märchen in deren Kindheit vorgelesen habe, sondern die sich insgesamt zu sehr interessierten
Märchenerzählern entwickelt haben. Mit ihnen habe ich auch oft diskutiert, welche Märchen im
Buch analysiert werden sollen und welche nicht. Ebenso dankbar bin ich meinem Schwieger-
vater und meiner Schwiegermutter Rolf und Traudel Gaska. Seit vielen Jahren führen sie mit
über 60 jungen Reiterinnen und Reitern in der Vorweihnachtszeit Märchen vor, und sie haben
mich damit über Jahre mit für Märchen begeistert. Traudel Gaska war immer eine konstruktiv-
kritische Ratgeberin bei der Analyse der vorliegenden Märchen.
X Vorwort

Mein Dank gilt ebenso den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Springer Verlages für die
professionelle Begleitung des Buches, insbesondere Joachim Coch (Planung), Judith Danziger
(Projektmanagement) und Stefanie Teichert (Lektorat).

Last but not least soll den Studierenden für ihr Engagement, ihre Geduld und Kreativität bei
den Märchen gedankt werden.

Dieter Frey
München, im März 2017
XI

Über den Herausgeber

Kurzdarstellung
Dieter Frey ist Professor für Sozialpsychologie an der Ludwig-Maximilians-Uni-
versität München. Seine Forschungsinteressen liegen sowohl im Bereich der
Grundlagenforschung (beispielsweise Dissonanztheorie, Kontrolltheorie oder
die Theorie der gelernten Sorglosigkeit) als auch im Bereich der angewandten
Forschung (beispielsweise Entstehung und Veränderung von Werten, Entste-
hung von Innovationen, Grundlagen und Faktoren professioneller Führung,
Zivilcourage). Auch interessiert ihn die konkrete Umsetzung von Forschungs-
ergebnissen in die Praxis.

Ausführlicher Biografietext
Dieter Frey studierte Sozialwissenschaften an der Universität Mannheim und
der Universität Hamburg. Nach seiner Promotion und Habilitation in Mann-
heim, die unter anderem durch ein VW-Stipendium und ein DFG-Stipendium
gefördert wurden, war er von 1978 bis 1993 Professor für Sozial- und Orga-
nisationspsychologie an der Universität Kiel. Dazwischen war er von 1988
bis 1990 Theodor-Heuss-Professor an der Graduate Faculty der New School
for Social Research in New York. Seit 1993 ist Dieter Frey Professor für Sozial-
psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zuvor hatte er
Rufe nach Bochum, Bielefeld, Zürich, Hamburg und Heidelberg erhalten.

Er ist Leiter des LMU Centers for Leadership and People Management und
Mitglied in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Von 2003 bis 2013
war er akademischer Leiter der Bayerischen EliteAkademie. Über mehrere
Jahre war er Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 1998 wurde
er zum Deutschen Psychologie Preisträger („Psychologe des Jahres“) ernannt.
2011 hat die Zeitschrift Personalmagazin ihn zum „Praktischen Ethiker“ und
einem der führenden Köpfe im Personalbereich in Deutschland ausgezeich-
net. Für seine Arbeiten, die für eine humanere Welt beitragen, wurde er 2016
von der Margrit-Egner-Stiftung der Universität Zürich ausgezeichnet.

Seine Forschungsgebiete liegen sowohl in der Grundlagenforschung (z. B.


psychologische Theorien wie Dissonanztheorie, Kontrolltheorie, Theorie
der gelernten Sorglosigkeit) als auch in der angewandten Forschung (z. B.
Entstehung und Veränderung von Werten, Entstehung von Innovationen,
Grundlagen und Faktoren professioneller Führung, Zivilcourage). Schließlich
beschäftigt er sich auch mit der Anwendung von Forschung auf soziale und
kommerzielle Organisationen.
XIII

Inhaltsverzeichnis

1 Vorbemerkung: An wen richtet sich dieses Buch und wie kann man
es nutzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Dieter Frey
1.1 An wen ist das Buch gerichtet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
1.2 Unter welchen Blickwinkeln kann das Buch gelesen werden und wie
kann man es nutzen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

2 Einführung: Worin liegt die Faszination der Märchen und Psychologie? . . . . . . . . 5


Dieter Frey und Paula Münster
2.1 Faszination Märchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
2.2 Faszination Psychologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
2.2.1 Wissenschaft der Psychologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
2.2.2 Psychologie als naturwissenschaftliches und als geistes- und
sozialwissenschaftliches Fach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
2.3 Zugrunde gelegtes Welt- und Menschenbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

3 Des Kaisers neue Kleider von Hans Christian Andersen (1837). . . . . . . . . . . . . . . . . . 13


Christian Feuerbacher
3.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
3.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
3.3 Psychologische Phänomene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
3.3.1 Zuschauereffekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
3.3.2 Sozialer Einfluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
3.3.3 Gruppendenken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
3.4 Bedeutung für die heutige Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
3.5 Implikationen für die Führung, Erziehung und Lebensgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
3.5.1 Führung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
3.5.2 Erziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
3.5.3 Lebensgestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
3.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

4 Von den drei Groschen von Pavol Dobšinský. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21


Sarah Eichmann
4.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
4.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
4.3 Psychologischen Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
4.3.1 Reziprozität/Gegenseitigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
4.3.2 Soziale Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24
4.3.3 Verhaltensvorbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
4.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
XIV Inhaltsverzeichnis

5 Die Sterntaler von den Gebrüdern Grimm (1819). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29


Nadja Bürgle
5.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
5.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
5.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
5.3.1 Kontrolle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
5.3.2 Hilfeverhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
5.3.3 Bedürfnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
5.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

6 Die Prinzessin auf der Erbse von Hans Christian Andersen (1837) . . . . . . . . . . . . . . 37
Kim Borrmann
6.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
6.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
6.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
6.3.1 Partnerwahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
6.3.2 Testverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
6.3.3 Sensibilität und Sensitivität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
6.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

7 Blaubart von Charles Perrault (1697) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45


Nadja Bürgle und Eileen Wittmann
7.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
7.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
7.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
7.3.1 Partnerwahl: Evolution oder Intuition?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
7.3.2 Geheimnisse in Partnerschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
7.3.3 Konflikte in Partnerschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
7.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

8 Rapunzel von den Gebrüdern Grimm (1815). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53


Christian Feuerbacher und Marie Raith
8.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
8.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
8.3 Psychologische Phänomene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
8.3.1 Depressionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
8.3.2 Kontrolle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
8.3.3 Resilienz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
8.4 Bedeutung für die heutige Zeit und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
8.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

9 Schneewittchen von den Gebrüdern Grimm (1857) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61


Miriam Krug
9.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
XV
Inhaltsverzeichnis

9.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63


9.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
9.3.1 Narzissmus und Neid. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
9.3.2 Attraktivitätsstereotyp: Wer schön ist, ist auch gut. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
9.3.3 Entwicklung vom Mädchen zur jungen Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
9.3.4 Zivilcourage und Hilfeverhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
9.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

10 Rotkäppchen von den Gebrüdern Grimm (1812) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69


Sabine Weber
10.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
10.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
10.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
10.3.1 Dramadreieck. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
10.3.2 Versprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
10.3.3 Vertrauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
10.3.4 Prosoziales Verhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
10.4 Bedeutung für die heutige Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
10.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

11 Vom Fischer und seiner Frau von den Gebrüdern Grimm (1812) . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Natalie Hartung und Katharina Pfaffinger
11.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
11.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
11.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
11.3.1 Partnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
11.3.2 Auffälligkeiten im Verhalten der Fischersfrau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
11.3.3 Lebenszufriedenheit und Glücksempfinden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
11.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

12 Rumpelstilzchen von den Gebrüdern Grimm (1812). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85


Paula Münster
12.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
12.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
12.3 Psychologische Phänomene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
12.3.1 Psychologischer Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
12.3.2 Glaube an eine gerechte Welt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
12.3.3 Reaktanz und erlernte Hilflosigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
12.4 Bedeutung für die heutige Zeit und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
12.4.1 Mit Reaktanz und Teamwork gegen Größenwahn und Habgier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
12.4.2 Vom Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
12.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91
XVI Inhaltsverzeichnis

13 Schneeweißchen und Rosenrot von den Gebrüdern Grimm (1837) . . . . . . . . . . . . . 93


Isabel Kroiß
13.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
13.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
13.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
13.3.1 Altruismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
13.3.2 Reziprozität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
13.3.3 Vertrauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
13.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

14 Hänsel und Gretel von den Gebrüdern Grimm (1819) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101


Verena Berthold und Sarah Eichmann
14.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
14.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
14.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
14.3.1 Lügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
14.3.2 Optimismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
14.3.3 Erlernte Hilflosigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
14.3.4 Konformität und Gehorsam. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
14.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

15 Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen von den Gebrüdern
Grimm (1818). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
Angelika Stefan
15.1 Inhalt des Märchens und die Charaktere. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
15.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
15.3 Psychologische Phänomene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
15.3.1 Effekt der Erwartung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
15.3.2 Keine Furcht – ist das normal? Das Dilemma des Märchenhelden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
15.3.3 Eudämonisches Glück und das Streben nach höheren Zielen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
15.4 Implikationen für das eigene Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
15.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

16 Der Hase und der Igel von den Gebrüdern Grimm (1815). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Marie Raith
16.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
16.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
16.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
16.3.1 Streben nach Leistungsvergleichen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
16.3.2 Minderwertigkeit und Selbstwertbedrohung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
16.3.3 Frustration, Aggression und Rache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
16.3.4 Die Gruppe als soziales Barometer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
16.3.5 Respekt und Selbstrespekt im sozialen Miteinander. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121
16.3.6 Narzissmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
16.4 Bedeutung für die heutige Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
XVII
Inhaltsverzeichnis

16.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123


Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

17 Tischlein deck dich, Esel streck dich, Knüppel aus dem Sack von
Ludwig Bechstein (1847). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Katharina Pfaffinger
17.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
17.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
17.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
17.3.1 Implikationen für die Erziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
17.3.2 Implikationen für die Lebensgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
17.3.3 Implikationen für das Zusammenleben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
17.4 Vergleich mit der Märchenversion von den Gebrüdern Grimm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
17.4.1 Originalfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
17.4.2 Bechsteins Veränderungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
17.5 Bedeutung für die heutige Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
17.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

18 Das Märchen von den drei Brüdern von J. K. Rowling (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Sophie Drozdzewski
18.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
18.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
18.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
18.3.1 List des Todes: Ein tödlicher Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
18.3.2 Kontrollverlust, Widerstand und Hilflosigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
18.3.3 Angst vor dem Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
18.3.4 Antisoziales Denken und Verhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
18.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

19 Der Fischer und der Dschinn aus Tausendundeiner Nacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141


Angelika Stefan
19.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
19.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
19.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
19.3.1 Selbstregulationsfähigkeit und Selbstkontrolle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
19.3.2 Soziale Exkludierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
19.3.3 Selbstdarstellung und Beurteilung durch andere. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
19.3.4 Analyse der dyadischen Interaktion zwischen dem Fischer und Dschinn. . . . . . . . . . . . . . . . . . 146
19.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147

20 Der Wolf und die sieben jungen Geißlein von den Gebrüdern
Grimm (1819). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Lorea Urquiaga
20.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
20.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
XVIII Inhaltsverzeichnis

20.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
20.3.1 Rollenkonflikt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
20.3.2 Naivität und blindes Vertrauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
20.3.3 Gruppenentscheidungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
20.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

21 Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern von Hans Christian


Andersen (1845) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
Eileen Wittmann
21.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
21.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
21.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
21.3.1 Modell des Hilfeverhaltens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
21.3.2 Transaktionales Stressmodell – Misserfolg als Bedrohung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
21.3.3 Bedürfnispyramide von Maslow. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
21.4 Implikationen für die Erziehung, Führung und Lebensgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
21.4.1 Hilfeverhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
21.4.2 Umgang mit Misserfolg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
21.4.3 Bedürfnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
21.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

22 Väterchen Frost von Alexander Afanasjew (Mitte des 19. Jahrhunderts). . . . . 163
Maxim Karl
22.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
22.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
22.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
22.3.1 Biologische Elternschaft und Patchworkfamilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
22.3.2 Gehorsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
22.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

23 Dr. Allwissend von den Gebrüdern Grimm (1815) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171


Jochen Baumeister
23.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
23.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172
23.3 Psychologische Phänomene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
23.3.1 Attributionstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
23.3.2 Selbst- und soziale Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
23.3.3 Gruppeneinfluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
23.4 Implikationen für die Erziehung, Führung und Lebensgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
23.4.1 Erziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
23.4.2 Führung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
23.4.3 Lebensgestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
23.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
XIX
Inhaltsverzeichnis

24 Bremer Stadtmusikanten von den Gebrüdern Grimm (1819). . . . . . . . . . . . . . . . . . 179


Verena Berthold
24.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180
24.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
24.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
24.3.1 Leistungsorientierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
24.3.2 Respekt vor dem Alter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182
24.3.3 Vom Wert der Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
24.3.4 Handlungsorientierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
24.3.5 Vorurteile und Rassismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
24.3.6 Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
24.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

25 Die drei Glückskinder von den Gebrüdern Grimm (1819). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187


Vanessa Allwardt und Maxim Karl
25.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
25.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
25.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
25.3.1 Faktoren des Glücks. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
25.3.2 Umgang mit Misserfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190
25.3.3 Leistungen anderer und ihre Auswirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
25.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

26 Das Rübchen von Alexander Afanasjew (Mitte des 19. Jahrhunderts) . . . . . . . . 195
Irina Bachsleitner
26.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
26.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
26.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
26.3.1 Vorurteile und die Gefahr der Diskriminierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
26.3.2 Arbeit im Team und Teamrollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
26.3.3 Strategien zur Problemlösung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
26.3.4 Ausdauer und zielgerichtetes Handeln. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
26.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201

27 Hans im Glück von den Gebrüdern Grimm (1819) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203


Katharina Gerstung
27.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
27.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
27.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
27.3.1 Glück und Zufriedenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
27.3.2 Materieller Besitz: Haben oder Sein?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
27.4 Implikationen für die Führung und Erziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
27.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
XX Inhaltsverzeichnis

28 Die Spinne und die Weisheit – ein afrikanisches Volksmärchen . . . . . . . . . . . . . . . 211


Franziska Wittmann
28.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212
28.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
28.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
28.3.1 Streben nach Weisheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
28.3.2 Nutzen von Weisheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
28.3.3 Wissen ist Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
28.4 Implikationen für die Arbeitswelt und Lebensgestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
28.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

29 Der Teufel mit den drei goldenen Haaren von den Gebrüdern
Grimm (1857). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
Maximilian Spanner
29.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
29.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
29.3 Psychologische Phänomene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
29.3.1 Zufriedenheit, Glück und Wohlbefinden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
29.3.2 Grundlegende soziale Motive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222
29.3.3 Prosoziales Verhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
29.4 Implikationen für die Erziehung, Führung und Lebensgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
29.4.1 Erziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
29.4.2 Führung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
29.4.3 Lebensgestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
29.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

30 Aschenputtel von den Gebrüdern Grimm (1819) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227


Lena Kuchta
30.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
30.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
30.3 Psychologische Phänomene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
30.3.1 Erlernte Hilflosigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
30.3.2 Coping- und Bewältigungsstrategien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
30.3.3 Identität und Selbstwert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
30.4 Bedeutung für die heutige Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
30.4.1 Mobbing. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
30.4.2 Wunsch nach einer anderen Identität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
30.5 Implikationen für die Erziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
30.6 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

31 Der Arme und der Reiche von den Gebrüdern Grimm (1815) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Vanessa Allwardt
31.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
31.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
31.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238
XXI
Inhaltsverzeichnis

31.3.1 Egoistisches und altruistisches Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238


31.3.2 Glaube an eine gerechte Welt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
31.3.3 Selbstkonzept und Selbstwertgefühl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239
31.3.4 Theorie des sozialen Vergleichs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
31.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

32 Die Schneekönigin von Hans Christian Andersen (1844). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243


Sophie Drozdzewski und Katharina Sagstetter
32.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
32.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
32.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
32.3.1 Mut zeigen, ohne tollkühn zu sein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
32.3.2 Übernahme von Verantwortung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
32.3.3 Selbstbestimmung vs. Depression. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
32.3.4 Soziale Wahrnehmung und Attributionsstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
32.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

33 Die Lebenszeit von den Gebrüdern Grimm (1840). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251


Isabel Kroiß
33.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
33.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252
33.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
33.3.1 Kontrolle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
33.3.2 Mäßigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
33.3.3 Lebenszufriedenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256
33.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

34 Frau Holle von den Gebrüdern Grimm (1812). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259


Nicole Blabst
34.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260
34.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
34.3 Psychologische Phänomene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
34.3.1 Charakter und Gehorsam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262
34.3.2 Stockholm-Syndrom. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
34.3.3 Glücksempfinden und sozialer Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
34.4 Bedeutung für die heutige Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
34.4.1 Denken und Entscheiden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
34.4.2 Leistungs- und Sollerbringung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
34.4.3 Glück. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
34.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265

35 Der alte Großvater und der Enkel von den Gebrüdern Grimm (1857). . . . . . . . . 267
Julia Käs
35.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268
XXII Inhaltsverzeichnis

35.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268


35.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
35.3.1 Lernen am Modell. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
35.3.2 Selbstreflexion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
35.3.3 Soziale Rollen, Stereotype und selbsterfüllende Prophezeiung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
35.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

36 Die drei kleinen Schweinchen von Joseph Jacobs (1890) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275


Katharina Sagstetter
36.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
36.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276
36.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277
36.3.1 Erziehungskontext: Vorbereitung auf ein selbstständiges Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278
36.3.2 Arbeitskontext: Gemeinsame Ziele, Bedürfnisse und Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
36.3.3 Sozialer Kontext: Lernen und Helfen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
36.3.4 Kritische Bewertung zur Moral in der Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
36.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

37 Der kleine Muck von Wilhelm Hauff (1826). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283


Jochen Baumeister und Maximilian Spanner
37.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
37.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
37.3 Psychologische Phänomene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
37.3.1 Voreingenommenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
37.3.2 Jeder bekommt, was er verdient. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
37.3.3 Gruppenverhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
37.3.4 In Erwartung des Guten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
37.4 Implikationen für die Lebensgestaltung, Erziehung und Führung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
37.4.1 Lebensgestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
37.4.2 Erziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
37.4.3 Führung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
37.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

38 Dornröschen von den Gebrüdern Grimm (1819). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291


Katharina Gerstung und Lorea Urquiaga
38.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
38.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
38.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
38.3.1 Bedürfnis nach Zugehörigkeit und sozialer Ausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293
38.3.2 Neugier. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
38.3.3 Verdrängung in der Psychoanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
38.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296
XXIII
Inhaltsverzeichnis

39 Der Jäger, der seine Frauen ungleich behandelte – ein afrikanisches


Volksmärchen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297
Nicole Blabst und Franziska Wittmann
39.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298
39.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299
39.3 Psychologische Phänomene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
39.3.1 Glaube an eine gerechte Welt – der Jäger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
39.3.2 Frustrations-Aggressions-Theorie und soziale Zurückweisung – die
vernachlässigte Frau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
39.4 Bedeutung für die heutige Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
39.4.1 Ungerechtigkeit in der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
39.4.2 Kulturelle Unterschiede – Monogamie und Bigamie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
39.4.3 Gleichberechtigung von Mann und Frau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
39.4.4 Rationale Liebe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
39.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304

40 König Drosselbart von den Gebrüdern Grimm (1812). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305


Irina Bachsleitner und Julia Käs
40.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
40.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
40.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
40.3.1 Psychologischer Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
40.3.2 Zufriedenheit und Anspruchsniveau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308
40.3.3 Bestrafungslernen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
40.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

41 Der gestiefelte Kater von den Gebrüdern Grimm (1812). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311


Lena Kuchta und Sabine Weber
41.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
41.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
41.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313
41.3.1 Lageorientierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
41.3.2 Handlungsorientierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314
41.3.3 Freundschaft und Dankbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
41.3.4 Selbstüberschätzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316
41.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

42 Es ist wirklich wahr von Hans Christian Andersen (1848) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319


Kim Borrmann und Miriam Krug
42.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
42.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320
42.3 Psychologische Phänomene und Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
42.3.1 Psychologie der Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321
XXIV Inhaltsverzeichnis

42.3.2 Soziale Neugier und Gossip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323


42.3.3 Medien und unser Bild von der Welt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324
42.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

43 Ali Baba und die vierzig Räuber aus Tausendundeiner Nacht . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Natalie Hartung
43.1 Inhalt des Märchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
43.2 Die Charaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328
43.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
43.3.1 Von Recht und Unrecht: Psychologie der Moral. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329
43.3.2 Ehrgefühl und Gesichtsverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
43.3.3 Gier und materieller Besitz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332
43.3.4 Loyalität, Gegenseitigkeit und Dankbarkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
43.4 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

44 Nachwort: Märchen sind Chancen für eine bessere Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335


Dieter Frey und Paula Münster
Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
XXV

Autorenverzeichnis

Allwardt, Vanessa Frey, Dieter, Prof. Dr.


81667 München Lehrstuhlinhaber Sozialpsychologie
v.allwardt@gmx.de LMU – Department Psychologie
Leopoldstr. 13
Bachsleitner, Irina 80802 München
81249 München dieter.frey@psy.lmu.de
irinabachs@t-online.de
Gerstung, Katharina
Baumeister, Jochen 80336 München
80803 München katharina.gerstung@gmx.net
maerchen@jochenbaumeister.de
Hartung, Natalie
Berthold, Verena 81375 München
80798 München natalie.hartung@web.de
verena.berthold@hotmail.de
Karl, Maxim
Blabst, Nicole 80686 München
80798 München maxim.karl@mail.de
nicole.blabst@gmail.com
Käs, Julia
Borrmann, Kim 81249 München
80809 München julia.kaes@web.de
kim.borrmann@gmx.de
Kroiß, Isabel
Bürgle, Nadja 80798 München
80809 München kroiss.isabel@yahoo.com
n.buergle@googlemail.com
Krug, Miriam
Drozdzewski, Sophie 80796 München
80797 München krug_miriam@web.de
sophie.drozdzewski@freenet.de
Kuchta, Lena
Eichmann, Sarah 80538 München
80805 München lena_kuchta@gmx.de
sarah_schmidt1@gmx.net
Münster, Paula
Feuerbacher, Christian 80805 München
81541 München paula.muenster@gmail.com
feuerbacher@me.com
XXVI Autorenverzeichnis

Pfaffinger, Katharina
82041 Oberhaching
k.pfaffinger@yahoo.de

Raith, Marie
81541 München
m.raith@dawara.de

Sagstetter, Katharina
81673 München
katharina.sagstetter@web.de

Spanner, Maximilian
85570 München
max.spanner@gmail.com

Stefan, Angelika
80939 München
angelika.stefan@gmx.de

Urquiaga, Lorea
80339 München
loreaurquiaga@gmail.com

Weber, Sabine
94065 Waldkirchen
sabine.weber@campus.lmu.de

Wittmann, Eileen
80939 München
eileen.wittmann@t-online.de

Wittmann, Franziska
84048 Mainburg
franziskawittmann@hotmail.de
1 1

Vorbemerkung: An wen richtet


sich dieses Buch und wie kann
man es nutzen?
Dieter Frey

1.1 An wen ist das Buch gerichtet? – 2

1.2 Unter welchen Blickwinkeln kann das Buch gelesen


werden und wie kann man es nutzen? – 2

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_1
2 Kapitel 1 · Vorbemerkung: An wen richtet sich dieses Buch und wie kann man es nutzen?

1.1 An wen ist das Buch gerichtet? sondern die Leser zum Weiterfragen und Weiterden-
42
1 ken anregen.
Das Buch richtet sich an unterschiedlichste Leser- Kurzum bietet dieses Buch vielfältige Möglich-
gruppen. So sind das Buch und die darin enthaltenen keiten des Lesens und ist an ein breites Publikum
Märchen zum einen für viele Berufsfelder geeignet. gerichtet. Vermutlich wird das jeweilige Interesse
Ein Beispiel sind Erzieherinnen und Erzieher, die abhängig vom Märchen sein, von der Stimmung der
den Kindern gerne Märchen vorlesen. Sie können Lesenden, vom Lebensabschnitt, in dem er oder sie
die psychologische Interpretation sowohl verwen- sich befindet. Wir möchten mit diesem Buch Neu-
den, um sich selbst weiterzubilden und etwas über gierde wecken, weil gerade Märchen geeignet sind,
verschiedene psychologische Theorien und Modelle ein tieferes Verständnis und Gespür für Menschen
zu lernen, als auch zur Arbeit mit den Kindern. und Menschlichkeit zu entwickeln, die weit über eine
Unseres Erachtens ist es relevant, die Kinder selbst formale Märchenanalyse hinausreicht.
zu fragen, was sie von dem Märchen lernen können.
Dabei geben unsere psychologischen Analysen und
Reflexionen eine Vielzahl von Hinweisen, welche 1.2 Unter welchen Blickwinkeln
größtenteils auch kindgerecht darstellbar sind. Glei- kann das Buch gelesen werden
ches gilt natürlich für die Lesergruppe der Eltern, die und wie kann man es nutzen?
ihren Kindern Märchen erzählen. Auch sie können
die psychologischen Analysen als Background für 1. Interesse an Märchen zur Auffrischung von
ihre eigenen Erklärungen der Welt für die Kinder Kindheitserinnerungen
nutzen. Der Märchenliebhaber findet hier eine kurze und
Es ist zudem relevant für Studierende der Sozial- prägnante Zusammenfassung von 41 Märchen, die
wissenschaften, die sich im weitesten Sinne mit möglicherweise viele Erinnerungen in ihm wecken
Märchen, Psychologie oder eben mit Menschen und werden. Sei es, als damals die Eltern oder Groß-
psychologischen bzw. soziologischen Phänomenen eltern die Märchen vorgelesen haben oder wie die
beschäftigen. Egal ob für Studierende der Soziologie, Geschichten selber den eigenen Kindern vorge-
Psychologie oder Wirtschaftswissenschaften – dieses lesen wurden. Für viele Märchenliebhaber mag es
Buch bildet eine sinnvolle Ergänzung zu den Schwer- ein Anreiz sein, diese Kurzzusammenfassungen der
punkten und Inhalten der Studienfächer. Märchen zu lesen – schlicht weil sie Märchen mögen,
Gleichzeitig ist es interessant für Menschen in Erinnerungen schwelgen möchten oder auch die
allen Alters, die kein akademisches Interesse an Zusammenfassungen ihren Kindern oder Enkeln
diesem Thema haben, sondern einfach gerne vorlesen möchten.
Märchen lesen und sich darin verlieben. Diese Leser
haben hier gleichzeitig die Chance zu erfahren, was 2. Interesse für den psychologischen
hinter den Kulissen der Märchen steckt und was Hintergrund sowie die spezifischen
man mit diesen Jahrhunderte alten Erzählungen Charaktere der Märchen
heute noch anfangen kann. Sie können mit diesem Für den interessierten Laien ebenso wie für Personen
Buch ihren Horizont erweitern, die Märchen mit mit einem Bezug zur Psychologie bietet dieses Buch
ganz anderen Augen sehen und erhalten gleichzei- die Möglichkeit, geliebte Geschichten unter dem
tig einen Bezug zu psychologischen Theorien und neuen Aspekt der psychologischen Analyse zu lesen.
Erkenntnissen. Hier werden – je nach Vorkenntnissen – neue oder
Nicht zuletzt ist es auch aufschlussreich für Men- bereits bekannte psychologische Phänomene erklärt
schen, die neu in unserer Kultur sind, viele Märchen und zum vertrauten Märchen in Beziehung gesetzt.
noch gar nicht kennen und jetzt etwas über Märchen So lernt der Leser, die Geschichten seiner Kindheit
im Allgemeinen und auch über unsere Kultur und aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, kann
Vergangenheit erfahren möchten. Die Hoffnung die Handlungen der Charaktere besser verstehen,
ist, dass wir in unserem Buch nicht nur analysieren, ohne überfordert zu werden.
1.2 · Unter welchen Blickwinkeln kann das Buch gelesen werden
3 1
3. Interesse für Psychologie unabhängig von
den Märchen
Ist das Interesse mehr der Psychologie als den
Märchen gewidmet, so hat der Leser den Vorteil,
die vorgestellten Konzepte begreifen zu können,
ohne sich erst in erklärende Beispiele eindenken
zu müssen. Die Geschichten sind wohlbekannt, der
Leser kann sich also ganz auf die Kombinationen
und Wechselwirkungen verschiedener Phänomene
konzentrieren. Dadurch fällt es leichter, sich neues
Wissen anzueignen.

4. Märchen als Chance für Unterhaltung und


als Ausgangspunkt für tiefer gehende
Diskussionen
Natürlich kann das Buch auch gelesen werden, wenn
man mehr als nur ein persönliches Interesse an der
Thematik hat. Großeltern können nach der Lektüre
ihren Enkeln das Märchen vielleicht noch spannen-
der erzählen oder auf Nachfrage noch besser erklä-
ren. Aber auch unter Gleichaltrigen können sehr
spannende Diskussionen über einzelne beschriebene
Phänomene entstehen. Während einer den psycho-
logischen Ansatz, der das Verhalten eines Protago-
nisten erklären soll, sehr einleuchtend findet, kann
ein Freund ganz anderer Meinung sein. Auch die
Implikationen für das heutige Leben können als Aus-
gangspunkt für tiefer gehende Diskussionen genutzt
werden.
Vermutlich wird die meisten Menschen das Vor-
lesen der Märchen faszinieren. Ob sie dann auch fas-
ziniert sind von jeder psychologischen Analyse sei
dahingestellt. Die Vorleser sollen zudem ermuntert
werden, mit eigenen Worten den psychologischen
Hintergrund zu transportieren, in der Hoffnung,
dass damit wieder sehr viele andere Menschen die
psychologischen Hintergründe erfahren. Außerdem
ist es wünschenswert, dass der Leser selbst den Bezug
zur Gegenwart und zu seinem eigenen Leben her-
stellen kann.
5 2

Einführung: Worin liegt die


Faszination der Märchen und
Psychologie?
Dieter Frey und Paula Münster

2.1 Faszination Märchen – 6

2.2 Faszination Psychologie – 8


2.2.1 Wissenschaft der Psychologie – 8
2.2.2 Psychologie als naturwissenschaftliches und als geistes- und
sozialwissenschaftliches Fach – 9

2.3 Zugrunde gelegtes Welt- und Menschenbild – 10

Literaturverzeichnis – 10

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_2
6 Kapitel 2 · Einführung: Worin liegt die Faszination der Märchen und Psychologie?

2.1 Faszination Märchen 3. Märchen erinnern an die eigene Kindheit


und erzeugen aufgrund der damaligen Nähe
Was fasziniert Menschen an Märchen? Warum eine positive Stimmung
2 gehören Märchen zu den Geschichten, hinter der Märchen faszinieren Erwachsene u. a., weil ihnen die
Bibel und dem Koran, die am häufigsten publiziert Geschichten aus der eigenen Kindheit vertraut sind –
wurden? Warum faszinieren sie sowohl Kinder als sie erinnern sich daran, wie Mutter, Großmutter,
auch Erwachsene? Weshalb versetzen sie uns in eine Vater oder Großvater sie vorgelesen haben. Märchen
positive Stimmung? Dieses Kapitel soll Antworten haben deshalb einen Wiedererkennungseffekt, den
auf all diese Fragen geben. sie mit hoffentlich positiven Erinnerungen an die
Kindheit verknüpfen. Meistens sind die Erinnerun-
1. Märchen sprechen alle menschlichen gen mit einer Umgebung der Ruhe und Geborgen-
Emotionen an heit verbunden. Viele Leute, die als Kinder Märchen
Märchen sind eine Mischung aus Realität und Fan- gehört haben, erzählen sie auch den eignen Kindern
tasie. Dabei sprechen sie alle denkbaren Emotionen und Enkeln. Sie werden sich so immer wieder ihren
an wie Liebe, Hass, Wut, Enttäuschung oder Freude. eigenen, positiven Erinnerungen bewusst, die mit
Die ganzen menschlichen Komödien und Tragö- den Geschichten oder den Erzählern verknüpft sind.
dien des Lebens kommen im Märchen vor: Pech
und Glück, Feigheit und Mut, Gut und Böse. Oft 4. Märchen stiften eine gemeinsame Identität
mit glücklichem Ausgang – aber eben nicht immer. und bieten eine Gesprächsbasis aufgrund
Es sind Dinge, mit denen jeder Mensch vertraut ist. geteilter Wirklichkeit
Märchen bestechen vor allem durch ihre Klarheit Es gibt weltweit kaum Menschen, die noch nie etwas
und ihre schlichte, strukturierte Erzählweise. Einfa- von Märchen gehört haben, da den meisten Men-
che Gegensätze wie Gut und Böse, Arm und Reich, schen in der Kindheit Märchen erzählt wurden.
Schön und Hässlich prägen die Geschichten. Das ist Dadurch stiften Märchen in gewisser Weise eine
sowohl für Kinder wie auch Erwachsene deshalb fas- geteilte Identität und Wirklichkeit. Wenn das
zinierend, weil es besonders einfach und damit nach- Gespräch auf Märchen fällt, können die meisten
vollziehbar ist. Menschen an der Diskussion teilnehmen: Welches
Märchen war Ihr Lieblingsmärchen? Welchen
2. Die Sehnsucht nach dem Charakterhelden Charakter fanden Sie besonders schlimm? Dieses
Im Märchen begegnet uns zumeist eine gutmü- geteilte Wissen – in der Psychologie spricht man
tige und unschuldige Hauptfigur mit reinem von „shared cognition“ – führt dazu, dass Menschen
Herzen, die sich mit widrigen Umständen kon- sich sofort vertraut fühlen, wenn sie etwas vom Wolf,
frontiert sieht und ihren Weg bis zum guten Ende Hänsel und Gretel oder den sieben Zwergen hören.
tapfer und beständig gehen muss. Dieser Weg ist Das Schöne hieran ist, dass auch über Generatio-
oft beschwerlich und mit immer neuen Herausfor- nen hinweg dieses geteilte Wissen präsent ist und
derungen versehen. Zum Teil erleiden die Helden Märchen somit auch einen Dialog zwischen Jung
und ihre Gegenspieler kaum fassbare Qualen. Die und Alt anstoßen können.
Protagonisten der Märchen sind meistens tapfer
und überbrücken alle nur denkbaren Hindernisse. 5. Märchen erzeugen Spannung und dienen
Menschen identifizieren sich gerne mit solchen der Unterhaltung
Helden, denn Märchen mit ihren Helden thema- Märchen erzeugen Spannung – fast wie ein guter
tisieren zwar reale Konflikte, haben aber immer Krimi. Der Ausgang der Geschichte ist zu Beginn
auch fantastische Elemente. Bei allen Märchen häufig unklar. Diese Spannung lässt sich auf den
wird in diesem Buch versucht, die psychologi- Zuhörer, vor allem auch auf Kinder, übertragen. Dies
schen Phänomene und Beweggründe der Charak- ist ein weiterer Grund, weshalb Märchen Menschen
tere herauszuarbeiten. faszinieren und begeistern. Während Menschen heute
2.1 · Faszination Märchen
7 2
sonntagsabends beim Tatort sitzen, wurden sie früher gibt es zumeist viele bekannte Elemente, die sich in
von Märchen und Märchenerzählern unterhalten. zahlreichen Märchen wiederholen: der böse Wolf, die
Die Fragen, die wir uns bei Märchen stellen, sind Schwiegermutter oder die Königin. Faszination ent-
genau die gleichen wie bei einem guten Krimi: Was steht, weil diese bekannten Elemente in jedem Märchen
treibt die Protagonisten an? Warum handeln sie so? mit neuen vermischt werden – und man sich letztend-
Was bedeutet das Ganze für uns und unsere Realität? lich nie sicher sein kann, ob am Ende das Böse bestraft
Hierzu kann uns die Psychologie Antworten liefern. wird und die Geschichte einen guten Ausgang hat.
Daher stellt sich die Frage: Sind Märchen über- Märchen spiegeln Realitäten wider – egal ob
haupt Geschichten für Kinder? In vielen Märchen diese vor 100, 300 oder noch längerer Zeit Wirk-
verbirgt sich hinter der Spannung auch Gewalt und lichkeit waren. Es sind jeweils Themen, die Kindern
Ungerechtigkeit, und die Frage ist, ob diese häufig bereits begegnet sind: Es geht um Gut und Böse, um
gruseligen und brutalen Geschichten überhaupt das Übertreten von Verboten oder um Recht und
kindgerecht sind. „Kann man das den Kindern so Ungerechtigkeit. Jeder Leser kann sich also in dem
überhaupt zumuten?“, ist eine häufig gestellte Frage Märchen wiederfinden, da es für ihn Realitätsgehalt
und die Antwort ist: „Ja, man kann.“ Die Kinder hat. Gleichzeitig wird die Realität immer mit Fanta-
werden ihrer realen Welt laufend mit Gewalt kon- sie vermischt, denn Märchen spielen in einer Fanta-
frontiert – ob im Fernsehen, im Kino oder in Com- siewelt mit Zaubertränken, sprechenden Tieren oder
puterspielen. Der Unterschied zu Märchen ist folgen- übernatürlichen Fähigkeiten. Dies regt die Fantasie
der: Die medialen Gewalt- und Kriegsgeschichten an, und die Geschichten können durch die eigene
überfordern Kinder. „Das Märchen erzählt dagegen Vorstellungskraft weitergesponnen werden.
ruhig, die Sprache kommt mit wenigen Adjekti-
ven aus (arm, reich, alt, jung, schön, hässlich) und 7. Märchen geben Orientierung fürs Leben
beschreibt keine Details; Schmerz und Leid werden Mit Sicherheit sind Märchen auch deshalb populär
mit klaren Worten dargestellt und nicht ausge- und werden über Jahrhunderte von Generation zu
schmückt. Auf die Gefühle der Beteiligten wird Generation weitererzählt, weil in ihnen sehr viel
wenig eingegangen, es werden dafür Handlungen Lebensweisheit steckt und sie Orientierung für das
beschrieben: Die Zwerge weinen um Schneewitt- eigene Leben geben. Sie helfen dabei, zu reflektieren,
chen, Aschenputtel verrichtet ohne Gram ihre Auf- was gut und was böse oder faires und unfaires Verhal-
gaben“ (Frey 2009, S. 121). Wichtig ist vor allem ten ist. Nicht umsonst heißt es oft am Ende: „Und die
dort, wo es schrecklich im Märchen ist, einen res- Moral von der Geschichte: … “ Märchen helfen uns
pektvollen Umgang mit dem Gefühl zu haben. Die dabei – meist schon in jungen Jahren – ein Moral-
Aussage: „Die Stiefmutter mit dem Apfel ist wirk- verständnis zu entwickeln. Außerdem sind Märchen
lich ganz schön bedrohlich.“, ist eine bessere als: „Du eine Art Lebenshilfe: Sie zeigen immer wieder aufs
brauchst keine Angst zu haben!“, denn sie zeigt dem Neue, dass Probleme, egal wie ausweglos sie schei-
Kind, dass seine Empfindungen durchaus angemes- nen, lösbar sind. Somit geben sie Mut und Hoffnung.
sen sind. Dann kann auch folgen: „Komm, rücken Der Held handelt dabei stets werteorientiert und
wir zusammen und sehen, was weiter passiert.“ übernimmt damit eine Vorbildfunktion. Der Gegen-
spieler ist dafür da, den Helden herauszufordern und
6. Märchen üben Faszination aus, weil sie ihn in seiner positiven Haltung noch besser hervor-
Realitäten widerspiegeln und Realitäten mit zuheben. Durch die Helden der Märchen können
Fantasie verbinden wir zahlreiche Dinge für unser Leben lernen wie bei-
Märchen haben einen Unterhaltungswert, weil sie spielsweise, dass
einen Wiedererkennungswert in der Realität haben. 44Großherzigkeit und Gutmütigkeit sich lohnen,
Gleichzeitig sind sie faszinierend, weil sie immer eine 44es nicht auf Äußerlichkeiten wie Schönheit
Mischung von Bekanntem und Unbekanntem sind. oder Reichtum ankommt, sondern auf die
Selbst wenn man ein Märchen zum ersten Mal hört, inneren Werte,
8 Kapitel 2 · Einführung: Worin liegt die Faszination der Märchen und Psychologie?

44Neid und Missgunst auf das Äußerste bestraft 2.2 Faszination Psychologie
werden, während Bescheidenheit und
Mitgefühl sich auszahlen, Da dieses Buch viel mit Psychologie und psychologi-
2 44Zivilcourage Leben retten kann, schen Interpretationen zu tun hat und mit Sicherheit
44man durch Durchsetzungskraft und Selbstver- viele psychologische Laien dieses Buch lesen, folgen
trauen erfolgreich sein kann, einige Einführungen zum Denken der Psychologie.
44die Liebe so mächtig ist, dass sie sich selbst von
den spitzesten Dornen nicht aufhalten und von
den goldensten Schuhen nicht täuschen lässt. 2.2.1 Wissenschaft der Psychologie

In der Analyse der konkreten Werte möchten wir in Psychologie ist die Wissenschaft des Erlebens und
diesem Buch zeigen, dass in jedem Märchen durch- Verhaltens (vgl. Bierhoff u. Frey 2011, 2017; Frey u.
aus mehrere Weisheiten stecken, die es gemeinsam Bierhoff 2011). Auch wenn sich die moderne Psy-
mit den Kindern zu entdecken gilt und die Orientie- chologie nicht mehr mit der Seele beschäftigt, so
rung für das eigene Leben geben können. beschäftigt sie sich doch mit dem Funktionieren und
Nichtfunktionieren des Menschen, also mit seinem
8. Märchen als Chance für Wertevermittlung Erleben und Verhalten, seinen Emotionen, Gefüh-
und Persönlichkeitsentwicklung len, Stimmungen, seinen Motivationen, aber auch
Wie im Absatz zuvor beschrieben, transportieren genauso mit seinem Lernen und Problemlösen oder
Märchen Werte. Werte erleichtern unser Zusammen- seinem Gruppenverhalten (vgl. Frey u. Irle 1993,
leben und machen es wertvoll (Beck u. Leger 2007). 2002, 2008).
Wertevermittlung heißt, Orientierungsmaßstäbe Die wissenschaftliche Disziplin der Psychologie
zu geben, die dem Menschen zu Verhaltens- und hat das Ziel, menschliches Erleben und Verhalten zu
Urteilssicherheit verhelfen (vgl. Frey 2017; Frey u. erklären und vorherzusagen und damit auch Verän-
Schmalzried 2013; Frey et al. 2008). Wir richten derungspotenziale und -möglichkeiten aufzuzeigen.
unser Verhalten an Werten oder moralischen Prinzi- Da der Mensch ein sehr komplexes Wesen ist, gibt es
pien aus, müssen uns an Werten und Normen orien- eine Vielzahl von Unterdisziplinen der Psychologie.
tieren und die Perspektive anderer Menschen mit in Teilbereiche der Psychologie in wenigen Sätzen
unsere Entscheidungen einbeziehen. zusammengefasst sind:
Dies alles lernen wir im Laufe unseres Lebens, 1. Allgemeine Psychologie beschäftigt sich mit
und in der Psychologie spricht man in diesem allen den Menschen eigenen Vorgängen des
Zusammenhang von Moralentwicklung. Lernen Erlebens und Verhaltens, beispielsweise mit
können wir von unseren Vorbildern, z. B. im Kin- Wahrnehmungs- und Gedächtnisprozessen,
desalter von den Eltern, Erziehern, Lehrern, also den Prozessen des Lernens und des Problemlösens,
erwachsenen Bezugspersonen. Moralische Vorbil- aber auch mit Emotion und Motivation. Da
der können aber auch durch Figuren symbolisiert diese Prozesse letztlich mehr oder weniger
werden wie eben in Bilderbüchern, Geschichten und allen Menschen gemein sind, spricht man von
Märchen. Märchen erfordern ein Mitdenken, Mit- allgemeiner Psychologie.
fühlen und Mithandeln. Die Kinder identifizieren 2. Persönlichkeitspsychologie versucht
sich mit dem Helden und sammeln auf diese Weise die individuellen Unterschiede zwischen
Erfahrungen in einer parallelen Welt (Beeli u. Gysin Menschen herauszuarbeiten. Beispiele hierfür
2005). wären Unterschiede in der Intelligenz, der
Die meisten Menschen empfangen Ansätze einer Kreativität, dem Selbstwert, der Ängstlichkeit,
gesellschaftlichen Moral zuerst in der Märchen- der Depressivität oder der Extraversion. Sie
stunde. Märchen helfen den Kindern, das Gute und ist somit das Gegenstück zur allgemeinen
das Böse vor dem geistigen Auge sichtbar werden zu Psychologie, die sich auf Gemeinsamkeiten
lassen. Durch Übertreibung und Personalisierung konzentriert.
des Guten und Bösen werden Normen und Werte 3. Sozialpsychologie analysiert, inwieweit
exemplarisch vorgeführt. menschliches Verhalten und Erleben abhängig
2.2 · Faszination Psychologie
9 2
ist von der Anwesenheit anderen Menschen. aber auch zu beeinflussen. Dabei gibt es eine Vielzahl
Es wird sich hier mit dem Einfluss der sozialen, verschiedener Theorien, Modelle und Erkenntnisse,
technischen oder kulturellen Umgebung sowie welche Sie im Laufe dieses Buches kennenlernen
von Gruppenprozessen auf psychologische werden. Je mehr psychologische Erkenntnisse vorlie-
Zustände beschäftigt. Sozial meint in diesem gen, desto leichter wird es, Menschen einzuschätzen,
Zusammenhang „interaktiv“ und ist nicht im Verhalten zu erklären und ggf. auch zu beeinflussen.
Sinne von Sozialarbeit aufzufassen. Man sollte jedoch ein Missverständnis aufklä-
4. Biologische, physiologische und Neuro- ren: Psychologieexperten haben keine Röntgen-
psychologie versucht, die biologischen, augen und analysieren jegliches zwischenmensch-
physiologischen und neuronalen Grundlagen liche Verhalten. Stattdessen sehen sie Situationen
aller wichtigen psychologischen Prozesse zu häufig differenzierter und erkennen, dass Verhal-
entdecken. ten stets sowohl abhängig von der jeweiligen Situa-
5. Klinische Psychologie betrachtet Störungen tion als auch von der Persönlichkeit des Gegenübers
von Menschen wie Ängste, Depressionen ist. Ungeschulte Laien können diese distanzierte
oder Schizophrenie. Sie untersucht, inwieweit Warte zumeist weniger gut einnehmen und passen
man diese Störungen durch Therapie, z. B. Menschen bevorzugt in ihr eigenes Denkschema
durch Psychoanalyse oder Verhaltenstherapie, ein, statt das des anderen aufzugreifen (Schwarz-
behandeln kann. Weiß-­Denken). Interessanterweise sind Märchen
6. Arbeits-, Wirtschafts- und Organisations- oft schwarz-weiß – der Gute gegen den Bösen, die
psychologie beschäftigt sich mit menschlichen Schöne gegen die Hässliche. Die Psychologie hilft
Phänomenen in sozialen und kommerziellen dabei, auch Märchen und deren Charaktere diffe-
Organisationen. Klassische Themen wären renziert zu betrachten – denn in vielem Bösen kann
hierbei Arbeitsmotivation, Führung oder auch etwas Gutes stecken.
Konflikte in Organisationen.
7. Entwicklungspsychologie untersucht, wie
sich psychische Prozesse – d. h. Emotionen, 2.2.2 Psychologie als
Kognitionen und Verhalten – ausgehend von naturwissenschaftliches
der Geburt, über die Kindheit und Jugendzeit und als geistes- und
bis ins hohe Alter entwickeln. sozialwissenschaftliches Fach
8. Pädagogische Psychologie befasst sich mit
Lern- und Lehrprozessen. Eine typische Frage, Häufig stellen sich Psychologen die Frage, welcher
mit der sich diese Teildisziplin befasst, wäre Fachrichtung sie eigentlich zugehören. Das ist gar
beispielsweise: Wie muss ein Stoff pädagogisch, nicht so einfach: Psychologie kann sowohl als natur-
didaktisch, methodisch aufbereitet sein, damit wissenschaftliches Fach mit ihrer empirischen For-
der Lernende optimale Lernfortschritte erzielt? schung gesehen werden als auch als Geistes- und
9. „Bindestrich“-Psychologien: Es gibt eine Sozialwissenschaft. Dies soll im Folgenden kurz
Vielzahl weiterer Subdisziplinen der Psycho- erläutert werden.
logie, die Teilbereiche erforschen, z. B. die Psychologie ist fast immer naturwissenschaft-
Gesundheits-, Sport- oder Werbepsychologie, lich orientiert, zumindest in den Universitäten. Sie
und dabei zusätzliche (psychologieferne) versucht – ähnlich wie in den Naturwissenschaften –
Fachbereiche gleichwertig einbeziehen. Hier Zustände exakt zu messen und zu analysieren. Sie
werden jeweils die Phänomene des Erlebens bedient sich dabei Experimenten, Felduntersuchun-
und Verhaltens mit einem bestimmten Schwer- gen oder Verhaltensbeobachtungen, um zu überprü-
punkt erforscht. fen, welche Wirkungsweisen bestimmte Variablen
haben. Daten werden erhoben, ausgewertet und sta-
Das sind nur einige wichtige Unterdisziplinen der tistischen Tests unterzogen (Bierhoff u. Frey 2017).
Psychologie, und natürlich ist Psychologie immer Neben der naturwissenschaftlichen Orientie-
bestrebt, Theorien und Modelle zu entwickeln, um rung gibt es auch die sog. geistes- und sozialwissen-
menschliches Verhalten zu erklären, vorherzusagen, schaftliche Orientierung. Vor über hundert Jahren
10 Kapitel 2 · Einführung: Worin liegt die Faszination der Märchen und Psychologie?

hat sich die Psychologie aufgrund Wilhelm Wundts verändern zu können. Dazu gibt uns die Psycholo-
von der Philosophie getrennt. Ob dies sinnvoll war, gie sehr gute Handwerkzeuge durch Diagnostik und
kann man unterschiedlich bewerten. Wir sind der Methodik sowie Theorienwissen an die Hand.
2 Meinung, dass jeder Psychologe, der sich mit Men-
schen und Gruppen beschäftigt, sich immer auch mit
Werten, Sinnfragen und Bedürfnissen gut auskennen 2.3 Zugrunde gelegtes Welt- und
muss und in den Kernfragen der Philosophie kom- Menschenbild
petent sein sollte. All das, was empirisch erforscht
und interpretiert wird, muss letztlich immer vor dem Wir orientieren uns als Psychologen an der humanis-
Hintergrund des jeweiligen sozialen, kulturellen und tischen und positiven Psychologie. Das bedeutet: Es
historischen Kontextes interpretiert werden: Was geht nicht nur darum, die Welt zu erklären, sondern
bedeuten empirische Ergebnisse, wie sind sie ent- sie auch im Positiven zu verändern. Für dieses
standen? Gleichzeitig geht es immer auch um mora- Handeln braucht man einen Kompass oder einen
lisch ethische Fragestellungen von Erleben und Ver- Ankerpunkt. Leitgedanken finden sich in der Phi-
halten: Ist z. B. alles erlaubt, was möglich ist? losophie von Kant wie die Forderung nach Mündig-
Wir werden auch bei unseren Märchenanalysen keit („Bediene dich deines eigenen Verstandes“), aber
versuchen, nicht nur das Verhalten der Hauptcha- auch der Kantsche Imperativ „Handle so, dass dein
raktere zu erklären, sondern gleichzeitig bestimmte Handeln allgemeines Gesetz ist“. Gleichzeitig werden
Werte oder Sollzustände zu reflektieren: War das diese verbunden mit Poppers kritischem Rationalis-
Verhalten moralisch richtig oder falsch, angemes- mus im Sinne einer offenen Kultur ohne Dogmatis-
sen oder unangemessen? Mit diesem Thema wird mus, in der kritisch rational diskutiert werden kann
letztlich immer auch der Psychologe konfrontiert, und muss. Genauso relevant ist die Lessingsche Idee
wenn er therapeutisch tätig ist. Hier muss er sich z. B. der Toleranz und Akzeptanz von Vielfalt.
fragen: Helfe ich dem Patienten, emotional stabiler Wichtig ist, dass wir der humanistischen Grund-
zu werden, indem ich vor allem seine Selbstverwirk- idee, die von Respekt und Wertschätzung zollt, und
lichung unterstütze, oder sollte ein Thema der Thera- der Vorstellung einer Gesellschaft folgen, die auf
pie darauf abzielen, dass er Verantwortung für andere Toleranz, Menschlichkeit, Offenheit und der Akzep-
übernimmt. Kann er z. B. seine Kinder verlassen, tanz von Vielfalt beruht. Unser Ziel beschränkt sich
wenn er dadurch eine höhere Selbstverwirklichung dabei nicht auf psychologische Analysen, sondern
erhält? Oder geht es in einer Organisation nur um soll darüber hinaus zeigen, wie wir die Welt etwas
die Optimierung von Arbeit oder auch um die Work- besser machen und die Märchen als Ausgangsform
Life-Balance? Das heißt, ob gewollt oder nicht, muss für eine bessere Welt nutzen können.
man immer auch die ethisch moralischen Aspekte
und die dahinter liegenden Sinnfragen klären.
Bei der sozialwissenschaftlichen Seite der Psy- Literaturverzeichnis
chologie kommt immer auch dazu, dass der Mensch
Beck, R., & Leger, E. (2007). Kinder lieben Märchen … und ent-
eingebettet ist in seine Kultur und Gesellschaft. Inso- decken Werte. München, Knaur.
fern spielen politische, wirtschaftliche und kulturelle Beeli, I., & Gysin, M. (2005). Prinzessin Mäusehaut. Erzählen,
Phänomene eine große Rolle und müssen bei der spielen, gestalten. Zürich: Scola.
Interpretation von Verhalten berücksichtigt werden. Bierhoff, H.-W., & Frey D. (Hrsg.). (2011). Bachelorstudium Psy-
Damit ist leicht zu erkennen, dass Psychologie eine chologie: Sozialpsychologie – Individuum und soziale Welt.
Göttingen: Hogrefe.
sehr interdisziplinäre Wissenschaft ist, auch wenn Bierhoff, H.-W., & Frey, D. (Hrsg.). (2017). Enzyklopädie der
viele Psychologen dieses nicht so wahrnehmen und Psychologie. Sozialpsychologie. Bände 1 bis 3. Göttingen:
umsetzen. Hogrefe.
Wir halten es als Psychologen nicht nur für Frey, A. (2009). Wilde Räuber – zarte Feen. Zur Psychologie
wichtig, psychologische Phänomene zu analysieren, von Märchen und ihr Einsatz in der musikpädagogischen
Praxis. Musikpraxis. Musik und Bewegung in Kindergarten,
zu erklären und vorherzusagen, sondern für beson- Musik- und Grundschule 121, 2–12.
ders wertvoll und faszinierend, negatives Verhalten
Literaturverzeichnis
11 2
Frey, D. (Hrsg.). (2017). Psychologie der Sprichwörter – Weiß die
Wissenschaft mehr als Oma? Berlin, Heidelberg: Springer.
Frey, D., & Bierhoff, H.-W. (Hrsg.). (2011). Bachelorstudium
Psychologie: Sozialpsychologie - Interaktion und Gruppe.
Göttingen: Hogrefe.
Frey, D., Frey, A., Peus, C., & Osswald, S. (2008). Warum es so
leicht ist, Werte zu proklamieren und so viel schwieriger,
sich auch entsprechend zu verhalten. In: E. Rohmann, M.
J. Herner, & D. Fetchenhauer (Hrsg.), Sozialpsychologische
Beiträge zur Positiven Psychologie (S. 226–247). Lengerich:
Pabst Science Publishers.
Frey, D., & Irle, M. (Hrsg.). (1993). Theorien der Sozialpsychologie.
Band I: Kognitive Theorien (2. Aufl.). Bern: Huber.
Frey, D., & Irle, M. (Hrsg.). (2002). Theorien der Sozialpsychologie:
Band III: Motivations- und Informationsverarbeitungstheo-
rien (2. Aufl.). Bern: Huber.
Frey, D., & Irle, M. (Hrsg.). (2008). Theorien der Sozialpsychologie.
Band II: Gruppen- und Lerntheorien (2. Aufl.). Bern: Huber.
Frey, D., & Schmalzried, L. (Hrsg.). (2013). Philosophie in der Füh-
rung – Gute Führung lernen von Kant, Aristoteles, Popper &
Co. Berlin, Heidelberg: Springer.
13 3

Des Kaisers neue Kleider von


Hans Christian Andersen
(1837)
Christian Feuerbacher

3.1 Inhalt des Märchens – 14

3.2 Die Charaktere – 15

3.3 Psychologische Phänomene – 15


3.3.1 Zuschauereffekt – 15
3.3.2 Sozialer Einfluss – 16
3.3.3 Gruppendenken – 17

3.4 Bedeutung für die heutige Zeit – 18

3.5 Implikationen für die Führung, Erziehung und


­Lebensgestaltung – 18
3.5.1 Führung – 18
3.5.2 Erziehung – 18
3.5.3 Lebensgestaltung – 19

3.6 Fazit – 19

Literaturverzeichnis – 19

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_3
14 Kapitel 3 · Des Kaisers neue Kleider von Hans Christian Andersen (1837)

3.1 Inhalt des Märchens lobte auch er des Kaisers neue Kleider und berichtete
seinem Herren von deren vermeintlicher Schönheit.
Es war einmal ein Kaiser, der sich nur um seine Gar- Nun war der Zeitpunkt gekommen, da der Kaiser
derobe sorgte und darüber seine kaiserlichen Pflich- selbst die gelobten Webereien bewundern wollte. Doch
ten völlig vernachlässigte. Eines Tages kamen zwei als er nichts auf dem Webstuhl sah, erschrak er und
Betrüger in sein Reich, um sich als Weber auszugeben fragte sich, ob er dumm sei oder gar nicht dazu tauge,
3 und zu behaupten, die schönsten Kleider anfertigen Kaiser zu sein. Darum lobte auch er die Stoffe und sein
zu können. Diese sollten zudem die Eigenschaft besit- gesamtes versammeltes Gefolge stimmte in das Lob ein.
zen, für jeden unsichtbar zu sein, der seines Amtes Da gerade ein öffentlicher Festmarsch anstand,
nicht würdig oder dumm sei. Der Kaiser, der sich nutzte der Kaiser die Gelegenheit seine neuen Kleider
dachte, dass er so die Dummen von den Klugen unter- das erste Mal öffentlich zur Schau zu stellen. Die
scheiden könne, beauftragte zugleich die Betrüger Kammerherren taten so, als trügen sie die unsicht-
gegen eine ordentliche Bezahlung mit der Fertigung bare Schleppe und niemand aus dem Volke wagte es,
einer neuen Garderobe. Die beiden Betrüger stellten sich anmerken zu lassen, dass er keine Kleider sah –
also ihre Webstühle auf und taten so, als webten sie. denn dies hätte ja bedeutet, dass er dumm gewesen
Der Kaiser, der um den Fortschritt seiner neuen wäre oder nicht zu seinem Amt getaugt hätte. Im
Kleider wissen wollte, aber gleichzeitig ein mulmiges Gegenteil, alle jubelten dem Kaiser zu und bewun-
Gefühl hatte, schickte zunächst einen alten, ehrlichen derten seine neuen Kleider. Bis ein kleines Kind
Minister, um sich nach dem Fortschritt zu erkundi- sagte: „Aber er hat ja gar nichts an!“ Diese Aussage
gen. Doch dieser Minister sah zu seinem Schrecken verbreitete sich in der Menge, bis schließlich das
rein gar nichts auf dem Webstuhl liegen. Dies bedeu- ganze Volk den Ausruf des Kindes wiederholte und
tete den Betrügern zufolge, dass er entweder seines rief: „Aber er hat ja gar nichts an!“
Amtes nicht tauge oder dumm sei. Da er um die ver- Der Kaiser, welcher nun merkte, dass das Volk wohl
meintliche Eigenschaft des Stoffes wusste, lobte der recht hatte, war ergriffen, dachte sich aber, dass er dies
Minister die wunderschönen Stoffe. Einem zweiten nun aushalten müsse und setzte den Festmarsch fort.
kaiserlichen Gesandten erging es nicht anders und so (Andersen 2014; . Abb. 3.1)

. Abb. 3.1  (Zeichnung: Claudia Styrsky)


3.3 · Psychologische Phänomene
15 3
3.2 Die Charaktere Herrscher zu sein (im Märchen heißt es vielmehr,
dass es dort „munter herging“). Außerdem scheint
Zu Beginn des Märchens wird uns der Kaiser vor- auch das Volk während des Festmarsches zunächst
gestellt. Durch seinen alleinigen Fokus auf sein darum bemüht, die angeblichen Kleider des Kaisers
Äußerliches – seine Garderobe – erweckt er einen zu bewundern, um nicht in einem schlechten Licht
oberflächlichen, eitlen, wenig kompetenten Ein- zu erscheinen.
druck. Aus dieser Unfähigkeit resultiert zum einen Erst das Kind, welches sich noch wenig Sorgen
die komplette Vernachlässigung seiner Regierungs- um sein gesellschaftliches Ansehen macht, schafft
aufgaben (im Originalmärchen wird beispielsweise es mit seinem Ausruf, die bizarre Situation aufzulö-
beschrieben, dass er sich nicht um seine Soldaten sen. Bezeichnenderweise ruft der Vater im Märchen
kümmert). Zum anderen ermöglicht seine Eitelkeit nach dem Ausspruch des Kindes: „Hört die Stimme
den Betrügern, seine Schwäche für neue Kleider der Unschuld!“ Hier bewahrheitet sich offensicht-
auszunutzen und ihn mit ihrem „maßgeschneider- lich die Volksweisheit „Kindermund tut Wahrheit
ten“ Angebot aufs Glatteis zu führen. Die Tatsache, kund“.
dass sich der Kaiser in Anbetracht der nicht sicht-
baren Kleider fragt, ob er dumm oder unfähig sei,
liefert einen Hinweis darauf, dass er insgeheim die 3.3 Psychologische Phänomene
Befürchtung hat, dass dies in der Tat auf ihn zutref-
fen könnte. Das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ aus dem
Mit dem Auftreten der beiden Betrüger ent- Jahre 1837, zählt zu den bekanntesten Werken des
faltet sich die Handlung des Märchens. Dass sie dänischen Schriftstellers Hans Christian Andersen.
die Schwäche des Kaisers genau erkennen und mit Andersen will uns mit seinem Märchen von einem
einem Angebot ausnutzen, das so dreist ist, dass es unfähigen Regenten und zwei listigen Betrügern
schon wieder an Genialität grenzt, lässt die beiden nicht nur vor Augen halten, wozu Leichtgläubig-
Charaktere als sehr gerissen und gewitzt erschei- keit, blindes Vertrauen und Gruppendruck führen
nen. Die Beantwortung der Frage, ob es sich wirk- können. Er kritisiert auch die unkritische und devote
lich um Betrüger handelt oder vielmehr um die Akzeptanz vermeintlicher Autoritäten und Experten.
Helden der Geschichte, die dem Kaiser seine Unfä- Im Märchen lassen sich zahlreiche psycholo-
higkeit – im wahrsten Sinne des Wortes – im Spiegel gische Phänomene erkennen, von denen einige
vorhalten und dadurch im besten Falle eine Verän- dem Leser im Folgenden vorgestellt und jeweils im
derung des maroden Staates bewirken, bleibt dem Anschluss anhand der Verhaltensweisen der Charak-
Leser überlassen. tere verdeutlicht werden.
Hofft der Leser darauf, dass mit der Begutachtung
der Stoffe durch die zunächst als ehrlich und tüchtig
beschrieben kaiserlichen Berater der Schwindel 3.3.1 Zuschauereffekt
auffliegen würde, so wird er enttäuscht. Rasch zeigt
sich, dass die beiden kaiserlichen Vertrauten alles Der Zuschauereffekt (in der Psychologie vor allem
andere als ehrlich und fähig sind. Motiviert durch unter dem Namen „Bystander-Effekt“ oder „Geno-
die Sorge um ihren eigenen Ruf vernachlässigen sie vese-Syndrom“ bekannt) besagt, dass umso weniger
ihre Pflichten und leugnen, den Stoff nicht sehen zu geholfen und eingegriffen wird, je mehr Menschen
können, wodurch sie erst den Betrug an ihrem Kaiser anwesend sind (Darley u. Latané 1968). Der Name
ermöglichen. „Genovese-Syndrom“ geht auf die Amerikanerin
Auch das Volk wirkt recht unreflektiert und Catherine Genovese zurück, die in den 1960er-Jah-
mehr auf die Aufrechterhaltung des schönen ren in New York City vergewaltigt und ermordet
Scheins bedacht. Dies wird zum einen dadurch wurde. Obwohl es dutzende Augenzeugen gab, griff
deutlich, dass das Volk nicht den Anschein macht, niemand ein, und es dauerte ca. eine halbe Stunde bis
unzufrieden mit dem offensichtlich unfähigen die Polizei verständigt wurde.
16 Kapitel 3 · Des Kaisers neue Kleider von Hans Christian Andersen (1837)

Erklärt wird dieses Phänomen durch folgende weshalb keine der Personen bereit ist, die Verantwor-
zusammenwirkende Mechanismen, die schlussend- tung alleine zu tragen und einzugreifen.
lich dazu führen, dass nicht geholfen wird:
1. Bewertungserwartung: Menschen haben
natürlicherweise Angst vor einer negativen 3.3.2 Sozialer Einfluss
Bewertung durch Außenstehende. Sie sind
3 unsicher, wie sie sich in einer Notsituation In der Psychologie bezeichnet sozialer Einfluss die
verhalten sollen. Zudem haben sie Angst, Veränderung von Meinungen, Einstellungen und
mit ihrem Eingriff zu scheitern und vor den Urteilen einer Person durch die Konfrontation mit
anderen Personen als unfähig dazustehen. den Ansichten anderer.
2. Pluralistische Ignoranz: Die Ignoranz der Die Forscher Latané und Wolf (1981) zeigten
Gruppe liegt darin begründet, dass aus dem Bedingungen auf, unter denen dieser soziale Einfluss
Nichteingreifen der anderen Personen darauf besonders stark ist. Je höher die Anzahl von Personen
geschlossen wird, dass die Situation eigentlich ist, die eine andere Meinung vertreten, desto stärker
harmlos ist. lässt sich der einzelne Mensch beeinflussen. Außer-
3. Verantwortungsdiffusion: Durch die dem hat der Status der anderen Personen einen Ein-
Anwesenheit von vielen Personen verteilt fluss: Je höher ihr Status ist, z. B. aufgrund dessen, dass
sich die Verantwortung auf alle Personen und es sich um Experten auf ihrem Gebiet handelt, desto
niemand möchte sie alleine übernehmen. stärker beeinflusst dies die Meinung des Einzelnen.
Daraus folgt, dass niemand sich verantwortlich Inwiefern sich Personen von abweichenden Mei-
fühlt und einsieht, warum gerade er eingreifen nungen anderer beeinflussen lassen, wurde bereits
sollte. 1951 von dem Psychologen Solomon Asch ein-
drucksvoll bewiesen. In einem Experiment sollten
Der Zuschauereffekt ist auch im Märchen deut- Versuchspersonen entscheiden, welche von drei
lich erkennbar. Keiner der anwesenden Charaktere Vergleichslinien dieselbe Länge wie eine Standard-
sieht die vermeintlichen Kleider und trotzdem greift linie besaß: Zunächst sollten sie dies alleine tun –
niemand ein, indem er dies offen ausspricht – weder hier wurden kaum Fehler gemacht; dann zusammen
bei der Begutachtung der Stoffe durch die Berater mit sechs weiteren „Versuchspersonen“, die in Wahr-
sowie den Kaiser und seinem Gefolge noch bei der heit Mitarbeiter des Versuchsleiters waren. Die sechs
feierlichen Prozession. Mitarbeiter gaben in den meisten Durchgängen ein-
Im Märchen beruht der Zuschauereffekt haupt- stimmig falsche Urteile zu den übereinstimmenden
sächlich auf dem Mechanismus der Bewertungser- Strichlängen ab. Unter dieser Bedingung zeigte sich,
wartung. Diese liegt sowohl beim Kaiser als auch bei dass die Fehlerquote der echten Versuchspersonen
seinen Beratern und dem Volk vor. Sie haben Angst über ein Drittel betrug. Dieses Experiment verdeut-
vor einer negativen Bewertung durch ihre Mitmen- licht den enormen Einfluss, den Gruppen auf Perso-
schen und vor negativen Konsequenzen für ihren Ruf nen ausüben können. Motiviert durch den Wunsch,
und ihre Stellung. Darum möchten sie sich unbe- gemocht zu werden und dazuzugehören, zeigen
dingt so verhalten, wie es von außen erwünscht wir in der Öffentlichkeit häufig erhöhte Konformi-
scheint, und entscheiden sich wider besseres Wissen tät, auch wenn dies bedeutet, gegen unsere eigenen
dagegen, die offensichtliche Wahrheit auszusprechen Überzeugungen zu handeln.
und den Betrug auffliegen zu lassen. Die Folgen von sozialem Einfluss lassen sich
Auch der Mechanismus der Verantwortungsdif- ebenfalls im vorliegenden Märchen wiederfinden.
fusion scheint bei den unterlassenen Eingriffen der Zunächst liefert uns sozialer Einfluss einen Hinweis
Charaktere im Märchen eine Rolle zu spielen. Sowohl darauf, warum es den Betrügern gelingt, den Kaiser
bei der kaiserlichen Besichtigung der Stoffe, als auch sowie seine Minister zu täuschen. Die Betrüger üben
bei dem öffentlichen Festmarsch sind viele Perso- einen starken Einfluss aus, da sie sich als Meister
nen zugegen. In diesen Konstellationen scheint die ihres Faches ausgeben und sich damit rühmen, etwas
Verantwortung auf viele Schultern verteilt zu sein, zu können, was kein anderer kann. Sie erscheinen
3.3 · Psychologische Phänomene
17 3
somit als Experten auf ihrem Gebiet, welche – wie Gruppenführer eine bestimmte Entscheidung bevor-
zuvor beschrieben – einen sehr starken sozialen zugt. Aus diesen Einflüssen folgt, dass die Gruppe
Einfluss ausüben können. Durch die erfolgreiche das Gefühl hat, richtig zu handeln und unverwund-
Beeinflussung des Kaisers und seiner Minister kann bar zu sein. Außerdem findet eine Art Selbstzensur
sich der soziale Einfluss im Märchen weiter fortset- statt, da man sich nicht mehr traut, eine abweichende
zen. Der Kaiser und die Minister haben aufgrund Meinung oder Zweifel anzumelden, auch wenn diese
ihres Status ebenfalls einen hohen sozialen Ein- objektiv berechtigt wären. Sollte eine Person dies
fluss auf andere Personen. Dadurch, dass nun auch trotzdem tun, wird in der Regel Druck auf sie aus-
sie die Kleider loben, beeinflussen sie wiederum ihr geübt. Vorschläge, die mit der vom Gruppenführer
gesamtes Gefolge. Als Konsequenz traut sich keiner, bevorzugten Entscheidung übereinstimmen, werden
zu widersprechen und die Lüge aufzudecken. Indem hingegen bestärkt.
das Gefolge in die Lobeshymnen einstimmt, wächst Eine Möglichkeit, um das Auftreten von Grup-
zudem die Gruppe der einflussnehmenden Perso- pendenken einzudämmen, besteht z. B. darin, einer
nen. Dies erklärt, warum auch bei der Prozession Person der Gruppe zu Anfang die Aufgabe zuzutei-
zunächst niemand widerspricht. len, immer die negativen Seiten der besprochenen
Das Loben der nicht vorhandenen Kleider weist Ideen zu suchen und Gegenargumente zu liefern.
eine deutliche Parallele zu den Urteilen bezüg- Aufgrund ihrer unliebsamen Stellung in Gruppen
lich der Strichlängen in der Gruppenbedingung wird diese Person in der Psychologie auch „Anwalt
in Aschs oben beschriebenem Experiment auf. In des Teufels“ (Advocatus Diaboli) genannt.
beiden Fällen wurden, bedingt durch den Einfluss Im Märchen zeigen sich Elemente des Gruppen-
der Gruppe, wissentlich falsche Urteile abgegeben. denkens u. a. darin, dass der Kaiser als Gruppenfüh-
rer von Anfang an von der Idee der Kleider begeistert
ist. Hätte er seine Meinung erst zum Schluss geäu-
3.3.3 Gruppendenken ßert und seine Berater zunächst um deren Meinung
gebeten, wäre ihm die ganze Misere möglicherweise
Wenn Gruppen Entscheidungen treffen, kommt es erspart geblieben. Außerdem handelt es sich bei ihm
überraschend oft zu suboptimalen Entscheidungen und seinem Gefolge um eine Gruppe mit starkem
oder sogar Fehlentscheidungen. Das ist selbst der Zusammenhalt, in der abweichende Gedanken und
Fall, wenn es sich um politische Beraterstäbe handelt, Meinungen nicht entstehen können oder zumindest
die aus überdurchschnittlich intelligenten Experten nicht zur Sprache kommen – ähnlich wie in den von
bestehen. Janis untersuchten amerikanischen Beraterstäben.
Bei Aktenanalysen war dem Psychologen Janis Daneben liegen der kaiserlichen Gruppe keine
(1972) aufgefallen, dass einige amerikanische Krisen alternativen Informationsquellen vor. Der Kaiser
(z. B. Pearl Harbor oder die Krise in der kubani- wäre beispielsweise gut damit beraten gewesen,
schen Schweinebucht) – zumindest teilweise – auf zunächst die Meinung von außenstehenden, renom-
eindeutige Fehlentscheidungen der Beratergrup- mierten Webern einzuholen. Sicherlich hätten diese
pen zurückzuführen waren. Janis erklärte diese ihn darüber aufklären können, dass die Herstellung
Fehlentscheidungen mit dem Phänomen des Grup- des beworbenen Stoffs unmöglich ist. Auch hätte der
pendenkens. Janis zufolge ist die Gefahr des Grup- Kaiser zunächst Informationen über die beiden ver-
pendenkens immer dann gegeben, wenn der Ent- meintlichen Weber einholen lassen können. Eventu-
scheidungsprozess einer Gruppe so sehr durch das ell wäre er bei seiner Recherche auf ähnliche Betrugs-
Streben nach einer Einigung geleitet ist, dass dies die ereignisse gestoßen oder den Betrügern vermutlich
Wahrnehmung der Realität beeinträchtigen kann. skeptischer gegenübergetreten, wenn sich keine
Diese Gefahr steigt durch verschiedene Bedingun- Informationen hätten finden lassen.
gen. Die Gefahr ist z. B. höher, wenn eine Gruppe Das Kind, das zum Schluss auf die nicht vorhan-
einen starken Zusammenhalt hat, von alternati- denen Kleider und somit auf den Irrsinn des Kon-
ven Informationsquellen abgeschottet ist, mög- zepts aufmerksam macht, kann als eine Art „Anwalt
lichst schnell eine Lösung finden muss oder der des Teufels“ verstanden werden. Es ist noch nicht so
18 Kapitel 3 · Des Kaisers neue Kleider von Hans Christian Andersen (1837)

sehr an die Gruppe angepasst und traut sich daher, schaffen, in der jeder offen seine ehrliche Meinung
seine abweichende Meinung frei auszusprechen. sagen kann. Die Einführung einer gesunden Feed-
backkultur ist ein wichtiger Schritt zur Vermeidung
von Unzufriedenheit und Krisen sowie zur persön-
3.4 Bedeutung für die heutige Zeit lichen Weiterentwicklung. Diese Kultur kann bei-
spielsweise durch Instrumente wie Mitarbeiterbefra-
3 Das Märchen lässt sich problemlos auf unsere heutige gungen oder das 360°-Feedback gefördert werden.
Realität übertragen. Auch bei Wirtschaftsskandalen, Durch Letzteres erhalten Führungs- und Fachkräfte
beispielsweise den im Jahr 2015 bekanntgeworde- Rückmeldung aus unterschiedlichsten Perspekti-
nen Manipulationen von Abgaswerten bei einem ven, z. B. von Mitarbeitern, Vorgesetzten und/oder
führenden Autohersteller, waren häufig Gruppen Kunden.
an der Entscheidung beteiligt. Es lässt sich vermu- Zudem verdeutlicht das Märchen, das Macht-
ten, dass auch hier einige Gruppenmitglieder diese gier und Angst vor Machtverlust zu irrationalem
Machenschaften kritisch gesehen haben, dies aber und risikoreichem Verhalten führen können. Die
aufgrund des Druckes der Gruppe nicht äußern potenziellen Auswirkungen eines solchen Verhal-
konnten. Sie hatten vermutlich Angst davor, von tens wurden uns beispielsweise beim Börsencrash
den anderen Gruppenmitgliedern negativ bewertet 2008 vor Augen geführt. Dieser wurde maßgeb-
zu werden und möglicherweise ihre Position zu ver- lich mitbedingt von der Pleite der Investmentbank
lieren. Sie verhielten sich also genauso wie die Minis- Lehman Brothers, die – getrieben durch die Gier
ter in unserem Märchen. nach immer höheren Gewinnen – höchst riskante
Auch heutzutage werden immer wieder von Finanzgeschäfte auf dem US-Immobilienmarkt ein-
Betrügern falsche Versprechungen gemacht. Die gegangen war. Indem man Mitarbeiter zu kritischem
Wahrheit kommt meist zunächst nicht ans Licht, da Hinterfragen von Entscheidungen und Führungs-
Personen unter sozialem Einfluss stehen oder dem kräften ermutigt und ihnen – wo immer möglich –
Zuschauereffekt verfallen. Um die „nackte“ Wahrheit ein Mitspracherecht einräumt, wird risikoreiches
zu erkennen, bedarf es auch heute noch mutiger und Verhalten unwahrscheinlicher. Hätte der Kaiser im
unangepasster Personen wie dem Kind im Märchen Märchen eine solche Kultur gepflegt, wäre ihm der
oder dem Whistleblower Edward Snowden, der im Betrug vermutlich erspart geblieben.
Sommer 2013 den Überwachungsskandal der Natio-
nal Security Agency (NSA) enthüllte.
Daneben sollten auch wir uns immer wieder die 3.5.2 Erziehung
Frage stellen, welchen Illusionen wir unterliegen. Die
Antwort z. B. auf die Frage, unter welchen Bedingun- Wie bereits erwähnt, verdeutlicht das kleine Kind
gen unsere „schillernden“ Kleider zum Teil produ- im Märchen den Wahrheitsgehalt der alten Volks-
ziert werden, lässt uns mitunter so ergriffen drein- weisheit „Kindermund tut Wahrheit kund“. Es kann
schauen wie den Kaiser die Einsicht, dass er nackt sich also durchaus lohnen, Wert auf die Meinung und
vor seinem Volk flaniert. Aussagen von Kindern zu legen und diese ernst zu
nehmen. Kinder unterliegen sozialen Anpassungs-
zwängen noch nicht in dem Maße wie Erwachsene
3.5 Implikationen für die und sprechen daher meist frei aus, was sie sehen
Führung, Erziehung und und denken. Das Märchen regt uns dazu an, Erzie-
Lebensgestaltung hung als einen zweiseitigen Prozess zu verstehen,
bei welchem Eltern führen, sich aber auch von ihren
3.5.1 Führung Kindern führen lassen. So können beide Seiten von-
einander lernen. Wenn dies erfolgreich geschieht, ist
Wie durch das Märchen und den genannten Wirt- Erziehung ein fruchtbarer Prozess für alle Beteiligten.
schaftsskandal zu erkennen ist, ist es wichtig, als füh- Außerdem sollten Eltern und die Gesellschaft als
rende Persönlichkeit eine Unternehmenskultur zu Ganzes versuchen, den nachfolgenden Generationen
Literaturverzeichnis
19 3
Werte wie Wahrheit, Aufrichtigkeit und das Eintre- der Situation der Berater ähnlich handeln können.
ten für die eigene Meinung aktiv in ihrer Vorbild- Wenn wir unser Leben ehrlich unter die Lupe
funktion vorzuleben. Nur so können Kinder zu mün- nehmen, entdecken wir häufig ähnliche Phänomene
digen Bürgern heranwachsen, die nicht eines Tages, in der Gesellschaft, im Beruf, der Universität oder
aufgrund von leeren Versprechungen, eitel und nackt auch in der Schule oder im Kindergarten. Der Leser
durch die Straßen ziehen. soll dazu angeregt werden, sich die Frage zu stellen,
wo er sich selber als Kaiser entdeckt? Wann verhält
er sich wie ein Mitläufer? Und wo entdeckt er sich
3.5.3 Lebensgestaltung als Kind? Die aufrichtige Reflexion dieser Fragen ist
sicher nicht immer angenehm, aber sie kann dazu
Auch für unsere generelle Lebensgestaltung erteilt führen, dass wir aus den Antworten lernen und
Andersen uns in seinem Märchen weise Ratschläge. schließlich zu couragierteren Mitgliedern unserer
Zum einen verdeutlicht es uns, dass Lügen kurze Gesellschaft werden.
Beine haben und mehr Schein als Sein auf Dauer
selten von Erfolg gekrönt ist. Früher oder später fliegt
ein Schwindel auf, und man kann sich nie sicher sein, Literaturverzeichnis
wann oder wodurch die Öffentlichkeit dazu ange-
Andersen, H. C. (2014). Die schönsten Märchen von H. C. Ander-
regt wird, unseren Schein genauer unter die Lupe sen. Berlin: Annette Betz.
zu nehmen. Dass dies mitunter kostspielige Folgen Asch, S. E. (1951). Effects of group pressure upon the modifi-
haben kann, lässt sich an den zahlreichen Plagiatsaf- cation and distortion of judgments. In: H. Guetzkow (Ed.),
fären der letzten Jahre in der deutschen Politik gut Groups, Leadership, and Men (pp. 177–190). Pittsburgh, PA:
nachvollziehen. Carnegie Press.
Darley, J. M., & Latané, B. (1968). Bystander intervention in
Außerdem regt uns Andersens Werk dazu an, emergencies: diffusion of responsibility. Journal of Perso-
Werbung kritisch zu hinterfragen. Ist ein Produkt nality and Social Psychology 8, 377–383.
tatsächlich das, was es zu sein verspricht, und benö- Janis, I. L. (1972). Victims of groupthink: A psychological study
tige ich dieses Produkt wirklich? Oder bin ich, nur of foreign-policy decisions and fiascoes. Oxford, England:
Houghton Mifflin.
weil beispielsweise mit „Experten“ geworben wird,
Latané, B., & Wolf, S. (1981). The social impact of majorities and
gerade dabei, auf einen cleveren Marketingtrick minorities. Psychological Review 88, 438–453.
hereinzufallen?
Zu guter Letzt fordert uns der Autor dazu auf,
nicht blind der Masse zu folgen, sondern für unsere
Überzeugungen und Meinungen einzustehen und
nicht dem Zuschauereffekt zum Opfer zu fallen.
Stattdessen sollten wir eingreifen und handeln,
wenn wir die Notwendigkeit erkennen, so wie es das
Kind im Märchen tut. Man sollte lieber einmal zu
oft einschreiten als einmal zu wenig, denn nur durch
das Zeigen von Zivilcourage können wir das Leben
und die Menschenwürde von betroffenen Personen
schützen.

3.6 Fazit

Andersen fordert den Leser mit seinem Märchen


dazu auf, Autoritätspersonen, aber auch sich selbst
kritisch zu hinterfragen. Viele von uns hätten ver-
mutlich – aus wissenschaftlicher Sicht betrachtet – in
21 4

Von den drei Groschen von


Pavol Dobšinský
Sarah Eichmann

4.1 Inhalt des Märchens – 22

4.2 Die Charaktere – 22

4.3 Psychologischen Phänomene und Bedeutung für die


heutige Zeit – 23
4.3.1 Reziprozität/Gegenseitigkeit – 23
4.3.2 Soziale Verantwortung – 24
4.3.3 Verhaltensvorbilder – 26

4.4 Fazit – 26

Literaturverzeichnis – 27

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_4
22 Kapitel 4 · Von den drei Groschen von Pavol Dobšinský

4.1 Inhalt des Märchens und wies auf das Abbild des Königs: „Hier sehe ich
das Bild des Königs, so kann ich euch die Lösung
Es war einmal ein armer Mann, der Gräben neben verraten.“ Nachdem er die Minister über des Rätsels
einer Landstraße aushob. Eines Tages fuhr der Lösung aufgeklärt hatte, überbrachten die Minister
König auf der Landstraße entlang und beobachtete dem König die Lösung.
die schwere Arbeit. Da fragte er den armen Mann, Der König jedoch bemerkte den Betrug und
welchen Lohn er für eine solch schwere Arbeit ließ zornig den armen Mann holen. Als der König
erhielte. Der arme Mann antwortete ihm: „An einem ihn zur Rede stellte, antwortete er: „Mein König,
4 Tag bekomme ich drei Groschen.“ Daraufhin fragte so wie Ihr mir es befohlen habt, habe ich geschwie-
der König erstaunt, wie er von einem so geringen gen, bis ich Euer Bild sah. Hier ist es, Ihr selbst
Einkommen leben könne. Da erwiderte der arme habt es mir geschenkt.“ Dabei holte er eine Münze
Mann: „Dies wäre nicht weiter schlimm. Jedoch gebe hervor. Der König war tief beeindruckt von der
ich einen Groschen ab, einen verleihe ich und der Weisheit des armen Mannes und machte ihn zu
letzte bleibt mir zum Leben.“ einem Berater an seinem Hofe. Die zwölf Berater
Der König wunderte sich über die Antwort des jedoch wagten es nie wieder, um eine höhere Ent-
armen Mannes und bat ihn schließlich, ihm zu erklä- lohnung zu bitten.
ren, was mit den Groschen geschehe. Der arme Mann (Gašparíková 2000; . Abb. 4.1)
antwortete: „Ich pflege meinen Vater, der schon alt
ist. Er hat mich aufgezogen, deshalb gebe ich ihm Anmerkung  Das slowakische Märchen „Von den
zurück, was er mir Gutes getan hat, und überlasse drei Groschen“ („O troch grošoch“) wurde zum
ihm einen Groschen. Den anderen Groschen leihe ersten Mal im Kodex von Tisovec (etwa 1834–
ich meinem Sohn, damit er ihn mir später zurück- 1844), einer Sammlung von slowakischen Volks-
geben kann. Der letzte Groschen bleibt schließlich märchen, veröffentlicht. Anschließend wurde es in
für mich zum Leben.“ den Sammelband Slowakische Volksmärchen (Pro-
Der König war beeindruckt von der Antwort stonárodnie slovenské povesti, 1880–1883) von Pavol
des armen Mannes und meinte: „An meinem Hofe Dobšinský aufgenommen. Pavol Dobšinský gilt als
habe ich zwölf Berater, die niemals mit ihrem Lohn bedeutsamster slowakischer Sammler von Märchen
zufrieden sind, egal wie viel ich ihnen gebe. Nun will und mündlichen Überlieferungen und wird über-
ich ihnen deine Geschichte als Rätsel stellen. Meine wiegend als Autor des Märchens „Von den drei Gro-
Berater sollen das Rätsel lösen, warum ein armer schen“ genannt.
Arbeiter von seinem kargen Lohn einen Groschen
abgibt, einen verleiht und ihm nur einer zu Leben
bleibt. Sollten sie zu dir kommen und die Antwort 4.2 Die Charaktere
des Rätsels fordern, schweige so lange bis du mich
wiedersiehst.“ Zum Abschied schenkte ihm der Im Mittelpunkt des Märchens steht der arme Mann,
König noch eine Handvoll Dukaten. der einer schlecht bezahlten und mühseligen Arbeit
Zurück am Hofe stellte der König seinen Bera- als nachgeht und von seinem geringen Verdienst
tern das Rätsel des armen Mannes. Er drohte ihnen, zudem seinen alten Vater und seinen Sohn ver-
sie aus dem Land jagen zu lassen, wenn sie die sorgt. Sein Handeln ist von Bescheidenheit, Ver-
Lösung des Rätsels nicht binnen einer Woche errie- antwortungsbewusstsein und Weisheit geprägt und
ten. Die zwölf Berater rätselten viele Tage, konnten imponiert dem König sehr.
die Lösung aber nicht erraten. Schließlich fanden sie Der König sucht trotz seines hohen gesellschaft-
den armen Mann und bettelten, versprachen hohe lichen Status den Kontakt zu einem einfachen Stra-
Geldmengen und drohten ihm, damit er ihnen die ßenarbeiter. Er schätzt das vorbildliche Verhalten des
Lösung des Rätsels verrate. Anfangs schwieg der armen Mannes und hinterfragt die Geldgier seiner
arme Mann beharrlich, doch schließlich hatte er Ein- Berater. Mit dem Rätsel will er ihre Eignung in dieser
sehen mit den verzweifelten Beratern. Er holte eine Position prüfen. Als die Berater nur durch Betrug
Dukate, die ihm der König geschenkt hatte, hervor an die Lösung des Rätsels gelangen, lässt er diese
4.3 · Psychologischen Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
23 4

. Abb. 4.1  (Zeichnung: Claudia Styrsky)

Demütigung Strafe genug sein und verjagt sie nicht 4.3.1 Reziprozität/Gegenseitigkeit
wie angedroht vom Hof.
Die zwölf Berater des Königs genießen eine gut Im Märchen „Von den drei Groschen“ sorgt der arme
bezahlte Stellung am Hof des Königs und doch stellt Mann für seinen Vater und gibt ihm das Gute zurück,
sie ihr Lohn nie zufrieden. Ihre Weisheit und Per- das er damals von ihm erhalten hat. Ebenso unter-
spektive reichen nicht aus, um das Rätsel zu lösen. stützt er jetzt seinen Sohn, damit ihn dieser im Alter
Deshalb schrecken sie auch vor unlauteren Metho- versorgen kann. Dieses Prinzip der Gegenseitigkeit
den nicht zurück, um an die Lösung des Rätsels wird als Reziprozität bezeichnet und stellt ein Grund-
zu gelangen. Bloßgestellt durch die Weisheit und prinzip des menschlichen Handelns dar.
Bescheidenheit des armen Mannes, wagen sie es nie Im Zusammenhang mit Reziprozität wird oft
mehr, um eine Erhöhung ihres Lohnes zu bitten. von der sog. Reziprozitätsnorm gesprochen. Diese
besagt, dass Menschen aus der Erwartung heraus
helfen, damit auch ihnen zukünftig geholfen wird.
4.3 Psychologischen Phänomene Es wird also nach dem Motto „Wie du mir, so ich
und Bedeutung für die heutige dir“ gehandelt (Kienbaum 2011). Aus diesem Ver-
Zeit haltensmuster kann eine Kooperation mit anderen
entstehen, die in der Entwicklungsgeschichte der
Märchen werden über Generationen hinweg weiter- Menschheit einen entscheidenden Überlebensvor-
gegeben. Sie vermitteln – neben aufregenden Erzäh- teil bot. Wer mit anderen zusammenarbeitete und
lungen – auch Lebensweisheiten und Denkanstöße sich Arbeit aufteilte, musste selbst nicht für jeden
und enthalten darüber hinaus spannende psycho- Lebensbereich sorgen und konnte von der Arbeit
logische Aspekte. Auch im Märchen „Von den drei der anderen profitieren. Dieser Vorteil durch Koope-
Groschen“ zeigen sich viele psychologische Phäno- ration mit anderen kann eine Erklärung dafür sein,
mene, von denen im Folgenden einige der interes- warum Menschen prosoziales Verhalten zeigen.
santesten vorgestellt werden. Damit ist ein Verhalten gemeint, das zum Wohl
24 Kapitel 4 · Von den drei Groschen von Pavol Dobšinský

anderer beiträgt und sowohl intentional als auch Dieses Beispiel von Reziprozität verdeutlicht,
freiwillig erfolgt. dass eine faire Gegenseitigkeit auch im Arbeitskon-
Da Reziprozität eine wichtige Grundlage des text von großer Bedeutung ist. Abgesehen davon,
menschlichen Miteinanders darstellt, überrascht dass eine respektvolle Behandlung von Mitarbeitern
es nicht, dass Reziprozität als universelle Norm gilt ethisch wünschenswert ist, müssen sich besonders
und auch kulturübergreifend gültig ist (Bierhoff Führungskräfte darüber bewusst sein, dass eine faire
2010). Die Regel der Reziprozität ist so tief in uns Behandlung ihrer Mitarbeiter auch wirtschaftliche
verankert, dass wir uns sogar verpflichtet fühlen, Konsequenzen haben kann und daher ökonomisch
4 etwas zurückzugeben, wenn wir etwas unverhofft sinnvoll ist. Die Erfüllung der Reziprozitätsnorm
geschenkt bekommen. An einem Feldexperiment wiederum kann von Führungskräften als Anreiz für
von Armin Falk aus dem Jahr 2007 lässt sich dieser Mitarbeiter eingesetzt werden, gute Leistungen zu
Zusammenhang anschaulich erklären. Dabei wurden erbringen. Denn die Mitarbeiter können sich darauf
insgesamt 10.000 Spendenaufrufe zur Unterstützung verlassen, dass ihre Anstrengungen angemessen ver-
von Straßenkindern in Bangladesh an Haushalte in golten werden.
der Schweiz versandt. Ein Drittel der Briefe ent- Der arme Mann kommt seiner Verpflichtung
hielt nur den Spendenaufruf, mit einem Drittel der gegenüber seinem Vater nach und erwartet gemäß
Briefe wurde ein kleines Geschenk und mit einem der Reziprozitätsnorm, dass sich sein Sohn später
Drittel ein großes Geschenk verschickt. Wie reagier- einmal in gleicher Weise ihm gegenüber verhalten
ten die Empfänger auf den Spendenaufruf? Fand ein wird. Das Märchen lässt jedoch offen, ob der Sohn
Geschenkeaustausch statt? Fühlten sich die Empfän- den armen Mann tatsächlich versorgen wird. Wie
ger des Briefes verpflichtet, etwas auf das unerwartete wird der arme Mann reagieren, wenn er feststellen
und möglicherweise gar nicht gewünschte Geschenk muss, dass ihn sein Sohn entgegen seiner Erwartun-
zurückzugeben? Die Antwort lautet ja. So zeigte sich, gen nicht versorgt?
dass von Haushalten mit dem großen Geschenk im Wie die Beispiele zur Spendenbereitschaft und
Schnitt fast doppelt so viel gespendet wurde wie der mangelhaften Autoreifen zeigen, kann Rezipro-
von Haushalten ohne Geschenk. Das Prinzip des zität auch manipulativ eingesetzt werden oder bei
Geschenkeaustausches finden wir auch im Märchen Nichterfüllen der Gegenseitigkeit nachteilige Folgen
wieder: Der arme Mann hat schon viel Zuwendung haben. Da man im alltäglichen Leben ständig mit der
von seinem Vater erhalten, nun fühlt er sich ver- Reziprozitätsnorm konfrontiert wird, ist es wichtig,
pflichtet, ihm wieder etwas zurückzugeben. sich über diese Folgen bewusst zu sein. Außerdem
Doch Reziprozität kann nicht nur positive Ver- sollte man bedenken, dass schon kleine Zugeständ-
haltensweisen bewirken, Reziprozität hat auch eine nisse den Drang auslösen können, größere Zuge-
dunkle Seite. Damit ist die Bestrafung von unfai- ständnisse zu machen, die man eigentlich nicht
rem Verhalten gemeint, beispielsweise wenn man machen will. Ebenso muss man berücksichtigen, dass
für eine erbrachte Leistung keine akzeptierte Gegen- das Ausbleiben einer erwarteten Gegenleistung zu
leistung erhält. Dieser Zusammenhang lässt sich am aggressiven Reaktionen des Gegenübers führen kann.
Beispiel eines Reifenherstellers verdeutlichen, der
eine große Rückrufaktion seiner Reifen wegen gra-
vierender, gefährdender Qualitätsmängel begin- 4.3.2 Soziale Verantwortung
nen musste (Kruger u. Mas 2004). Die mangelhaf-
ten Reifen wurden überwiegend von einem Werk Das fürsorgliche und vorausschauende Handeln
während eines erbitterten Arbeitskampfes zwischen des armen Mannes beruht nicht nur auf Reziprozi-
Unternehmensführung und Arbeitern hergestellt, tät, sondern auch auf sozialer Verantwortung. Der
bei dem Lohn und Urlaub der Arbeiter drastisch arme Mann fühlt sich dafür verantwortlich, seinen
gekürzt wurden. Das unfaire und rigide Verhalten alten Vater zu pflegen und seinen Sohn zu unterstüt-
der Unternehmensführung wurde von den Mitarbei- zen, da sie im Moment bedürftiger sind als er selbst.
tern mit mangelhafter Arbeitsleistung – oder anders Die Frage nach Verantwortung für ein Ergebnis
formuliert – mit negativer Reziprozität bestraft. wird oft nur dann gestellt, wenn es negativ ist. Dabei
4.3 · Psychologischen Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
25 4
stellt gegenseitige Verantwortungsübernahme eine Wahrnehmung, dass sich jemand in einer Notsitu-
wichtige Grundlage für das Zusammenleben von ation befindet und man selbst mit seinem Handeln
Menschen dar. Der Soziologe Max Weber (1919– etwas dagegen tun kann.
1922) definiert Verantwortungsethik als Verantwor- Im Märchen imponiert dem König das verant-
tung sowohl für das Handeln als auch für die Unter- wortungsvolle Handeln des armen Mannes, weil es
lassung des Handelns. So kann sich Verantwortung viel über das Miteinander der Generationen und Ver-
auf das eigene Handeln beziehen, z. B. die politische antwortungsübernahme füreinander aussagt. Soziale
Verantwortung von Entscheidungen oder die Ver- Verantwortung wird häufig innerhalb der eigenen
meidung von unnötigen Risiken. Zudem kann Ver- Kernfamilie gezeigt. Doch die zunehmende Alters-
antwortung auch Verantwortung für andere Men- armut und Vereinsamung von alten Menschen macht
schen bedeuten, z. B. die Sorge um das finanzielle deutlich, dass soziale Verantwortung für bedürftige
und gesundheitliche Wohlergehen der eigenen Angehörige leicht verloren gehen kann. Umso wich-
Familie. In dem letztgenannten Beispiel sowie im tiger scheint die Förderung von sozialer Verant-
Märchen wird deutlich, dass Verantwortung auf eine wortung, damit so mehr konkretes Hilfeverhalten
Verbindung oder Verwandtschaft mit einer bedürf- gezeigt wird.
tigen Person hinweist. Gerade in der heutigen Zeit, in der durch die Glo-
Doch was ist der Grund dafür, Verantwor- balisierung die ganze Welt miteinander verbunden
tung übernehmen zu wollen? Warum übernehmen ist und man durch sein Handeln das Leben anderer
manche Menschen mehr Verantwortung als andere? Menschen wie nie zuvor beeinflussen kann, ist das
Der Entwicklungspsychologe Martin Hoffman Märchen aktuell. Das eigene Handeln, z. B. eine Kauf-
(2000) konnte nachweisen, dass Fühlen und Über- entscheidung für oder gegen ein nachhaltig herge-
nehmen von Verantwortung mit Empathie und stelltes und fair gehandeltes Kleidungsstück, hat
Empfinden von Schuld einhergeht. Dabei stellt Emp- Auswirkungen auf alle Beteiligten der Herstellungs-
athieempfinden eine Voraussetzung für Verantwor- kette. Hier trägt soziale Verantwortungsübernahme
tungsübernahme dar; Schuldempfinden hingegen ist bei Kaufentscheidungen z. B. dazu bei, die Arbeits-
eine Folge von nicht gezeigter Verantwortungsüber- umstände in den Fertigungsbetrieben zu verbessern
nahme oder eines negativen Ereignisses, das man und die Umwelt zu schützen.
verantworten muss. Viele Unternehmen haben den Wert und die
Es besteht außerdem folgender Zusammen- Wichtigkeit von sozialer Verantwortung erkannt.
hang: Je mehr Verantwortungsgefühl, Empathie Mit Corporate Social Responsibility bzw. unterneh-
und Schuld Personen empfinden, desto eher zeigen merischer Gesellschaftsverantwortung verpflichten
sie prosoziales Verhalten in der Zukunft. So stehen sich Unternehmen freiwillig, gesellschaftliche Ver-
Voraussetzungen und Folgen von Verantwortung antwortung zu übernehmen und zu nachhaltigem
und Verantwortungsgefühl selbst im Zusammen- Wirtschaften beizutragen, das über die gesetzlichen
hang mit Verhaltensweisen, die anderen Menschen Mindestanforderungen hinausgeht. Konkret sind
zugutekommen. Dies lässt sich an einem Beispiel damit beispielsweise der Schutz von Umwelt und
aus der Forschung verdeutlichen. Bei der Befra- natürlichen Ressourcen sowie Mitarbeiterorientie-
gung von Personen, die nach einem Verkehrsun- rung und faire Geschäftspraktiken gemeint.
fall als Ersthelfer agierten, und Personen, die nicht Soziale Verantwortung stellt sich nicht nur im
halfen, zeigte sich, dass die Helfer im Vergleich zu Märchen als wichtig für das menschliche Miteinan-
den Nichthelfern viel höhere Werte in sozialer Ver- der heraus, auch die Beispiele aus der heutigen Zeit
antwortung aufwiesen (Bierhoff et al. 1991). Auch zeigen, dass soziale Verantwortung immer noch hoch
im Märchen führt soziale Verantwortung zu Hil- relevant ist. Das verantwortungsvolle und nachhal-
feverhalten: Der arme Mann übernimmt Verant- tige Handeln des armen Mannes regt dazu an, selbst
wortung und sorgt für Vater und Sohn. Wer Ver- darüber nachzudenken, wo das eigene Handeln Aus-
antwortung für andere übernehmen will, benötigt wirkung auf andere Menschen hat und wo man mehr
ebenso Wissen über Verantwortung sowie die Verantwortung für die Familie, Gesellschaft und
nötige Handlungskompetenz. Dazu gehört u. a. die Umwelt zeigen muss.
26 Kapitel 4 · Von den drei Groschen von Pavol Dobšinský

4.3.3 Verhaltensvorbilder gemäßigte Verhaltensvorbild nicht gesehen hatten,


reagierten viel aggressiver.
Warum ist der König so beeindruckt vom Verhal- Der starke Einfluss von Verhaltensvorbildern
ten des armen Mannes? Schließlich gibt er einem spielt auch im Alltag und der Erziehung eine große
armen, ungebildeten Straßenarbeiter eine ein- Rolle. Viele Eltern bemerken erschrocken, wie ihr
flussreiche Position an seinem Hof, obwohl er Nachwuchs plötzlich unerwünschte Dinge tut oder
bereits die klügsten und gebildetsten Köpfe des Worte sagt, die er bei Gelegenheit von ihnen selbst
Landes als Berater verpflichtet hatte. Der arme aufgeschnappt hat. Sie müssen feststellen, dass der
4 Mann kann mit einer Verhaltensweise überzeu- Rücksitz wohl doch Ohren hat, wenn sie z. B. im Stra-
gen, die den königlichen Beratern abgeht – er ist ßenverkehr über unliebsame Verkehrsteilnehmer
ein Verhaltensvorbild. Er äußerte seine Weisheit schimpfen. Denn Kinder beobachten das Verhalten
und Bescheidenheit nicht nur in klugen Worten, ihrer Eltern ganz genau, lernen durch diese Beob-
sondern ließ Taten folgen und richtete sein Leben achtung und ahmen ihr Verhalten nach. Es genügt
danach aus. Die Berater des Königs konnten zwar also nicht, Kindern zu erklären, was sie tun oder
ebenso weise Ratschläge geben, ihr Handeln war lassen sollen – die Herausforderung der Erziehung
jedoch von Habgier und Maßlosigkeit bestimmt. besteht darin, ein authentisches Verhaltensvorbild
Der König erkennt, dass der alte Mann als Ver- sein, damit Kinder gewünschte Verhaltens- und Aus-
haltensvorbild in einer hohen Stellung wichtig ist, drucksweisen nacheifern können.
damit er, seine Berater und das ganze Volk von ihm Doch nicht nur im Bereich der Erziehung spielen
lernen und seinem Verhalten nacheifern können. Verhaltensvorbilder eine wichtige Rolle, in gewisser
Die Erkenntnis des Königs verdeutlicht, dass ein Weise gelten auch Führungskräfte als Verhaltensvor-
Lerneffekt oft dann stattfindet, wenn eine Verhal- bilder. Durch ihre höher gestellte Position werden sie
tensweise vorgelebt wird. als Beispiel für erfolgreiche und verantwortungsbe-
Mit dieser Annahme beschäftigte sich auch der wusste Unternehmensmitglieder wahrgenommen.
Psychologe Albert Bandura. Die von ihm begrün- Ihre Verhaltensweisen werden von Mitarbeitern viel
dete Theorie des sozialen Lernens besagt, dass Men- genauer beobachtet und haben große Auswirkung
schen Sozialverhalten erlernen, indem sie andere auf sie. Ein Unternehmen, das erreichen möchte, dass
beobachten und imitieren. In einer Reihe an Expe- Mitarbeiter positive Verhaltensweisen wie einen res-
rimenten mit Kindern, der berühmten „Bobo-Doll“- pektvollen Umgang miteinander zeigen, muss darauf
Studie aus dem Jahr 1963, konnte Bandura den Ein- achten, dass besonders leitende Angestellte diese
fluss von sozialem Lernen nachweisen. Dabei sahen positiven Verhaltensweisen in ihre alltäglichen Inter-
Kinder zu, wie ein Erwachsener eine aufblasbare aktionen integrieren. Durch soziales Lernen werden
Plastikpuppe („Bobo-Doll“) trat, schlug und wüst diese positiven Verhaltensweisen dann auch an die
beschimpfte. Als die Kinder anschließend aufgefor- Mitarbeiter weitergetragen und können sich in der
dert wurden, mit der Plastikpuppe zu spielen, imi- Unternehmenskultur verfestigen.
tierten die Kinder ihr aggressives Vorbild und miss-
handelten die Puppe ebenso (Bandura et al. 1963).
Diese Experimente veranschaulichen, dass allein die 4.4 Fazit
Beobachtung von aggressivem Verhalten zu einer
Nachahmung führen kann. Nun stellt sich natür- Im slowakischen Märchen „Von den drei Groschen“
lich die Frage, ob auch nicht aggressives Verhalten lernen nicht nur der König und seine Berater vom
imitiert wird. Auch diese Frage kann mit einem wei- Verhalten des armen Mannes. Bei genauerem Hin-
teren Experiment der „Bobo-Doll“-Studie beant- schauen bemerkt man, dass das alte Märchen und die
wortet werden. Dabei beobachteten Kinder, wie ein darin beschriebenen psychologischen Phänomene
Erwachsener nach einer Provokation nicht aggres- durchaus noch in der heutigen Zeit aktuell sind und
siv reagierte. Als diese Kinder dann selbst provo- wichtige Hinweise für die Erziehung, Führung und
ziert wurden, imitierten sie den Erwachsenen und Lebensgestaltung enthalten. Reziprozität, soziale
reagierten kaum aggressiv. Die Kinder jedoch, die das Verantwortung und Verhaltensvorbilder begegnen
Literaturverzeichnis
27 4
uns oft im Alltag und prägen zwischenmenschliche
Begegnungen. Das Wissen über psychologische Phä-
nomene kann dazu beitragen, das eigene Erleben und
Verhalten und das der Mitmenschen besser zu ver-
stehen und positiv zu gestalten. Derjenige, der das
Prinzip der Reziprozität kennt, kann sich besser vor
Manipulation schützen und negativer Reziprozität
aktiv vorbeugen. Wer sich der Wichtigkeit von sozia-
ler Verantwortung und der Macht von Verhaltens-
vorbildern bewusst ist, kann sein Handeln bewusster
und zielgerichteter gestalten.

Literaturverzeichnis

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ausgabe. Bd. 1/17: Wissenschaft als Beruf 1917/1919/Politik
als Beruf 1919. Tübingen: Mohr Siebeck.
29 5

Die Sterntaler von den


Gebrüdern Grimm (1819)
Nadja Bürgle

5.1 Inhalt des Märchens – 30

5.2 Die Charaktere – 30

5.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung für die


heutige Zeit – 30
5.3.1 Kontrolle – 31
5.3.2 Hilfeverhalten – 32
5.3.3 Bedürfnisse – 34

5.4 Fazit – 35

Literaturverzeichnis – 35

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_5
30 Kapitel 5 · Die Sterntaler von den Gebrüdern Grimm (1819)

5.1 Inhalt des Märchens

Es war einmal ein armes, heimatloses Waisenmäd-


chen, welches nichts besaß als die Kleider, die es
trug, und ein Stückchen Brot, das ihm ein mitlei-
diger Mensch geschenkt hatte. Es war aber gut und
fromm. Weil es so alleine war, begab es sich im Ver-
trauen auf den lieben Gott auf eine Reise. Auf seiner
Reise begegneten ihm nacheinander ein hungriger
Mann, dem es sein Stückchen Brot gab, und vier
5 frierende Kinder, denen es seine Mütze, sein Leib-
chen, sein Röcklein und sein Hemdlein schenkte. Als
es schließlich vollkommen nackt und besitzlos im
dunklen Wald stand, fielen auf einmal die Sterne als
Silbertaler vom Himmel. In seinem neuen Kleidchen
aus feinstem Stoff sammelte das Waisenmädchen die
Taler ein und war reich bis an sein Lebensende.
(Grimm u. Grimm 1819; . Abb. 5.1)

5.2 Die Charaktere

Im Märchen „Sterntaler“ steht ein bettelarmes Waisen-


mädchen, das beschließt, aus seiner Armut und Ein-
samkeit auszubrechen, im Mittelpunkt des Gesche-
hens. Auf seiner Suche nach einem besseren Leben
verschenkt es seine letzten Besitztümer bereitwillig
an andere Bedürftige. Daraufhin fallen die Sterne als
Silbertaler vom Himmel und verwandeln es in eine
Multimillionärin. Auf die Charaktereigenschaften des
Waisenmädchens wird nochmals vertiefend zu den
psychologischen Phänomenen eingegangen. . Abb. 5.1  (Zeichnung: Lena Frey)

Die Begegnungen des Waisenmädchens mit dem


hungrigen Mann und den vier frierenden Kindern
lassen – außer deren unmittelbarer Bedürftigkeit und 44Welche Botschaft möchten uns die Verfasser
Not – keine weiteren Rückschlüsse auf die betreffen- des Märchens vermitteln?
den Charaktere zu. 44Besitzt das Märchen Ihrer Meinung nach ein
„Happy End“?

5.3 Psychologische Phänomene und Im Folgenden werden auf diese Fragen mögliche
Bedeutung für die heutige Zeit Antworten gesucht und anhand des Erlebens und
Verhaltens des Waisenmädchens drei wichtige psy-
Bevor die in Sterntaler beobachtbaren psychologi- chologische Phänomene behandelt, die für unseren
schen Phänomenen vorgestellt werden, folgen zum Alltag von Bedeutung sind:
Einstieg einige einleitende Fragen: 44Kontrolle
44Wie würden Sie das Verhalten des Waisenmäd- 44Hilfeverhalten
chens beschreiben, erklären und bewerten? 44Bedürfnisse
5.3 · Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
31 5
5.3.1 Kontrolle Sind wir jedoch davon überzeugt, dass wir bedeut-
same Zustände oder Ereignisse nicht kontrollieren
Das Waisenmädchen beschließt, aus seiner Einsam- können, beeinträchtigt der drohende Kontrollverlust
keit und Armut auszubrechen, und begibt sich auf unser Erleben und Verhalten negativ (erlernte Hilf-
die Suche nach einem besseren Leben. In diesem losigkeit). Wichtig ist, dass unsere persönliche Über-
Abschnitt wird die Bedeutung von Kontrolle in der zeugung, über Kontrolle zu verfügen, ausschlagge-
Psychologie erklärt, die zwei Arten von Kontrolle bend für die Ausübung von Kontrolle ist und nicht
vorgestellt und ihre Zusammenhänge mit veränder- die tatsächlich vorhandene Kontrolle (vgl. Frey u.
baren und nicht veränderbaren Welten dargestellt. Jonas 2002).
Der Begriff Kontrolle umfasst nach psychologi- Das Waisenmädchen aus Sterntaler verfügt über
schem Verständnis zweierlei Bedeutungen. Einer- Kontrolle, da es überzeugt davon ist, durch seinen
seits wird er im Sinne von „jemanden kontrollieren“ Ausbruch aus der Einsamkeit und Armut einen
und „Macht ausüben“ verwendet. Darunter versteht unerwünschten Zustand vermeiden und durch seine
man die Fähigkeit, das Verhalten einer Person so zu Suche nach einem besseren Leben einen erwünsch-
beeinflussen, dass diese etwas tut, was sie normaler- ten Zustand herbeiführen zu können. Durch den
weise nicht tun würde (Robbins 1993). Andererseits Ausbruch aus seiner misslichen Lage und den Beginn
wird er, wie im hier verstandenen Sinne, zur Erklä- seiner Reise nimmt es aktiv Einfluss auf den Istzu-
rung von selbstständigem und autonomem Handeln stand und nutzt folglich seine primären Kontroll-
gebraucht. Gemeint ist die Überzeugung, erwünschte möglichkeiten. Ausschlaggebend für sein Verhalten
Zustände herbeiführen und unerwünschte Zustände ist seine persönliche Überzeugung, über Kontrolle
vermeiden oder zumindest verringern zu können. zu verfügen und diese in einer veränderbaren Welt
Unterschieden wird zwischen zwei Arten von ausüben zu können. Schließlich führt sein Handeln
Kontrolle: Verfügen wir über primäre Kontrolle, zu den gewünschten Folgen, da die vom Himmel
können wir den tatsächlichen Istzustand durch fallenden Silbertaler seiner misslichen Lage ein
unsere aktive Beeinflussung verändern; verfügen wir Ende setzen und den Weg für ein glückliches Leben
über sekundäre Kontrolle, können wir weder den Ist- freigeben.
noch den Sollzustand an sich, jedoch unsere persön- Hätten Sie die Welt des Waisenmädchens als ver-
liche Einstellung dazu durch gedankliche Strategien änderbar oder nicht veränderbar wahrgenommen?
verändern. Zu diesen gedanklichen Strategien zählen Welche Art von Kontrolle hätten Sie an seiner Stelle
z. B. die Umbewertung von oder Konzentration auf genutzt? Ein Leben geprägt von Armut und Ein-
bestimmte Aspekte des Zustands. samkeit ohne Aussicht auf Schutz und Sicherheit
Über welche Art von Kontrolle wir verfügen, durch die Gesellschaft oder den Staat kann auf den
hängt davon ab, ob wir in einer veränderbaren ersten Blick als kaum veränderbar erscheinen. Hätte
oder nicht veränderbaren Welt agieren. Wir ver- das Waisenmädchen seine Welt als nicht veränder-
suchen zunächst immer, Zustände und Ereignisse bar bewertet, hätte es sekundäre Kontrollstrategien
nach unserem Willen zu verändern. Dies ist jedoch angewendet. Zum Beispiel hätte es sich sein Leiden
nur in veränderbaren Welten möglich, in denen es im Diesseits als Notwendigkeit für seine Glückse-
Gestaltungsspielräume gibt, die wir durch primäre ligkeit im Jenseits erklären können, hierdurch seine
Kontrolle aktiv beeinflussen können. In nicht ver- aktuelle Lage umbewertet und sich auf die positiven
änderbaren Welten dagegen gibt es keine Gestal- Aspekte nach seinem irdischen Leben konzentriert.
tungsspielräume. Indem wir unsere Gedanken Folglich hätte sich seine missliche Lage auch durch
über diese Welten verändern, also sekundäre Kon- die Ausübung von sekundärer Kontrolle zumindest
trolle anwenden, vermeiden wir einen drohenden verringert. Die Bewertung unserer Lebenswelten als
Kontrollverlust. Nehmen wir primäre oder sekun- veränderbar oder nicht veränderbar unterliegt folg-
däre Kontrollmöglichkeiten wahr, wird der durch lich unserem persönlichen Einfluss, ebenso wie die
unerwünschte Zustände oder Ereignisse hervorgeru- daraus folgende Ausübung von Kontrolle und deren
fene Stress verringert oder verschwindet vollständig. Folgen.
32 Kapitel 5 · Die Sterntaler von den Gebrüdern Grimm (1819)

z Fragen zur Reflexion unseren eigenen Nutzen zu maximieren und unsere


44Welche Welten in meinem Leben erscheinen als eigenen Kosten zu minimieren. Folglich helfen wir
(nicht) veränderbar? dann, wenn der Nutzen des Helfens größer ist als die
44Wo wende ich primäre und sekundäre Kosten des Helfens. Der Nutzen des Helfens kann
Kontrolle an? z. B. in der Anerkennung durch andere oder in einem
44Sind meine persönlichen Überzeugungen über positiven Selbstbild liegen. Die Kosten des Helfens
die (Nicht-)Veränderbarkeit meiner Welten können z. B. die Gefährdung der eigenen Sicher-
und meine Kontrollmöglichkeiten richtig? heit oder der Verlust von Zeit und Geld darstellen.
­ osten-Nutzen-Überlegungen beruhen auf persön-
K
lichen Wertungen.
5.3.2 Hilfeverhalten
5 Hätten Sie anstelle des Waisenmädchens den
Bedürftigen geholfen, wenn Sie den Nutzen und die
Das Waisenmädchen hilft Bedürftigen, obwohl es Kosten der Hilfeleistung berücksichtigen? Für das
selbst nichts hat. Unbekümmert um seine eigene Waisenmädchen mag seine ausgeprägte Religiosität
Zukunft verschenkt es seine letzten Besitztümer, eine wichtige Rolle spielen. Der Nutzen des Helfens
die es eigentlich selbst benötigen würde. In diesem mag für es im Handeln nach dem christlichen Gebot
Abschnitt werden die Bedeutung von Hilfeverhalten der Nächstenliebe und somit dem Wohlwollen
in der Psychologie erklärt, unterschiedliche Gründe Gottes liegen. Die Kosten des Helfens mögen in der
für Hilfeverhalten untersucht, die aktuelle Situation Nichtbefriedigung eigener grundlegender Bedürf-
in unserer Gesellschaft beleuchtet sowie positive und nisse nach Nahrung oder Schutz vor Kälte bestehen.
negative Seiten von Hilfeverhalten dargestellt. Das Handeln nach christlichen Geboten erscheint
Unter prosozialem Verhalten versteht man Ver- ihm wichtiger als die Befriedigung seiner Grundbe-
haltensweisen, welche die Situation einer bedürf- dürfnisse. Ausgehend von der Theorie des sozialen
tigen Person verbessern. Hilfeverhalten zählt zu Austauschs mag das Hilfeverhalten des Waisenmäd-
den prosozialen Verhaltensweisen und dient dem chens egoistisch begründet sein.
Wohlbefinden einer anderen Person. Verhält sich
eine Person prosozial, ohne dabei Rücksicht auf
ihre eigenen Interessen oder Sicherheit zu nehmen, Empathie-Altruismus-Hypothese
handelt sie altruistisch. Das Gegenteil des Altruis- Daniel Batson (1991) ist ein Verfechter dafür, dass
mus, des selbstlosen Interesses am Wohlergehen Menschen auch aus altruistischen Gründen helfen,
anderer, ist der Egoismus, das selbstbezogene Inter- ohne dabei auf ihren eigenen Nutzen zu achten. Laut
esse am eigenen Wohlergehen (Bierhoff 2008; Gerrig seiner Empathie-Altruismus-Hypothese zeigen wir
u. Zimbardo 2008). altruistisches Hilfeverhalten, wenn wir Empathie
Das Waisenmädchen aus Sterntaler zeigt Hilfe- gegenüber einer Person in Not empfinden. Unter
verhalten, da sein Handeln die Situation des hung- Empathie versteht man in der Psychologie das
rigen Mannes und der frierenden Kinder verbessert Begreifen und Nacherleben der inneren Vorgänge
und deren Wohlbefinden dient. Ist sein Handeln anderer Menschen (vgl. Bierhoff 2008). Nehmen wir
Ihrer Meinung nach altruistisch oder egoistisch also die Perspektive der Person in Not ein und emp-
begründet? finden Mitleid mit ihr, helfen wir aus dem altruis-
tischen Grund, dass es dem Hilfeempfänger besser
geht. Verschließen wir uns dagegen vor der Perspek-
Theorie des sozialen Austauschs tive der Person in Not und empfinden kein Mitleid
Die Theorie des sozialen Austauschs (Thibaut u. mit ihr, helfen wir aus dem egoistischen Grund, dass
Kelley 1959) wird davon ausgegangen, dass Men- wir selbst einen Nutzen daraus ziehen.
schen aus egoistischen Gründen helfen, wenn sie Beobachten wir eine Person in Not, löst dies in
selbst einen Nutzen aus ihrem Verhalten ziehen. uns generell unangenehme Gefühle aus. Der egoisti-
Sie beruht auf der Annahme, dass wir bestrebt sind, sche Nutzen von Hilfeverhalten kann darin bestehen,
5.3 · Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
33 5
durch die Hilfeleistung die eigenen unangenehmen Hilfsbereitschaft als Vorbild dienen. Unsere Bereit-
Gefühle zu verringern. Haben wir die Möglichkeit, schaft, einander zu helfen, formt unsere Gesellschaft,
die Notsituation zu verlassen, können wir unsere stärkt das Miteinander und lässt unsere Gemein-
unangenehmen Gefühle auch reduzieren, indem wir schaft reibungsloser funktionieren. Das Sozialstaats-
uns von der Person in Not abwenden. ystem, die Spendenbereitschaft nach Katastrophen
Das Waisenmädchen aus Sterntaler hat die oder das ehrenamtliche Engagement zeugen von
Wahl, die Situation zu verlassen oder den Bedürfti- unserer grundlegenden prosozialen Orientierung
gen zu helfen. Es hilft aus dem altruistischen Grund, (vgl. Gerring u. Zimbardo 2008). Wir sollten diese
dass es den Bedürftigen besser geht, und entschei- prosoziale Orientierung dem sich ausbreitenden
det sich gegen ein Verlassen der Situation aus dem Egoismus entgegenstellen.
egoistischen Grund, seine eigenen unangenehmen
Gefühle zu verringern. Das Hilfeverhalten des Wai-
senmädchens ist dieser Theorie folgend altruistisch Gesundes und schädliches
begründet. Hilfeverhalten
Doch – ist Altruismus ausschließlich positiv? Sollte
uns das Waisenmädchen aus Sterntaler uneinge-
Egoismus und Altruismus in unserer schränkt als Vorbild dienen?
Gesellschaft Eine Forschergruppe aus Cambridge unter-
Wann sind Sie zuletzt einem so hilfsbereiten Men- suchte die Grenzen zwischen gesunder und schäd-
schen wie dem Waisenmädchen begegnet? Heutzu- licher Hilfsbereitschaft (vgl. Oakley et al. 2011). Sie
tage scheint der Egoismus gegenüber dem Altruis- kam u. a. zu dem Schluss, dass es ein Zuviel des Guten
mus zu überwiegen. Die zunehmende soziale Kälte geben kann, wenn eine Person ihre eigenen Grund-
und steigende Selbstsucht zählen zu den Standards bedürfnisse nach Nahrung, Geld oder anderen Res-
der Gesellschaftskritik. Hatte Arthur Schopenhauer sourcen in Zusammenhang mit dem Überleben
Recht, als er schrieb: vernachlässigt, um anderen zu helfen. Stellt eine
helfende Person ihr eigenes Leben vollkommen in
» Der Egoismus ist kolossal: er überragt die den Dienst anderer und nimmt die Bedürfnisse der
Welt. Denn, wenn jedem Einzelnen die Wahl anderen wichtiger als die eigenen, bezeichnet man
gegeben würde zwischen seiner eigenen und dies als krankhaften Altruismus.
der übrigen Welt Vernichtung; so brauche ich Eine Ursache für krankhaften Altruismus kann in
nicht zu sagen, wohin sie, bei den Allermeisten, einem unerfüllten Bedürfnis nach Anerkennung und
ausschlagen würde. (Schopenhauer 1841, Akzeptanz liegen. Außerdem kann er dazu dienen,
S. 200) ein labiles Selbst zu festigen, indem sich die Person
durch ihr Hilfeverhalten unersetzlich und wertvoll
Die Weltfinanz- und Wirtschaftskrise, mitverschul- macht. Ein krankhafter Altruismus kann auch Aus-
det durch egoistische Risikospiele Einzelner zulas- druck von Schuldgefühlen sein, z. B. dem Glauben,
ten der globalen Finanzwelt, spricht dafür. Auch der „unverdient“ glücklich zu sein, welche durch Helfen
Klimawandel, mitverursacht durch die egoistische gelindert werden können. Teils kann er auch auf eine
Maximierung der Wirtschaftskraft zulasten unseres psychische Erkrankung, z. B. eine abhängige Persön-
Planeten und den zukünftig darauf lebenden Gene- lichkeitsstörung, zurückgeführt werden. Das Waisen-
rationen, unterstützt Schopenhauers These. mädchen trägt Züge eines krankhaften Altruisten. Es
Ist die Feststellung des Nobelpreisträgers für vernachlässigt selbstlos die Erfüllung seiner eigenen
Literatur John Steinbeck zutreffend, dass mensch- Grundbedürfnisse und stellt sie hinter den Bedürf-
liche Eigenschaften wie Güte, Großzügigkeit und nissen der anderen zurück. Was wäre mit ihm gesche-
Gefühl in unserer Gesellschaft Symptome des Ver- hen, wenn die Sterne nicht vom Himmel gefallen
sagens seien, wogegen Habgier, Gewinnsucht und wären? Es wäre vermutlich verhungert oder erfroren.
Egoismus Merkmale des Erfolgs darstellten, sollten Für den Altruismus muss das richtige Maß
uns das Waisenmädchen und seine altruistische gefunden werden, sodass sich der Helfer nicht selbst
34 Kapitel 5 · Die Sterntaler von den Gebrüdern Grimm (1819)

zerstört. Wahrer Altruismus gründet nicht in über- einer Stufe müssen größtenteils erfüllt sein, damit
triebener Selbstlosigkeit, sondern im Bewusstsein die Bedürfnisse auf der nächsthöheren Stufe geweckt
über die eigenen Bedürfnisse und im Einfühlungs- werden. Je höher ein Bedürfnis in der Pyramide
vermögen gegenüber den Bedürfnissen unserer Mit- angeordnet ist, umso weniger bedeutsam ist es für
menschen (vgl. Ernst 2012; Gielas 2012). unser bloßes Überleben und umso länger kann seine
Erfüllung aufgeschoben werden. Die Erfüllung von
z Fragen zur Reflexion höheren Bedürfnissen macht uns zufriedener als die
44Wo und warum helfe ich? Erfüllung von niederen Bedürfnissen. Unerfüllte
44Wie kann ich meine Stärken, Wissen, Bedürfnisse lösen Verhaltensweisen zur Erfüllung
Ressourcen etc. einsetzen, um effektiv zu dieser aus und stellen somit den Motor für unser Ver-
5 helfen? halten dar.
44Wie sieht mein Verhältnis zwischen selbst Maslows Bedürfnispyramide ist wissenschaft-
helfen und Hilfe erhalten aus? lich nicht zweifelsfrei haltbar, da insbesondere die
44Wie können andere Menschen mir helfen? Abfolge der Stufen nicht bestätigt ist. Dennoch bietet
sein Modell einen Rahmen zur Betrachtung mensch-
licher Bedürfnisse ausgehend von einem positiven
5.3.3 Bedürfnisse Menschenbild, welches das uns innewohnende
Wachstumspotenzial und Streben nach Selbstver-
Das Waisenmädchen begibt sich auf eine Reise, um wirklichung betont (Gerrig u. Zimbardo 2008).
seiner Einsamkeit zu entfliehen. Seine Reise endet, Auf welcher Stufe der Bedürfnispyramide ordnen
als die Sterne als Silbertaler vom Himmel fallen und Sie das Waisenmädchen ein? Es befindet sich auf der
es sich vom Waisenmädchen aus ärmsten Verhält- untersten Stufe, da lediglich seine physiologischen
nissen zu einer Multimillionärin verwandelt. In Bedürfnisse durch sein Stückchen Brot und seine
diesem Abschnitt werden die menschlichen Bedürf- Kleidung auf kurze Sicht erfüllt sind. Es lebt ohne
nisse anhand der Bedürfnispyramide von Abraham die Sicherheit eines Zuhauses, ohne die Bindung an
Maslow erklärt, näher auf Glück durch materielle Familie oder Freunde und ohne die Wertschätzung
Werte eingegangen und die neusten Forschungs- oder gar Dankbarkeit der Bedürftigen, denen es zur
ergebnisse zum Sinn des Lebens vorgestellt. Hilfe kommt. Aufgrund dieser Defizite in seiner
Bedürfniserfüllung scheint eine Selbstverwirkli-
chung laut Maslow nicht möglich. Schließlich löst
Bedürfnispyramide von Maslow sein Bedürfnis nach Bindung (nicht sein Bedürfnis
Abraham Maslow (1978) beschreibt menschliche nach Sicherheit, wie es Maslows Abfolge vielleicht
Bedürfnisse mithilfe einer Bedürfnispyramide. Er implizieren könnte) den Aufbruch auf die Suche nach
unterscheidet zwischen folgenden Bedürfnissen, einem besseren Leben aus. Im Rahmen der Erzäh-
wobei Selbstverwirklichung die höchste Stufe und lung werden zunächst seine physiologischen und
physiologische Bedürfnisse die Basis bilden: Sicherheitsbedürfnisse durch die vom Himmel fal-
1. Physiologische Bedürfnisse (z. B. Nahrung, lenden Silbertaler erfüllt. Das reiche Waisenmädchen
Unversehrtheit) kann nun Nahrung, Kleidung und eine Unterkunft
2. Sicherheit (z. B. Angstfreiheit, finanzielle erwerben und auf Lebenszeit eine finanzielle Sicher-
Absicherung) heit genießen.
3. Bindung (z. B. Liebe, Anschluss)
4. Wertschätzung (z. B. Kompetenz,
Anerkennung) Easterlin-Paradoxon
5. Selbstverwirklichung Wie beurteilen Sie das Ende des Märchens? Erlebt
das Waisenmädchen tatsächlich ein „Happy End“
Diese fünf Bedürfnisgruppen sind entsprechend durch seinen materiellen Reichtum?
ihrer Vormachtstellung hierarchisch auf den Stufen Der Ökonom Richard Easterlin erklärt mit-
einer Pyramide angeordnet. Die Bedürfnisse auf hilfe des Easterlin-Paradoxons den Zusammenhang
Literaturverzeichnis
35 5
zwischen materiellem Reichtum und Glück. Laut z Fragen zur Reflexion
diesem schafft steigendes Einkommen nur bis zu 44Welche Bedürfnisse sind der Motor für mein
einem bestimmten Punkt mehr Lebensglück. Sind Verhalten?
die grundlegenden Bedürfnisse erfüllt, stagniert die 44Wie kann ich mich selbst verwirklichen?
Glückskurve und fällt dann, trotz weiter steigen- 44Wie viel Wert messe ich materiellen Dingen
dem Einkommen, sogar leicht ab. Die Erklärung für bei?
diesen Verlauf liegt darin, dass mit steigendem Ein- 44Wie kann ich mein Leben generativ gestalten?
kommen die Erwartungen an noch mehr Wohlstand
wachsen. Die Lücke zwischen den Erwartungen und
dem tatsächlichen Einkommen nehmen wir negativ 5.4 Fazit
wahr. Dies mindert unsere Lebenszufriedenheit und
verhindert den weiteren Anstieg des Glückslevels Märchen haben die Aufgabe, zur Sittenlehre und
(Tenzer 2015). als Erziehungsbuch zu dienen. Sie enthalten Richt-
Wir wissen also nicht, ob das Märchen tatsäch- linien für Verhalten in verschiedenen Lebenslagen
lich glücklich endet, da das Bedürfnis nach Bindung, für Erwachsene und Anleitungen zur Erziehung von
nach dessen Erfüllung das Waisenmädchen eigent- Kindern. Laut den Gebrüdern Grimm fungiert das
lich sucht, zunächst unerfüllt bleibt. Allerdings Waisenmädchen aus Sterntaler als Vorbild für einen
sind durch seinen materiellen Reichtum diejenigen guten Christen, der sich durch seine Tugendhaftig-
Bedürfnisse erfüllt, die sein Überleben sicherstel- keit und Nächstenliebe auszeichnet (vgl. Uther 1996).
len und deren Erfüllung nicht aufgeschoben werden Was können wir von dem Waisenmädchen lernen?
kann. Die weitere Zukunft des nunmehr reichen Wai- Seine hoffnungsvolle Überzeugung über den eigenen
senmädchens bleibt Ihrer Fantasie überlassen. Einfluss auf sein Leben, sein Mitgefühl und altruis-
tisches Hilfeverhalten können uns als Richtlinien
dienen. Allerdings sollten uns auch die negativen
Generativität Seiten seines Hilfeverhaltens, sein krankhafter Alt-
Die Bedingungen für die Erfüllung unserer Bedürf- ruismus und die schädliche Vernachlässigung seiner
nisse stehen heute so günstig wie nie. Laut Maslow eigenen Bedürfnisse als Warnung gelten. Das Wai-
können satte, sichere, geliebte und wertgeschätzte senmädchen ist uns Vorbild und Mahnung zugleich.
Menschen dennoch unglücklich sein, wenn sie nicht
danach streben, sich selbst zu verwirklichen und ihr
innewohnendes Potenzial zu entfalten. Literaturverzeichnis
Neue Forschungsergebnisse zum Sinn des Lebens
Batson, C. D. (1991). The altruism question: Toward a social-­
(Schnell 2009) zeigen jedoch, dass das Streben nach psychological answer. Hillsdale, NJ: Erlbaum
Selbstverwirklichung und ausgeprägter Individua- Bierhoff, H.-W. (2008). Theorien hilfreichen Verhaltens. In:
lität eher wenig zur Sinnerfüllung beiträgt. Unser D. Frey, & M. Irle (Hrsg.), Theorien der Sozialpsychologie.
Leben wird dagegen umso sinnstiftender, je stärker Band II: Gruppen-, Interaktions- und Lerntheorien (2. Aufl.,
wir es in einen das Ich überschreitenden Zusam- S. 178–197). Bern: Huber.
Ernst, H. (2012). Auch ein Altruist braucht mal Hilfe. https://
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men. Generativität als wichtigste Sinnquelle bedeu- auch_ein_altruist_braucht_mal_hilfe/. Zugegriffen:
tet, etwas von bleibendem Wert zu schaffen, unsere 29. September 2016.
Erfahrungen und Wissen weiterzugeben, uns den Frey, D., & Jonas, E. (2002). Die Theorie der kognizierten Kont-
rolle. In: D. Frey, & M. Irle (Hrsg.), Theorien der Sozialpsycho-
zukünftigen Generationen und der Menschheit im
logie. Band III: Motivations-, Selbst- und Informationsver-
Allgemeinen verpflichtet zu fühlen und danach zu arbeitungstheorien (2. Aufl., S.13–50). Bern: Huber.
handeln. Allerdings sollten wir uns nicht nur für uns Gerrig, R. J., & Zimbardo, P. G. (2008). Psychologie (18. Aufl.).
selbst, aber auch nicht nur für andere einsetzen. Wie München: Pearson.
beim Altruismus gilt es auch hier, das richtige Maß Gielas, A. (2012). Fragwürdige Nächstenliebe. https://www.
psychologie-heute.de/archiv/detailansicht/news/frag-
zu finden.
36 Kapitel 5 · Die Sterntaler von den Gebrüdern Grimm (1819)

wuerdige_naechstenliebe/. Zugegriffen: 29. September


2016.
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gesammelt durch die Brüder Grimm: Große Ausgabe (Bd. 2,
2. Aufl.). Berlin: G. Reimer.
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behandelt in zwei akademischen Schriften. Frankfurt a. M.:
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Tenzer, E. (2015). Glück lässt sich nicht steigern. Psychologie
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Uther, H.-J. (1996). Handbuch zu den „Kinder- und Hausmär-
chen“ der Brüder Grimm. Berlin: Walter de Gruyter.
37 6

Die Prinzessin auf der Erbse


von Hans Christian Andersen
(1837)
Kim Borrmann

6.1 Inhalt des Märchens – 38

6.2 Die Charaktere – 38

6.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 39


6.3.1 Partnerwahl – 39
6.3.2 Testverfahren – 40
6.3.3 Sensibilität und Sensitivität – 42

6.4 Fazit – 43

Literaturverzeichnis – 44

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_6
38 Kapitel 6 · Die Prinzessin auf der Erbse von Hans Christian Andersen (1837)

6.1 Inhalt des Märchens Der Prinz nahm sie zur Frau, und sie lebten glücklich
bis an ihr Lebensende.
Es war einmal ein Prinz, der wollte eine Prinzessin (Andersen 2010; . Abb. 6.1)
heiraten. So reiste er um die ganze Welt, um eine pas-
sende Gemahlin zu finden. Er konnte aber nie her-
ausfinden, ob es sich bei den vielen Prinzessinnen, 6.2 Die Charaktere
die er traf, auch wirklich um echte handelte, da stets
irgendetwas nicht stimmte. Traurig kehrte er nach In dem recht kurzen Märchen „Die Prinzessin auf
Hause zurück. der Erbse“ werden die Charaktere nicht sehr ein-
Am Abend eines furchtbaren Sturmes klopfte es gehend beschrieben, sondern der Verlauf der
auf einmal an der Tür. Eine Frau, vom Sturm zerzaust, Geschichte durch ihr Handeln und letztlich Emp-
bat um Einlass, denn sie, so ihre Behauptung, sei eine finden bestimmt.
echte Prinzessin. Die alte Königin ließ sie hinein, war Der Prinz sucht eine geeignete Partnerin und ist
6 aber sehr skeptisch, da sie so durchnässt gar nicht wie dabei sehr wählerisch. Dem sozialen Stand der Aus-
eine schöne Prinzessin aussah. Die Königin berei- zuwählenden kommt dabei eine große Bedeutung
tete ihr eine Schlafkammer vor und nahm, um die zu: Es muss eine Prinzessin sein. Da er keine pas-
vermeintliche Prinzessin zu testen, zwanzig Matrat- sende Frau für sich finden kann, gibt er seine Suche
zen und zwanzig Daunendecken und legte ganz nach traurig auf.
unten eine kleine Erbse. Eine geeignete Prinzessin erscheint durch Zufall
Am nächsten Morgen fragte sie die Prinzessin, direkt an seinem Tor. Ihre äußere Erscheinung und
wie sie geschlafen hätte. Die Prinzessin antwortete: das fehlende Gefolge lassen ihre Behauptung, eine
„Ganz furchtbar. Etwas Hartes war in meinem Bett, Prinzessin zu sein, ausgesprochen unglaubwürdig
ich konnte kaum ein Auge zu machen und bin ganz erscheinen – trotzdem gewährt man ihr Obhut im
blau und grün.“ Nun wusste die Königsfamilie, dass Schloss. Ohne ihr Wissen absolviert sie erfolgreich
die Prinzessin die Wahrheit gesprochen hatte, denn einen Test, bei dem ihre über alle Maße ausgeprägte
so feinfühlig konnte nur eine echte Prinzessin sein. Sensibilität gefragt ist.

. Abb. 6.1  (Zeichnung: Claudia


Styrsky)
6.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
39 6
Der Königin fällt die Rolle zu, den Test mit- Physische Attraktivität
hilfe von zwanzig Matratzen und zwanzig Dau- Der Effekt „What is beautiful is good“ (Wer schön
nendecken, unter denen sie eine Erbse platziert, ist, ist auch gut) beschreibt, dass attraktive Personen
durchzuführen. allgemein positiver bewertet und behandelt werden
(Dion et al. 1972; Smith u. Mackie 2007). Auch die
Prinzessin wird – in ihren durchweichten Kleidern
6.3 Psychologische Phänomene und und mit durch den Regen verunstalteter Frisur –
Implikationen zunächst misstrauisch beäugt. Attraktivität scheint
ein wichtiges Merkmal einer echten Prinzessin (res-
Ein zentrales Thema des Märchens ist die Suche pektive der „Richtigen“) zu sein.
des Prinzen nach der „Richtigen“. Viele Menschen Universelle Kriterien für Schönheit sind z. B.
beschäftigen sich mit der Suche nach der Märchen- glatte Haut sowie ein symmetrisches und durch-
prinzessin oder dem Märchenprinzen. Wonach wir schnittliches Gesicht, das genetische Gesundheit
unsere Partner auswählen (und was uns in Beziehun- indiziert und durch die häufige Wahrnehmung
gen dann glücklich macht) wird in 7 Abschn. 6.3.1 als positiver bewertet wird. Bei Männern werden
thematisiert. dominante Gesichtszüge wie eine markante Kinn-
Die alte Königin war der Prinzessin gegen- linie als universell schön empfunden. Männern ist
über zunächst skeptisch und testete sie aus diesem physische Attraktivität in der Partnerwahl wichti-
Grund mit einer Erbse. Der Test erscheint zunächst ger als Frauen (Buss u. Barnes 1986). Bei Frauen
seltsam. Einigen von Ihnen dürfte auch schon der gilt als schön, was jung aussieht, z. B. ein rundes
eine oder andere Test im Leben über den Weg gelau- Gesicht, da ein jüngeres Alter für eine höhere Fer-
fen sein, von dem Sie insgeheim gedacht haben, dass tilität spricht.
er nicht zu schaffen oder wenig sinnvoll sei. Der Entscheidend für lange Beziehungen ist jedoch,
7 Abschn. 6.3.2 soll daher den Sinn und die Funktion dass das Attraktivitätsniveau von Partnern zusam-
von Tests behandeln. menpasst, also ähnlich ist, und nicht, dass es mög-
Anschließend rückt die Prinzessin in den Fokus. lichst hoch ist. Für Langzeitbeziehungen sind zudem
Wer Kinder hat oder welche kennt, wird möglicher- ähnliche Einstellungen und wünschenswerte Per-
weise folgende Frage hören: „Warum kann denn sönlichkeitseigenschaften wichtiger als Attraktivität
die Prinzessin die Erbse spüren und ich nicht?“ (Regan et al. 2000).
Nun, es scheint, dass die Prinzessin auf der Erbse
eine außergewöhnliche Feinfühligkeit besitzt. In
7 Abschn. 6.3.3 werden in diesem Zusammenhang Positive Interaktionen
das Phänomen der Sensibilität und Sensitivität Häufige positive Interaktion führt ebenfalls dazu,
näher erläutert. dass wir jemanden mögen bzw. anziehend finden.
Interaktion mit anderen Menschen hilft uns nicht
nur, die Welt besser zu verstehen, sie führt auch dazu,
6.3.1 Partnerwahl dass unser Bedürfnis nach Verbundenheit erfüllt
wird (Smith u. Mackie 2007). Da wir Menschen, mit
Der Prinz reiste durch die ganze Welt, um „die denen wir häufig interagieren, positiver wahrneh-
Eine“ zu finden. Letztendlich hat immer etwas nicht men, ist es wahrscheinlicher, dass wir uns in unseren
gepasst. Kollegen/Kommilitonen/Nachbarn verlieben als in
Was führt eigentlich dazu, dass wir jemanden auf einen Fremden.
den ersten Eindruck anziehend finden und was ist für Etwas von sich Preis zu geben (Selbstoffenba-
Langzeitbeziehungen wichtig? Hierzu wird im Fol- rung), z. B. persönliche Erlebnisse, Gedanken oder
genden eine Auswahl psychologischer Phänomene Gefühle, führt letztendlich dazu, dass Intimität ent-
vorgestellt. steht (Aron et al. 1997). Und Intimität ist sowohl
40 Kapitel 6 · Die Prinzessin auf der Erbse von Hans Christian Andersen (1837)

wichtig für das Gefühl der Verliebtheit wie auch den Prinz davon ausgehen, dass die Prinzessin in einem
Erhalt der Liebe (Aron u. Westbay 1996). ähnlichen Umfeld wie der Prinz aufgewachsen ist
und beide daher ähnliche Eigenschaften aufweisen.
Sowohl physische als auch psychische Ähnlich-
Ähnlichkeit keit können ein Prädiktor für glückliche Beziehun-
Es muss eine echte Prinzessin sein, denn schließlich gen sein. Geeignete Partner lassen sich anscheinend
ist auch er ein echter Prinz – und wir mögen Men- vor allem in unserer direkten Umgebung finden –
schen, die uns ähnlich sind. Ähnlichkeit führt dazu, sie sind uns vertraut und vermutlich auch ähnlich.
dass wir unser Gegenüber als attraktiver wahrneh- Ähnlich zu sein bedeutet natürlich nicht, gleich zu
men (Smith u. Mackie 2007). sein. Es gibt daneben sich ergänzende Eigenschaf-
Wenn wir Aktivitäten ausführen, die uns wichtig ten wie Dominanz und Subdominanz, aber gerade
sind oder Spaß machen, ist es wahrscheinlich, dort in unseren Kerneigenschaften und Überzeugungen
auf Menschen zu treffen, denen es ähnlich geht. sollten wir übereinstimmen, damit die Partnerschaft
6 Wir nehmen außerdem an, dass Menschen, die eine gemeinsame Zukunft hat.
uns ähnlich sind, uns mögen; das wiederum ist der Letztendlich ist das Rätsel der richtigen Partner-
stärkste Grund, jemanden ebenfalls zu mögen. wahl (und der Liebe) von Psychologen nicht gänz-
Hinzu kommt positive Selbstbestätigung , lich gelöst. Um dem Rätsel der Liebe weiter auf die
indem wir Werte und Annahmen des anderen als Spur zu kommen, sind ebenso biologische Aspekte
wünschenswert erachten, wenn wir eben jene auch relevant. Soziobiologen fanden z. B. heraus, dass der
aufweisen. Frauen wie Männer präferieren bei Körpergeruch entscheidend für gegenseitige Anzie-
ihrer Partnerwahl zudem Menschen mit ähnlichen hung ist. Je besser wir jemanden riechen können,
Persönlichkeitseigenschaften. desto unterschiedlicher sind unsere Immunsysteme,
was von Vorteil für den Nachwuchs ist (Wedekind
et al. 1995). Wir haben also durchaus Vorstellungen
Persönlichkeit darüber, wie wahrscheinlich es ist, dass sich Men-
Frauen sind prinzipiell anspruchsvoller als Männer, schen aufgrund physischer und psychischer Eigen-
was die Persönlichkeit ihres Partners angeht – evo- schaften als anziehend erleben – es bleibt aber hin-
lutionsbiologisch ist das sehr gut nachvollziehbar, da reichend Raum für den „magischen Funken“.
sie sich darauf verlassen müssen, dass sie z. B. nicht
schwanger alleine gelassen werden. Sie bevorzugen
Männer, die sozial erwünschte Eigenschaften auf- 6.3.2 Testverfahren
weisen und z. B. sehr freundlich, fair, ambitioniert,
extrovertiert, großzügig, intelligent und offen sind. Auch wenn der Test der Königin nicht sofort ein-
Prinzipiell wünschen sich Männer und Frauen leuchtend erscheint, so erfüllt er doch seine Funk-
emotional stabile, intelligente, verträgliche und tion und scheint für das Milieu und das Anforde-
gewissenhafte Partner. Tatsächlich sind Paare in rungsprofil einer Prinzessin angemessen zu sein.
ihrer Ehe und sexuell zufriedener, wenn ihre Partner Denn letztlich erfüllt er seinen Zweck: Die Familie
insbesondere verträglich und emotional stabil sind und der Prinz wissen, dass es sich um eine echte
sowie offen und intelligent (Botwin et al. 1997). Prinzessin handelt und die beiden werden glücklich
miteinander.
Im Laufe des Lebens müssen wir viele Tests
Implikationen für die Lebensgestaltung durchlaufen – Matheklausuren, Führerscheinprü-
Der Prinz hat letztendlich nach dem Prinzip der Ähn- fung, Schwangerschaftstests etc. Nicht alle Tests
lichkeit gewählt, wobei aus der Geschichte lediglich erscheinen uns dabei auf den ersten Blick sinn-
hervorgeht, dass sie ebenfalls eine Adlige ist (was voll. Wie soll z. B. ein normaler Mensch eine Erbse
sie durch ihre Feinfühligkeit bewiesen hat). Ob der unter zwanzig Matratzen spüren? Der Einsatz eines
Prinz die Erbse ebenfalls gespürt hätte, können wir geeigneten Tests liefert jedoch ein besseres Ergeb-
nur spekulieren. Allerdings können wir und der nis als eine intuitive Bauchentscheidung. Hätte die
6.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
41 6
Königsfamilie nur nach dem Äußeren der Prinzes- Online-Dating-Plattformen bietet die Präsentations-
sin geurteilt, wäre sie, durchnässt wie sie war, ver- form der Selbstdarstellung viel Raum zur Beschöni-
mutlich abgelehnt worden, obwohl sie alle Kriterien gung. Auch ohne Manipulation kann uns ein Test
erfüllt. Tests können uns also helfen, zuverlässigere niemals 100%ige Sicherheit geben – das geht nur im
und angemessenere Urteile zu fällen. Märchen.

Implikationen für die Lebensgestaltung Implikationen für die Erziehung


Im Märchen, wie im Leben sehr vieler Menschen Eine der ersten Assoziationen die wir haben, wenn
spielt die Suche nach dem Partner eine große Rolle wir „Test“ hören, ist wahrscheinlich die Schul- und/
(7 Abschn. 6.3.1). Psychologen und Nichtpsycholo- oder Studienzeit. Ständig wurde unser Wissensstand
gen haben mit Tests versucht, dem Rätsel der Liebe getestet und mit Noten bewertet, welche zunehmend
auf die Spur zu kommen. mehr unseren beruflichen Werdegang determinie-
Aron et al. (1997) fanden beispielsweise heraus, ren. Welcher Studiengang ist beispielsweise noch
dass ein Katalog mit 36 ausgesuchten Fragen dazu Numerus clausus frei?
führt, dass sich zwei Menschen binnen 4 Stunden Das setzt bereits Kinder (natürlich individuell
auf einmal sehr viel näher stehen (teilweise sogar unterschiedlich) häufig unter Stress, und deshalb
verlieben). Frage 10 lautet z. B.: „Wenn du etwas sind Tests oft mit negativen Gefühlen besetzt. Tat-
daran ändern könntest, wie du erzogen wurdest, sächlich sind Tests in der Schule jedoch sehr sinn-
was würdest du ändern?“ In der letzten Frage soll voll. Roediger et al. (2011) fanden einige Vorteile von
die Person ein persönliches Problem beschreiben Tests – abgesehen von der notwendigen Benotung:
und die andere um Rat und ihre Einschätzung zu den Das Wiederholen von Wissen in Tests führt zu einer
eigenen Gefühlen bezüglich des Problems fragen. besseren Erinnerungsleistung und kann wiederum
Die Themen, die anhand dieser Fragen aufkommen, auf andere Situationen übertragen werden. Gerade
führen dazu, dass intime Gedanken ausgetauscht Tests mit offenen Fragen führen dazu, dass Fakten
werden, und Intimität ist ein wichtiger Aspekt von miteinander verknüpft werden und dadurch ein Wis-
Liebe. senstransfer stattfindet. Darüber hinaus führen Tests
Diese Fragen sollte man übrigens nicht jedem dazu, dass Kinder mehr lernen und sowohl sie selbst
stellen, denn nicht jeder, in den man sich verlie- als auch die Lehrer erkennen, wo noch Wissenslü-
ben kann, ist auch der richtige Partner! Botwin et al. cken bestehen. Testen kann also nicht nur Leistung
(1997) zeigten, dass insbesondere die Paare glück- messen, sondern auch verbessern.
lich in ihrem Liebes- und Sexleben waren, die einen Beachtet werden sollte natürlich, dass nicht alle
emotional stabilen und verträglichen Partner Kinder (und Erwachsenen) in Tests die Leistung
haben. Herkömmliche Online-Dating-Plattformen abrufen können, die sie außerhalb der Stresssituation
matchen nach dem Prinzip der ähnlichen Eigen- eines Tests erbringen könnten. Deswegen sollte sich
schaften und Interessen. Und immerhin 20 % der jeder Testende fragen, ob der Test genau misst und
derzeitigen Beziehungen in den USA haben online vor allem ob er das geeignete Messinstrument dar-
begonnen (Statistic Brain Research Institute 2015). stellt. Eltern können zudem den Leistungsdruck der
Gottmann et al. (1998) beschäftigten sich mit der Art Kinder verringern (oder gar nicht erst aufkommen
und Weise, wie frisch verheiratete Paare kommuni- lassen), wenn sie ihnen signalisieren, dass es neben
zieren, und konnten dadurch relativ zuverlässig vor- der Schule auch andere wichtige Themen wie Familie,
hersagen, wie zufrieden und stabil die Beziehung in 6 Freunde und Hobbys gibt.
Jahren sein würde. Tests können also sowohl Intimi-
tät (Liebe) fördern als auch der Überprüfung dienen,
ob Menschen füreinander geeignet sind. Implikationen für die Führung
Dabei sollte natürlich nicht vergessen Eine Aufgabe von Führungskräften ist, Mitarbei-
werden, dass Tests absichtlich oder unabsicht- ter auszuwählen. Gerade in der heutigen Zeit ist es
lich manipuliert werden können – gerade bei wichtig, nicht aufgrund von Geschlecht, ethnischer
42 Kapitel 6 · Die Prinzessin auf der Erbse von Hans Christian Andersen (1837)

Zugehörigkeit oder ähnlichen Merkmalen zu ent- Bevölkerung zu den hochsensitiven Personen zählen,
scheiden. Nicht nur um sich politisch korrekt zu und ist überzeugt, dass diese Eigenschaft angeboren
verhalten, sondern auch weil Entscheidungen „aus ist. Wie auch im Märchen ist dies nichts, was man
dem Bauchgefühl“ häufig durch stereotype Vorstel- vortäuschen könnte. Es ist auch keine Eigenschaft,
lungen verzerrt werden, was wiederum dazu führt, die erlernt werden kann.
dass nicht unbedingt die am besten qualifizierte
Person gewählt wird. Die beruflichen Fähigkeiten
sind nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich, Repression und Sensitivität
Schul- und Arbeitszeugnisse geben nur erste Hin- Schon in den 1940er-Jahren fanden Forscher heraus,
weise zur grundsätzlichen Eignung. dass Menschen unterschiedlich auf bedrohliche
Eine gute Vorhersagekraft für die erfolgrei- Reize reagieren (Bruner u. Postman 1947). Die eine
che Ausführung einer Position bieten Intelligenz- Gruppe brauchte besonders lange, die andere beson-
tests, Arbeitsproben und strukturierte Interviews ders wenig Zeit, um bedrohliche Reize wahrzuneh-
6 (Schmidt u. Hunter 2000). Zu beachten ist dabei, dass men. Es wird daher angenommen, dass Menschen
bei gering strukturierten im Vergleich zu strukturier- sich danach unterscheiden, ob sie eine kritische
ten Interviews das äußere Erscheinungsbild und die Situation dadurch meistern, dass sie diese mög-
Selbstdarstellung einen viel größeren Einfluss haben lichst wenig oder im Gegenteil möglichst intensiv
(Barrick et al. 2009). zur Kenntnis nehmen. Beide Strategien bieten Vor-
Entscheidend für eine gute Auswahl ist es, die und Nachteile.
gewünschten Kriterien vorher zu definieren und die Bei der Repressionsstrategie, also dem „Nicht-
Tests auf diese abzustimmen. Wenn das Jobprofil z. B. wahrnehmen“, reagiert man unter Umständen zu
verlangt, außerordentlich feinfühlig zu sein, dann ist spät. Andererseits spart man Energie, wenn der Reiz
die Erbse der richtige Test – auch wenn dies für den gar nicht so bedrohlich ist (wie die Erbse) oder es
Bewerber nicht unbedingt plausibel erscheinen mag. gar keine Möglichkeit gibt, etwas an der Situation zu
ändern. Man hat bei Repressern festgestellt, dass sie
häufiger an Krebs- oder Herzerkrankungen leiden,
6.3.3 Sensibilität und Sensitivität da sie vermutlich gering ausgeprägte Symptome
weniger wahrnehmen und seltener zum Arzt gehen.
Die Eigenschaft, die die Prinzessin als wahre Prin- Die Sensitivitätsstrategie, also sehr aufmerk-
zessin auszeichnet, ist ihre im Übermaß vorhandene sam zu sein, bindet viele Energien und führt dazu,
Feinfühligkeit. In der Geschichte kommt ihr das sehr dass man schneller erschöpft ist. Sensible Menschen
gelegen, denn so „erobert“ sie ihren Prinzen. leiden daher auch häufiger an psychosomatischen
Wie sähe das jedoch in der realen Welt aus? In Erkrankungen (d. h. unter physischen Schmer-
der Psychologie sprechen wir von hochsensiblen zen, die auf keine organische, sondern psychische
oder -sensitiven Menschen. Nach Heintze (2013) Ursache zurückzuführen sind). Die Strategie ist ins-
beschreibt Hochsensibilität die besonders feine Aus- besondere ein Vorteil, wenn dadurch Dinge wahrge-
prägung der fünf Sinne (Fühlen/Tasten, Riechen, nommen werden, die andere nicht wahrnehmen. In
Schmecken, Sehen und Hören). Wie die Prinzessin früheren Zeiten der Menschheitsgeschichte könnten
auf der Erbse nehmen diese Menschen Reize geringer das z. B. Nahrungsquellen gewesen sein. Heutzutage
Intensität besser wahr als andere. Hochsensitivität können hochsensitive Menschen dadurch profitie-
beschreibt einen sechsten oder siebten Sinn. Diese ren, dass sie durch das stärkere Erleben ihrer eigenen
Menschen sind beispielsweise besonders empa- Emotionen besser verstehen, was Menschen fühlen
thisch und nehmen daher Dinge wahr, die andere und bewegt. Dies können sie z. B. nutzen, um inno-
nicht registrieren. Hochsensibilität und Hoch- vative Produkte und Ideen zu entwickeln, welche die
sensitivität treten oft gemeinsam auf. Aron (1997) Bedürfnisse von Konsumenten erfüllen.
beschreibt mit der hochsensitiven Person Menschen, Bei der Prinzessin hat ihre Sensitivität als Erken-
die sowohl hochsensitiv als auch hochsensibel ist. Sie nungsmerkmal gedient, durch das sie letztendlich die
nimmt an, dass ca. ein Sechstel bis ein Fünftel der zu ihr passende Umgebung gefunden hat.
6.4 · Fazit
43 6
Hochsensitivität Implikationen für die Lebensgestaltung
Aron (1997) beschreibt folgende Phänomene , Zunächst einmal ist es wichtig, wahrzunehmen
anhand derer man erkennen kann, ob man selber und zu akzeptieren, dass man hochsensibel und/
oder vielleicht jemand, der einem nahesteht, eine oder hochsensitiv ist. Dazu gehört, sich einzuge-
hochsensitive Person ist: stehen, dass der Lebensstil unserer Kultur, in dem
1. An der Prinzessin sehen wir, dass sie Dinge ununterbrochen Informationen und Eindrücke auf
wahrnimmt, die andere Menschen nicht uns einprasseln, überfordernd und anstrengend
wahrnehmen – hier die Erbse unter zwanzig sein kann. Für hochsensible Menschen empfiehlt es
Matratzen und Daunenbetten. Das ist auf alle sich, das Stressniveau moderat zu halten. Sie sollten
hochsensiblen Menschen übertragbar, die mit sich mehrere Stunden am Tag nehmen, in denen
allen ihren Sinnen mehr Details als andere ihre Umgebung möglichst reizarm ist. Zeit für sich
Menschen wahrnehmen. Das ist eine besondere ermöglicht ihnen häufig produktiver zu sein. An
Begabung, die man wertschätzen sollte. einem Tag in der Woche sollte gar nicht gearbeitet
2. Die erhöhte Wahrnehmung führt aber auch werden. Regelmäßige Auszeiten wie Urlaube sind
dazu, dass man schneller gestresst ist als andere ebenfalls wichtig.
Menschen, da viel mehr Informationen auf 80 % der Reize nehmen wir über die Augen wahr,
einen einwirken. Hochsensible Menschen sind deshalb ist es wichtig, dass insbesondere hochsen-
daher schneller übererregt oder -stimuliert. Bei sible Menschen genug schlafen – und wenn sie nicht
der Prinzessin drückt sich das in Schlafprob- schlafen können, trotzdem ausreichend Zeit im Bett
lemen und sogar körperlichen Schmerzen aus. zu verbringen. Regelmäßige Mahlzeiten steigern
3. Daneben nehmen hochsensitive Personen ebenfalls das Wohlbefinden und die Konzentra-
nicht nur mehr Dinge wahr, die man sehen, tionsfähigkeit. Unter den richtigen Lebensumstän-
hören oder taktil erfassen kann. Sie nehmen den kann die ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit
zudem stärker wahr, wie es den Menschen in viele Vorteile im Privat- und Berufsleben mit sich
ihrer Umgebung geht. Sie können sich sehr bringen.
gut in andere hineinversetzen und sind sehr Anders zu sein, bedeutet auch, andere Möglich-
empathisch. Sollte die Prinzessin zu ihrer keiten zu haben. Hochsensitive Personen sind in der
Hochsensibilität auch hochsensitiv sein, kann Regel loyal und gewissenhaft. Sie verfügen über eine
sie möglicherweise spüren, dass die Königin ihr gute Intuition und sind kreativ. Zudem verstehen
gegenüber zunächst misstrauisch und der Prinz sie, was Menschen brauchen. Sie sollten versuchen,
traurig ist, weil er keine Partnerin findet. ihre Sensitivität als Chance wahrzunehmen, und sich
4. Schließlich verarbeiten hochsensitive Personen Umgebungen (z. B. einen Arbeitsplatz) suchen, an
die vielen aufgenommenen Informationen denen ihr Potenzial anerkannt und geschätzt wird.
tiefer als andere Menschen. Dies führt u. a. Sehr wichtig ist, auch Zeit mit guten Freunden zu
dazu, dass sie sich besser an Dinge oder Ereig- verbringen, die Verständnis zeigen und die spezielle
nisse erinnern können. Sensitivität als wertvolle Ressource erkennen.

Auch wenn hier das Beispiel der Prinzessin, d. h.


einer Frau, gewählt wurde, sind laut Aron (1997) 6.4 Fazit
etwa 20–25 % der hochsensitiven Personen Männer.
Abschließend kann man sagen, dass sich die Trotz der Kürze des Märchens bringt jeder der drei
Prinzessin glücklich schätzen kann, diese Sensi- Charaktere ein spannendes psychologisches Thema
bilität zu haben. Zum einen hat sie dadurch ihren hervor. Durch den Prinzen haben wir erfahren,
Prinzen bekommen, zum anderen kann sie ihr auch dass der oder die Richtige uns häufig ähnlich ist
in anderen Lebensbereichen viele Vorteile bringen. und in der Regel in der nahen Umgebung gefunden
Entscheidend ist letztendlich, die passende Umge- werden kann. Die alte Königin hat uns vor Augen
bung zu finden (wie in der Königsfamilie), in der geführt, dass ein gut gewählter Test – und mag er
diese Eigenschaften geschätzt werden. manchmal seltsam erscheinen – häufig zu besseren
44 Kapitel 6 · Die Prinzessin auf der Erbse von Hans Christian Andersen (1837)

Entscheidungen führt als der Augenschein oder das Aron, A., Melinat E., Aron, E. N., Vallone, R. D., & Bator, R. J.
(1997). The experimental generation of interpersonal
Bauchgefühl. Durch die Prinzessin auf der Erbse
closeness: A procedure and some preliminary findings.
schließlich haben wir gelernt, was es bedeutet hoch- Personality & Social Psychology Bulletin 23, 363–378.
sensibel und/oder hochsensitiv zu sein – mit all den Barrick, M. R., Shaffer, J. A., & DeGrassi, S. W. (2009). What you
Vor- und Nachteilen. see may not be what you get: Relationships among self-
Die Prinzessin auf der Erbse ist wohl eines der presentation tactics and ratings of interview and job per-
formance. Journal of Applied Psychology 94, 1394–1411.
bekanntesten Märchen von Hans Christian Ander-
Botwin, M. D., Buss, D. M., & Shackelford, T. K. (1997). Perso-
sen. Seine zentrale Botschaft ist die Kritik am Adel nality and mate preferences: five factors in mate selec-
und der Ständegesellschaft des 19. Jahrhunderts. Die tion and marital satisfaction. Journal of Personality 65,
Prinzessin, die ein wohlbehütetes Leben führte, ver- 107–136.
spürte einen schrecklichen Schmerz, ausgelöst durch Bruner, J. S., & Postman, L. (1974). Emotional selectivity in per-
ception and reaction. Journal of Personality 16, 69–77.
eine winzige Erbse unter einer Ladung von Matrat-
Buss, D. M., & Barnes, M. (1986). Preferences in human mate
zen. Was tut wohl ein Kind, wenn es diese Geschichte
6 hört? Es legt sich eine Erbse unter eine oder viel-
selection. Journal of Personality and Social Psychology 50,
559–570.
leicht auch mehrere Matratzen und wird bemerken, Dion, K., Berscheid, E., & Walster, E. (1972). What is beautiful
dass es nichts merkt. Und so sind auch die Probleme is good. Journal of Personality and Social Psychology 24,
285–290.
des Adels so weit von denen des gemeinen Volkes
Gottmann, J. M., Coan, J., Carrere, S., & Swanson, C. (1998)
entfernt, dass dieses die Probleme nicht einmal Predicting marital happiness and stability from newlywed
nachempfinden kann. Die Verwendung der Erbse interactions. Journal of Marriage and Family 60, 5–22.
als Symbol zeigt sehr anschaulich, welche Größe Heintze, A. (2013). Außergewöhnlich normal: Hochbegabt,
und Schwere Andersen den Problemen des Adels hochsensitiv, hochsensibel: Wie Sie Ihr Potential erkennen
und entfalten. München, Ariston.
zuschreibt. Zudem hält sich der Adel tunlichst von
Regan, P. C., Levin, L., Sprecher, S., Christopher, F. S., & Cate, R.
den „realen Problemen“ der Bürger fern. Es herrscht (2000). Partner preferences: What characteristics do men
eine große und unüberbrückbare Distanz zwischen and women desire in their short-term sexual and long-
den Klassen, denn nur eine wahre Prinzessin darf term romantic partners? Journal of Psychology and Human
Einzug in ein Königshaus halten. Sexuality 12, 1–21.
Roediger, H. L., Putnam, A. L., & Smith, A. S. (2011). Ten benefits
Sicherlich sieht die Welt des 21. Jahrhunderts
of testing and their applications to educational practice.
anders aus. Trotzdem können wir weder in unserer Psychology of Learning and Motivation 55, 1–36.
westlichen Welt und schon gar nicht global davon Schmidt, F. L., & Hunter, J. E. (2000). Messbare Personenmerk-
sprechen, dass jeder Mensch die gleichen Chancen male: Stabilität, Variabilität und Validität zur Vorhersage
oder Probleme hat. Immer noch kämpfen Men- zukünftiger Berufsleistung und berufsbezogenen Ler-
nens. In: M. Kleinmann, & B. Strauß (Hrsg.), Potentialfest-
schen mit Hunger, Krankheiten und Heimatverlust
stellung und Personalentwicklung (S.15–43). Göttingen:
während andere das schmerzhafte Ereignis eines Hogrefe.
gesprungenen Handydisplays verkraften müssen. Smith, E. R., & Mackie, D.M. (2007). Social Psychology (3rd ed.).
Das Märchen lädt den Leser dazu ein, darüber nach- New York: Psychology Press.
zudenken, welche ihre Erbsen im Leben sind und Statistic Brain Research Institute (2015). Online Dating Statis-
tics. http://www.statisticbrain.com/online-dating-statis-
ob sie nicht überschüssige Matratzen haben, die sie
tics/. Zugegriffen: 29. September 2016.
mit anderen teilen könnten. Gesellschaftspolitisch Wedekind, C., Seebeck, T., Bettens, F., & Paepke, A.J. (1995).
ist dieses Märchen also immer noch hochaktuell und Mhc-dependent mate preferences in humans. Procee-
relevant. dings: Biological Sciences 260, 245–249.

Literaturverzeichnis

Andersen, H. C. (2010). Andersens Märchen. Köln: Anaconda.


Aron, E. N. (1997). The highly sensitive person: how to thrive
when the world overwhelms you. New York: Basic Books.
Aron, A., & Westbay, L. (1996). Dimensions of the prototype
of love. Journal of Personal and Social Psychology 70,
535–551.
45 7

Blaubart von Charles Perrault


(1697)
Nadja Bürgle und Eileen Wittmann

7.1 Inhalt des Märchens – 46

7.2 Die Charaktere – 47

7.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 47


7.3.1 Partnerwahl: Evolution oder Intuition? – 47
7.3.2 Geheimnisse in Partnerschaften – 49
7.3.3 Konflikte in Partnerschaften – 50

7.4 Fazit – 52

Literaturverzeichnis – 52

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_7
46 Kapitel 7 · Blaubart von Charles Perrault (1697)

7.1 Inhalt des Märchens versprach ihm, sich an seine Weisungen zu halten,
und er ritt davon.
Es war einmal ein Ritter, der besaß große Reichtü- Kaum war er fort, kamen die Freundinnen und
mer, aber auch einen blauen Bart – weswegen ihn bestaunten all die Kostbarkeiten der jungen Frau.
keine der Töchter seiner Nachbarin zum Manne Sie aber schlich sich von Neugier getrieben davon
nehmen wollte. Sie empfanden den Bart als furcht- und konnte nicht widerstehen, das kleine Kabinett
einflößend und abstoßend und auch, dass er schon zu öffnen. Sie entdeckte die bisherigen Ehefrauen des
mehrere Male verheiratet gewesen und der Verbleib Blaubarts – tot, in einer Lache von geronnenem Blut.
seiner bisherigen Ehefrauen unklar war, schreckte Vor Schreck ließ sie das Schlüsselchen in die Blutla-
sie ab. Doch Blaubart war zugleich ein galanter che fallen, bevor sie die Kammer wieder verschloss.
Ritter und verstand es, Frauen mit Geschenken Vergeblich versuchte sie das Schlüsselchen vom Blut
und Vergnügungen den Kopf zu verdrehen, sodass zu reinigen, denn es war verzaubert.
die jüngere Tochter ihn nach kurzer Zeit doch zum Als Blaubart nach seiner Rückkehr das Blut am
Gemahl nahm. Schlüsselchen bemerkte, erkannte er ihre Missach-
Nach Ende des Honigmondes übergab Blau- tung seines Verbots und verurteilte sie zum soforti-
7 bart seiner jungen Frau einen Schlüsselbund mit gen Tod. Sie weinte und flehte um Mitleid, doch er
all seinen Schlüsseln und sagte ihr, dass er für sechs blieb kalt und unerbittlich. Durch eine List gelang
Wochen verreisen müsse, sie sich aber während es der jungen Frau, Zeit zu gewinnen, sodass ihre
seiner Abwesenheit gut amüsieren und Freundin- Brüder gerade noch rechtzeitig zu ihrer Rettung her-
nen einladen solle und er ihr Zugang zu all seinen beieilen konnten und den zornerfüllten Blaubart
Kammern und Schätzen gewähre. Nur das kleine töteten. So erbte sie nach Blaubarts Tod sein gesam-
Schlüsselchen dürfe sie unter keinen Umständen tes Vermögen, teilte es mit ihren Brüdern und der
nutzen. Den Zutritt zu dem kleinen Kabinett, das Schwester und heiratete selbst einen ehrenwerten
es öffnete, verbot er ihr strengstens und drohte ihr Mann, sodass sie Blaubart bald vergaß.
Schreckliches an, sollte sie sich widersetzen. Sie (Perrault 2001; . Abb. 7.1)

. Abb. 7.1  (Zeichnung: Claudia


Styrsky)
7.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
47 7
7.2 Die Charaktere 44Sind Geheimnisse immer negativ für unsere
Partnerschaften?
Im Zentrum des Märchens stehen der Ritter Blaubart 44Wie können wir Konflikte in unseren
und seine junge Gemahlin, die kurz charakterisiert Partnerschaften auf weniger drastische Weise
werden sollen, da ihr Verhalten die Basis der folgen- lösen?
den Ausführungen darstellt.
Der Ritter Blaubart ist sehr wohlhabend, Diesen Fragen wollen wir uns mithilfe psychologi-
wirkt allerdings durch seinen blauen Bart und den scher Theorien und Erkenntnisse in Bezug auf Part-
Umstand, dass er zwar mehrmals verheiratet war, nerwahl, Geheimnisse und Konflikte in Partner-
aber keiner über den Verbleib seiner ehemali- schaften annähern.
gen Frauen Bescheid weiß, wenig vertrauenswür-
dig. Er schafft es trotzdem, durch seinen Charme
und mit großzügigen Geschenken eine der beiden 7.3.1 Partnerwahl: Evolution oder
Töchter seiner Nachbarin von sich einzunehmen, die Intuition?
ihn schließlich heiratet. Nach der Entdeckung des
Mordes an seinen Exfrauen offenbart Blaubart sein
wahres Gesicht und findet schließlich zornerfüllt und Theorie der sexuellen Strategien
mordlüstern den Tod. Aus evolutionspsychologischer Perspektive wählen
Die junge Frau und Gemahlin ist von gutem wir einen Partner, der eine möglichst hohe Über-
Stande, leicht zu beeindrucken und schenkt ihrem lebenswahrscheinlichkeit der eigenen Nachkom-
ersten unguten Gefühl gegenüber dem Ritter keine men erwarten lässt. In der Theorie der sexuel-
Beachtung. Sie missachtet aus Neugier sein Verbot, len Strategien („sexual strategies theory“, Buss u.
ein Kabinett zu betreten, und findet dort die Leichen Schmitt 1993) stehen dabei die unterschiedlichen
seiner Exfrauen. Nur durch eine List und mithilfe Partnerwahlpräferenzen von Mann und Frau,
ihrer Schwester und der beiden Brüder schafft sie es, die evolutionspsychologisch begründet sind, im
Blaubart zu entkommen und am Leben zu bleiben. Vordergrund.
Die Familie – die Mutter und Geschwister – Männer suchen demnach für eine langfristige
sowie die Freundinnen der jungen Frau werden nicht Partnerschaft eine Frau, bei der Sicherheit über die
eingehend beschrieben, sie leisten ihr Gesellschaft Vaterschaft für die Nachkommen besteht und die
und retten sie schließlich aus größter Not. einen hohen Reproduktionswert besitzt. Daher prä-
ferieren sie sexuell treue, keusche sowie physisch
attraktive und junge Frauen.
7.3 Psychologische Phänomene und Frauen hingegen suchen für eine langfristige
Implikationen Partnerschaft einen Mann, der ihnen Ressourcen
zur Verfügung stellen kann, die sie in die Nachkom-
Das Märchen „Blaubart“ des französischen Schrift- men investieren können. Daher präferieren sie ambi-
stellers Charles Perrault skizziert eine Partnerschaft, tionierte, einkommensstarke, gebildete und wohl-
die sich sicherlich die wenigsten Menschen wün- habende Männer. Zwei Studien konnten letzteres
schen: geschlossen nicht aus Liebe, geführt voller bestätigen, indem sie zeigten, dass die Bereitschaft
Kälte und Geheimnisse, beendet durch einen tödli- von Frauen für eine feste Beziehung mit steigendem
chen Konflikt. Wahrscheinlich hat jeder von uns eine sozioökonomischen Status des Mannes zunimmt
irgendwie geartete „Leiche im Keller“ und mit Sicher- (Townsend u. Levy 1990a, b). Darüber hinaus wurde
heit verträgt kaum eine Partnerschaft so viele davon, eine feste Beziehung oder Heirat mit einem unattrak-
wie die junge Frau in Blaubarts Kabinett auffindet. tiven Mann mit hohem sozioökonomischem Status
44Wie finden wir heute einen Partner, der zu uns eher in Betracht gezogen als eine solche mit einem
passt und keine für uns inakzeptable „Leiche attraktiven Mann mit niedrigem sozioökonomi-
im Keller“ hat? schem Status.
48 Kapitel 7 · Blaubart von Charles Perrault (1697)

Intuition und Erfahrungswissen Die jüngere Tochter von Blaubarts Nachbarin


Im Alltag raten wir anderen bei der Partnerwahl oft: verfügt zu Beginn des Märchens über eine gute Intui-
„Hör auf dein Herz“ oder „Hör auf dein Bauchge- tion: Der blaue Bart schreckt sie ab, jagt ihr Angst ein
fühl“. Wir gehen folglich davon aus, dass wir den und lässt sie Unbehagen verspüren. Es ist, als würde
Richtigen oder die Richtige intuitiv erkennen. Der der blaue Bart ihr eine Vorahnung darüber geben,
Begriff Intuition meint das „unmittelbare, nicht auf wie kalt und hartherzig Blaubart hinter seinem char-
Reflexion beruhende Erkennen [bzw.] Erfassen eines manten und kultivierten Auftreten sein kann. Eine
Sachverhalts“ (Duden online 2016). Entscheidung gegen Blaubart als Partner allein auf
Dem Psychologen Gerd Gigerenzer (2007) Basis seines blauen Bartes wäre folglich eine passende
zufolge liegen der Intuition einfache Faustregeln One-Reason-Decision-Making-Strategie gewesen –
zugrunde, die in der Psychologie auch als Heuristi- sie hätte ihr eine Ehe im goldenen Käfig, den schau-
ken bezeichnet werden. Eine Gruppe von Heuristi- rigen Anblick all dieser toten Ehefrauen und schließ-
ken sind Strategien, bei denen Entscheidungen basie- lich Minuten voller Todesangst ersparen können.
rend auf einem guten Grund getroffen und andere Doch sie entscheidet sich gegen ihr Bauchgefühl
Informationen ignoriert werden („one-reason deci- und für Blaubart – im Grunde wegen seines Reich-
7 sion making strategies“, Gigerenzer u. Gaissmaier tums und seiner Bereitschaft, seine Ressourcen auch
2011). mit ihr zu teilen. Die junge Frau wählt ihren Partner
Solche Strategien werden beispielsweise beim genau so, wie es ihr nach der Evolutionspsychologie
Kauf eines Smartphones angewendet, wobei einfach zugedacht ist – und selbst seine offensichtlich sehr
das neueste Modell gekauft wird, ohne andere geringe Attraktivität wird für sie durch seinen hohen
Eigenschaften des Geräts zu berücksichtigen. Die Status und seine Reichtümer wettgemacht.
Neuheit stellt in diesem Fall den einen guten Grund Am Ende hat sie Glück im Unglück: Ihre Brüder
dar, nach dem sich für ein bestimmtes Modell ent- retten sie, töten ihren abstoßenden Ehemann, und sie
schieden wird. Vor allem Tiere nutzen diese Strate- kann mit ihrem Erbe einen Mann heiraten, den sie
gien, um Futter, Nestplätze oder auch einen Partner wirklich liebt. Doch fast hätte sie ihre Entscheidung
zu finden. Beispielsweise wählt die Pfauhenne den- bei der Partnerwahl das Leben gekostet.
jenigen Pfau als ihren Partner, der am meisten
Augenflecken aufweist (Petrie u. Halliday 1994) –
die Augenflecken dienen hier folglich als der eine Implikationen für die Lebensgestaltung
gute Grund, diesen Partner und nicht einen anderen Sicherlich stehen den meisten potenziellen Partnern
zu wählen. ihre „Leichen im Keller“ nicht so direkt ins Gesicht
In Bezug auf den Menschen konnte eine Studie geschrieben, wodurch eine One-Reason-Decisi-
zeigen, dass es auch für uns manchmal besser ist, auf on-Making-Strategie in den allerwenigsten Fällen
unser Bauchgefühl zu hören: Die implizite Bewer- menschlicher Partnerwahl zielführend sein wird.
tung des Partners, also das Bauchgefühl oder die Dennoch kann uns das Märchen lehren, dass die
Intuition, konnte die Ehezufriedenheit über vier Intuition und das Bauchgefühl bei der Partnerwahl
Jahre hinweg besser vorhersagen als dessen explizite eine entscheidende Rolle spielen sollten. Scheinbar
Bewertung (McNulty et al. 2013). wissen wir implizit ganz gut, mit wem wir auf Dauer
Dennoch ist es an dieser Stelle wichtig, zu mehr oder weniger glücklich werden – und sollten
betonen, dass Intuition vor allem dann vorteilhaft ist, uns nicht von Faktoren blenden lassen, die im evo-
wenn wir Erfahrungswissen in einem bestimmten lutionären Kontext einmal sehr wichtig waren. Auch
Bereich haben (Gigerenzer 2007), beispielsweise bei wenn ein wohlhabender Versorger vielleicht auch
der Partnerwahl Erfahrung im Umgang mit anderen heute noch für viele Frauen eine reizvolle Annehm-
Menschen. Haben wir diese Erfahrung und Exper- lichkeit darstellt, sollte nicht vergessen werden, dass
tise nicht, was in vielen anderen Bereichen (z. B. Per- eine Partnerwahl allein auf dieser Basis ein gewis-
sonalauswahl) der Fall sein kann, ist das Vertrauen ses Risiko birgt. Das Märchen „Blaubart“ zeigt uns,
auf das Bauchgefühl alleine nicht immer der rich- wie schnell sich der vermeintliche Traumprinz als
tige Weg. ganz persönlicher Albtraum entpuppen kann. Dabei
7.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
49 7
muss sich nicht immer gleich herausstellen, dass der diesem Thema veröffentlichte. Schopenhauer vertrat
Ehemann ein Serienmörder ist, es reichen sicherlich die Meinung, dass wir Menschen ein Recht auf Lüge
schon kleinere „Leichen im Keller“, um eine unglück- oder Geheimhaltung haben, wenn das Wissen der
liche Ehe zu führen. anderen über uns, uns angreifbar machen würde.
Frauen haben heutzutage – zumindest hierzu- Lüge und Geheimhaltung stellen somit Mittel der
lande – die Möglichkeit, sich selbst zu versorgen Gegenwehr zu unbefugter Neugier dar, welcher ein
und ihren Nachkommen eigenständig Ressourcen schadendes Motiv zugrunde liegt. Wegner zufolge
zur Verfügung zu stellen. Sollten wir uns diese Unab- schützen Geheimnisse einen Menschen vor riskan-
hängigkeit also nicht bewusster machen und uns den ter Anpassung und langweiliger Konformität. Seine
Luxus gönnen, unseren Partner nach dem Bauchge- Erkenntnisse sprechen dafür, dass wir Geheim-
fühl zu wählen? nisse für unsere seelische Stabilität benötigen. Diese
Auffassung teilt auch Bok, die die Funktion von
Geheimnissen im Schutz der eigenen Identität und
7.3.2 Geheimnisse in Partnerschaften Selbstbestimmung sieht. Die Überzeugung von der
Lebensnotwendigkeit von Geheimnissen wider-
Wohl jeder von uns trägt ein Geheimnis in sich – spricht der vormals propagierten vollkommenen
etwas, das wir für uns behalten und mit niemand Transparenz und Offenheit in den Beziehungen zu
anderem teilen. Auch Blaubart aus Perraults Märchen unseren Mitmenschen (vgl. Nuber 2006).
umwittert ein Geheimnis – niemand weiß, was mit In Perraults Märchen wahrt Blaubart ein des-
seinen bisherigen Ehefrauen geschehen ist. truktives Geheimnis. Es dient nicht primär als
Notwehr gegen ihm schadender Neugier oder zum
Schutz seiner seelischen Stabilität und Selbstbestim-
Destruktive und konstruktive mung, sondern zum Verbergen von Verbrechen und
Geheimnisse Unrecht, der Morde an seinen vorherigen Ehefrauen.
Geheimnisse haben einen umstrittenen Ruf. Einer-
seits werden sie von vielen Psychologen als destruk-
tiv, schädlich für zwischenmenschliche Beziehungen Gegenseitige Diskretion
und als Gefährdung für die Gesundheit angese- Das Ziel der vollkommenen Offenheit in Partner-
hen. In vielen Therapiestudien zeigte sich, dass die schaften und des gemeinsamen Teilens aller Lebens-
Ursache für Dysfunktionalitäten, psychische Krank- inhalte birgt die Gefahr, dass zwei „Ichs“ zu einem
heiten oder Essstörungen in Familien oftmals in ver- „Wir“ verschmelzen. Viele Paartherapeuten sehen
borgenen Geheimnissen liegt. Die Geheimniswah- eine wichtige Ursache für das Scheitern von Part-
rer selbst erleben durch ihr Schweigen eine starke nerschaften in mangelnder gegenseitiger Diskretion.
psychische und physische Belastung. Auch die Ver- Paare, die keine konstruktiven Geheimnisse vorein-
wandten, welche nichts von dem Geheimnis wissen, ander haben, d. h. keine Abgrenzung, kein unabhän-
leiden unter der angespannten Atmosphäre, die die giges Selbst oder keine eigenen Träume, entscheiden
Geheimhaltung verursacht. Deshalb wird es seit sich oftmals für eine Therapie, da ihre Beziehungen
der öffentlichen Verbreitung des psychologischen langweilig und trist geworden sind. Um dem vorzu-
Wissens ab 1970 als gesundheitsförderlich betrach- beugen, empfehlen Paartherapeuten, sich gegenseitig
tet, innere Vorgänge nach außen zu kehren – oder mit Freiräume zuzugestehen, die für den jeweils anderen
anderen Worten ausgedrückt, keine Geheimnisse zu tabu sind (vgl. Nuber 2006).
haben (vgl. Nuber 2006). Blaubart aus Perraults Märchen gewährt seiner
Andererseits richten sich einige Stimmen gegen Frau sämtliche Freiräume. Beispielsweise darf sie sich
die destruktive Natur von Geheimnissen und heben während seiner Abwesenheit freien Zutritt zu den
ihre konstruktiven Auswirkungen hervor wie Arthur Kammern und Schätzen verschaffen, Freundinnen
Schopenhauer, der Harvard-Professor für Psycholo- einladen und sich amüsieren. Tabu ist für sie nur sein
gie Daniel Wegner oder die Philosophin Sissela Bok, eigener, persönlicher Bereich, das Kabinett, dessen
die 1982 mit ihrem Buch Secrets ein Standardwerk zu Betreten er ihr ausdrücklich verbietet. Aus Neugier
50 Kapitel 7 · Blaubart von Charles Perrault (1697)

dringt sie trotzdem in diesen Raum ein und lüftet Doch das Wahren von Geheimnissen kostet viel
sein mörderisches Geheimnis. Energie und Konzentration. Die Anstrengung, nicht
an das Geheimnis zu denken, führt zu noch intensi-
veren Gedanken daran. Somit steigt die gedankliche
Totale und relative Geheimnisse und gefühlsmäßige Anstrengung, das Geheimnis zu
Doch wieso übergibt Blaubart seiner Frau den unterdrücken (vgl. Nuber 2006). Zur Veranschau-
Schlüssel? Hätte er ihn versteckt und das Kabinett lichung: Denken Sie bitte keinesfalls an einen rosa
nicht erwähnt, hätte seine Frau es wohl nie entdeckt. Elefanten. An was denken Sie nun? An einen rosa
Hilfreich zur Klärung dieser Frage ist die in der Elefanten. Ebenso verhält es sich mit Geheimnis-
Psychologie gängige Unterscheidung in totale und sen. Überreicht Blaubart seiner Frau den Schlüs-
relative Geheimnisse (Kraft Alsop 1998): sel, da die Anstrengung der Geheimhaltung zu groß
44Total beschreibt ein Geheimnis, von dem für ihn wird und er insgeheim hofft, sie würde sein
die anderen nicht wissen, dass es überhaupt Geheimnis lüften?
existiert. Wie gut wir mit Geheimnissen umgehen können,
44Relativ ist ein Geheimnis dann, wenn dessen ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Somit
7 Existenz zwar bekannt ist, sein Inhalt aber liegt es an uns, selbst zu entscheiden, welche und
unbekannt bleibt. wie viele Geheimnisse wir in unserem Leben haben
möchten und brauchen. Die Erkenntnis, dass
Blaubarts Geheimnis ist relativ, da es allgemein Geheimnisse lebensnotwendig sind, kann zumin-
bekannt ist, dass seine Ehefrauen auf mysteriöse dest diejenigen von uns entlasten, die zusätzlich zur
Weise verschwunden sind, und da er seiner Frau aus- mentalen Anstrengung der Geheimniswahrung mit
drücklich verbietet, das Kabinett zu betreten, ohne moralischen Gewissensbissen zu kämpfen haben
ihr dessen Inhalt zu offenbaren. (vgl. Nuber 2006).
Laut einer psychologischen Studie sind Part-
nerschaften mit totalen Geheimnissen von Miss-
trauen geprägt, was negative Auswirkungen auf die 7.3.3 Konflikte in Partnerschaften
Zufriedenheit der Partner hat (Kraft Alsop 1998).
Will Blaubart die Vertrauenswürdigkeit seiner Frau Der Begriff „Konflikt“ stammt vom lateinischen
prüfen, indem er das Geheimnis durch die Schlüssel- Verb „confligere“, was „zusammenprallen“ bedeu-
übergabe in ein relatives verwandelt? Eine psycholo- tet (Duden online 2016). Bei einem Konflikt prallen
gische Studie ergab, dass Paare, die relative Geheim- z. B. Wünsche, Handlungen oder Ziele zusam-
nisse voreinander haben, sich gegenseitig vertrauen men, die gegensätzlich gerichtet sind und somit
und die Freiräume des anderen respektieren (Kraft nicht gemeinsam verwirklicht werden können.
Alsop 1998). Blaubarts Frau besteht diese Vertrau- Konflikte erzeugen somit einen Handlungs- und
ensprobe nicht, was das am Schlüssel klebende Blut Lösungsdruck.
verrät.

Intra- und interpersonelle Konflikte


Implikationen für die Lebensgestaltung In der Psychologie unterscheiden wir zwischen Kon-
Zusammenfassend lassen sich aus der psychologi- flikten innerhalb einer Person (intrapersonal) und
schen Forschung folgende Erkenntnisse zu Geheim- Konflikten zwischen Personen (interpersonal). Bei
nissen in Partnerschaften ableiten: Konstruktive einem intrapersonalen Konflikt erlebt eine Person
Geheimnisse, die zum Schutz der seelischen Stabi- Unvereinbarkeiten im eigenen Fühlen, Denken,
lität und Individualität dienen, stellen eine wichtige Wollen oder Handeln. Bei einem interpersonalen
Voraussetzung für ein selbstbestimmtes Leben und Konflikt verspürt mindestens eine von zwei oder
eine glückliche Partnerschaft dar. Die Existenz rela- mehreren Personen derartige Unvereinbarkeiten,
tiver Geheimnisse sollte transparent sein, um gegen- dass sie sich durch die anderen beeinträchtigt fühlt
seitiges Vertrauen und Respekt zu bewahren. (Mahlmann et al. 2009).
7.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
51 7
In Perraults Märchen zeichnen sich zwei Kon- führen unsere Worte oft zu Verletzung und
flikte ab: Leid – bei uns selbst oder bei anderen. […]
1. Blaubarts Frau steht vor dem intrapersonalen Die GFK hilft uns bei der Umgestaltung
Konflikt, einerseits Blaubarts Anordnung unseres sprachlichen Ausdrucks und unserer
zu gehorchen und das Kabinett nicht zu Art zuzuhören. Aus gewohnheitsmäßigen,
öffnen, andererseits ihre Neugier zu stillen automatischen Reaktionen werden bewusste
und das Kabinett zu öffnen. Sie löst ihren Antworten […]. (Rosenberg 2010, S. 22)
inneren Konflikt, indem sie sich für
Letzteres entscheidet und dementsprechend Zudem ist für Rosenberg eine veränderte Grund-
handelt. haltung in Konflikten wesentlich. Er interpretiert
2. Daneben besteht ein Konflikt zwischen Konflikte als Ausdruck unerfüllter Bedürfnisse, z. B.
Blaubart und seiner Frau, da er ihr verbietet, nach Respekt, Vertrauen oder Selbstbestimmung,
das Kabinett zu öffnen, sie es aber trotzdem tut. die legitim und bedeutsam sind. Für eine effektive
Seine Frau versucht, den Konflikt mit Entschul- Konfliktlösung ist darum Empathie, die Fähigkeit,
digungen und Flehen um Mitleid zu lösen. sich in den anderen einzufühlen, eine wichtige Vor-
Blaubart wählt Gewalt als Lösungsstrategie aussetzung. Wird das hinter dem Konflikt liegende
und plant, sie umzubringen. Der Konflikt wird Bedürfnis erkannt, formuliert und vom Gegen-
gelöst, indem die Brüder der Frau Blaubart über verstanden, kann eine Deeskalation erreicht
erstechen. werden.
GFK funktioniert folgendermaßen (vgl. Mahl-
Die Eskalation des Konflikts, die in der Zerstö- mann et al. 2009; Rosenberg 2010):
rung eines Konfliktbeteiligten gipfelt, ist auf die 1. Beobachtungen: Ich beschreibe ohne Schuld-
mangelnde Konfliktfähigkeit des Paares zurück- zuweisungen und Verurteilungen, welches
zuführen. Konfliktfähigkeit bedeutet hingegen, konkrete Verhalten ich beobachtet habe.
tragfähige Lösungen für den Konflikt zu finden, 2. Gefühle: Ich beschreibe das Gefühl, welches
eine faire Streitkultur zu etablieren, Toleranz und dieses Verhalten in mir auslöst.
Offenheit zu stärken und Vertrauen als Basis für 3. Bedürfnisse: Ich benenne die dahinterlie-
eine gute Beziehung aufzubauen (vgl. Mahlmann genden Bedürfnisse.
et al. 2009). 4. Bitte: Ich formuliere eine Bitte, jedoch keine
Forderung, was ich mir vom anderen wünsche,
um meine Bedürfnisse zu befriedigen.
Implikationen für die Lebensgestaltung
Ein effektives Lösungsinstrument für interpersonale Zur Veranschaulichung wird beispielhaft aufgezeigt,
Konflikte kann Kommunikation darstellen. Der Psy- wie Blaubarts Frau den Konflikt bereits im Anfangs-
chologe und Konfliktmediator Marshall B. Rosen- stadium hätte deeskalieren können, anstatt ihn durch
berg entwickelte in den 1960er-Jahren das Modell die Missachtung von Blaubarts Verbot zu verschär-
der gewaltfreien Kommunikation (GFK), die auch fen: „Blaubart, du verbietest mir den Zugang zum
als „Sprache der Einfühlsamkeit“ bezeichnet wird. Kabinett (Beobachtung). Dieses Verbot weckt eine
Dieses Modell wird heute in vielen Ländern, dar- große Neugier in mir (Gefühl). Ich würde meine
unter auch in Deutschland und in den USA, u. a. von Neugier gerne stillen und wissen, was sich im Kabi-
Polizisten, Paartherapeuten oder Krisenberatern ein- nett verbirgt (Bedürfnis). Ich bitte dich, zu enthüllen,
gesetzt, um Konflikte zu entschärfen. Im Zentrum was du dort versteckst (Bitte).“
der GFK steht der bewusste und rücksichtsvolle Ob GFK auch bei Blaubart wirksam wäre, sei
Umgang mit Sprache. Im Vorwort seines gleichna- dahingestellt. Jedoch kann gewaltfreie Kommuni-
migen Buches schreibt Rosenberg: kation für diejenigen unter uns, die aufrichtig posi-
tive Beziehungen leben und Konflikte konstruktiv
» Wir betrachten unsere Art zu sprechen lösen möchten, ein wertvoller Kompass sein (vgl.
vielleicht nicht als ‚gewalttätig’, dennoch Rosenberg 2010).
52 Kapitel 7 · Blaubart von Charles Perrault (1697)

7.4 Fazit Townsend, J. M., & Levy, G. D. (1990a). Effects on potential


partners’ costume and physical attractiveness on sexual-
ity and partner selection. The Journal of Psychology 124,
Blaubart und seine junge Frau zeigen uns in Per- 371–389.
raults Märchen „Blaubart“, wie wir eine Partnerschaft Townsend, J. M., & Levy, G. D. (1990b). Effects of potential
nicht führen sollten. Gleichzeitig ermutigt uns dieses partners’ physical attractiveness and socioeconomic sta-
Negativbeispiel, über mögliche Lösungen der Pro- tus on sexuality and partner selection. Archives of Sexual
­Behavior 19, 149–164.
bleme nachzudenken. Es regt uns dazu an, eigene
Lehren darüber zu ziehen, was wir in unseren Part-
nerschaften besser machen können: Hierzu gehört,
größeres Vertrauen auf unsere Intuition bei der Wahl
eines Partners zu haben, sich gegenseitig konstruk-
tive Geheimnisse zuzugestehen und unsere Konflikte
gewaltfrei zu lösen.

7 Literaturverzeichnis

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213–217.
Rosenberg, M. B. (2010). Gewaltfreie Kommunikation: Eine Spra-
che des Lebens. Paderborn: Junfermann.
53 8

Rapunzel von den Gebrüdern


Grimm (1815)
Christian Feuerbacher und Marie Raith

8.1 Inhalt des Märchens – 54

8.2 Die Charaktere – 54

8.3 Psychologische Phänomene – 55


8.3.1 Depressionen – 55
8.3.2 Kontrolle – 56
8.3.3 Resilienz – 57

8.4 Bedeutung für die heutige Zeit und Implikationen – 57

8.5 Fazit – 58

Literaturverzeichnis – 58

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_8
54 Kapitel 8 · Rapunzel von den Gebrüdern Grimm (1815)

8.1 Inhalt des Märchens Rapunzel ihr goldenes Haar ab und schickte sie weit
fort an einen Ort, wo sie in Elend und Jammer leben
Es war einmal ein Mann und eine Frau, die sich seit musste. „Ach du gottloses Kind! Was muss ich von
langer Zeit vergeblich ein Kind wünschten. In ihrem dir hören; ich dachte, ich hätte dich von aller Welt
Haus gab es ein kleines Fenster, durch das man in geschieden, und du hast mich doch betrogen!“
einen herrlichen Garten blicken konnte. Dieser Mit dem abgeschnittenen Zopf lockte die Zau-
jedoch gehörte einer gefürchteten Zauberin und berin am Abend auch den Prinz in ihre Falle und
ward von einer hohen Mauer umgeben. Eines Tages sagte ihm, dass Rapunzel für immer verschwunden
stand die Frau am Fenster und erblickte in dem blü- sei. Von Schmerz und Verzweiflung getrieben, sprang
henden Garten Rapunzeln (Feldsalat). Da wurde sie der Prinz vom Turm und zerstach sich die Augen
von unstillbarer Lust gepackt, diese zu essen. „Wenn in einem Dornenbusch. Fortan wanderte er voller
ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter unserem Elend und Trauer blind durch die Welt, bis er eines
Haus zu essen kriege, so sterbe ich.“ Da fasste sich Tages den lieblichen Gesang vernahm, der ihm so
der Mann ein Herz und stieg über die Mauer um vertraut war. Auch Rapunzel erkannte ihren Liebs-
Rapunzeln zu holen. Tags darauf verlangte sie wieder ten sofort und schloss ihn in ihre Arme. Die Tränen,
danach, und als der Mann sich erneut in den Garten die Rapunzel aus Glück über das Wiedersehen ihrer
der Zauberin stahl, erwischte diese ihn und stellte Liebe weinte, benetzten die Augen des Königssohns
8 eine Bedingung, um ihn ungestraft entlassen zu
können: „Du musst mir das Kind geben, das deine
und befreiten ihn für immer von seiner Blindheit.
(Grimm u. Grimm 2010; . Abb. 8.1)
Frau zur Welt bringen wird. Es soll ihm gut gehen,
und ich will für es sorgen wie eine Mutter.“ Der Mann
versprach es vor lauter Angst und kurz darauf gebar 8.2 Die Charaktere
die Frau ein Mädchen, welches die Zauberin Rapun-
zel nannte und mit sich fortnahm. Bevor wir uns näher dem Erleben und Verhalten
Als Rapunzel, „das schönste Kind unter der der Hauptakteure aus dem Märchen widmen, sollen
Sonne“, zwölf Jahre alt war, sperrte die Zauberin diese kurz charakterisiert werden.
sie in einen Turm ohne Türe und Treppe. Nur ein Die Gedanken der Frau kreisen egoistisch um sie
kleines Fenster ermöglichte es in den Turm zu gelan- selbst. Sie sieht sich selbst als Opfer an. Die Frau ist
gen. „Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter“, hysterisch, egozentrisch und rücksichtslos, wobei sie
rief die Zauberin und Rapunzel ließ ihre goldenen sich dessen selbst wohl kaum bewusst sein dürfte.
Haare wie eine Leiter ellenlang herabfallen. Der Mann opfert sich für seine Frau auf und
Eines Tages kam der Königssohn, angelockt kämpft für das, was ihm lieb ist. Er ist bereit, seine
durch Rapunzels lieblichen Gesang, an den Turm. eigenen Wünsche und Ängste zurückzustellen und
Tag um Tag kehrte er fortan zu der Stimme zurück, alles zu tun, damit es seiner Frau gut geht. Fast macht
die sein Herz erfüllte. Eines Abends sah er die Zaube- es den Eindruck, als wäre sein Lebensinhalt einzig
rin in den Turm klettern und als sie verschwand, klet- das Glück seiner Frau. Da er nicht deren Tod ris-
terte der Prinz hinauf. Rapunzel erschrak vor dem kieren will, riskiert er stattdessen den Einbruch in
fremden Mann. Der Prinz jedoch besänftigte sie und den Garten.
offenbarte ihr seine Liebe. Rapunzel entschied, dass Die Zauberin wird von allen gefürchtet. Sie hat
der schöne junge Prinz besser zu ihr sein würde, als zwar einen prächtigen Garten, aber niemand darf ihn
die Zauberin es war. Und so verlobten sie sich noch betreten, mit niemandem möchte sie diese Schön-
am gleichen Abend. Jeden Tag sollte der Prinz von heit teilen. Sie besitzt ein fast zwanghaftes Bedürf-
nun an einen Strang Seide mit sich bringen, um eine nis nach Macht und Kontrolle, aber keinerlei Wärme
Leiter zu knüpfen, die Rapunzel aus ihrem Turm oder Zuneigung.
bringen sollte. Rapunzel scheint relativ unbehelligt von ihrer
Unvorsichtig geworden offenbarte Rapun- eigenen Vorgeschichte. Sie empfindet keine große
zel der Zauberin eines Abends beiläufig ihre Liebe Zuneigung für die Zauberin, begehrt aber auch
zum Prinzen. Die Zauberin war außer sich, schnitt in keiner Weise gegen die Bevormundung auf.
8.3 · Psychologische Phänomene
55 8
. Abb. 8.1  (Zeichnung: Lena Frey)

Scheinbar gleichgültig gegenüber der Gefangenschaft 8.3.1 Depressionen


lebt Rapunzel im Turm und plant auf naiv-fröhliche
Weise ihr neues Leben mit ihrem Verlobten. Rapunzels Mutter befürchtet, ohne den Verzehr
Der Prinz ist mutig und lässt sich nicht von der Rapunzeln zu sterben, und wird von Tag zu
seinem Ziel abbringen. Dabei wirkt der Königssohn Tag antriebsloser. Dieser Interessensverlust und die
aber auch naiv und unbedacht. Er möchte Rapun- Freudlosigkeit zählen zu den Hauptsymptomen von
zel heiraten und sie auf seinem weißen Pferd nach Depressionen (Dilling u. Freyberger 2015).
Hause bringen, Konsequenzen oder Schwierigkeiten Ein psychologisches Konzept, das einen Teil
bedenkt er dabei nicht. Die rosarote Brille wird ihm depressiver Erkrankungen erklären kann, ist die
erst abgenommen, als er am Rande der Verzweiflung, erlernte Hilflosigkeit (Seligman 1975). Depressive
blind und verlassen umherirrt. Patienten haben demnach die Erwartung, bestimmte
aversive Reize nicht kontrollieren oder beeinflussen
zu können. Dadurch entsteht Passivität gegenüber
8.3 Psychologische Phänomene unangenehmen Zuständen. Dies ist eines der Haupt-
symptome von Depressionen. Betrachten wir nun im
Bedeutende psychologische Theorien und Erkennt- Hinblick auf die Theorie der erlernten Hilflosigkeit
nisse sollen nun auf das Märchen angewandt werden. die Frau im Märchen „Rapunzel“: Man könnte z. B.
Behandelt wird dabei die psychische Störung Depres- davon ausgehen, dass der jahrelange unerfüllte Kin-
sion, welche gegenwärtig ein großes Thema unserer derwunsch von ihr als nicht beeinflussbarer Zustand
Gesellschaft ist. Des Weiteren sind Phänomene wie wahrgenommen wird. Dies kann letztendlich in eine
Selbstbestimmung, das Bedürfnis nach Macht sowie Depression führen.
Resilienz zentral – im Turm bei Rapunzel ebenso wie Eine Depression lässt sich aber nicht nur durch
in unserer Welt. das Konzept der erlernten Hilflosigkeit erklären.
56 Kapitel 8 · Rapunzel von den Gebrüdern Grimm (1815)

Einen anderen Fokus setzt die soziale Gratifikations- dass Ereignisse für sie beeinflussbar, vorhersehbar
krise nach Johannes Siegrist (2015). Diese beschreibt und erklärbar sind, so erleben sie die Situation als
ein erlebtes Ungleichgewicht zwischen Geben und kontrollierbar und erleben sich als selbstbestimmt
Nehmen und führt zu dem Gefühl, ausgenutzt zu und autonom (Frey u. Jonas 2002). Entsprechend
werden. Dieses Gefühl kann sowohl zu depressiv- haben Personen das natürliche Bestreben, in mög-
antriebslosem als auch zu aggressivem Verhalten lichst vielen Lebensbereichen kognizierte Kontrolle
führen. Obwohl die Zauberin den Vater nicht bestraft zu empfinden, also ihr Leben selbst bestimmen zu
und das Kind umsorgt, entzieht sich Rapunzel ihrer können – gelingt dies in einem Bereich nicht, ent-
Obhut. Die Zauberin investiert in das Mädchen und steht Kontrollverlust, welchen es mit allen Mitteln
wird im Stich gelassen. Sie löst diese Gratifikations- zu vermeiden gilt.
krise, indem sie nach Rache sinnt, Rapunzel verbannt Auch im Märchen Rapunzel spielt das Verlan-
und den Königssohn verletzt. gen nach Kontrolle über das Leben immer wieder
Nicht nur im Märchen Rapunzel ist Depression eine wichtige Rolle. Rapunzels Mutter nimmt die
ein Thema. Ungefähr jede 7. Person der Bevölkerung Unkontrollierbarkeit ihres Lebens resignierend hin.
erkrankt im Laufe ihres Lebens an einer Depression Ihr Mann jedoch versucht, aktiv etwas gegen das
(Bromet et al. 2011). Dies entspricht knapp 12 Mil- Leiden seiner Frau zu unternehmen. Indem er die
lionen Deutschen. Des Weiteren gehen 25 % aller Rapunzeln für seine Frau stiehlt, versucht er die Kon-
8 Fehltage im Beruf auf Depressionen zurück (Hols-
boer 2011).
trolle über sein Leben sowie das seiner Frau zu erlan-
gen. Auch Rapunzel beeinflusst ihr Schicksal selbst
durch die Verlobung mit dem Prinzen. Die Kontrolle,
die sie durch die Verlobung erlangt, wirkt sich sicht-
8.3.2 Kontrolle bar motivationsfördernd aus. Sie arbeitet bestrebt an
ihrer Flucht, indem sie eine Leiter aus Seide knüpft,
Der Kontrollbegriff spielt innerhalb der Psychologie die ihr den Weg in die Freiheit und in ein selbstbe-
eine große Rolle und verschiedene Ansätze beschäf- stimmtes Leben ebnen soll.
tigen sich mit dem Erleben von Kontrolle. Einerseits Wie positiv sich das Erlangen von Kontrolle aus-
streben Menschen nach Kontrolle über ihr Leben wirken kann, beweisen auch wegweisende Studien
im Sinne von Selbstbestimmung und Autonomie, in Altersheimen. Bewohner, welche die Möglich-
andererseits haben Menschen häufig das Verlangen, keit hatten, Kontrolle auszuüben (z. B. Einrichtung
Kontrolle im Sinne von Macht und Überwachung der Wohnräume), zeigten im Vergleich zu Bewoh-
auszuüben. nern ohne Kontrollmöglichkeiten deutlich höhere
Zufriedenheit, Wohlbefinden und mentale Wachheit
(Langer u. Rodin 1976).
Selbstbestimmung, Autonomie Selbstbestimmtheit und Autonomie im eigenen
und kognizierte Kontrolle Leben sind demnach elementare Voraussetzungen
Kontrollempfinden, Autonomie und Selbstbestim- für menschliches Wohlbefinden – so können wir
mung werden als angeborene Bedürfnisse angesehen nachvollziehen, warum man in Gärten gefürchte-
(Heckhausen u. Heckhausen 2010). Das Streben nach ter Zauberinnen eindringt oder sich auf wildfremde
Kontrolle im Sinne von Selbstbestimmung, also der Prinzen einlässt.
Möglichkeit das eigene Leben selbst so zu beeinflus-
sen, dass positive Zustände herbeigeführt und nega-
tive Zustände vermieden werden, stellt demnach Streben nach Macht
einen wichtigen Teil der menschlichen Natur dar Kontrolle über das eigene Leben bringt Autonomie
(Bierhoff 2006; Frey u. Jonas 2002). und Selbstbestimmung, während Kontrolle über
Die Theorie der kognizierten Kontrolle (Frey andere Macht bedeutet. Man braucht Kontrolle,
u. Jonas 2002) erklärt, wie das offensichtlich sehr um Situationen lenken und beeinflussen zu können,
bedeutsame Gefühl von Kontrollerleben und Auto- um also Macht auszuüben. Nach David McClelland
nomie entsteht. Wenn Menschen das Gefühl haben, (1961) ist Macht – neben Zugehörigkeit und Erfolg –
8.4 · Bedeutung für die heutige Zeit und Implikationen
57 8
eines der elementaren Bedürfnisse, die Menschen einer hohen Ausprägung an Resilienz porträtiert.
antreiben. Solange eine Situation für jemanden kon- Zunächst übersteht sie die jahrelange Gefangenschaft
trollierbar ist, ist auch seine Machtposition gesichert. und Abschottung von der Außenwelt, ohne ersichtli-
Die Zauberin hat eindeutig eine Machtposition che psychische Auffälligkeiten davonzutragen. Auch
inne, denn sie hat Rapunzel in eine Abhängigkeitsbe- ihre Verdammnis in Elend und Einsamkeit scheint
ziehung gebracht, in der Rapunzel keine andere Mög- Rapunzel psychisch unverwundet zu überstehen,
lichkeit hat, als sich zu fügen. Mehrfach verteidigt sie sodass es ihr schließlich möglich ist, nach der Wie-
diese und trifft Vorkehrungen, um einen Kontrollver- dervereinigung mit dem Prinzen ein unbeschwertes
lust zu vermeiden. So versucht sie zu Beginn, nicht und glückliches Leben zu führen.
nur ihren Garten und ihre schönen Rapunzeln durch Allerdings stellt sich die Frage, wie es bei Rapun-
eine hohe Mauer von äußeren Einflüssen abzuschir- zel zur Resilienzentwicklung kommen kann. Die
men, sondern sperrt später auch die schöne Rapun- Eigenschaft, resilient auf widrige Umstände zu
zel an einen Ort, über welchen nur sie die Kontrolle reagieren, ist kein stabiles Persönlichkeitsmerkmal,
hat. Mit dem Eindringen des Mannes in ihren Garten sondern variiert über die Zeit und zwischen Situatio-
verliert sie erstmals die Kontrolle. Sie ist so erzürnt, nen (Wittchen u. Hoyer 2011). Typische förderliche
dass sie den Mann dazu zwingt, ihr sein einziges Kind Faktoren, die zur Entwicklung von Resilienz beitra-
zu versprechen. Als Rapunzel dann Jahre später ver- gen, z. B. familiäre Stabilität, ein fester Freundes-
sehentlich ihre Beziehung zum Prinzen offenbart, kreis oder eine unterstützende Erziehung (Werner
entgleitet ihr erneut die Kontrolle. Daraufhin schickt u. Smith 1989), lassen sich in Rapunzels Leben nicht
sie Rapunzel in die Verdammnis und den Prinzen finden.
in tiefe Verzweiflung. Dieses Handeln gibt ihr ihre Eine mögliche Erklärung auf die Frage, wie
Macht zurück. Rapunzel dennoch Resilienz entwickeln kann, liefern
Macht hat viele Formen und nicht alle davon sind die Befunde von Werner (1993). Diese zeigten, dass
negativ. Verwenden wir anstatt Macht das Wort Ein- bei Jungen externe Schutzfaktoren (z. B. familiäre
fluss, so wird klar, dass unser Alltag davon geprägt Stabilität oder Unterstützung durch Freunde), bei
ist. In Organisationen bestimmen zahlreiche Aspekte Mädchen jedoch interne Schutzfaktoren (z. B. kog-
die Verteilung von Macht: Organisationsstrukturen nitive Fähigkeiten oder kontaktfreudige Verhaltens-
und -prozeduren beispielsweise verleihen Mitarbei- weisen) stärker zur Entstehung von Resilienz beitra-
tern in ihrer bestimmten Position Macht. Allerdings gen. Kontaktfreudige Verhaltensweisen, also eine
muss sich hier zur Macht immer auch der verant- stark ausgeprägte Fähigkeit, Beziehungen aufzuneh-
wortungsvolle Umgang mit dieser gesellen, denn im men, führen beispielsweise zur Erwiderung sozialer
Berufsalltag würde die Handlungsweise der Zauberin Unterstützung, welche sich in belastenden Situatio-
zu keinerlei positivem Ergebnis führen. nen positiv auswirkt. Kontaktfreudig scheint Rapun-
zel durchaus zu sein, was sich daran zeigt, dass sie
nach kürzester Zeit bereits eine Verlobung mit dem
8.3.3 Resilienz ihr unbekannten Prinzen eingeht.

Ein weiteres Phänomen im Märchen „Rapunzel“ ist


die sog. Resilienz, die psychische Widerstandskraft. 8.4 Bedeutung für die heutige Zeit
Dieser Begriff bezeichnet die Widerstandsfähigkeit und Implikationen
gegenüber widrigen und belastenden Situationen
und Lebensumständen und wird auch als psychi- Das Thema Depression und Burn-out nimmt in
sche Unverwundbarkeit beschrieben (Wittchen u. unserer von Leistung geprägten Gesellschaft stetig
Hoyer 2011). zu: Kinder, Schüler, Studenten, Eltern und Arbeit-
Nach Masten (2011) sind die wesentlichen Vor- nehmer sind betroffen. Jedoch wird das Thema noch
aussetzungen für Resilienz gegeben, wenn eine belas- immer tabuisiert und die Hemmschwelle, Schwä-
tende Situation vorliegt und diese erfolgreich bewäl- che einzugestehen, ist nach wie vor hoch. Doch
tigt wird. Demzufolge wird Rapunzel als Person mit es gibt auch Präventionsmöglichkeiten, sodass
58 Kapitel 8 · Rapunzel von den Gebrüdern Grimm (1815)

Lebenssituationen einen besseren Ausgang nehmen Nehmen wir diese Faktoren jedoch als Ansporn,
können als im Märchen. als messbare und vorzeigbare Belohnung für geleis-
In Unternehmen kann dies beispielsweise tete Arbeit und große Anstrengungen, können wir
erreicht werden, indem sich Führungskräfte für uns daran erfreuen – und anstatt der Rapunzeln im
eine offene und wertschätzende Unternehmenskul- fremden Garten die Lorbeeren im eigenen ernten.
tur einsetzen. Teil dieser Unternehmenskultur sollte
es sein, Mitarbeitern Mitspracherecht einzuräumen.
Dies führt über die Vermittlung des Gefühls von 8.5 Fazit
Beeinflussbarkeit, Vorhersehbarkeit und Erklärbar-
keit (Frey u. Jonas 2002) zu Kontroll- und Autono- Man darf sich nicht einfach nehmen, was man
mieempfinden bezüglich Prozessen, Aufgaben und begehrt. Tut man es doch, so wird Böses passieren –
Ergebnissen. Auch in der Erziehung lässt sich durch das ist die Botschaft, die von den Gebrüdern Grimm
eine offene und wertschätzende Haltung der Eltern in dem Märchen „Rapunzel“ übermittelt wird. Dieser
Engagement, Verantwortlichkeit und Motivation zu Werteverstoß tritt im Märchen in verschiedenen
selbstständigem Handeln fördern – Eigenschaften Konstellationen auf. Der Diebstahl der Rapunzeln
die unseren Kindern in einer immer komplexer wer- wird geahndet, indem man das ersehnte Kind herge-
denden Welt zugutekommen. ben muss, die böse List der Zauberin hat den Verlust
8 Ferner zeigen uns die Gebrüder Grimm am Bei-
spiel von Rapunzel die Bedeutung von Resilienz auf.
des Mädchens zur Folge, und die versuchte Flucht
mit dem Prinzen bezahlt Rapunzel mit der Verban-
Nicht nur in unserem Alltag begegnen wir ständig nung und der Prinz mit seinem Augenlicht.
Situationen, in denen diese Eigenschaft wichtig ist. Die Aufteilung in ein klares Gut und Böse zeich-
Auch in Organisationen herrschen häufig schwie- net die Märchen der Gebrüder Grimm aus, ebenso
rige und belastende Zustände, in denen es essenziell ihr zumeist glückliches Ende. Natürlich stellt die Zau-
ist, resiliente Mitarbeiter zu haben, die auch in der berin in der Geschichte die Inkarnation des Bösen
Krise optimistisch bleiben, gemeinsam nach Lösun- dar, während Rapunzel, das unschuldige Mädchen
gen suchen und die Situation unbeschadet meistern. mit goldenen Haaren, das Gute verkörpert. Rapun-
Darum ist es wichtig die Entwicklung von Resilienz zel ist in gewisser Weise der Spielball zwischen den
bei unseren Mitmenschen – seien es nun unsere Mit- einfachen Leuten, die sich nicht mit dem ihnen Gege-
arbeiter, Freunde oder Kinder – zu fördern, indem benen abfinden wollen und der machtgierigen Zau-
wir ihnen Stabilität, Wertschätzung und Unter- berin, die sie dafür bestraft. Für Rapunzel endet die
stützung zukommen lassen, wann immer sie diese Geschichte glücklich. Die wahre Liebe, die allen Wid-
benötigen. rigkeiten trotzt, führt sie und den Prinzen zu guter
Auch aus dem Verhalten der Zauberin können Letzt in eine gemeinsame Zukunft.
wir Impulse für unseren Alltag ziehen. Die Zaube-
rin schützt um jeden Preis ihre kleine, vermeintlich
perfekte Welt. Ihr Verhalten ist beispielhaft für das Literaturverzeichnis
oft engstirnige Streben nach einem perfekten Soll-
Bierhoff, H.-W. (2006). Sozialpsychologie: Ein Lehrbuch (6. Aufl.).
zustand, der blind macht für das Jetzt. Im Laufe der Stuttgart: Kohlhammer.
Erzählung haben wir sie als egoistischen, rücksichts- Bromet, E., Andrade, L. H., Hwang, I., Sampson, N. A., Alonso, J.,
losen und machtgierigen Menschen kennengelernt. & de Girolamo, G. (2011). Cross-national epidemiology of
Ist ihr Verhalten tatsächlich zu verurteilen? DSM-IV major depressive episode. BMC Medicine 9, 90.
Dilling, H., & Freyberger, J. H. (2015). Taschenführer zur ICD-10
Natürlich beschützen wir, was wir uns mühevoll
Klassifikation psychischer Störungen. Göttingen: Hogrefe.
erarbeitet haben. Die Frage ist, wie ausschließlich wir Frey, D. (2015). Soziale und kommerzielle Organisationen als
uns darüber definieren. Sind die berufliche Karriere, Vorbild für neue Kulturen. Angewandte Sozialpsycho-
Statussymbole und Geld unsere alleinige Messlatte logie. Folientexte zur Vorlesung, WiSe 2015/16. München:
für Glück und Erfolg? Dann wird alles in sich zusam- Ludwig-Maximilians-Universität.
Frey, D., & Jonas, E. (2002). Die Theorie der kognizierten Kont-
menbrechen, sobald das Gewünschte unerreicht
rolle. In: D. Frey, & M. Irle (Hrsg.), Theorien der Sozialpsycho-
bleibt oder – wie bei der Zauberin – bedroht ist.
Literaturverzeichnis
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logie. Band III: Motivation und Informationsverarbeitung
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einem Vorwort von Michael Maar. Berlin: Tulipan.
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Holsboer, F. (2011). Depression – wie die Krankheit unsere Seele
belastet. München: Allianz Deutschland.
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Masten, A. S. (2001). Ordinary magic: Resilience processes in
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Wittchen, H.-U., & Hoyer, J. (Hrsg.). (2011). Klinische Psychologie
& Psychotherapie (2. Aufl.). Berlin, Heidelberg: Springer.
61 9

Schneewittchen von den


Gebrüdern Grimm (1857)
Miriam Krug

9.1 Inhalt des Märchens – 62

9.2 Die Charaktere – 63

9.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung


für die heutige Zeit – 63
9.3.1 Narzissmus und Neid – 63
9.3.2 Attraktivitätsstereotyp: Wer schön ist, ist auch gut – 64
9.3.3 Entwicklung vom Mädchen zur jungen Frau – 65
9.3.4 Zivilcourage und Hilfeverhalten – 66

9.4 Fazit – 67

Literaturverzeichnis – 67

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_9
62 Kapitel 9 · Schneewittchen von den Gebrüdern Grimm (1857)

9.1 Inhalt des Märchens

Es war einmal eine Königin, die wünschte sich sehn-


lichst ein Kind mit einer Haut so weiß wie Schnee,
mit Lippen so rot wie Blut und mit Haaren so schwarz
wie Ebenholz. Ihr Wunsch erfüllte sich, und sie
nannte es Schneewittchen. Kurz nach der Geburt
starb die Königin. Ein Jahr später heiratete der
König eine andere, sehr schöne, aber eitle und stolze
Frau, welche es nicht ertragen konnte von Schön- . Abb. 9.1  (Zeichnung: Johanna Frey)
heit übertroffen zu werden. Jeden Tag fragte sie ihren
Spiegel: „Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die aussah, legten sie das Mädchen in einen gläsernen
Schönste im ganzen Land?“, um die Bestätigung zu Sarg.
hören, dass sie es wäre. So war sie zufrieden, denn sie Ein Königssohn entdeckte diesen und bat die
wusste, dass der Spiegel immer die Wahrheit sagte. Zwerge um Überlass, da er ohne den Anblick dieses
Schneewittchen wuchs heran und wurde schöner schönen Mädchens nicht mehr leben könne. Aus
und schöner. Als sie etwa sieben Jahre alt war, ant- Mitleid überließen sie ihm den Sarg. Beim Transport
wortete der Spiegel plötzlich: „Frau Königin, Ihr seid stolperte einer der Diener und Schneewittchen fiel
die Schönste hier, aber Schneewittchen ist tausend- das vergiftete Apfelstück plötzlich aus dem Mund. Sie
mal schöner als Ihr.“ wurde wieder lebendig, und der Königssohn und das
9 Von Neid geplagt befahl die Königin einem Jäger, Schneewittchen vermählten sich. Die neidische Stief-
Schneewittchen zu töten und als Beweis deren Lunge mutter wurde zur Hochzeit eingeladen und musste
und Leber vorzuzeigen. Dieser ließ das Mädchen zur Strafe in rot glühende Eisenpantoffeln steigen
jedoch am Leben und brachte die Lunge und Leber und im Feuer tanzen, bis sie tot umfiel.
eines Frischlings. Schneewittchen flüchtete indes in (Grimm u. Grimm 1857; . Abb. 9.1, . Abb. 9.2)
den Wald und gelangte an ein Häuschen. Als sie am
nächsten Morgen dort aufwachte, lernte sie die Haus- Anmerkung  Schneewittchen gehört wohl zu den
bewohner, die sieben Zwerge, kennen, bei welchen bekanntesten Märchen der Gebrüder Grimm.
sie fortan den Haushalt führte. Neben unzähligen Verfilmungen wurden Lieder für
Die Zwerge warnten das Schneewittchen immer Jung und Alt, Opern sowie Ballettaufführungen zu
wieder, sich vor der Stiefmutter zu hüten. Sie solle Schneewittchen geschrieben.
niemanden hereinlassen, wenn sie alleine zu Hause
wäre. Die Stiefmutter erfuhr jedoch durch den
Spiegel, der immer noch die Wahrheit sagte, dass
Schneewittchen am Leben war und hinter den
Bergen bei den sieben Zwergen wohnte. So verklei-
dete sie sich als Händlerin und bot dem Mädchen
Waren an, welche sie umbringen sollten. Einen
Schnürriemen zog sie so eng, dass Schneewittchen
zu ersticken drohte, einen Kamm und die Hälfte
eines Apfels präparierte sie mit Gift. Die ersten
beiden Male gelang es den sieben Zwergen, Schnee-
wittchen ins Leben zurückzuholen, indem sie das
Mädchen von dem Schnürriemen und dem vergif-
teten Kamm befreiten. Beim dritten Male konnten
sie die Todesursache jedoch nicht herausfinden und
hielten Schneewittchen für tot. Weil sie so schön . Abb. 9.2  (Zeichnung: Johanna Frey)
9.3 · Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
63 9
9.2 Die Charaktere in einer gestörten Selbstliebe und -einschätzung
widerspiegelt. Die übersteigerte Wahrnehmung nach
Schneewittchen erfüllt ihrer Mutter mit ihrer makel- eigener Wichtigkeit wird von Fantasien grenzenlosen
losen Schönheit einen Lebenstraum. Die übermäßige Erfolgs, Macht, Glanz, Schönheit oder idealer Liebe
Schönheit wird ihr jedoch später zum Verhängnis, begleitet (Kriterium der narzisstischen Persönlich-
indem nach dem Tod der Mutter eine neue Frau keitsstörung nach dem Diagnosemanual für psy-
in das Leben ihres Vaters tritt. Die böse Stiefmut- chische Störungen, 5. Revision, DSM-5; APA 2013).
ter kann es nicht ertragen von anderer Schönheit Man verlangt maßlose Bewunderung und glaubt ein-
übertroffen zu werden. Sie beauftragt einen Jäger, zigartig zu sein. Um dies bestätigt zu wissen, fragt die
Schneewittchen umzubringen. Dieser lässt das Stiefmutter ihren Spiegel immer wieder aufs Neue,
schöne Mädchen jedoch aus Mitleid am Leben. Bei wer die Schönste im ganzen Land sei.
den sieben Zwergen findet Schneewittchen Unter- Im realen Leben beginnen Narzissten, sich sehr
schlupf. Sie nehmen das Mädchen herzlich auf und stark mit anderen zu vergleichen, und sind hierfür
integrieren es. Die böse Stiefmutter wird immer zor- hoch sensibel. Positive Vergleiche resultieren in
niger und greift nun selbst zu grausamen Maßnah- Bestätigung, negative in Minderwertigkeitskomple-
men, um die Konkurrentin loszuwerden. Die sieben xen. Narzisstische Personen sind besessen, ihre zen-
Zwerge kommen jedoch immer rechtzeitig, um tralen Motive nach Anerkennung, Wichtigkeit und
Schneewittchen zu befreien. Als sie nach dem letzten Solidarität erfüllt zu sehen. Manipulationen erfol-
Attentat der Stiefmutter für tot gehalten wird, betritt gen, um das grandiose Gefühl der eigenen Wichtig-
der Königssohn die Szene. Durch seine Aktion, das keit aufrechtzuerhalten. So beauftragt die Stiefmut-
Mädchen in das Schloss bringen zu lassen, weil er ter einen Jäger, Schneewittchen zu töten, und geht im
den Anblick ihrer Schönheit nicht missen möchte, Anschluss selbst über Leichen.
rettet er ihr unbeabsichtigt das Leben, und sie werden Narzisstische Eigenschaften implizieren aller-
glücklich bis an ihr Lebensende. Die böse Stiefmutter dings noch keinen Krankheitswert. Narzissmus ist im
erhält eine gerechte Strafe. Gegenteil gut und wichtig, wenn ein gesunder Selbst-
wert erzeugt wird. Schädliche Auswirkungen ergeben
sich erst, wenn er – wie bei der Stiefmutter – krank-
9.3 Psychologische Phänomene und haft und übersteigert gezeigt wird, man unfähig für
Bedeutung für die heutige Zeit zwischenmenschliche Beziehungen ist und anderen
Schlechtes oder gar den Tod wünscht.
Folgende psychologische Phänomene werden the- Auch die leibliche Mutter von Schneewittchen,
matisiert und reflektiert: welche zu Beginn des Märchens erwähnt wird, zeigt
44Narzissmus und Neid narzisstische Motive. Sie wünscht sich ein Kind mit
44Attraktivitätsstereotyp: Wer schön ist, ist auch einer Haut so weiß wie Schnee, mit Lippen so rot
gut wie Blut und mit Haaren so schwarz wie Ebenholz.
44Entwicklung vom Mädchen zur jungen Frau Nur so kann sie ihre tiefe Traurigkeit und Ein-
44Zivilcourage und Hilfeverhalten samkeit überwinden. Man mag sich nun fragen,
was passiert wäre, wenn sie ein Kind bekommen
hätte, welches nicht ihren Wunschvorstellungen
9.3.1 Narzissmus und Neid entspricht.

Die böse Stiefmutter im Märchen zeigt narzisstische z Fragen zur Reflexion


Persönlichkeitszüge. Narzissmus wird in Anleh- 44Drücken wir unseren Kindern zu sehr unsere
nung an den Mythos des Narziss als „die Liebe, eigenen (unerfüllten) Wünsche auf?
die man dem Bild von sich selbst entgegenbringt“ 44Verlangen wir von ihnen, so zu sein, wie wir es
(Laplanche u. Pontalis 1984, S. 317) definiert. Es wollen?
liegt demnach eine übertriebene und übermäßige 44Helfen wir ihnen, die für sie richtigen Entschei-
Störung im Selbstwert vor, was sich insbesondere dungen zu treffen?
64 Kapitel 9 · Schneewittchen von den Gebrüdern Grimm (1857)

Verbindung von Narzissmus und Neid Ist Narzissmus angeboren oder


Neidgefühle sind typisch für Narzissten, gleichzei- erworben?
tig glauben sie jedoch auch, dass andere neidisch Ursachen für die Entwicklung einer narzisstischen
auf ihre Person sind. Man unterscheidet schwar- Persönlichkeitsstörung haben ihren Ursprung über-
zen und weißen Neid. Weißer Neid ist motivierend wiegend in der frühen Kindheit und Erziehung.
und antreibend, schwarzer zerstörerisch. Es ist der Wenn das Kind seine eigene Individualität und
schwarze Neid, welchen die Stiefmutter empfindet, Bedürfnisse nur stark begrenzt oder extrem unbe-
der andere verwünscht und eliminieren will. grenzt ausleben kann, wird die Entwicklung eines
Der deutsche Dichter Wilhelm Busch sagte gesunden Selbstwertes gestört. Zu viel oder zu wenig
einmal, Neid sei die aufrichtigste Form der elterliche Unterstützung sind somit negativ.
Anerkennung. Die Menschen sind gerne bereit, Die Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung
Mitleid sogar ohne Gegenleistung zu spenden, ist abhängig von der Veranlagung (Disposition) des
während ihr Neid hart erarbeitet, sogar erkämpft Kindes, eine narzisstische Persönlichkeitsstörung zu
werden muss. Wer andere jedoch nur mit Neid entwickeln, und von den Bedürfnissen sowie der Ein-
konfrontiert, leidet selbst häufig am meisten dar- flussnahme der Eltern.
unter. Insbesondere wenn überwiegend schwar- Daneben spielen die gesellschaftliche Akzep-
zer Neid empfunden wird, stehen sich Personen tanz und – heutzutage verstärkt – kurzlebigere
oft selbst im Weg. Anstatt sich auf ihre Individua- Trends eine Rolle. Schon früh lernen wir, uns von
lität zu besinnen, konzentrieren sie sich zu sehr anderen abzugrenzen. Die Eigenmarke „Ich“ wird
darauf, das zu wollen, was andere besitzen oder durch soziale Netzwerke und das „Selfie-Image“
9 streben nach noch mehr. Diese Fixierung, wie sie gefördert. Nach außen soll das eigene Leben perfekt
bei der Königin zu sehen ist, kann sich durch eine erscheinen.
innere Lähmung und Unzufriedenheit negativ Die Königin strebt nach makellosem Aussehen
auf die Zielerreichung auswirken, indem man sich und ewiger Jugendlichkeit, was sich auch in unserer
beispielsweise mit nichts anderem mehr zufrieden Kultur und anderen modernen Gesellschaften als
gibt. eine Art universales Ideal entwickelt hat. Ziel ist es,
Im Allgemeinen ist festzuhalten, dass Narziss- so lange wie möglich jung zu bleiben, und hierfür
mus eine starke Triebfeder darstellt, um nach oben gibt es mittlerweile fast keine Grenzen mehr. Es
zu kommen. So hat sich die Stiefmutter den König, erweckt den Anschein, als ob Narzissmus in unserer
einen begehrten und mächtigen Mann, als ihren Gesellschaft sogar zu einer erstrebens- und begeh-
Lebenspartner auserwählt. Es liegt nahe, dass es ihr renswerte Eigenschaft geworden ist, die zu Erfolg
weniger um die romantische Beziehung, sondern um und Wohlstand führt.
die mächtige Position und Prestige als Königin ging,
welche sie mit der Heirat erlangte. z Fragen zur Reflexion
Neidgefühle können durch Sicherheit, durch 44Ist Narzissmus tatsächlich für eine Karriere
die Pflege von Kooperationen und selbstbewuss- entscheidend? Oder haben andere Werte weit
tes Handeln minimiert werden. Das Entschei- mehr Gewicht?
dende dabei ist, sich nicht über andere zu definie- 44Welche persönlichen Ideale haben Sie?
ren, sondern die Zufriedenheit aus sich selbst heraus
zu finden.
9.3.2 Attraktivitätsstereotyp: Wer
z Fragen zur Reflexion schön ist, ist auch gut
44Wie schätzen Sie Ihre innere Zufriedenheit
ein? Schneewittchen verfügt über eine makellose Schön-
44Orientieren Sie sich häufig an anderen? heit und erfährt dadurch ein erhöhtes Maß an Auf-
44In welchen Situationen empfinden Sie Neid? merksamkeit. Im Allgemeinen werden attraktive Per-
Und in welchen werden Sie beneidet? sonen positiver behandelt. Sie erhalten z. B. bessere
9.3 · Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
65 9
Noten in der Schule, höhere Gehälter im Arbeitskon- der Stiefmutter führt sogar zur Tötungsabsicht. In
text und allgemein mehr Unterstützung und Hilfe. gegengeschlechtlichen Interaktionen, z. B. mit dem
Jäger, den sieben Zwergen sowie dem Königssohn,
hat ihre physische Attraktivität hingegen positive
Attraktivität und Halo-Effekt Auswirkungen.
Das Attraktivitätsstereotyp „Wer schön ist, ist
auch gut“ (Dion et al. 1972) gilt in verschiedenen
Lebensbereichen, Altersstufen und Kulturen. Dabei Queen-Bee-Syndrom
beeinflusst der Eindruck der zentralen Eigenschaft Aus dem Arbeitskontext ist bekannt, dass besonders
Attraktivität die Einschätzung anderer nicht beob- attraktive Frauen der Gefahr einer Diskriminie-
achtbarer Eigenschaften, z. B. Intelligenz, Beliebt- rung durch andere Frauen unterliegen. Das Queen-
heit, Sympathie. Somit wird der Gesamteindruck Bee-Syndrom (Ellemers et al. 2004) beschreibt,
über eine Person von der zentralen Eigenschaft dass Frauen häufig von anderen Frauen, welche
überstrahlt (Halo-Effekt; Murphy et al. 1993; Thorn- eine höhere Position im Unternehmen innehaben,
dike 1920). benachteiligt werden. Der Effekt verstärkt sich, wenn
Im Kindes- und frühen Jugendalter wirkt sich die die mächtigere Frau zusätzlich älter ist.
Attraktivität bei Mädchen im Allgemeinen förder- Doch warum besitzen Frauen solch ein hoch
lich aus und trägt zu deren Beliebtheit bei. Dies mag ausgeprägtes Konkurrenzbewusstsein, wenn es um
sich in besserer Notengebung an der Schule zeigen, die Attraktivität geht? Dies kann u. a. mit der Bedro-
ebenso erfahren sie mit zunehmendem Alter mehr hung des Selbstwertes erklärt werden. Wenn dem
Aufmerksamkeit von Jungen. Ist ein Mädchen hin- Individuum Personen auf einer für ihn relevanten
gegen unattraktiv, kann sich dies nachteilig auswir- Dimension überlegen sind (z. B. Attraktivität und
ken. Wird allein vom Aussehen auf den Charak- Alter bei Frauen) gefährden diese seinen Selbstwert
ter geschlossen (unattraktiv = weniger intelligent/ („social comparison bias“; Garcia et al. 2010). Daher
sympathisch), können soziale Ausgrenzung und möchte man sie am liebsten fernhalten, z. B. durch
mangelnder sozialer Rückhalt Gleichaltriger, der die schlechtere Bewertung einer attraktiven Bewer-
Peergroup, die Folge sein. Damit wird Mobbing berin (im Vergleich zu einem attraktiven männli-
begünstigt (z. B. in Schulen). chen Bewerber) durch eine weibliche Interviewerin
Kinder vergleichen sich mit den anderen und (Luxen u. van de Vijver 2006).
sind auf ein stabiles soziales Umfeld und einen schüt-
zenden Freundeskreis angewiesen, in dem z. B. nicht z Fragen zur Reflexion
in erster Linie auf das Äußere wert gelegt wird. Eltern, 44Welche Bereiche in Ihrem Leben würden Sie als
Erziehern und Lehrern fällt hierbei die Aufgabe persönlich relevant bezeichnen?
zu, weitere Qualitäten und Stärken der Kinder 44Wie reagieren Sie, wenn jemand in diesem
zu fördern, um zur Entwicklung eines gesunden für Sie wichtigen Bereich besser ist? Wie viel
Selbstbewusstseins beizutragen. So werden sowohl Stiefmutter steckt dann in Ihnen?
gegenüber attraktiven Mädchen Konkurrenz- und
Neidgefühle, die zu indirekten Aggressionen (z. B.
Lästereien) führen können, als auch eine Benachtei- 9.3.3 Entwicklung vom Mädchen zur
ligung weniger attraktiver Mädchen nur aufgrund jungen Frau
optischer Eigenschaften reduziert.
In dem Märchen wird die Stiefmutter selbst als Die Weltgesundheitsorganisation siedelt die Phase
sehr schön beschrieben – sie und Schneewittchen der Adoleszenz (Jugendalter) zwischen 10 und 20
begegnen sich auf Augenhöhe (Aussehen, Status). Jahren an. Schneewittchen mit ihren 7 Jahren hat
Allerdings differieren das Alter und die Erfahrung dieses Alter zu Beginn des Märchens zwar noch
deutlich. Das aufgrund der Attraktivität von Schnee- nicht erreicht, allerdings wird nicht detailliert aus-
wittchen übermäßig ausgeprägte Konkurrenzgefühl geführt, wie lange sie bei den Zwergen bleibt, und der
66 Kapitel 9 · Schneewittchen von den Gebrüdern Grimm (1857)

Königssohn sieht in ihr später eine mögliche Part- Aufgrund des stets späteren Berufseintritts „wird
nerin und verliebt sich in sie. Somit ist es bedeut- dieses Stadium des Heranreifens zu einer immer
sam, sich mit dem Heranwachsen eines Mädchens deutlich umrissenen und bewussten Periode, fast zu
zur jungen Frau zu beschäftigen. einer Lebensform zwischen Kindheit und Erwach-
Der Übergang vom Jugend- zum Erwachsenen- sensein“ (Erikson 1988, S. 123). Erikson spricht von
alter ist mit psychischen und physischen Herausfor- der Identitätskrise als psychosozialen Aspekt des
derungen verbunden. Neben der Akzeptanz kör- Heranreifens. Hier spielt immer auch die Umge-
perlicher Veränderungen spielen Identitätsbildung bung der Jugendlichen eine Rolle, z. B. der Ausbil-
und Persönlichkeitsentwicklung eine wesentliche dungskontext oder bei Schneewittchen das häusliche
Rolle. Die Ablösung der eigenen Familie und die Umfeld. Die Nähe zu dem anderen Geschlecht wird
(Nicht-)Gründung einer eigenen Familie treten in gesucht, auch sexuelle Annäherungen werden von
den Vordergrund. Mädchen eher akzeptiert (Schmidt 2014).
Der Begriff sexuelle Orientierung stellt das Ziel
sexueller Aktivität in den Vordergrund (z. B. Aufbau
Soziales Umfeld von Beziehungen zu Gleichaltrigen), während sich
Schneewittchens Kindheit ist mit problematischen die sexuelle Identität auf das eigene Geschlechtsver-
Bedingungen behaftet. Die Mutter ist früh gestorben, ständnis als Mann oder Frau bezieht. Die Identitäts-
die Stiefmutter voller Hass, und der Vater scheint findung wird stark durch gesellschaftliche Normen
sich um das Wohlergehen seiner Tochter nicht zu und soziale Bewertungen beeinflusst.
kümmern. Glücklicherweise trifft Schneewittchen auf
9 die sieben Zwerge, gleichzeitig kommt sie damit dem
Erwachsensein einen großen Schritt näher. Stammend 9.3.4 Zivilcourage und Hilfeverhalten
aus einem sittlichen Königshaus mit Bediensteten
führt sie fortan den Haushalt bei den „Bürgerlichen“. » Die Rettung der Menschen besteht gerade
Schneewittchen scheint keine schulische Ausbil- darin, dass alle alles angeht. (Alexander
dung zu genießen. Die Schule als soziales Gefüge Solschenizyn 1970)
nimmt in dieser Lebensphase in der Regel jedoch
einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung. Der Jäger zeigt zivilcouragiertes Handeln, da es ihm
Noch vor wenigen Jahrzehnten war es üblich, nach widerstrebt, ein unschuldiges Kind zu ermorden,
einem kurzen Schulabschnitt in das arbeitsintensive und er durch einen Akt des (zivilen) Ungehorsams
Erwachsenenleben überzutreten (Sander 2014). Frei- dessen Leben verschont. Er empfindet den Befehl der
räume, um sich mit Gleichaltrigen zu treffen und Stiefmutter als Unrecht und stellt sich – hier durch
gleichzeitig den Schutz des Elternhauses zu genie- das Unterlassen einer Gewalttat und das Vortäuschen
ßen, waren häufig nur Kindern (und zum größeren der Pflichterfüllung – schützend vor das Mädchen.
Teil den männlichen Nachkommen) aus gut situier- Zivilcourage beschreibt ein selbstloses Hilfeverhal-
ten Verhältnissen zugänglich. ten in einer akuten Notsituationen mit dem Risiko
Dank der Emanzipation genießen Frauen negativer Konsequenzen und Normverletzungen
mittlerweile einen gleichberechtigen Bildungszu- für sich selbst (Frey et al. 2001; Jonas u. Brandstät-
gang. Die Lebensumstände der Adoleszenzphase ter 2004). Das Verhalten ist in der Regel emotional
haben sich dementsprechend zugunsten der Frauen getrieben und beruht auf demokratischen Grund-
entwickelt. überzeugungen und persönlichen Wertvorstellun-
gen (Osswald et al. 2010).

Identitätsentwicklung und Sexualität


Das Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung Differenzierung zwischen Zivilcourage
von Erikson (1997) greift die Adoleszenz als 5. der und Hilfeverhalten
9 postulierten Entwicklungsphasen auf. Sie wird als Der Hauptunterschied zu Hilfeverhalten liegt in den
die Krise der „Identität vs. Identitätskonfusion“ im negativen Konsequenzen und der Gefahr begrün-
Jugendalter beschrieben. det, in welche man sich durch das zivilcouragierte
Literaturverzeichnis
67 9
Verhalten begibt. So lässt der Jäger Schneewittchen nicht an Bedeutung verloren haben. So lassen sich
fliehen, ungeachtet möglicher Folgen oder Bestra- wichtige Erkenntnisse auf individueller, aber auch
fungen durch die Königin. gesellschaftlicher Ebene ableiten, die uns zu verant-
Im Märchen konnte der Jäger seine Verantwor- wortungsvollem Handeln inspirieren und aufrufen.
tung nicht an andere anwesende Personen übertra-
gen (pluralistische Ignoranz, Verantwortungsdiffu- z Fragen zur Reflexion
sion). Zwar stellt er sich nicht schützend vor einen 44Wann spornt Sie Neid an, wann demotiviert er
unmittelbaren Angreifer, aber er sieht davon ab, den Sie?
nur ihm zugewiesenen Mordauftrag auszuführen. 44Inwiefern hat für Sie die innere Zufriedenheit
Situationale (z. B. Anzahl der Zuschauer) und per- etwas mit dem Alter zu tun?
sonale Faktoren (z. B. Aufmerksamkeit, Emotionen 44Stellen Sie sich vor, Sie sähen ab sofort so aus,
oder Vorurteile) beeinflussen gleichermaßen zivil- wie Sie es sich immer gewünscht haben. Was
couragiertes Einschreiten: Je mehr Zuschauer anwe- würde sich für Sie in Ihrem Leben verändern?
send sind, umso weniger wahrscheinlich wird gehol- 44Welche Entwicklungsherausforderungen gab
fen (Zuschauereffekt, auch Bystander-Effekt; Darley es in Ihrer Kindheit/Jugend? Was haben Sie
u. Latané 1968). Die eindeutige Identifizierung als daraus gelernt oder auch nicht gelernt?
Notsituation erhöht die Wahrscheinlichkeit, unab- 44Welche Personen in Ihrem Leben geben Ihnen
hängig von der Anzahl der Zuschauer einzugreifen. Kraft und unterstützen Sie? In welcher Form
Das Verhalten der sieben Zwerge ist hingegen erfolgt die Unterstützung? Gibt es vielleicht
prosozial und altruistisch . Sie nehmen Schnee- auch Personen, die Ihnen Ihre Kraft nehmen?
wittchen uneigennützig/selbstlos auf, bringen sich 44In welchen Situationen in Ihrem Leben haben
jedoch selbst nicht in Gefahr. Die Vermittlung des sie uneigennützig geholfen? Gab es Situationen,
Gefühls, umsorgt und wertgeschätzt zu werden, fällt in denen Ihr Hilfeverhalten riskant war? Wenn
unter die sozioemotionale Unterstützung. Die Bereit- ja, würden Sie – rückblickend betrachtet –
stellung einer Unterkunft und Nahrung ist ein Bei- wieder genauso handeln?
spiel für die materielle Unterstützung. Auch geben
die sieben Zwerge dem Mädchen den Rat, sich vor
der Stiefmutter zu hüten, und unterstützen sie somit Literaturverzeichnis
auch informational. Insbesondere, wenn Empathie
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vation? Journal of Personality and Social Psychology 40,
z Fragen zur Reflexion
290–302.
44Hätten Sie auch so zivilcouragiert gehandelt wie Darley, J. M., & Latané, B. (1968). Bystander intervention in
der Jäger? Oder liegt Ihnen mehr die Hilfs- emergencies: Diffusion of responsibility. Journal of Perso-
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68 Kapitel 9 · Schneewittchen von den Gebrüdern Grimm (1857)

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69 10

Rotkäppchen von den


Gebrüdern Grimm (1812)
Sabine Weber

10.1 Inhalt des Märchens – 70

10.2 Die Charaktere – 70

10.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 71


10.3.1 Dramadreieck – 71
10.3.2 Versprechen – 72
10.3.3 Vertrauen – 73
10.3.4 Prosoziales Verhalten – 74

10.4 Bedeutung für die heutige Zeit – 74

10.5 Fazit – 75

Literaturverzeichnis – 75

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_10
70 Kapitel 10 · Rotkäppchen von den Gebrüdern Grimm (1812)

10.1 Inhalt des Märchens besser fressen kann!“ Und das Mädchen wurde sogleich
vom bösen Wolf verschlungen.
Es war einmal ein kleines, süßes Mädchen namens Wie der Wolf sein Gelüsten gestillt hatte, legte
Rotkäppchen, das von ihrer Mutter zur erkrankten er sich wieder ins Bett der Großmutter, um sich aus-
Großmutter geschickt wurde, um ihr Kuchen und zuruhen. Ein Jäger, der aufgrund des lauten Schnar-
Wein zu bringen. Dabei ermahnte die Mutter das chens der Großmutter besorgt war, fand den Wolf
Kind, nicht vom Weg abzukommen, was Rotkäpp- im Bett der alten Dame, schnitt ihm den Bauch auf
chen ihr versprach. und rettete Rotkäppchen und ihre Großmutter. Diese
Auf ihrem Weg durch den Wald begegnete ihr füllten den Bauch des Wolfes daraufhin mit schwe-
der böse Wolf, dem sie sogleich von ihrem Vorhaben ren Steinen. Solchermaßen beschwert verendete der
erzählte und den Weg zur Großmutter schilderte. Um Wolf, alle frohlockten und Rotkäppchen versprach,
seinen hinterlistigen Plan, die Großmutter zusam- nie wieder vom Weg abzukommen.
men mit Rotkäppchen zu verschlingen, umzusetzen, Es wird erzählt, dass ihr einst erneut ein Wolf
überredete der Wolf das Mädchen, ihrer Großmut- entgegenkam. Rotkäppchen ging daraufhin jedoch
ter einen Blumenstrauß zu pflücken. Während diese auf direktem Wege zur Großmutter, mit der sie einen
im Wald nach den schönsten Blumen suchte, eilte der Plan ausheckte, um den Wolf an seinem Vorhaben,
Wolf zum Haus der Großmutter und verschlang die alte das Mädchen zu fressen, zu hindern. Schließlich
Frau. Anschließend kleidete er sich mit ihren Kleidern, ertrank der böse Wolf, und das Kind ging fröhlich
legte sich in ihr Bett und wartete auf das junge, zarte und vergnügt nach Hause.
Mädchen. Als das Kind am Haus ankam, wunderte es (Grimm u. Grimm 1812; . Abb. 10.1)
sich über das Aussehen der Großmutter: „Ei, Groß-
mutter, was hast du für große Ohren?“ – „Dass ich dich
10.2 Die Charaktere
10 besser hören kann!“ „Ei, Großmutter, was hast du für
große Augen?“ – „Dass ich dich besser sehen kann!“ „Ei,
Großmutter, was hast du für große Hände?“ – „Dass ich Nachdem der Inhalt des Märchens nun präsent
dich besser packen kann!“ „Aber, Großmutter, was hast ist, soll im Folgenden ein Blick auf die Charak-
du für ein entsetzlich großes Maul?“ – „Dass ich dich tere geworfen werden, deren Einstellungen und

. Abb. 10.1  (Zeichnung: Claudia


Styrsky)
10.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
71 10
Verhaltensweisen als Grundlage der psychologischen den beiden verschlungen Opfern nicht zu schaden,
Analyse dienen. sondern schneidet ihm den Bauch auf und rettet so
Die Mutter nimmt eine Nebenrolle ein, da sie Rotkäppchen und die Großmutter.
lediglich zu Beginn der Geschichte erwähnt wird.
Fürsorglich und besorgt bittet sie Rotkäppchen, der
kranken Oma Gaben zur Genesung zu bringen. Aus 10.3 Psychologische Phänomene und
der Ermahnung, nicht vom Weg abzukommen, ist Implikationen
bereits zu erkennen, dass sie stets in Sorge um ihr
Kind ist. Basierend auf der Charakterisierung der Akteure
Über die kranke Großmutter wird nur berichtet, sollen nun deren Einstellungen und Verhalten
dass sie in einem Haus im Wald lebt und auf Unter- unter psychologischen Gesichtspunkten betrachtet
stützung der Familie angewiesen ist. Ihre Krankheit werden. Eine Auswahl der im Märchen vorkommen-
ist der Auslöser dafür, dass sich das Mädchen auf den den Phänomene der Psychologie wird nachfolgend
Weg in den Wald begibt. dargestellt.
Im Zentrum des Märchens steht Rotkäppchen.
Dieses wird klischeehaft und den geltenden Ste-
reotypen entsprechend als kleines, süßes, höfliches 10.3.1 Dramadreieck
Mädchen beschrieben. Ihr naives und vertrauensseli-
ges Verhalten bietet Angriffsfläche für das „Böse“ der Das Dramadreieck ist ein von Karpman (1968) ent-
Geschichte, bringt sich und die Großmutter in große wickeltes psychologisches und soziales Modell der
Gefahr und trägt zur Dramatik des Märchens bei. Als Transaktionsanalyse. Diese Theorie der Persönlich-
sie dem Wolf im Wald begegnet, erkennt sie seine List keit (Eltern-Ich, Erwachsenen-Ich, Kind-Ich) und
und Bösartigkeit nicht und vertraut ihm bedenken- Richtung der Psychotherapie zielt darauf ab, sowohl
los alle Details, die er für seinen hinterlistigen Plan die Entwicklung als auch die Veränderungen der Per-
benötigt, an. Aufgrund ihrer Gutgläubigkeit lässt sie sönlichkeit zu fördern. Genauer ist die Transaktions-
sich von ihm vom Weg abbringen, um Blumen für analyse durch einen qualifizierten Umgang mit der
die Großmutter zu pflücken. Dadurch bricht sie ihr Gestaltung von Wirklichkeiten durch Kommunika-
Versprechen gegenüber der Mutter und verliert ihr tion definiert, bei dem Beziehungsaspekte und die
eigentliches Ziel aus den Augen. Gestaltung von Begegnungen im Vordergrund steht.
Der Wolf spiegelt das Böse im Märchen wider. Als Das Dramadreieck beschreibt ein grundlegen-
dieser Rotkäppchen trifft, wittert er die Chance auf des, in vielen Märchen enthaltenes Beziehungsmus-
leichte Beute. Von Gier getrieben fragt er das Kind ter zwischen mindestens zwei Personen, die darin
gezielt aus und kann anhand ihrer ausführlichen die Rollen des Opfers, Verfolgers und Retters sowie
Erzählungen einen hinterlistigen Plan schmieden: Er die damit verbundenen Verhaltensweisen einneh-
will Rotkäppchen vom Weg ablenken, sich dadurch men. Mit diesem lassen sich Problemsituationen gut
Zeit verschaffen, sodass er nicht nur die alte Groß- beschreiben. Immer wenn jemand Schwierigkeiten
mutter, sondern auch das Kind fressen kann. Dabei hat, können wir beobachten, dass er und meist auch
nutzt der gerissene, böse Wolf Rotkäppchens Nai- die anderen an der Situation Beteiligten eine Rolle
vität schamlos aus und täuscht das Mädchen durch im Dramadreieck einnehmen.
sein Vorgehen. Die Opferrolle geht meist mit Hilflosigkeit,
Der starke Jäger als positiver Gegenpol des Mär- Fehlern sowie ungeschickten Handlungen einher,
chens tritt als Retter und Verteidiger auf, als er durch sodass andere besorgt um das Opfer sind. Finanzielle
seine hohe Sensitivität und Aufmerksamkeit das Nöte, Verlust des Arbeitsplatzes, Betrug, ungerechte
laute Schnarchen im Haus der Großmutter bemerkt. Behandlung – all dies sind Situationen, in denen Per-
Um das Befinden der alten Dame besorgt, betritt er sonen in die Rolle des Opfers schlüpfen. Als Opfer
das Haus und findet den Wolf schlafend im Bett vor. fragt man sich häufig: Wieso passiert das immer mir?
Auch in der Notsituation handelt er umsichtig und Kennen auch Sie Personen, die häufig die Opferrolle
bedacht: Er erschießt den Wolf nicht sofort, um einnehmen?
72 Kapitel 10 · Rotkäppchen von den Gebrüdern Grimm (1812)

Gegenpolig dazu ist die Rolle des Verfolgers, der diese Reziprozität zu zeigen. Durch Versprechen
andere Personen unterdrückt, einengt oder gar ver- werden jedoch auch Erwartungen geweckt. For-
letzt. Charakteristisch für diese Rolle ist ein übertrie- schungsbefunde zeigen, dass eingehaltene Verspre-
bener Sinn für Recht, Ordnung und Machtausübung, chen zwar positive Effekte auf Beziehungen haben,
welcher auch durchgesetzt wird. Wo aber findet man z. B. wird Vertrauen gestärkt, aber auch zu Distan-
die Verfolgerrolle? Besonders in hierarchisch struk- zierung und Vertrauensverlust führen können, wenn
turierten Institutionen tritt diese häufig auf, da sich diese nicht eingehalten werden (Peetz u. Kammrath
hier viele Möglichkeiten bieten, die Rolle auszuleben. 2011). Wir sehen, dass uns Versprechen prägen und
Die dritte Rolle des Retters wird von prosozialem deren Einhaltung Auskunft über die Zuverlässig-
Verhalten begleitet. Retter leiden sozusagen am „Hel- keit von Personen gibt. Versprechen haben also die
fersyndrom“, sie sehen überall potenzielle Opfer, die Macht, Beziehungen zu verändern, abhängig davon,
gerettet werden müssen. Kennen Sie Personen, die wie viel versprochen und wie viel davon auch ein-
sich diese Rolle zur Aufgabe gemacht haben? Denkt gehalten wird.
man an überfürsorgliche Mütter oder Ärzte, so gibt Wodurch werden diese Faktoren determiniert?
es sicherlich Personen, die sich tendenziell stärker Forscher haben herausgefunden, dass Personen, die
mit dieser Rolle identifizieren (Friedmann u. Fritz positivere Gefühle über ihre Beziehung empfinden,
2015). tendenziell mehr versprechen. Zudem konnte gezeigt
In unserem Märchen findet sich das Dramadrei- werden, dass Versprechen eher gebrochen werden,
eck ganz deutlich wieder. Großmutter und Rotkäpp- wenn man geringe Selbstregulationsfähigkeiten
chen spielen die Opferrolle, der böse Wolf ist der Ver- besitzt (Peetz u. Kammrath 2011).
folger und der Jäger schlüpft in die Retterrolle. Am Auch Rotkäppchen legt im Märchen ein Verspre-
Wendepunkt des Märchens verändern sich spannen- chen ab. Sie beteuert gegenüber ihrer Mutter, dass sie
10 derweise die Rollen, als sich Rotkäppchen, der Jäger sittsam zur Großmutter laufen und nicht vom Weg
sowie die Großmutter zusammenschließen und zu abkommen werde. Als sie jedoch den Wolf trifft, lässt
Verfolgern werden. Sie stopfen dem Wolf Steine in sie sich von ihm überzeugen, Blumen für die Oma
den Bauch und bringen ihn so zu Tode. Der böse zu pflücken. Dabei kommt sie vom Weg ab, ohne
Wolf wird dadurch am Ende des Märchens zum das zuvor gegebene Versprechen zu berücksichti-
Opfer, die Dramatik wird aufgelöst – das Gute siegt gen. Das Mädchen handelt demnach leichtsinnig
gegen das Böse. und naiv, scheint kein schlechtes Gewissen bezüg-
lich des gebrochenen Versprechens zu haben. Sind
es mangelnde Selbstregulationsfähigkeiten, die sie
10.3.2 Versprechen daran hindern, ihr Versprechen zu halten? Man darf
nicht vergessen, dass Rotkäppchen noch ein Kind ist.
Ein weiteres Phänomen, das im Märchen auftaucht, Kann man ihr also einen Vorwurf machen? Oder hat
ist das Versprechen. „Versprochen ist versprochen die Mutter womöglich die Gefahr zu wenig betont, zu
und wird auch nicht gebrochen“, diesen Spruch viel verlangt und Rotkäppchen Verantwortung aufge-
kennen bereits Kinder. Aber warum fällt es uns Men- bürdet, die sie überfordert hat? Vermutlich hätte sie
schen häufig so schwer, zu unserem Wort zu stehen ihre Bitte stärker forcieren, das Kind vor dem bösen
und Versprechen einzuhalten? Wolf warnen und die Konsequenzen, die aus der
Versprechen sind Teil unseres alltäglichen Abweichung vom Weg resultieren können, stärker
Lebens: Wir versprechen oft kleine Dinge, z. B. öfter verdeutlichen müssen.
im Haushalt zu helfen oder aber auch große, lebens-
verändernde Dinge, beispielsweise mit dem Rauchen
aufzuhören. Implikationen für die Erziehung
Generell lässt sich sagen, dass die Qualität von Das Märchen spiegelt die Bedeutung von Verspre-
Beziehungen u. a. vom gegenseitigen Entgegenkom- chen wider. Sicherlich ist Rotkäppchens gebrochenes
men (Reziprozität) abhängt. Versprechen zu geben Versprechen weniger schlimm, als wenn man z. B.
und diese auch einzuhalten, ist eine wichtige Art, jemandem Hilfe verspricht und diese dann nicht
10.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
73 10
leistet. Jedoch hatte es für das Kind negative Folgen, Was bedeutet es jedoch für uns, wenn wir ver-
dass sie sich nicht an das Versprechen gehalten hat. trauen? Es wurde herausgefunden, dass Vertrauen
Denn dadurch hat sie sich und ihre Großmutter in Intimität und die Bereitschaft zu vergeben begüns-
eine gefährliche Lage gebracht. tigt. Zudem konnten positive Effekte auf die Gesund-
Auch die Forschung zeigt, dass zahlreiche nega- heit nachgewiesen werden. Beispielsweise werden
tive Konsequenzen aus gebrochenen Versprechen negative Auswirkungen von Stress durch Vertrauen
resultieren. Daher sollte bereits in der Erziehung reduziert. Auch in der Arbeitswelt zeigen sich güns-
darauf geachtet werden, Kindern zu vermitteln, wie tige Folgen von Vertrauen (z. B. erhöhte Arbeitszu-
wichtig Versprechen und deren Einhaltung sind. friedenheit, Leistung; Neser 2016). Dennoch sind
Jedoch sollten auch wir, liebe Leser, uns immer auch schädliche Effekte denkbar. Werden blind ver-
wieder selbst daran erinnern. Denn versprochen ist trauende Personen (z. B. Rotkäppchen) besonders
nun mal versprochen und sollte auch nicht gebro- häufig ausgenutzt, hintergangen und betrogen?
chen werden! Nur selten werden solche negativen Konsequenzen
untersucht.
Generell kann man sagen, dass Vertrauen als
10.3.3 Vertrauen Mechanismus zur Reduktion von Komplexität
dient und so unseren Alltag vereinfacht und Über-
Ein Phänomen, das in engem Zusammenhang mit forderung verhindert. Vertrauensvolle Erwartun-
Versprechen steht, ist das Vertrauen. Denn Vertrauen gen ermöglichen uns zudem einen optimistischen
spiegelt die Erwartungshaltung von Individuen oder Blick in die Zukunft und ein Gefühl von Sicherheit,
Gruppen wider, dass man sich auf das Wort, Ver- wodurch Vertrauen als adaptive Strategie erscheint.
sprechen und Äußerungen von anderen verlassen Rotkäppchens Verhalten ist durch Vertrauen
kann (Neser 2016). Es stellt zudem die Grundlage für gekennzeichnet. Sie vertraut ihren Mitmenschen
soziale Ordnung dar und dient sozusagen als soziales blind, insbesondere auch dem bösen Wolf, dem sie
Schmieröl, das Transaktionen ermöglicht. Als wich- vollkommen naiv ihr Vorhaben schildert und sich so
tige Voraussetzung für Kooperation und Basis für in Gefahr bringt. Als der Wolf vorgibt, die Großmut-
die Stabilität von sozialen Institutionen und Märkten ter zu sein, lässt sie sich trotz anfänglicher Verwun-
nimmt es einen hohen Stellenwert für unser soziales derung über das Aussehen der Großmutter täuschen.
Miteinander ein (Graupmann et al. 2011).
Vertrauen enthält eine kognitive (positive Erwar-
tungshaltung), affektive (emotionale Bindung) sowie Implikationen für die Lebensgestaltung
Verhaltensdimension (konkretes Handeln). In der und Erziehung
Literatur werden verschiedene Formen von Ver- Durch Rotkäppchens vertrauensvolles Verhalten
trauen diskutiert: resultieren negative Konsequenzen für das Kind.
44Interpersonelles Vertrauen (Mitmenschen) Soll unser Verhalten jedoch nur durch Misstrauen
44Systemvertrauen (politische Systeme, geprägt sein? Vertrauen ist ein zentraler Wert in
Wirtschaft) unserer Gesellschaft und grundsätzlich als positiv
44Selbstvertrauen (eigene Fähigkeiten) und erstrebenswert zu erachten.
Allerdings sollte dieses Vertrauen in Maßen
Für unser Märchen ist das interpersonelle Vertrauen sein getreu dem Motto: „Vertrauen ist gut, Kon-
relevant. trolle ist besser.“ Vertrauen kann eben – wie im
Wovon hängt es aber nun ab, ob wir vertrauen Fall von Rotkäppchen – leicht missbraucht werden.
oder misstrauen? Die Forschung zeigt, dass das Ver- Daher sollte man nicht blind vertrauen. Ein gesun-
trauen in andere umso größer ist, je ähnlicher einem des Maß an Vorsicht und Kontrolle ist stets ratsam.
die Person ist und wenn das Gegenüber ein Mitglied Folgende Fragen können dabei Hilfestellung geben:
der eigenen Gruppe ist. Außerdem wurde ein sog. Welche Gründe hat der andere, mein Vertrauen
Reziprozitätsprinzip nachgewiesen, d. h. Vertrauen auszunutzen? Hat mich die Person schon einmal
kann Vertrauen schaffen (Neser 2016). enttäuscht?
74 Kapitel 10 · Rotkäppchen von den Gebrüdern Grimm (1812)

Bereits unseren Kindern sollte früh beigebracht prosozial, da es der Großmutter Gaben zur Genesung
werden, nicht jedem zu vertrauen und wachsam bringt. Besonders das Handeln des Jägers ist positiv
durch die Welt zu gehen. Dennoch ist zu betonen, hervorzuheben. Dieser setzt sich für die beiden Opfer
dass Vertrauen grundsätzlich gut ist, da hieraus ein, als diese in Not sind. Der Jäger zeigt eine hohe
beträchtliche positive Konsequenzen folgen. Sensitivität für die Entdeckung von Notfällen, inter-
pretiert die Situation richtig und übernimmt Verant-
wortung. Er meistert auch die letzten Hürden und
10.3.4 Prosoziales Verhalten weiß, wie er am besten helfen kann und zeigt letzt-
lich tatsächliches Hilfeverhalten.
Prosoziales Verhalten sind freiwillige Handlungen,
die darauf abzielen, einem oder mehreren Menschen
etwas Gutes zu tun, z. B. jemandem zu helfen, einen Implikationen für die Lebensgestaltung
Gefallen zu tun oder etwas zu spenden etc. (Graup- Aus dem prosozialen Verhalten der Akteure können
mann et al. 2011). Dabei unterscheidet man zwischen wir vieles lernen. In unserer Gesellschaft, die vom
einer egoistischen und altruistischen Motivation demografischen Wandel gekennzeichnet ist, wird
von prosozialem Verhalten. Altruistische Motiva- es immer wichtiger, dass wir Verantwortung für die
tion bedeutet, dass unterstützendes Verhalten durch ältere Generation übernehmen. Denn es sollte nicht
Mitgefühl und Perspektivenübernahme motiviert ist, vergessen werden, dass wir von allem profitieren,
wohingegen egoistische Motivation auf Gegenseitig- was diese nicht zuletzt für uns aufgebaut hat. Unser
keit von Hilfe basiert (Bierhoff et al. 2011). prosoziales Handeln sollte jedoch nicht nur Älteren
Was beeinflusst jedoch unsere Entscheidung, gelten. Bei all der Ungerechtigkeit und dem Leid in
prosozial zu handeln? Latané und Darley (1970) unserer heutigen Welt ist es bedeutsam, ungerecht
10 haben herausgefunden, dass der Entscheidungspro- behandelten, benachteiligten Personen zur Hilfe zu
zess zur Hilfe oder Nichthilfe in fünf Schritte bzw. kommen. Dies sollte eine Selbstverständlichkeit sein.
Hürden untergliedert werden kann:
1. Wahrnehmung der Situation: Ablenkung und
Zeitdruck verringern dabei die Wahrschein- 10.4 Bedeutung für die heutige Zeit
lichkeit, dass die Hilfesituation bemerkt wird.
2. Interpretation der Situation: Handelt es Sicherlich haben Sie sich gefragt, inwiefern das jahr-
sich um einen Notfall? Benötigt die Person hundertealte Märchen heutzutage überhaupt noch
tatsächlich Hilfe? Aufgrund von Unsicherheit relevant ist. Wie die Analyse zeigt, sind die psycholo-
verhalten sich viele Helfer häufig passiv. gischen Phänomene und Verhaltensweisen der Cha-
3. Übernahme persönlicher Verantwortung: raktere weiterhin aktuell.
Ist man bereit dazu, Verantwortung zu
übernehmen? » Ich sage ‚Wolf‘, aber es gibt da verschiedene
4. Einschätzung der Fähigkeit zum Helfen: Arten von Wölfen. Da gibt es solche, die auf
Weiß man, was man tun soll? Ist man fähig, zu charmante, ruhige, höfliche, bescheidene,
helfen? Häufig mindert Bewertungsangst die gefällige und herzliche Art jungen Frauen zu
Hilfsbereitschaft der potenziellen Helfer. Hause und auf der Straße hinterherlaufen.
5. Entscheidung zum Hilfeverhalten/tatsäch- Und unglückseligerweise sind es gerade die
liche Ausführung: Entscheidend sind hierbei Wölfe, welche die gefährlichsten von allen
subjektive Kosten der Hilfe. Vor- und Nachteile sind. (Perrault, zitiert in Lang 1885, S. 53,
werden abgewogen und schließlich wird Übersetzung der Autorin)
entsprechend der Kosten-Nutzen-Bilanz
gehandelt. Was ist in unserer Gesellschaft noch vertrauensvoll
und wo müssen auch wir besonders wachsam sein?
Im Märchen zeigen sowohl Rotkäppchen als auch Auch heute können vielerlei Arten von Wölfen ent-
der Jäger prosoziales Verhalten. Das Kind handelt deckt werden. Denken Sie an abzockende Banken,
Literaturverzeichnis
75 10
leere Versprechen der Politiker, unrealistische Damen, sollten niemals mit Fremden reden, da sie
Zusagen der Werbung, Abhörskandale. List, Trick- in diesem Fall sehr wohl die Mahlzeit für einen Wolf
serei, egoistische Vorteilsnahme – das „Böse“ beglei- abgeben könnten.“
tet unseren Alltag. Daher ist es umso wichtiger, auf- Das Märchen mit seinen Charakteren und Hand-
merksam durch die Welt zu gehen und sich nicht auf lungen hat bis heute wenig an Faszination einge-
naive Art von Wölfen der Umgebung täuschen zu büßt und illustriert wunderbar die Bedeutung von
lassen. Versprechen, Vertrauen und prosozialem Verhal-
Angesichts der zunehmenden Probleme der glo- ten, auf denen sich nicht nur unsere persönlichen
balen Welt erscheint es immer bedeutender, Verant- Beziehungen, sondern die der gesamten Gesellschaft
wortung in der Gesellschaft zu übernehmen und begründen.
prosozial zu handeln. Gerade schwächere, ältere,
benachteiligte Personen müssen unterstützt werden,
um das Allgemeinwohl zu erhöhen. Leider findet Literaturverzeichnis
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Auf persönlicher Ebene hat Vertrauen als ele- Bierhoff, H. W., Rohmann, E., & Frey, D. (2011). Positive Psycho-
mentarer Bestandteil von Beziehungen einen hohen logie: Glück, Prosoziales Verhalten, Verzeihen, Solidarität,
Bindung, Freundschaft. In: D. Frey, & H. W. Bierhoff (Hrsg.),
Stellenwert: Wurde Ihr Vertrauen schon einmal miss- Sozialpsychologie – Interaktion und Gruppe (S. 84–105).
braucht, haben Sie selbst Versprechen gebrochen? Göttingen: Hogrefe.
Jeder kennt wohl das Gefühl, vom Weg abgekommen Friedmann, D., & Fritz, K. (2015). Denken. Fühlen. Handeln (6.
zu sein und dabei sein Ziel aus den Augen verloren Aufl.). Wiesbaden: Springer Fachmedien.
zu haben. Ist dies der Fall, stellt man sich danach oft Graupmann, V., Osswald, S., Frey, D., Streicher, B., & Bierhoff, H.
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die Frage, was uns dieser Irrweg gebracht haben mag antwortung, Fairness, Optimismus, Vertrauen. In: D. Frey,
und was wir daraus lernen. Würde Rotkäppchen es & H. W. Bierhoff (Hrsg.), Sozialpsychologie – Interaktion und
nun anders machen? Am Ende des Märchens erfah- Gruppe (S. 108–129). Göttingen: Hogrefe.
ren wir, dass ihr erneut ein Wolf begegnete, sie sich Grimm, J., & Grimm, W. (2001). Rotkäppchen. In: H. Rölleke
(Hrsg.), Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen: Gesamt-
jedoch auf direktem Wege zur Großmutter begab
ausgabe in 3 Bänden mit den Originalanmerkungen der
und so der Gefahr entrann. An der Fortsetzung Brüder Grimm. Ditzingen: Reclam.
des Märchens erkennt man also, dass sie aus ihren Karpman, S. (1968). Fairy tales and script drama analysis. Trans-
Fehlern gelernt hat. Fehler und Irrtum ist mensch- actional Analysis Bulletin 7, 39–43.
lich – wichtig ist jedoch, dass man daraus lernt und Lang, A. (1885). The blue fairy book. London: Longmans,
Green & Co.
die Weichen künftig anders stellen kann.
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Why doesn’t he help? New York: Appleton-Century-Crofts.
Neser, S. (2016). Vertrauen. In: D. Frey (Hrsg.), Psychologie der
10.5 Fazit Werte: Von Achtsamkeit bis Zivilcourage-Basiswissen aus
Psychologie und Philosophie (S. 255–268). Berlin, Heidel-
berg: Springer.
Rotkäppchen als eine der bekanntesten Geschich-
Peetz, J., & Kammrath, L. (2011). Only because I love you: Why
ten Europas zählt zu den am häufigsten bearbeiteten, people make and why they break promises in romantic
interpretierten und parodierten Märchen. Es inspi- relationships. Journal of Personality and Social Psychology
riert bis heute zahlreiche Dramen, Opern, Werke der 100, 887–904.
bildenden Kunst sowie Werbekampagnen, in denen
sowohl Rotkäppchen als auch der böse Wolf beliebte
Charaktere darstellen. Erste literarische Fassungen
stammen bereits von Charles Perrault aus dem Jahr
1695. Damals lautete die Moral von der Geschichte:
„Kinder, insbesondere attraktive, wohlerzogene
77 11

Vom Fischer und seiner Frau


von den Gebrüdern Grimm
(1812)
Natalie Hartung und Katharina Pfaffinger

11.1 Inhalt des Märchens – 78

11.2 Die Charaktere – 79

11.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung für


die heutige Zeit – 79
11.3.1 Partnerschaft – 79
11.3.2 Auffälligkeiten im Verhalten der Fischersfrau – 81
11.3.3 Lebenszufriedenheit und Glücksempfinden – 82

11.4 Fazit – 83

Literaturverzeichnis – 83

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_11
78 Kapitel 11 · Vom Fischer und seiner Frau von den Gebrüdern Grimm (1812)

11.1 Inhalt des Märchens bitten zu müssen, aber er möchte sich auch nicht
gegen seine Frau stellen. Also geht er erneut zum
Im Märchen vom Fischer und seiner Frau geht es um Meer, das nun violett und grau ist, ruft den Butt und
ein Ehepaar, das in einer armseligen Hütte in Mee- erzählt ihm vom neuen Anliegen seiner Frau. Wieder
resnähe wohnt. Der Mann arbeitet als Fischer und zurück, steht die Frau vor einem Palast, der pracht-
fängt eines Tages im klaren, blauen Meer einen Butt, voll ausgestattet ist. Der Frau gefällt er sehr gut, und
der sich als verwunschener Prinz ausgibt und darum auch der Mann ist zufrieden und wünscht sich aber-
bittet, am Leben gelassen zu werden, was ihm der mals, dass ihr Leben nun so bleiben möge. Seine Frau
Mann erfüllt. Als der Fischer nach Hause kommt, ist jedoch immer schneller unzufrieden und überlegt
ist seine Frau verwundert, warum er sich nicht als ständig, was sie als nächstes haben oder sein möchte.
Gegenleistung für die Freilassung etwas vom Butt Sie will in der Folge zunächst König, anschließend
gewünscht hat. Sie fordert ihn auf, den Butt um eine Kaiser, dann Papst und schließlich Gott sein. Auch
anständige Hütte zu bitten. Widerwillig lässt sich der wenn es dem Willen des Mannes widerspricht, geht
Mann darauf ein, geht an das nun grün gewordene er immer wieder zum Butt und trägt ihm die neuen
Meer und ruft den Butt mit den Worten: „Manntje, Wünsche seiner Frau vor. Er merkt dabei selbst, dass
Manntje, Timpe Te, Buttje, Buttje in der See, myne diese immer unverschämter und maßloser werden.
Fru, de Ilsebill, will nich so, as ik wol will.“ Der Butt Auch das Meer verändert sich und wird zunehmend
kommt angeschwommen und der Fischer erzählt ihm dunkler, und das Wetter wird immer schlechter.
vom Wunsch seiner Frau. Mit den Worten: „Geh nur Nachdem der Butt einschließlich des Papstwun-
hin, sie hat sie schon“, fordert der Butt ihn auf, nach sches alle Begehren der Frau erfüllt hat und diese nun
Hause zu gehen, wo der Fischer eine neue Hütte mit Gott werden möchte, antwortet der Butt dem Fischer
kleinem Vorplatz und einer netten Kammer vorfindet. nur, dass seine Frau wieder in der alten Hütte sitzt, in
Beiden gefällt sie sehr, und der Fischer wünscht sich, der sie noch bis heute leben.
dass alles so bleibt und sie zufrieden leben können. (Grimm u. Grimm 2011; . Abb. 11.1)
Zwei Wochen später ist der Frau die Hütte zu
11 eng und sie möchte stattdessen ein Schloss. Dem Anmerkung  Das Märchen vom Fischer und seiner
Mann ist es unangenehm, den Butt wieder um etwas Frau gehört zu den Kinder- und Hausmärchen der

. Abb. 11.1  (Zeichnung: Claudia


Styrsky)
11.3 · Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
79 11
Brüder Grimm und wurde von Philipp Otto Runge die Gier der Frau bestraft wird, indem sie am Schluss
in vorpommerscher Mundart aufgeschrieben. alles wieder verliert.
Runge war ein deutscher Maler der Frühromantik.
Mit seiner Schrift Farben-Kugel, die sein eigens ent-
wickeltes dreidimensionales Farbsystem darstellt, 11.3 Psychologische Phänomene und
hat er einen entscheidenden Beitrag zur Kunst- Bedeutung für die heutige Zeit
theorie geleistet. Das Märchen gelangte über den
Schriftsteller Achim von Arnim, ebenfalls ein wich- Am Beispiel des Märchens „Vom Fischer und seiner
tiger Vertreter der Romantik, an die Brüder Grimm, Frau“ können interessante psychologische Phäno-
die das Märchen in die 1. Aufl. ihrer Kinder- und mene aufgezeigt werden, die in der Partnerschaft
Haus-Märchen aufnahmen, die 1812 herausgegeben sowie in Bezug auf die Lebenszufriedenheit und
wurde. das Glücksempfinden eine Rolle spielen. Daneben
widmet sich der 7 Abschn. 11.3.2 den Auffälligkeiten
des Verhaltens der Fischersfrau, greift also die klini-
11.2 Die Charaktere sche Psychologie auf.

Der Fischer ist ein bodenständiger und zufriedener


Mensch. Er beklagt sich nicht über die ärmlichen 11.3.1 Partnerschaft
Verhältnisse, in denen er mit seiner Frau zu Beginn
der Geschichte lebt. Nachdem er den verwunsche- Bis zum Ende des Märchens besteht die Partnerschaft
nen Butt fängt, lässt er ihn auf dessen Bitten wieder der Fischersleute trotz der Veränderungen und des
frei, woraus man auf seine Nächstenliebe schließen Verlustes fort. Die Frau sehnt sich nach Veränderun-
kann. Darüber hinaus mag er Veränderungen nicht gen und Verbesserungen in allen Lebensbereichen,
besonders. Ihm gefallen zwar die Verbesserungen der aber ihren Mann möchte sie behalten. Der Grund
Lebenssituation, aber er äußert immer wieder den könnte sein, dass er derjenige ist, der die Erfüllung
Wunsch, dass alles so bleibt, wie es jetzt ist. ihrer Wünsche erst ermöglicht. Dagegen spricht aber,
Die Fischersfrau wird im Märchen als Gegen- dass sie auch nach dem Verlust der Errungenschaften
pol zu ihrem Mann dargestellt. Sie ist machtgierig, zusammenbleiben.
schnell unzufrieden, maßlos und lässt gerne andere
Leute für sich arbeiten. Eigentlich profitiert aus-
schließlich sie von der Wunscherfüllung durch den Einfluss, Macht und Respekt
Butt, obwohl nicht sie, sondern nur ihr Mann etwas Dass in einer Partnerschaft immer Beeinflussung
dafür getan hat. Sie unterdrückt ihren Mann und stattfindet, liegt auf der Hand. Der eigene Partner ist
bringt ihn dazu, den Butt immer wieder um etwas zumeist die erste Person, der man wichtige Ereignisse
zu bitten, sogar gegen dessen Willen, woraus man auf erzählt, mit der man Entscheidungen diskutiert und
ein starkes Machtmotiv schließen kann. Mit ihrem an deren Meinung man besonders interessiert ist.
zunehmenden Reichtum und der größer werdenden In der Geschichte lässt sich gut erkennen, wie
Macht fokussiert sie sich immer stärker darauf, noch weit Beeinflussung in einer Beziehung gehen kann.
mehr haben zu wollen. Die Fischersfrau wird nie selbst aktiv, sondern bringt
Der Butt spielt im Märchen eine Schlüsselrolle, ihren Mann durch ihre Forderungen dazu, für sie
da er durch seine magischen Fähigkeiten in der Lage zu handeln. Der Fischer tut Dinge, die er gar nicht
ist, die Wünsche der Frau zu erfüllen. Nachdem er will, weil seine Frau es von ihm verlangt. Diese stark
vom Fischer geangelt und freigelassen wurde, erzählt einseitige Beeinflussung führt zu einem großen
dieser ihm von den Wünschen seiner Frau. Der Butt Machtgefälle. Mit der Aussage: „Du bist bloß mein
erfüllt diese ohne jeden Kommentar. Nur die Verän- Mann und ich bin Kaiser“, stellt die Frau klar, wie sie
derungen des Wassers und des Wetters könnten auf sich und ihren Mann in der Beziehung sieht. So ein
seine zunehmende Wut über die Maßlosigkeit der Ungleichgewicht gilt es, in einer Paarbeziehung zu
Frau hindeuten. Letztlich sorgt der Butt dafür, dass vermeiden, damit jeder Partner sein Bedürfnis nach
80 Kapitel 11 · Vom Fischer und seiner Frau von den Gebrüdern Grimm (1812)

Selbstwirksamkeit und Wertschätzung erfüllt sehen Gegenübers die spätere Bereitschaft der Versuchs-
kann. person, vom Gegenüber ein Los zu kaufen, verstärkt
Ein spannendes Phänomen im Zusammen- wird. Reziprozität kann nach Gouldner (1960) als
hang mit dem ungleich verteilten Einfluss in der soziale Norm gesehen werden, die die soziale Stabi-
Beziehung des Fischers und seiner Frau beschreibt lität steigert. In dieser Funktion erleichtert Rezipro-
der Arzt Dr. Jobst Finke. Er benennt einen verbrei- zität den zwischenmenschlichen Umgang, insbeson-
teten Paarkonflikt, der entsteht, wenn Frauen in dere wenn man davon ausgeht, dass Personen, denen
einer Beziehung Zuwendung fehlt und sie deshalb man einen Gefallen tut und denen gegenüber man
all ihr Begehren auf materielle Besitztümer verla- sich freundlich verhält, sich im Regelfall auch einem
gern (Finke 2013). Selbstverständlich kann dieses selbst gegenüber so verhalten.
Phänomen nicht 1:1 auf die Ehe des Fischers und Die Fischersfrau scheint das Reziprozitätsprin-
seiner Frau übertragen werden, denn es wäre speku- zip in ihrer Ehe sehr einseitig auszulegen, was dem
lativ, zu behaupten, dass der Fischer seiner Frau zu Sinn des Prinzips widerspricht. Wie selbstverständ-
Beginn wenig Zuwendung entgegengebracht hätte. lich geht sie davon aus, dass der Fisch ihrem Mann als
Dennoch passt das starke Verlangen der Fischersfrau Gegenleistung für die Freilassung etwas „schuldet“
nach immer mehr Reichtum und Macht gut zu der und ihm daher etwas zurückgeben muss. Es entwi-
von Finke beschriebenen Situation. ckelt sich ein zunehmendes Ungleichgewicht, da der
Auch Respekt ist zentral in jeder Art von Bezie- Fisch letztlich viel mehr einbringt, als es der Mann
hung, denn der Mensch hat ein ureigenes Verlangen mit der Freilassung getan hat. Insofern entspricht das
danach, von seinen Mitmenschen respektvoll behan- Ende des Märchens dem Reziprozitätsprinzip, da das
delt zu werden (Hansen 2008). Respekt bedeutet eine starke Ungleichgewicht durch den Verlust wieder
Grundhaltung, die die Würde des Gegenübers unab- ausgeglichen wird.
hängig vom gesellschaftlichen Status, der Herkunft,
des Geschlechts und sonstiger erdenklicher Merk-
male wahrt. Gehorsamkeit
11 Der Fischer wird weder von seiner Frau respek- Auch Gehorsamkeit spielt eine wichtige Rolle im
tiert noch fordert er den Respekt ein. Er scheint auch Märchen: Der Mann gehorcht seiner Frau und erfüllt
vor sich selbst keinen Respekt zu haben, was sich z. B. deren Anweisungen, obwohl sie seinem Willen
darin zeigt, dass er die Wünsche seiner Frau immer widersprechen. Doch warum zeigt der Mann diesen
wieder dem Butt vorträgt, obwohl es ihm selbst Gehorsam gegenüber seiner Frau? Unter welchen
zutiefst widerstrebt, diesen erneut zu belästigen. Bedingungen gehorchen Menschen allgemein? Mög-
Beziehungen sollten respektvoll gestaltet werden, liche Gründe des Fischers könnten seine Angst vor
auch in Bezug auf die eigenen Bedürfnisse. Jeder einer Bestrafung durch seine Frau sein, aber auch
von uns möchte schließlich mit Respekt behandelt sein eheliches Pflichtgefühl, die Wünsche seiner
werden, oder? Beginnen wir damit zuerst bei uns Frau zu erfüllen. Darüber hinaus könnte es auch die
selbst! Machtposition der Frau sein, die dazu führt, dass der
Mann ihr gehorchen muss.
Insbesondere der Gehorsam gegenüber Autori-
Reziprozität tätspersonen kann erschreckende Ausmaße anneh-
Unter Reziprozität versteht man das Bedürfnis men, wie Milgram (1963) in seinen Experimenten
von Personen, positive oder negative Handlungen zeigte. Er testete die Bereitschaft von Personen,
anderer Personen in gleicher Weise zu erwidern. Die autoritären Anweisungen zu folgen, auch wenn sie
Redewendung „Wie du mir, so ich dir“ könnte man ihrem Gewissen widersprechen. In einem Versuch
als umgangssprachlichen Ausdruck dieses Prinzips wurden die Versuchspersonen vom Versuchsleiter
auffassen. dazu aufgefordert, in ihrer zugewiesenen Rolle als
In einem Experiment konnte Regan (1971) „Lehrer“ einem „Schüler“ bei Fehlern immer stär-
zeigen, dass durch eine kleine Aufmerksamkeit des kere elektrische Schläge zu versetzen (Milgram
11.3 · Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
81 11
1963). Den Anweisungen des autoritären Versuchs- nach Eigenschaften, die sie bei sich selbst schätzen
leiters folgten immerhin 26 von 40 Versuchsperso- und auch von ihrem Partner erwarten.
nen bis zum Ende und gaben auch äußerst gefähr-
liche Schocks ab. z Prinzip der Ähnlichkeit
Auch Sie selbst können reflektieren, in welchen Viele Studien kommen zum Ergebnis, dass sich Men-
Situationen und gegenüber welchen Personen Sie schen in einer auf Dauer angelegten Beziehung eher
Gehorsam zeigen, ob das Ihrem eigenen Willen und Gemeinsamkeiten wünschen. Bei Online-Partner-
Gewissen widerspricht und inwiefern das überhaupt börsen zeigte sich der aktive Abgleich von Ähnlich-
gerechtfertigt ist. keiten als Voraussetzung für ein Kennenlernen, da
sich vor allem Kandidaten mit einer hohen Schnitt-
menge an Gemeinsamkeiten interessant fanden
Partnerwahl (Stüvel 2009). Beziehungen zwischen ähnlichen Part-
Eine intensive und aufregende Partnerschaft zwi- nern sind in der Regel konfliktfreier und beständiger
schen zwei eher unähnlichen Personen wird oft mit und funktionieren dann besonders gut, wenn sich die
der Feststellung „Gegensätze ziehen sich an“ kom- Partner in den Persönlichkeitseigenschaften Verträg-
mentiert. Andererseits gehört der Ausspruch „Gleich lichkeit, Gewissenhaftigkeit und Offenheit ähneln
und Gleich gesellt sich gern“ zu den weitverbreite- (Rammstedt u. Schupp 2008).
ten Bemerkungen im Zusammenhang mit Beziehun- Auch nach eingehender Betrachtung würde man
gen. Der Volksmund kennt also beide Konstellatio- den Fischer und seine Frau als eher gegensätzliche
nen von Paarbeziehungen, den Reiz des Neuen sowie Partner verstehen. Dass sie trotz aller Ungleichhei-
das Prinzip der Ähnlichkeit. ten bis zu ihrem Lebensende zusammenbleiben, mag
zum einen der Tatsache geschuldet sein, dass Bezie-
z Reiz des Neuen hungen damals weit weniger leichtfertig aufgegeben
In der Anfangsphase einer romantischen Beziehung wurden. Zum anderen trägt der Fischer durch sein
üben Gegensätze eine starke Anziehungskraft aus, unterwürfiges Verhalten dazu bei, Konflikte schnell
wobei Neues und Unbekanntes besonders reizvoll zu lösen und seine Frau zu besänftigen. Zudem ist er
sind. Entwickelt sich die Beziehung zu einer engeren in seiner Position, sich etwas vom Butt wünschen zu
Partnerschaft, bergen Unterschiede jedoch Konflikt- können, von großem Interesse für die Frau.
potenzial (Rammstedt u. Schupp 2008). Was sind Ihre Erfahrungen mit bzw. in Paarbe-
Aus evolutionsbiologischer Sicht macht die Wahl ziehungen? Sind Partnerschaften schöner, wenn sie
eines eher gegensätzlichen Partners durchaus Sinn, harmonisch sind und sich die Partner ähneln oder
denn zu ähnliche Partner verringern die Chance auf wenn sie einander ergänzen und durch ihre Unter-
gesunden Nachwuchs. Genetische Vielfalt hingegen schiedlichkeit herausfordern?
wirkt sich positiv auf die Gesundheit der Nachkom-
men aus (Junker u. Paul 2009).
Eine psychologische Theorie, die die Motivation 11.3.2 Auffälligkeiten im Verhalten der
zum Eingehen sozialer Beziehungen beschreibt, ist Fischersfrau
die soziale Austauschtheorie. Sie geht davon aus,
dass zwei Personen eine soziale Beziehung einge- Das ausgeprägte Streben der Fischersfrau nach
hen, wenn einer von beiden Ressourcen und Güter immer mehr Macht, mit der sie zuletzt das Aufge-
besitzt, die für den anderen begehrenswert sind und hen von Sonne, Mond und Sternen kontrollieren
dies auch umgekehrt der Fall ist (Thibaut u. Kelley will, die starke Einflussnahme auf ihren Mann und
1959). Man könnte die Theorie dahingehend erwei- die schnelle Unzufriedenheit könnten mit einer nar-
tern, dass Menschen bei potenziellen Partnern nach zisstischen Persönlichkeitsstörung in Zusammen-
begehrenswerten Eigenschaften suchen, und zwar hang stehen. Diese zeichnet sich durch übertrie-
sowohl nach ihnen fehlenden Eigenschaften, sie den bene Vergleiche mit anderen, ein starkes Bedürfnis
Partner also als Ergänzung wahrnehmen, als auch nach Bewunderung bei der Definition persönlicher
82 Kapitel 11 · Vom Fischer und seiner Frau von den Gebrüdern Grimm (1812)

Ziele sowie eine eingeschränkte Fähigkeit, die Emo- 11.3.3 Lebenszufriedenheit und
tionen anderer zu erkennen, aus. Betroffene Per- Glücksempfinden
sonen nutzen Beziehungen meist zur Regulation
ihres Selbstvertrauens aus und halten sich selbst für Wenn man von Glück spricht, werden von Peter-
weitaus besser als andere. Außerdem haben Betrof- son und Park (2006) drei Einschätzungsebenen
fene oft übersteigerte Ansprüche und handeln sehr unterschieden:
selbstbezogen (APA 2013). Obwohl man mit der 44Vergnügen, von kurzer Dauer
Diskussion und Vergabe psychiatrischer Diagnosen 44Eudämonie, ein längerfristiger Zustand, der
sehr vorsichtig sein muss und wir hier nur speku- häufig mit „Glückseligkeit“ übersetzt wird und
lieren können, weist das Verhalten der Fischersfrau sich durch das Gefühl auszeichnet, wirklich
interessante Parallelen zu typischen Handlungsmus- etwas bewegt zu haben
tern bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung 44Engagement/Flow, bei dem man vollkommen
auf. in seiner Arbeit aufgeht
In der Literatur wird das Selbstwertgefühl
als zentrales Thema im Zusammenhang mit der Alle Glücksformen wirken sich dabei auf die all-
narzisstischen Persönlichkeitsstörung diskutiert gemeine Lebenszufriedenheit aus, wobei Eudämo-
(Fiedler 2007). Obwohl der Selbstwert der betrof- nie und Engagement/Flow einen stärkeren Einfluss
fenen Personen auf den ersten Blick sehr hoch oder haben (Bierhoff et al. 2011).
sogar übersteigert wirkt, ist er oft sehr gering ausge- Der Fischer und seine Frau unterscheiden sich
prägt. Auch bei den Fischersleuten scheint die Frau darin, wovon ihr Glücksempfinden abhängt und
diejenige zu sein, die sich selbstsicher und unver- wie lange es anhält. Die Frau scheint ihr Glück
letzlich präsentiert, wohingegen sich der Fischer alleine durch materielle Aspekte zu definieren, und
nicht gegen sie durchsetzen kann. Innerhalb einer ihr Glücksempfinden ist eher von kurzer Dauer.
Beziehung ist der eigene Selbstwert auch abhängig Sie wünscht sich immer schneller Neues, kann
von dem des Partners, was man bei den Fischers- materielle Vorteile nicht nutzen und hat keine
11 leuten gut erkennt. Zeit, positive Erlebnisse damit zu generieren. Der
Es ist überdies interessant, dass in diesem Mann äußert im Gegensatz dazu immer wieder
Märchen – wie in vielen anderen auch – die Frau seine Zufriedenheit mit der aktuellen Situation
sehr schlecht wegkommt. Sie stellt die Maßlose und und macht deutlich, dass er keine weiteren mate-
Machtgierige dar. Selbstverständlich ist das nicht riellen Verbesserungen braucht. Möglicherweise
exemplarisch für alle Partnerschaften. Vielleicht definiert er sein Glück eher durch Erlebnisse und
handelt es sich vielmehr um ein Phänomen jener Situationen.
Zeit, in der Märchen entstanden und aufgeschrie- In empirischen Studien wurde untersucht, wie
ben wurden. Den Frauen wurde in der damaligen, sich materielle Käufe (z. B. eines Kleidungsstücks)
noch stark patriarchalisch geprägten Gesellschaft oft oder Erlebniskäufe (z. B. Urlaubsbuchung) auf das
die undankbare Rolle des Sündenbocks zugeschrie- Lebensglück und die Zufriedenheit auswirken. Gue-
ben. Heute werden Frauen in den Medien deutlich varra und Howell (2015) konnten zeigen, dass Erleb-
vorteilhafter gezeigt, weil sie große berufliche Erfolge niskäufe langfristig zu einem höheren Glücksemp-
feiern, sich für andere engagieren oder es schaffen, finden führen als materielle Käufe. Im Rahmen des
die vielfältigen Herausforderungen als berufstätige Consumer-Experience-Modells wurde postuliert,
Mutter und Ehefrau zu meistern. In unserer Gesell- dass gesteigerte Zufriedenheit auf die Integration
schaft hat derweil im Zuge der Emanzipation eine von materiellem und Erlebniskonsum zurückzu-
nachhaltige Veränderung stattgefunden, die weiter führen ist (Schmitt et al. 2015). Übertragen auf das
voranschreitet. Die nahezu erreichte Gleichbehand- Märchen bedeutet dies, dass man gewonnene mate-
lung von Frauen und Männern trägt ihrerseits dazu rielle Vorteile nutzen und mit Erlebnissen verbinden
bei, dass Frauen sich seltener für Fehler verantwort- sollte, damit sie langfristig das Lebensglück steigern
lich machen lassen. können.
Literaturverzeichnis
83 11
11.4 Fazit Grimm, J., & Grimm, W. (2011). Die schönsten Kinder- und
Hausmärchen – Kapitel 49. Von dem Fischer un syner Fru.
http://gutenberg.spiegel.de/buch/-6248/49. Zugegriffen:
Das Märchen vom Fischer und seiner Frau verdeut- 02. Oktober 2016.
licht mit seiner klaren Botschaft am Ende, wohin es Guevarra, D. A., & Howell, R. T. (2015). To have in order to do:
führen kann, wenn man immer höher hinaus will Exploring the effects of consuming experiential products
und niemals mit der persönlichen Situation zufrie- on well-being. Journal of Consumer Psychology 25, 28–41.
Hansen, H. (2008). Respekt – Der Schlüssel zur Partnerschaft.
den ist. Dies ist eine sehr bedeutsame Aussage in der
Stuttgart: Klett-Cotta.
heutigen Zeit, in der uneingeschränkte Selbstver- Junker, T., & Paul, S. (2009). Der Darwin-Code. Die Evolution
wirklichung und stetiger Aufstieg als Ideale gelebt erklärt unser Leben. München: C. H. Beck.
werden. Umso wichtiger ist es, eine innere Zufrie- Milgram, S. (1963). Behavioral study of obedience. Journal of
denheit unabhängig von externen Standards zu ent- Abnormal and Social Psychology 67, 371–378.
Peterson, C., & Park, N. (2006). Positive Organizational Scho-
wickeln. Die Geschichte zeigt außerdem anschaulich,
larship. In: M. Ringelstetter, S. Kaiser, & G. Müller-Seitz
inwiefern Märchen eine Aufklärungsfunktion erfül- (Hrsg.), Positives Management (S. 11–31). Wiesbaden:
len und die Menschen zum Nachdenken anregen Deutscher Universitäts-Verlag.
sollen: Wo befindet man sich in der Position des Rammstedt, B., & Schupp, J. (2008). Only the congruent survi-
Fischers, wo in der seiner Frau? Es ist wichtig, dass ves – personality similarities in couples. Personality and
Individual Differences 45, 533–535.
man sowohl seinen Mitmenschen gegenüber Respekt
Regan, D. T. (1971). Effects of a favor and liking on compliance.
zeigt als auch eine respektvolle Behandlung durch Journal of Experimental Social Psychology 7, 627–639.
andere einfordert. Runge, P. O. (1810). Farben-Kugel – Construction des Verhält-
nisses aller Mischungen der Farben zu einander, und ihrer
z Fragen zur Reflexion vollständigen Affinität, mit angehängtem Versuch einer
Ableitung der Harmonie in den Zusammenstellungen der
44Wann ist man selbst maßlos? Was ist das rechte
Farben. Hamburg: Friedrich Perthes.
Maß der Dinge? Schmitt, B., Brakus, J. J., & Zarantonello, L. (2015). From expe-
44In welchen Situationen lässt man sich zu riential psychology to consumer experience. Journal of
sehr unterdrücken und zeigt übertriebenen Consumer Psychology 25, 166–171.
Gehorsam? Stüvel, H. (2009). Je gleicher die Partner, desto glücklicher das
Paar. Artikel vom 24. April 2009. Die Welt. http://www.
44Inwiefern behandelt man andere respektvoll,
welt.de/gesundheit/psychologie/article3616398/Je-
fordert selbst aber keinen Respekt ein? In gleicher-die-Partner-desto-gluecklicher-das-Paar.html.
welchen Bereichen respektiert man sich selbst Zugegriffen: 02.10.2016.
und wo gibt man sich möglicherweise auf? Thibaut, J. W., & Kelley, H. H. (1959). The social psychology of
groups. Oxford, England: Wiley.

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Bindung, Freundschaft. In: H. Bierhoff, & D. Frey (Hrsg.),
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Fiedler, P. (2007). Persönlichkeitsstörungen. Weinheim, Basel:
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Finke, J. (2013). Träume, Märchen, Imaginationen. Personzen-
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len. München: Ernst Reinhardt.
Gouldner, A. W. (1960). The norm of reciprocity: A preliminary
statement. American Sociological Review 25, 161–178.
85 12

Rumpelstilzchen von den


Gebrüdern Grimm (1812)
Paula Münster

12.1 Inhalt des Märchens – 86

12.2 Die Charaktere – 86

12.3 Psychologische Phänomene – 87


12.3.1 Psychologischer Vertrag – 87
12.3.2 Glaube an eine gerechte Welt – 88
12.3.3 Reaktanz und erlernte Hilflosigkeit – 88

12.4 Bedeutung für die heutige Zeit und Implikationen – 89


12.4.1 Mit Reaktanz und Teamwork gegen Größenwahn und Habgier – 89
12.4.2 Vom Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit – 90

12.5 Fazit – 91

Literaturverzeichnis – 91

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_12
86 Kapitel 12 · Rumpelstilzchen von den Gebrüdern Grimm (1812)

12.1 Inhalt des Märchens

Es war einmal ein Müller, der war arm, aber hatte


eine schöne Tochter. Um sich Ansehen zu verschaf-
fen, behauptete er vor seinem König, dass seine
Tochter Stroh zu Gold spinnen könne. Der König
ging darauf das Abkommen ein, dass er sie zu seiner
Frau nehmen würde, wenn ihr das wirklich gelänge.
Am nächsten Tag sperrte der König die Müllerstoch-
ter in eine Kammer voller Stroh. Falls sie das Ver-
sprechen nicht halten könnte, sollte sie dafür mit
dem Tode bestraft werden. Die Müllerstochter war
in dieser Nacht völlig verzweifelt, da sie die Fähig-
keit, mit der ihr Vater geprahlt hatte, nicht besaß. Ein
kleines Männchen tauchte plötzlich auf und bot der
Müllerstochter im Tausch gegen ihre Kette an, das
Stroh zu Gold zu spinnen. Dem König, den die Gier
packte, reichte das Gold nicht aus und er forderte die . Abb. 12.1  (Zeichnung: Lena Frey)
Tochter dazu auf, in der nächsten Nacht das Wunder
zu wiederholen. Auch diesmal kam das kleine Männ- ein Feuer tanzen sah. Das Männchen sang: „Heute
chen in die Kammer und bot seine Hilfe im Tausch back ich, morgen brau ich, übermorgen hol ich der
gegen den Ring der Tochter an. Die Goldgier des Königin ihr Kind; ach, wie gut, dass niemand weiß,
Königs war hiernach immer noch nicht gestillt, und dass ich Rumpelstilzchen heiß!“
er schickte die Tochter ein drittes und letztes Mal in Als nach Ablauf der drei Tage das kleine Männ-
die Kammer. Da die Müllerstochter ihm nichts mehr chen erneut vor der Königin stand, riet sie zunächst
anzubieten hatte, verlangte das Männchen für seine absichtlich die falschen Namen „Heinz“ und „Kunz“.
Hilfe nun das erstgeborene Kind der Müllerstoch- Erst als Letztes nannte sie den korrekt überlieferten
12 ter mit dem König. Aus Verzweiflung nahm sie sein Namen „Rumpelstilzchen“. Rumpelstilzchen war so
Angebot an. wütend über den Erfolg der Königin, dass er sich vor
Die Jahre vergingen und erst als nach der Hoch- Wut selbst zerriss und fluchte: „Das hat dir der Teufel
zeit und der Geburt des ersten Kindes wieder das gesagt!“ Die Königin durfte somit ihr Kind behalten,
kleine Männchen vor der jetzigen Königin stand, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie
erinnerte sie sich an ihr Versprechen. Die Königin noch heute glücklich und zufrieden.
bot ihm unzählige Reichtümer an, aber das kleine (Grimm u. Grimm 2001; . Abb. 12.1)
Männchen beharrte weiterhin auf ihr Kind. Die
Königin weinte bitterlich und aus Mitleid gab er ihr
drei Tage Zeit, seinen Namen zu erraten. Sollte sie 12.2 Die Charaktere
dies schaffen, dürfte sie ihr Kind behalten. In der
ersten Nacht riet die Königin alle Namen, die ihr Nachdem den Lesern der Inhalt des Märchens nun
in den Kopf kamen – ohne Erfolg. Sie sandte Boten wieder präsent ist, soll im Folgenden ein genauerer
aus, um im ganzen Land auf die Suche nach außer- Blick auf die vier Hauptcharaktere geworfen werden.
gewöhnlichen Namen zu gehen. In der zweiten Nacht Sie sind das Kernstück der Geschichte und ihre Ver-
versuchte sie es nun erfolglos mit Namen, die sie aus haltensweisen dienen später als Grundlage der psy-
der Nachbarschaft erfragt hatte. Am letzten der drei chologischen Analyse.
Tage kehrten die Boten von ihrer Reise zurück. Einer Der Müller ist der eigentliche Brandstifter hinter
von ihnen stürmte ins Schloss und berichtete ihr, den Kulissen. Durch seine Lüge über die Fähigkeiten
dass er auf seiner Reise nachts ein Männchen um seiner Tochter vor dem König bringt er das Mädchen
12.3 · Psychologische Phänomene
87 12
in eine Bringschuld, die sich immer dramatischer 12.3 Psychologische Phänomene
entwickelt. Seine Behauptung ist motiviert durch
das Streben nach Ansehen und Prestige. Sicherlich Die Geschichte von Rumpelstilzchen und der armen
erhofft er sich zudem, durch die Hochzeit seiner Müllerstochter ist eines der berühmtesten und am
Tochter in Wohlstand und Reichtum zu leben. Da weitesten verbreiteten Märchen aus der Samm-
der Müller als sehr arm beschrieben wird, könnte lung der Gebrüder Grimm. Die verschiedenen, sehr
sein Versprechen somit ein Akt der Verzweiflung eigenartigen Charaktere und deren Handlungen
und Wunschdenken gewesen sein. Diese Kombina- bieten Stoff für zahlreiche psychologische Analysen.
tion hat dann zu der unrealistischen Behauptung und Anhand der Verhaltensweisen und Einstellun-
dem verzweifelten Versuch geführt, es doch zu etwas gen der vier Hauptcharaktere lassen sich zahlreiche
zu bringen. Sein Verhalten mag zusätzlich von einer Phänomene in der Psychologie ableiten. Es folgt eine
gewissen Gier und dem Wunsch nach Größe beflü- Auswahl der interessantesten und eindrucksvollsten.
gelt worden sein.
Eine weitere wichtige Rolle kommt dem König
zu. Durch seine Habgier beflügelt, bringt er die arme 12.3.1 Psychologischer Vertrag
Müllerstochter in die verzweifelte Situation, in der sie
Rumpelstilzchen ihr erstgeborenes Kind verspricht. In unserem Märchen schließt die Müllerstochter
Nach der Hochzeit tritt seine Rolle jedoch in den einen Vertrag mit Rumpelstilzchen. Sie verspricht
Hintergrund. ihm ihr erstgeborenes Kind, und er verwandelt dafür
Im Zentrum des Märchens steht die arme Mül- das Stroh zu Gold – und rettet ihr somit das Leben.
lerstochter, deren Handlungen von Anfang an nicht Hierbei handelt es sich um einen sog. psychologi-
selbstbestimmt sind. Zu Beginn des Märchens ist sie schen Vertrag. Im Unterschied zu einem normalen
Opfer der fantastischen Idee ihres Vaters. Darauf- Vertrag spiegelt ein psychologischer Vertrag wider,
hin ist sie der Habgier des Königs ausgesetzt und – dass einer der beiden Vertragspartner unausgespro-
da dies immer noch nicht genug zu sein scheint – zu chene Erwartungen hat, die nicht ausdrücklich fest-
guter Letzt Rumpelstilzchen mit seinen Forderun- gelegt sind (Raeder u. Grote 2012).
gen. Erst zum Abschluss des Märchens schafft es Das Phänomen lässt sich durch ein Beispiel
die Müllerstochter, aus diesem Teufelskreis auszu- aus der Arbeitswelt verdeutlichen. Ein Angestell-
brechen und durch ihre eigene Hartnäckigkeit das ter schließt einen Arbeitsvertrag mit einem Unter-
Unmögliche möglich zu machen – sie errät Rumpel- nehmen. Im Vertrag sind typischerweise alle Bedin-
stilzchens Namen und rettet das Leben ihres neuge- gungen, z. B. die Vertragsdauer oder Entlohnung,
borenen Kindes. festgelegt. Dennoch kommt es häufig vor, dass der
Weniger positiv endet die Geschichte für die Angestellte über das Vereinbarte hinaus Erwartun-
Figur des Rumpelstilzchens. Er, der im ersten Teil gen an seinen Arbeitgeber hat. Dazu gehören z. B.
des Märchens noch den Retter der Müllerstoch- Faktoren wie eine hohe Arbeitsplatzsicherheit oder
ter vor dem sicheren Tod darstellt, ist im zweiten ein vielseitiges Trainingsangebot. Diese nicht arti-
Teil das personifizierte „Böse“, da er das Neugebo- kulierten Erwartungen werden in der Psychologie
rene einfordert. Interessant ist hier, dass Rumpel- als implizite Erwartungen bezeichnet.
stilzchen letztendlich nur das verlangt, was ihm Implizite Erwartungen und psychologische Ver-
zuvor versprochen wurde. Dennoch erscheint er träge sind nicht nur in der Arbeitswelt zu finden.
als der Bösewicht des Märchens. Rumpelstilzchen Eigentlich besteht das ganze Leben aus Erwartun-
ist mit magischen Fähigkeiten sowie einem – wie gen, die nicht offen artikuliert werden, und sicherlich
es scheint – unerschütterlichen Selbstbewusstsein gibt es auch im Leben des Lesers zahlreiche psycholo-
gesegnet. Erst als der Müllerstochter das vermeint- gische Verträge. Diese können beispielsweise bei dem
lich Unmögliche gelingt und sie seinen Namen errät, Eingehen einer Wohngemeinschaft, in einer Sport-
nimmt sein Ego so schweren Schaden, dass er sich mannschaft oder auch in der Ehe entstehen. Ganz
vor Wut selbst zerreißt. klischeehaft: Der Ehemann erwartet, dass das Essen
88 Kapitel 12 · Rumpelstilzchen von den Gebrüdern Grimm (1812)

auf dem Tisch steht, wenn er von der Arbeit nach dass er einschreitet, die Räuber verjagt, die
Hause kommt. Die Frau hat hingegen die Erwartung, Polizei ruft oder er die aufgelöste Frau beim
dass der Mann die Deckenlampe repariert, wenn weiteren Nachhauseweg begleitet.
sie kaputt ist. Wenn einer der beiden Vertragspart- 2. Abwertung des Opfers: Ebenso kann er aller-
ner falsche Erwartungen hat oder die Erwartungen dings der Frau die Schuld für das Geschehene
des Gegenübers nicht kennt, dann entstehen häufig zuschreiben. Der Mann könnte sich einreden,
Frustration, Resignation und Enttäuschung. Prob- dass es sowieso leichtsinnig ist, als Frau
lematisch ist hieran, dass der wahre Grund für die alleine nachts mit der U-Bahn zu fahren, und
Enttäuschung, also die geheimen Erwartungen und eine solche Leichtsinnigkeit gerechterweise
Wünsche, häufig nicht offen angesprochen werden. bestraft wird. Durch diese Abwertung wird
Der psychologische Vertrag ist ein spannendes das, was dem Opfer passiert ist, als gerecht
Phänomen, das sich in dem Märchenklassiker der empfunden und der Gerechte-Welt-Glaube ist
Gebrüder Grimm eindrücklich in dem Vertrag, den wiederhergestellt.
die Müllerstochter mit Rumpelstilzchen eingeht,
zeigt. Der Inhalt der Vereinbarung ist eigentlich ein- Dieses Phänomen, bei dem das eigentliche Opfer
deutig: Rumpelstilzchen rettet der Müllerstochter zum Schuldigen umgewertet wird, wird in der Psy-
das Leben, dafür verspricht sie ihm ihr erstgebore- chologie als Victim Blaming, Beschuldigung des
nes Kind. Dennoch scheint die Müllerstochter über- Opfers, bezeichnet (Ryan 1971).
rascht zu sein, als Rumpelstilzchen viele Jahre später Jeder Leser des Märchens wird den Gerechte-
auftaucht und das ihm Versprochene einfordert. Hin- Welt-Glauben bei sich selbst empfunden haben: Er
tergrund mag ihre implizite Erwartung sein, dass wünscht sich, dass die Müllerstochter den Namen
Rumpelstilzchen von seinem „Lohn“ absehen und von Rumpelstilzchen errät und somit das Leben ihres
sich auch ohne das Kind zufriedengeben wird. Die Kindes retten kann. Die Tochter hat ihre missliche
Enttäuschung und das Gefühl, der Vertrag sei unge- Situation nicht selbst verschuldet. Daher freuen wir
recht, sind das Resultat des impliziten Anspruchs, uns, dass die Boten ihr dabei helfen, Rumpelstilz-
den einer der Vertragspartner – in diesem Fall die chens Namen ausfindig zu machen.
Müllerstochter – an den anderen hatte. Interessanterweise gibt es hier eine Diskrepanz
12 zwischen dem, was wir als gerecht empfinden, und
dem, was Recht ist. Objektiv betrachtet fordert Rum-
12.3.2 Glaube an eine gerechte Welt pelstilzchen nur das ein, was ihm vorher versprochen
wurde. Dennoch freuen wir uns, dass er am Ende der
Ein weiteres interessantes Phänomen, das sich in dem Verlierer ist und sich sogar so sehr ärgert, dass er sich
Märchen der Gebrüder Grimm finden lässt, ist der zum Schluss selbst zerreißt. Dies lässt sich durch die
sog. Gerechte-Welt-Glauben. Damit wird die Erwar- Abwertung und Schuldzuschreibung erklären, die
tung bezeichnet, dass jeder das bekommt, was er ver- das letztendliche Opfer Rumpelstilzchen aufgrund
dient. Dieser Glaube motiviert uns, die Gerechtigkeit des Gerechte-Welt-Glaubens vom Leser erfährt. Hier
bei einer ungerechten Ausgangslage wiederherzustel- kann jeder an sich selbst beobachten, wie leicht wir
len (Lerner 1980). selbst bereit sind, ein Opfer zu beschuldigen.
Dies kann in verschiedener Weise geschehen,
was an einem Beispiel veranschaulicht werden soll.
Ein Mann steht nachts an einem U-Bahn-Gleis und 12.3.3 Reaktanz und erlernte
sieht, wie eine Frau am anderen Ende des Gleises Hilflosigkeit
von einer Jugendbande ausgeraubt wird. Dies ist
eine ungerechte Situation, die nicht zu unserem Von dem Phänomen der Reaktanz (Widerstand)
Gerechte-Welt-Glauben passt. Nun hat der Mann kann der ein oder andere Leser schon mal im Kontext
zwei Möglichkeiten: von pubertären Teenagern gehört haben. Damit ist
1. Aktive Verringerung des Leidens des Opfers: der Zustand gemeint, in den der Mensch geraten
Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, kann, wenn er einen Kontrollverlust erlebt und sich
12.4 · Bedeutung für die heutige Zeit und Implikationen
89 12
in seiner Freiheit beraubt fühlt (Brehm 1966). Bei Beginn des Märchens führen für die Müllerstoch-
Teenagern führen beispielsweise strenge elterli- ter unkontrollierbare Ereignisse wie die Lügen ihres
che Verbote häufig dazu, dass die Kinder genau das Vaters und die Gier des Königs dazu, dass sie ihrer
tun, was ihnen eigentlich verboten wurde. Dieser Freiheit beraubt wird. Sie erlebt somit einen absolu-
Widerstand ist als Wunsch des Zurückerlangens der ten Kontrollverlust, da sie in keiner Weise selbst über
eigenen Freiheit zu verstehen. ihr Leben bestimmen kann. In dieser Situation zeigt
Der Reaktanz steht die sog. erlernte Hilflosigkeit sie keinen Widerstand und setzt sich nicht gegen
gegenüber. Mit diesem Begriff ist eine emotionale ihren Vater oder den König zur Wehr. Stattdessen
Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit gemeint, die eine ist sie verzweifelt, weint bitterlich und lässt sich auf
Person empfinden kann. Hierbei ist die Ausgangslage den schrecklichen Vertrag mit Rumpelstilzchen ein.
die gleiche: Die Person fühlt sich in ihrer Handlungs- Sie befindet sich in einem ohnmächtigen Zustand
freiheit begrenzt und hat das Gefühl, ihr werden von und erlebt erlernte Hilflosigkeit. Man könnte hieraus
anderen Steine in den Weg gelegt. Martin Seligman schließen, dass sie die Hoffnung aufgegeben hat, in
(1979) fand heraus, dass Menschen, die mehrfach Zukunft noch Kontrolle über ihr eigenes Leben zu
mit unkontrollierbaren und frustrierenden Ereig- haben. Dies wäre angesichts der extremen Fremd-
nissen konfrontiert werden, häufig eine verringerte bestimmung, die ihr widerfährt, nicht überraschend.
Motivation zur Gegenwehr zeigen. Dies kann z. B. Erst zum Schluss des Märchens, als es um das Leben
bei Arbeitsuchenden der Fall sein, die unkontrollier- ihres Kindes geht, schöpft sie alle Möglichkeiten aus
bare Faktoren aus der Umwelt wie etwa eine schlechte und zeigt Reaktanz. Nur durch diesen Widerstand
Wirtschaftslage als Grund für ihre Arbeitslosigkeit kann sie den Namen von Rumpelstilzchen erraten
sehen. Diese Personen bemühen sich häufig nicht und die Geschichte zu einem guten Ausgang leiten.
weiter bei der Arbeitssuche und befinden sich somit
im Zustand der erlernten Hilflosigkeit.
Die Frage ist nun: Unter welchen Umständen 12.4 Bedeutung für die heutige Zeit
kämpfen Menschen gegen den Kontrollverlust an und Implikationen
und wann zeigen sie Hilflosigkeit, im Sinne von Ohn-
macht und Resignation? Damit beschäftigten sich in Die Frage, die sich sicherlich einige Leser gestellt
den 1970er-Jahren die Psychologen Wortman und haben, ist, inwiefern das jahrhundertealte Märchen
Brehm (1975). Nach ihrer Auffassung entscheidet heutzutage überhaupt noch relevant ist. Schließlich
das Ausmaß des Kontrollverlusts darüber, ob mit hat sich unsere Gesellschaft seitdem sehr stark ver-
Reaktanz oder Hilflosigkeit reagiert wird. Wenn die ändert. Natürlich glauben heute die Wenigsten noch
Einschränkung und Frustration zwar auftritt, eine an kleine Männchen, die singend ums Feuer tanzen
Person aber der Überzeugung ist, in Zukunft wieder und mit magischen Fähigkeiten Stroh zu Gold ver-
Kontrolle über ihr Leben zu haben, wird Reaktanz wandeln können. Dennoch sind die psychologischen
gezeigt. Hilflosigkeit tritt stattdessen auf, wenn die Phänomene und Verhaltensweisen der Akteure wei-
Person davon ausgeht, dass sie auch in Zukunft keine terhin aktuell.
Kontrollmöglichkeiten hat und ihr Verhalten nur
wenig selbstbestimmt ist. Ein weiterer Faktor, der
darüber entscheidet, welche der beiden Verhaltens- 12.4.1 Mit Reaktanz und Teamwork
weisen gezeigt wird, ist die persönliche Wichtigkeit gegen Größenwahn und Habgier
eines Ereignisses. So muss ein bestimmter Schwel-
lenwert der persönlichen Wichtigkeit überschritten Im Märchen zeigen interessanterweise vor allem die
werden, damit die Person Widerstand zeigt. Wenn männlichen Charaktere eine ausgeprägte Habgier
dies passiert, ist die Verzweiflung so groß, dass die und einen gewissen Größenwahn. Der Vater verkauft
Person alle Register zieht, um sich aus der misslichen seine Tochter, um besser vor dem König dazustehen,
Lage zu befreien. der König kann von Gold nicht genug bekommen
Die beiden Phänomene werden sehr schön in und Rumpelstilzchens übersteigertes Ego ist nach
dem Märchen von Rumpelstilzchen illustriert. Zu dem Erraten seines Namens derart zerstört, dass
90 Kapitel 12 · Rumpelstilzchen von den Gebrüdern Grimm (1812)

er sich selbst zerreißt. Gier hängt in der Geschichte von anderen zu holen. Die Müllerstochter kann
häufig mit Versprechen zusammen, die die Cha- hier als Vorbild gelten, da sie es trotz der ausweglo-
raktere nicht einhalten können. So verspricht der sen Situation, in die sie unglücklicherweise geraten
Müller etwas, das seine Tochter überhaupt nicht ist, geschafft hat, von der Hilflosigkeit zur Reak-
leisten kann. Ebenso reagiert die Müllerstochter auf tanz zu wechseln und sich aus dem Teufelskreis zu
die Gier von Rumpelstilzchen und dem König mit befreien. Dies gelang ihr auch durch die Hilfe der
dem Versprechen ihres erstgeborenen Kindes. Dieses Boten, denn keiner in einem Team weiß so viel wie
Versprechen kann und will sie emotional nicht ein- alle. Dass sich mit einem guten Team auch die kom-
halten. Es scheint fast so, als würde Gier zu irratio- plexesten Probleme lösen lassen, ist somit ein wei-
nalem Verhalten führen. terer Punkt, den wir aus Rumpelstilzchen lernen
Gier und der Wunsch nach Größe sind keine ver- sollten.
alteten Phänomene. Auch heute sind sie noch ein Ein letzter positiver Schluss, der sich noch ziehen
fester Bestandteil unserer Gesellschaft – vor allem lässt, ist, dass eine zu große Erfolgsarroganz – wie
in der freien Wirtschaft und Politik. Topmanager sie Rumpelstilzchen an den Tag legt, als er leichtsin-
verfälschen Abgaswerte von Autos, um einen Vorteil nig ums Feuer tanzt und seinen Namen ruft – häufig
gegenüber der Konkurrenz zu haben, Minister betrü- bestraft wird. Dies zeigt sich auch heute bei unseren
gen bei ihren Doktortiteln aufgrund des Wunsches Politikern und Managern: Sobald der Betrug oder
nach Größe und Prestige, Millionäre hinterziehen die falschen Versprechungen auffliegen, ist ihr Image
Steuern, um noch reicher zu werden. Dies alles sind zumeist unwiderruflich zerstört.
hochaktuelle Beispiele, in denen die Personen exakt
die gleiche Motivation haben wie die Charaktere aus
unserem Märchen. Sie alle streben nach Macht und 12.4.2 Vom Unterschied zwischen
Größe. Recht und Gerechtigkeit
Doch was können wir aus dem Märchen „Rum-
pelstilzchen“ für unser heutiges Leben lernen? An Wer ist eigentlich der Böse in unserem Märchen?
dem Fakt, dass es immer Personen geben wird, Wie in 7 Abschn. 12.2 erläutert, erscheint für die
die von Größenwahn und Habgier getrieben sind, meisten Leser Rumpelstilzchen als der größte Böse-
12 wird sich wohl wenig ändern lassen – dafür aber am wicht. Er bringt die unschuldige Müllerstochter in
Umgang mit diesen Personen. Wir können für uns die missliche Situation, in der sie ihm ihr Erstgebo-
den Ratschlag mitnehmen, dass wir keine Verspre- renes verspricht und es am Ende sogar beinahe ver-
chen geben sollten, die wir nicht einhalten können – liert. Doch wenn man das Ganze einmal ohne jeg-
egal wie verzwickt die Situation zu sein scheint. liche Emotionen und von außen betrachtet, gab es
Durch großes Glück geht für die Müllerstochter und einen mündlichen Vertrag zwischen ihm und der
den Vater alles glimpflich aus. Dies liegt vor allem Müllerstochter, der für Rumpelstilzchen Bestand
an dem Widerstand, den die Tochter am Ende der hatte und auf dessen Basis er letztendlich das Kind
Geschichte zeigt und der Unterstützung, die sie von rechtmäßig einfordert. Dabei muss das Geschehene
den Boten erfährt. natürlich im Kontext der Zeit gesehen werden: Heute
Die falschen Versprechen hätten jedoch auch wäre solch ein Vertrag nicht rechtskräftig und würde
ganz anders ausgehen können. Der Vater hätte dann gegen die Menschenrechte verstoßen; vor Jahrhun-
den Tod seiner Tochter verschuldet oder die Mül- derten waren Verträge dieser Art hingegen durch-
lerstochter wiederum das Schicksal ihres Erstge- aus üblich.
borenen. Wir sollten also daraus die Lehre ziehen, Wie in 7 Abschn. 12.3.1 beschrieben, scheint
dass wir uns selbst bei extremen Anforderungen die Reaktion der Tochter fast so, als hätte sie erwar-
und in scheinbar ausweglosen Situationen nicht zu tet, dass Rumpelstilzchen von seinen Forderungen
falschen Versprechen verleiten lassen. Stattdessen ablässt. Rumpelstilzchen zeigt später sogar ein gewis-
ist es ratsam, Widerstand zu leisten, solange es noch ses Einfühlvermögen, als er der Müllerstochter die
möglich ist, und sich dabei auch Unterstützung dreitägige Frist anbietet. Dennoch empfinden wir es
Literaturverzeichnis
91 12
als gerecht, dass Rumpelstilzchen am Ende das Kind 12.5 Fazit
nicht bekommt und als Verlierer aus der Geschichte
hervorgeht. „Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hol
Wir können uns an dieser Stelle fragen: Beschul- ich der Königin ihr Kind“ – der Märchenklassiker
digen wir hier nicht das Opfer, um an unserem Rumpelstilzchen ist schon Jahrhunderte alt, dennoch
Glauben an eine gerechte Welt festzuhalten? Und haben die psychologischen Phänomene und Weis-
wie oft tun wir dies eigentlich in unserem alltägli- heiten aus dem Märchen der Gebrüder Grimm
chen Leben? auch heutzutage Relevanz. Es wäre wünschenswert,
Tatsächlich kommt es ziemlich häufig vor, dass dass dem Leser nach dem Studieren dieses Kapitels
wir das, was Recht ist, als ungerecht empfinden. Begriffe wie Reaktanz oder erlernte Hilflosigkeit
Wenn wir uns von der Bank Geld leihen, dieses auf- keine Fremdwörter mehr sind. Noch schöner wäre
grund von Wucherzinsen und weiterer unglückli- es, wenn der Leser zudem Erkenntnisse für sich und
cher Umstände nicht zurückzahlen können, und die seine eigene Lebensgestaltung gewinnen konnte.
Bank letztendlich eine Zwangsvollstreckung veran- Theoretisches Wissen bringt dem Menschen aller-
lasst – wer ist dann meistens der Böse? Viele Men- dings nur dann einen Vorteil, wenn er es auch durch
schen in solchen oder ähnlichen Situationen beschul- bedachte und vorausschauende Planung in Hand-
digen die Bank. Dabei fordert sie doch eigentlich nur lungen umzusetzen vermag.
das ein, was ihr rechtmäßig zusteht. Gleiches gilt für
die impliziten Erwartungen, die wir bei Arbeitsver-
hältnissen an unseren Arbeitgeber haben. Wenn die Literaturverzeichnis
Angestellte erwartet, dass sie von ihrem Arbeitge-
Brehm, J. W. (1966). A theory of psychological reactance. New
ber ausreichende Fortbildungsmöglichkeiten erhält, York: Academic Press.
falls ihre Qualifikationen den Anforderungen der Grimm, J., & Grimm, W. (2001). Rumpelstilzchen. In: H. Rölleke
Position nicht genügen, kann das zu unerfreulichen (Hrsg.), Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Gesamt-
Überraschungen führen, wenn diese Erwartung eben ausgabe in 3 Bänden mit den Originalanmerkungen der
Brüder Grimm. Ditzingen: Reclam.
nicht erfüllt wird. Nicht selten kommt es in solchen
Lerner, M. J. (1980). The belief in a just world: A fundamental
Fällen zu Versetzungen oder Kündigungen, bei delusion. New York: Plenum.
denen der Arbeitgeber schlussendlich als der Böse Seligman, M. E. (1979). Erlernte Hilflosigkeit. München, Wien,
wahrgenommen wird. Baltimore: Urban & Schwarzenberg.
Auch hier können wir wieder einige interessante Raeder, S., & Grote, G. (2012). Der psychologische Vertrag. Praxis
der Personalpsychologie. Göttingen: Hogrefe.
Weisheiten aus dem Märchen ableiten. Wenn wir
Ryan, W. (1971). Blaming the victim. New York: Vintage.
einen Vertrag oder Zusammenschluss mit anderen Wortman, C. B., & Brehm, J. W. (1975). Responses to uncontrol-
eingehen – egal ob bei der Arbeit, in der Ehe oder lable outcomes: An integration of reactance theory and
bei der Wohnungssuche – ist es sinnvoll, sich vorher the learned helplessness model. In: L. Berkowitz (ed.),
darüber zu verständigen, welche zusätzlichen Erwar- Advances in experimental social psychology (Vol. 8, pp.
277–336). New York: Academic Press.
tungen die verschiedenen Parteien haben und was
der Vertrag genau beinhaltet bzw. beinhalten soll.
Nur so kann Enttäuschungen und Streitigkeiten oder
sogar Klagen vorgebeugt werden.
Wir können zudem aus dem Märchen lernen,
dass nicht immer das, was böse scheint, auch wirk-
lich böse ist. Oft haben wir eine verzerrte Wahrneh-
mung, die von Emotionen oder dem Wunsch nach
einer gerechten Welt getrübt ist. Ein kritisches Hin-
terfragen, z. B. von öffentlichen Anprangerungen
in den Medien, ist eine weitere Lektion, die wir von
Rumpelstilzchen lernen können.
93 13

Schneeweißchen und
Rosenrot von den Gebrüdern
Grimm (1837)
Isabel Kroiß

13.1 Inhalt des Märchens – 94

13.2 Die Charaktere – 94

13.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 95


13.3.1 Altruismus – 95
13.3.2 Reziprozität – 96
13.3.3 Vertrauen – 97

13.4 Fazit – 99

Literaturverzeichnis – 99

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_13
94 Kapitel 13 · Schneeweißchen und Rosenrot von den Gebrüdern Grimm (1837)

13.1 Inhalt des Märchens bei den Rettungsversuchen beispielsweise sein Bart
abgeschnitten wurde oder seine Kleidung zerriss. Bei
Eine Mutter hatte einst zwei sehr schöne Töchter, einem weiteren Treffen wurde der Zwerg wütend,
Schneeweißchen und Rosenrot, die nach den blü- da Schneeweißchen und Rosenrot ihn vor einem
henden Rosenbäumchen in ihrem Garten benannt Haufen erbeuteter Edelsteine überrascht hatten.
waren. Beide waren so fromm und lieb, dass sie Noch bevor er seine zornige Rede zu Ende bringen
selbst über Nacht im Wald bleiben konnten, ohne konnte, trabte jedoch der Bär aus dem Wald und
dass ihnen ein wildes Tier etwas zuleide tun würde. erschlug ihn mit seiner Tatze.
Als sie eines Nachts beinahe in einen Abgrund gerie- Daraufhin verwandelte sich das Tier in einen
ten, tauchte ein Schutzengel in Form eines kleinen schönen Prinzen in goldenem Gewande. Er erklärte
Mädchens auf und führte sie zurück auf den rechten den Schwestern, dass der Zwerg ihm seine Schätze
Pfad. Zum Wintereinbruch klopfte ein sprechender gestohlen und ihn in einen Bären verwandelt hatte.
Bär auf der Suche nach Unterschlupf an ihre Tür, Im selben Jahre noch wurde Schneeweißchen mit
und nach erster Furcht wurde ihm Abend für Abend dem Prinzen vermählt und Rosenrot mit dessen
Obdach gewährt. Im Frühjahr zog der Bär zurück Bruder, und wenn sie nicht gestorben sind, dann
in den Wald, da der Boden zu tauen begann und die leben sie noch heute.
Zwerge, die ihm seinen Goldschatz stehlen wollten, (Grimm u. Grimm 1837; . Abb. 13.1)
nun wieder ans Tageslicht gelangen konnten.
Den Frühling über trafen Schneeweißchen und
Rosenrot immer wieder auf einen winzigen Zwerg, 13.2 Die Charaktere
der sich stets in prekären Situationen befand: einmal
klemmte sein langer Bart unter einem gefällten Die Hauptcharaktere des Märchens stellen die
Baum, ein anderes Mal hatte sich sein Bart in der Schwestern Schneeweißchen und Rosenrot dar,
Angelschnur verfangen – er drohte ins Wasser zu die sich sowohl charakterlich als auch optisch
stürzen – dann wiederum wurde er beinahe von sehr ähnlich sind: Beide werden als schöne junge
einem Greifvogel fortgetragen. Jedes Mal griffen die Mädchen beschrieben, die eine reine Seele haben und
beiden Schwestern beherzt ein und bewahrten ihn anderen Lebewesen in Not bedingungslos helfen – sie
vor der Gefahr, was der garstige Zwerg ihnen jedoch nehmen den Bären über Monate in ihrem Haus auf
nie dankte. Viel zu verbittert war er darüber, dass und helfen dem Zwerg in jeder Notlage.
13
. Abb. 13.1  (Zeichnung: Claudia
Styrsky)
13.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
95 13
Ein weiterer wichtiger Charakter ist der Bär, bei auch beim Zwerg, ohne eine Gegenleistung dafür zu
dem es sich eigentlich um einen Prinzen handelt, der erwarten. Man selbst sollte dadurch ebenfalls ange-
vom Zwerg mit einem Fluch belegt und bestohlen regt werden, im Alltag öfter und schneller einzugrei-
wurde. Er verhält sich zu den Mädchen und ihrer fen, wenn man einen Menschen in Not sieht.
Mutter sehr korrekt und nutzt ihre Gastfreundschaft Auch Reziprozität spielt eine große Rolle in dem
nicht aus, im Gegenteil revanchiert er sich am Ende Märchen, die darauf beruht, Gefallen zu erwidern.
dafür, indem er und sein Bruder die beiden Mädchen Schneeweißchen und Rosenrot helfen dem Bären
zur Frau nehmen. Zwischen dem Prinzen und dem und werden dafür von ihm – in Menschenform –
Zwerg herrscht eine angespannte Stimmung, die und seinem Bruder zur Frau genommen. Doch nicht
letztlich den Tod des Zwerges zur Folge hat. nur im Märchen wird nach diesem Prinzip gehandelt,
Der Zwerg wirkt unsympathisch und undankbar: auch im realen Leben zeigt es sich häufig.
Immer wieder retten die Schwestern ihn aus seinen Zuletzt wird der Wert von Vertrauen betont:
Notlagen, doch er denkt nicht einmal daran, sich zu Die beiden Schwestern haben in die ganze Welt ein
bedanken, sondern beschwert sich. Auch der Dieb- großes Vertrauen und führen dadurch ein sehr glück-
stahl und die Verfluchung des Prinzen tragen nicht liches Leben. Natürlich sollte man selbst nicht blind-
zu seiner Sympathie bei. Dass er seine unangeneh- lings jedem Vertrauen schenken, doch kann es – an
men Charakterzüge bis zuletzt nicht ablegt und den richtiger Stelle und im rechten Maß – deutlich die
Schatz weiterhin für sich behalten will, muss er mit Zufriedenheit mit dem eigenen Leben steigern.
dem Tode bezahlen.
Über die Mutter ist uns aus dem Märchen nicht
viel bekannt, sie scheint jedoch eine sehr fürsorgliche 13.3.1 Altruismus
und liebevolle Frau zu sein, da ihre Töchter ansons-
ten nicht so reinen Herzens wären. Gleichzeitig Schneeweißchen und Rosenrot zeichnen sich vor
erfahren wir dadurch, dass der Vater der Mädchen allem durch ihre Selbstlosigkeit aus: Obwohl jeder
offensichtlich nicht bei ihnen lebt – die Mutter zieht weiß, dass ein Bär einen Menschen sofort töten
die Töchter alleine groß. könnte, lassen sie ihn in ihrem Haus übernachten,
ohne auch nur lange darüber nachzudenken. Dieses
Verhalten bezeichnet man als Altruismus – uneigen-
13.3 Psychologische Phänomene und nütziges Verhalten zum Wohl einer anderen Person
Implikationen (Werth u. Meyer 2008).
Altruismus lässt sich auch häufig im realen
Es folgt ein kurzer Überblick über die bedeutends- Leben beobachten, denkt man nur zurück an den
ten Themen, die anschließend ausführlicher analy- Fall von Wesley Autrey vom 2. Januar 2007. Am
siert werden. Bahnsteig einer New Yorker U-Bahn erlitt ein
Schneeweißchen und Rosenrot zeigen, wie har- junger Mann einen epileptischen Anfall und stürzte
monisch Familienleben und Geschwisterbeziehun- vor die einfahrende U-Bahn. Wesley Autrey, der
gen sein können. Sie verstehen sich problemlos mit den Vorfall mit seinen zwei Töchtern beobachtete,
ihrer Mutter, und auch untereinander scheint Streit zögerte nicht, sprang dem Mann hinterher und
kein Thema zu sein. Vielleicht können die Schwes- legte sich schützend über ihn, als die U-Bahn die
tern hier als Vorbild für die eigene Beziehung zu Männer überrollte. Beide überlebten. „Ich sah nur
Eltern und Geschwistern dienen. einen Menschen, der Hilfe brauchte. Da tat ich, was
Ein weiterer Punkt, den die Brüder Grimm zu tun war.“ – dies waren Wesleys Worte nach dem
verdeutlichen wollen, ist altruistisches Verhalten. Vorfall.
Hierbei geht es darum, anderen Menschen zu helfen, Geht man vom Modell des Homo oeconomi-
wenn sich diese in einer Notsituation befinden, und cus aus, das den Menschen als Nutzenmaximierer
zwar allein aus der Motivation heraus, das Wohl der betrachtet, der Entscheidungen anhand von Kosten-
Person zu sichern. Schneeweißchen und Rosenrot Nutzen-Überlegungen trifft, dürfte solch ein selbst-
zeigen ein solches Verhalten sowohl beim Bären als loses Verhalten nicht auftreten. Niemals dürfte mit
96 Kapitel 13 · Schneeweißchen und Rosenrot von den Gebrüdern Grimm (1837)

dieser Weltvorstellung das Leben eines anderen mehr Ein weiteres psychologisches Phänomen
wert sein als das eigene. beschreibt dieses Verhalten sehr treffend – der sog.
Was bringt einen Menschen also dazu, ohne Bystander-Effekt (Zuschauereffekt; Latané u. Darley
lange zu überlegen innerhalb von Sekunden sein 1970): Je mehr Personen in einer Notsituation anwe-
eigenes Leben für das Leben eines Fremden aufs send sind, desto geringer ist die Wahrscheinlich-
Spiel zu setzen? Hier kann die Empathie-Altruis- keit, dass eine von diesen Personen tatsächlich ein-
mus-Hypothese von Batson et al. (1981) weiterhel- greift. Bringt man hingegen mehr Empathie ein und
fen. Die Autoren gehen davon aus, dass altruistisches versetzt sich selbst in die Lage der notleidenden
Handeln – wie das von Schneeweißchen und Rosen- Person, würde man vermutlich schneller Hilfever-
rot – einerseits durch Egoismus, andererseits aber halten zeigen oder zumindest Hilfe holen, da man
auch durch Empathie motiviert sein kann. Egois- für sich selbst in einer ähnlichen Situation dasselbe
tische Motivation löst in einem Menschen einen von anderen erwarten würde.
unangenehmen Spannungszustand aus, wenn er Natürlich hängt altruistisches Verhalten auch
eine Notsituation beobachtet. Derjenige weiß, dass stark von den eigenen körperlichen Voraussetzun-
er eigentlich helfen sollte, und greift allein aus dem gen ab – vermutlich wäre es nicht empfehlenswert,
Wunsch ein, diese unangenehmen Gefühle loszuwer- als junges Mädchen unmittelbar in eine Schlägerei
den. Man hilft also nicht um der eigentlichen Hilfe einzugreifen. Doch es müssen nicht immer gefährli-
willen, um die Person zu retten, sondern nur aus che Situationen sein, in denen man uneigennütziges
egoistischen Motiven – damit man sich anschließend Verhalten zeigen kann. Gerade in Hinblick auf ältere
selbst wieder besser fühlt. Empathische Motiva- Personen kann jeder Hilfe leisten – man denke nur
tion dagegen bedeutet, dass man sich ab dem ersten an all die benachteiligten Personen, die ihre Einkäufe
Moment Sorgen um die Person in Not macht und es nicht mehr selbst erledigen können und auf die Hilfe
als einzig angemessene Reaktion ansieht, sofort Hilfe anderer angewiesen sind. Grundsätzlich kann man
zu holen bzw. zu leisten. Man greift also viel eher ein also sagen, dass jeder Mensch etwas bewirken kann,
als bei egoistischer Motivation. wenn er mit offenen Augen und einer gesunden
So wie Schneeweißchen und Rosenrot im Portion Einfühlungsvermögen durch die Welt geht.
Märchen beschrieben werden, ist ihnen Egoismus Nun mag man sich fragen, was man davon hat,
ein Fremdwort – man kann also davon ausgehen, altruistisches Verhalten an den Tag zu legen. Die
dass sie aus reiner Empathie dem Bären und auch Antwort lautet: eine Menge! Psychologische Studien
13 dem Zwerg in ihrer Notlage helfen. Außerdem ist konnten nachweisen, dass Menschen, die häufig
nicht davon auszugehen, dass sie für ihre Hilfe direkt anderen Menschen helfen, glücklicher und zufrie-
belohnt werden, was noch einmal mehr dafür spricht. dener mit ihrem Leben sind (Headey et al. 2010).
Solch ein prosoziales Verhalten wird mithilfe folgen- Außerdem verhilft dieses Verhalten zu einem gesün-
der goldener Regel oft schon in der Kindheit gelehrt: deren und auch längeren Leben (Post 2005). Man
„Behandle andere so, wie du selbst von ihnen behan- fühlt sich also nicht nur gut, wenn man eine gute
delt werden möchtest.“ Sollte man selbst einmal in Tat vollbringt, sondern tut auch noch etwas für seine
einer Notsituation stecken, würde man sich sicher- Gesundheit! Das sollte doch definitiv Ansporn genug
lich wünschen, dass jemand schnellstmöglich zur sein, mehr Altruismus zu zeigen.
Hilfe eilt.

13.3.2 Reziprozität
Implikationen für die Lebensgestaltung
Schneeweißchen und Rosenrot dienen eindeutig als Was sich wie ein roter Faden durch das ganze
Vorbilder: Wären mehr Menschen wie die beiden, so Märchen zieht, ist das Prinzip der Reziprozität. Rezi-
würde es auf der Welt um einiges positiver zugehen – prozität bedeutet salopp gesprochen: Wie die eine
so viel ist sicher. Viel zu oft hört man von Zwischen- Person agiert, reagiert die andere Person darauf,
fällen, die tragisch endeten, nur weil niemand ein- und umgekehrt. Man erwidert also positive oder
greifen wollte. auch negative Handlungen einer anderen Person
13.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
97 13
in ähnlicher Weise oder handelt aus der Erwartung der ältesten sozialen Prinzipien, das schriftlich fest-
heraus, dass das Gegenüber im selben Fall ähnlich gehalten wurde und offensichtlich sehr bedeutend ist,
handeln würde (Frey u. Bierhoff 2011). wenn es um das Zusammenleben der Menschen geht.
Grundsätzlich stellt Reziprozität eine univer- Doch ist es wirklich sinnvoll, danach zu leben?
selle soziale Norm dar, die auch heutzutage ein fester Diese Frage lässt sich – sofern es sich um eine
Bestandteil unserer Gesellschaft ist: Man geht bei- positive Reziprozität handelt – grundsätzlich
spielsweise im Supermarkt an der Käsetheke vorbei mit einem Ja beantworten. Erhalte ich von einer
und wird aufgehalten, um eine Gratisprobe einer anderen Person ein Geschenk, so ist es ratsam,
bestimmten Käsesorte zu probieren. Sobald man dieser Person ebenfalls etwas zu schenken. Natür-
probiert hat, holt einen das schlechte Gewissen ein, lich mag das teilweise etwas erzwungen wirken,
da es sich nicht gehört, etwas gratis zu erhalten und doch eine einseitige Geberhaltung kann die Bezie-
dafür keine Gegenleistung zu erbringen. Also kauft hung zwischen zwei Personen deutlich beeinträch-
man ein größeres Stück des angebotenen Käses – tigen. Wenn man immer nur nimmt, aber nichts
ganz nach dem Motto: „Wenn du mir einen Gefallen gibt, wirkt sich das negativ auf das Verhältnis zu
tust, tue ich dir auch einen.“ anderen Personen aus, da so ein Verhalten sehr
Negative Reziprozität lässt sich im Märchen am egoistisch und ungerecht erscheint. Es lohnt sich
Beispiel des Bären und Zwerges nachvollziehen. Der also, achtsam für die Gefallen anderer zu sein und
Zwerg stiehlt dem Prinzen seinen Schatz und belegt mit ihnen in positivem Austausch zu stehen. Dies
ihn mit dem Fluch, der ihn in einen Bären verwan- ist natürlich nicht verallgemeinerbar – es ist ebenso
delt, woraufhin der Bär den Zwerg beim Wiedersehen ratsam, einer anderen Person einfach so etwas
erschlägt und sich in einen Prinzen zurückverwan- Gutes zu tun, ohne den Gedanken der Reziprozi-
delt. Hätte sich der Zwerg dem Prinzen gegenüber tät im Hinterkopf.
korrekt und fair verhalten, ihn nicht bestohlen und Anders sieht es jedoch bei der negativen Rezipro-
verflucht, wäre es vermutlich nie zu einem Konflikt zität aus. Man stelle sich vor, ein betrunkener Mann
mit solch tragischem Ausgang gekommen. schlägt vor einer Diskothek einem anderen Mann aus
In der Beziehung zwischen Schneeweißchen, purer Aggression ins Gesicht. Sollte sich das Opfer
Rosenrot und dem Prinzen kann man demgegenüber dann nach dem Prinzip der Reziprozität verhalten
positive Reziprozität erkennen. Die beiden Schwestern und zurückschlagen? Subjektiv betrachtet wäre es
zögern nicht, den Prinzen in seiner Gestalt als Bär auf- natürlich verständlich, genau das zu tun, allein aus
zunehmen und für Monate zu beherbergen, und werden Sicht der ausgleichenden Gerechtigkeit. Rein objek-
im Gegenzug später von ihm und seinem Bruder zur tiv bewirkt Reziprozität in diesem Fall absolut nichts
Frau genommen, was ihnen Zugang zu einem luxuriö- Positives – im schlimmsten Fall sind beide Männer
sen Leben gewährt. Dies verdeutlicht auch, dass sich schwer verletzt. In Situationen, in denen es um
das Prinzip der Reziprozität nicht auf einen unmittelba- negative Dinge wie Gewalt, Rache oder Neid geht,
ren Austausch von Gefälligkeiten beschränkt, sondern sollte also genauestens bedacht werden, ob ähnli-
weiter gefasst ist: Es lohnt sich durchaus, etwas abzuwar- ches negatives Verhalten an den Tag gelegt werden
ten, bis ein Gefallen erwidert wird. Außerdem hält der sollte, da dies meist nicht zum friedlichen Zusam-
Bär während seiner Zeit bei den Schwestern und deren menleben – wie es Reziprozität eigentlich bewirken
Mutter seine Jagdinstinkte zurück und greift sie nicht sollte – beiträgt.
an – denn das Prinzip der Reziprozität besagt auch, dass
man diejenigen nicht verletzen sollte, die einem gehol-
fen haben (Gouldner 1960). 13.3.3 Vertrauen

Auch das Thema Vertrauen spielt eine große Rolle


Implikationen für die Lebensgestaltung bei Schneeweißchen und Rosenrot. Die Defini-
Das Reziprozitätsprinzip findet sich bereits in der tion von Vertrauen lautet: Vertrauen ist die Erwar-
Bibel, in der es heißt „Auge für Auge, Zahn für tung einer Person, dass eine Situation auch ohne
Zahn“ (Ex 21,22-25). Es handelt sich also um eines die komplette Kontrolle möglicher negativer
98 Kapitel 13 · Schneeweißchen und Rosenrot von den Gebrüdern Grimm (1837)

oder positiver Verhaltensweisen zu einem positi- 7. Generativität vs. Selbstabkapselung


ven Ausgang kommt (Mayer et al. 1995). Wo zeigt (Erwachsenenalter)
sich dies in dem Märchen „Schneeweißchen und 8. Integrität vs. Verzweiflung (reifes
Rosenrot“? Erwachsenenalter)
Die beiden Schwestern und ihre Mutter nehmen
den von Natur aus gefährlichen Bär bei sich auf, da Stufe 1 stellt dabei schon die Bildung von Vertrauen
sie darauf vertrauen, dass er ihnen nichts tun wird. bzw. Misstrauen dar, d. h., schon im 1. Lebensjahr
Und sie sollten recht behalten: Der Bär verhält sich entwickelt man ein gewisses Gefühl dafür, wem man
die ganze Zeit ruhig und deutet nicht im Gerings- vertrauen kann und wem nicht.
ten irgendwelche bösen Absichten an. Aber auch Schneeweißchen und Rosenrot sollten folg-
das sonstige Verhalten zeigt, was für ein großes Ver- lich in puncto Vertrauen eher weniger als Vorbilder
trauen die Mädchen in die Welt haben. So bleiben sie betrachtet werden. Ein gewisses Vertrauen in die
nachts alleine im Wald, ohne darüber nachzuden- Welt ist schön und wichtig, aber man muss immer
ken, was passieren könnte, und schlafen an einem abwägen, ob es angemessen ist oder ob man zu naiv
Abgrund, obwohl sie im Schlaf leicht abstürzen denkt. Kinder haben häufig zu viel Vertrauen, auch in
könnten. fremde Personen, und handeln in ihrem kindlichen
Das alles wäre im realen Leben undenkbar: Übermut oft unbedacht.
Niemals sollten zwei kleine, hübsche Mädchen
nachts alleine im Wald bleiben, da dort gefährliche
Tiere leben und weitere Gefahren drohen können. Implikationen für die Lebensgestaltung
Auch der Schutzengel, der im Märchen auftritt, um und Arbeit
die Mädchen zu bewahren, vermittelt ein verzerrtes Vertrauen spielt in jedem Lebensbereich eine wich-
Bild dieser Welt: Es entsteht der Eindruck, dass alles tige Rolle – ob in einer Beziehung, unter Freunden,
möglich ist, egal wie gefährlich es auch erscheinen in der Familie oder in der Arbeit. Schneeweißchen
mag, da immer ein rettender Engel die schützende und Rosenrot leben uns vor, welche positiven Aus-
Hand über einen legt und Schlimmeres verhindert. wirkungen mit einer vertrauensseligen Lebensweise
Dass dies nicht der Fall ist, ist gerade Kindern – der einhergehen: Je vertrauensvoller wir einer Person
größten Zielgruppe von Märchen – oft nicht klar. oder generell einem Lebewesen begegnen, desto ver-
Eltern sollten also darauf achten, diesen Punkt rich- trauensvoller wird es auch uns begegnen.
13 tigzustellen, damit ihre Kinder nicht auf leichtsinnige Hätten die Schwestern dem Bären nicht sofort
Ideen kommen. vertraut, hätte er seinerseits möglicherweise kein
Nun fragt man sich vielleicht, wieso Schneeweiß- Vertrauen in die Mädchen entwickelt. Dem liegt
chen und Rosenrot überhaupt so ein großes Ver- das Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung
trauen in die Welt haben. Grundsätzlich kann man zugrunde – das Verhalten, das man von anderen
festhalten, dass sich Vertrauen schon recht früh in Personen erwartet, wird durch das eigene Verhalten
der Kindheit entwickelt. Im Stufenmodell der psy- bedingt (Aronson et al. 2008).
chosozialen Entwicklung beschreibt Erikson acht Dies lässt sich im Arbeitskontext anschaulich
Stufen, die der Mensch nacheinander in seiner Ent- illustrieren: Da jede Organisation aus einem Netz-
wicklung durchläuft (Lohaus u. Vierhaus 2015): werk sozialer Beziehungen besteht, ist Vertrauen –
1. Vertrauen vs. Misstrauen (1. Lebensjahr) ob des Kunden oder innerhalb der Organisation –
2. Autonomie vs. Scham und Zweifel (2./3. unabdingbar für effiziente Arbeit und produktive
Lebensjahr) Ergebnisse (Seabright et al. 1992). Jeder kennt das
3. Initiative vs. Schuldgefühl (4./5. Lebensjahr) aus eigener Erfahrung: Wenn man mit einem Unter-
4. Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl nehmen oder einem Anbieter schon gute Erfahrun-
(6. Lebensjahr bis Pubertät) gen gemacht hat, hat man auch Vertrauen, dass man
5. Identität vs. Identitätsdiffusion (Jugendalter) bei einem erneuten Kauf wieder gute Erfahrungen
6. Intimität und Solidarität vs. Isolation (frühes machen wird. Als Unternehmen sollte man also
Erwachsenenalter) darauf achten, ein gutes Vertrauensverhältnis zu
Literaturverzeichnis
99 13
seinen Kunden aufzubauen. Doch auch innerhalb (Bd. 2, 3. Aufl.). Göttingen: Verlag der Dieterichschen
Buchhandlung.
der Organisation ist es sinnvoll, auf Vertrauen zu
Headey, B., Muffels, R., & Wagner, G.G. (2010). Long-running
bauen: Hat man kein Vertrauen in seine Arbeitskol- German panel survey shows that personal and economic
legen, schränkt das potenzielle Möglichkeiten ein. choices, not just genes, matter for happiness. Proceedings
Probleme, die es zu lösen gilt, diskutiert man eher of the National Academy of Sciences of the United States of
weniger bereitwillig und offen mit einem Kollegen, America 107, 17922–17926.
Latané, B., & Darley, J. M. (1970). The unresponsive bystander:
dem man Böses unterstellt, und beraubt sich dadurch
Why doesn’t he help? New York: Appleton-Century-Crofts.
neuer und innovativer Lösungsmöglichkeiten. Lohaus, A., & Vierhaus, M. (2015). Entwicklungspsychologie des
Kindes- und Jugendalters für Bachelor. Berlin Heidelberg:
Springer.
13.4 Fazit Mayer, R. C., Davis, J. H., & Schoorman, F. D. (1995). An integra-
tive model of organizational trust. Academy of Manage-
ment 20, 709–734.
Das Märchen Schneeweißchen und Rosenrot Post, S. G. (2005). Altruism, happiness, and health: it's good to
wurde im sog. Vormärz geschrieben. Diese Epoche be good. International Journal of Behavioral Medicine 12,
beschreibt den Zeitraum zwischen 1815 und 1848. 66–77.
In dieser Zeit war Zensur ein großes Thema – verbo- Seabright, M. A., Leventhal, D.A., & Fichmann, M. (1992). Role
of individual attachments in the dissolution of interorga-
ten war hierbei vor allem Kritik an den herrschen-
nizational relationships. Academy of Management Journal
den politischen Verhältnissen. Dies könnte erklären, 3, 122–160.
wieso das Märchen so stark von Harmoniedenken Werth, L., & Meyer, J. (2008). Sozialpsychologie. Berlin, Heidel-
beherrscht ist: Einerseits könnte es den Wunsch der berg: Springer.
Brüder Grimm nach einem friedlichen, uneinge-
schränkten Leben ausdrücken, andererseits kann es
auch als Parodie auf die alles andere als harmoni-
schen Zeiten damals verstanden werden.
Das Märchen „Schneeweißchen und Rosenrot“
hat bis in die heutige Zeit wenig an Bedeutung ver-
loren und hält sinnvolle Ratschläge für das Leben
bereit: vom Anstoß zu altruistischem Verhalten über
Reziprozität zu Vertrauen – alle diese Aspekte kann
und sollte man im Alltag berücksichtigen, um nicht
nur für eine höhere Lebensqualität, sondern auch
für eine bessere Welt Sorge zu tragen. Das Märchen
dient also als wichtiger und richtiger Ratgeber für die
eigene Lebensführung.

Literaturverzeichnis

Aronson, E., Wilson, T. D., & Akert, R. M. (2008). Sozialpsycho-


logie. Pearson Studium.
Batson, C. D., Duncan, B. D., Ackerman, P., Buckley, T., & Birch,
K. (1981). Is empathic emotion a source of altruistic moti-
vation? Journal of Personality and Social Psychology 40,
290–302.
Frey, D. & Bierhoff, H. W. (2011). Sozialpsychologie – Interaktion
und Gruppe. Göttingen: Hogrefe.
Gouldner, A. W. (1960). The norm of reciprocity. A preliminary
statement. American Sociological Review 25, 161–178.
Grimm, J., & Grimm, W. (1837). Kinder- und Haus-Märchen,
gesammelt durch die Brüder Grimm: Große Ausgabe
101 14

Hänsel und Gretel von den


Gebrüdern Grimm (1819)
Verena Berthold und Sarah Eichmann

14.1 Inhalt des Märchens – 102

14.2 Die Charaktere – 103

14.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 103


14.3.1 Lügen – 103
14.3.2 Optimismus – 104
14.3.3 Erlernte Hilflosigkeit – 105
14.3.4 Konformität und Gehorsam – 106

14.4 Fazit – 107

Literaturverzeichnis – 107

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_14
102 Kapitel 14 · Hänsel und Gretel von den Gebrüdern Grimm (1819)

14.1 Inhalt des Märchens der Wind, das himmlische Kind.“ Da trat eine
kleine, alte Frau aus dem Haus, die die Kinder zu
Vor einem großen Wald lebte einst ein armer Holz- sich einlud und ihnen Essen und ein Schlafzim-
hacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern, mer anbot. Hänsel und Gretel fühlten sich wie im
Hänsel und Gretel. Da die Familie nicht genug zu Himmel, wussten jedoch nicht, dass die Frau eine
essen hatte, drängte die Mutter ihren Mann, die Hexe und Menschenfresserin war. Am nächsten
Kinder tief im Wald auszusetzen, sodass sie nicht Morgen zerrte die Hexe Hänsel in einen kleinen
wieder nach Hause fänden. Zufällig erfuhren die Stall und sperrte ihn hinter ein Gitter. Gretel zwang
Kinder von dem Plan, woraufhin Gretel bitterlich sie zu arbeiten und ihren Bruder zu mästen. Um zu
weinte und Hänsel sie tröstete. Denn er hatte vom prüfen, ob Hänsel schon fett genug zum Schlachten
Hof viele kleine Kieselsteinchen eingepackt, mit sei, befühlte die fast blinde Hexe jeden Tag Hänsels
denen er heimlich den Weg legen wollte. Am nächs- Finger. Um die Hexe zu täuschen, hielt ihr Hänsel
ten Morgen gaben sich die Geschwister ahnungs- immer einen mageren Knochen entgegen. Da Hänsel
los und ließen sich in den Wald führen. Dabei nicht zunahm, beschloss die ungeduldige Hexe ihn
ließ Hänsel in regelmäßigen Abständen ein Stein- trotzdem zu schlachten. Sie heizte den Ofen an und
chen fallen. Tief im Wald angekommen sollten die befahl Gretel hineinzukriechen, um nachzusehen,
Kinder Holz sammeln, während sich die Eltern ob der Ofen heiß genug sei. Gretel ahnte, dass die
unter dem Vorwand, weiteres Holz zu hacken, ent- Hexe auch sie darin braten wollte und gab vor, nicht
fernten. Stattdessen aber ließen sie die Kinder allein zu wissen, was sie tun solle. Da kroch die Hexe laut
im Wald zurück. Wieder fing Gretel an zu weinen, schimpfend selbst in den Ofen. Gretel gab ihr einen
und Hänsel beruhigte sie, dass sie bloß den Steinchen kräftigen Stoß und schloss die Ofentür, sodass die
zu folgen brauchten, um nach Hause zu finden. So Hexe jämmerlich verbrannte. Sie befreite Hänsel und
kam es, dass die Kinder am nächsten Morgen wieder gemeinsam nahmen sie so viele wertvolle Dinge aus
vor ihren Eltern standen. Während sich der Vater dem Häuschen der Hexe mit auf den Weg, wie sie
über die Rückkehr der Kinder freute, schimpfte die tragen konnten.
Mutter mit den beiden, wo sie denn so lange gewesen Im Wald kamen sie an einen See, den sie nicht
seien. Nachts hörten die Kinder, wie die Mutter vom allein überqueren konnten. Da bat Gretel eine
Vater verlangte, die Kinder am nächsten Tag noch weiße Ente, sie auf ihrem Rücken über den See zu
tiefer in den Wald zu führen. Wieder weinte Gretel, bringen. Auf der anderen Seite kam ihnen der Weg
und Hänsel wollte kleine Steinchen holen, doch bald wieder bekannt vor und sie fanden rasch nach
jene Nacht war die Türe verriegelt. Als sie morgens Hause. Dort angekommen fiel ihnen der Vater um
loszogen, erhielten beide Kinder ein kleines Stück den Hals, der keine ruhige Minute mehr gehabt hatte,
14 Brot, und Hänsel ließ nun statt Steinchen Brotkru- und berichtete, dass die Mutter inzwischen gestor-
men fallen. Nachdem die Eltern sie wieder zurück- ben war. Dank der mitgebrachten Schätze lebten die
gelassen hatten, mussten die Kinder feststellen, dass drei fortan unbeschwert in dem kleinen Häuschen
die Vögel die Brotkrumen weggepickt hatten. Wieder am Waldrand.
musste Hänsel die aufgelöste Gretel trösten, dass sie (Grimm u. Grimm 1819; . Abb. 14.1)
den Weg zurück schon finden würden. Doch auch
nach langer Suche gelang es den beiden nicht, den Anmerkung  Die Ursprünge des Märchens werden
Heimweg zu finden. in Hessen und Schwaben vermutet. Es ist nahelie-
Als sie ein schönes Vöglein beobachteten und gend, dass die Geschichte aus einer Zeit stammt, in
ihm daraufhin folgten, gelangten sie zu einem der die Bevölkerung mit Hungersnöten zu kämpfen
kleinen Lebkuchenhäuschen, von dem sie – hungrig hatte, wie z. B. während des Dreißigjährigen Krieges
wie sie waren – aßen. Da ertönte eine feine Stimme (1618–1648). Die Namen Hänsel und Gretel sind
aus der Stube mit den Worten „Knuper, knuper, knei- Kosenamen für die damals häufigsten Taufnamen
schen, wer knupert an meinem Häuschen?“ Worauf Johann und Margarethe und betonen als Platzhalter
die Kinder unbekümmert antworteten: „Der Wind, die Allgemeingültigkeit des Märchens.
14.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
103 14
. Abb. 14.1  (Zeichnung: Johanna
Frey)

14.2 Die Charaktere Untersucht man das Märchen auf Geschlechts-


stereotypen, fällt auf, dass die weiblichen Akteure
Die Geschwister Hänsel und Gretel wachsen in sehr schlecht wegkommen. Mutter und Hexe ver-
Armut als Kinder eines Holzhackers auf. Hänsel körpern das Böse und selbst Gretel wird (zunächst)
übernimmt die Führung für sich und seine Schwes- als schwach und lebensuntüchtig dargestellt. Dieses
ter und bleibt auch in Notsituationen zuversichtlich. Muster taucht in vielen Märchen der damaligen
Er handelt vorausschauend und kümmert sich für- Zeit auf, was vermuten lässt, dass dies dem Stereo-
sorglich um Gretel, welche hingegen ängstlich ist und typ einer Epoche entsprach, in der Frauen keinerlei
sich auf ihren Bruder verlässt. Erst als Hänsel von der Rechte besaßen, sich den Männern unterzuordnen
Hexe gefangen genommen wird, beweist Gretel Mut hatten und zudem häufig die Rolle des Sündenbocks
und rettet sich und ihren Bruder. innehatten.
Der Vater möchte seine Kinder nicht im Wald
aussetzen, lässt sich jedoch von seiner Frau dazu
drängen und steht nicht für seine Kinder ein. Er 14.3 Psychologische Phänomene
ist froh, dass die Kinder trotz seines feigen Verrats und Implikationen
wieder heil zurückkehren.
Die Mutter ist bereit, für ihr eigenes Leben das Aus dem Märchen „Hänsel und Gretel“ lassen sich
ihrer Kinder zu opfern. Sie zeigt keinerlei Zuneigung einige psychologische Phänomene ableiten, die im
gegenüber den Kindern und versucht zweimal diese Folgenden vertiefend dargelegt werden.
loszuwerden. Sie hat ihren Mann fest im Griff und
überredet ihn, die Kinder auszusetzen. Am Ende
jedoch stirbt sie selbst. 14.3.1 Lügen
Die Hexe wohnt versteckt im Wald und lockt die
Kinder mit ihrem Lebkuchenhaus in die Falle. Sie will „Wir wollen in den Wald gehen und Holz holen“,
die Kinder braten und verspeisen. Doch sie wird von so begründet die Mutter den Ausflug in den Wald.
Hänsel und Gretel überlistet und stirbt einen qual- Dies ist jedoch eine eiskalte Lüge, um die Kinder im
vollen Tod. Zwischen der Hexe und der Mutter zeigt Wald auszusetzen. Untersuchen wir das Märchen
sich eine Parallele: Beide Frauen wollen die Kinder gezielt auf Lügen, stellen wir fest, dass sich diese wie
töten, sterben jedoch am Ende selbst. ein roter Faden durch die Geschichte ziehen, denn
104 Kapitel 14 · Hänsel und Gretel von den Gebrüdern Grimm (1819)

jeder der Akteure lügt im Verlauf des Märchens. die Gruppe zusammenzuhalten (Barrio et al. 2015).
Die Mutter lügt, der Vater verschweigt sein Wissen Natürlich geht es hierbei nicht um egoistisch moti-
gegenüber den Kindern, Hänsel lügt bzw. täuscht, vierte Intrigen und Lügen, sondern z. B. um kleine
indem er der Hexe statt seines Fingers ein mageres Flunkereien, die zum psychischen Wohlbefinden der
Knöchlein entgegenstreckt und vielleicht auch, als Belogenen beitragen. Auch wenn es sich hierbei nur
er Gretel versichert, dass sie den Weg schon finden um eine Simulation handelte, so ist es doch plausi-
werden, auch wenn die Vögel das Brot weggepickt bel, dass wir häufig lügen, um die Harmonie einer
haben. Hier stellt sich auch die Frage, ob er womög- Gruppe aufrechtzuerhalten, und dass genau dieses
lich gar sich selbst belügt, um sich zu beruhigen. Die Verhalten den Menschen früher einen evolutionären
Hexe lügt den Kindern etwas vor, um sie einzufan- Vorteil erbrachte. Die Simulation ergab aber auch,
gen und schließlich lügt sogar Gretel, als sie vorgibt, dass chronische Lügner schnell ins soziale Abseits
nicht zu wissen, was sie tun solle. geraten. Denn – wie sagt man so schön: „Wer einmal
Betrachten wir die Lügen nun im Hinblick auf lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er mal die
unsere emotionalen Reaktionen. Vermutlich ver- Wahrheit spricht!“
urteilen die meisten von uns die Lüge der Mutter
sowie der Hexe und möglicherweise auch das Schwei-
gen des Vaters. Dass die Kinder die Hexe belügen, um Implikationen für die Lebensgestaltung
sich aus ihrer Gefangenschaft zu befreien, finden die Mit Sicherheit soll die Botschaft nicht sein, dass
meisten von uns wahrscheinlich moralisch vertret- Lügen per se schlecht ist und man niemals lügen
bar. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie unterschied- sollte. Denn Hänsel und Gretel wären ohne ihre Not-
lich wir Lügen bewerten. Der Bewertungsmaßstab lügen wohl im Wald verhungert oder von der Hexe
orientiert sich dabei an dem Motiv für die Lüge. Höf- verspeist worden. Vielmehr kann uns die Geschichte
lichkeit, eine Notsituation oder persönliche Vorteile dazu anregen, uns Gedanken zum Thema Lügen zu
sind nur einige der Gründe, warum jemand nicht machen:
die Wahrheit spricht. Die Grenzziehung zur Lüge 44Dürfen wir lügen, um ein ehrenwertes Ziel zu
ist dabei nicht immer eindeutig, beispielsweise bei verfolgen?
einer Übertreibung oder dem Zurückhalten von 44Was bedeutet es für unsere Gesellschaft,
Informationen. wenn wir immer auch mit einer Lüge rechnen
Obwohl eine Lüge eigentlich immer negativ müssen?
konnotiert ist, lügen die meisten Menschen immer 44Ist Verschweigen auch Lügen?
wieder, wie wir nicht nur aus unserer persönlichen 44Was passiert, wenn wir uns selbst belügen,
Alltagserfahrung heraus bestätigen können, sondern um uns z. B. eine bestimmte Situation
14 was auch von einigen Forschern systematisch unter- schönzureden?
sucht wurde. So fanden z. B. Turner et al. (1995), dass
nur ca. 38 % der verbalen Aussagen, die Versuchs-
personen im sozialen Miteinander tätigten, absolut 14.3.2 Optimismus
der Wahrheit entsprachen. Die restlichen Aussa-
gen waren nicht eindeutig gelogen, aber unterlagen Obwohl die Kinder durch den Egoismus der Mutter
irgendeiner Form der Informationskontrolle (z. B. in eine prekäre Situation geraten sind, bleibt Hänsel
Zurückhaltung oder Übertreibung). stets optimistisch. Er tröstet Gretel immer wieder
Warum konnten sich im Zuge der Evolution und bleibt zuversichtlich, dass sie die Lage meistern
sowohl beim Menschen als auch bei vielen Tierar- werden, selbst als er bemerkt, dass die Vögel seine
ten, die Täuschungsmanöver beherrschen, Lüge und Wegmarkierung gefressen haben.
Schwindel als eher negativ bewertetes Verhalten etab- Das wohl prominenteste Beispiel für den Unter-
lieren, bei denen immer auch die Gefahr besteht, dass schied zwischen Optimisten und Pessimisten ist
sie auffliegen? Forscher zeigten mithilfe einer Simula- die Sichtweise auf das halb volle bzw. halb leere
tion, die auf mathematischen Modellen beruht, dass Glas. Dort, wo der eine die positiven Aspekte und
Lügen als „sozialer Klebstoff “ fungieren könnte, um Chancen erkennt, vermutet der andere Probleme
14.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
105 14
und Nachteile. Ob man nun eher Optimist oder Pes- über genügend Kreativität und Optimismus, um der
simist ist, kann situativ schwanken. Haben Menschen Hexe den Todesstoß zu versetzen.
aber situationsübergreifend eine positive Grund-
haltung in ihrer Wahrnehmung, Erinnerung, ihren
Erwartungen sowie ihren Denkmustern, so spricht Implikationen für die Lebensgestaltung
man von Positivity. Dies beinhaltet auch die Fähig- Uns hilft maßgeblich der realistische Optimismus,
keit, sich auf die positiven Faktoren zu fokussieren voranzukommen und uns weiterzuentwickeln. Jedes
und diese besser zu erkennen. Hat eine Person syste- Kind, das Laufen lernt, fällt viele Male zurück auf den
matisch die Tendenz, sich vorwiegend an Positives zu Boden, bevor es laufen kann, und zeigt damit eine
erinnern, so handelt es sich um den sog. „positivity hohe Resilienz. Diese hilft ihm nach jedem Sturz,
bias“ (Michalos 2014). wieder aufzustehen und ganz fest daran zu glauben,
Die Fähigkeit, die Welt positiv wahrzunehmen, dass es bestimmt bald klappt. Wann immer wir uns
ist ein wichtiger Faktor im Umgang mit Rückschlä- hoffnungslos fühlen, können wir uns vornehmen,
gen. Scheier et al. (1999) konnten sogar in einer wie ein Kind, das gerade die ersten Schritte macht,
Studie zeigen, dass Optimisten sich nach einer mit realistischem Optimismus die Herausforderung
Bypass-Operation körperlich schneller erholten. Die anzunehmen.
Optimisten begannen – verglichen mit den Pessimis-
ten – früher wieder mit körperlicher Aktivität und
benötigten seltener eine stationäre Nachbehandlung. 14.3.3 Erlernte Hilflosigkeit
Die Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung
(Lilli u. Frey 1993) beschreibt, dass unsere Erwar- Zu Beginn des Märchens verhält sich Hänsel aktiv
tungshaltung nicht nur unsere Wahrnehmungspro- und nimmt das Schicksal der Geschwister in die
zesse, sondern auch die resultierenden Schlussfolge- Hand. Mit den Kieselsteinchen und den Brotkrumen
rungen sowie Handlungen beeinflussen kann, also versucht er, den Weg zurück nach Hause zu legen,
z. B. wie wir nach einer Operation den Genesungs- um sich und Gretel zu retten. Gretel hingegen verhält
prozess wahrnehmen und wann wir wieder körper- sich zu Beginn passiv. Bei Rückschlägen reagiert
lich aktiv werden. Gretel mit bitterlichem Weinen und Verzweiflung.
Doch nicht immer ist es förderlich, uneinge- Sie glaubt nicht, dass sie die Situation verändern kann
schränkt an das Gute zu glauben. Trotz Optimismus und fügt sich ihrer Lage.
sollten wir realistisch bleiben. Denn wer zu blauäu- Dieses Verhalten wird auch als erlernte Hilflosig-
gig und naiv durch die Welt spaziert, wird immer keit (Seligman 1974) bezeichnet. Damit ist die feste
wieder vermeidbare Rückschläge und Enttäuschun- Überzeugung einer Person gemeint, dass sie eine
gen provozieren. Die Fähigkeit des realistischen unangenehme Situation nicht verändern könne, auch
Optimismus nennt Mourlane (2014) einen wichtigen wenn dies objektiv betrachtet nicht stimmt. Diese
Faktor für Resilienz. Resilienz beschreibt die psychi- Einstellung kann in Passivität resultieren, bei der
sche Widerstandsfähigkeit und Fähigkeit, Krisen zu man sich seinem Schicksal widerstandslos hingibt.
bewältigen und sie sogar als Chance zur Weiterent- Die eigene Selbstwirksamkeitserwartung (Bandura
wicklung zu nutzen. Im Alltag ist Resilienz wichtig, 1977), also die Erwartung, durch das eigene Handeln
um adäquat mit Herausforderungen und Rückschlä- Einfluss nehmen zu können, wird durch die erlernte
gen umzugehen. Hilflosigkeit stark geschwächt.
Im Märchen hat Hänsel im realistischen Rahmen Gretel hat die erlernte Hilflosigkeit wahrschein-
Optimismus bewahrt, um sich und seine Schwester lich durch eine Reihe negativer Lernerfahrungen
zu retten. Wäre Hänsel ein Pessimist gewesen, hätte erworben. Erst als Hänsel von der Hexe gefangen
er vermutlich etwas gesagt wie: „Ja, Gretel, bald wird, überwindet Gretel ihre Hilflosigkeit, um sich
werden wir sterben.“ Dass Hänsel nicht naiv und und ihren Bruder vor dem Tod zu retten. Sie stößt
unrealistisch optimistisch ist, bestätigt sich, als selbst die Hexe in das Ofenfeuer und befreit Hänsel. Gretel
er die Hoffnung verliert, nachdem ihn die Hexe in macht dabei eine korrigierende Lernerfahrung: Sie
den Stall sperrt. Doch an dieser Stelle verfügt Gretel stellt fest, dass ihr mutiges Handeln etwas bewirkt
106 Kapitel 14 · Hänsel und Gretel von den Gebrüdern Grimm (1819)

und sie Kontrolle über die Situation hat. Gretel ent- sollte dabei immer weiter gesteigert werden. Die Teil-
wickelt sich im Laufe des Märchens immer mehr hin nehmer konnten sich gegenseitig nicht sehen, aller-
zu einer aktiv handelnden Heldin. dings waren die Schmerzensäußerungen zu hören.
Zögerten oder weigerten sich die Probanden, weitere
Elektroschocks zu verabreichen, drängte der Ver-
Implikationen für die Erziehung und suchsleiter sie, fortzufahren. Dass die Schmerzens-
Führung schreie nur vorgetäuscht waren und es in Wahrheit
Erlernte Hilflosigkeit kann zu Passivität, Verzweif- keine Elektroschocks gab, wussten die Versuchsper-
lung und depressiven Symptomen führen. Um sich sonen nicht. Das Milgram-Experiment zeigte, dass
aus der Opferrolle zu befreien, musste Gretel ihre Personen gegen ihren Willen und aus Gehorsam
eigene Selbstwirksamkeit erfahren. Auch für die bereit sein können, andere Menschen zu schädigen.
gesunde Entwicklung von Kindern ist das Erleben Die Ergebnisse des Experiments sind erschreckend.
von Selbstwirksamkeit sehr bedeutsam. Schon von 65 % der Teilnehmer verabreichten Elektroschocks
Geburt an lernen Kinder durch Ausprobieren ver- der höchsten und lebensgefährlichen Intensität
schiedener Verhaltensweisen, dass ihr Handeln (450 Volt), auch wenn ihnen das sichtlich schwer-
Auswirkungen auf ihre Umwelt und das Verhalten fiel. Die übrigen Personen weigerten sich erfolgreich,
anderer Menschen hat. Dabei sind Herausforderun- den Anweisungen des Versuchsleiters zu folgen.
gen für Kinder in jeder Entwicklungsstufe besonders Übertriebener Gehorsam zeigte sich auch in einer
wichtig, um ihre Selbstwirksamkeit auf unbekann- Studie, in der ein vermeintlicher, unbekannter Arzt
tem Terrain zu überprüfen. dem Pflegepersonal per Telefon befahl, bestimmten
Auch im Bereich der Mitarbeiterführung sind Patienten eine gefährlich hohe Dosis eines Medika-
Selbstwirksamkeit und wahrgenommene Kontrolle ments zu verabreichen, das noch nicht zum Einsatz
für Mitarbeiter von großer Bedeutung. Es ist wichtig, an Patienten freigegeben war. Schockierende 95 %
dass Führungskräfte ihren Mitarbeitern das Gefühl des Pflegepersonals leisteten den Anweisungen folge
vermitteln, dass auch sie etwas bewirken können (Hofling et al. 1966).
und nicht äußeren Einflüssen hilflos ausgesetzt sind. Doch wie kann es so weit kommen? Ein Grund
Schon allein bei einem Problem angehört zu werden, für Gehorsam ist der normative soziale Einfluss, den
kann helfen, dass wir mehr Kontrolle über die Situa- eine autoritäre Person auf eine andere ausübt. Alle
tion wahrnehmen und zufriedener sind. Menschen haben das Grundbedürfnis, akzeptiert
und Teil einer Gruppe zu sein. Normativer sozialer
Einfluss wirkt, wenn Menschen ihr Verhalten ent-
14.3.4 Konformität und Gehorsam sprechend der Vorstellungen anderer anpassen, um
14 von diesen weiterhin akzeptiert und gemocht zu
Im Märchen lässt sich der Vater von seiner Frau über- werden, auch wenn sie die auferlegten Vorstellungen
zeugen, die Kinder auszusetzen, obwohl er dies nicht nicht gutheißen. Der Vater von Hänsel und Gretel
möchte. Diese Konformität führt zu einem fremdbe- will seine herrische Ehefrau zufriedenstellen, die
stimmten Handeln gegen seine Prinzipien, welches Teilnehmer im Experiment wollen dem Versuchs-
das Leben seiner Kinder gefährdet. Warum wehrt leiter bzw. dem Arzt gefallen. Ein weiterer Grund für
sich der Vater nicht und handelt gegen seinen Willen? Gehorsam kann der informationale soziale Einfluss
Das berühmte Milgram-Experiment (Milgram sein. In einer verwirrenden und stressigen Situation
1974) zeigte, dass Menschen oft gegen ihren Willen mit widersprüchlichen Anforderungen verlassen
und ihr Gewissen handeln, wenn sie unter Druck sich Personen oft auf die Anweisungen eines „Exper-
gesetzt werden. Dabei sollten die Teilnehmer unter ten“, der vorgibt, zu wissen, was richtig ist. Übertrie-
Aufsicht des Versuchsleiters eine eingeweihte Person, bener Gehorsam kann aber auch durch die Abgabe
die sich in einem anderen Raum aufhielt, immer der persönlichen Verantwortung entstehen. Wer nur
dann mit einem schmerzhaften Elektroschock die Anweisungen eines anderen ausführt, fühlt sich
bestrafen, wenn sie bei einer Lernaufgabe einen selten verantwortlich, denn die Verantwortung liegt
Fehler machte. Die Intensität des Elektroschocks dann ja wohl bei dem, der die Fäden zieht.
Literaturverzeichnis
107 14
Implikationen für die Lebensgestaltung Literaturverzeichnis
Natürlich ist Gehorsam an sich ein wichtiger Wert
Bandura, A. (1997). Self-efficacy: toward a unifying theory of
und in allen Kulturen eine geschätzte Norm, die ein
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geordnetes Zusammenleben ermöglicht. Deshalb Barrio, R. A., Govezensky, T., Dunbar, R., Iñiguez, G., & Kaski, K.
lernen wir, Autoritätspersonen wie Eltern oder (2015). Dynamics of deceptive interactions in social net-
Lehrern zu gehorchen. Gehorsam wird aber dann works. Journal of The Royal Society Interface 12, 20150798.
gefährlich, wenn er von der Autoritätsperson miss- Greitemeyer, T., Osswald, S., Fischer, P., & Frey, D. (2007). Civil
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braucht wird und die Menschenwürde anderer ver-
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geschehen ist. gesammelt durch die Brüder Grimm: Große Ausgabe
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normativen und informationalen sozialen Einfluss 143, 171–180.
hilft, die eigenen Handlungen kritisch zu hinterfra- Lilli, W., & Frey, D. (1993). Die Hypothesentheorie der sozialen
gen. Wer Gehorsam zeigt, weil er sich nicht verant- Wahrnehmung. In: D. Frey, & M. Irle (Hrsg.), Theorien der
wortlich für das Gesamtergebnis fühlt, muss sich Sozialpsychologie. Band I: Kognitive Theorien (S. 49–78).
Bern: Huber.
bewusst machen, dass er die verwerfliche Tat erst
Michalos, A. C. (ed.). (2014). Encyclopedia of quality of life and
möglich macht. Die Verantwortung für die Schädi- well-being research. Berlin, Heidelberg: Springer.
gung anderer liegt dann ebenso bei ihm wie beim Milgram, S. (1974). Obedience to authority: An experimental
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Zivilcourage ist ein von Ablehnung begleitetes M. W., Magovern, G. J., & Carver, C. S. (1999). Optimism
mutiges Verhalten, das hilft, gesellschaftlich-ethische and rehospitalization after coronary artery bypass graft
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durchzusetzen (Greitemeyer et al. 2006). Zivilcou- Seligman, M. E. P. (1974). Depression and learned helplessness.
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Turner, R. E., Edgley, C., & Olmstead, G. (1975). Information
control in conversations: Honesty is not always the best
14.4 Fazit policy. Kansas Journal of Sociology 11, 69–89.

Die geschilderten Beobachtungen im Märchen von


Hänsel und Gretel zeigen, dass das Märchen auch heute
noch aktuell ist. Lügen, Optimismus, erlernte Hilflosig-
keit und blinder Gehorsam sind immer noch prägend
für unser Miteinander. Darüber hinaus enthält das
Märchen weitere Ansatzpunkte für Analysen:
44Warum handeln die Eltern entgegen der elter-
lichen Fürsorge?
44Warum kehren Hänsel und Gretel zu ihrem
Elternhaus zurück, das sie verlassen mussten?
Haben sie ihren Eltern verziehen oder ist es
(emotionale) Abhängigkeit, die sie zurückführt?
109 15

Von einem, der auszog, das


Fürchten zu lernen von den
Gebrüdern Grimm (1818)
Angelika Stefan

15.1 Inhalt des Märchens und die Charaktere – 110

15.2 Die Charaktere – 111

15.3 Psychologische Phänomene – 112


15.3.1 Effekt der Erwartung – 112
15.3.2 Keine Furcht – ist das normal? Das Dilemma des
Märchenhelden – 113
15.3.3 Eudämonisches Glück und das Streben nach höheren Zielen – 114

15.4 Implikationen für das eigene Leben – 115

15.5 Fazit – 115

Literaturverzeichnis – 115

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_15
110 Kapitel 15 · Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen von den Gebrüdern Grimm (1818)

15.1 Inhalt des Märchens und die vertrieb. Als sie weg waren, sah er in einer Ecke ein
Charaktere großes Bett, in das er sich legte, um zu schlafen. Doch
das Bett fuhr wild im Schloss herum, sodass er sich
Ein Vater hatte zwei Söhne. Der ältere fürchtete sich schließlich doch an sein Feuer legte und einschlief.
wie alle anderen Leute vor bestimmten Dingen, aber Gefürchtet hatte er sich nicht.
der jüngere konnte nie verstehen, was es bedeu- In der zweiten Nacht kam durch den Schorn-
ten sollte, wenn die Leute sagten: „Es gruselt mir!“ stein ein hässlicher Mann, der sich ans Feuer auf
Deshalb antwortete er, als der Vater ihm sagte, es den Platz des Jungen setzte. Als dieser ihn wegdrän-
wäre Zeit, etwas zu lernen, womit er sein Brot ver- gen wollte, kamen noch mehr Männer, die anfingen,
dienen kann: „Ich möchte lernen, mich zu gruseln!“ mit Knochen und Totenköpfen Kegel zu spielen. Der
Der Vater schickte ihn daraufhin zu einem Junge spielte mit ihnen mit, bis sie um Mitternacht
Küster, der versprach, ihn das Gruseln zu lehren. verschwanden. Gefürchtet hatte er sich nicht.
Dort musste der Junge bei Nacht die Glocke läuten. In der dritten Nacht brachten sechs Männer
Der Küster versteckte sich im Glockenturm, damit einen Sarg herein, in dem ein Toter lag. Der Junge
der Junge glauben würde, er sei ein Gespenst. Der berührte ihn und merkte, dass er ganz kalt war,
Junge entdeckte die Gestalt und rief, sie solle sich zu weshalb er ihn erst an sein Feuer setzte und dann
erkennen geben, sonst werfe er sie die Treppe hin- neben sich in sein Bett legte, um ihn zu wärmen.
unter. Als der Küster sich nicht zu erkennen gab, warf Da wurde der Tote lebendig und versuchte, ihn zu
er ihn die Treppe hinunter, wobei sich dieser ver- erwürgen. Der Junge stutzte über die Undankbarkeit
letzte. Dies erzürnte den Vater so, dass er den Sohn und warf ihn wieder in den Sarg zurück. Da trat ein
verstieß. großer Mann mit einem langen Bart herein, der ihm
Auf der Straße traf der Sohn einen Fremden, zurief, er werde jetzt lernen, was Gruseln ist, denn
der mit ihm wettete, ihm das Gruseln beibrin- jetzt werde er sterben. Der Junge überredete ihn zu
gen zu können. Er führte ihn zu einem Galgen, an einem Kräftemessen, bei dem er, wenn er als der stär-
dem sieben Männer aufgehängt waren, bei dem der kere hervorginge, gehen dürfte. Da führte ihn der
Junge die Nacht verbringen sollte. Als der Wind die Mann zu einem Schmiedefeuer, nahm eine Axt und
Männer gegeneinander schlug, bekam der Junge schlug den einen Amboss mit einem Schlag in die
Mitleid, nahm sie vom Galgen ab und setzte sie an Erde. Der Junge ging zu dem anderen Amboss, spal-
sein Feuer. Dort fingen ihre Kleider Feuer. Weil er sie tete ihn und klemmte dabei den Bart des Mannes mit
nicht verbrennen lassen wollte, hängte er sie wieder ein. Daraufhin nahm er eine Eisenstange und schlug
am Galgen auf. Gefürchtet hatte er sich nicht. so lange auf den Mann ein, bis dieser versprach, ihm
Am Morgen erzählte ihm ein Wirt von einem große Reichtümer zu geben, wenn er nur aufhören
verwunschenen Schloss. Demjenigen, der drei würde. Der Junge ließ ihn frei und der Mann führte
Nächte darin verbringen würde, hatte der König ihn zu drei großen Schatztruhen. Der Junge hatte sich
15 seine Tochter versprochen. Viele hatten sich an immer noch nicht gefürchtet.
der Aufgabe versucht, aber alle waren geschei- Wie versprochen durfte der Junge als Lohn die
tert. Der Junge beschloss, sein Glück zu versuchen. Prinzessin heiraten. Er beklagte sich aber weiterhin,
Auf Geheiß des Königs durfte er drei Dinge mit- dass er das Gruseln lernen möchte. Das ärgerte die
nehmen. Er wählte Feuer, eine Drehbank und ein Königstochter so, dass sie eines Tages einen Eimer
Schnitzmesser. voll kleiner Fische aus dem Teich holte und dem
In der ersten Nacht um Mitternacht sprangen Jungen, während er schlief, über das Bett schüttete.
zwei Katzen an sein Feuer, die ihn zum Kartenspie- Da wachte er auf und rief: „Ach, was gruselt mir! Nun
len aufforderten. Er bat sie, ihm vorher noch ihre weiß ich, was Gruseln ist!“
Krallen zu zeigen. Als sie ihm diese zeigten, packte er (Grimm u. Grimm 1819; . Abb. 15.1)
sie, spannte sie in die Drehbank und schlug sie tot. Da
kamen von allen Seiten schwarze Hunde und Katzen, Anmerkung  Das Märchen „Von einem, der auszog,
die er mit seinem Schnitzmesser von seinem Feuer das Fürchten zu lernen“ wurde von Wilhelm Grimm
15.2 · Die Charaktere
111 15

. Abb. 15.1  (Zeichnung: Claudia Styrsky)

als eine Kombination mehrerer mündlich überlie- Umfang auf und wird dadurch für den Leser beson-
ferter Volksmärchen aufgeschrieben. Die Aufga- ders präsent.
ben des Helden im verwunschenen Schloss sind fast
alle dem hessischen Märchen „Gut Kegel- und Kar-
tenspiel“ entnommen. Nur das Motiv des lebendi- 15.2 Die Charaktere
gen Toten, der versucht, den Helden zu erwürgen,
sowie des alten Mannes, dessen Bart eingeklemmt Die Charakterbeschreibungen in dem Märchen „Von
wird, entstammen nicht dieser Quelle. Ersteres ent- einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ bleiben
stammt einer Erzählung von Dorothea Viehmann, insgesamt auf die Darstellung ihrer familiären und
der Tochter eines Gastwirts aus der Gegend von gesellschaftlichen Stellung beschränkt, sie haben
Kassel; letzteres ist einem Tiroler Märchen entnom- weder Namen noch Spitznamen. Dafür nimmt die
men. Das fahrende Bett ist außerdem ein typisches Handlung einen ausgedehnten Lauf mit mehreren
Sagenmotiv, das u. a. auch in Wolfram von Eschen- Stationen. Im Zentrum steht der furchtlose und
bachs „Parzival“ vorkommt. Die Geschichte mit dem etwas einfältig wirkende jüngere Sohn, der es sich
Küster wurde in ähnlicher Form in einem Märchen zur (Lebens)Aufgabe macht, das Fürchten zu lernen.
aus Paderborn erzählt und die Nacht, die der Mär- Auf diesem Weg trifft er viele Personen, sogar Ver-
chenheld mit den Männern am Galgen verbringt, storbene und Geisterwesen, und besteht mehrere,
entstammt einem weiteren Märchen von Dorothea teils lebensbedrohliche Prüfungen, aber erst seine
Viehmann. Diese Kombination unterschiedlicher Ehefrau, die Tochter des Königs, schafft es, ihn eines
Quellen ist typisch für die Märchen der Gebrüder Nachts zu überraschen und ihm damit das Gruseln
Grimm, tritt bei diesem Märchen aber in verstärktem zu lehren.
112 Kapitel 15 · Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen von den Gebrüdern Grimm (1818)

15.3 Psychologische Phänomene Schemata bezeichnet (Betsch et al. 2011, S. 31f.).


Ein kognitives Schema beinhaltet das Wissen einer
Wenn Sie nach der Lektüre dieses Märchens ein Person über die typischen Merkmale eines Gegen-
wenig verwirrt sind, geht es Ihnen so wie den meisten stands und die Beziehungen zwischen diesen Merk-
anderen Lesern. Zu wenig entspricht das Märchen malen. Am Beispiel der Märchen wird klar, dass ein
„Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“ kognitives Schema immer mit Erwartungen ver-
unserer Erwartung eines typischen Märchens der knüpft ist. Nennt sich eine Geschichte Märchen, ent-
Gebrüder Grimm. Schemenhafte Gestalten aus dem spricht aber nicht dem Märchenschema, steht sie im
Totenreich bevölkern die Bühne, ihnen gegenüber Widerspruch zu den Erwartungen des Lesers.
steht ein Held, der scheinbar willkürlich zwischen Dies passiert beim Märchen „Von einem, der
brutaler Gewalt und naiver Mildtätigkeit wechselt. auszog, das Fürchten zu lernen“ in besonderem
Die Lösung der als unlösbar geltenden Aufgabe Maße. Obwohl die Rahmenhandlung – ein Held
und die Vermählung mit der Königstochter stellen meistert schwierige Herausforderungen und heiratet
nicht die finale glückliche Wendung dar, sondern am Ende die Königstochter – dem typischen Ablauf
nähren nur die Unzufriedenheit des Protagonisten. eines Märchens entspricht, stimmen viele Merkmale
Die Lösung bringt schließlich ein aggressiver Aus- nicht mit dem Märchenschema überein. So treten
bruch der Prinzessin, die in gekränktem Stolz ihren neben den stereotypen Märchencharakteren Scharen
Ehemann hinterrücks überlistet. an Toten auf, die eher einem Horrorfilm entwach-
Diese Verfremdungseffekte, die auf den arglosen sen zu sein scheinen. Der Held der Geschichte, der
Märchenleser verstörend wirken können, machen keine Furcht empfinden kann, ist weder ein klarer
das Märchen besonders interessant für eine psy- Antiheld, der dümmlich, hässlich oder schwäch-
chologische Erkundung. Das Märchen entbehrt der lich ist – wie in „Tischlein deck dich“, „Das hässliche
stereotypisierenden Schwarz-Weiß-Malerei und Entlein“ oder „Hans im Glück“ – noch ein tapferer
schildert lebensnahe Charaktere mit ihren Sorgen, Märchenheld, der in größter Not zu Hilfe eilt – wie
Sehnsüchten und Zielen, die sich nicht immer kon- die Prinzen in „Rapunzel“ und „Dornröschen“ oder
sistent und vorhersagbar verhalten. Damit gleichen der Jäger in „Rotkäppchen“. Die Gegner, gegen die
sie stärker den tatsächlichen Subjekten psychologi- er antritt, werden – anders als in „Rumpelstilzchen“
scher Forschung als die stereotypen Prinzessinnen, oder „Ali Baba und die 40 Räuber“ – kaum charakte-
Dümmlinge und Könige anderer Märchen. risiert und sind auch nicht in anderen Märchen auf-
Es liegt somit nahe, die Figuren des Märchens zufinden – wie böse Stiefmütter („Schneewittchen“,
sowie die Reaktion, die sie in uns als Lesern hervor- „Aschenputtel“, „Frau Holle“) oder Wölfe („Rotkäpp-
rufen, mithilfe psychologischer Theorien zu analy- chen“, „Die drei Schweinchen“, „Der Wolf und die
sieren und uns so den Fragen, die beim Lesen des sieben jungen Geißlein“). Und schließlich ist seine
Märchens aufkommen, anzunähern. Beziehung zur Prinzessin auch nicht das, was man
15 sich unter einer glücklichen Ehe vorstellt. Es treten
somit viele schemainkongruente Informationen auf,
15.3.1 Effekt der Erwartung die die Erwartung der Leser enttäuschen.
Sollte Ihnen der Märchenheld nicht sofort sym-
Warum verwirrt das Märchen seine Leser? Das pathisch sein oder das Märchen nicht zu Ihren abso-
Wort „Märchen“ löst bei den meisten Menschen luten Lieblingsmärchen gehören, lässt sich dies gut
sofort konkrete Assoziationen aus. Wir denken an durch den Widerspruch zwischen Ihrer Erwartung
bestimmte Figuren – die schöne Prinzessin, die und dem Märcheninhalt erklären. Nach Novaco
böse Stiefmutter, die gute Fee – und deren Interak- (1993) stellen enttäuschte Erwartungen eine wich-
tion. Auch Namen bekannter Märchen und typi- tige Determinante für die Entstehung von Ärger und
sche Inhaltselemente, z. B. die königliche Hochzeit Enttäuschung dar. Eine Erwartungsverletzung wird
oder das Happy End, kommen uns in den Sinn. In als Angriff auf bestehende Annahmen und Sche-
der Psychologie werden solche Wissensstrukturen mata, und damit als Provokation, aufgefasst. Je höher
über einen Gegenstandsbereich als sog. kognitive die Diskrepanz zwischen Tatsache und Erwartung
15.3 · Psychologische Phänomene
113 15
ist, desto stärker ist die damit einhergehende nega- von Emotionen beteiligt ist) zerstört hat, kann S. M.
tive Erregung. Negative Gefühle beim Lesen einer keine Furcht empfinden. Obwohl sie bereits mit
Geschichte, die behauptet, ein Märchen zu sein, aber Messern und Pistolen bedroht worden war, konnte
den Erwartungen an ein Märchen nicht gerecht wird, sie in einem Interview keine Situation benennen,
sind deshalb vorherzusehen. in der sie Furcht empfunden hatte. Ein Team von
Wissenschaftlern versuchte daraufhin sein Bestes,
die Patientin dazu zu bringen, sich zu fürchten. Sie
15.3.2 Keine Furcht – ist das zeigten ihr Ausschnitte aus den schlimmsten Hor-
normal? Das Dilemma des rorfilmen, die sie kannten. Sie führten sie in ein Zoo-
Märchenhelden geschäft, wo sie mit lebenden Spinnen und Schlan-
gen konfrontiert wurde. Sie brachten die Patientin in
Im Fokus des Großteils der psychologischen For- ein „Haunted House“, das aufwendig dekoriert und
schung zum Thema Furcht steht natürlicherweise mit „lebenden Geistern“ ausgestattet ist, die Besu-
das Vorhandensein von Furcht. Die Behandlung cher erschrecken sollen. Die Patientin fand all das
klinischer Störungen wie Phobien oder Panikatta- interessant, fürchtete sich aber nicht. Die Forscher
cken ist dabei wohl das bekannteste Forschungsfeld. publizierten daraufhin ihre gescheiterten Versuche
Der Held unseres Märchens hat aber genau das ent- in einem wissenschaftlichen Artikel und machten so
gegengesetzte Problem: Er empfindet keine Furcht. das moderne Märchen „Von einer, die auszog, das
Man könnte nun fragen, was so schlimm daran Fürchten zu lernen“ der Öffentlichkeit zugänglich
ist, keine Furcht zu empfinden. Schließlich ist Furcht (Feinstein et al. 2011).
eine negative Emotion, und wir alle streben danach, Der Fall der Patientin S. M. ist ein sehr extre-
möglichst wenig negative Emotionen zu empfinden. mes Beispiel für das Fehlen von Furcht. Wir können
Sollte also nicht das Fehlen von Furcht die Lebens- das Problem des Märchenhelden in weitaus geringe-
qualität verbessern? rer Intensität aber auch im Alltag beobachten. Wer
Ein Evolutionspsychologe könnte bei solchen kennt nicht jemanden, der vom Bungee-Jumping in
Überlegungen nur den Kopf schütteln. Furcht gilt Neuseeland schwärmt, während der Lawinenzeit auf
als adaptive Reaktion des Körpers. Sie hilft den Skitouren geht oder eine Vogelspinne im Terrarium
Menschen, angemessen auf Gefahrensituationen zu hält? Die Persönlichkeitspsychologie hat dafür einen
reagieren und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit Begriff etabliert, das Sensation Seeking. Personen
des Überlebens. Das Fehlen von Furcht führt dazu, mit einer hohen Ausprägung von Sensation Seeking
dass Hinweise auf Gefahren ignoriert werden und auf haben ein starkes Bedürfnis nach abwechslungsrei-
erkannte Gefahren nur konfrontativ reagiert wird, chen und neuen Erfahrungen und sind bereit, dafür
was insbesondere bei einem stärkeren Gegner unan- physische und soziale Risiken in Kauf zu nehmen
gemessen ist und im Extremfall zum Tod des Indivi- (Zuckerman 1979).
duums führen kann (Meyer et al. 2008). Der Wunsch Evolutionspsychologen würden vorhersagen,
des Helden ist somit durchaus nachvollziehbar, geht dass Menschen, die wenig Furcht empfinden, sich
es doch um sein eigenes Überleben. öfter in gefährliche Situationen begeben und deshalb
Betrachtet man die Situation unter diesem häufiger in lebensbedrohliche Situationen kommen.
Aspekt, drängt sich schnell die Frage auf, wie realis- Dasselbe lässt sich bei Personen beobachten, die eine
tisch das Problem ist. Gibt es tatsächlich Menschen, hohe Ausprägung von Sensation Seeking aufweisen.
die dasselbe Problem haben wie der Märchenheld? So sind diese z. B. häufiger in Autounfälle verwickelt,
Die Antwort ist ja, aber äußerst selten. da sie einen riskanten Fahrstil an den Tag legen, und
In der psychologischen Literatur wird ein ein- haben ein erhöhtes Risiko für sexuell übertragbare
ziger Fall diskutiert, die sog. Patientin S. M. Die Krankheiten, da sie wahrscheinlicher mit wechseln-
Geschichte dieser Frau weist erstaunliche Parallelen den Partnern ungeschützten Geschlechtsverkehr
zu der unseres Helden auf. Seit eine seltene Erkran- haben (Ulleberg 2001; Zuckerman 1994).
kung in ihrer Kindheit ihre Amygdala (Mandel- Das Problem des Märchenhelden ist also in abge-
kern; Gehirnregion, die zentral an der Entstehung schwächter Form ein durchaus weit verbreitetes
114 Kapitel 15 · Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen von den Gebrüdern Grimm (1818)

Problem. Menschen suchen Gefahren, um ihr Erre- hedonistischen Sichtweise. Da wir unser Wohlbefin-
gungslevel zu erhöhen und setzen sich so Risiken aus, den maximieren wollen, meiden wir Bestrafungen,
die sie nicht auf sich nehmen müssten. Das Ansinnen die mit negativen Emotionen verbunden sind, und
des Helden, zu lernen, sich zu fürchten, wird unter streben nach Belohnungen, die mit positiven Emo-
diesem Blickwinkel als Überlebensstrategie ver- tionen verbunden sind, wodurch unser Verhalten
ständlich. Ob seine Strategie, immer größere Gefah- beeinflusst wird.
ren zu suchen, zielführend ist, ist allerdings zweifel- Eudämonisten gehen davon aus, dass Wohlbefin-
haft. Die gescheiterten Versuche der Wissenschaftler den nicht allein durch die Kumulation kurzfristiger
im Fall der Patientin S. M. sprechen hier für sich. Glücksmomente entstehen kann. Auch diese Sicht-
weise entstammt der Antike. Aristoteles betrachtete
die Verfolgung hedonistischer Ziele als vulgär – die
15.3.3 Eudämonisches Glück und das Menschen würden dadurch zu Sklaven ihrer eigenen
Streben nach höheren Zielen Lust. Den Eudämonisten ist gemein, dass sie ein dem
bloßen Lustempfinden übergeordnetes Ziel als
Das Märchen „Von einem, der auszog, das Fürchten Grundlage für Wohlbefinden annehmen. Während
zu lernen“ ist nicht nur eine Geschichte über einen dies bei Aristoteles ein „tugendhaftes Leben“ ist,
Menschen, dem eine Emotion fehlt. Es ist auch eine gehen andere Autoren von einem Leben in Über-
Geschichte von einem Helden, der von dem Bedürf- einstimmung mit sich selbst (Waterman 1993) oder
nis getrieben ist, etwas zu lernen. Alle Aktivität in dem „Streben nach Perfektion, die die Realisation des
der Geschichte geht von diesem zentralen Bedürfnis wahren Selbst repräsentiert“ aus (Ryff 1995, S. 100).
aus. Es wird klar, dass er nicht glücklich sein kann, Das Streben nach Perfektion, nach dem idealen
ohne diese Fähigkeit erlangt zu haben. Damit ist er Selbst, ist auch ein wichtiger Motivator für den
der Prototyp des Menschen, der nach eudämoni- Märchenhelden. Er strebt nicht nur nach kurzfristi-
schem Glück strebt. gem Glück, sondern hat immer ein höheres Ziel vor
Was ist eudämonisches Glück? Gibt es über- Augen: Eine Fähigkeit zu erlangen, die seiner Ansicht
haupt mehrere Arten von Glück? Das sind Fragen, nach seine Persönlichkeit vervollständigen würde.
die die psychologische Glücksforschung zu beant- Obwohl er kurz vor Ende des Märchens aus hedo-
worten versucht. Glücksforscher sprechen dabei nistischer Sicht bereits allen Grund hätte, glücklich
selbst meist nicht von Glück, sondern von Wohlbe- zu sein – schließlich hat er Gefahren überstanden, ist
finden. Wohlbefinden wird als Zustand optimalen finanziell abgesichert und hat eine schöne Prinzessin
psychischen Funktionierens und Erlebens definiert geheiratet – ist er nicht zufrieden, da ihm zu seinem
(Diener 1984). In der Frage, was Wohlbefinden genau eudämonischen Glück ein wichtiger Baustein fehlt:
beinhaltet, haben sich zwei Sichtweisen herauskris- die Erreichung seines Ziels, sich fürchten zu lernen.
tallisiert (Ryan u. Deci 2001). Eine wichtige psychologische Theorie, die vom
15 Hedonisten behaupten, dass Wohlbefinden eudämonischen Ansatz beeinflusst wurde, ist die
durch häufige positive Emotionalität zustande Self-Determination-Theorie (Ryan u. Deci 2000).
kommt: Je häufiger wir positive und je seltener wir Der Grundgedanke dieser Theorie ist, dass Men-
negative Emotionen empfinden, desto glücklicher schen nach der Erfüllung von drei zentralen Bedürf-
sind wir. Unser Ziel sollte deshalb sein, positive Emo- nissen streben: Autonomie, Kompetenz und Verbun-
tionen wie Freude oder Stolz zu suchen und nega- denheit. Verbundenheit meint dabei, in sozialen
tive Emotionen wie Ärger oder Neid zu meiden. Die Gruppen eingebunden und anerkannt zu sein. Wohl-
hedonistische Sichtweise hat eine lange Tradition. befinden kann nur entstehen, wenn die drei Bedürf-
Beginnend in der griechischen Antike hat sie viele nisse erfüllt sind.
philosophische Schulen, allen voran den Utilitaris- Im Fall des Märchenhelden können wir davon
mus, maßgeblich beeinflusst und ist auch aus der ausgehen, dass sein Autonomie- und Verbunden-
Psychologie nicht wegzudenken. So haben beispiels- heitsbedürfnis erfüllt sind. Er kann als Mitglied des
weise behavioristische Erkenntnisse zur Wirkung Königshauses unabhängig agieren und hat großen
von Belohnung und Bestrafung ihre Wurzeln in der Einfluss. Verbundenheit erhält er durch die Heirat
Literaturverzeichnis
115 15
mit der Prinzessin und damit die Zugehörigkeit zu Vielleicht haben Sie sich beim Lesen über Sensa-
einer Familie. Sein Problem ist die Kompetenz. Zwar tion Seeking selbst wiedererkannt – vielleicht waren
bewältigt er Aufgaben, die vor ihm niemand lösen Sie schon selbst beim Bungee-Springen oder auf ris-
konnte, dabei fehlt ihm aber eine elementare Kom- kanten Skitouren. Vielleicht würden Sie aber auch nie
petenz, die alle anderen Menschen besitzen: Furcht. auf die Idee kommen, so etwas Gefährliches zu unter-
Bis zum Ende des Märchens, als die Prinzessin es nehmen. Sollten Sie sich noch gar nicht einschätzen
schafft, ihn zu erschrecken, kann es deshalb für ihn können, hilft Ihnen möglicherweise die Sensation-
kein Happy End geben. Seeking-Skala weiter, die im Internet frei zugänglich
ist (http://wsm.wsu.edu/s/we.php?id=%20200).
Schlussendlich haben wir analysiert, warum der
15.4 Implikationen für das eigene Märchenheld so lange unglücklich ist. Jeder von uns
Leben befindet sich irgendwann in seinem Leben einmal
in seiner Situation: Von außen betrachtet stimmt
Es mag Ihnen bereits aufgefallen sein, dass das eigentlich alles, aber irgendetwas fehlt. Die Self-De-
Märchen „Von einem, der auszog, das Fürchten zu termination-Theorie kann uns Ansatzpunkte liefern,
lernen“ Bedeutung hat und uns darüber hinaus auch um diese Unzufriedenheit zu erklären. Liegt es an
etwas über uns selbst erzählt. einem Mangel an Autonomie, Kompetenz oder Ver-
Zu Beginn stand die Frage im Raum, warum es bundenheit? Oder liegt Ihr persönliches eudämoni-
zunächst verwirrt oder einen sogar ein wenig ver- sches Ziel, mit dem Sie zu langfristigem Wohlbefin-
ärgert. Die Antwort, dass dem Ärger enttäuschte den finden, doch in einem ganz anderen Bereich?
Erwartungen zugrunde liegen, gilt nicht nur hierfür.
Auch in anderen Situationen, in denen wir merken,
dass wir negative Emotionen gegenüber einer Person 15.5 Fazit
oder Situation empfinden, kann es sein, dass Erwar-
tungen verletzt wurden. Denken Sie an das letzte Mal Die Überlegungen zum Märchen „Von einem, der
zurück, als Sie sich geärgert haben: Kam der Zug, auf auszog, das Fürchten zu lernen“ zeigen auf, dass es
den Sie gewartet hatten, zu spät? Hat Sie jemand bei auch aus heutiger Sicht interessante psychologi-
einem vereinbarten Termin versetzt? Hat Ihr Mitbe- sche Phänomene bietet wie den Effekt der Erwar-
wohner, Ehepartner, Kind mal wieder nicht geputzt? tung, das Furchtempfinden sowie das Streben nach
In all diesen Fällen hatten Sie eine feste Erwartung höheren Zielen, die einer eingehenden Betrach-
davon, was passieren sollte (der Zug oder die Person tung wert sind. Vielleicht ist Ihre anfängliche Ver-
sollte pünktlich sein, Haushaltsaufgaben sollten wirrung einem Gefühl von tieferem Verständnis
gleichmäßig verteilt sein). Diese Erwartung wurde gewichen. Vielleicht sagt Ihnen das Märchen aber
enttäuscht, und Sie haben Ärger empfunden. auch nach eingehender Beschäftigung nicht zu und
Vielleicht fragen Sie sich jetzt: Was habe ich Sie fühlen immer noch ein Gefühl von Unbehagen,
davon, diesen Mechanismus zu kennen? Das wenn Sie sich ihm widmen. In letzterem Fall können
Bewusstsein über den Effekt führt nicht zwangs- Sie zumindest von sich behaupten: „Nun weiß ich,
läufig dazu, dass Sie sich weniger ärgern. Es schafft was Gruseln ist!“
aber Ansatzpunkte für eine Lösung von Konflik-
ten. Haben Sie und Ihr Gegenüber dasselbe kog-
nitive Schema von Pünktlichkeit? Haben Sie die- Literaturverzeichnis
selben Vorstellungen einer sauberen Wohnung wie
Betsch, T., Funke, J., & Plessner, H. (2011). Denken – Urteilen,
Ihre Mitbewohner oder Familienmitglieder? Wenn Entscheiden, Problemlösen. Berlin, Heidelberg: Springer.
nein, könnte dies die Schraube sein, an der Sie drehen Diener, E. (1984). Subjective well-being. Psychological Bulletin
können, um in Zukunft weiteren Ärger zu vermei- 95, 542–575.
den. Erklären Sie Ihrem Gegenüber Ihr kognitives Feinstein, J. S., Adolphs, R., Damasio, A., & Tranel, D. (2011). The
Schema! So ergeben sich ungeahnte Möglichkeiten human amygdala and the induction and experience of
fear. Current Biology 21, 34–38.
für Kompromisse.
116 Kapitel 15 · Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen von den Gebrüdern Grimm (1818)

Grimm, J., & Grimm, W. (1819). Kinder- und Haus-Märchen,


gesammelt durch die Brüder Grimm: Große Ausgabe
(Bd. 1, 2. Aufl.). Berlin: G. Reimer.
Meyer, W.-U., Schützwahl, A., & Reisenzein, R. (2008). Einfüh-
rung in die Emotionspsychologie. Band 2: Evolutionspsycho-
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Zuckerman, M. (1994). Behavioral expressions and biosocial
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versity Press.

15
117 16

Der Hase und der Igel von den


Gebrüdern Grimm (1815)
Marie Raith

16.1 Inhalt des Märchens – 118

16.2 Die Charaktere – 118

16.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 119


16.3.1 Streben nach Leistungsvergleichen – 119
16.3.2 Minderwertigkeit und Selbstwertbedrohung – 120
16.3.3 Frustration, Aggression und Rache – 121
16.3.4 Die Gruppe als soziales Barometer – 121
16.3.5 Respekt und Selbstrespekt im sozialen Miteinander – 121
16.3.6 Narzissmus – 122

16.4 Bedeutung für die heutige Zeit – 122

16.5 Fazit – 123

Literaturverzeichnis – 123

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_16
118 Kapitel 16 · Der Hase und der Igel von den Gebrüdern Grimm (1815)

16.1 Inhalt des Märchens in seiner Furche daherkommt, so rufst du ihm ent-
gegen: „Ich bin schon da!“
Es war einmal ein Sonntagmorgen im Herbst, alle Am Acker angekommen, nahmen Hase und
Geschöpfe waren vergnügt, die Sonne schien und Igel ihre Startposition ein und im Nu ging das
die Vögel sangen. Da trat der Igel fidel aus seinem Rennen los. Der Hase rannte wie ein Sturmwind
Haus und entschloss sich an diesem schönen Morgen den Acker hinunter, der Igel aber lief nur ein paar
einen kleinen Spaziergang zum Feld zu machen, um Schritte und duckte sich dann flink in die Furche.
zu sehen, wie die Steckrüben standen. Am Feld traf Als der Hase blitzschnell am anderen Ende des
der Igel den Hasen, der aus ähnlicher Intention einen Ackers ankam, rief ihm die Frau des Igels entgegen:
Spaziergang unternahm. Als der Igel den Hasen sah, „Ich bin schon da!“
wünschte er ihm freundlich einen guten Morgen. Der Dem Hasen stand das Erstaunen ins Gesicht
Hase jedoch, der ein sehr vornehmer und schreck- geschrieben, glaubte er doch den Igel vor sich zu
lich arroganter Herr war, fragte nur spöttisch: „Wie sehen. So forderte er ein neues Rennen, den Acker
kommt es, dass du hier schon so am frühen Morgen wieder hinauf. Wieder flitzte er los, so schnell, dass
im Feld herumläufst?“ „Ich gehe spazieren!“, antwor- ihm die Ohren am Kopf flogen. Und dieses Mal
tete der Igel. Der Hase lachte über den Igel und sagte: sprang der Igel aus seiner Furche und machte den
„Du könntest deine Beine schon zu besseren Dingen Hasen erneut glauben, er habe verloren. Der Hase
gebrauchen.“ war außer sich vor Ärger. „Nochmal!“, forderte er. So
Dass der Hase sich ausgerechnet über seine lief der Hase 73 Mal, und jedes Mal war der Igel vor
krummen Beinchen lustig machte, verdross den Igel ihm am Ziel. Beim 74. Lauf fiel der Hase vor Erschöp-
sehr. Daraufhin fragte er den Hasen, ob er denke fung tot zu Boden. Vergnügt ging das Ehepaar Igel
mit seinen Beinen „mehr ausrichten“ zu können. mit dem Gewinn nach Hause.
Der Hase, der sich seiner Talente sehr sicher war, (Grimm u. Grimm 2011; . Abb. 16.1)
bejahte dies. Daraufhin schlug der Igel eine Wette
vor: „Ich wette, wenn wir um die Wette laufen, ich
lauf schneller als du.“ „Das ist ja zum Lachen!“, ent- 16.2 Die Charaktere
gegnete der Hase, schlug aber ein. Man einigte sich
auf einen Golddukaten und eine Flasche Branntwein Bevor wir uns näher dem Erleben und Verhalten der
für den Sieger und in einer Stunde sollte das Rennen Hauptakteure aus dem Märchen widmen, sollen alle
beginnen. drei kurz charakterisiert werden.
Auf seinem Weg nach Hause sprach der Igel zu Der Hase wird als vornehmer und arroganter
sich selbst: „Der Hase verlässt sich auf seine langen Zeitgenosse beschrieben. Er sieht sich in einer über-
Beine, aber ich will ihn schon kriegen. Er ist zwar ein geordneten Stellung und belächelt den Igel.
vornehmer Herr, aber doch ein dummer Kerl und das Der Igel jedoch, aus dessen Perspektive wir
soll er bezahlen.“ das Märchen erzählt bekommen, ist ein genügsa-
Als er nun zu Hause ankam, erzählte er seiner mer Waldbewohner. Er freut sich über den schönen
16 Frau rasch von der Wette und bedeutete ihr, mit ihm Herbstmorgen, begegnet dem Hasen höflich und
ins Feld zu kommen. Die Igelfrau war außer sich. mit Respekt. An der List, die er in der Kürze aus-
„Hast du denn ganz den Verstand verloren, Mann? heckt, zeigt sich auch, dass er Köpfchen hat. Später
Wie willst du mit dem Hasen um die Wette laufen?“ jedoch lernen wir den Igel noch von einer anderen
Der Igel befahl ihr, sich nicht einzumischen und mit Seite kennen. Er behandelt seine Frau respektlos
ihm zu kommen, also hatte die Frau des Igels keine und handelt ohne Erbarmen oder Einsicht, als er
andere Wahl. Auf dem Weg zum Feld sprach der Igel den Hasen bis zur tödlichen Erschöpfung rennen
zu seiner Frau und erklärte ihr: „Dort auf dem Acker lässt.
läuft der Hase in einer Furche und ich in der anderen. Als dritter Akteur ist nun noch die Igelfrau
Du hast nun weiter nichts zu tun, als dass du dich zu nennen. Sie hat in dem Märchen um Hase und
hier unten in die Furche stellst, und wenn der Hase Igel einen durchaus zentralen Part, denn ohne ihre
16.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
119 16

. Abb. 16.1  (Zeichnung: Claudia Styrsky)

Mithilfe hätte der Igel den Hasen niemals über- Minderwertigkeitstheorien begegnet. Des Weite-
listen können. Diese Schlüsselrolle, so scheint es, ren spielen Aggression und Rache, Demütigung,
übernimmt sie aber nicht freiwillig. Sie ist entsetzt Respekt und Selbstwertbedrohung eine wichtige
vom Handeln ihres Mannes, der sich auf eine Wette Rolle – im Wald bei Hase und Igel ebenso wie in
mit einem offensichtlich überlegenen Gegner ein- unserer Welt.
lässt. Einwände aber beachtet der Igel nicht und er Im Rahmen dieser Erläuterungen wird folgende
hört seiner Frau auch nicht zu. Die Rollen sind bei zentrale Frage immer wieder aufgegriffen: Wer ist
Ehepaar Igel klar verteilt: Frau Igel ordnet sich ihrem gut und wer ist böse? Und Sie als Leser werden sich
Mann bedingungslos unter, nachdem dieser ihr den in der Reflexion des Gelesenen auch mit der Frage
Mund verboten hat. Somit ist sie neben dem Sieg konfrontiert sehen, ob Ihr Verhalten eher dem des
ihres Mannes im Duell auch für den Tod des Hasen Hasen oder des Igels gleicht.
mit verantwortlich.

16.3.1 Streben nach


16.3 Psychologische Phänomene und Leistungsvergleichen
Implikationen
Lassen Sie uns gleich zu Anfang auf den Vergleich
Viele der psychologischen Mechanismen und der fokussieren, der zwischen Hase und Igel stattfindet
dazugehörigen Phänomene im Märchen von Hase und dessen Ergebnis letztendlich ausschlaggebend
und Igel haben auch in unserem Alltag einen maß- für das nachfolgende Kräftemessen ist.
geblichen Einfluss. Ein zentrales Thema ist dabei Anhand der Tendenz zum sozialen Vergleich
das Streben nach Leistungsvergleichen, welches („social comparison bias“; Garcia et al. 2010) lässt
uns in Theorien sozialer Vergleichsprozesse und sich das Verhalten des Igels erklären. Es handelt sich
120 Kapitel 16 · Der Hase und der Igel von den Gebrüdern Grimm (1815)

dabei um eine Benachteiligung aufgrund einer emp- 16.3.2 Minderwertigkeit und


fundenen Bedrohung im sozialen Vergleich. Diese Selbstwertbedrohung
Tendenz tritt dann auf, wenn Personen – oder Hase
und Igel – sich nach oben vergleichen. Das heißt, Auch die Minderwertigkeitstheorie nach Adler spie-
wenn der Vergleich der eigenen Person mit einem gelt diese Diskrepanz wider. Adler spricht dabei von
Individuum oder einer Gruppe stattfindet, die im Menschen, die sich körperlich minderwertig fühlen
subjektiven Empfinden erfolgreicher ist. Diese Ver- und dann versuchen, dieses Gefühl durch Höchst-
zerrung zeigt sich aber nur auf Ebenen, die für die leistungen zu kompensieren. Können sie die Höchst-
Person selbstwertrelevant sind (Garcia et al. 2010). leistung jedoch nicht erbringen, so versuchen sie
Daraus resultiert eine Bedrohung des Selbstwer- zumindest dies zu suggerieren (Adler 1912).
tes, die Menschen grundsätzlich zu entschärfen Der Igel stellt ein Paradebeispiel für die Min-
suchen. Für den Igel sind seine krummen Beine derwertigkeitstheorie nach Adler dar. Seine
ein Schwachpunkt und so sieht er sich im Vergleich krummen Beinchen geben ihm das Gefühl körper-
mit den Beinen des Hasen als Verlierer. Statt sich lich minderwertig zu sein. Sie sind seine Schwach-
von der Bedrohung, also dem Hasen, fernzuhalten, stelle, und deswegen macht der Igel dem Hasen
geht er in die direkte Konfrontation und fordert ihn vor, trotz seiner Beinchen sportliche Glanzleis-
heraus. tungen erbringen zu können. Natürlich kann man
Unsere Gesellschaft ist von Leistung geprägt sagen, dass der Igel auf gewisse Weise trotzdem eine
und zwangsläufig existieren darin auch Leistungs- Leistung erbringt – eben nicht physisch, sondern
vergleiche. Der Druck, Leistung zu erbringen, führt psychisch.
zu Konkurrenz und Wettbewerb. In solchen Wett- Ebendiese Kompensation empfundener Min-
bewerbssituationen ist es vollkommen natürlich, derwertigkeit finden wir in etlichen Theorien
Vergleiche anzustellen und nicht grundsätzlich wieder, so auch in der Theorie der sozialen Depri-
Gift für unser soziales Miteinander. Die Theorie vation. Im Vergleich mit anderen schneidet man
der sozialen Vergleichsprozesse (Festinger 1954) schlechter ab und versucht daraufhin diese Diskre-
beschreibt ebendies. Es geht um das Streben des panz wettzumachen. Somit geht es uns im Alltag
Menschen, eigene Meinungen und Fähigkei- allzu oft wie dem Igel, der sich minderwertig fühlt,
ten zu bewerten. Um dies zu erreichen, verglei- aber gleichzeitig danach strebt, seinen Selbstwert
chen sich Menschen mit anderen. Ein Vergleich zu steigern und kurzerhand die soziale Bedrohung
dient also zuallererst der Kategorisierung. In einer ausschaltet.
Leistungssituation kommt der Aspekt des Wett- Doch auch wenn das Verhalten des Igels im
bewerbs hinzu. Dieser Wettbewerb herrscht in Rahmen dieser Theorien nachvollziehbar ist, so
unserer Gesellschaft nicht nur im Arbeitsumfeld. ist doch strittig, ob der Igel richtig handelt. Will er
Ein jeder sägt am Stuhl des anderen und kämpft den Hasen lediglich eines Besseren belehren? Oder
bis zum Umfallen. Arbeitskräfte sind austausch- überschreitet der Igel klar und deutlich die Grenzen,
barer geworden, Grenzen lösen sich auf. Hunderte als er den Hasen bis in die tödliche Erschöpfung
16 stehen bereit, um den Platz einzunehmen, den ein treibt? Und wie gehen wir im Alltag damit um, im
anderer frei macht. Und nicht nur im Job besteht sozialen Vergleich schlechter abzuschneiden, zu
Konkurrenz und Wettbewerb. Wer trägt die tollste „verlieren“?
Kleidung, wer hat das schönste Strandhaus? Vergleichssituationen sind allgegenwärtig, oft
Zufriedensein ist schwierig geworden. Gerade fühlt man sich nach so einem Vergleich gedemütigt,
die Generation Y ist geprägt von der Suche nach dem vielleicht wird dann noch zusätzlich ein unglückli-
Optimum. Und so sehr diese Suche auf der einen cher Kommentar fallengelassen, und schon hat der
Seite anspornt, besser zu werden, mehr zu erreichen, Selbstwert einen Knick. Um dieses negative Gefühl
höher zu streben, so ist sie doch ein Hindernis für zu reduzieren, reagiert man oft sehr emotional – so
unser soziales Zusammenleben. Sozialer Vergleich wie der Igel: Er lässt sich unnötig anstacheln. Er ist
und Ungleichheit wird immer bestehen – die Frage frustriert und trifft eine emotionsgeladene, impul-
ist, was man daraus macht. sive Entscheidung.
16.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
121 16
16.3.3 Frustration, Aggression und besagt, dass der Selbstwert als Soziometer dient, das
Rache einem anzeigt, inwiefern man Zugang zu sozialen
Beziehungen hat (Leary u. Baumeister 2000). Dazu
Auch wenn wir nicht wissen, aus welchem Impuls werden die Reaktionen anderer beobachtet und
heraus der Igel entscheidet, so gibt es doch Anhalts- vor allem Signale sozialer Inklusion und Exklusion
punkte dafür, dass er es aus Frustration tut. Diese bewertet.
kann nämlich dazu führen, dass Menschen emo- Durch den abfälligen Kommentar des Hasen
tionsgeladen und aggressiv handeln. In Anlehnung zeigt dieser dem Igel deutlich, dass er ihn ausschließt.
an Freud haben Forscher (Dollard et al. 1939) schon Zwar könnte man sagen, dass sich das Duell hier
in den 1930er-Jahren eine Theorie entwickelt, die lediglich auf individueller Ebene abspielt. Jedoch
einen positiven Zusammenhang zwischen Frustra- weiß der Igel um seine krummen Beine und dass
tion und Aggression vorhersagt (Dollard et al. 1939). viele Tiere ihn deswegen belächeln, fühlt sich also
Wir können nur erahnen, was der Igel wirklich aus der Gruppe der erhabenen und starken Tiere
dachte, als ihn der Hase wegen seiner Beine beleidigte, ausgeschlossen.
es liegt aber nahe, dass dieser verletzende Kommentar Eine mögliche Folge des unerfüllten Bedürf-
den Igel frustriert hat. Und so beschließt er dem Hasen nisses nach Zugehörigkeit ist die Beeinträchti-
sein Verhalten mit einer List heimzuzahlen. Die Frus- gung des logischen Denkens und der Selbstregula-
tration und Aggression des Igels wird deutlich, wenn tion (Twenge et al. 2003). Auch dieser Aspekt passt
wir uns den Ablauf des Rennens noch einmal genauer wunderbar auf den Igel. Der Vorschlag des Igels, sich
ansehen: Mit Sicherheit sah man dem Hasen schon mit dem deutlich athletischeren Hasen zu messen,
beim 30. oder 40. Rennen seine Erschöpfung deutlich kann als Ergebnis eines impulsiven, nicht regulati-
an. Und selbst wenn er erst beim 68. Rennen gefähr- ven und nicht logischen Denkens gesehen werden.
lich keuchte, hätte der Igel das Rennen abbrechen Denn, auch wenn der Igel clever ist und den Hasen
und als Gewinner nach Hause gehen können. Aber dadurch übertrumpfen will, ist nicht gesichert, dass
er spielt das falsche Spiel unerbittlich weiter, so lange er es schaffen wird.
bis der Hase zu Tode kommt. Auch in der Arbeitswelt treten vergleichbare
Leider ist Frustration oft die Quelle von Aggres- Gruppenphänomene auf. Das Gefühl, nicht zugehö-
sion, welche teilweise in schlimmen Gewalttaten rig zu sein, kann auf verschiedene Arten ausgelöst
gipfelt. werden. Dabei wird deutlich, wie entscheidend es ist,
Außerdem fließt hier das Motiv nach Rache mit dass eine Gruppe als solche funktioniert. Tut sie dies
ein. Der Igel ist nicht nur frustriert. Er sinnt danach, nicht, geht viel Energie und Zeit durch Unstimmig-
dem Hasen die Beleidigung heimzuzahlen. Vielleicht keiten verloren. Gehen wir nun noch einen Schritt
erklärt dies auch, warum der Igel dem fatalen Rennen weiter, so sehen wir, wie wichtig es ist, dass eine
kein Ende bereitet. Bereits nach zehn Runden hat Führungskraft in die Bildung und Weiterentwick-
der Igel die Genugtuung, den Hasen überlistet zu lung ihres Teams investiert. Dies ist eine entschei-
haben. Warum führt er den Hasen weiter vor und dende Komponente, um professionelle Ziele effek-
gibt sich nicht zufrieden? Er handelt sehr überlegt tiv zu erreichen.
und berechnend und ist doch blind vor Wut. Denn
er reflektiert das eigentliche Geschehen nicht und hat
nur die Demütigung des Hasen als Ziel vor Augen. 16.3.5 Respekt und Selbstrespekt im
sozialen Miteinander

16.3.4 Die Gruppe als soziales Ebenso essenziell wie das Funktionieren der Gruppe,
Barometer vielleicht noch grundlegender, sind die Aspekte
Respekt und Selbstrespekt. Im Sinne von Kant soll
Impulsiv und aggressionsgeladen reagieren Men- man andere wie sich selbst respektvoll behandeln.
schen z. B. dann, wenn sie sich aus einer Gruppe Das heißt also auch, dass man Selbstrespekt einfor-
ausgeschlossen fühlen. Die Soziometertheorie dern soll (Kant 1785/1997).
122 Kapitel 16 · Der Hase und der Igel von den Gebrüdern Grimm (1815)

Genau das ist es, was der Igel gegenüber dem Hierbei handelt es sich um Maximen wie „Gewinne
Hasen praktiziert und was die Igelfrau ihrem Mann immer!“, „Sei der Beste!“ und „Nimm jede Heraus-
gegenüber nicht zeigt. Der Igel lässt sich nicht klein- forderung an!“ (Sachse 2013).
machen, möchte respektvoll behandelt werden. Die Das Verhalten des Hasen kann also durchaus auf
Igelfrau hingegen sträubt sich gegen den Plan ihres narzisstische Persönlichkeitseigenschaften schließen
Mannes, begehrt aber nicht auf. lassen. Besonders der unermüdliche Versuch des
Jeder hat also das Recht, sowohl respektvoll Hasen, das Rennen doch für sich zu entscheiden,
behandelt zu werden als auch diese Behandlung ein- zeichnet ihn als Narzissten aus. Er kann von diesen
zufordern. Wird dies nicht in dem Maße praktiziert, normativen Regeln nicht abweichen, weil Resigna-
wie man es verdient, gilt es, sich eine Strategie zur tion eine Bestätigung des negativen Selbstkonzepts
Wiederherstellung des Selbstrespekts zu suchen. Das wäre.
geht dann vielleicht auch so weit, andere gegen die Häufig trifft man, vor allem in anspruchsvol-
Wand laufen zu lassen. len Branchen, auf Narzissten. Durch ihre besondere
Ist der Igel also doch der Gute und Gerechte? Zielorientiertheit und ihre Anstrengungsbereitschaft
Eine schwierige Frage, die keine einfache Antwort schaffen sie es oft in Führungspositionen. Mögli-
kennt. Denn umgekehrt betrachtet, behandelt auch cherweise sind narzisstische Züge essenziell, um
der Igel den Hasen alles andere als respektvoll. eine solche Position überhaupt erreichen zu können
Was dabei Ursache und was Wirkung ist, lässt sich (Sachse 2013). Vielfach wird darüber diskutiert, ob
schwer herausfiltern. Eine Maxime im sozialen Mit- unsere Leistungsgesellschaft ein solches Verhalten
einander sollte deswegen sein, anderen immer res- provoziert und sogar unabdingbar macht. Arbeits-
pektvoll zu begegnen. Im Miteinander gilt es, nicht tage von über zwölf Stunden, Konkurrenzkampf am
immer nur das Verhalten des Gegenübers abzuwar- Arbeitsmarkt, das Ringen um einen unbefristeten
ten und entsprechend zu reagieren. Das Verhalten Vertrag – müssen wir narzisstische Züge haben, um
des anderen können wir nur durch unser eigenes uns in dieser Welt an die Spitze zu arbeiten?
beeinflussen. Veränderung liegt zum größten Teil Narzissten laufen jedoch aufgrund dieser leis-
in uns selbst. tungsorientierten Lebensweise Gefahr, sich völlig zu
verausgaben. Dies kann u. a. zu koronaren Herzer-
krankungen und Depressionen führen (Sachse 2013).
16.3.6 Narzissmus So erging es auch dem Hasen, der bei dem verzweifel-
ten Versuch, seine Laufkunst unter Beweis zu stellen,
Die narzisstische Persönlichkeitsstörung zeichnet tot umfällt.
sich besonders durch eine hohe Selbstbezogenheit
und einen Mangel an Empathie aus (Fiedler 2007).
Zentrale Motive des Narzissmus sind Anerkennung, 16.4 Bedeutung für die heutige Zeit
Wichtigkeit, Solidarität und Autonomie (Sachse
2013). Zu den Kriterien, die erfüllt sein müssen, um Welche Schlüsse können wir aus der Analyse für
16 eine narzisstische Persönlichkeitsstörung zu diag- unseren Alltag ziehen? Denn auch wir interagieren
nostizieren, gehören ein übertriebenes Selbstwert- im Alltag ständig mit anderen, sind aktiv in verschie-
gefühl, das Gefühl der Einzigartigkeit und ein starkes denen Rollen, sind Teil einer Gruppe oder handeln
Anspruchsdenken (APA 2012). als Individuum.
Allen Menschen mit narzisstischer Persön- Im sozialen Vergleich werden wir im Laufe des
lichkeitsstörung liegt ein negatives Selbstschema Lebens immer wieder selbstwertbedrohende Kon-
zugrunde, das abwertende Annahmen wie „Ich bin frontationen erleben. Manchmal ist es aber eben
nicht ok!“ enthält (Sachse 2013). Zur Kompensation nicht möglich, dieser Bedrohung auszuweichen,
dieses negativen Schemas entwickeln Narzissten beispielsweise wenn der eigene Vorgesetzte oder
jedoch normative Schemata, die eigene Ziele und ein Mitarbeiter im eigenen Team diese Bedrohung
Verhaltensregeln enthalten. Durch Einhaltung dieser darstellt. Dann gilt es, sich mit dem Unterschied
sollen negative Konsequenzen vermieden werden. zwischen der anderen und der eigenen Person zu
Literaturverzeichnis
123 16
arrangieren und Bewältigungsstrategien einzu- 16.5 Fazit
setzen. Dabei ist vor allem entscheidend, sich die
eigenen Talente und Fähigkeiten bewusst zu machen. Folgt man der Intention der Gebrüder Grimm, findet
Stärken und Schwächen sind nicht bei jedem Men- sich der Hase in der Rolle des Bösewichts wieder. Er
schen gleich und das ist gut so. Nur durch die Kom- wird als „arrogant“ beschrieben, was ihn nicht gerade
bination von Stärken und den Ausgleich von Schwä- als tugendhafte Person darstellt. Außerdem wird am
chen funktioniert Zusammenleben, Gruppenarbeit Ende des Märchens die Botschaft der Autoren expli-
und letztlich die Gesellschaft. Eine Schwäche oder zit formuliert. So heißt es in der Originalfassung
Stärke wird auch erst dann zum Konflikt führen, (Grimm u. Grimm 2011, S. 1):
wenn sie überstrapaziert wird. Dies sehen wir auch
bei Hase und Igel. Eigentlich ist die Stärke des Igels » Die Lehre aus dieser Geschichte aber ist
seine Klugheit, aber das Gefühl von Übermacht lässt erstens, dass sich keiner, und wenn er sich
ihn die Grenze überschreiten. Ebendies erleben wir auch noch so vornehm dünkt, einfallen lassen
auch im Alltag. Ehrgeiz ist mitnichten eine schlechte soll, sich über einen kleinen Mann lustig zu
Eigenschaft. Er lässt uns über uns selbst hinauswach- machen, und wäre es auch nur ein Igel. Und
sen. Aber im Übermaß macht er uns zum verbisse- zweitens, dass es gut ist, wenn einer heiratet,
nen Kämpfer. dass er sich eine Frau von seinem Stand nimmt,
Immer wird es jemanden geben, der besser, ange- die geradeso aussieht wie er. Wer also ein Igel
passter, engagierter und intelligenter ist. Dies kann ist, der muss darauf sehen, dass auch seine
aber auch als Ansporn dienen, sich auf eine gesunde Frau ein Igel ist.
Art selbst zu steigern und an sich zu arbeiten. Liegt
der Fokus jedoch zu stark auf der einen Fähigkeit, Die Autoren formulieren hier klar, dass der Hase
die der andere zeigt und die man selbst gern hätte, seinen Tod selbst verschuldet hat und dass der Igel
so wird dieser Vergleich nicht nur zur Bedrohung der bescheidene kleine Mann ist, der sich seiner
des Selbstwertes, sondern tatsächlich zu dessen Ver- nicht schämen muss, jedoch auch nicht nach etwas
minderung führen. Höherem streben sollte.
Am Ende bleibt wichtig zu erwähnen, dass sich Schlussendlich steht es dem Leser frei, ob er
der Hase sowie der Igel in vielerlei Hinsicht unethisch eher das Handeln des Hasen oder des Igels nach-
verhalten. Der Hase beleidigt den Igel und bringt ihm vollziehen kann und/oder (in Teilen) für sich wählt.
keine Wertschätzung entgegen. Der Igel ist letztend- Durch die Analyse der vorherrschenden psycho-
lich ein Trickser, der sein Nichtstun geschickt zu logischen Phänomene kennen Sie beide Positio-
seinem Kapital macht. Diese Rollenverteilung von nen. Und anders als das Gut und Böse in Grimms
Hase und Igel begegnet uns in Partnerschaften, in Märchen zeigt sich das Leben nicht nur in schwarz-
Familien und in Firmen, in denen sich einer ein Bein weiß, sondern beinhaltet viele Grautöne und
ausreißt, während der andere eine freizeitorientierte -schattierungen.
Schonhaltung als gut und erstrebenswert anpreist.
Da bemerkt man erst, wie oft man – im übertragenen
Sinne – Igeln und auch Hasen begegnet. Dies mag zur Literaturverzeichnis
Reflexion folgender Fragen anregen:
Adler, A. (1912). Über den nervösen Charakter. Wiesbaden: J. F.
44Wann verhalten wir uns eher wie der Hase oder Bergmann.
Igel oder vielleicht dessen Frau? Wer möchten American Psychiatric Association (APA). (2012). Diagnostic and
wir gerne sein? Statistical Manual of Mental Disorders. Arlington, VA:. Ame-
44Was können wir von den Figuren des Märchens rican Psychiatric Association Publishing.
lernen? Dollard, J., Doob, L. W., Miller, N., Mowrer, O. H., & Sears, R. R.
(1939). Frustration and aggression. New Haven: Yale Uni-
versity Press.
So können wir vielleicht in dem einen oder anderen Festinger, L. (1954). A theory of social comparison processes.
Moment an den Hasen und den Igel zurückdenken, Human Relations 7, 117–140.
kurz innehalten, und uns eines Besseren besinnen. Fiedler, P. (2007). Persönlichkeitsstörungen. Basel: Beltz.
124 Kapitel 16 · Der Hase und der Igel von den Gebrüdern Grimm (1815)

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Twenge, J. M., Catanese, K. R., & Baumeister, R. F. (2003). Social
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awareness. Journal of Personality and Social Psychology
85, 409–423.

16
125 17

Tischlein deck dich, Esel streck


dich, Knüppel aus dem Sack
von Ludwig Bechstein (1847)
Katharina Pfaffinger

17.1 Inhalt des Märchens – 126

17.2 Die Charaktere – 127

17.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 127


17.3.1 Implikationen für die Erziehung – 127
17.3.2 Implikationen für die Lebensgestaltung – 128
17.3.3 Implikationen für das Zusammenleben – 130

17.4 Vergleich mit der Märchenversion von den Gebrüdern


Grimm – 130
17.4.1 Originalfassung – 130
17.4.2 Bechsteins Veränderungen – 131

17.5 Bedeutung für die heutige Zeit – 132

17.6 Fazit – 132

Literaturverzeichnis – 132

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_17
126 Kapitel 17 · Tischlein deck dich, Esel streck dich, Knüppel aus dem Sack von Ludwig Bechstein (1847)

17.1 Inhalt des Märchens wollte dieser ihm etwas schenken, das ihm helfen
sollte, nicht mehr nur der Dumme gerufen zu
Es war einmal ein ehrlicher Handwerker, der mit werden. Der Mann gab ihm einen Sack mit einem
seiner Frau und den gemeinsamen drei Söhnen, die Prügel darin, der bei den Worten „Knüppel aus
nur der Lange, der Dicke und der Dumme gerufen dem Sack“ eine Person so lange verprügelte, bis die-
wurden, in einem kleinen Städtchen lebte. selbe Person „Knüppel in den Sack“ sagte. Auf dem
Der Lange, der älteste Sohn, machte sich nach Heimweg warnte der Dumme den Wirt des Gast-
seiner Schreinerlehre auf Wanderschaft, um Arbeit hauses davor, die Worte „Knüppel aus dem Sack“
zu suchen, und landete bei einem Mann im Wald, zu sagen, was dieser aus Neugierde trotzdem tat. Er
der ihn einige Monate beschäftigte. Als Dank für wurde daraufhin selbst so lange verprügelt, bis er
seine tugendhafte und fleißige Arbeit bekam er von das Tischlein und den Esel wieder herausgab. Nach
dem Mann ein kleines Tischlein, auf dem immer seiner Ankunft zuhause wurde der Dumme mit dem
die gewünschten Speisen und Getränke aufgedeckt mitgebrachten Tischlein, dem Esel und dem Prügel-
waren, sobald man dreimal hintereinander „Tisch- sack von allen herzlich empfangen und seither von
lein, decke dich“ sagte. Auf seinem Heimweg wurde niemandem mehr als dumm verspottet.
der Lange von einem Wirt hinters Licht geführt, Die Familie musste aufgrund der besonderen
der das besondere Tischlein gegen einen normalen Gaben des Mannes nicht mehr arbeiten und lebte
Tisch austauschte, und deswegen bei seiner Rückkehr zufrieden und glücklich.
wegen seiner Dummheit verspottet. (Bechstein 1847; . Abb. 17.1)
Auch der Dicke, der mittlere Sohn, kam auf
seiner Wanderschaft zu besagtem Mann und erhielt Anmerkung  Das Märchen stammt ursprünglich
anschließend als Dank für seine Arbeit einen Esel, aus der Märchensammlung der Gebrüder Grimm,
der Goldmünzen fallen ließ, wenn man „Eselein, die zwischen 1812 und 1858 herausgegeben wurde.
strecke dich!“ sagte. Auch dessen besonderer Esel In diesem Märchen kommt neben den Charakte-
wurde vom Wirt des Gasthauses auf dem Heimweg ren bei Bechstein noch eine Ziege vor, deren Lügen
gegen ein normales Duplikat ausgetauscht, weshalb dazu führen, dass der Vater seine drei Söhne ver-
der mittlere Sohn zu Hause angekommen ebenfalls stößt. Bechstein, der von 1801–1860 in Meiningen
ausgelacht wurde. gelebt hat, war neben seinem Beruf als Schriftsteller
Nachdem der jüngste Sohn, der von allen immer auch Bibliothekar und Archivar und sammelte im
nur der Dumme genannt wurde, auf seiner Wander- Rahmen seiner Tätigkeit nicht nur Märchen, sondern
schaft auch fleißig für den Mann gearbeitet hatte, auch Sagen und andere Werke. Interessanterweise

. Abb. 17.1  (Zeichnung: Claudia


Styrsky)

17
17.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
127 17
nahm Bechstein aus pädagogischen Gründen öfter 17.3 Psychologische Phänomene und
Veränderungen an überlieferten Geschichten und Implikationen
Märchen vor, so auch in diesem Fall. Populärer ist
jedoch eher die Version der Grimm Brüder. Im Folgenden soll nun zunächst das Märchen „Tisch-
lein deck dich, Esel streck dich, Knüppel aus dem
Sack“ von Ludwig Bechstein aus dem Deutschen
17.2 Die Charaktere Märchenbuch von 1847 analysiert und auf darin
behandelte psychologische Phänomene genauer ein-
Die drei Söhne, der Wirt und der Mann im Wald gegangen werden. Anschließend wird vergleichend
werden als wichtigste Charaktere des Märchens kurz die Version der Gebrüder Grimm behandelt.
vorgestellt: Psychologische Phänomene, die im Märchen
Die drei Söhne leben bei ihren Eltern auf dem eine Rolle spielen, sind u. a. selbsterfüllende Prophe-
Land und werden aufgrund ihrer jeweiligen Auffäl- zeiungen, die Grundbedürfnisse nach Maslow, allge-
ligkeiten nur mit den Namen der Lange, der Dicke meine Gerechtigkeitsvorstellungen sowie die Theorie
und der Dumme gerufen. Generell werden die der gerechten Welt. Sie werden an den jeweils passen-
Brüder als rechtschaffen, tüchtig und bescheiden den Stellen in den praktischen Implikationen etwas
beschrieben. Nacheinander gehen sie auf Wander- genauer erläutert, um einen Einblick in die theoreti-
schaft und finden bei einem Mann im Wald Arbeit. schen Hintergründe zu ermöglichen.
Dieser kann die Brüder zwar nicht mit Geld bezah- Implikationen lassen sich für verschiedene
len, aber entlohnt sie für ihre Arbeit jeweils mit einem Lebensbereiche ableiten, beispielsweise für die Erzie-
besonderen Gegenstand. Der Mann scheint sehr ein- hung, für die allgemeine Lebensgestaltung sowie für
fühlsam und klug zu sein, da er letztlich dem jüngsten das Zusammenleben.
Bruder, der von allen nur als der Dumme bezeichnet
wird, dabei hilft, diesen Ruf abzulegen, und zudem
dafür sorgt, dass am Ende der Geschichte alle Betei- 17.3.1 Implikationen für die Erziehung
ligten ihre gerechte Belohnung oder Strafe erhalten.
Auf ihrem Heimweg kommen alle drei Brüder Bezüglich der Erziehung kann man aus dem Märchen
an einem Gasthaus vorbei und übernachten dort. Erkenntnisse zur unterschiedlichen Behandlung von
Der Wirt dieses Gasthauses ist der Bösewicht im Geschwistern ziehen. Der jüngste Bruder wird von
Märchen und wird als sehr gierig beschrieben. Er seiner Familie unterschätzt, bis er selbstständig auf
bestiehlt zwei der Brüder, bringt deren besondere Wanderschaft geht, sich bewährt und am Ende dafür
Gegenstände in seinen Besitz und tauscht sie gegen verantwortlich ist, die gestohlenen Gegenstände
wertlose Duplikate aus. Die beiden älteren Brüder seiner Brüder wieder zurückzuholen.
bemerken den Betrug zunächst nicht und blamie- Eltern sollten sensibel dafür sein, ob sie ihre
ren sich, als sie die Wundertätigkeit der Gegenstände Kinder unterschiedlich behandeln, wobei es durchaus
zu Hause vorführen wollen. Auch den Gegenstand mögliche Gründe für solche Ungleichbehandlungen
des dritten Bruders möchte der Wirt entwenden, was geben kann und es selbstverständlich unmöglich und
ihm jedoch nicht gelingt. nicht unbedingt notwendig ist, sich allen Kindern
Interessanterweise gibt es in dem Märchen nicht gegenüber immer zu 100 % gleich zu verhalten.
nur einen Protagonisten und Helden: Auf der einen Vielmehr ist es oftmals sinnvoll, sich flexibel auf die
Seite ist der Dumme die Person, die zunächst die Kinder einzustellen, um ihre Individualität berück-
vermeintlich schlechteste Belohnung erhält, die sichtigen zu können und deren individuelle Stärken
sich jedoch schließlich als sehr wertvoll heraus- und Potenziale zu fördern. Nichtsdestotrotz sollte
stellt und hilft, die entwendeten Belohnungen der die Behandlung generell so ausgeglichen sein, dass
Brüder zurückzuholen. Auf der anderen Seite gibt die Kinder gleiche Chancen erhalten und ihre Poten-
es den Mann im Wald, der dem jüngsten Bruder ziale durch die individuelle Behandlung entwickeln
die Rückholaktion durch seine Belohnung mit dem können. Ferner sollen sie nicht durch eine vorgefer-
Prügelsack erst ermöglicht und alles scheinbar auch tigte Einschätzung wie beispielsweise der Dumme in
genauso geplant hat. ihrer freien Entwicklung behindert werden.
128 Kapitel 17 · Tischlein deck dich, Esel streck dich, Knüppel aus dem Sack von Ludwig Bechstein (1847)

Die Geschwister kehren nach ihrer Reise wieder Selbsterfüllende Prophezeiung


in ihr Elternhaus zurück. Das anfängliche Ziel der Denkbar ist in Bezug auf den „dummen“ Bruder eine
Wanderschaft, also selbstständig zu werden, wird selbsterfüllende Prophezeiung, auch wenn sie sich
somit letzten Endes nicht erreicht. Der familiäre im Nachhinein nicht bewahrheitet. Unter der selbst-
Zusammenhalt hat im Märchen einen sehr hohen erfüllenden Prophezeiungen oder Vorhersage ver-
Stellenwert und zum Ende lebt die ganze Familie steht man die Tatsache, dass eine anfängliche falsche
gemeinsam von den drei besonderen Gegenständen. Einschätzung einer Situation eine unbewusst ablau-
Den Aspekt des familiären Zusammenhalts und des fende Verhaltensänderung auslöst, die dazu führt,
Stellenwertes der Familie könnten Sie auch in Ihrem dass die erwartete Annahme tatsächlich eintritt
eigenen Leben hinterfragen und überlegen, ob Sie (Merton 1948).
damit aktuell zufrieden sind. In Studien von Rosenthal und Jacobson (1968)
Problematisch ist aus Erziehungssicht im Fall wurden aus einer größeren Gruppe von etwa 30
des Märchens jedoch die Tatsache, dass die durch Schülern drei Schüler zufällig ausgewählt und nur
den Knüppel ausgeübte Gewalt letztlich die Lösung dem Lehrer gegenüber als intelligenter, als es ihren
des Problems ist und der Wirt nur deswegen die bisherigen Schulleistungen entspricht, gemeldet. Ein
Gegenstände wieder herausgibt. Dies ist eine The- halbes Jahr später zeigten sich tatsächlich Steige-
matik im Märchen, die man kritisch bewerten rungen der Intelligenzquotienten, was damit erklärt
muss, da nicht vermittelt werden soll, dass Gewalt wurde, dass sich der Lehrer ihnen gegenüber anders
eine Lösung sei. Allerdings ist zu beachten, dass der verhalten hat und sie durch stärkere Forderung und
Dumme nicht gezielt gewalttätig gegenüber dem eventuell positive Verstärkung besser gefördert hat.
Wirt wird, sondern der Wirt selbst die Worte spricht, Im Märchen wird der Dumme aufgrund seines
die zum Losprügeln des Knüppels führen. Der Wirt Spitznamens von allen als dumm eingeschätzt,
wird sogar gewarnt, und nur seine eigene Neugierde obwohl sich dies als Trugschluss herausstellt. Er
hat zur Folge, dass er verprügelt wird. Der Knüppel schafft es mithilfe des Mannes aus dem Wald, die
sollte auf keinen Fall als Plädoyer für Gewalt, Dro- selbsterfüllende Vorhersage ad absurdum zu führen,
hungen oder Angst gesehen werden! Insbesondere was sicherlich auch eine Motivation für Personen
wenn man das Märchen Kindern vorliest, würde es sein könnte, die das Gefühl haben, unterschätzt oder
sich anbieten, über dieses Thema zu sprechen und falsch eingeschätzt zu werden.
darauf hinzuweisen, dass man Konflikte anders
lösen sollte.
Materieller und subjektiver Wert
Interessant sind darüber hinaus die unterschied-
17.3.2 Implikationen für die lichen materiellen und subjektiven Werte, die den
Lebensgestaltung besonderen Gegenständen zugeschrieben werden.
Der materielle Wert eines Tischchens, Esels
Die Geschwister werden alle auf ihre Äußerlichkei- oder Säckchens mag nicht besonders groß erschei-
ten (der Lange und der Dicke) oder angenommene nen, diese Dinge verhelfen aber durch ihre beson-
Charaktereigenschaften (der Dumme) reduziert, was deren Eigenschaften zu einem sorgenfreien Leben.
sich auch an ihren Rufnamen zeigt und ein Beispiel Vor allem das vermeintlich wertloseste Geschenk
17 für Stereotypisierung ist. erweist sich letztlich als besonders nützlich – mit
Das Märchen zeigt uns sehr deutlich, dass die dem Knüppel im Sack gelingt es, alles verloren
Beurteilung und Einschätzung einer Person auf- geglaubte wieder zurückzuholen. Der subjektive
grund von Äußerlichkeiten ungeeignet ist, da sie Wert der Gegenstände ist für die Familie deutlich
damit ausschließlich auf eine einzelne Eigenschaft höher als der materielle.
reduziert wird. Bemüht man sich hingegen, diese Dies zeigt, dass auch materiell nicht so wertvoll
genauer kennenzulernen, anstatt voreilige Schlüsse erscheinende Gegenstände durchaus wichtige Funk-
zu ziehen, eröffnen sich einem ihre vielfältigen tionen erfüllen können und der wahre Wert oft nicht
Potenziale. auf den ersten Blick zu erkennen ist.
17.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
129 17
Grundbedürfnisse sich Mühe und Anstrengung langfristig zumeist
Dadurch, dass die Familie alle erhaltenen Belohnun- doch lohnen.
gen teilt, kann sie zusammen zufrieden und glücklich Insbesondere in diesem Teil des Märchens spielt
leben, was möglicherweise auch daran liegt, dass alle das Thema der Gerechtigkeit eine wichtige Rolle. In
ihre Grundbedürfnisse befriedigt sind. der Psychologie werden dabei u. a. in einer Metaana-
Laut der Bedürfnispyramide von Maslow (1943) lyse von Colquitt et al. (2001) verschiedene Formen
zählen zu den Grundbedürfnissen physiologische der Gerechtigkeit unterschieden: Die distribu-
Bedürfnisse („physiological needs“), Sicherheitsbe- tive, prozedurale und interaktionale Gerechtigkeit.
dürfnisse („safety needs“), soziale Bedürfnisse („love Darüber hinaus gibt es zudem die informationale
needs“), Bedürfnisse nach Achtung und Respekt Gerechtigkeit.
(„esteem needs“) und das Bedürfnis nach Selbstver- Unter distributiver Gerechtigkeit (Ergebnisge-
wirklichung („need for self-actualization“). rechtigkeit) versteht man, dass die Verteilung von
Das Tischlein befriedigt insbesondere die physio- Belohnungen oder bestimmten Ressourcen – egal ob
logischen Bedürfnisse, also die existenziellen Bedürf- greifbar (Geld) oder nicht (Liebe) – als gerecht wahr-
nisse wie Essen und Trinken. Der Knüppel gleicht genommen wird. Es gibt dabei verschiedene Theo-
das Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität aus, da rien, wann eine Verteilung als distributiv gerecht
er der Familie das Gefühl gibt, sich gegen feindli- wahrgenommen wird. Die drei gängigsten sind die
che Angriffe wehren zu können. Soziale Bedürfnisse Verteilungen nach dem Leistungs-, Gleichheits- oder
werden möglicherweise durch die sozialen Bezie- Bedürfnisprinzip:
hungen innerhalb der Familie befriedigt, wobei der 44Das Leistungsprinzip (Equity-Prinzip)
familiäre Zusammenhalt durch die gemeinsamen postuliert, dass der Einsatz und das Ergebnis
Gegenstände noch verstärkt wird. Der Esel ermög- in Bezug gesetzt werden. Derjenige, der mehr
licht durch das wertvolle Gold u. a. die Befriedigung leistet, sollte demnach auch mehr bekommen.
von Bedürfnissen nach Achtung und Respekt, da sich Im Märchen ist die Verteilung der Gegenstände
die Familienmitglieder dadurch ihre individuellen am Ende dem Equity-Prinzip zufolge durchaus
Wünsche erfüllen können und es ihnen Ansehen und distributiv fair, da der Wirt nichts hat und die
Prestige verleiht. Brüder ihre jeweils verdienten Gegenstände
Inwieweit das Bedürfnis nach Selbstverwirk- wieder besitzen.
lichung erfüllt wird, ist aus dem Märchen nicht 44Dem Gleichheitsprinzip (Equality-Prinzip)
ersichtlich. Es zählt jedoch – im Gegensatz zu den zufolge wird eine Verteilung als gerecht
anderen – nicht zu den sog. Defizitmotiven, die wahrgenommen, wenn alle Personen gleiche
erfüllt sein müssen, um sich wohlzufühlen. Anteile bekommen.
44Beim Bedürfnisprinzip (Need-Prinzip) geht
es darum, dass bedürftigere Personen einen
Gerechtigkeit größeren Anteil bekommen als weniger
Darüber hinaus zahlt sich im Märchen ehrliche und bedürftige Personen.
fleißige Arbeit aus, auch wenn es zwischenzeitlich
so scheint, als wäre die Entlohnung dafür verloren. Bei der prozeduralen Gerechtigkeit (Verfahrens-
Daneben lohnen sich Werte wie Tugendhaftigkeit gerechtigkeit) geht es darum, ob die Kriterien, die
und Ehrlichkeit, wohingegen Hinterlist, Unehr- zum Ergebnis geführt haben, klar und nachvoll-
lichkeit und die Betrügereien des Wirtes bestraft ziehbar sind. Wichtig sind dabei für eine gerechte
werden. Letztlich bekommt jeder das, was ihm Wahrnehmung vor allem Konzepte der Prozess-
zusteht. Vielleicht hatten Sie auch schon einmal das kontrolle, also der Möglichkeit der Beeinflussung
Gefühl, dass sich Ihre Arbeit nicht auszahlt, Sie im des Verfahrens sowie festgelegte Verfahrensregeln.
Gegensatz zu weniger arbeitenden Kollegen oder Nach Leventhal (1980) gibt es dabei sechs Regeln:
Personen weniger Anerkennung bekommen und Das Verfahren sollte konsistent, genau, korrigier-
Sie meinen, dass ihre Bemühungen nicht honoriert bar und repräsentativ sein, Vorurteile sollten elimi-
werden? Aus dem Märchen können wir lernen, dass niert werden und es sollte ethischen Anforderungen
130 Kapitel 17 · Tischlein deck dich, Esel streck dich, Knüppel aus dem Sack von Ludwig Bechstein (1847)

entsprechen. Prozedurale Fairness kann beispiels- 17.3.3 Implikationen für das


weise auch innovatives Verhalten, z. B. spontane Zusammenleben
Kooperationen, fördern. Im Rahmen eines Expe-
riments von Streicher et al. (2012) konnte gezeigt Die im Märchen angesprochenen Themen haben
werden, dass durch Mitsprachemöglichkeiten die eine wichtige Bedeutung für das Zusammenleben
Teilnehmer eine gesteigerte Intention zu innovati- von Menschen. Es geht dabei insbesondere auch
vem Verhalten im Sinne von Aufgabenrevisionen, darum, wie man mit Unrecht umgeht. Die Charak-
Kreativität und Persistenz zeigten. Innovationen tere im Märchen holen sich ihre Besitztümer nicht
können demnach durch Gerechtigkeit und prozedu- einfach zurück, sondern versuchen zunächst, sich
ral faire Bedingungen in Organisationen gefördert mit dem Verlust der materiellen Werte abzufinden
werden. Im Märchen wären diese Regeln für proze- und ohne sie zu leben.
durale Gerechtigkeit nicht gegeben, da die Rückhol- Im Märchen zeigt sich zudem, dass alle von
aktion mit der Gewalt des Knüppels beispielsweise Reichtum profitieren können, wenn man sich zusam-
keinen ethischen Anforderungen genügt. mentut. Wenn jeder der Brüder seinen Gegenstand
Bei der interaktionalen Gerechtigkeit werden alleine für sich behalten hätte, wäre ihr Reichtum
auch interpersonale Aspekte berücksichtigt. Der nicht so groß wie durch das Teilen, von dem alle
Fokus liegt dabei auf der interpersonalen Kommu- profitieren.
nikation zwischen Individuen in Bezug auf eine wür-
devolle und respektvolle Behandlung sowie auf der
inhaltlichen Ebene, also darauf, dass Informationen 17.4 Vergleich mit der
weitergegeben werden. Märchenversion von den
Eine Verteilungsprozedur ist dann informational Gebrüdern Grimm
gerecht, wenn die Personen zeitnah gründliche und
nachvollziehbare Erklärungen dazu erhalten (Col- Im Folgenden wird nun die Version Bechsteins mit
quitt 2001). der Version der Gebrüder Grimm verglichen, da die
In Bezug auf den Gerechtigkeitsaspekt des beiden Versionen ein gutes Beispiel dafür sind, wie
Märchens kann man auch die Theorie der gerech- sich Märchen aus verschiedensten Gründen über
ten Welt anführen. Unter dem Konstrukt des die Zeit oft mehr oder weniger verändert haben. Bei
­Gerechte-Welt-Glaubens versteht man das elemen- „Tischlein deck dich“ sind die Änderungen durch
tare Bedürfnis von Menschen, daran zu glauben, dass Bechstein insbesondere aus pädagogischer Sicht
es gerecht in der Welt zugeht und jeder das hat, was nachvollziehbar.
er verdient, und darüber hinaus das verdient, was
er hat. Lerner (1965) entwickelte diese Theorie u. a.
anhand eines Experiments, in dem zwei Personen in 17.4.1 Originalfassung
einem Labor an einer Anagrammaufgabe arbeiteten
und im Anschluss eine von ihnen zufällig eine Beloh- Im Märchen der Gebrüder Grimm (1812) geht es um
nung erhielt. Personen, denen diese Situation gezeigt einen Schneider, der drei Söhne und eine Ziege hat.
wurde, bewerteten die belohnte Person unabhängig Die Ziege, deren Milch die Familie ernährt, musste
von ihrer tatsächlichen Leistung und ihrer Sympathie von den Söhnen täglich auf eine Weide geführt
17 positiver. Lerner erklärte diesen Befund damit, dass werden, um möglichst gutes Futter zu finden. Abends
die einschätzenden Personen überzeugt davon waren, fragten die Brüder die Ziege jedes Mal, ob sie satt
dass die belohnte Person ihre Belohnung auch ver- sei, woraufhin die Ziege antwortete: „Ich bin so satt,
dient haben muss, obwohl sie in Wirklichkeit zufällig ich mag kein Blatt: mäh! mäh!“ Sobald der jeweilige
war. Auch im Märchen bekommen die Brüder letzt- Sohn mit der Ziege zurück nach Hause kam, behaup-
lich ihre verdienten Gegenstände zurück und der tete die Ziege dem Vater gegenüber fälschlicherweise,
Wirt verliert die zu Unrecht in seinen Besitz gebrach- wovon sie denn satt sein solle, da sie kein einziges
ten Gegenstände wieder. Die Besitzverhältnisse am Blättlein gefunden habe. Nacheinander verstieß der
Ende des Märchens sind gerecht, und der Glaube an Vater daraufhin alle seine Söhne und stellte danach,
eine gerechte Welt kann somit bestehen bleiben. als er die Ziege eines Tages selbst auf die Weide führt,
17.4 · Vergleich mit der Märchenversion von den Gebrüdern Grimm
131 17
fest, dass sie gelogen hatte und der Verstoß seiner dem Bären und dem Fuchs helfen, flog in den Fuchs-
Söhne umsonst war. Die Söhne machten jeweils eine bau, setzte sich auf den Kopf der Ziege und stach sie
Lehre in handwerklichen Berufen und bekamen als so stark, dass sie aufsprang und weglief – wohin weiß
Dank für ihre Arbeit statt monetärem Lohn jeweils jedoch keiner.
einen besonderen Gegenstand. Wie in der späteren
Version von Bechstein waren diese Gegenstände das
Tischlein, das sich von selbst deckt, der Gold produ- 17.4.2 Bechsteins Veränderungen
zierende Esel und der prügelnde Knüppel im Sack.
Den beiden ersten Brüdern vertauschte der Wirt Die bedeutendsten Veränderungen, die Bechstein
während der Übernachtung im Gasthaus unbemerkt an der Märchenversion der Gebrüder Grimm vorge-
ihren besonderen Gegenstand mit einem normalen nommen hat, sind das Weglassen der Tiergeschich-
Duplikat, und sie blamierten sich vor den eingela- ten sowie die Veränderung der Intention des letzten
denen Verwandten, als sie ihren Gegenstand nach Bruders, den Knüppel gegen den Wirt zu verwenden.
der Heimkehr vorführen wollten. Sie standen somit
wieder als Lügner da, genauso wie am Anfang auf-
grund der Falschaussage der Ziege. Ziege
Die beiden Brüder meldeten sich daraufhin beim Die Lügen der Ziege am Anfang sind der Grund
letzten Bruder, der noch in der Lehre war und berich- dafür, dass der Vater seine Söhne verstößt und diese
teten ihm vom Verlust ihrer Gegenstände. Der letzte auf Reisen gehen.
Bruder ging daraufhin extra in das Wirtshaus und Die Lügenthematik wird im weiteren Verlauf
erzählte dem Wirt geheimnisvoll von seinem beson- mehrmals aufgegriffen, sowohl im Zusammen-
deren Säckchen, ohne zu erwähnen, was genau sich hang mit dem Wirt wie auch nach der Heimkehr der
darin befand, und ohne ihn vor dessen Gebrauch zu ersten beiden Brüder, die nach dem Betrug durch
warnen. Der gierige Wirt wollte auch diesen dritten den Wirt erneut von ihrer Familie als Lügner ange-
Gegenstand in der Nacht austauschen. Der letzte sehen werden. Möglicherweise hat Bechstein auf-
Bruder wartete jedoch nur darauf und befahl, als der grund dieser Dualität die Ziegengeschichte wegge-
Wirt das Säckchen entwenden wollte, dem Knüppel, lassen und sich auf die Person des Wirts konzentriert.
den Wirt so lange zu verprügeln, bis er das beson- Auch könnte der Verstoß des Vaters ein Thema
dere Tischlein und den Esel wieder herausgab. Es war gewesen sein, das Bechstein weggelassen hat, um in
somit intentional vom dritten Bruder geplant, den seiner Version keinen Gegensatz zum von ihm postu-
Wirt mit dem Knüppel im Sack zu bestrafen und die lierten familiären Zusammenhalt zu erzeugen.
Dinge zurückzuholen. Bei der Heimkehr wurden alle
Verwandten eingeladen und die besonderen Dinge
allen vorgeführt. Fuchs, Bär und Biene
Auch wie es mit der Ziege weitergeht, wird im Die Tiergeschichte am Ende hat Bechstein nicht
Märchen beschrieben. Die Ziege hatte sich, nachdem weggelassen, sondern in veränderter Form in sein
sie vom Schneider verscheucht wurde, so geschämt, Märchen eingebaut. Im Prinzip ist die Aussage dieser
dass sie sich in einer Fuchshöhle versteckte. Als der Geschichte, dass die eigentlich von den anderen
Fuchs wieder in seinen Bau wollte, erschrak er vor Tieren unterschätzte Biene letztlich den anderen
der Ziege und floh. Auf seiner Flucht traf er einen Tieren bei der Umsetzung ihres Planes hilft und die
Bären, der ihn fragte, warum er so verstört ausschaue. Ziege aus dem Bau verscheucht. Die Brüder haben
Der Fuchs antwortete daraufhin, dass ein grimmiges in der Grimm-Version keine Rufnamen, und auch
Tier in seiner Höhle sei, das ihn mit feurigen Augen ansonsten spielt diese Thematik im Familiengefüge
angesehen hätte. Der Bär wollte dem Fuchs dabei keine Rolle.
helfen, die Ziege zu verscheuchen, erschrak jedoch In Bechsteins Version stehen die Brüder stellver-
selbst und traf auf seiner Flucht auf eine Biene, die tretend für die verschiedenen Tiere, von denen der
nun ihn nach dem Grund für seine Angst fragte. Die Dumme, also der unterschätzte, dafür sorgt, dass die
Biene, die aufgrund ihrer geringen Größe und Kraft Brüder ihre besonderen Gegenstände zurückbekom-
von den anderen Tieren oft unterschätzt wird, wollte men. Möglicherweise war Bechstein der Ansicht,
132 Kapitel 17 · Tischlein deck dich, Esel streck dich, Knüppel aus dem Sack von Ludwig Bechstein (1847)

dass die Vermittlung des Themas einfacher ist, wenn 17.6 Fazit
sie bereits in einem zwischenmenschlichen Umfeld
eine Rolle spielt und nicht erst aus der Tierwelt über- Man kann nur Vermutungen anstellen, was
tragen werden muss. ursprünglich mit diesem Märchen bezweckt werden
sollte. Denkbar ist beispielsweise die Vermittlung
von Werten wie Ehrlichkeit, Pflichtbewusstsein und
Vorsatz zur Verwendung des Knüppels Bescheidenheit sowie Gerechtigkeit. Man könnte
Sicherlich hatte Bechstein aus pädagogischer Sicht dieses Märchen also beispielsweise dann lesen oder
Bedenken, die geplante Anwendung von Gewalt in vorlesen, wenn man das Gefühl hat, dass einem selbst
seinem Märchen zu postulieren, auch wenn es darum oder jemand anderem Unrecht geschehen ist, und es
geht, für Gerechtigkeit zu sorgen. Es ist dennoch als Aufmunterung sehen, dass es trotzdem zu einem
pädagogisch besser vermittelbar, wenn der Wirt guten Ende führen kann.
sich selbst die Gewalt zufügt, obwohl der Bruder Die Möglichkeit, Märchen zu verändern, die Bech-
ihn in der Version von Bechstein sogar vor der Ver- stein genutzt hat, steht dabei jedem offen, auch Ihnen
wendung des Gegenstandes gewarnt hat und damit als Leser. Auch Sie können Märchen als Ausgangs-
das Zurückerlangen der Gegenstände eher zufällig punkt sehen und sie kreativ nach Ihren eigenen Vor-
passiert. stellungen abwandeln. Für welche Version man sich
In der Version der Gebrüder Grimm wendet der entscheidet, ob man beide Versionen lesen möchte, ob
Bruder den Knüppel konkret und geplant gegen den man sich eine eigene Version ausdenkt und vor allem
Wirt an und wurde zudem von seinen Brüdern mehr was man aus dem Märchen mitnehmen möchte, bleibt
oder weniger dazu aufgefordert, die Gegenstände selbstverständlich jedem selbst überlassen.
zurückzuholen.
Bechsteins Version ist daher aus pädagogischer
Sicht der Version der Gebrüder Grimm vorzuziehen. Literaturverzeichnis

Bechstein, L. (1847). Deutsches Märchenbuch (5. Aufl.). Leipzig:


Georg Wigand
17.5 Bedeutung für die heutige Zeit Colquitt, J. A. (2001). On the dimensionality of organizational
justice: a construct validation of a measure. Journal of
Ungeachtet der verschiedenen Versionen hat das Applied Psychology 86, 386–400.
Colquitt, J. A., Conlon, D. E., Wesson, M. J., Porter, C. O., & Ng,
Märchen durchaus Bezugspunkte zur heutigen Rea-
K. Y. (2001). Justice at the millennium: A meta-analytic
lität. Insbesondere der Gerechtigkeitsaspekt ist und review of 25 years of organizational justice research. Jour-
bleibt aktuell, und fast jeder musste sicherlich schon nal of Applied Psychology 86, 425–445.
einmal mit einer zunächst als ungerecht empfunde- Grimm, J., & Grimm, W. (1812). Kinder- und Haus-Märchen,
nen Situation umgehen. gesammelt durch die Brüder Grimm: Große Ausgabe (Bd. 1).
Berlin: Realschulbuchhandlung.
Man könnte im Bezug auf die Arbeitssituation
Lerner, M. J. (1965). Evaluation of performance as a function of
der Brüder auch Schlüsse ziehen auf die heute oft performer’s reward and attractiveness. Journal of Perso-
als „Generation Praktikum“ bezeichneten Studenten, nality and Social Psychology 1, 355–360.
denen es – je nach Berufszweig – schwerfällt, feste Leventhal, G. S. (1980). What should be done with equity
Arbeitsplätze zu finden. Sie sind darauf angewiesen, theory? New approaches to the study of fairness in social
17 viele Praktika zu absolvieren, die häufig finanziell relationships. In: K. Gergen, M. Greenberg, & R. Willis
(Eds.), Social exchange: advances in theory and research
nicht entlohnt werden. Auch die Brüder im Märchen (pp. 27–55). New York: Plenum Press.
bekommen für ihre Arbeit kein Geld, aber zumindest Maslow, A. H. (1943). A theory of human motivation. Psycho-
eine anderweitige Entlohnung. Dies könnte bedeu- logical Review 50, 370–396.
ten, dass sich Praktika für manche auszahlen und Merton, R. K. (1948). The self-fulfilling prophecy. The Antioch
Review 8, 193–210.
sie von den Erfahrungen profitieren können, wie
Rosenthal, R., & Jacobson, L. (1968). Pygmalion in the class-
es im Märchen für den „dummen“ Bruder der Fall room. The Urban Review 3, 16–20.
ist, während andere zunächst keine Vorteile davon Streicher, B. Jonas, E., Maier, G. W., & Frey, D. (2012). Procedural
haben bzw. sich ihren erhaltenen Vorteil wieder justice and innovation: Does procedural justice foster
abnehmen lassen. innovative behavior? Psychology 3, 1100–1103.
133 18

Das Märchen von den drei


Brüdern von J. K. Rowling
(2008)
Sophie Drozdzewski

18.1 Inhalt des Märchens – 134

18.2 Die Charaktere – 135

18.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 135


18.3.1 List des Todes: Ein tödlicher Vertrag – 135
18.3.2 Kontrollverlust, Widerstand und Hilflosigkeit – 136
18.3.3 Angst vor dem Tod – 137
18.3.4 Antisoziales Denken und Verhalten – 138

18.4 Fazit – 138

Literaturverzeichnis – 139

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_18
134 Kapitel 18 · Das Märchen von den drei Brüdern von J. K. Rowling (2008)

18.1 Inhalt des Märchens der genau dies vermag. Doch sobald die Liebste als
Geist zurückgekehrt war – stumm und leidend, da
Es waren einmal drei Zaubererbrüder, die dem Tod sie nicht in die Welt der Lebenden gehört – wird
begegnen. Das Treffen ereignet sich an einem rei- der Bruder wahnsinnig vor Sehnsucht und nimmt
ßenden Fluss, in dem Menschen normalerweise sich das Leben. So macht sich der Tod die Seele des
ertrinken. Als die drei Brüder auf ihrer Wanderung zweiten Bruders zu eigen.
an den Fluss kommen, erschaffen sie mithilfe ihrer Der jüngste Bruder jedoch, der genügsamste und
Zauberkunst eine Brücke, auf der sie den Fluss über- weiseste unter den Geschwistern, misstraut dem Tod
queren. Der Tod, der sich um drei Seelen betrogen und wünscht sich etwas, mit dem er dem Tod ungese-
fühlt, erscheint als Kapuzengestalt auf der Brücke hen entkommen kann. Widerwillig übergibt ihm der
und will sich durch eine List die Seelen der Brüder Tod seinen eigenen Umhang, der unsichtbar macht,
doch noch zu eigen machen. So gibt er vor, den und der dritte Bruder lebt ein langes und erfülltes
Brüdern zu ihrer Leistung, dem Tod entronnen zu Leben. Erst nachdem er sehr alt geworden war, über-
sein, zu gratulieren, und bietet ihnen einen Lohn gibt er den Umhang seinem Sohn, heißt den Tod als
dafür an. alten Freund willkommen und entschwindet mit ihm
Der älteste Bruder verlangt einen Zauberstab, der ebenbürtig aus diesem Leben.
so mächtig ist, dass ihn niemand schlagen kann. Der (Rowling 2008; . Abb. 18.1)
Tod tut wie ihm geheißen und übergibt dem ersten
Bruder den unbesiegbaren Elderstab. Doch dessen Anmerkung  Begeisterte Harry-Potter-Leser
Glück über den unbesiegbaren Zauberstab währt werden das „Märchen von den drei Brüdern“ bereits
nicht lange. Nur einige Tage später sucht er Streit kennen. Es entstand im Zuge von Rowlings Arbei-
mit einem anderen Zauberer und tötet ihn im Duell. ten am letzten Teil der sehr erfolgreichen Buch-
Nachdem er betrunken in einem Wirtshaus lautstark reihe und wurde 2008 mit einigen weiteren von
mit dem Zauberstab geprahlt hatte, schneidet ihm der Autorin erdachten Märchen in einem geson-
ein Dieb die Kehle durch und entwendet den Zau- derten Märchenband Die Märchen von Beedle dem
berstab. So macht sich der Tod die Seele des ersten Barden veröffentlicht. Mit ihren Märchen erreicht
Bruders zu eigen. Rowling viele Kinder und Erwachsene aus aller Welt
Der hochmütige zweite Bruder will den Tod und vermittelt Werte und Moral spielerisch. Wei-
noch mehr demütigen und wünscht sich, seine ver- terhin dient der Märchenband als Zeitzeuge der
storbene Liebste in die Welt der Lebenden zurück- Moderne und leistet hier einen Beitrag als Vertre-
zubringen. Der Tod gibt ihm daraufhin einen Stein, ter unserer Zeit.

. Abb. 18.1  (Zeichnung: Lena Frey)

18
18.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
135 18
18.2 Die Charaktere seine List – die Geschenke des Todes – schafft er es,
das Leben zweier Brüder vorzeitig zu beenden und
Die Moral des Märchens liegt zunächst auf der Hand: sich schließlich auch die Seele des dritten Bruders zu
Der Tod ist unausweichlich, die Angst vor dem Tod eigen zu machen. Der Wunsch nach Unsterblichkeit
zwecklos, genauso wie jeder Versuch, ihm zu entrin- wird enttäuscht.
nen. Doch wir wollen noch tiefer ergründen, was sich
hinter den Figuren, die Rowling zeichnete, verbirgt.
Der älteste Bruder verlangt einen Zauberstab, 18.3 Psychologische Phänomene und
der so mächtig ist, dass ihn niemand besiegen kann. Implikationen
Er ist von Geltungsdrang und Dominanz getrieben,
seine Machtgier kennt keine Grenzen. Sein Ziel ist, Es folgt eine psychologische Betrachtung zur Unaus-
der mächtigste Zauberer zu werden, egal mit welchen weichlichkeit des Todes und dem Wunsch nach
Mitteln. So sucht er sogleich Streit mit einem anderen Unsterblichkeit. Nachdem die Charaktere und deren
Zauberer und tötet ihn mordlüstern im Duell. Im Konstellation im Märchen genauer betrachtet wurde,
Wirtshaus prahlt er damit und offenbart Erfolgsar- stellt sich die Frage, was wir von den drei Brüdern
roganz und Narzissmus. lernen können.
Der zweite Bruder besitzt nicht weniger Darauf aufbauend werden einige psychologi-
schlechte Züge. Um den Tod noch weiter zu demüti- sche Konzepte vorgestellt, die dem Wunsch nach
gen, verlangt er die Macht, Tote wieder auferstehen Unsterblichkeit der älteren Brüder auf den Grund
zu lassen. Die Liebe zu seiner verstorbenen Angebe- gehen: Woher kommt dieser Wunsch, was macht
teten ist dabei zunächst zweitrangig. Sein Hochmut er mit uns, und wie können wir die Angst vor dem
und seine Naivität blenden ihn. Vorrangig möchte Tod bewältigen? Dabei können wir einiges über
er den Tod erniedrigen. Erst als die Geliebte kalt uns selbst und unsere tiefsten existenziellen Ängste
und verstummt in der Welt der Lebenden verharren erfahren.
muss, zeigt sich der Egoismus des zweiten Bruders in
vollem Ausmaß. Verzweiflung und unerfüllte Sehn-
sucht treiben ihn schließlich in den Selbstmord. 18.3.1 List des Todes: Ein tödlicher
Der jüngste Bruder wählt einen Umhang, mit Vertrag
dem er dem Tod zunächst ungesehen entkommen
kann. Da der Umhang unsichtbar macht, sucht der Zwei der Zaubererbrüder sind fasziniert von dem
Tod viele Jahre vergeblich nach dem dritten Bruder. Gedanken, den Tod überwinden zu können. Doch
Dieser misstraut dem Tod von Anfang an und sieht die Brüder kommen am Schluss zu der bitteren
die Konsequenzen seines Handelns voraus. Er weiß, Erkenntnis, dass die Geschenke des Todes keines-
der Tod ist unausweichlich. Seine Entscheidung wegs den Sieg über den Tod bescheren. Auch der
zeugt von Demut und Genügsamkeit, er wählt das Tarnumhang bedeutet nur einen Aufschub vom Ende
reine Leben und nichts darüber hinaus. Schließlich des Lebens. Doch ihr Wunsch nach Unsterblichkeit
übergibt er in hohem Alter den Tarnumhang seinem ist so stark, dass die älteren Brüder sich von den
Sohn: Sein Familiensinn und seine Fürsorge werden Geschenken, die ihnen dargeboten werden, blenden
dabei deutlich. Mit dem Tod ebenbürtig verlässt er lassen. Sie durchschauen ihn nicht – den tödlichen
letztlich dieses Leben. Vertrag, den sie eingegangen sind.
Der Tod wird in diesem Märchen personifiziert Die Konstellation der Beteiligten im Märchen
als Kapuzengestalt dargestellt. Seine Aufgabe ist, lässt sich durch die Prinzipal-Agent-Theorie
das Leben der Menschen zu beenden. Dies wird als (Alparslan 2006) näher beschreiben, eine Theorie,
Naturgesetz dargestellt, trotz Zauberei ist kein Ent- die sich mit der Gestaltung von Verträgen beschäf-
rinnen möglich. Als die Brüder den reißenden Fluss tigt. Dabei stellt der Prinzipal den Auftraggeber und
unbeschadet überqueren, fühlt sich der Tod um drei die Agenten die Beauftragten dar. Der Auftragge-
Seelen betrogen. Er kennt kein Erbarmen: Durch ber ist in diesem Fall der Tod, der bereitwillig und
136 Kapitel 18 · Das Märchen von den drei Brüdern von J. K. Rowling (2008)

scheinbar uneigennützig Geschenke verteilt. Die der Ideenwelt, Schopenhauer sieht den Tod als Strafe
Beauftragten sind die drei Brüder, die Beschenk- für unser Dasein an, und Nietzsche spricht von einer
ten. Sie müssen eine Entscheidung treffen, nämlich ewigen Wiederkunft. Bisher scheint das Weiterleben
welches Geschenk sie sich wünschen. Dabei liegt nach dem Tod weder beweisbar noch widerlegbar
eine asymmetrische Informationsverteilung vor: zu sein. Trotzdem versucht die Menschheit unauf-
Der Tod hat einen Wissensvorsprung, denn er weiß, hörlich, ein Mittel gegen den Tod zu finden. Auch
dass seine Geschenke tödlich enden werden. Obwohl die aktuellen wissenschaftlichen Bemühungen wie
der jüngste Bruder Zweifel hegt, kann er dennoch etwa die Stammzellenforschung oder das Klonen
nicht voraussagen, was seinen Geschwistern zusto- zeugen vom ewig währenden Wunsch der Menschen
ßen wird. Das Wohlergehen der Beschenkten hängt nach Unsterblichkeit. Doch was steckt hinter diesem
also vom Prinzipal, dem Tod, ab. Es kommt zu einem Wunsch?
Interessenskonflikt: Der Wunsch nach Unsterblich- Menschen haben eine Sehnsucht nach Kont-
keit trifft auf den Tod. Die verborgene Absicht des rolle. Wenn sie gewünschte Ereignisse herbeiführen
Todes wird von den älteren Brüdern nicht durch- und unerwünschte Ereignisse vermeiden können,
schaut und so besiegeln sie ihr eigenes Todesurteil. nehmen sie Kontrolle wahr. Dabei geht es weniger
Auf diese Weise kann es im Allgemeinen zum um die tatsächlichen Kontrollmöglichkeiten, als um
Scheitern von Verträgen und zu Prozessverlusten wahrgenommene Kontrolle. Die Theorie der kogni-
kommen: Verborgene Eigenschaften, Informatio- zierten Kontrolle (Frey u. Jonas 2002) besagt, dass
nen und Absichten und letztlich das Handeln im Ver- Menschen ein Bedürfnis haben, Dinge zu erklären,
borgenen können einer Vertragsbeziehung schaden. vorherzusehen und zu beeinflussen, um Kontrolle
Lösungsansätze können hier beispielsweise Kontrolle wahrzunehmen. Dieses Bedürfnis wird im Angesicht
oder Vertrauen sein. des Todes verletzt. Der Tod wird meist als unbeein-
flussbar und unvorhersehbar eingeschätzt. Menschen
z Fragen zur Reflexion suchen nach einer Erklärung, warum ein geliebter
44Mit wem wollen wir wirklich Verträge Mensch gestorben ist – war es das Alter, eine Krank-
schließen? heit oder die Strafe Gottes? Der eingetretene Tod
44Welche Absichten verfolgt unser Gegenüber bzw. das drohende Ableben wird als Kontrollverlust
und über welche Informationen verfügt er? wahrgenommen.
44Offenbaren wir unsere eigenen Absichten und Werden Menschen in ihrer Freiheit einge-
wann halten wir (wenn auch unabsichtlich) schränkt, kann es zu Widerstand (Reaktanz)
Informationen zurück? kommen (Brehm u. Brehm 1981). Dies ist ein
Zustand emotionaler Erregung, der Anstrengungen
Dies kann sowohl im beruflichen Kontext als auch motiviert, die ursprüngliche Freiheit oder Kontroll-
privat, z. B. bei Abmachungen unter Freunden, zu überzeugung wiederherzustellen. Jener emotionale
Problemen führen. Die Charaktere des Märchens Zustand mag Ursprung des Wunsches nach Unsterb-
zeigen, wie verborgene Absichten und das Zurück- lichkeit sein und die Bemühungen erklären, die
halten von Informationen schaden können. Menschen heute noch unternehmen, um ihr Leben
maximal zu verlängern.
Schließlich kann es bei Kontrollverlust auch zu
18.3.2 Kontrollverlust, Widerstand und Hilflosigkeit kommen. Statt aktiv Kontrolle wie-
Hilflosigkeit derherzustellen, wird im Rahmen der Theorie der
18 erlernten Hilflosigkeit (Seligman 1975) angenom-
Der Tod beschäftigt die Menschen schon immer. men, dass Menschen mit lähmender Hilflosigkeit
Viele Dichter und Denker sind der Frage nachge- reagieren, wenn ihnen Kontrolle entzogen wird. Dies
gangen, was das Sterben ist, warum es zwangsweise kann von verminderter Anstrengung bis hin zu völli-
unser Leben beendet und was nach dem Tod folgt. ger Passivität und depressiver Verstimmung führen.
Nach Platon ist der Tod ein Weiterleben der Seele in Wird Menschen auf kurze Zeit Kontrolle entzogen,
18.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
137 18
so dominiert der Widerstand. Längere Unbeeinfluss- zeichnen ein Bild vom Himmel, ein Leben nach
barkeit jedoch führt zum Erlöschen der Anstren- dem Tod, andere Religionen sprechen von Wie-
gungen und schließlich zu Passivität und erlernter dergeburt oder dem Weiterleben der Seele in einer
Hilflosigkeit. anderen Form. Diese Weltsicht pflanzt in uns die
Hoffnung auf Unsterblichkeit. Im Gegensatz zur
z Fragen zur Reflexion Vergänglichkeit unseres Körpers verbleibt die Seele
44Wie reagieren die drei Brüder im Märchen auf unberührt, ganz, unsterblich. Menschen erlan-
den Tod? gen so in einem wörtlichen Sinne Unsterblich-
44Wo treten Widerstände gegen den Tod auf und keit (Hoffnung auf ein ewiges Leben) oder schaf-
wann zeigt sich Kontrollverlust? fen sich eine symbolische Unsterblichkeit, indem
44Zeigt der dritte Bruder mit seiner Entscheidung sie ein kulturelles Erbe hinterlassen (das Lebens-
für den Tarnumhang Reaktanz oder werk, z. B. Kunst, Bücher, die wissenschaftliche
Hilflosigkeit? Arbeit). Wie Freud (1915, S. 1) es einmal aus-
drückte: „im Unbewußten sei jeder von uns von
seiner Unsterblichkeit überzeugt.“ Dies vermittelt
18.3.3 Angst vor dem Tod uns ein Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit.
Verzweifelte Menschen wenden sich häufig einer
Diese Hilflosigkeit im Angesicht des Todes ruft bei höheren Macht zu, beten und erhoffen sich Bei-
vielen Menschen Angst hervor. Die älteren Brüder stand. Das Glaubenssystem, in dem wir verankert
empfinden deutlich Angst vor dem Tod und wollen sind, bietet uns Schutz und kann die Angst vor dem
ihn durch einen Zauberstab und einen verzauber- Tod reduzieren.
ten Stein überlisten. Der jüngste Bruder dagegen Zudem vermitteln uns die Gebräuche, Normen
scheint keine Angst vor dem Tod zu empfinden und und Werte unseres kulturellen Glaubenssystems
beendet sein Leben am Ende durch das selbstbe- eine Anleitung, wie ein gutes und wertvolles Leben
stimmte Ablegen des Tarnumhangs. Wann empfin- geführt werden kann. Folgen wir diesen Regeln, so
den Menschen Angst vor dem Tod und wann nicht? können wir ein sinnerfülltes Leben erleben. Wir
Die Terror-Management-Theorie (Greenberg erleben uns selbst in einem positiven Licht. Dieses
et al. 1997) befasst sich eingehend mit der mensch- Streben nach einem positiven Selbstbild wird in der
lichen Todesangst und den Bewältigungsstrategien, Psychologie als eine grundlegende Motivation des
die Menschen zeigen, um diese zu überwinden. Men- Menschen verstanden (Dauenheimer et al. 2002).
schen sind sich durch ihre Selbstwahrnehmung und Eine weitere Grundannahme der Terror-Ma-
ihren Selbsterhaltungstrieb ihrer eigenen Sterblich- nagement-Theorie besagt, dass ein hohes Selbst-
keit bewusst. Wir können uns vorstellen, dass wir wertgefühl als weitere Schutzfunktion gegen exis-
einmal sterben werden. Diese psychische Vergegen- tenzielle Ängste wirkt. Zahlreiche Studien konnten
wärtigung der Endlichkeit des Lebens, die man auch dabei interessante Zusammenhänge offenbaren
Mortalitätssalienz nennt, kann einen intensiven (Solomon et al. 2004): Ein hohes Selbstwertgefühl
Angstzustand („terror“) hervorrufen. Diese Todes- führt zu einem geringeren Angstzustand, wenn Men-
angst mögen auch die Brüder aus dem Märchen emp- schen an ihre eigene Sterblichkeit erinnert werden.
funden haben, da sie einen zutiefst menschlichen Umgekehrt führt eine hohe Mortalitätssalienz zu ver-
Zug darstellt. stärkten Bemühungen, die eigene Selbstachtung zu
Um diese Angst bewältigen zu können, orien- stärken. Das Streben nach einem positiven Selbst-
tieren sich Menschen an ihrer kulturellen Weltan- bild reduziert also die Angst vor dem Tod und kann
schauung. Sie dient ihnen als Angstpuffer: Sitten auch zukünftig Gedanken an den Tod aus dem Kopf
und Gebräuche, Normen und Werte, genauso verbannen.
wie eine religiöse Gemeinschaft geben Orientie- Dies zeigt sich auch eindrucksvoll im Märchen
rung und Halt im Hier und Jetzt, aber auch über der drei Brüder: Der erste Bruder ist von Macht-
die eigene Lebenszeit hinaus. Viele Religionen gier und Potenzgefühlen getrieben. Er möchte alle
138 Kapitel 18 · Das Märchen von den drei Brüdern von J. K. Rowling (2008)

übertrumpfen, um sich selbst in einem positiven Der Mensch ist zu häufig von seinen Wünschen oder
Licht sehen zu können. Die Prahlerei im Wirtshaus Ängsten getrieben, sodass er jegliche Moral fallen
bestätigt die Annahme, dass der Bruder sein Selbst- lässt.
wertgefühl stärken will. Aber auch der zweite Bruder
möchte im Vergleich mit dem Tod positiv abschnei-
den: Er demütigt den Tod, um als Sieger hervor- Implikationen für die Lebensgestaltung,
zugehen. Mit einem geringen Selbstwert gehen die Führung und Erziehung
Existenzängste der zwei Brüder einher, die sich im Im Alltag empfiehlt es sich, das Hamsterrad anzuhal-
Wunsch nach Unsterblichkeit äußern. Der dritte ten und sich zu fragen: Was mache ich hier eigent-
Bruder ruht in sich selbst – sein Selbstwert schützt lich? Versuche ich gerade über Leichen zu gehen, um
ihn vor Todesängsten und so lebt er ein erfülltes mein Ziel zu erreichen? Zu welchem Zweck setze ich
Leben ohne lähmende Angst vor dem Tod. die Macht ein, die mir übertragen wurde? Durchat-
men und Reflektieren wird gerade im Berufsalltag
z Fragen zur Reflexion vernachlässigt. Außerdem können wir uns fragen,
44Was lernen Sie aus dem Verhalten des dritten wo wir egoistische Gedanken verbannen und Demü-
Bruders? tigungen vermeiden können.
44Haben Sie manchmal Angst vor dem Tod? Als Führungskraft sollte solch antisoziales
44Arbeiten Sie an einem Lebenswerk, das über Denken und Verhalten reflektiert und durch Respekt
Ihren Tod hinaus bestehen wird? und Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitern
44Gauben Sie an die Unversehrtheit der Seele ersetzt werden. Ein Perspektivenwechsel und offene
nach dem Tod? Aussprachen sind hier der richtige Weg.
44Wie denken Sie, kann man Kindern den Tod Auch in der Erziehung ist darauf zu achten, anti-
am besten erklären? soziales Verhalten rechtzeitig zu erkennen und zu
korrigieren. Der dritte Bruder ist uns in diesem
Märchen nicht nur ein Vorbild für Voraussicht und
18.3.4 Antisoziales Denken und Genügsamkeit, sondern auch für Fürsorge und
Verhalten Empathie. Indem er den Umhang an seinen Sohn
weitergibt, ermöglicht er ihm ein angenehmes und
Der Wunsch nach Unsterblichkeit offenbart in den langes Leben über seinen eigenen Tod hinaus. Wir
älteren Brüdern die dunkelsten Seiten des Men- können unseren Kindern mitgeben, sich nicht nur
schen. Machtgier, Arroganz, Narzissmus und Egois- um sich selbst, sondern auch um andere zu sorgen –
mus werden wie in vielen anderen Märchen vergol- so wie es der dritte Bruder tat.
ten. Antisoziales Verhalten, z. B. die Mordlust des
ersten oder die Demütigungen durch den zweiten
Bruder, umfasst eine Vielzahl an Verhaltensweisen, 18.4 Fazit
die einen inakzeptablen Bruch sozialer Normen dar-
stellen und in der Regel bestraft werden (Petermann Wie sollte man also mit dem Tod umgehen? Das
u. Scheithauer 1998). Oft zeigen diese Handlungen Märchen von den drei Brüdern lehrt uns, dass jeg-
auch aggressive Züge. Sie werden in der Absicht aus- liche menschliche Anstrengung, dem Tod zu ent-
geführt, einem anderen Menschen mutwillig und rinnen, zwangsläufig enttäuscht wird. Überdies
gegen dessen Willen zu schaden. offenbart diese Besessenheit vom ewigen Leben die
18 Rowling regt uns an, solch antisoziales Verhal- hässlichsten Züge des Menschen wie etwa Machtgier,
ten zu reflektieren. Arroganz oder Narzissmus. Das Leben ist zu kurz,
um es mit solch negativen Gedanken zu füllen. Man
z Fragen zur Reflexion sollte sich seiner Endlichkeit bewusst sein und den
44Wo sind wir auf Macht aus? Tod akzeptieren. Die Angst vor dem Tod nützt uns
44Wann verfolgen wir ein bestimmtes Ziel mit nichts. Sie ist ein zutiefst menschlicher Zug, jedoch
allen Mitteln? hält sie uns davon ab, das Glück in dieser Welt zu
Literaturverzeichnis
139 18
sehen. Diese Weisheit des dritten Bruders ist uns
ein Vorbild für ein sinnerfülltes, bejahendes Leben.
Carpe diem – Nutze den Tag.

Literaturverzeichnis

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Eine Reformulierung der Hidden-Action-Modelle aus der
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and research. In: J. Greenberg, S. Koole, & T. Pyszczynski
(Ed.), Handbook of experimental existential psychology
(pp. 13–34). New York: Guilford Press.
141 19

Der Fischer und der Dschinn


aus Tausendundeiner Nacht
Angelika Stefan

19.1 Inhalt des Märchens – 142

19.2 Die Charaktere – 142

19.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige


Zeit – 143
19.3.1 Selbstregulationsfähigkeit und Selbstkontrolle – 143
19.3.2 Soziale Exkludierung – 144
19.3.3 Selbstdarstellung und Beurteilung durch andere – 146
19.3.4 Analyse der dyadischen Interaktion zwischen dem Fischer und
Dschinn – 146

19.4 Fazit – 147

Literaturverzeichnis – 147

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_19
142 Kapitel 19 · Der Fischer und der Dschinn aus Tausendundeiner Nacht

19.1 Inhalt des Märchens der Fischer ihn überlistet hatte, sprach er: „Guter
Fischer, lass mich heraus, ich habe doch nur meinen
Es war einmal ein Fischer, der war alt und müde und Scherz mit dir getrieben.“ Der Fischer kam diesem
hatte schon lange kein Glück mehr beim Fischen Wunsch nach, ließ den Dschinn aber erst einen Eid
gehabt. Eines Tages, nachdem er wieder einmal schwören, dass er ihm kein Leid zufügen dürfe. Als
erfolglos seine Netze ausgeworfen hatte, wollte er die Flasche geöffnet war, zertrat der Dschinn sie mit
gerade schon nach Hause gehen, als er merkte, dass den Füßen und flog gen Himmel, immer weiter fort
sich etwas in seinem Netz verfangen hatte. Er holte vom Fischer. Seine Stimme wurde immer leiser und
das Netz an Land, doch darin lag kein Fisch, sondern man hörte ihn rufen: „Gott steh dir bei, guter Fischer.
ein toter Esel. Als der Fischer dies sah, war er sehr Und vergiss nicht, deinen Fang mitzunehmen!“
betrübt, doch er warf sein Netz erneut aus. Wieder Da blickte der Fischer erstaunt um sich und sah,
verfing sich etwas in dem Netz, doch auch diesmal dass der tote Esel lebendig geworden und der irdene
war es kein Fisch, sondern ein großer irdener Topf Topf mit Gold gefüllt war. Und der Unrat war zu
voll Sand. Also warf er sein Netz ein drittes Mal aus. einem Haufen glitzernder Edelsteine geworden.
Diesmal war das Netz, das er aus dem Fluss hervor- (Deutsche Welle 2010; . Abb. 19.1)
zog, voll mit Unrat. Schließlich warf er das Netz ein
viertes und letztes Mal aus und zog eine Flasche aus
Messing aus dem Netz. Als er die Flasche öffnete, 19.2 Die Charaktere
stieg Rauch aus der Flasche empor, der sich verdich-
tete und die Gestalt eines Dschinns offenbarte. Die Märchen aus Tausendundeiner Nacht haben
Der Dschinn sprach: „Ich bringe dir die Nach- für die meisten Menschen aus dem abendländi-
richt, dass du sogleich getötet werden sollst. Wisse, schen Kulturkreis ein gewisses exotisches Flair. Da
alter Mann, ich bin ein abtrünniger Dämon, der tummeln sich Sultane, Wesire und Dämonen, es
König Salomo ungehorsam war. Deshalb sperrte er toben Sandstürme und ferne Wüstenkönigreiche
mich in diese Flasche und befahl, mich im Wasser werden erobert.
zu versenken. Zweihundert Jahre blieb ich darin und Auch in dem Märchen, um das es hier gehen soll,
beschloss, den reich zu machen, der mich befreien tritt ein Charakter auf, der in europäischen Märchen
würde. Aber niemand kam. Zweihundert weitere keinen Platz hat: der Dschinn. In der arabischen
Jahre vergingen und dann noch einmal zweihun- Kultur ist der Dschinn als intelligentes gottgeschaf-
dert. Da beschloss ich, meinen Befreier zum Sultan fenes Geisterwesen bekannt, das weder Mensch noch
zu machen, sein Diener zu werden und ihm täglich Engel ist. Anders als man von Dämonen vermuten
drei Wünsche zu erfüllen. Aber niemand kam. Da könnte, sind Dschinn nicht eindeutig gut oder böse.
wurde ich böse und beschloss, den zu töten, der mich Im Märchen „Der Fischer und der Dschinn“ behaup-
befreien würde, ihn aber selbst wählen zu lassen, wie tet der Dschinn von sich, ein „abtrünniger Dämon“
er sterben will. Nun, alter Mann, sage mir, wie du zu sein, der König Salomo ungehorsam war. Er spielt
sterben willst!“ damit auf die 27. Sure des Koran an, die die Begeg-
Der Fischer sprach: „Du sagst, ich habe dich aus nung zwischen Salomo und der Königin von Saba
der Flasche befreit. Das kann aber nicht sein. Du schildert. Darin werden die Dschinn als Teil der
passt niemals in diese kleine Flasche!“ Da wurde Armee des berühmten Königs genannt. Nach dem
der Dschinn wütend: „Wie wagst du es zu behaup- 600 Jahre andauernden Exil in der Flasche ist sein
ten, ICH würde lügen? Ich werde dir zeigen, dass Denken von Wut beherrscht und er ist entschlossen,
ich in die Flasche passe!“ Da zog sich der Dschinn seinen Befreier unmittelbar zu töten. Allerdings
zusammen und sank nach und nach wieder zurück erzählt er dem Fischer zuvor seine Geschichte und
19 in die Flasche, bis er ganz darin verschwunden war.
So schrie er aus der Flasche heraus: „Siehst du nun?
lässt sich im weiteren Verlauf der Geschichte von ihm
austricksen.
Bereite dich auf den Tod vor!“ Der schon seit Längerem glücklose Fischer stößt
Schnell nahm der Fischer den Deckel der Flasche durch Zufall auf die Flasche mit dem Dschinn und
und verschloss sie fest. Als der Dschinn merkte, dass befreit diesen. Es gelingt ihm mit einer List, den
19.3 · Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
143 19
. Abb. 19.1  (Zeichnung: Claudia
Styrsky)

Dschinn davon abzuhalten, ihn zu töten. Allerdings aktuelle individuelle Situation der Beteiligten zu
lässt er Milde walten und entlässt den Dschinn aus berücksichtigen.
der Flasche, nachdem dieser den Eid schwört, ihn Im Folgenden werden psychologische Phäno-
nicht zu töten. Dafür wird er reich belohnt. mene aufgezeigt, die der dyadischen Interaktion des
Eine vertiefende Schilderung der beiden Charak- Fischers und Dschinns zugrunde liegen.
tere erfolgt zur Vorstellung der psychologischen Phä-
nomene, da ihre Charakterzüge insbesondere in der
Interaktion zwischen dem Fischer und Dschinn zum 19.3.1 Selbstregulationsfähigkeit und
Tragen kommen, die im Mittelpunkt der folgenden Selbstkontrolle
Ausführungen steht.
Eine fundamentale Dimension, auf der sich Fischer
und Dschinn unterscheiden, ist die der Selbstregu-
19.3 Psychologische Phänomene und lationsfähigkeit. Reinecker (2014, S. 1401) definiert
Bedeutung für die heutige Zeit Selbstregulation als „die Tatsache, dass Menschen in
der Lage sind, eigenes Verhalten im Hinblick auf selbst
Die Tatsache, dass der Dschinn so genau charakteri- gesetzte Ziele zu steuern“. Der geläufigere Begriff der
siert wird, zeigt, dass er in diesem Märchen als gleich- Selbstkontrolle bezeichnet eine Facette der Selbstre-
berechtigtes Gegenüber des zweiten Protagonisten, gulation. Menschen üben Selbstkontrolle aus, wenn
des Fischers, fungiert. Die Sozialpsychologie spricht sie kurzfristig auf positive Erfahrungen verzichten,
bei einer Situation wie dieser, in der zwei Personen um ein langfristiges bedeutsameres Ziel zu erreichen.
miteinander in Kontakt treten und sich gegenseitig Der arbeitsame Fischer ist ein Musterbeispiel
beeinflussen, von einer dyadischen Interaktion (Frey an Selbstregulationsfähigkeit. Obwohl er schon seit
u. Bierhoff 2011b). Langem kein Glück mehr beim Fischen hatte, wirft
Typische dyadische Interaktionen können z. B. er jeden Tag aufs Neue seine Netze aus, um sich
in Eltern-Kind-Beziehungen oder Führungskraft- und seine Familie ernähren zu können. Er könnte
Angestellten-Beziehungen beobachtet werden. verzweifelt aufgeben, überwindet sich aber immer
Um dyadische Interaktionen zu verstehen, ist es wieder und fährt auf den Fluss hinaus, um mit viel
erforderlich, die Persönlichkeitseigenschaften und Mühe seinen kleinen Fang zusammenzutragen.
144 Kapitel 19 · Der Fischer und der Dschinn aus Tausendundeiner Nacht

Der Dschinn wird im Märchen im Gegensatz zum Vorsorgeuntersuchungen. Niemand geht gerne zu
Fischer als ungeduldig und impulsiv gekennzeichnet. Vorsorgeuntersuchungen, trotzdem unterziehen
Auch er steht vor einer frustrierenden Aufgabe: Er sich viele Menschen der teils unangenehmen Proze-
möchte aus der Flasche entfliehen, in die ihn König dur. Diese Menschen ertragen kurzfristige negative
Salomo gesperrt hatte. Nachdem seine anfänglichen Erfahrungen zugunsten eines höheren Ziels (lang-
Versuche zu entkommen scheitern, ist es mit seiner fristige Gesundheit) und üben damit Selbstkontrolle
Selbstkontrolle dahin. Er wird wütend und beschließt aus. Dasselbe Schema lässt sich beim Rauchen erken-
aus dieser Laune heraus, den ersten Menschen, der nen. Raucher ziehen das kurzfristige Vergnügen
ihm begegnet, zu töten. Kaum hat der Fischer ihn einer Zigarette der langfristigen Aufrechterhaltung
aus seiner Flasche befreit, verliert er dieses Ziel aus der eigenen Gesundheit vor und zeigen so eine ver-
den Augen und versucht stattdessen, dem Fischer minderte Fähigkeit zur Selbstregulation. Menschen,
sein Können zu demonstrieren. Der Fischer, der um die mit dem Rauchen aufhören wollen, müssen hin-
die Wankelmütigkeit des Dschinns weiß, lässt ihn gegen ein hohes Maß an Selbstregulation aufwen-
einen Eid schwören, der nicht nur den Fischer selbst den, um der kurzfristigen Versuchung zugunsten der
schützt, sondern auch den Dämon zur Selbstregula- langfristigen Gesundheit zu widerstehen.
tion zwingt – er kann seinen Befreier nicht in einem
erneuten Anfall von Wut doch noch umbringen.
Das Ende der Geschichte zeigt, dass Selbstregu- Ego-Depletion
lationsfähigkeit eine hohe Bedeutung zugeschrie- Obwohl die erwähnten Beispiele den Eindruck erwe-
ben und als Tugend interpretiert wird. Nachdem der cken können, ist es nicht so, dass Selbstkontrolle
Dämon zur Selbstregulation gezwungen wurde, ist er angeboren und unabhängig von der aktuellen Situ-
nun endlich fähig, sein Gefängnis zu zerstören und ation ist. Forscher haben herausgefunden, dass sie
dankt dies dem Fischer mit kostbaren Geschenken. eher einer Ressource gleicht, die erschöpft werden
kann. Das heißt, jeder Akt der Selbstkontrolle führt
dazu, dass im Folgenden weniger Selbstkontrolle
Nutzen von Selbstregulation aufgebracht werden kann. Dieses Phänomen wird
Auch in der Psychologie betrachtet man die Fähigkeit auch als Ego-Depletion bezeichnet (Frey u. Bierhoff
zur Selbstregulation als erstrebenswerte Eigenschaft. 2011a). Vermutlich hat jeder schon die Erfahrung
Erste Erkenntnisse zum Nutzen einer guten Selbst- gemacht, dass besonders nach einer stressigen Situ-
regulationsfähigkeit lieferten die bekannten Marsh- ation ein Stückchen Schokolade oder eine Zigarette
mallow-Experimente. Darin hatten Kinder die Wahl eine besondere Anziehungskraft ausüben. In diesem
zwischen einer kleinen Belohnung, die sie sofort Moment der Ego-Depletion fällt die Selbstkontrolle
erhalten konnten (z. B. ein Marshmallow), und einer besonders schwer.
größeren Belohnung (z. B. zwei Marshmallows), die Im nächsten Abschnitt geht es um eine weitere
sie erhalten würden, wenn sie es schaffen, für kurze Bedingung, unter der Menschen vorübergehend ver-
Zeit auf die Belohnung zu warten. Nachfolgestudien minderte Selbstregulationsfähigkeit zeigen: soziale
zeigten, dass die Kinder, die im früheren Experiment Exkludierung. Doch soziale Exkludierung beein-
mehr Selbstkontrolle gezeigt hatten – es also geschafft flusst nicht nur die Selbstkontrolle, sondern wirkt
hatten, auf die größere Belohnung zu warten –, im sich viel umfassender auf das Verhalten aus – ein wei-
Jugendalter bessere schulische Leistungen erzielten terer Ansatzpunkt, um das Verhalten von Dschinn
und besser mit Stress umgehen konnten. Daraus lässt und Fischer zu verstehen.
sich schlussfolgern, dass die Fähigkeit zur Selbstre-
gulation nicht nur gesellschaftliches Vorankommen,
19.3.2 Soziale Exkludierung
19 sondern auch die Gesundheit fördert (Shoda et al.
1990).
Gerade im Gesundheitsbereich lassen sich Dreimal zweihundert Jahre – so viel Zeit verbringt
viele Alltagsbeispiele finden, in denen Selbstre- der Dschinn alleine in einer Flasche auf dem Grund
gulation eine wichtige Rolle spielt. Denken Sie an des Flusses, ohne Kontakt zur Außenwelt, ohne die
19.3 · Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
145 19
Möglichkeit, mit einem anderen intelligenten Wesen bezeichnet. Andererseits sind ausgeschlossene Per-
zu kommunizieren. König Salomo wusste offenbar, sonen weniger bereit, anderen Menschen zu helfen
was eine schlimme Strafe ist. und reagieren aggressiver gegenüber anderen Perso-
nen – nicht nur gegenüber den Tätern, sondern auch
gegenüber Unbeteiligten (Twenge et al. 2001, 2007).
Gruppenzugehörigkeit und Ausschluss Dieses Verhalten wird auch als antisoziale Verhal-
aus der Gruppe tenstendenz bezeichnet.
Für Menschen ist die Zugehörigkeit zu sozialen Im Märchen zeigt der Dschinn, der durch die
Gruppen ein fundamentales Bedürfnis. Psychologen Verbannung in die Flasche jahrhundertelang sozial
sprechen hier vom Zugehörigkeitsbedürfnis („need exkludiert war, klar eine antisoziale Verhaltensten-
to belong“ ; Baumeister u. Leary 1995). Keinen denz. Obwohl der Fischer nichts mit der auferlegten
Kontakt zu sozialen Gruppen zu haben oder aktiv Strafe zu tun hatte, beschließt er, ihn zu töten.
aus sozialen Gruppen ausgeschlossen zu werden, Auch im realen Leben kann aggressives Verhal-
stellt daher für Menschen eine extrem unangenehme ten als Folge von sozialer Exkludierung beobachtet
Erfahrung dar. werden. Nicht selten wehren sich Kinder gegen einen
Wissenschaftlich wird der Ausschluss einzel- auferlegten Hausarrest mit wüsten Beschimpfungen,
ner Personen aus Gruppen auch als soziale Exklu- und auch Mobbingopfer verhalten sich oft als Folge
dierung bezeichnet. Aktuelle Forschung konnte ihrer andauernden massiven sozialen Exklusion
zeigen, dass sich soziale Exkludierung nicht nur auf aggressiv (gegen andere und sich selbst).
emotionaler, sondern auch auf körperlicher Ebene
negativ auswirkt. Dabei ist besonders interessant,
dass das Erleben sozialer Exkludierung Hirnareale Bedürfnistheorie der sozialen
aktiviert, die mit Schmerzempfinden in Verbindung Exkludierung
gebracht werden (Eisenberger et al. 2003). Wir emp- Die Frage ist, unter welchen Bedingungen eher eine
finden sozialen Ausschluss also ähnlich wie physi- prosoziale und wann eher eine antisoziale Verhal-
schen Schmerz. tenstendenz als Folge sozialer Exkludierung auf-
Umso verständlicher ist es, dass seit der Antike tritt. Nach der Bedürfnistheorie der sozialen Exklu-
soziale Exkludierung als Mittel der Bestrafung ein- dierung wird aggressives Verhalten dann gezeigt,
gesetzt wird. Ungeliebte Politiker werden ins Exil wenn durch die soziale Exkludierung das Bedürfnis
geschickt, Straftäter in Gefängnisse gesteckt und nach Kontrolle verletzt wird. Steht bei der sozialen
Isolationshaft als Foltermethode verwendet. Auch Exkludierung hingegen die Deprivation des Bedürf-
Eltern bestrafen ihre Kinder gerne einmal mit Haus- nisses nach Zugehörigkeit im Mittelpunkt, reagieren
arrest – dieser würde ohne das Zugehörigkeitsbe- Menschen eher prosozial. Werden beide Bedürfnisse
dürfnis kaum als Strafe empfunden werden. verletzt, wird in der Regel der antisozialen Hand-
lungstendenz stattgegeben (Gerber u. Wheeler 2009).
Die Bedürfnistheorie der sozialen Exkludierung
Reaktionen auf soziale lässt sich gut am Beispiel des Dschinns nachvollzie-
Exkludierung: pro- und antisoziale hen. Durch die Verbannung in die Flasche wurde
Verhaltenstendenzen ihm nicht nur jeglicher soziale Kontakt, sondern
Die wenigsten Menschen nehmen sozialen Aus- auch jegliche Kontrolle entzogen. Besonders deut-
schluss einfach hin, sondern reagieren fast immer lich wird dies dadurch, dass er nicht einmal über
mit Verhaltensänderungen. Zwei grundsätzliche seinen eigenen Körper bestimmen durfte, indem er
Tendenzen sind hier erkennbar. Einerseits zeigen dauerhaft gezwungen war, eine Gestalt anzunehmen,
Menschen, nachdem sie sozial exkludiert wurden, die in eine kleine Flasche passt. Es war somit abzu-
ein gesteigertes Interesse an sozialen Bindungen sehen, dass er nach 600 Jahren in einer aggressiven
und gehen eher auf die Wünsche von anderen ein Stimmung ist.
(Maner et al. 2007; Williams et al. 2000). Dieses Ver- Die Bedürfnistheorie der sozialen Exkludierung
halten wird auch als prosoziale Verhaltenstendenz hat interessante gesellschaftliche Konsequenzen.
146 Kapitel 19 · Der Fischer und der Dschinn aus Tausendundeiner Nacht

Wie bereits angemerkt wurde, tendieren Gesell- nicht als grober Schläger wahrgenommen werden.
schaften dazu, Personen, die von gesellschaftlichen Deshalb erklärt er sich und seine Motivation, bevor
Normen abweichen, durch soziale Exkludierung zu er zur Tat schreitet.
bestrafen. Im Fokus steht dabei, prosoziale Verhal-
tenstendenzen hervorzurufen: bei Straftätern erhöhte
Konformität mit dem Gesetz, bei politischen Häftlin- Fundamentaler Attributionsfehler
gen ein Einlenken in die Gesinnung der Majorität. Eine komplementäre Erklärung für das Verhalten des
Wird den Häftlingen aber gleichzeitig mit dem sozia- Dschinns lässt sich in der Hypothese des fundamen-
len Kontakt auch das Gefühl von Kontrolle entzogen, talen Attributionsfehlers finden. Diese beschreibt die
sagt die Bedürfnistheorie voraus, dass nicht prosozia- menschliche Tendenz, aus dem Verhalten anderer
les, sondern aggressives Verhalten die Folge ist. Dies Personen auf stabile Persönlichkeitseigenschaften
könnte sich bei Straftätern z. B. durch erneute Straf- zu schließen, während das eigene Verhalten stärker
fälligkeit und bei politischen Gefangenen durch eine situational erklärt wird (Ross 1977).
Radikalisierung äußern. Dies gilt es, zu vermeiden. Nehmen Sie an, Sie lesen den Satz: „Herr Meier
In aktuellen Debatten zur Gestaltung von Haft- hat gelogen.“ Was denken Sie über Herrn Meier?
bedingungen fließt dieser Gesichtspunkt zunehmend Vermutlich misstrauen Sie seiner Glaubwürdig-
mit ein, was sich u. a. in der Forderung nach humanen keit. Nun Hand aufs Herz – haben Sie selbst noch
Haftbedingungen und einer Schließung von Folter- nie gelogen? Vermutlich doch. Misstrauen Sie des-
gefängnissen wie Guantánamo niederschlägt. wegen Ihrer eigenen Glaubwürdigkeit? Vermutlich
nicht. Die Lüge damals war bestimmt eine Notlüge,
in der entsprechenden Situation konnten Sie fast gar
19.3.3 Selbstdarstellung und nicht anders handeln. Während Sie Herrn Meiers
Beurteilung durch andere Verhalten als Ausdruck seines Charakters interpre-
tieren, erklären Sie Ihr eigenes Verhalten interagie-
Die Frage ist, warum der Dämon dem Fischer an rend mit der umgebenden Situation. Per se ist das
dieser Stelle überhaupt seine Geschichte erzählt. nichts Schlimmes und überaus verständlich. Schließ-
Schließlich könnte er ihn auch umbringen, ohne dass lich wissen Sie über den Kontext, in dem Sie gehan-
dieser seine Vergangenheit kennt. Eine Antwort auf delt haben, deutlich mehr als über die Hintergründe
diese Frage liefern zwei sozialpsychologische Phäno- des Verhaltens einer anderen Person. Problematisch
mene: Impression-Management und der fundamen- wird der Attributionsfehler, wenn er stigmatisierend
tale Attributionsfehler. wirkt – wenn Sie beispielsweise beginnen würden,
über Herrn Meier zu lästern.
Was hat das alles mit dem Fischer und dem
Impression-Management-Hypothese Dschinn zu tun? Angenommen, der Dschinn wusste
Die Impression-Management-Hypothese nimmt über die Existenz des fundamentalen Attributions-
an, dass jeder Mensch das Bedürfnis hat, sich gegen- fehlers Bescheid, dann hat er vielleicht dem Fischer
über anderen Menschen möglichst gut darzustel- seine Geschichte erzählt, um genau diesem Beurtei-
len. Dieses Bedürfnis drückt sich dadurch aus, dass lungsfehler entgegenzuwirken. Schließlich möchte er
Menschen Anstrengungen jeglicher Art betreiben, ja nicht aufgrund der einmaligen aggressiven Reak-
um das Bild, das andere Personen von ihnen haben, tion als böser Unhold wahrgenommen werden.
entsprechend der eigenen Wünsche zu formen (Frey
u. Bierhoff 2011a).
Ein Alltagsbeispiel: Bevor sie Besuch bekom- 19.3.4 Analyse der dyadischen
Interaktion zwischen dem
19 men, putzen die meisten Menschen ihre Wohnung.
Gegenüber dem Besuch wollen sie schließlich mög- Fischer und Dschinn
lichst sauber und ordentlich erscheinen (unabhängig
davon, ob sie es tatsächlich sind). Ein typischer Fall Im Verlauf des Märchens hört sich der Fischer mehr
von Impression-Management. Zurück zum Dschinn: oder weniger ruhig die Geschichte des Dämons
Dieser will als intelligentes, emotionales Wesen und an – Hut ab vor diesem Akt von Selbstkontrolle!
Literaturverzeichnis
147 19
Schließlich überlistet er den Dschinn, wieder in die 44Wann haben Sie selbst versucht, bei jemandem
Flasche zurückzukehren. Dass der Dschinn auf die einen besonders guten Eindruck zu erwecken?
Herausforderung eingeht, kann wieder als Impres- 44Wann haben Sie schlecht über andere gedacht,
sion-Management erklärt werden – und als Akt feh- ohne die genauen Hintergründe ihres Handelns
lender Selbstregulation, schließlich verliert er dabei zu kennen?
sein eigentliches Ziel aus den Augen. Der Fischer
macht sich daraufhin wieder ein Bedürfnis des Die Interaktion zwischen Fischer und Dschinn lehrt
Dschinns, nämlich dessen Zugehörigkeitsbedürf- uns mehr über unser eigenes Handeln als beim ersten
nis, zunutze. Um wieder die Freiheit und damit die Blick auf das Märchen klar wird. Vielleicht ist dies ein
Möglichkeit zu sozialem Kontakt zu erlangen, ist der Grund dafür, dass es die Jahrhunderte überdauert hat
Dschinn bereit, auf den Handel des Fischers einzu- und auch noch heutzutage weltweit rezipiert wird.
gehen und ihm entgegen des ursprünglichen Planes
keinen Schaden zuzufügen.
Schließlich beschenkt der Dschinn den Fischer Literaturverzeichnis
mit kostbaren Schätzen. Einerseits kann dies als
Baumeister, R. F., & Leary, M. R. (1995). The need to belong:
Belohnung für die Selbstkontrolle des Fischers Desire for interpersonal attachments as a fundamental
angesehen werden. Unterstützt wird diese Sicht- human motivation. Psychological Bulletin 117, 497–529.
weise dadurch, dass genau die Gegenstände in Deutsche Welle. (2010). Märchen aus aller Welt: Die Geschichte
Schätze verwandelt werden, die der Fischer mit vom Fischer und dem Dschinn. Ein arabisches Märchen –
Mühe als Unrat aus dem Fluss gezogen hat. Ande- ausgesucht von Khalid El Kaoutit. Aus einem Beitrag
vom 05. Oktober 2010. http://www.dw.com/downloads/
rerseits kann das Handeln des Dschinns auch als 27010967/14maerchenpdfwebarabisch.pdf. Zugegriffen:
letzter Akt von Impression-Management inter- 24. November 2016.
pretiert werden. Da der Fischer entgegen des Eisenberger, N. I., Lieberman, M. D., & Williams, K. D. (2003).
ursprünglichen Planes überlebt hat, soll er wenigs- Does rejection hurt? An fMRI study of social exclusion.
tens kein schlechtes Bild über den Dämon in der Science 302, 290–292.
Frey, D., & Bierhoff, H.-W. (Hrsg.). (2011a). Sozialpsychologie –
Welt verbreiten. Individuum und soziale Welt. Göttingen: Hogrefe.
Frey, D., & Bierhoff, H.-W. (Hrsg.). (2011b). Sozialpsychologie –
Interaktion und Gruppe. Göttingen: Hogrefe.
19.4 Fazit Gerber, J., & Wheeler, L. (2009). On being rejected: A meta-ana-
lysis of experimental research on rejection. Perspectives
on Psychological Science 4, 468–488.
Betrachtet man das Märchen vom Fischer und dem Maner, J. K., DeWall, C. N., Baumeister, R. F., & Schaller, M.
Dämon aus psychologischer Perspektive, wirkt es (2007). Does social exclusion motivate interpersonal
auf einmal gar nicht mehr so exotisch. Vielmehr reconnection? Resolving the “porcupine problem”. Jour-
entdecken wir selbst in unserem Bekanntenkreis auf nal of Personality and Social Psychology 92, 42–55.
Reinecker, H. (2014). Selbstregulation. In: M. A. Wirtz (Hrsg.),
einmal viele Fischer und Dämonen:
Dorsch: Lexikon der Psychologie (17. Aufl.). Bern: Huber.
44Kennen Sie auch Menschen, die wie der Dämon
häufig ihre langfristigen Ziele zugunsten einer
kurzfristigen Bedürfnisbefriedigung aus den
Augen verlieren?
44Haben Sie schon einmal erlebt, wie jemand, der
lange ausgeschlossen wurde, ungeduldig und
aggressiv wurde?
44Kennen Sie Menschen, die wie der Fischer
ausgezeichnet in der Lage sind, andere
Menschen bei ihren Bedürfnissen und
Schwächen zu packen und dadurch zu
manipulieren?
149 20

Der Wolf und die sieben


jungen Geißlein von den
Gebrüdern Grimm (1819)
Lorea Urquiaga

20.1 Inhalt des Märchens – 150

20.2 Die Charaktere – 150

20.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung


für die heutige Zeit – 151
20.3.1 Rollenkonflikt – 151
20.3.2 Naivität und blindes Vertrauen – 152
20.3.3 Gruppenentscheidungen – 153

20.4 Fazit – 153

Literaturverzeichnis – 154

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_20
150 Kapitel 20 · Der Wolf und die sieben jungen Geißlein von den Gebrüdern Grimm (1819)

20.1 Inhalt des Märchens und zappelte. Da holte sie Schere, Nadel und Zwirn
und schnitt dem Wolf den Bauch auf, um ihre Kinder
Es war einmal eine alte Geiß, die hatte sieben junge wieder zu befreien. Dann stopften sie gemeinsam den
Geißlein. Sie hatte sie so lieb, wie eben eine Mutter Wolfsbauch mit Ziegelsteinen aus und nähten ihn
ihre Kinder lieb hat. Eines Tages wollte sie in den wieder zu. Als der Wolf ausgeschlafen hatte, machte
Wald gehen und Futter holen. Da rief sie alle sieben er sich auf die Beine und weil er großen Durst hatte,
herbei und sprach: „Liebe Kinder, ich muss hinaus in ging er zu einem Brunnen, um zu trinken. Und als
den Wald. Seid inzwischen brav, sperrt die Türe gut er an den Brunnen kam und sich über das Wasser
zu und nehmt euch in Acht vor dem Wolf! Der Böse- beugte und trinken wollte, da zogen ihn die schweren
wicht verstellt sich oft, aber an seiner rauen Stimme Steine hinein, und er musste jämmerlich ersaufen.
und an seinen schwarzen Füßen werdet ihr ihn gleich Als die sieben Geißlein das sahen, kamen sie eilig
erkennen.“ herbeigelaufen und riefen laut: „Der Wolf ist tot! Der
Es dauerte nicht lange, da klopfte jemand an die Wolf ist tot!“ Und sie fassten einander an den Händen
Haustür und rief: „Macht auf, ihr lieben Kinder, eure und tanzten mit ihrer Mutter vor Freude um den
Mutter ist da und hat jedem von euch etwas mitge- Brunnen herum.
bracht!“ Aber die Geißlein hörten an der rauen (Grimm u. Grimm 1819; . Abb. 20.1)
Stimme, dass es der Wolf war. Da ging der Wolf fort
zum Krämer und kaufte sich ein großes Stück Kreide.
Er aß es auf und machte damit seine Stimme fein. 20.2 Die Charaktere
Dann kam er zurück, klopfte an die Haustür und rief:
„Macht auf, ihr lieben Kinder, eure Mutter ist da und Die Hauptakteure dieser Geschichte von den Gebrü-
hat jedem von euch etwas mitgebracht!“ Aber der dern Grimm sind die Geißenmutter mit ihren sieben
Wolf hatte seine schwarze Pfote auf das Fensterbrett kleinen Geißlein und der Wolf. Am Rande agieren
gelegt. Das sahen die Kinder und die Tür blieb zu. der Krämer, der Bäcker und der Müller. Im Folgen-
Da lief der Wolf zum Bäcker und ließ sich die Pfote den wird lediglich auf die Hauptakteure und den
mit Teig bestreichen. Dann lief er zum Müller und Müller näher eingegangen.
sprach: „Streu mir weißes Mehl auf meine Pfote!“ Der Die Geißenmutter stellt eine liebevolle Fami-
Müller dachte, der Wolf wolle jemanden betrügen, lienmutter dar, die ihre Kinder „so lieb hat, wie eben
und weigerte sich. Aber der Wolf sprach: „Wenn du eine Mutter ihre Kinder lieb hat“. Da es offensicht-
es nicht tust, fresse ich dich!“ Da fürchtete sich der lich keinen Familienvater gibt, ist die Geißenmutter
Müller und machte ihm die Pfote weiß. Nun ging der alleine für die Erziehung und das Wohl ihrer Kinder
Bösewicht zum dritten Mal zu der Haustür, klopfte verantwortlich.
an und diesmal glaubten die Geißlein, es wäre tat- Die sieben Geißlein zeigen sich voller Zuneigung
sächlich ihre Mutter und machten die Türe auf. Die der Mutter gegenüber und es herrscht ein sehr lie-
Geißlein erschraken und wollten sich verstecken, bevoller Umgang. Sie vertrauen auf ihre Mutter und
aber der Wolf fand sie und verschluckte eines nach zeigen sich ihr gegenüber respektvoll und gehorsam.
dem andern. Nur das Jüngste in dem Uhrkasten, das Der Wolf steht – wie in so vielen Märchen – für
fand er nicht. das Böse. Er ist bekannt für seine List und wird von
Als der Wolf satt war, trollte er sich fort, legte allen gefürchtet.
sich draußen auf der grünen Wiese unter einen Baum Der Müller hat insofern einen besonderen Stel-
und fing an zu schlafen. Nicht lange danach kam die lenwert in der Geschichte, als dass er der einzige Mit-
alte Geiß aus dem Walde wieder heim. Sie erblickte täter des Wolfes ist, der sich anfangs weigert, ihm bei
das Chaos und stellte fest, dass alle Kinder, bis auf seinem Täuschungsversuch zu helfen. Nachdem der
ihr Jüngstes, vom Wolf gefressen worden waren. Auf Wolf ihm jedoch den Tod androht, fügt er sich dessen
der Wiese fand sie den schlafenden Wolf und sah, Anweisung und macht sich ebenso wie der Bäcker
dass sich in seinem angefüllten Bauch etwas regte und der Krämer mitschuldig.
20
20.3 · Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
151 20
. Abb. 20.1  (Zeichnung: Claudia
Styrsky)

20.3 Psychologische Phänomene und Zeit, die den Spagat zwischen Familie und Karriere
Bedeutung für die heutige Zeit zu meistern versuchen.
Im kollektiven Bewusstsein der Mehrheit der
Aus dem Märchen „Der Wolf und die sieben Geiß- Bevölkerung orientiert sich das Bild der idealen und
lein“ lassen sich einige psychologische Phänomene damit „richtigen“ Familie nach wie vor am klassi-
ableiten, wobei das Verhalten der Geiß und ihrer schen Ideal der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
Kinder im Mittelpunkt steht. Inhaltliche Schwer- Die realen Lebensmuster haben sich jedoch deut-
punkte sind der Rollenkonflikt berufstätiger Mütter, lich von diesem Denkmodell entfernt. Immer mehr
kindliche Naivität und blindes Vertrauen sowie das Frauen machen Karriere und sehen sich hierbei mit
Entscheidungsverhalten in Gruppen. der Herausforderung konfrontiert, Familie und
Beruf gleichermaßen gerecht zu werden. Die Rol-
lentheorie von Katz u. Kahn (1978) besagt, dass es zu
20.3.1 Rollenkonflikt einem Interrollenkonflikt kommen kann, wenn sich
zwischen verschiedenen Rollen Unverträglichkeiten
Anhand dieses Märchens kann sehr schön die Pro- zeigen. Typisch hierfür ist ebendieser Konflikt, dem
blematik berufstätiger Mütter erörtert werden. berufstätige Frauen bezüglich ihrer Rolle als Mutter
Obwohl die Geißmutter ihre Kinder „so lieb hat, und Ehefrau sowie der Rolle im Beruf ausgesetzt
wie eine Mutter ihre Kinder lieb hat“, lässt sie diese sind. Ohne entsprechende Bewältigungsstrategien
unbeaufsichtigt zu Hause und setzt sie somit Gefahr verursacht dieser Rollenkonflikt Stress und kann auf
aus. Unzählige moderne Interpretationen genau lange Sicht sowohl psychische als auch körperliche
dieses Märchens zielen darauf ab. Die Geiß lässt ihre Probleme zur Folge haben.
Kinder alleine und – selbst Schuld – werden kurzer- Dass eine solche Doppelbelastung Stress ver-
hand sechs der sieben gefressen. Resümee des Mär- ursacht, war vermutlich den meisten Lesern auch
chens ist die Geiß als „Rabenmutter“, stellvertretend ohne fundierte psychologische Theorien klar. Jetzt
für die vielen berufstätigen Frauen in der heutigen gilt es vor allem, das Vorurteil der berufstätigen
152 Kapitel 20 · Der Wolf und die sieben jungen Geißlein von den Gebrüdern Grimm (1819)

„Rabenmütter“ aus der Welt zu schaffen. Um dieser Friedrich Schiller (1759–1805), deutscher
kurzsichtigen Denkweise entgegenzutreten, haben Dichter, Philosoph und Historiker, unterscheidet
sich Psychologen der Universität Harvard einge- zwischen „kindischer“ und „kindlicher“ Naivität.
hend mit der Thematik befasst. So veröffentlichten Kindische Naivität wird nach Schiller belächelt,
McGinn et al. (2015) eine große internationale Studie weil sie von mangelndem Verstand und Unvermö-
darüber, wie sich die Berufstätigkeit der Mutter auf gen herrührt; kindliche Naivität hingegen wird als
den späteren Berufserfolg der Kinder auswirkt. Ihre Stärke bewundert. Dahinter könne man „ein Herz
Ergebnisse zeigen klar, dass es keine negativen Kon- voll Unschuld und Wahrheit“ erkennen, das „im Ein-
sequenzen für Kinder hat, wenn sich ihre Mütter auf klang mit der Natur“ und „einig mit sich selbst und
ihre Karriere konzentrieren – im Gegenteil profitie- glücklich im Gefühl seiner Menschheit“ ist (Schiller
ren sie davon, wenn ihre Mutter arbeitet. Sie sind 1795, o. S.). Auch der deutsche Philosoph der Auf-
erfolgreicher im späteren Berufsleben und verdienen klärung, Immanuel Kant (1724–1804), bezeichnete
mehr Gehalt. Interessant ist vor allem, dass Söhne Naivität als „eine edle oder schöne Einfalt, welche das
berufstätiger Frauen einen stärkeren Familiensinn Siegel der Natur auf sich trägt“ (Kant u. Rosenkranz
entwickeln, sich vermehrt im Haushalt beteiligen 1838, S. 420). Nicht umsonst wird Naivität gerne als
und auch für die Pflege anderer Familienmitglie- Strategie eingesetzt – wer sich schwach, dumm und
der einsetzen. Also Entwarnung für die alte Geiß – naiv stellt, wird stets auf Hilfe derer treffen, die sich
hier wird sie nicht als Rabenmutter an den Pranger für stark, klug und vernünftig halten.
gestellt.

Blindes Vertrauen
20.3.2 Naivität und blindes Vertrauen Der kindlichen Naivität ähnlich ist der Aspekt des
blinden Vertrauens. Vertrauen als solches ist ein
Seien wir mal ehrlich: Es ist doch ganz schön naiv von lebensnotwendiger Mechanismus – ohne Vertrauen
den Geißlein zu meinen, dass beim dritten Klopfen wäre es für uns unmöglich, zu existieren. Vertrauen
plötzlich nicht mehr der Wolf, sondern die geliebte bildet die Grundlage für das Zusammenleben in der
Mutter vor der Türe steht. Oder was meinen Sie dazu? menschlichen Gesellschaft. Im Straßenverkehr ver-
trauen wir z. B. darauf, dass alle Autos rechts fahren.
Das schränkt zwar die Freiheit des Einzelnen ein,
Kindliche Naivität ermöglicht aber ein Fahren ohne Zusammenstöße.
Tatsächlich steht Naivität besonders bei Erwachse- Klingt logisch, oder?
nen stellvertretend für „Armut im Geiste“, „Blau- Umso banaler dürften Ihnen die Mechanis-
äugigkeit“ und generell für eher kindliches Denken men erscheinen, denen unser Vertrauen unterliegt.
und Verhalten. Naive Menschen sind in der Regel Constantin Rezlescu vom University College London
leichter zu beeinflussen als andere, wodurch oft und seine Kollegen (2012) fanden heraus, dass wir
Schaden entsteht. Andererseits hat das „kindliche uns bei der Beurteilung der Vertrauenswürdigkeit
Denken“ auch eine positive Seite. Kinder sind noch eines Menschen eher auf sein Aussehen verlassen
in der Lage, die Welt um sie herum unvoreinge- als auf Informationen über sein Verhalten. Sie haben
nommen und damit unverfälscht wahrzunehmen. braune Augen? Herzlichen Glückwunsch! Laut dem
Mit zunehmender Lebenserfahrung, z. B. Pech in tschechischen Psychologen Karel Kleisner von der
der Liebe oder im Beruf sowie anderen Schicksals- Prager Karls-Universität und seinen Kollegen (2013)
schlägen, ist das leider nicht mehr der Fall. Nai- erscheinen Sie automatisch vertrauenswürdiger als
vität kann somit auch als positiver Charakterzug Blauäugige. Und das alles nur wegen der Augenfarbe?
gewertet werden, als Fähigkeit, die einen offenen Ganz so einfach ist es nun auch wieder nicht. Die
und wertfreien Blick eröffnet und dadurch manch- Wissenschaftler haben festgestellt, dass die Gesichts-
mal sogar zu besserem Erfolg führen kann als das merkmale einer Person mit der Augenfarbe korre-
20 haargenaue Hinterfragen auf Basis von Vernunft lieren. Braune Augen treten besonders bei Männern
und Verstand. mit einer Gesichtsform auf, die von anderen als
20.4 · Fazit
153 20
vertrauenswürdiger eingeschätzt wird. Blauäugige vernachlässigt, da der Fokus auf dem gemeinsamen
Männer hingegen sind laut den Forschern durch Wissen liegt. Hieraus resultiert ein deutlich gerin-
Gesichtsmerkmale charakterisiert, die weniger Ver- geres tatsächliches Gesamtwissen, als das potenziell
trauen erwecken. Hierzu zählen beispielsweise eine möglich wäre. Die Entscheidungsqualität wird somit
eckigere untere Gesichtspartie, relativ kleine Augen stark beeinträchtigt.
und ein schmaler Mund. Außerdem fanden Forscher heraus, dass Grup-
Zurück zu den sieben Geißlein – natürlich zeugt penentscheidungen häufig extremer ausfallen als
es von Naivität und blindem Vertrauen, dass sie trotz Individualentscheidungen. Ursprünglich wurde
zahlreicher Warnungen den Wolf ins Haus lassen. hierzu angenommen, dass die Extremmeinungen
Ihr Beispiel für unangebrachtes Vertrauen und naives von einzelnen Gruppenmitgliedern in der gemein-
Verhalten zieht fatale Folgen nach sich. Aber wie im samen Entscheidungsfindung „herausgemittelt“
Märchen so üblich siegt letztlich das Gute über das würden. Entgegen dieser Annahme kommt es
Böse, der Wolf stirbt und die gefressenen Geißenkin- jedoch häufig zu einer Gruppenpolarisation, sodass
der leben am Ende glücklich und zufrieden. Und wie die Gruppe – im Vergleich zur durchschnittlichen
kann das passieren? Eben auch aufgrund von naivem Ausgangsmeinung ihrer Mitglieder – zu einer riskan-
Denken und dem Urvertrauen in die Mutter, sie auch teren Entscheidung tendiert. Stoner (1961) spricht
aus dieser aussichtslosen Lage wieder befreien zu hierbei vom Risky-Shift-Phänomen. Ob das jüngste
können. Geißlein, welches sich raffiniert im Uhrkasten vor
dem Wolf versteckt hat, dem Bösewicht wohl auch
alleine die Türe geöffnet hätte?
20.3.3 Gruppenentscheidungen

Getreu dem Motto „Vier Augen sehen mehr als zwei“ 20.4 Fazit
würde man grundsätzlich davon ausgehen, dass die
sieben jungen Geißlein gemeinsam eine gute Chance Die Gebrüder Grimm liefern uns mit dieser
haben dürften, die List des Wolfes zu durchschauen. Geschichte ein sehr klassisches Märchen, in dem das
Das Märchen zeigt jedoch, dass der Wolf letztlich alle Gute über das Böse siegt. Anhand der Geschichte
überlistet und sechs von ihnen frisst. des Wolfs wird aufgezeigt, dass es zwar durchaus
Ist das ausschließlich ein Ergebnis märchenhafter möglich ist, sich durch List und Tücke einen kurz-
Fantasie? Leider nicht. Rein intuitiv gehen wir davon zeitigen Vorteil zu beschaffen, jedoch auf lange Sicht
aus, dass die Entscheidungsfindung in der Gruppe zu Unehrlichkeit und Betrug nicht zum Erfolg führen.
besseren Entschlüssen führt als Individualentschei- Interessant ist sicherlich auch die Frage, wo
dungen. Schließlich wird kaum eine wichtige Ent- uns im wahren Leben „Wölfe“ begegnen. Vielleicht
scheidung, sei es in der Politik, im Beruf oder in der denkt der eine oder andere Leser nun an seinen
Familie, lediglich von einer Einzelperson getroffen. undurchsichtigen Bankberater oder Versicherungs-
Interessanterweise zeigt jedoch die sozialpsychologi- vertreter. Aber auch die zahlreichen Verführun-
sche Forschung, dass die eklatante Fehlentscheidung gen in der Werbung sollen an dieser Stelle genannt
der sieben Geißlein kein Einzelfall ist: Gruppenent- werden. Ähnlich wie die jungen Geißlein in unserem
scheidungen sind eben nicht automatisch besser als Märchen lassen wir uns – gutgläubig wie wir sind –
Individualentscheidungen. häufig täuschen und bemerken unsere Fehler bzw.
Gruppen sprechen hauptsächlich über geteilte Fehlurteile erst im Nachhinein. Vielleicht gelingt es
und meinungsbestätigende Argumente, wohinge- Ihnen nach dieser Lektüre den einen oder anderen
gen konträre Meinungen eher übergangen werden. „Wolf “, der Ihnen begegnet, schneller auszumachen.
Plakativ formuliert: Die Gruppe spricht vor allem Weiterhin möchte ich Ihnen ans Herz legen, die
über das, was ohnehin schon alle wissen Dieses Phä- Position des Müllers in der Geschichte zu überden-
nomen wird in der Psychologie Hidden-Profile-Ef- ken. Dieser hatte sich zunächst geweigert und erst
fekt genannt (Stasser u. Titus 1985, 1987). Das Spe- auf Zwang zur List des Wolfes seinen Beitrag geleis-
zialwissen jedes einzelnen Gruppenmitglieds wird tet. Was wäre passiert, wenn der Müller willensstark
154 Kapitel 20 · Der Wolf und die sieben jungen Geißlein von den Gebrüdern Grimm (1819)

geblieben wäre? Hätte der Wolf seine Finte auch ohne


Verbündete durchführen können? Und hätte man
wohl selber den Mut besessen, sich der Drohung des
Wolfes zu widersetzen? Leider ist das Verhalten des
Müllers nicht untypisch in unserer Gesellschaft.
Letztlich nimmt das Märchen ein glückliches
Ende, bei dem die sieben jungen Geißlein und ihre
Mutter sich einander an den Händen fassen und vor
Freude über den Tod des Wolfes um den Brunnen
herum tanzen. Die Vorbereitungen hierzu – getreu
der Talionsformel aus der Bibel „Auge um Auge,
Zahn um Zahn“ oder „Wie du mir, so ich dir“ – muten
allerdings recht makaber an, finden Sie nicht? Zum
Glück hat es jeder selbst in der Hand, seinen Kindern
bei der Erziehung noch weitere Konfliktlösungsstra-
tegien mit auf den Weg zu geben.
Hiermit sind wir nun am Ende der Geschichte.
Und wenn die Brüder Grimm nicht gestorben wären,
dann lebten sie wohl heute glücklich und zufrieden
in dem Wissen, dass ihre Märchen bis in die Neuzeit
nicht an Bedeutung verloren haben.

Literaturverzeichnis

Grimm, J., & Grimm, W. (1819). Kinder- und Haus-Märchen,


gesammelt durch die Brüder Grimm: Große Ausgabe
(Bd. 1, 2. Aufl.). Berlin: G. Reimer.
Kant, I., & Rosenkranz, K. (Hrsg.). (1838). Immanuel Kant's
sämmtliche Werke. Leipzig: Voss.
Katz, D., & Kahn, R. L. (1978). The social psychology of organiza-
tions (2.Aufl.). New York: Wiley.
Kleisner, K., Priplatova, L., Frost, P., Flegr, J., & Pelli, D. G. (2013).
Trustworthy-looking face meets brown eyes. Public Libra-
ry of Science one 8, e53285.
Rezlescu, C., Duchaine, B., Olivola, C. Y., Chater, N., & Rustichini,
A. (2012). Unfakeable facial configurations affect strategic
choices in trust games with or without information about
past behavior. Public Library of Science one 7, e34293
Schiller, F. (1795). Über naive und sentimentalische Dichtung.
[Tl. 1:] Über das Naive. Die Horen 11, 43–76.
Stasser, G., & Titus, W. (1985). Pooling of unshared information
in group decision making: Biased information sampling
during discussion. Journal of Personality and Social Psy-
chology 48, 1467–1478.
Stasser, G., & Titus, W. (1987). Effects of information load and
percentage of shared in-formation on the dissemination
of unshared information during group discussion. Journal
of Personality and Social Psychology 53, 81–93.
Stoner, J. A. F. (1961). A comparison of individual and group
20 decisions involving risk. Unpublished master’s thesis.
Cambridge: MIT.
155 21

Das kleine Mädchen mit den


Schwefelhölzern von Hans
Christian Andersen (1845)
Eileen Wittmann

21.1 Inhalt des Märchens – 156

21.2 Die Charaktere – 156

21.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige


Zeit – 156
21.3.1 Modell des Hilfeverhaltens – 157
21.3.2 Transaktionales Stressmodell – Misserfolg als Bedrohung – 158
21.3.3 Bedürfnispyramide von Maslow – 159

21.4 Implikationen für die Erziehung, Führung und


Lebensgestaltung – 159
21.4.1 Hilfeverhalten – 159
21.4.2 Umgang mit Misserfolg – 160
21.4.3 Bedürfnisse – 161

21.5 Fazit – 161

Literaturverzeichnis – 161

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_21
156 Kapitel 21 · Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern von Hans Christian Andersen (1845)

21.1 Inhalt des Märchens


42
21
Es war einmal ein kleines Mädchen, welches am Sil-
vesterabend in einer Ecke zwischen zwei Häusern
kauerte, an seiner Schürze einen Bund Schwefelhöl-
zer. Barfuß, hungrig und frierend hatte es den ganzen
Tag versucht, Schwefelhölzer zu verkaufen, die mit
Besorgungen für den Silvesterabend beschäftigten
Bürger hatten es jedoch keines Blickes gewürdigt.
Ohne auch nur ein einziges Schwefelholz verkauft
oder ein Almosen bekommen zu haben, traute sich
das kleine Mädchen nicht nach Hause. Es fürchtete,
vom Vater geschlagen zu werden, und sagte sich, dass
es auch dort kalt sei.
Um sich zu wärmen, zündete es ein erstes Schwe-
felholz an und träumte von einem warmen Ofen, der
jedoch verschwand, als das Schwefelholz erlosch.
Sodann zündete es weitere Schwefelhölzer an und
träumte erst von einem mit Gänsebraten gedeck-
ten Tisch, dann von einem großen, geschmückten . Abb. 21.1  (Zeichnung: Johanna Frey)
Weihnachtsbaum und schließlich von seiner gelieb-
ten, bereits verstorbenen Großmutter. Es zündete alle
verbleibenden Schwefelhölzer an, damit der Traum
der Großmutter nicht mit dem erlöschenden Schwe- 21.3 Psychologische Phänomene und
felholz verschwand. Das kleine Mädchen bat seine Bedeutung für die heutige Zeit
Großmutter, es mit sich zu nehmen. Diese hob es
sodann auf ihre Arme und flog mit ihm hoch zu Gott. Die tragische Geschichte über „Das kleine Mädchen
Im Häusereck saß am nächsten Morgen ein mit den Schwefelhölzern“ aus dem Jahre 1845
kleines Mädchen mit einem Bund abgebrannter gehört wohl zu den bekanntesten Märchen aus dem
Schwefelhölzer und einem Lächeln auf den Lippen: literarischen Vermächtnis des dänischen Schrift-
Es war tot, erfroren am letzten Tag des alten Jahres. stellers Hans Christian Andersen. Der Schriftstel-
(Andersen 2010; . Abb. 21.1) ler stammte selbst aus ärmlichen Verhältnissen
und konnte als Sohn eines verarmten Schusters
und einer Wäscherin kaum die Schule besuchen.
21.2 Die Charaktere Als er 11 Jahre alt war, starb sein Vater und Ander-
sen musste arbeiten, um für sich und die Mutter
Über die Charaktere erfährt man in diesem Märchen sorgen zu können. Nur durch sein schriftstelle-
nur wenig. Im Mittelpunkt steht das kleine Mädchen, risches Talent, das bei seiner späteren Arbeit am
das aus tiefster Armut heraus bei Eiseskälte spärlich Theater auffiel und ihm die Unterstützung durch
bekleidet und hungernd dazu gezwungen ist, Schwefel- wohlhabende Förderer verschaffte, konnte er später
hölzer zu verkaufen oder ein Almosen zu erbetteln. Es doch noch sowohl die Schule als auch die Univer-
traut sich aus Angst vor seinem Vater nicht nach Hause, sität absolvieren (Buchfunk Hörbuchverlag GbR
dessen Schläge es befürchten muss, wenn es ohne einen 2016). Andersen kannte die Armut des kleinen
Heller zurückkommt. Im Schein der Schwefelhölzer Mädchens wohl aus eigener Erfahrung, im Gegen-
träumt es schließlich von seiner verstorbenen Groß- satz zu ihm konnte er dieser jedoch entkommen.
mutter, der einzigen, die jemals gut zu ihm war, und Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts – die Zeit, in
bittet sie, es mit sich zu nehmen. Das kleine Mädchen der Andersen lebte – war durch eine Massenarmut
erfriert in dieser Silvesternacht – sich in seinen letzten gekennzeichnet, deren Ausmaß man sich heute
Gedanken seiner Großmutter und Gott nahe wähnend. kaum noch vorstellen kann.
21.3 · Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
157 21
Ist die tragische Geschichte des kleinen Mäd- Wahrnehmen von Notsituationen
chens mit den Schwefelhölzern folglich „ganz Das Modell des Hilfeverhaltens kann dabei erste
normal“ für die damaligen Lebensumstände und hat Ansatzpunkte liefern, um die Frage nach dem
heute kaum noch Relevanz? Oder lassen sich Punkte Warum zu beantworten.
identifizieren, die auch für uns heutzutage nicht an Vielleicht haben die Bürger nicht einmal die erste
Bedeutsamkeit verloren haben? Im Folgenden sollen Stufe überwinden können und dem kleinen Mädchen
Antworten auf diese Fragen anhand verschiedener nicht geholfen, da sie es aufgrund ihrer eigenen
psychologischer Phänomene gefunden werden. Geschäftigkeit und der vermeintlichen Dringlich-
keit ihrer Einkäufe gar nicht bemerkt haben. Mög-
licherweise hat aber auch das kleine Mädchen nicht
21.3.1 Modell des Hilfeverhaltens ausreichend Anstrengung unternommen, um auf
sich und seine desolate Situation aufmerksam zu
Seit den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde, machen. Falls es jedoch tatsächlich bemerkt wurde,
u. a. durch den Mord an der New Yorkerin Kitty ist es möglich, dass dann aber keiner seine Situation
Genovese, bei dem der Geschichte nach Nachbarn als Notlage interpretiert hat. Es könnte beispiels-
deren Schreie hörten oder den Angriff sogar teilweise weise sein, dass bettelnde Kinder in dieser Zeit zum
sahen, jedoch keiner eingriff, eine Vielzahl von psy- Alltag gehörten und die Situation daher als „normal“
chologischen Studien zu der Fragestellung publi- eingeschätzt wurde.
ziert, warum wir helfen bzw. – wie im Fall des kleinen Außerdem könnte das psychologische Phäno-
Mädchens mit den Schwefelhölzern und auch Kitty men der pluralistischen Ignoranz eine Rolle gespielt
Genovese – warum wir nicht helfen. haben: Der einzelne Bürger nimmt an, das kleine
Die Sozialpsychologen Bibb Latané und John Mädchen sei nicht in Not, da kein anderer Bürger
Darley (1970) entwickelten auf Basis von empiri- Anstalten macht, einzugreifen und dem kleinen
schen Studien ein Modell des Hilfeverhaltens, das Mädchen zu helfen. Da dieses Phänomen vor allem
Hilfeverhalten anhand von fünf Stufen erklärt: in Situationen auftritt, die nicht eindeutig sind, stellt
1. Eine Situation, in der Hilfe benötigt wird, muss sich auch hier die Frage, wie viel das kleine Mädchen
überhaupt erst wahrgenommen werden. dazu beigetragen hat, seine eigene Notlage als solche
2. Im nächsten Schritt muss die beobachtete kenntlich zu machen.
Situation als Notlage interpretiert werden.
3. Anschließend muss der Beobachter in der
Situation Verantwortung übernehmen. Eingreifen in Notsituationen
4. Dann muss er darüber entscheiden, wie er hilft. Vielleicht wurde das kleine Mädchen in seiner Not
5. Im letzten Schritt muss er dann tatsächlich sogar bemerkt, kein Bürger hat jedoch Verantwor-
Hilfe leisten. tung übernommen. Verantwortlich dafür kann bei-
spielsweise das psychologische Phänomen der Ver-
Nach diesem sequenziellen Modell wird nur dann antwortungsdiffusion sein: Je mehr Menschen
geholfen, wenn jede Stufe überwunden wird. Und auf Zeugen einer Notlage werden, desto geringer fällt die
jeder einzelnen Stufe können zahlreiche Hindernisse Übernahme von Verantwortung durch jeden einzel-
das Überwinden der Stufe verhindern. nen aus. Möglicherweise hatte das kleine Mädchen
Im Zentrum des Märchens „Das kleine Mädchen folglich das Pech, dass so viele Bürger ihre Einkäufe
mit den Schwefelhölzern“ steht das Motiv des armen, in der Stadt tätigten.
hungernden und frierenden Kindes, dem von den Bei der anschließenden Entscheidung, wie man
wohlhabenderen, mit Einkäufen beschäftigten hilft, kann vor allem die wahrgenommene fehlende
Bürgern nicht geholfen wird – weder durch den Kompetenz zu helfen ein Hindernis darstellen. Ein-
Kauf eines Schwefelholzes, das sie nur einen win- zelne Bürger könnten zu wenig Geld für ein Almosen
zigen Geldbetrag gekostet hätte, oder ein Almosen gehabt haben, oder es könnte beim Einzelnen das
noch durch sonstige Hilfeleistungen wie eine Mahl- Gefühl aufgekommen sein, dem kleinen Mädchen
zeit oder etwas Warmes zum Anziehen. mit einem geringen Geldbetrag sowieso nicht helfen
158 Kapitel 21 · Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern von Hans Christian Andersen (1845)

zu können, da es das eigentliche Problem seiner einhergehenden Emotionen zu regulieren, z. B.


21
42 Armut nur kurzfristig löst. durch Flucht, Ablenkung, Herunterspielen
Sollte der ein oder andere Bürger dennoch bis der Bedeutsamkeit des Stressors oder den
zum fünften und letzten Schritt gekommen sein, Ausdruck von Emotionen.
konnte er diese Stufe offenbar nicht überwinden.
Verantwortlich dafür könnte beispielsweise eine Bedrohungen des Selbst führen nicht nur zu einem
Kosten-Nutzen-Abwägung gewesen sein. Außer- geringeren Wohlbefinden und negativen Emotio-
dem können auch hier soziale Einflüsse wie soziale nen, sondern können auch die physische Gesund-
Normen eine Rolle spielen. Beispielsweise könnten heit beeinträchtigen. Am schlimmsten sind dabei
einzelne Bürger dem kleinen Mädchen deshalb nicht Bedrohungen, die wir als unkontrollierbar empfin-
geholfen haben, da sie befürchteten, ihr Verhalten den. Bedrohungen, die als kontrollierbar empfun-
würde von anderen als unangebracht oder unan- den werden, können wir als Herausforderungen
gemessen beurteilt werden, ein Phänomen, das in wahrnehmen. Diejenigen, die als unkontrollierbar
der Psychologie als Bewertungsangst bekannt ist. wahrgenommen werden, führen auf Dauer zu Angst,
Wieder andere könnten dem kleinen Mädchen die Frustration, Hilflosigkeit und Depression (Smith u.
Verantwortung für seine eigene elende Situation Mackie 2007).
selbst zugeschrieben und somit entschieden haben, Zugespitzt ausgedrückt, zieht es das kleine
dass es keine Hilfe verdient. Mädchen vor, in der Kälte zu sterben, als trotz des
Was der genaue Grund für das Nichteingreifen Misserfolgs, kein Schwefelholz verkauft oder ein
der Bürger war, wird wohl ein Geheimnis bleiben. Almosen bekommen zu haben, in das wahrschein-
Festzustellen bleibt, dass die Geschichte – auch wenn lich sicherere Zuhause zu gehen. Auch sein Vater
es sich vielleicht nur um kleines Hindernis handelte – trägt seinen Teil dazu bei, indem es bei einem Miss-
einen tragischen Ausgang nimmt. erfolg seine Schläge befürchten muss.
Höchstwahrscheinlich erlebt das kleine Mädchen
regelmäßig diesen Misserfolg und empfindet seine
21.3.2 Transaktionales Stressmodell – eigene Situation als unkontrollierbar. Es kann sich
Misserfolg als Bedrohung Tag für Tag in die Stadt stellen und versuchen, Schwe-
felhölzer zu verkaufen – vielleicht hat es einmal
Wenn wir Misserfolge erleben, bleiben wir bei einer Glück und jemand kauft ihm eines ab – doch meist
Aufgabe hinter unseren eigenen Ansprüchen zurück, wird es wohl mit leeren Händen nach Hause zurück-
und dies bedroht unser Verständnis davon, wer wir kehren und das Gefühl haben, daran auch am nächs-
sind und wie wir uns damit fühlen – unser Selbst. ten Tag nichts ändern zu können.
Doch wie gehen wir mit einer solchen Bedrohung Ihm bleibt folglich nur die emotionsorien-
um? tierte Bewältigung dieser Bedrohung, um Angst
Nach dem transaktionalen Stressmodell (z. B. und Hilflosigkeit entgegenzuwirken. Es träumt sich
Lazarus u. Folkman 1984) bewerten wir nach der im Schein der Schwefelhölzer hinfort aus seiner
Erfahrung eines potenziellen Stressors unsere Fähig- elenden Situation, flüchtet vor der Realität. Das
keiten und Möglichkeiten, diesen zu bewältigen. Es kleine Mädchen reagiert auf seine eigene bedrohli-
sind dabei verschiedene Bewältigungsstrategien che Situation mit Rückzug und gibt sein Leben auf.
möglich, um dem Stressor zu begegnen. Doch was für den Leser ein tragischer Ausgang der
44Bei der problemorientierten Bewältigung Geschichte ist, scheint für das kleine Mädchen eine
wird das Stress auslösende Problem direkt Verbesserung seiner Situation zu sein. Es stirbt mit
in Angriff genommen und Verhalten einem Lächeln auf den Lippen und fühlt sich von
gezeigt, um die Situation selbst zu der liebenden Großmutter im Arm zu Gott empor-
verändern. gehoben. So entkommt es Hunger, Kälte, täglichen
44Bei der emotionsorientierten Bewältigung Misserfolgen, Hilflosigkeit und der Ablehnung des
wird versucht, die mit dem Stressor eigenen Vaters.
21.4 · Implikationen für die Erziehung, Führung und Lebensgestaltung
159 21
Aber kann man hier von einer erfolgreichen Seine Wünsche und Träume beziehen sich vor
Bewältigung einer bedrohlichen Situation spre- allem auf die physiologischen Bedürfnisse: Ein
chen? Sollte eine Gesellschaft nicht andere Wege warmer Ofen gegen die Kälte, ein Gänsebraten
bereithalten? gegen das unerträgliche Gefühl von andauerndem
Hunger. Nicht einmal die Bedürfnisse der ersten
Stufe der Bedürfnispyramide waren folglich erfüllt.
21.3.3 Bedürfnispyramide von Maslow Sein Traum vom herrlichen Weihnachtsbaum kann
als Zeichen für die Sicherheitsbedürfnisse und die
Der Sozialpsychologe Abraham Maslow entwickelte Bedürfnisse nach sozialen Bindungen und Zuwen-
1943 eine Theorie der menschlichen Motivation, dung interpretiert werden. Der Weihnachtsbaum
die heute besser als Bedürfnispyramide von Maslow könnte hier für das Weihnachtsfest stehen, das man
bekannt ist. Er identifiziert darin fünf Grundbe- üblicherweise in geordneten Familienverhältnissen,
dürfnisse des Menschen und ordnet diese in einer in einer warmen Wohnstube und mit seinen Liebsten
Hierarchie an. Nur wenn ein Bedürfnis ausreichend feiert. Der letzte Traum von der liebenden Großmut-
befriedigt ist, wird das in der Hierarchie nächsthö- ter stünde dann sinnbildlich für das Bedürfnis nach
here Bedürfnis aktiviert und beeinflusst fortan unser sozialen Bindungen und Zuwendung. Im Angesicht
Handeln – wie zuvor das bereits erfüllte Bedürfnis: des Todes wünscht sich das kleine Mädchen die Liebe
1. An unterster Stelle in der Pyramide befinden und Geborgenheit durch seine Großmutter – Bedürf-
sich die physiologischen Bedürfnisse wie nisse, die zumindest durch seinen Vater nicht erfüllt
Hunger, Durst oder das Bedürfnis nach Schlaf. zu sein scheinen. Immerhin dieses letzte Bedürfnis
2. Sind diese Bedürfnisse befriedigt, werden auf scheint ihr der Geschichte nach erfüllt zu werden.
der nächsten Stufe die Sicherheitsbedürfnisse
aktiviert. Hierunter fallen Bedürfnisse nach
körperlicher Unversehrtheit, einem stabilen 21.4 Implikationen für die Erziehung,
Umfeld oder einfach einem Dach über dem Führung und Lebensgestaltung
Kopf.
3. Auf der nächsthöheren Stufe der Pyramide Aus den zu dem Märchen „Das kleine Mädchen mit
finden sich dann die Bedürfnisse nach sozialen den Schwefelhölzern“ vorgestellten psychologischen
Bindungen, Liebe und Zugehörigkeit. Phänomenen lassen sich Implikationen für verschie-
4. Darauf folgen auf der vierten Stufe der dene Bereiche unseres täglichen Lebens ableiten.
Pyramide die Bedürfnisse nach Anerkennung,
Erfolg und Wertschätzung.
5. Sind diese Bedürfnisse erfüllt, fühlt sich das 21.4.1 Hilfeverhalten
Individuum selbstbewusst, wertvoll, fähig und
nützlich in dieser Welt. Das Individuum ist Der Fall eines kleinen bettelnden Mädchens, das
dann an der Spitze der Pyramide angekommen draußen in der Kälte erfriert, mag uns in der heuti-
und das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung gen Zeit in Deutschland unrealistisch vorkommen
erwacht. Maslow (1943, S. 382, übersetzt aus und wir denken gerne, dass solche Fälle der Ver-
dem Englischen) beschreibt dies mit folgenden gangenheit angehören. Doch auch hierzulande lebt
Worten: „Ein Musiker muss musizieren, jedes fünfte Kind in Armut und bei jedem zehnten
ein Künstler muss malen, ein Dichter muss Kind, dessen Existenz durch die Grundsicherung,
schreiben, um endgültig glücklich zu sein. Was d. h. Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch, Zweites
jemand kann, das muss er sein.“ Buch (SGB II), abgesichert wird, verfügen nicht alle
Mitglieder des Haushalts über ausreichende Winter-
Welche Bedürfnisse hatte das kleine Mädchen mit kleidung (Tophoven et al. 2015). Auch wenn diese
den Schwefelhölzern, bevor es in jener kalten Silves- Kinder in den allermeisten Fällen nicht gefährdet
ternacht erfror? sind, zu erfrieren, sind sie dennoch hilfsbedürftig.
160 Kapitel 21 · Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern von Hans Christian Andersen (1845)

Aber was kann der Einzelne tun, um in solchen klein auf zu lernen, dass beim Hilfeverhalten kleine
21
42 und anderen Fällen von Hilfsbedürftigkeit zu helfen? Schritte, z. B. das Alarmieren eines professionellen
Man schiebt die Verantwortung gerne von sich und Helfers (Polizei, Vertrauenslehrer, Eltern), sehr viel
sagt sich, dass die Politik hier etwas ändern müsse wert sind und entscheidend weiterhelfen. Außerdem
und man selbst mit den eigenen begrenzten Möglich- kann man dem Beobachter helfen, indem man ihm
keiten nichts ausrichten könne. Doch es gibt unzäh- Handlungsleitlinien für bestimmte Situationen an
lige Situationen im Leben eines jeden Menschen, in die Hand gibt (z. B. der Gang zum Vertrauenslehrer
denen ein anderer Hilfe benötigt oder man selbst im Fall von Mobbing) und Ressourcen bereitstellt,
froh über eine helfende Hand wäre. die zum Helfen auffordern (z. B. Defibrillatoren,
Das kleine Mädchen, das vergeblich versucht, Notrufsäulen). Zusätzlich lässt sich das subjektive
Schwefelhölzer zu verkaufen, und in seiner Hilfs- Kompetenzgefühl durch Trainings stärken. Hierbei
bedürftigkeit nicht beachtet oder bemerkt wird, können in Rollenspielen bestimmte Verhaltenswei-
gibt es in vielerlei Hinsicht: ein Mitschüler, der von sen einstudiert und ausprobiert werden, ohne dass
seinen Schulkameraden gemobbt wird, eine alte man negative Konsequenzen fürchten muss (Frey
Dame, die nicht mehr alleine einkaufen oder zum et al. 2001).
Arzt gehen kann, oder eine junge Frau, die vor den Soziale Einflüsse und Normen können Hilfe-
Augen ihrer eigenen Nachbarn erstochen wird – wie verhalten verhindern – aber sie können es auch
im Fall von Kitty Genovese und anderen prominen- fördern. Es ist somit wichtig, Normen, die dazu bei-
ten Fällen mangelnder Zivilcourage. Mal ist man tragen, dass Menschen helfen, in den verschiedenen
selbst in der Position des vorbeilaufenden Bürgers – Institutionen der Gesellschaft zu lehren und nach
des passiven Beobachters –, mal in der des kleinen ihnen zu leben. Man sollte sich solche Grundregeln
Mädchens – des Hilfebedürftigen, dem keine Hilfe des Zusammenlebens wieder bewusster machen, sie
zuteilwird. anderen vorleben und die Überzeugung, Verant-
Doch was können wir in allen Institutionen der wortung für unseren Nächsten zu haben, stärken.
Gesellschaft wie Familien, Bildungseinrichtungen Haben wir nicht die moralische Pflicht, einem Mit-
und Unternehmen tun, damit die Mehrheit nicht schüler gegen Mobbing beizustehen, einer alten
schweigt und vorbeigeht, sondern hilft? Und wie Dame Nahrung und medizinische Hilfe zu ermög-
können Hilfebedürftige selbst dazu beitragen, dass lichen oder Menschen zu helfen, die physisch ange-
Ihnen geholfen wird? Das Modell des Hilfeverhaltens griffen werden – und ein kleines Mädchen mit einem
von Latané u. Darley (1970) sowie die Geschichte des Bund Schwefelhölzer vor dem Erfrierungstod zu
kleinen Mädchens können hier erste Ansatzpunkte bewahren?
geben.
Als Hilfesuchender ist es von enormer Wichtig-
keit, seine Hilfsbedürftigkeit deutlich zu machen – 21.4.2 Umgang mit Misserfolg
sei es, indem man laut um Hilfe ruft oder sich einer
anderen Person anvertraut – und nicht darauf zu Bei einer Studie, die die Toleranz für Fehler in 61
warten, dass andere diese von selbst erkennen. verschiedenen Ländern verglich, belegte Deutsch-
Außerdem ist es hilfreich, einer spezifischen Person land den vorletzten Platz, nur in Singapur sah man
persönlich Verantwortung zu übertragen, z. B. indem Fehler noch weniger gern (Gelfand et al. 2011). Kein
man ruft: „Sie da im roten Mantel, helfen Sie mir!“ Wunder also, dass Misserfolge und Fehler hierzu-
(Moriarty 1975). lande eine besonders große Bedrohung für den
Aufseiten des Augenzeugen sind das Kompe- Selbstwert darstellen. Doch wollen wir in einer
tenzgefühl und die Erwartung, mit der eigenen Hil- Gesellschaft leben, in der sich ein Kind nicht traut
feleistung auch etwas bewirken zu können, wich- nach Hause zu kommen, nachdem es etwas nicht
tige Determinanten dafür, ob Hilfeverhalten gezeigt geschafft hat?
wird. Da für große Heldentaten und langfristige Hil- Der ehemalige US-amerikanische Präsident
feleistung die Kompetenz einer einzelnen Person Theodore Roosevelt sagte einmal: „Der einzige
oft tatsächlich nicht ausreicht, ist es wichtig, von Mensch, der keine Fehler macht, ist der Mensch, der
Literaturverzeichnis
161 21
niemals etwas tut.“ Fehler und Misserfolge lassen sich Menschen den Tod dem Leben aufgrund ihrer
nicht vermeiden und bieten obendrein die Chance, Lebensumstände vorziehen, und es muss dring-
zu lernen und sich weiterzuentwickeln. lichste Aufgabe in einer Gesellschaft sein, dies zu
Es sollte folglich in Familien, aber auch in Unter- verhindern.
nehmen und anderen gesellschaftlichen Institutio- Das „kleine Mädchen“ finden wir auch heute
nen eine Fehlerkultur vermittelt werden – Fehler noch überall und viel zu häufig – arm, isoliert und
und Misserfolge passieren und das ist in Ordnung. hilflos. Gerade mit dem Massenzustrom an Flücht-
Wichtig ist, wie man damit umgeht. Misserfolge lingen gewinnt dieses Thema noch einmal mehr an
zu dramatisieren führt zu Selbstzweifeln, Angst Brisanz. Aber auch hierzulande gibt es Menschen,
und letztlich vielleicht sogar zum Verschweigen die aus unserer Gesellschaft, so wie sie ist, als „Verlie-
eines Fehlers, der ernste und weitreichende Folgen rer“ hervorgehen. Es ist an der Zeit, den Blick wieder
nach sich ziehen kann. Sind Misserfolge nicht tabu, verstärkt auf die Bedürfnisse der Benachteiligten in
können diese leichter preisgegeben und auch bewäl- unserer Gesellschaft zu richten, anstatt nur um uns
tigt werden. Hierbei können gerade Kinder von ihren selber und unsere Bedürfnisse zu kreisen.
Eltern oder Mitarbeiter von Vorgesetzten oder Kol-
legen unterstützt werden.
Außerdem sollten wir uns bewusst werden, dass 21.5 Fazit
es wahrscheinlich auch heute immer noch viele Men-
schen gibt, die ihre Lebenssituation als unkontrollier- Ohne Zweifel ist das Märchen „Das kleine Mädchen
bar wahrnehmen und das Gefühl haben, in unserer mit den Schwefelhölzern“ von Hans Christian
Gesellschaft keine Chance zu haben. Und sollten uns Andersen auch heute noch aktuell. Es zeigt uns
fragen, was jeder einzelne von uns tun kann, damit Missstände unserer Gesellschaft auf, die sich zwar
deren Geschichte nicht so tragisch endet wie die des seit dem 19. Jahrhundert deutlich verbessert haben,
kleinen Mädchens mit den Schwefelhölzern. aber immer noch nicht beseitigt sind. Die Psycholo-
gie hinter dem Märchen kann uns dabei helfen, zu
erkennen und zu erklären, warum bestimmte Vor-
21.4.3 Bedürfnisse gehensweisen problematisch sind und auch erste
Ansatzpunkte zur Lösung beitragen. Das Handeln
Heutzutage geht es bei uns in Deutschland haupt- liegt nun an uns.
sächlich um die drei obersten Bedürfnisgruppen der
Bedürfnispyramide – die physiologischen Bedürf-
nisse und die nach Sicherheit sind oft mehr als erfüllt. Literaturverzeichnis
Wir vergessen dabei gerne, dass es auf dieser Welt
Andersen, H. C. (2010). Andersens Märchen. Köln: Anaconda.
noch viel zu viele Menschen gibt, bei denen nicht Buchfunk Hörbuchverlag GbR (2016). Hans Christian Ander-
einmal die unterste Stufe der Pyramide – die phy- sen. Biografie. http://hans-christian-andersen.de/biogra-
siologischen Bedürfnisse – ausreichend erfüllt sind. fie/. Zugegriffen: 02. November 2016.
Und wir vergessen häufig auch, dass es Luxus ist, sich Frey, D., Neumann, R., & Schäfer, M. (2001). Determinanten
mit Fragen wie „Wie viele Freunde kommen wohl zu von Zivilcourage und Hilfeverhalten. In: H.-W. Bierhoff, &
D. Fetchenhauter (Hrsg.), Solidarität, Konflikt, Umwelt und
meiner Party?“, „Wie viele Likes bekomme ich auf Dritte Welt (S. 93–122). Opladen: Leske + Budrich.
Facebook für mein letztes Urlaubsbild?“ und „Wie Gelfand, M. J., Frese, M., & Salmon, E. (2011). Cultural Influen-
kann ich mich in meinem Beruf selbst verwirkli- ces on errors: prevention, detection, and management.
chen?“ auseinanderzusetzen. In: D. A. Hofmann, & M. Frese (Eds.), Errors in organizations
(pp. 273–316). New York: Routledge.
Es ist sicherlich wichtig, sich selbst und seine
Latané, B., & Darley, J. M. (1970). The unresponsive bystander:
eigenen Probleme ausreichend ernst zu nehmen, Why doesn’t he help? New York: Appleton-Crofts.
aber hin und wieder sollte man sich seine eigene Lazarus, R. S., & Folkman, S. (1984). Stress, appraisal and coping.
Privilegiertheit bewusst machen und nach links New York: Springer.
und rechts schauen, ob dort vielleicht ein bedürf- Maslow, A. H. (1943). A Theory of Human Motivation. Psycho-
logical Review 50, 270–396.
tiger Mensch sitzt. Es ist ein Armutszeugnis, wenn
162 Kapitel 21 · Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern von Hans Christian Andersen (1845)

Moriarty, T. (1975). Crime, commitment, and the responsive


21
42 bystander: Two field experiments. Journal of Personality
and Social Psychology 31, 370–376.
Smith, E. R., & Mackie, D. M. (2007). Social psychology (3rd ed.).
New York: Psychology Press.
Tophoven, S., Wenzig, C., & Lietzmann, T. (2015). Kinder- und
Familienarmut: Lebensumstände von Kindern in der
Grundsicherung. https://www.bertelsmann-stiftung.de/
de/publikationen/publikation/did/kinder-und-familien-
armut/. Zugegriffen: 02. November 2016.
163 22

Väterchen Frost von Alexander


Afanasjew (Mitte des 19.
Jahrhunderts)
Maxim Karl

22.1 Inhalt des Märchens – 164

22.2 Die Charaktere – 164

22.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 165


22.3.1 Biologische Elternschaft und Patchworkfamilien – 165
22.3.2 Gehorsam – 167

22.4 Fazit – 169

Literaturverzeichnis – 169

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_22
164 Kapitel 22 · Väterchen Frost von Alexander Afanasjew (Mitte des 19. Jahrhunderts)

22.1 Inhalt des Märchens der Frau dort zurück. Doch als er sie am nächsten
Morgen holen wollte, erschrak er. Nicht beladen mit
Es war einmal vor langer Zeit in einem weit entfern- Reichtum, sondern kalt gefroren war der Leib des
22 ten Land ein Mann mit seiner Frau. Beide waren bösen Mädchens. Er brachte der bösen Frau ihren
zuvor bereits verheiratet gewesen und hatten aus Leichnam, nahm seine eigene Tochter bei der Hand
ihrer früheren Ehe je eine Tochter. Die Tochter der und zog mit ihr weit weg an einen wunderschönen
Frau war lieblos und gemein, während die Tochter warmen Ort.
des Mannes gutherzig und sanft war. Die Frau liebte Und wenn er und das Mädchen nicht gestorben
nur ihr leibliches Kind und ließ ihre Stieftochter tage- sind, so leben sie noch heute.
lang hart arbeiten. Das Mädchen musste alleine das (Afanasjew 2001; . Abb. 22.1)
ganze Haus putzen und wurde von der Stiefmutter
geschlagen und beleidigt. Dennoch hasste die Frau Anmerkung  Alexander Nikolajewitsch Afanas-
die Tochter des Mannes von Tag zu Tag mehr. jew (1826–1871) trug als Sammler und Heraus-
Eines Tages, mitten in einem harten, kalten geber die Russischen Volksmärchen zusammen und
Winter, beschloss die Stiefmutter, dass das arme ist damit vergleichbar mit den Gebrüdern Grimm.
Mädchen in den tiefen Wald gebracht und sich selbst Zwar findet in Richtung Russland ein starker Export
überlassen werden sollte. Der Vater des Mädchens deutscher Märchen statt, in Deutschland sind russi-
wollte das natürlich nicht und versuchte der Frau, sche Märchen jedoch eher unbekannt. Dieses sehr
diesen Gedanken auszureden. Doch diese war so bekannte Volkmärchen von Väterchen Frost soll
boshaft und herrisch, dass er aus Angst vor ihr seine Ihnen einen kleinen Einblick in den umfangreichen
einzige Tochter mit in den Wald nahm und sie dort russischen Märchenschatz liefern.
alleine zurückließ.
Einsam und verlassen saß das Mädchen nun
unter einem Baum. Doch schon nach kurzer Zeit 22.2 Die Charaktere
hörte sie ein Knacken von Zweigen und kurz
darauf eine Stimme, die sprach: „Frierst Du, liebes Bevor wir genauer auf die psychologischen Phä-
Kind?“ Das Mädchen erkannte die Stimme als die nomene des Märchens eingehen, sollen noch kurz
von Väterchen Frost und antwortete: „Nein, Väter- die Hauptcharaktere der Geschichte beschrieben
chen Frost. Mir ist nicht kalt.“ Da kam er immer werden.
näher zu dem Kind und fragte sie noch einige Väterchen Frost ist ein zentraler Charakter in
Male, doch das Mädchen antwortete immer, dass vielen russischen Märchen und Mythen. In diesem
ihr warm sei. Väterchen Frost gefiel ihre beschei- Märchen wird er als großzügiger und etwas verspiel-
dene und milde Art und er entschied, ihr aus ihrer ter Geselle beschrieben, der gerne anderen Men-
Notlage zu helfen. Er wickelte sie in einen weichen schen weiterhilft, sofern sie ihm sympathisch sind.
und prächtigen Mantel, wärmte sie die ganze Nacht Das sieht man daran, dass er nur einem der Mädchen
und überhäufte sie am nächsten Morgen mit kost- in ihrer Notlage weitergeholfen hat, wobei man sich
baren Geschenken. Der Vater bedauerte inzwischen hier auch die Frage stellen kann, ob die verschiede-
seine böse Tat und kam am nächsten Tag in den nen Persönlichkeiten der beiden Mädchen für sein
Wald zurück, um seine Tochter zu retten. Als er sie Verhalten ausschlaggebend waren.
nicht nur lebendig, sondern auch warm bekleidet Diese Persönlichkeiten könnten wohl unter-
und mit großen Reichtümern beladen vorfand, war schiedlicher nicht sein. Die Tochter der Frau wird
die Freude groß. als gemein und lieblos beschrieben, wohingegen
Als beide wieder nach Hause zurückkehrten und die Tochter des Mannes, die auch die Heldin in der
die Stiefmutter die Reichtümer des Mädchens sah, Geschichte ist, als bescheiden und gutherzig darge-
wollte sie, dass auch ihre eigene Tochter in den Wald stellt wird.
gebracht werden sollte, um dort eine Nacht zu ver- Weiterhin wird die Stiefmutter als eine böse und
bringen und reich beschenkt zurückzukehren. Also hassgetriebene Person geschildert, die am Ende nicht
ging der Mann in den Wald und ließ die Tochter einmal zurückschreckt, ihre eigene Tochter im Wald
22.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
165 22

. Abb. 22.1  (Zeichnung: Claudia Styrsky)

aussetzen zu lassen, nur um an die Reichtümer von seit seiner frühesten Kindheit kennenlernt. Eine der
Väterchen Frost zu gelangen. wohl bekanntesten Figuren ist Väterchen Frost („Ded
Zu guter Letzt scheint der Vater ein feiger Pan- Moroz“), der als russisches Äquivalent zum westli-
toffelheld zu sein, der lieber seine Tochter dem Tod chen Weihnachtsmann angesehen werden kann.
aussetzt, als seiner Frau zu widersprechen. An dieser Stelle soll erwähnt sein, dass das
Märchen Raum für viele verschiedene psycholo-
gische und gesellschaftskritische Interpretationen
22.3 Psychologische Phänomene und bietet. Im Folgenden wird auf einige davon vertie-
Implikationen fend eingegangen.

Seit den Anfängen ihrer Kultur erschufen die Russen


eine einzigartige Märchenwelt. Jede Generation 22.3.1 Biologische Elternschaft und
trug etwas zu der Überlieferung bei, bis eine viel- Patchworkfamilien
schichtige und komplexe Mythenwelt entstand, die
mit der Geschichte der Russen, ihrer Lebenserfah- Haben Sie sich bei dem Lesen des Märchens gefragt,
rung und ihrem Selbstempfinden tief verbunden warum die Frau ihre Stieftochter so abgrundtief
ist. Den Märchen sind ihre Helden und Bösewichte hasst und sie dem Tod aussetzen will? Das Mädchen
gemeinsam, welche wiederholt in vielen verschiede- könnte doch netter und umgänglicher nicht sein.
nen Geschichten auftreten und welche jeder Russe Müsste sie nicht eher ihre eigene Tochter verstoßen,
166 Kapitel 22 · Väterchen Frost von Alexander Afanasjew (Mitte des 19. Jahrhunderts)

die böse und gemein ist? Wäre das Verhalten der Frau wahr, sondern als ein gutherziges und unschul-
für Sie besser nachvollziehbar, wenn die Stiefmutter diges Mädchen, welches manchmal den einen
ihre eigene Tochter zuerst in den Wald zum Sterben oder anderen Fehltritt macht, weil die Lebensum-
22 geschickt hätte? stände es nicht anders zulassen. Die Tatsache, dass
Dieses kleine Gedankenspiel zeigt auf, dass wir die Stieftochter so einen positiven Charakter hat,
implizite Theorien darüber haben, was denn das könnte ein Auslöser für Neid sein und zu einer
besser nachvollziehbare Verhalten der Frau gewesen Wahrnehmung von Bedrohung ihrer leiblichen
wäre. Offensichtlich scheint die biologische Ver- Tochter führen.
wandtschaft eine zentrale Rolle zu spielen. So konnte
in aktuellen Studien nachgewiesen werden, dass
Stiefeltern typischerweise mehr Neid und Feindse- Zusammenleben in Patchworkfamilien
ligkeit gegenüber den Kindern verspüren als biolo- Doch heißt das jetzt wirklich, dass man seinen Stief-
gische Eltern (Connor u. Boag 2010). Das ist glück- kindern immer mit Missgunst begegnet so wie die
licherweise keine allgemeingültige Regel. böse Frau in der Geschichte? Sie ahnen es bereits,
hier spielen weitere Einflüsse eine Rolle.
Der Kontext, in dem sich eine Patchworkfamilie
Bedeutung und Auswirkungen befindet, kann das Kalkül, nach dem die Eltern ihre
biologischer Elternschaft Liebe unter eigenen und fremden Kindern aufteilen,
Doch warum gibt es dieses Phänomen überhaupt? stark beeinflussen. Gibt es Aussicht auf steigenden
Von einer rein evolutionspsychologischen Pers- Wohlstand im Lebensumfeld der Eltern, geht es dem
pektive betrachtet, besteht unser einziger Lebens- fremden Nachwuchs genauso gut wie dem eigenen
zweck darin, unser Genmaterial weiterzugeben (Willführ u. Gagnon 2013).
und das Überleben unserer Linie zu gewährleisten. Das Märchen spielt jedoch in einem mittelalter-
Dafür ist neben der Fortpflanzung auch das Beschüt- lichen Russland, welches von Hungersnöten und
zen unserer Nachkömmlinge von herausragender Armut heimgesucht wurde. Unter diesen Umstän-
Bedeutung. Denn die Möglichkeit des Fortbeste- den versucht die Stiefmutter die Ressourcen so zu
hens der eigenen Gene ist erst dann gegeben, wenn verteilen, dass das leibliche Kind eine höchstmög-
die Nachkömmlinge selber das fortpflanzungsfähige liche Überlebenswahrscheinlichkeit hat. So könnte
Alter erreichen. durch das Aussetzen der Stieftochter im Wald mög-
Das Hauptinstrument der Evolution, um uns licherweise ausreichend Nahrung für den Rest der
dazu zu bewegen, sorgfältig auf unsere biologischen Familie bereitgestellt werden.
Kinder aufzupassen, ist die Elternliebe. Damit ver- Das Phänomen, dass Stiefkinder wahrscheinli-
bunden ist, dass Menschen tendenziell eine etwas cher emotional oder körperlich misshandelt werden
verzerrte Wahrnehmung ihrer biologischen Kinder als biologische Kinder, ist aufgrund des Wohlstan-
haben. So schreibt man seinen Sprösslingen eine des in unserer Gesellschaft glücklicherweise sel-
höhere Leistungsfähigkeit (intelligenter, sportlicher) tener geworden. Tatsächlich gibt es Studien, die
sowie vorteilhaftere Persönlichkeitseigenschaften darauf hindeuten, dass Adoptiveltern sogar eine
(netter, hilfsbereiter) zu und interpretiert tenden- stärkere Bindung zu dem Kind entwickeln können
ziell negativ behaftetes Verhalten als nicht ursächlich als leibliche Eltern. Stiefeltern berichten auch oft
in der Person des Kindes, sondern als von schwie- von verringertem depressivem Affekt und einer
rigen Umweltsituationen ausgelöst („Mein Kind ist erhöhten Lebenszufriedenheit nach dem Hinzu-
das schlauste in der Schule. Die Lehrer sind schuld, kommen eines Kindes in ihre Familie. Diese posi-
dass es durchgefallen ist“). Diese Effekte sorgen tiven Aspekte der Adoptiv- und Stiefelternschaft
dafür, dass man sich noch intensiver um sein Kind überwiegen auf längere Sicht die möglichen Pro-
kümmert und es auch bei Problemen stärker unter- bleme einer Adoption oder erneuten Heirat und
stützt (Medicus 2012). führen meist zu einer deutlich gesteigerten Ehe-
So nimmt die Frau im Märchen ihre eigene qualität und einem stärkeren Familienzusammen-
Tochter möglicherweise nicht als böse und gemein halt (Ceballo et al. 2004).
22.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
167 22
Schließlich kann man sagen, dass der Einfluss 22.3.2 Gehorsam
von Wohlstand auf das Verhalten von Stiefeltern
eine zentrale, jedoch nicht die einzige, Bestimmungs- Können Sie sich vorstellen, warum sich der Vater in
größe ist. Es spielen viele weitere Kontextfaktoren dem Märchen der Anweisung der Stiefmutter nicht
und individuelle Unterschiede eine Rolle, was sich widersetzte und seine einzige Tochter zum Sterben
im Märchen beispielsweise im sich stark unterschei- im Wald zurückließ? Oder allgemeiner gefragt,
denden Verhalten von Vater und Mutter gegenüber warum fügen Menschen anderen Menschen auf
den Kindern äußert, obwohl beide in demselben Befehl Schaden zu, ohne es selber zu wollen?
Umfeld leben. Diese Frage stellte sich auch der Psychologe
Stanley Milgram in den frühen 1960er-Jahren und
führte daraufhin die wohl bekannteste psychologi-
Implikationen für die Erziehung sche Studie in der Geschichte des Faches durch.
Doch was lernen wir jetzt daraus für die Erziehung
unseres eigenen Nachwuchses? Es ist wichtig eine
realistische Einschätzung der Fähigkeiten unserer Milgram-Experiment
Kinder zu haben, indem man die zuvor erwähnten Milgram (1963) konnte zeigen, dass ganz normale
Verzerrungen kritisch reflektiert und seinen eigenen Menschen, die mit Verstand und Gewissen ausge-
Ehrgeiz nicht vor das Wohl der Kinder stellt. stattet sind, durch die Befehle einer Autorität dazu
Haben Sie von Eltern gehört, die alles daran gebracht werden können, andere Menschen zu
setzen, dass ihre Kinder Abitur machen und stu- quälen und sogar zu töten. Im Experiment waren
dieren, unabhängig von den Fähigkeiten und Wün- 65 % (in Deutschland 85 %) aller Versuchspersonen
schen ihrer Kinder? Von dem Irrglauben getrieben, bereit, auf Anordnung eines Wissenschaftlers, einer
nur durch Leistungsfähigkeit könne man wirklich anderen Person so lange Stromschläge zu erteilen, bis
glücklich werden, zwingen sie ihren Kindern tagelan- diese nach langem Flehen um Entlassung aus dem
ges Lernen auf und sind am Elternabend der Schreck Experiment verstummte, sodass man von dem Tod
jedes Lehrers. dieser Person ausgehen konnte (bei 450 Volt). Das
Dass unsere Kinder für uns die tollsten sind, ist Besondere dabei war, dass sich die Versuchspersonen
völlig in Ordnung und wie zuvor erwähnt ein sogar anfangs genauso wie der Vater im Märchen gegen die
notwendiger evolutionärer Mechanismus. Nur muss grauenhaften Handlungen sträubten, sich am Ende
uns klar sein, dass sie von der rauen Welt außer- jedoch trotzdem den Befehlen der Autoritätsperson
halb unserer Obhut deshalb nicht anders behan- (Wissenschaftler) beugten.
delt werden. Während eine Person spielend mit Denken Sie, Sie hätten an der Stelle der Ver-
einer Situation fertig wird, kann dieselbe Situation suchspersonen anders gehandelt? Mag sein. Jedoch
eine andere Person überfordern. Eltern dürfen nicht konnten die Forscher in Folgestudien zeigen, dass die
den gleichen Fehler machen wie die Frau in dem individuellen Unterschiede zwischen den Personen
Märchen, indem sie ihre Kinder mit Druck in eine eine eher untergeordnete Rolle bei der Vorhersage
Umwelt zwingen, in der sie nicht bestehen können. von Gehorsam spielen.
Aufgrund von Neid über den Erfolg ihrer Stieftoch-
ter hat die Frau ungeachtet der möglichen Konse-
quenzen ihre eigene Tochter in einer eiskalten Win- Faktoren für Gehorsam
ternacht in den Wald geschickt, was schließlich zum Lassen Sie uns wieder zum Märchen zurückkehren
Tod des Mädchens führte. und die Faktoren, welche Gehorsam bedingen, etwas
Das oberste Ziel der Eltern sollte das Glück sowie genauer beleuchten.
eine ethische Erziehung ihrer Kinder sein und kein
Nachweis über die Bewältigung der Anforderungen z Der Gehorchende (Vater)
unserer Leistungsgesellschaft. Anhand des Mär- Der Vater des Mädchens ist ein unterwürfiger und
chens sehen wir ganz deutlich, wohin dieses Verhal- harmoniesuchender Mann. Er stellt den Frieden
ten führen kann. mit seiner Frau sogar vor das Leben seiner Tochter.
168 Kapitel 22 · Väterchen Frost von Alexander Afanasjew (Mitte des 19. Jahrhunderts)

Pflichtbewusst führt er die ihm von der Frau auferleg- bereits erwähnt – dem eigentlichen Akt des Todes
ten Aufgaben durch. In einer Zeit lebend, in der ein nicht bei. Je mehr Feedback (visuell und auditiv)
Großteil der Menschen nicht die Möglichkeit hatte wir von dem Opfer haben, desto eher übernehmen
22 zur Schule zu gehen, kann man auch annehmen, dass wir Verantwortung für sein Leiden (Tilker 1970). So
er keine besonders gute Bildung hatte. Wie bereits hätte die Tochter möglicherweise durch Flehen und
erwähnt, spielen die Persönlichkeitsmerkmale der Verdeutlichung ihrer Verzweiflung eine frühere Mei-
gehorchenden Person eine weniger wichtige Rolle. nungsänderung bei ihrem Vater auslösen können.
Trotzdem konnte man zeigen, dass u. a. Faktoren wie
Unterwürfigkeit, Akzeptanz der Moral von Autorität,
Harmoniestreben/Verträglichkeit, Pflichtbewusst- Implikationen für die Lebensgestaltung
sein und eine schlechtere Bildung blinden Gehorsam Haben Sie schon einmal eine Anweisung befolgt und
begünstigen (Bègue et al. 2015). sich im Nachhinein gewünscht, Sie hätten es nicht
getan? Was kann man tun, um erfolgreich Wider-
z Die Autoritätsperson (Frau) stand gegen unangebrachte Anweisungen von Auto-
Bei Erhalt eines Befehls ist doch die erste/wich- ritätspersonen zu leisten?
tigste Frage die man sich stellt: „Hat die Person mir Zuallererst ist es wichtig, sich Zeit zu nehmen
denn überhaupt etwas zu sagen? Ist die Autorität der und sorgfältig über die Anweisung und ihre Folgen
Person gerechtfertigt/legitimiert?“. Diese Legitima- nachzudenken. So hat sich der Vater im Märchen
tion kann beispielsweise durch eine Uniform oder möglicherweise erst durch spätere Reflexion über
im Falle der Studie von Milgram durch einen Wis- die Tat und ihre Konsequenzen dazu entschlossen,
senschaftlerkittel sowie den Ort, an dem der Befehl seine Tochter zurückzuholen.
stattfindet (z. B. renommierte Universität), geschaf- Des Weiteren erhöht das Wissen über die Stärke
fen werden. Diese Details geben Orientierung über des Einflusses von Autorität und die zugrunde liegen-
die Kompetenz, Weisungsbefugnis und vor allem den Mechanismen von Gehorsam die Fähigkeit, sich
die Verantwortungsübernahme des Befehlenden. diesem Druck zu widersetzen (Richard et al. 2001).
Ob Frauen in einer Ehe eine legitimierte Autorität Nachdem Sie dieses Kapitel gelesen haben, sollten
darstellen, ist eine eher philosophische Frage. Im Sie besser in der Lage sein, unberechtigter Autorität
Märchen dominiert die Frau den Mann. Doch ist sie entgegenzutreten, als jemand, der nicht mit diesem
deshalb eine legitimierte Autorität bei der Entschei- psychologischen Wissen ausgestattet ist.
dung über den Mord des Mädchens? Zu guter Letzt sinkt die Wahrscheinlichkeit von
blindem Gehorsam besonders stark, wenn sich auch
z Weitere bedeutsame Faktoren andere Personen widersetzen (Rochat u. Modigliani
Im Märchen führt der Vater seine Tochter alleine 1995). Da man aber das Verhalten anderer Menschen
in den Wald und lässt sie dort zurück, während die schlecht beeinflussen kann, sollte man – wie so oft
Stiefmutter zu Hause auf ihn wartet. Den Prozess des im Leben – bei sich selbst anfangen. Sprechen Sie
körperlichen Leidens des Mädchens bekommt er es aus, wenn Sie mit etwas nicht einverstanden sind.
somit nicht aktiv mit. Welche Einflussgrößen stecken Sie werden sich wundern, wie viele Menschen Ihnen
hinter dieser Schilderung? folgen.
Zum einen ist die Stiefmutter nicht bei der Auch wenn sich diese Ausführung ausschließlich
Befehlsausführung dabei, was die Wahrscheinlich- auf die Gefahren von Gehorsam konzentriert hat, ist
keit der tatsächlichen Ausführung der Handlung es dennoch wichtig, sich vor Augen zu halten, dass
drastisch minimieren sollte. Eigentlich müsste der Gehorsam gegenüber einer Autorität in vielen Fällen
Vater, ähnlich wie der Jäger im Märchen „Schnee- ein positives und notwendiges Verhalten ist. So muss
wittchen“, den Befehl verweigern. Anders als bei beispielsweise eine Krankenschwester den Anwei-
Schneewittchen, die der Jäger mit seinen eigenen sungen eines Arztes sofort gehorchen, um in einer
Händen hätte töten sollen, wohnt der Vater – wie Notsituation Leben retten zu können.
Literaturverzeichnis
169 22
22.4 Fazit social psychological findings. Personality and Social Psy-
chology Bulletin 27, 497–505.
Rochat, F., & Modigliani, A. (1995). The ordinary quality of
Die Inhalte und das Verhalten der Charaktere aus resistance: From Milgram’s laboratory to the village of Le
dem Märchen „Väterchen Frost“ verdeutlichen – Chambon. Journal of Social Issues 51, 195–210.
wenngleich in überspitzter Form – Themen, die nach Tilker, H. A. (1970). Socially responsible behavior as a function
wie vor nicht an Bedeutung verloren haben. of observer responsibility and victim feedback. Journal of
Personality and Social Psychology 14, 95–100.
Es gibt zunehmend mehr Patchworkfamilien,
Willführ, K., & Gagnon, A. (2013). Are stepparents always
in denen die Eltern keine biologische Verwandt- evil? Parental death, remarriage, and child survival in
schaft mit den Kindern aufweisen und die neue demographically saturated Krummhörn (1720–1859) and
Wege beschreiten müssen, um ein funktionieren- expanding Québec (1670–1750). Biodemography and
des und stabiles Familiengefüge aufzubauen. Hier Social Biology 59, 191–211.
dient die Frau im Märchen als Negativbeispiel: Ihr
Verhalten gegenüber der unerwünschten Stief-
tochter und später auch der eigenen Tochter ist
keinesfalls erstrebenswert, sondern grausam und
unbedacht.
Die beschriebenen Situationen zum Gehorsam
mögen in der Realität nicht sehr häufig vorkom-
men. Trotzdem ist es wichtig, sich dessen bewusst zu
werden, dass wir unter bestimmten Umständen dazu
tendieren, einfach zu gehorchen, ohne die Situation
davor kritisch zu reflektieren. Sie haben mit dem hier
beschriebenen Wissen nun die besten Voraussetzun-
gen, solche Umstände zu identifizieren, und Ihr Ver-
halten entsprechend anzupassen.

Literaturverzeichnis

Afanasjew, A. N. (2001). Russische Volksmärchen. Ostfildern:


Patmos.
Bègue, L., Beauvois, J.-L., Courbet, D., Oberlé, D., Lepage, J., &
Duke, A. A. (2015). Personality predicts obedience in a Mil-
gram paradigm. Journal of Personality 83, 299–306.
Ceballo, R., Lansford, J., Abbey, A., & Stewart, A. (2004). Gaining
a child. Comparing the experiences of biological parents,
adoptive parents, and stepparents. Family Relations 53,
38–48.
Connor, A., & Boag, S. (2010). Do stepparents experience more
parental antagonism than biological parents? A test of
evolutionary and socialization perspectives. Journal of
Divorce & Remarriage 51, 508–525.
Medicus, G. (2012). Was uns Menschen verbindet: Humanetho-
logische Angebote zur Verständigung zwischen Leib- und
Seelenwissenschaften. Berlin: Verlag für Wissenschaft und
Bildung.
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of Abnormal and Social Psychology 67, 371–378.
Richard, F. D., Bond, C. F. J., & Stokes-Zoota, J. J. (2001). That’s
completely obvious… and important: Lay judgments of
171 23

Dr. Allwissend von den


Gebrüdern Grimm (1815)
Jochen Baumeister

23.1 Inhalt des Märchens – 172

23.2 Die Charaktere – 173

23.3 Psychologische Phänomene – 173


23.3.1 Attributionstheorie – 174
23.3.2 Selbst- und soziale Wahrnehmung – 175
23.3.3 Gruppeneinfluss – 175

23.4 Implikationen für die Erziehung, Führung


und Lebensgestaltung – 175
23.4.1 Erziehung – 175
23.4.2 Führung – 176
23.4.3 Lebensgestaltung – 177

23.5 Fazit – 178

Literaturverzeichnis – 178

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_23
172 Kapitel 23 · Dr. Allwissend von den Gebrüdern Grimm (1815)

23.1 Inhalt des Märchens „Das ist der zweite.“ Dabei wurde der zweite Kellner
ganz ängstlich. Die beiden Kellner diskutierten, ob
Ein Bauer verkaufte Holz an einen Doktor und Dr. Allwissend den Diebstahl schon entdeckt habe.
sah, in welchem Wohlstand dieser lebte. Der Ein dritter Kellner wollte schon gar nicht mehr in den
Bauer fragte den Doktor, wie er auch ein Doktor Raum hineingehen und musste dennoch eine Schüs-
werden könne. Da antwortete der Doktor, dass der sel mit Krebsen anreichen.
23 Bauer seine Besitztümer verkaufen solle, um sich Der reiche Mann wollte Dr. Allwissend testen
anständige Kleider anzuschaffen und ein schönes und fragte, was in der abgedeckten Schüssel aufge-
Schild über die Haustüre zu hängen. Das setzte der deckt wird. Dr. Allwissend erkannte, dass er es nicht
Bauer voller Freude um, denn er nannte sich nun wusste und stieß aus: „Ach, ich armer Krebs.“ Da war
Dr. Allwissend. der reiche Mann überzeugt, dass Dr. Allwissend auch
Kurze Zeit später kam ein reicher Mann auf weiß, wo sich die versteckte Beute befindet.
Dr. Allwissend zu, damit dieser ihm helfe, einen Die Kellner wurden immer nervöser und spra-
Diebstahl aufzuklären. Dr. Allwissend willigte ein chen in einer ruhigen Ecke mit Dr. Allwissend. Sie
und folgte dem reichen Mann zu dessen Anwesen, offenbarten ihm, dass sie die Diebe waren, aber sie
aber unter der Bedingung, dass seine Frau ihn beglei- konnten es wegen der harten Strafe nicht zugeben. Sie
ten dürfe. So saßen sie zu dritt am Esstisch. Dr. All- boten ihm an, sich finanziell erkenntlich zu zeigen,
wissend und seine Frau unterhielten sich darüber, falls er sie nicht verrät. Dr. Allwissend gab sich zufrie-
dass ein so reicher Mann bestimmt auch viele Haus- den mit dem Wissen, wo die Beute versteckt war und
angestellte habe. sagte dem reichen Herrn, dass er wisse, wo die Beute
Die Kellner, die die gesuchten Diebe waren, ist, aber nicht, wer es gestohlen hat.
beäugten Dr. Allwissend, dem sein Name als Ruf vor- Damit waren alle zufrieden und Dr. Allwissend
auseilte. Ein Kellner brachte kurz darauf die Getränke war von nun an ein berühmter Mann.
zum Tisch und Dr. Allwissend sagte zu seiner Frau: (Grimm u. Grimm 2005; . Abb. 23.1)
„Das ist der erste.“ Der Kellner schreckte hoch und
ließ sich nichts anmerken. Dennoch wurde er nervös, Anmerkung  Das Märchen Dr. Allwissend wurde
da er dachte, dass Dr. Allwissend erkannt habe, dass von den Gebrüdern Grimm erstmals 1815 veröffent-
er einer der Diebe sei. Der zweite Kellner brachte das licht und bis 1857 in 7 verschiedenen Auflagen stel-
Essen herein und Dr. Allwissend sagte zu seiner Frau: lenweise verändert.

. Abb. 23.1  (Zeichnung: Lena Frey)


23.3 · Psychologische Phänomene
173 23
23.2 Die Charaktere Die Diener sind in der Geschichte zwar zahlreich,
werden von ihrer Charakterdeutung allerdings zu
Der Hauptcharakter des Märchens ist Dr. Allwis- einer gemeinsamen Menge vermischt, die sich wie
send. Durch seinen Kontakt zu einem Doktor kam innere Stimmen kurzzeitig auf eine Interpretation
er auf die Idee, dass er auch gerne einen solchen der Fähigkeiten des Dr. Allwissend einigen und dann
Wohlstand hätte. Den eher spöttischen Kommen- immer gleich reagieren. Es mangelt hier an Nuancen
tar des Doktors setzte er gutgläubig um, obwohl im Verhalten zwischen den verschiedenen Dienern,
er dafür sein bisheriges Leben aufgab und wegen die allesamt als ängstlich dargestellt werden.
des Verkaufs seines Besitzes auch nicht mehr hätte Eine der Nebenfiguren ist der Doktor, dem der
zurückkehren können. Es bleibt dem Leser über- Bauer Holz verkaufte. Ihm könnte man eine gewisse
lassen, ob man in der Vorgaukelung von nicht vor- Überheblichkeit gegenüber dem Dr. Allwissend
handener Kompetenz einen Betrug sehen mag oder zuschreiben, denn er erzählt in spöttischer Art, dass
ob man Dr. Allwissends Vertrauen in die Worte des man sich nur einen Namen und Kleidung geben
Doktors als treudoof ansieht. Durch puren Zufall müsse, um ebenfalls so wohlhabend zu sein. Aus
kommt Dr. Allwissend zu seinem ersten Kunden und „Dummheit“ glaubt ihm Dr. Allwissend, was gewiss
durch einen viel unwahrscheinlicheren Zufall wird nicht in der Intention des Doktors lag. Vielmehr gibt
ihm von den Dienern mitgeteilt, wo der Schatz ist. er eine eher überhebliche Antwort auf die ehrliche
Trotz des Glücks geniert sich Dr. Allwissend nicht, Frage des Bauern.
vom reichen Besitzer des Schatzes eine großzügige Die letzte Randfigur ist die Frau des Dr. Allwis-
Entlohnung entgegenzunehmen und auch bei den send, die ihn auf das Schloss des reichen Mannes
Dienern abzukassieren. Trotz der Sympathie, die begleitet. Sie übernimmt keine inhaltliche Funk-
ein Leser einem bauernschlauen Dr. Allwissend ent- tion, wobei man natürlich auch feststellen kann,
gegenbringen mag, muss man auch festhalten, dass er dass sie den entscheidenden Lebensumbruch ihres
seinen glücklichen Zufall beim Aufklären des Falles Mannes unterstützte. Sie scheint nur die Funktion
ebenfalls nutzt, um an den armen Dienern zu ver- des Gesprächspartners von Dr. Allwissend zu erfül-
dienen, anstatt ihnen einen zumindest moralisch len, ohne selbst etwas zur Geschichte beizutragen.
vertretbaren Anteil an der Belohnung vom reichen
Mann zukommen zu lassen. Vielleicht wollte er sich
nicht der Mittäterschaft schuldig machen – mit dem 23.3 Psychologische Phänomene
Diebstahl hat er ja eigentlich nichts zu tun, und man
darf davon ausgehen, dass eine Verfolgung durch Das Märchen blickt auf eine lange Entstehungsge-
Ordnungshüter eine weitaus größere Strafe nach schichte zurück, die kurz aufgriffen wird. Schon im
sich gezogen hätte. 11. Jahrhundert gab es zwei sanskritische Fassungen,
Der reiche Mann symbolisiert in der Geschichte die beide auf eine Geschichte aus dem 2. Jahrhundert
einen Teil der herrschenden Oberschicht. Interes- zurückgehen (Wienker-Piepho 2000, S. 305; Zacha-
santerweise lässt auch dieser sich von dem hochtra- riae 1920, S. 138). Damals handelte die Geschichte
benden Titel auf dem Schild und dem entsprechen- von einem Mann, der ein Pferd selbst versteckte
den Gewand blenden. Man könnte unterstellen, dass und fand, einen gestohlenen Schatz entdeckte und
Menschen aus dieser Gesellschaftsschicht ihresglei- zuletzt in einem verdeckten Topf einen Frosch erriet
chen erkennen, aber die Erzählung der Geschichte (Wienker-Piepho 2000, S. 305). In einer litauischen
folgt bewusst dem Muster der Titel- und Autoritäts- Variante des Märchens wurde das Pferd nicht selbst
gläubigkeit. Dass seine Diener aus bitterer Armut versteckt, sondern durch puren Zufall gefunden, was
stehlen, könnte man kritisch hinterfragen, aber es für die Hauptperson eine ganz andere Charakterdeu-
entsprach über die Jahrhunderte durchaus dem Zeit- tung ermöglicht (Zachariae 1920, S. 139).
geist, dass einfache Angestellte von den Oberschich- Die Dreiteilung des Märchens ist über alle Ver-
ten finanziell knapp gehalten wurden. Daher fällt sionen hinweg geblieben: In der Einleitungshand-
dieser Aspekt in der Geschichte nicht negativ auf, lung wird der Ruf des Dr. Allwissend als Wahrsager
wobei sich das Mitleid mit dem reichen Mann ob erklärt, im zweiten Teil ist Dr. Allwissend im Auf-
des gestohlenen Schatzes durchaus in Grenzen hält. finden des Schatzes erfolgreich und im dritten Teil
174 Kapitel 23 · Dr. Allwissend von den Gebrüdern Grimm (1815)

behandelt das Märchen die ruhmreiche Zukunft. Psychologie nennt man den erdachten Zusammen-
Das zugrunde liegende Prinzip der Geschichte ver- hang zwischen Ursache und Wirkung Attribution
änderte sich allerdings maßgeblich. Zunächst von (Fincham u. Hewstone 2002; Parkinson 2014).
der List des selbst versteckten Pferdes geprägt wird
später das Zufallsprinzip tragend, welches eine ganz
andere sozialhistorische Botschaft erzählt. Bei einer Fundamentaler Attributionsfehler
23 List geht es um die Klugheit der Hauptperson, die Die Kellner unterliegen einem sog. fundamentalen
zu ihrem Vorteil ausgenutzt wird. Sie wurde in der Attributionsfehler. Das bedeutet nichts anderes, als
französischen und der russischen Variante des Mär- dass eine Verhaltensweise durch persönliche Eigen-
chens beibehalten. Diese Deutung hat sich in deut- schaften geprägt ist und nicht durch äußere Umstän-
schen, hauptsächlich plattdeutschen, Varianten nicht den. Man schließt beispielsweise vom beobachteten
durchgesetzt (Bolte u. Polivka 1913). Hier wurde auf Verhalten einer Person auf ihren Charakter, ohne zu
das Zufallsprinzip gesetzt, um das märchenspezifi- beachten, was der Person in der Situation widerfah-
sche Glück des Einfältigen zu erzählen (Wienker- ren ist. Beispielsweise könnte man denken, dass eine
Piepho 2000, S. 305). aufschreiende Person jähzornig ist, anstatt zu beden-
In der mitteleuropäischen Erzählung des Mär- ken, dass sie sich gerade heißen Kaffee über die Hand
chens wird genauer beschrieben, welche Möglich- geschüttet hat.
keiten des Wohlstandserwerbs sich durch einen Titel Im Märchen schreiben die Bediensteten die
selbst dem Einfältigsten bieten. Dass Dr. Allwissend zufällig gefundenen Bemerkungen den Fähigkeiten
zu Beginn als Bauer dargestellt wird, entspricht der des Dr. Allwissend zu, weil sie denken, die Aussagen
damals üblichen Darstellung von „Bauernschläue“, von ihm seien von seinen Kompetenzen beeinflusst,
um durch intuitive Klugheit Situationen auszunut- missachten aber, dass es situative Auslöser gab, die
zen. Aus sozialhistorischer Perspektive betrachtet dazu führten. Dr. Allwissend meinte nämlich etwas
das Märchen Autoritäts- und Titelgläubigkeit, die anderes, als er die Reihenfolge der Kellner aufzählte.
vor einigen Jahrhunderten durchaus noch verbrei-
teter waren, als sie es heutzutage sind. Interessant ist
dabei auch, dass die Geschichte aus den mündlichen Perzeptuelle Salienz
Erzählungen der damaligen Unterschicht stammt Wie kann es zu Attributionsfehlern kommen? Die
und eher nicht von den distinguierten bürgerlichen Kellner sind vollständig auf die Person des Dr. All-
oder adeligen Schichten weitererzählt wurde. wissend fokussiert, sodass sie alles um sie herum, die
Trotz ihrer Kürze ermöglicht die Geschichte externen Faktoren, gar nicht mehr beachten, ihnen
einen breit gefächerten Blick aus der Perspektive also keine Bedeutung zuschreiben. Alternative Erklä-
der Psychologie. Insbesondere geht es in diesem rungsmöglichkeiten werden folglich ausgeblendet,
Märchen um die verschiedenen Interaktionen des obwohl sie eine bessere Erklärung bieten könnten. In
Dr. Allwissend mit den Menschen, denen er begeg- der Psychologie nennt man dieses Verhalten perzep-
net. Gerade der Blick darauf, wie sich die anderen tuelle Salienz, also schlicht das, was in der Wahrneh-
gegenüber Dr. Allwissend benehmen, lässt sich aus mung besonders heraussticht (Fiedler u. Bless 2002;
psychologischer Sicht erklären und so manches ist Haddock u. Maio 2014; Pendry 2014).
auch in heutiger Zeit gar nicht so viel anders. Gemeint sind also die auffälligsten Merkmale,
die man sofort wahrnimmt. Wenn Menschen das
Verhalten von anderen beurteilen sollen, fokussie-
23.3.1 Attributionstheorie ren sie sich auf die einzelne Person, aber nicht auf die
Umgebungsbedingungen. Diese situativen Bedin-
In der Psychologie gibt es sehr viele Theorien dazu, gungen werden übergangen, und die Wahrnehmung
wie sich Menschen Ereignisse erklären. Man schreibt reduziert sich auf das offensichtlichste Merkmal.
einer Ursache eine bestimmte Auswirkung zu, gerade In der Geschichte war es die Reaktion des ersten
so, wie es für einen selbst einen Sinn ergibt. Meis- Kellners, der die Bemerkung sofort auf den Dieb-
tens hat die scheinbare Ursache aber gar keinen Ein- stahl bezog und nicht auf die Tatsache, dass er der
fluss auf die Wirkung, die ihr zugedacht wird. In der erste Kellner war.
23.4 · Implikationen für die Erziehung, Führung und Lebensgestaltung
175 23
23.3.2 Selbst- und soziale weniger kompetent als eine andere Person. Dennoch
Wahrnehmung werden Doktoren als generell kompetent und all-
wissend wahrgenommen, sodass sich Dr. Allwis-
Aufseiten des Dr. Allwissend gibt es selbstwertdien- send sogar so nennt. Abwegig ist das selbst heutzu-
liche Verzerrungen der Geschehnisse (Fincham tage nicht, denn Politiker mit Doktorgrad werden
u. Hewstone 2002; Parkinson 2014). Wenn etwas häufiger gewählt, und zwar unabhängig von deren
gelingt, waren es das eigene Talent und/oder Fleiß. Parteienzugehörigkeit.
Im Gegensatz dazu werden bei Misserfolgen kur-
zerhand äußere Umstände verantwortlich gemacht.
Obwohl Dr. Allwissend rein zufällig den Diebstahl 23.3.3 Gruppeneinfluss
aufklären konnte, wurde der Erfolg von ihm dennoch
auf seine neu erworbene Qualifikation als Doktor Menschen werden in ihrer Meinung sehr häufig von
zurückgeführt und nicht auf den Zufall der Offen- anderen beeinflusst und verändern ihre eigenen
barung der Diebe. Ansichten. Nachdem man sich mit anderen über ein
Das macht der Dr. Allwissend natürlich nicht Thema ausgetauscht hat, ist die Meinung danach oft
nur, um sich selbst besser zu fühlen, denn sein Erfolg extremer als vorher. In der Sozialpsychologie nennt
führte zu einer Steigerung seines Ruhmes und seines man das Gruppenpolarisation (Fischer et al. 2013b;
guten Rufes. In der Psychologie beschäftigt man sich Hewstone u. Martin 2014; van Avermaet 2002).
sehr ausführlich mit der sozialen Wahrnehmung Nachdem der erste Kellner im Märchen seinen
von Menschen (Parkinson 2014). Dabei geht es um Eindruck weitergegeben hatte, war der zweite Kellner
Fragen, wie Menschen von anderen wahrgenommen schon mit dessen Meinung gepolt. Spätestens als der
werden und wie sie von bestimmten Eigenschaften zweite Kellner den Kommentar des Dr. Allwissend so
fehlgeleitet werden. deutete, dass sie entdeckt worden wären, war die ganze
Gerade am Beispiel des Dr. Allwissend sieht man Gruppe davon überzeugt. Sogar der dritte Kellner, der
allein am Namen, was für einen Unterschied es für noch gar nicht im Raum war, vertrat diese Meinung.
seine Geschichte ausmacht, dass er ein Dr. Allwis- Die anfängliche Unsicherheit, ob Dr. Allwissend
send ist und nicht nur ein selbst ernannter Herr All- etwas herausfinden könnte, wich sehr rasch der ver-
wissend. Mit dem Doktor vor dem Namen erklingen meintlichen Gewissheit, dass der erste Kellner mit
in den Köpfen in seiner Umwelt zahlreiche Stereo- seiner Meinung Recht hatte.
type (Fiedler u. Bless 2002), und er wird als kompe-
tent wahrgenommen, da er den Doktorgrad vor sich
herträgt. Die passende Kleidung erleichtert ihm den 23.4 Implikationen für die Erziehung,
Eindruck, sodass der Rat des tatsächlichen Doktors Führung und Lebensgestaltung
die gewünschte Wirkung erzielt. Hauptkomponente
der Geschichte ist, dass die Autoritäts- und Titelgläu- Aus dem Märchen „Dr. Allwissend“ lassen sich einige
bigkeit der anderen Menschen allein auf Stereotypen wichtige Implikationen für die Erziehung, Führung
basiert, obwohl Dr. Allwissend selbst gar keine Kom- und Lebensgestaltung ableiten.
petenz erwarb oder jemals gezeigt hätte.
Wenn besonders vorteilhafte Eigenschaften
zu einem positiven Gesamtbild von einem Men- 23.4.1 Erziehung
schen beitragen, bezeichnen Psychologen dies als
Halo-Effekt. Das Wort ergibt sich aus der Meta- Dieses Märchen zeigt, welchen großen Einfluss Ste-
pher, dass eine gute Eigenschaft auf andere aus- reotype auf Menschen haben. Dr. Allwissend wurde
strahlt (Fischer et al. 2013a). Ein Doktorgrad wird allein durch sein neues Erscheinungsbild und den
als positive Eigenschaft wahrgenommen und führt vorgegaukelten Doktorgrad zur geachteten Person,
dazu, dass andere Menschen einen Doktor als kom- denn an sich war er weiterhin derselbe Mensch
petent wahrnehmen. Zumeist sind Doktoren aber wie zuvor. Er hatte sich weder weitergebildet noch
nur in einem sehr kleinen Fachgebiet kompetent eine Berechtigung für die Bezeichnung als Doktor
und für alle anderen Themen nicht mehr und nicht erworben.
176 Kapitel 23 · Dr. Allwissend von den Gebrüdern Grimm (1815)

In der Erziehung von Kindern kann mit diesem Leistungsbewertung


Märchen auf zwei ganz wichtige Aspekte hingewie- Man muss die Leistung einer Person bewerten, hat
sen werden. aber den Blick nicht auf die Umgebungsbedingungen
gerichtet. Manchmal kann man sie gar nicht kennen
und dennoch hatten sie einen bestimmenden Ein-
Sein vom Schein unterscheiden fluss auf die Leistung der Person. Es hilft hierbei, zu
23 Der erste Aspekt ist, dass sich hinter dem Erschei- bedenken, dass Menschen nur allzu gerne Ereig-
nungsbild nicht zwangsläufig eine wirkliche Kom- nisse mit den Eigenschaften der Person (disposi-
petenz verbirgt. Man muss genau hinschauen, was tionale Attributionen) erklären, anstatt die situati-
eine Person im Einzelfall tatsächlich kann und wie ven Einflüsse zu beachten. Der erste Kellner bezog
sie handelt, anstatt sich auf stereotype Vorstellungen die Aussage sofort auf sich, anstatt auf den relativ
von ihren Fähigkeiten zu verlassen. offensichtlichen situativen Umstand, dass er der erste
Kellner war, der in den Raum trat.
Bei der Bewertung der Leistung von Menschen
Gefahren von Lügen treten zudem oft fehlgeleitete Eindrücke auf, bei
Der zweite Aspekt betrifft die Wahrnehmung des denen die Kompetenz in einem Bereich gedank-
Bauern, der den Doktor in seinem Wohlstand sah. lich auf andere Bereiche übertragen wird. Beispiels-
Ihn verleitete das Streben nach sozialer Anerken- weise ist eine gut aussehende Person nicht zwangs-
nung und materiellem Wohlstand dazu, etwas vor- läufig auch fachlich kompetent. Ebenso ist eine
zutäuschen, was er nicht wirklich war. Gleichzeitig beliebte Person nicht unbedingt eine geeignete
beruhte seine spätere Anerkennung nur auf dem Führungskraft.
Zufall, dass die Diebe freiwillig den Schatz vorzeig-
ten. In einer anderen Umgebung – ohne Kontakt
zu den Kellnern – hätte Dr. Allwissend den Schatz Realistische Selbsteinschätzung
sicherlich nicht gefunden. Daher muss er einen Im Gegensatz zur Fremdwahrnehmung einer
großen Aufwand betreiben, um seine Fassade von Person gibt es bei der Wahrnehmung der eigenen
der Kompetenz als Dr. Allwissend aufrechtzuerhal- Person auch Menschen, die sich den Erfolg aufgrund
ten. Schon beim nächsten Fall kann das Kartenhaus ihrer eigenen Fähigkeiten erklären, aber den Miss-
in sich zusammenstürzen, sodass sein Aufwand ver- erfolg bevorzugt äußeren Umständen zuschieben
geblich gewesen wäre. Dann hätte er sein gesamtes (7 Abschn. 23.3.2). Als Führungskraft muss man dies
Eigentum veräußert und sich so seiner Existenz als erkennen, um den Mitarbeiter durch einen geschick-
Bauer und Holzfäller beraubt, um sich die Kleidung ten Hinweis auf die selbstwertdienlichen Verzer-
leisten zu können, die ihm den schönen Anschein rungen zu einer realistischen Selbsteinschätzung zu
geben, ohne davon profitieren zu können. führen. Wenn sich Mitarbeiter selbst realistisch ein-
Dieses Märchen zeigt auf, welche langfristigen schätzen können, sind sie mit der externen Einschät-
Folgen ein Lügengebilde haben kann und weshalb es zung von Führungskräften zufriedener.
keine gute Idee ist, anderen Menschen zu vertrauen, Für Führungskräfte ist die Eigenwahrnehmung
nur weil man ein Klischee im Sinn hat. ein zentraler Bestandteil ihrer eigenen Arbeit. Es
ist von ganz entscheidender Bedeutung, wie man
als Führungskraft auf andere Personen wirkt und
23.4.2 Führung dass man diese Wirkung auch reflektiert. Wenn
man sich hierbei einer selbstwertdienlichen Verzer-
Für die Führung von Menschen zeigt dieses Märchen, rung hingibt, führt das zu Problemen bei der Eigen-
wie leicht man bei der Beurteilung von anderen Men- wahrnehmung. Die Fremd- und Eigenwahrneh-
schen einem Fehlurteil unterliegt. Das, was die Psy- mung sollten durch Reflexion der eigenen Person
chologie als perzeptuelle Salienz bezeichnet, also das möglichst nahe beieinanderliegen, um sicherzustel-
am meisten wahrgenommene Merkmal, begegnet len, dass man als Führungskraft die untergebenen
einer Führungskraft tagtäglich. Angestellten motivierend leitet. Insbesondere bei
23.4 · Implikationen für die Erziehung, Führung und Lebensgestaltung
177 23
modernen Führungsformen wie der transformatio- wenn man nicht alles gleichermaßen gut beherrscht,
nalen Führung gilt es, die eigene Person beständig denn jeder Mensch hat seine individuellen Kompe-
zu reflektieren und sich seiner Wirkung bewusst zu tenzen. Psychologische Forschung hat gezeigt, dass
sein, um bei den Mitarbeitern so anzukommen, wie man sehr viel mehr erreicht, wenn man seine Stärken
man es meint. stärkt, anstatt die Schwächen zu überdecken.

23.4.3 Lebensgestaltung Vertrauen in andere


Es ist allzu natürlich, dass man sich die Mühen sparen
Aus dem alltäglichen Leben könnten Ihnen alle möchte, die Kompetenz von anderen Menschen zu
drei Positionen, die man im Märchen wiederfindet, überprüfen. Es erleichtert das Leben, wenn man sich
durchaus vertraut sein, ohne Ihnen eine Absicht nicht bei jeder Angelegenheit von Neuem mit jeder
dabei unterstellen zu wollen. Einmal die des Dr. All- Kleinigkeit befassen muss. Aus genau diesem Grund
wissend, der etwas vorgibt zu können, das er gar haben sich im Laufe der Evolution Stereotype gebil-
nicht kann. Zum anderen die der Diener und des det und halten sich bis heute.
reichen Mannes, die glauben, dass jemand etwas Auch im Entscheiden finden sich sog. Heuristi-
kann, obwohl sie gar keinen Grund haben, das zu ken, was einfach nur heißt, dass man intuitiv etwas
glauben. Zuletzt noch die des Beobachters, der sieht, denkt und dann entscheidet. Der Volksmund nennt
wie einfach sich Menschen hereinlegen lassen. Egal so etwas „Bauchgefühl“ und auch die psychologi-
in welcher Position man sich gerade befindet, man scher Forschung zeigt, dass man mit diesen Entschei-
kann immer das Beste aus der Lage machen, wenn dungen gerade bei einem unsicheren Ausgang, der
man weiß, welche psychologischen Prozesse dabei schlecht abzuschätzen ist, gar nicht so falsch liegt.
ablaufen. Aber manchmal ist es doch hilfreich, nicht
einfach auf vermeintliche Autorität zu vertrauen,
sondern sich genauer damit befasst, ob hinter den
Ehrlichkeit mit sich selbst Worten einer anderen Person tatsächlich Kompetenz
Wer Kinder hat oder sich gerne an die eigene Kind- steht. Scharlatane und Betrüger haben sich seit Jahr-
heit erinnert, findet so manche Situation, in der tausenden schon eine goldene Nase mit der Gutgläu-
ein Kind vorgab, etwas zu können, was es gar nicht bigkeit anderer Menschen verdient. Auch in heuti-
konnte. Das ist eine selbstwertdienliche Verzer- ger Zeit sind diese Betrüger nicht weniger geworden.
rung der Wirklichkeit, die bei Kindern gar nicht so
schlecht ist. Denn sie motiviert zu Großem und nur
durch große Ziele wächst man in kleinen Schritten. Tue Gutes und zeige Mut
Was bei Kindern noch sinnvoll sein mag, kann Wenn man beobachtet, dass jemand aus Gutgläubig-
bei Erwachsenen allerdings schnell sehr gefährlich keit zu Schaden kommen könnte, ist man moralisch
werden. Wenn man sich kompetenter darstellt, als verpflichtet, einzugreifen.
man wirklich ist, führt das zu enttäuschten Erwar- In der Geschichte des Dr. Allwissend hätte
tungen bei anderen Menschen. Nicht immer kann man an so manchen Stellen eingreifen können und
man darauf vertrauen, so viel Glück zu haben wie manchmal auch müssen. Selbst wenn man kein son-
Dr. Allwissend. Meistens endet die Täuschung derliches Mitleid mit dem reichen Mann zeigen mag,
mit der Aufdeckung von Fehlern oder Misserfolg, der Dr. Allwissend für seinen zufälligen Fund reich
sodass man im beruflichen Sinne eine schlechte entlohnte, hätte man doch zumindest für die Diener
Bewertung kassiert. Im Familien- und Freundes- ein moralisches Verständnis aufbringen müssen,
kreis führt es eher zur persönlichen Enttäuschung damit sie ihr spärliches Geld nicht an Dr. Allwis-
der Liebsten. send abtreten.
Wer eine positive Selbsteinschätzung besitzt, ver- Es ist auch in heutiger Zeit gar nicht selten, dass
spürt eine Anerkennung für die eigenen Grenzen und Menschen auf ein sog. Pyramidenschema hereinfal-
erkennt, dass es ganz und gar nicht von Nachteil ist, len, bei dem sie erst etwas an andere bezahlen sollen,
178 Kapitel 23 · Dr. Allwissend von den Gebrüdern Grimm (1815)

um dann selbst zu verdienen. Die Dinge hören sich Hewstone, M., & Martin, R. (2014). Sozialer Einfluss. In: K. Jonas,
W. Stroebe, & M. Hewstone (Hrsg.), Sozialpsychologie
manchmal zu gut an, um sie zu verpassen. Als Beob-
(S. 269–313). Berlin, Heidelberg: Springer.
achter zeigt man nicht die gleiche Involviertheit wie Parkinson, B. (2014). Soziale Wahrnehmung und Attribution.
betroffene Personen, sodass einem der Betrug auffal- In: K. Jonas, W. Stroebe, & M. Hewstone (Hrsg.), Sozialpsy-
len kann, bevor jemand zu Schaden kommt. chologie (S. 65–106). Berlin, Heidelberg: Springer.
Pendry, L. (2014). Soziale Kognition. In: K. Jonas, W. Stroebe, &
23 M. Hewstone (Hrsg.), Sozialpsychologie (S. 107–140). Ber-
lin, Heidelberg: Springer.
23.5 Fazit
van Avermaet, E. (2002). Sozialer Einfluss in Kleingruppen. In:
W. Stroebe, K. Jonas, & M. Hewstone (Hrsg.), Sozialpsycho-
Das Märchen von Dr. Allwissend offenbart trotz logie (S. 451–495). Berlin, Heidelberg: Springer.
seiner Kürze einiges Wissenswertes für den Alltag. Wienker-Piepho, S. (2000). Je gelehrter, desto verkehrter? Volks-
kundlich-Kulturgeschichtliches zur Schriftbeherrschung.
Man erkennt so manche Schwäche, der Menschen
Münster, New York: Waxmann.
unterliegen, wenn sie nicht ganz genau hinsehen, Zachariae, T. (1920). Kleine Schriften: zur indischen Philologie,
wen sie vor sich haben. Manchmal ist man auch selbst zur vergleichenden Literaturgeschichte, zur vergleichen-
derjenige, der gerne mehr Kompetenz vorgibt, als er den Volkskunde. Bonn, Leipzig: Kurt Schröder.
tatsächlich hat. Wir lernen von Dr. Allwissend, dass
es eine gehörige Menge an Glück braucht, um aus
so einer Geschichte unbeschadet herauszukommen.
Für unseren Alltag dürfte es sehr viel besser sein, uns
erst gar nicht in seine Lage zu bringen.

Literaturverzeichnis

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Hausmärchen der Gebrüder Grimm (Bd. 2). Leipzig: Diete-
rischsche Verlagsbuchhandlung.
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K. Jonas, & M. Hewstone (Hrsg.), Sozialpsychologie
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Fincham, F., & Hewstone, M. (2002). Attributionstheorie und
-forschung – Von den Grundlagen zur Anwendung. In: W.
Stroebe, K. Jonas, & M. Hewstone (Hrsg.), Sozialpsycholo-
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Fischer, P., Asal, K., & Krueger, J. I. (2013a). Urteilen und Ent-
scheiden. In: P. Fischer, K. Asal, & J. I. Krueger (Hrsg.), Sprin-
ger-Lehrbuch. Sozialpsychologie für Bachelor (S. 29–44).
Berlin, Heidelberg: Springer.
Fischer, P., Asal, K., & Krueger, J. I. (2013b). Gruppenprozesse
und soziale Identität. In: P. Fischer, K. Asal, & J. I. Krueger
(Hrsg.), Springer-Lehrbuch. Sozialpsychologie für Bachelor
(S. 119–137). Berlin, Heidelberg: Springer.
Grimm, J., & Grimm W. (1815). Kinder- und Haus-Märchen,
gesammelt durch die Brüder Grimm: Große Ausgabe (Bd. 2).
Berlin: Realschulbuchhandlung.
Grimm, B., & Grimm, J. (2005). Dr. Allwissend. In: H. Rölleke
(Hrsg.), Kinder- und Hausmärchen: Vollständige Ausgabe
(2. Aufl.). Düsseldorf: Artemis & Winkler.
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W. Stroebe, & M. Hewstone (Hrsg.), Sozialpsychologie
(S. 197–229). Berlin, Heidelberg: Springer.
179 24

Bremer Stadtmusikanten von


den Gebrüdern Grimm (1819)
Verena Berthold

24.1 Inhalt des Märchens – 180

24.2 Die Charaktere – 181

24.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 181


24.3.1 Leistungsorientierung – 181
24.3.2 Respekt vor dem Alter – 182
24.3.3 Vom Wert der Gruppe – 183
24.3.4 Handlungsorientierung – 183
24.3.5 Vorurteile und Rassismus – 184
24.3.6 Gerechtigkeit – 185

24.4 Fazit – 185

Literaturverzeichnis – 185

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_24
180 Kapitel 24 · Bremer Stadtmusikanten von den Gebrüdern Grimm (1819)

24.1 Inhalt des Märchens stoßen auf ein stattliches Räuberhaus, in dem die
Räuber ein reichliches Abendmahl genießen. Nun
Es war einmal ein alter Esel, welcher von seinem schmieden die vier Musikanten einen Plan, wie sie
Hausherrn geschlachtet werden sollte, da er ihm als die Räuber aus dem Haus vertreiben können: Der
Nutztier nicht mehr dienen konnte. Da beschließt Hund muss sich auf des Esels Rücken stellen, welcher
der Esel, auszubrechen und sich auf den Weg nach sich mit den Vorderpfoten am Fensterbrett abstützt,
Bremen zu machen, wo er sich sein Leben mit Stra- die Katze springt auf den Hund, und der Hahn setzt
ßenmusik finanzieren wollte. Unterwegs trifft er nach- sich auf den Kopf der Katze. Aufgetürmt blicken sie
24 einander auf einen alten Hund und eine alte Katze, durchs Fenster zu den Räubern und stimmen ihre
die wie der Esel bei ihrem bisherigen Besitzer um ihr fröhliche „Musik“ an, indem jeder von ihnen so laut
Leben fürchten mussten und deshalb fortgelaufen wie möglich jault, bellt, miaut oder kräht. Von dem
waren. Beide stellen sich nun also die Frage, wie sie plötzlichen Lärm erschreckt, fliehen die Räuber aus
ihr Leben fortführen wollen. Da kommt es ihnen ganz dem Haus. Esel, Hund, Katze und Hahn speisen
gelegen, dass der Esel sie einlädt, mit nach Bremen zu kräftig, denn sie haben einen anstrengenden und auf-
kommen, um dort zu musizieren. Schon bald treffen regenden Tag hinter sich gebracht. Als alle friedlich
die drei Tiere auf ihrem Weg nach Bremen auf einen schlafen, kommt einer der Räuber zurück, welchen
Hahn, der unablässig kräht, da er bald geschlachtet sie aber in gekonnter Zusammenarbeit erneut ver-
werden soll. Um dieser miserablen Situation zu ent- schrecken und damit endgültig vertreiben können.
kommen, schließt auch er sich dem Esel an. Den Tieren gefällt es in ihrem neuen Haus so gut,
Da die vier Kameraden Bremen nicht mehr am dass sie beschließen, dort zu bleiben und nicht mehr
selben Tag erreichen können, legen sie sich in einem weiter nach Bremen zu ziehen. Und wenn sie nicht
Waldstück zur Ruhe. Allerdings erspäht der Hahn gestorben sind, dann leben sie noch heute in besag-
in der Ferne ein Licht, und so brechen sie doch noch tem Räuberhaus.
einmal auf, um zu dessen Quelle zu gelangen. Sie (Grimm u. Grimm 1819; . Abb. 24.1)

. Abb. 24.1  (Zeichnung: Claudia Styrsky)


24.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
181 24
24.2 Die Charaktere die Fragen am Ende des Kapitels weitere Anregun-
gen dazu geben.
Das Märchen erzählt von Tieren, die sich auf den
Weg in ein neues Leben machen, um dem Tod zu ent-
kommen. Dabei nehmen die Akteure unterschiedli- 24.3.1 Leistungsorientierung
che Rollen ein, welche auch im menschlichen Alltag
immer wieder zu beobachten sind. Alle Tiere des Märchens verlassen ihr Heim aus dem-
Der Esel ist der „Drahtzieher“ im Märchen, selben Grund: Sie sollen getötet werden, da sie dem
der Initiator und Motivator, der sich nicht seinem Menschen aufgrund ihrer Altersschwäche nicht
Schicksal hingeben möchte und die Dinge selbst mehr als Nutztier dienen können.
in die Hand nimmt, aber auch seine Weggefähr- Auch heutzutage werden Menschen vor allem in
ten überzeugt, mit ihm zu kommen. Der Hund und westlichen Gesellschaften häufig daran bemessen,
die Katze sind Mitläufer, da beide zunächst etwas was sie leisten oder welchen Nutzen sie bringen.
hilflos in ihrer Situation sind, sich aber recht schnell Viele Personen streben nach Spitzenleistungen,
vom Esel überzeugen lassen, mit nach Bremen zu da sie sich dadurch einen besseren Status in ihrem
kommen. Der Hahn unterscheidet sich insofern von sozialen Umfeld erhoffen und dies ihren Selbstwert
Hund und Katze, als er hoffnungslos sein Schick- steigert. Deci und Ryan (2008) beschreiben in ihrer
sal erwartet und nicht einmal von zu Hause fort- Selbstbestimmungstheorie die drei Grundbedürf-
läuft. Stattdessen bereitet er sich gedanklich schon nisse des Menschen: Autonomie, soziale Eingebun-
auf den Tod vor und kräht so lange, bis die anderen denheit und – was an dieser Stelle ausschlaggebend
Tiere ihn dazu bewegen können, mit ihnen loszu- ist – Kompetenz. Daher sind viele Menschen von
ziehen. Dadurch wirkt der Hahn wie das schwächste dem Gedanken geprägt: „Wenn ich viel leiste, werde
Gruppenmitglied. ich gemocht und akzeptiert.“
Obwohl die Tierbesitzer nicht direkt im Märchen Doch wenn wir alles und jeden nur nach seiner
vorkommen, so wissen wir doch etwas über sie: Sie Nützlichkeit für ein System bewerten, so werden
scheinen egoistische Personen zu sein, die keinerlei diejenigen, die ihre Stärken nicht in offensichtli-
emotionale Bindung zu ihren Tieren aufbauen. Sie chen Lebensbereichen haben oder – wie die Tiere
sehen diese lediglich als Nutztiere, die an „Wert“ ver- im Märchen – aufgrund von Alter und Krankheit
lieren, sobald sie älter werden. eine reduzierte Leistung erbringen, zwangsläu-
Die Räuber im Märchen müssen ausgleichende fig als Verlierer dastehen. Daher ist es wichtig, dass
Gerechtigkeit erfahren, da ihnen das Haus, welches wir es schaffen, unsere Mitmenschen anhand ihres
ihnen nicht zusteht, wieder genommen wird. Wesens und ihrer individuellen Stärken zu beurtei-
len. Wenn jemand einen tollen Charakter hat, so ist
dieser Mensch zu schätzen, unabhängig davon, ob er
24.3 Psychologische Phänomene und objektiv gute Leistungen erbringt oder irgendwem
Implikationen nützlich erscheinen mag.
Auch wenn wir Teil einer Gruppe sind, die
Bevor das Märchen der Bremer Stadtmusikanten im schwächere Mitglieder umfasst, so sollten wir diese
Detail analysiert wird, gilt es zu betonen, dass es viel einbeziehen. Sie werden sich nun vielleicht fragen,
Lebensweisheit transportiert. Bei genauem Lesen warum das sinnvoll ist. Zum einen sind diese schwä-
erfahren wir einiges darüber, wie wir ein selbst- cheren Mitglieder oftmals nur vermeintlich weniger
bestimmtes Leben führen können und was wir im leistungsfähig und ihre wahren Kompetenzen offen-
sozialen Miteinander tun sollten und was nicht. baren sich erst, wenn wir die Personen näher kennen-
Im Folgenden werden einige psychologische lernen. Im Märchen z. B. wirkt der Hahn zu Beginn
Phänomene und Konstrukte des Märchens heraus- der Geschichte wie das schwächste Gruppenmit-
gearbeitet und auf dieser Basis praktische Implikatio- glied, doch ohne ihn wäre die Gruppe wohl nie auf
nen für verschiedene Lebensbereiche abgeleitet. Falls das Räuberhaus aufmerksam geworden – seine Weit-
Sie sich noch tiefergehend mit den „Bremer Stadt- bzw. Aussicht aus der Vogelperspektive wurde zum
musikanten“ beschäftigen möchten, können Ihnen Nutzen aller Tiere. Zum anderen können schwächere
182 Kapitel 24 · Bremer Stadtmusikanten von den Gebrüdern Grimm (1819)

Mitglieder daran wachsen und ihre Stärken entwi- völligen Konzentration. Dieses Flow-Gefühl wiede-
ckeln. Dies ist nicht nur für die Person selbst vor- rum kann uns zu Glücksempfinden verhelfen. Wer
teilhaft, sondern auch für die Gruppe: Nun gibt es weiß, möglicherweise wäre unser Alltag etwas unbe-
ein starkes Mitglied mehr, das ebenfalls potenzielle schwerter, könnten wir unsere Freizeit häufiger, ohne
Schwächen ausgleichen kann. einen Gedanken an den Nutzen zu verschwenden,
(er)leben.

Implikationen für die Erziehung,


24 Führung und Lebensgestaltung 24.3.2 Respekt vor dem Alter
Unsere Haltung gegenüber der Leistungsorientie-
rung kann für alle Lebensbereiche bedeutsam sein. Die Tiere im Märchen werden allesamt von ihren
Wir können uns bemühen, unsere Kinder zu Hausherren verstoßen, da sie alt und schwach
Menschen zu erziehen, die statt der Leistung ihrer waren. Dass sie bisher ihr gesamtes Leben gute
Mitmenschen deren Charakter und Stärken in den Dienste geleistet haben, wird von den Besitzern
Fokus stellen und auch schwächere Mitmenschen nicht honoriert, sondern als Selbstverständlichkeit
nicht links liegen lassen, sondern sie unterstützend hingenommen.
begleiten. Denn vermutlich findet sich jeder von In einer immer älter werdenden Gesellschaft ist
uns auch einmal in einer Situation wieder, in der er der Umgang mit alten Menschen von großer Bedeu-
weniger kompetent ist als die anderen. Dann sind wir tung. Wie empfanden Sie beim Lesen die Tatsache,
dankbar dafür, dass uns ein „Esel“ mitzieht. dass die Tiere verstoßen wurden? Viele von Ihnen
Vor allem das Berufsleben ist vom Leistungs- empfanden vermutlich Ungerechtigkeit. So, wie es
denken geprägt. Für Führungskräfte kann es durch- im Märchen unfair ist, die Tiere fortzuschicken bzw.
aus wichtig sein, auf messbare Kennzahlen und ihnen mit dem Tod zu drohen, ist es auch in unserer
Kosten-Nutzen-Analysen zu verzichten, und zwar Gesellschaft ungerecht, wenn wir älteren Menschen
dann, wenn ein Gruppenmitglied eine andere wich- keinen Respekt zollen. Wie können wir dafür sorgen,
tige Funktion innerhalb der Gesamtgruppe erfüllt dass ein adäquater Umgang mit dem Alter in unserer
wie eine hohe Soziabilität, die die Gruppe zusam- Gesellschaft stattfindet?
menhält. Denn jeder hat seine Stärken, auch die ver-
meintlich „Schwachen“.
Nicht nur das Werturteil über andere Men- Implikationen für die Arbeit und
schen ist häufig vom Leistungsgedanken bestimmt, Gesellschaft
sondern auch Tätigkeiten oder Gegenstände werden In Unternehmen werden ältere Arbeitnehmer häufig
an ihrem Nutzen bemessen. Doch warum sollten wir als Last erlebt und nicht selten werden sie frühverren-
nicht manchmal auch Dinge tun, die uns einfach nur tet, damit ihre Stellen mit jüngeren Arbeitnehmern
Spaß machen? Wenn wir eine Handlung nur zum neu besetzt werden können. Sofern die Betroffenen
Selbstzweck ausführen, sie somit ausschließlich dies aber selbst nicht wünschen, ist dies kein fairer
intrinsisch, also aus unserem Innersten heraus, moti- und vor allem kein besonders respektvoller Umgang.
viert ist, handelt es sich um eine sog. autotelische Denn wir sollten bedenken, dass diese Arbeitskräfte
Handlung. Wenn wir beispielsweise ein Zeitungsrät- bereits jahrzehntelang Arbeit verrichtet und vieles
sel zu lösen versuchen, obwohl wir die Zeitung im geleistet haben, wovon wir nun profitieren oder
Anschluss sowieso in den Papiermüll werfen werden, worauf wir aufbauen können. Respekt und Wert-
so ist das Rätseln an sich der Antrieb für unser Tun. schätzung dafür wäre also angebracht, sie sollten
Autotelische Aktivitäten sind nach Csikszentmi- nicht wie der alte Esel einfach „aussortiert“ werden.
halyi (2004) auch eng mit Flow-Erleben (engl. für Ältere und erfahrene Arbeitnehmer verfügen übri-
Fließen, Strömen) verknüpft. Flow-Erlebnisse sind gens häufig über wertvolle Expertise, die dem Unter-
durch ein Gleichgewicht aus Anforderungen und nehmen sonst verloren ginge. Eine Win-win-Situ-
Fähigkeiten gekennzeichnet und manifestieren sich ation ergibt sich folglich, wenn es Unternehmen
in einem Tätigkeitsrausch bzw. einem Zustand der schaffen, diese Kompetenzen noch für sich zu nutzen
24.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
183 24
und den älteren Arbeitnehmern einen Arbeitsplatz Erkenntnissen leiten. Gerade für Unternehmen ist
zu sichern, bis diese das reguläre Renteneintrittsalter dies ein starkes Argument für Diversity Manage-
erreicht haben oder selbst den Wunsch verspüren, ment, also heterogene Arbeitsgruppen. Nur wenn
sich von der Arbeit zurückzuziehen. wir uns auf Zusammenarbeit einlassen, können wir
Doch auch auf gesellschaftlicher Ebene oder im über uns selbst hinauswachsen, wie es die Tiere im
Privaten können wir dem Märchen eine Botschaft Märchen tun: der Esel als starkes Fundament der
entziehen. Das Prinzip des Generationenvertrags, Pyramide und der Hahn als Spitze, der von Hund
wie wir es z. B. vom deutschen Rentensystem kennen, und Katze gestützt wird.
könnte uns auch in allgemeinen Werthaltungen ins- Neben der gesteigerten Effektivität von Gruppen
pirieren: Nachkommende Generationen sichern die ist es darüber hinaus eines jeden Menschen Bedürf-
Einkünfte bzw. Nachsorge der jeweils älteren Genera- nis, zugehörig zu Gruppen zu sein. In dem Konzept
tion. Denn so wird jeder einmal von diesem System der Gruppenzugehörigkeit („need to belong“; Bau-
profitieren. Dieses Prinzip lässt sich nicht nur auf meister u. Leary 1995) geht man davon aus, dass
finanzielle Angelegenheit wie die Rente anwenden, Menschen das Bedürfnis nach langfristigen und
sondern auch auf unser Verhalten. Wenn wir einer affektiv positiven Interaktionen mit ihren Mitmen-
älteren Person im Supermarkt helfen, die Einkäufe schen haben. Wenn wir uns also mit anderen beruf-
zu verstauen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, lich oder privat in Gruppen zusammentun, so wird
können wir zumindest darauf hoffen, dass auch uns dieses Grundbedürfnis befriedigt und löst in der
in einigen Jahren oder Jahrzehnten geholfen wird, Regel Wohlbefinden bei uns aus.
wenn wir Hilfe benötigen. Diese Haltung spiegelt Dabei ist ein „gemeinsames Schicksal“ förder-
sich in der generalisierten Reziprozität wider und lich für Gruppenbildung (Bastian et al. 2014), sprich
ist Grundlage von Generationenverträgen. Menschen mit ähnlichen Ausgangspositionen oder
Bedenken wir, was die uns vorausgegangenen Problemen schließen sich mit erhöhter Wahrschein-
Generationen alles geleistet haben, von dem wir nun lichkeit zusammen (z. B. in Selbsthilfegruppen).
profitieren, so sind wir ihnen doch einiges schuldig. Grund hierfür ist, dass sie sich miteinander identi-
Unsere Eltern haben in der Regel viel Zeit, Mühe, fizieren und auch gut in die anderen hineinverset-
Liebe und Geld in uns investiert, sodass es doch ein zen können.
legitimer Wunsch ist, dass wir sie pflegen und unter- Die Bremer Stadtmusikanten teilten zu Beginn
stützen, sobald sie auf Hilfe angewiesen sind. Auch der Geschichte alle dieselben Zukunftssorgen,
wenn es uns möglicherweise als Last erscheint, wir nachdem sie verstoßen wurden. Sie konnten sich
sollten dies aus Dankbarkeit und Respekt tun, sodass gut mit der Situation der anderen identifizieren und
ältere Menschen ein würdevolles und möglichst nachempfinden, wie es ihnen ergeht.
unbeschwertes Dasein führen können.

Implikationen für die Lebensgestaltung


24.3.3 Vom Wert der Gruppe Wann immer wir also ein Problem haben, von dem
wir glauben, es nicht alleine lösen zu können, sollten
Die Geschichte der Bremer Stadtmusikanten zeigt wir uns daran erinnern, dass es womöglich auch
uns eindrucksvoll, wie eine Gruppe durch Zusam- noch andere Menschen in unserem Umfeld mit ähn-
menschluss Ziele erreichen kann, die die beteiligten lichen Problemen gibt, und erwägen, ob es hilfreich
Individuen alleine niemals hätten erreichen können. ist, sich mit ihnen zusammenzutun.
Im Alltag oder Berufsleben ist es oft so, dass wir
uns, um wirklich Großes zu leisten, zusammenschlie-
ßen müssen. Denn jeder Mensch hat andere Stärken. 24.3.4 Handlungsorientierung
Wenn wir dieses Potenzial in Gruppen zusammenle-
gen, können Kompetenzen gesteigert und die Schwä- Eine wichtige Botschaft des Märchens steckt im
chen ausgeglichen werden. So können beispiels- Prinzip der Handlungsorientierung. Der deutsche
weise auch Synergien entstehen, die uns zu neuen Psychologe Julius Kuhl entwickelte das Konzept der
184 Kapitel 24 · Bremer Stadtmusikanten von den Gebrüdern Grimm (1819)

Handlungs- bzw. Lageorientierung (Kuhl u. Kazén beschweren können wir versuchen, kreativ daran
2003). Handlungsorientierte Menschen schaffen es mitzuwirken und die Dinge positiv zu beeinflussen.
nach Rückschlägen relativ schnell, sich gedanklich Der Leitspruch „Love it, change it or leave it“ kann
davon zu lösen und auf zukünftige Handlungen zu uns dabei helfen.
konzentrieren, indem sie z. B. eine konstruktive Feh-
leranalyse vornehmen. Lageorientierte Menschen
hingegen bleiben gedanklich bei der aktuellen Lage 24.3.5 Vorurteile und Rassismus
gewissermaßen hängen und kreisen weiterhin um
24 das Problem. Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem, welches
Was wäre wohl geschehen, hätte keines der leider selbst in Zeiten fortgeschrittener Globalisie-
Tiere das Zepter selbst in die Hand genommen und rung weiterhin existiert. Menschen mit fremder Her-
konkret gehandelt? Vermutlich wären alle Tiere kunft, Sprache oder ausländischem Aussehen werden
getötet worden oder bald einsam auf der Straße immer wieder Opfer von rassistischen Parolen,
gestorben. So aber haben die Tiere zusammen ein Handlungen und Ausgrenzung.
Abenteuer erlebt und können den Rest ihres Lebens Jedes Kind weiß, dass sich Hund und Katze nicht
gemeinsam im Räuberhaus verbringen. ausstehen können. Doch – siehe da – was geschieht
Wo liegt der Unterschied zwischen diesen beiden im Märchen? Esel, Hund, Katze und sogar ein Vogel
Varianten der Geschichte? Im Szenario geben sich die schließen Freundschaft, entgegen aller gängigen
Tiere ihrem Schicksal hin, sie sind eher lageorien- Erwartungen über die Verträglichkeit dieser unter-
tiert und verfallen der sog. erlernten Hilflosigkeit schiedlichen Rassen.
(Seligman u. Maier 1967). Dieser Zustand umfasst Alle Menschen dieser Erde gehören genau einer
die Erwartung, negative Situationen nicht beeinflus- Spezies an: dem Homo sapiens sapiens. Bei uns
sen zu können, sowie ein Gefühl des Kontrollverlusts. handelt es sich also nicht einmal – wie im Märchen –
Im Märchen können wir dieses Phänomen um unterschiedliche Spezies, und dennoch existiert
besonders gut am Hahn erkennen. Obwohl ihm klar Rassismus. Ein Grund hierfür ist die ständige Kate-
ist, dass er geschlachtet werden soll, tut er nichts gorisierung unserer Mitmenschen in Ingroup und
weiter, als so lange zu krähen, bis er getötet werden Outgroup (bzw. Eigen- und Fremdgruppe). Die
soll. Ingroup ist diejenige soziale Gruppe, zu der wir uns
Im tatsächlichen Verlauf des Märchens hin- zugehörig fühlen und mit der wir uns identifizieren
gegen brechen die Tiere auf, um ein besseres Leben können. Die Ingroup werten wir gedanklich immer
zu führen. Sie, vor allem der Esel als Initiator, ver- wieder auf, während wir Tendenzen haben, die Out-
fügen über eine hohe Selbstwirksamkeitsüberzeu- group, also Gruppen, denen wir uns nicht zugehörig
gung (Bandura 1977), d. h., sie glauben daran, durch fühlen, abzuwerten. So geschieht es leicht, dass Men-
ihr eigenes Tun Dinge verändern zu können – selbst schen fremder Herkunft als Outgroup wahrgenom-
„wirksam“ zu sein. men und in der Folge abgewertet werden.

Implikationen für die Lebensgestaltung Implikationen für die Lebensgestaltung


Ob im Privaten oder Beruflichen können uns die und Erziehung
Tiere als Vorbild dienen. Bevor wir jammern und Die Bremer Stadtmusikanten zeigen uns, dass der
dauerhaft unzufrieden sind, sollten wir uns immer Charakter und das Verhalten wichtiger sind als Aus-
wieder die Frage stellen: Kann ich durch mein sehen, Herkunft oder Sprache. Auch unkonventio-
Handeln etwas verändern? Denn in fast allen Situa- nelle Kombinationen können gut funktionieren und
tionen haben wir zumindest einen gewissen Hand- das Leben bereichern. Wenn sich Hund und Katze
lungsspielraum. Betrachten wir unser Leben als friedlich verhalten können, warum schaffen wir
einen Film, so sind wir der Regisseur, der das Dreh- Menschen es innerhalb unserer Spezies dann nicht?
buch maßgeblich beeinflusst. Statt uns also über die Vielleicht erinnern Sie sich an diese Geschichte,
„schlechten Szenen“ oder den „schlechten Film“ zu wenn Sie mit dem Thema Rassismus in Berührung
Literaturverzeichnis
185 24
kommen oder Ihren Kindern vermitteln wollen, dass möglicherweise in Zukunft durch die Erfolgsge-
ein Mensch unabhängig von seiner Herkunft Wert- schichte der Bremer Stadtmusikanten ermutigt, eine
schätzung und Gleichberechtigung verdient. Mit Veränderung oder einen Protest zu wagen und sich
dem Wissen über In- und Outgroup sind Sie nun mit anderen zusammenzuschließen.
sensibilisiert für die Abwertungstendenzen gegen-
über Fremdgruppen und können diese besser erken- z Fragen zur Reflexion
nen und ihnen entgegenwirken. 44Was hat es zu bedeuten, dass die Tiere ihr
eigentliches Ziel Bremen nicht erreichen? Wie
ist das zu bewerten?
24.3.6 Gerechtigkeit 44Wann waren Sie in Ihrem Leben schon in der
Rolle eines der Bremer Stadtmusikanten, wann
» Es gibt nichts Gutes, außer man tut es! (Erich in der der Räuber oder Tierbesitzer? Sind/
Kästner) waren Sie mit diesen Rollen zufrieden?
44Auf den ersten Blick stehen die Akteure der
Die Räuber der Geschichte leben in einem Haus, das Geschichte alle unter einem schlechten Stern,
ihnen vermutlich nicht zusteht, da sie es sich durch da sie aufgrund von Alterserscheinungen keine
Überfälle erbeutet haben. Am Ende der Geschichte weitere Perspektive in ihrem Leben haben.
wird es ihnen genommen, sodass sie ausgleichende Doch durch Kreativität und einen positiven
Gerechtigkeit erfahren. Die Geschichte kann als starken Willen meistern sie ihre Situation.
Appell verstanden werden, Ungerechtigkeiten in In welchen Situationen hat es sich in Ihrem
unserer Welt aktiv zu verringern. Sobald uns etwas Leben schon gelohnt, einen genaueren Blick
ungerecht erscheint – unabhängig davon, für wen auf Ihre Umwelt zu werfen, um die Chancen
die Ungerechtigkeit besteht –, sollten wir den Mut und Potenziale zu erkennen oder zu nutzen? In
haben, zu intervenieren, und versuchen, gerechtere welchen Situationen sollten Sie einen zweiten
Verhältnisse zu schaffen. Blick vielleicht noch wagen?

24.4 Fazit Literaturverzeichnis

Bandura, A. (1977). Self-efficacy: toward a unifying theory of


Betrachten wir das Märchen vor dem Hintergrund behavioral change. Psychological Review 84, 191–215.
der damaligen sozialen Situation, so können die Tiere Bastian, B., Jetten, J., & Ferris, L. J. (2014). Pain as social glue
als Sinnbild für alt gewordene Knechte und Mägde shared pain increases cooperation. Psychological Science
der damaligen Zeit angesehen werden, die im Dienst 25, 2079–2085.
Baumeister, R. F., & Leary, M. R. (1995). The need to belong:
der Herrschaft standen und durch ihre nachlassende
desire for interpersonal attachments as a fundamental
Arbeitskraft in eine ausweglose Situation gerieten. human motivation. Psychological Bulletin 117, 497–529.
Somit drückt das Märchen die Wünsche der Unter- Csikszentmihalyi, M. (2004). Flow im Beruf: Das Geheimnis des
schicht aus und bringt darüber hinaus mit Opti- Glücks am Arbeitsplatz. Stuttgart: Klett-Cotta.
mismus zum Ausdruck, dass es auch nachhaltige Deci, E. L., & Ryan, R. M. (2008). Self-determination theory: A
macrotheory of human motivation, development, and
Lösungen für Probleme gibt, die zunächst ausweg-
health. Canadian Psychology/Psychologie canadienne 49,
los erscheinen. Die Geschichte führt uns bildlich vor 182–185.
Augen, dass auch die vermeintlich Ungehörten einer Grimm, J., & Grimm, W. (1819). Kinder- und Haus-Märchen,
Gesellschaft etwas bewegen und sich gegen die „Mäch- gesammelt durch die Brüder Grimm: Große Ausgabe (Bd. 1,
tigen“ auflehnen können, wenn sie sich miteinander 2. Aufl.). Berlin: G. Reimer.
Kuhl, J., & Kazén, M. (2003). Handlungs- und Lageorientierung:
solidarisieren und gemeinsam an einem Strang ziehen.
Wie lernt man, seine Gefühle zu steuern. In: J. Stiensmei-
Vielleicht hat sich seit dem 19. Jahrhundert er-Pelster, & F. Rheinberg (Hrsg.), Diagnostik von Motiva-
manch ein Zuhörer oder Leser durch dieses Märchen tion und Selbstkonzept (S. 201–219). Göttingen: Hogrefe.
ermutigt gefühlt, etwas gegen unrechte Zustände Seligman, M. E., & Maier, S. F. (1967). Failure to escape trauma-
zu unternehmen. Und falls nicht, fühlen Sie sich tic shock. Journal of Experimental Psychology 74, 1–9.
187 25

Die drei Glückskinder von den


Gebrüdern Grimm (1819)
Vanessa Allwardt und Maxim Karl

25.1 Inhalt des Märchens – 188

25.2 Die Charaktere – 188

25.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 189


25.3.1 Faktoren des Glücks – 189
25.3.2 Umgang mit Misserfolgen – 190
25.3.3 Leistungen anderer und ihre Auswirkungen – 192

25.4 Fazit – 193

Literaturverzeichnis – 193

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_25
188 Kapitel 25 · Die drei Glückskinder von den Gebrüdern Grimm (1819)

25.1 Inhalt des Märchens Schloss. Die Räte des Königs verkündeten: „Lieber
wollen wir uns von den Mäusen plagen lassen, an
Es waren einmal ein Vater und seine drei Söhne. das Übel sind wir gewöhnt, als unser Leben einem
Kurz bevor der Vater starb, ließ er seine Söhne zu solchen Untier preiszugeben.“ Sie versandten einen
sich kommen und schenkte dem ersten einen Hahn, Edelknaben, um die Katze aufzufordern, das Schloss
dem zweiten eine Sense und dem dritten eine Katze. gutwillig zu räumen. Die Katze aber, deren Durst nur
Der Vater sprach: „Geld hab ich nicht, und was ich noch größer geworden war, antwortete bloß: „Miau,
euch jetzt gebe, scheint wenig wert, es kommt aber miau!“ Der Edelknabe verstand: „Durchaus, durch-
bloß darauf an, dass ihr es klug anwendet: Sucht euch aus nicht!“, und überbrachte dem König die Antwort.
nur ein Land, wo dergleichen Dinge noch unbekannt Die Räte entschieden, die Katze durch Gewalt zu ver-
25 sind, so ist euer Glück gemacht.“ treiben und schossen mit Kanonen das Schloss in
Nach dem Tode des Vaters zog der Älteste mit Brand. Als das Feuer bei der Katze ankam, sprang sie
seinem Hahn los. Wo er aber hinkam, war der Hahn glücklich zum Fenster hinaus; die Belagerer hörten
schon bekannt und niemand wollte sich über das Tier aber nicht eher auf, bis das ganze Schloss in Grund
wundern. Schließlich kam er auf eine Insel, wo die und Boden geschossen war.
Leute noch nie von einem Hahn gehört hatten, sogar (Grimm u. Grimm 1819; . Abb. 25.1)
ihre Zeit nicht einzuteilen verstanden: Sie wussten
nie, wie lange die Nacht noch dauern würde und ver-
schliefen oft den Morgen. Da sprach der Sohn: „Seht, 25.2 Die Charaktere
was für ein stolzes Tier: Es kräht nachts dreimal, und
wenn‘s das letzte Mal kräht, so geht die Sonne bald Der als erstes in Aktion tretende Charakter im
auf.“ Die Inselbewohner waren so entzückt, dass Märchen ist der Vater. Er ist kein wohlhabender,
sie dem Sohn im Tausch für den Hahn so viel Gold aber dafür sehr weiser Mann. Vorausschauend gibt
gaben, wie ein Esel nur tragen konnte. Als der zweit- er seinen Söhnen einen äußerst wertvollen Ratschlag
älteste Bruder den Reichtum des Ältesten sah, sprach mit auf den Weg, der diese letztlich zu reichen Leuten
er: „So will ich mich doch aufmachen und sehen, ob macht.
ich meine Sense auch so gut losschlagen kann.“ Auch Die drei Söhne schaffen es, mithilfe dieses Rat-
bei ihm dauerte es eine Weile, bis er sich endlich auf schlags ihre anfangs noch wertlos erscheinenden Erb-
einer Insel wiederfand, auf der die Leute nichts von stücke auf eine kreative und gewitzte Art und Weise
einer Sense wussten. Als die Inselbewohner sahen, für sehr viel Gold einzutauschen. Allesamt zeich-
wie schnell und mühelos er das Korn mähte, waren nen sie sich dadurch aus, dass sie trotz anfänglicher
sie bereit, ihm für die Sense ein mit Gold beladenes Misserfolge nicht aufgeben, bis sie ihr Ziel erreicht
Pferd zu geben. Nun wollte auch der dritte Bruder haben. Der erste Sohn hat es dabei am schwersten,
seine Katze an den rechten Mann bringen. Es erging da er auf der Suche nach seinem Glück nur das Wort
ihm anfangs wie den anderen Brüdern, denn aller- seines Vaters als Wegweiser hat. Er kann damit das
orten gab es Katzen und niemand wusste das Tier zu stärkste Durchhaltevermögen und die höchste Krea-
schätzen. Glücklicherweise kam er auf eine Insel, auf tivität unter Beweis stellen. Die anderen Brüder hin-
der eine schreckliche Mäuseplage herrschte und wo gegen haben es leichter und können bereits am Bei-
niemand jemals zuvor eine Katze gesehen hatte. Da spiel des Ältesten festmachen, dass die Strategie des
fing die Katze ihre Jagd an und hatte bald ein paar Vaters aufgeht und zum Erfolg führt.
Säle gereinigt, weshalb die Leute den König baten, Als letzte Charaktere treten der König und sein
das Wundertier für sein Reich zu kaufen. So kam Gefolge in Erscheinung. Sie werden im Umgang
es, dass auch der dritte Bruder mit den allergrößten mit einem unbekannten Tier (der Katze) als ängst-
Schätzen beladen heimkehrte. lich und hilflos beschrieben. Als sie es beim ersten
Die Katze erlegte unzählige Mäuse und als sie von Versuch nicht schaffen, dass die Katze das Schloss
dem vielen Jagen durstig wurde, drehte sie den Kopf verlässt, geben sie sofort auf, ohne nach alternativen
und schrie: „Miau, miau!“ Der König und seine Leute Lösungswegen zu suchen. Voreilig zerstören sie ihr
erschraken durch das Geschrei und stürmten aus dem eigenes Zuhause, wobei die Lösung doch eigentlich
25.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
189 25
. Abb. 25.1  (Zeichnung: Claudia
Styrsky)

so einfach gewesen wäre – eine Schüssel voll Wasser tun können, um Ihr Glück zu vergrößern und was
für die durstige Katze. Glück eigentlich ist?
Per Definition zeichnet sich Glück durch das
regelmäßige Erleben positiver Gefühlszustände,
25.3 Psychologische Phänomene und eine hohe Lebenszufriedenheit und das seltene Auf-
Implikationen treten negativer Gefühlszustände aus (Lyubomirsky
et al. 2005). Für die folgenden drei Faktoren konnte
Zentrale Themen, die in dem Märchen „Die drei in der psychologischen Forschung ein Zusammen-
Glückskinder“ eine Rolle spielen sind: hang mit dem eigenen Glücksempfinden nachgewie-
44Faktoren des Glücks sen werden.
44Umgang mit Misserfolgen
44Die Leistung anderer und die positiven
Auswirkungen auf uns selbst Genetische Faktoren
Unsere Gene legen unter anderem unsere Persön-
Im Folgenden werden diese Themen aufgegriffen lichkeitseigenschaften fest, von denen gezeigt werden
und damit einhergehend einige psychologische Phä- konnte, dass sie unser Glückempfinden beeinflus-
nomene erläutert, die das Verhalten unserer Charak- sen (Costa u. McCrae 1980). Den größten positiven
tere erklären und noch besser verstehen lassen. Hin- Einfluss hat die Persönlichkeitseigenschaft Extraver-
sichtlich jedes psychologischen Phänomens werden sion. Extravertierte Personen, die viel Zeit gemein-
praktische Implikationen für unseren Alltag und die sam mit Freunden verbringen, gehören demnach zu
Erziehung unserer Kinder formuliert. den glücklicheren Menschen. Negativ hingegen wirkt
sich die Persönlichkeitseigenschaft Neurotizismus
aus. Ängstliche oder misstrauische Personen zählen
25.3.1 Faktoren des Glücks dementsprechend eher zu den weniger glücklichen
Menschen.
Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum einige Den Einfluss unserer Gene können wir
Menschen glücklicher sind als andere, was Sie selbst kaum beeinflussen und müssen ihn als gegeben
190 Kapitel 25 · Die drei Glückskinder von den Gebrüdern Grimm (1819)

akzeptieren. Anders sieht es bei den anderen beiden   4. Sei gut organisiert und plane wohl
Faktoren aus. durchdacht!
  5. Höre auf, dir Sorgen zu machen!
  6. Reduziere deine Erwartungen und
Lebensumstände Aspirationen!
Zu den Lebensumständen zählen unter anderem   7. Entwickle optimistisches, positives Denken!
das Einkommen, der Familienstand oder die eigene   8. Sei im Hier und Jetzt!
Gesundheit. In unserem Märchen wird der Einfluss   9. Arbeite an einer gesunden Persönlichkeit
von finanziellem Erfolg auf unser Glücksempfin- (Selbstakzeptanz)!
den hervorgehoben. Unser Glücksempfinden steigt 10. Entwickle eine aufgeschlossene und soziale
25 nahezu linear mit unserem Einkommen, jedoch Persönlichkeit!
nur bis zu einem gewissen Punkt, welcher in den 11. Sei du selbst!
USA mit 75.000 US-Dollar jährlich (ca. 60.000– 12. Eliminiere negative Gefühle!
65.000 Euro) beziffert wurde (Kahneman u. Deaton 13. Die engsten Beziehungen sind die wichtigsten!
2010). Das bedeutet, dass es für unser Glücks- 14. Wisse das Glück zu schätzen!
empfinden irrelevant ist, ob wir nun 65.000 oder
500.000 Euro im Jahr verdienen. Die Annahme, Das Entwickeln einer optimistischen und positiven
dass Geld glücklich machen kann, trifft somit nur Denkweise (7. Grundsatz) ist Fordyce zufolge der
teilweise zu. Königsweg zu einem glücklicheren Leben. Es kommt
Unsere Lebensumstände sind von vielen Fakto- also darauf an, zu lernen, das Glas Wasser als halb voll
ren abhängig, von denen sich einige unserer Einfluss- und nicht als halb leer wahrzunehmen.
nahme entziehen (z. B. Wohlstand unseres Eltern- Genau das machen uns die drei Brüder vorbild-
hauses). Deshalb erscheint es oft schwierig, hier lich im Märchen vor. Sie lassen sich durch die wid-
substanzielle Veränderungen zu bewirken. rigen Lebensumstände der Armut und ihre anfäng-
lichen Misserfolge nicht entmutigen. Stattdessen
sind sie dankbar für das, was sie haben, und verfol-
Verhalten und Gedanken gen optimistisch und beharrlich ihr Ziel.
Auf unser Verhalten und unsere Gedanken hingegen Wir halten fest, dass aufgrund der hohen Beein-
hat niemand einen so großen Einfluss wie wir selbst. flussbarkeit unser Verhalten und unsere Gedanken
Zahlreiche Studien konnten belegen, dass sich unser besonders wirksame Schlüssel zu unserem Glück
Verhalten und unsere Gedanken auf unser Glück aus- sind.
wirken (z. B. Freizeitgestaltung, Bewertung von Situ-
ationen etc.). Das regelmäßige Betreiben von Sport
beispielsweise wirkt sich positiv auf unser Glücksle- 25.3.2 Umgang mit Misserfolgen
vel aus (Dyer u. Crouch 1988). Außerdem konnte in
mehreren Studien ein starker Zusammenhang zwi- Wussten Sie, dass es aus biologischer Sicht eigentlich
schen Dankbarkeit und Glück festgestellt werden unmöglich ist, dass Hummeln fliegen? Trotzdem tun
(Wood et al. 2010). Somit ist Dankbarkeit nicht nur sie es! Obwohl auch die Bewältigung der Aufgabe
ein Mechanismus zur Stabilisierung unserer Bezie- der drei Brüder zu Beginn fast unmöglich schien, ist
hungen, sondern auch eine direkte Einflussgröße auf keiner der Brüder vor der Aufgabe zurückgeschreckt
unser Glücksempfinden. oder hat vor dem Erreichen des Ziels aufgegeben.
Michael W. Fordyce (2000) formulierte folgende Wie bereits im vorherigen Abschnitt diskutiert,
essenzielle Grundsätze zur Steigerung des subjek- hatten die Brüder allesamt eine positive Sichtweise
tiven Glücks: auf das Gelingen ihres Vorhabens. Anders ausge-
  1. Sei aktiver und stets beschäftigt! drückt vertrauen sie trotz anfänglicher Misserfolge
  2. Verbringe mehr Zeit in guter Gesellschaft! darauf, dass am Ende alles gut wird, und haben damit
  3. Sei in sinnvoller Arbeit produktiv! eine Art Kontrollgefühl.
25.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
191 25
Kontrollerleben und besseren Leistung. Der Schlüssel zu Durchhaltever-
Durchhaltevermögen mögen und damit auch zum Erfolg lautet, das Posi-
Die Psychologen Wortman und Brehm (1975) stell- tive an sich selbst wahrzunehmen und zu stärken:
ten fest, dass das Erleben von Misserfolgen, wie die Machen Sie sich (am besten regelmäßig!) bewusst,
anfänglichen Probleme der drei Brüder, ihre Gegen- was Ihre Stärken und Kompetenzen sind und wofür
stände gewinnbringend zu verkaufen, sich unter- Sie von anderen Menschen geschätzt werden.
schiedlich auf das Kontrollerleben von Menschen Umgeben Sie sich mit diesen Menschen. Dadurch
auswirken kann (Stiensmaier-Pelster 1988). Kont- wird es Ihnen leichter fallen, sich selbst in einem
rolle beschreibt hierbei das Gefühl, Dinge beeinflus- positiven Licht wahrzunehmen.
sen, vorhersagen und erklären zu können und wirkt Der Wert von Kontrollerleben und Durchhalte-
sich positiv auf unser Durchhaltevermögen aus. vermögen besteht darin, dass man seine Ziele mit
Hat man so wie die drei Brüder trotz Misserfol- höherer Wahrscheinlichkeit auch erreicht. Glauben
gen das Gefühl, in Zukunft wieder alles in den Griff Sie daher an sich selbst und geben Sie nicht zu früh
zu bekommen und Ereignisse positiv beeinflussen auf! Denn zu früh aufzugeben kann, wie wir es bei den
zu können, entspricht dies einem hohen Kontrol- Inselbewohnern gesehen haben, fatale Folgen haben.
lerleben. Dieses Erleben von Kontrolle mobilisiert
Energie in uns, um weiterzumachen und eben nicht
aufzugeben. Impftheorie
Nimmt man bei einer Niederlage jedoch die Was kann man bereits im Vorfeld tun, um sich gegen
Situation als nicht veränderbar wahr und generali- Widerstände und Misserfolge zu wappnen und ihnen
siert Misserfolge im Hinblick auch auf zukünftige effizienter zu begegnen?
Situationen, entspricht das einem niedrigen Kont- William J. McGuire (1961) stellte in der Psy-
rollerleben. Dies wird alternativ als Phänomen der chologie die sog. Impftheorie auf. Diese besagt,
erlernten Hilflosigkeit bezeichnet, weil die Person dass Menschen Angriffe auf ihre eigene Einstellung
demnach „gelernt hat“, dass sie negativen Ereignissen leichter abwehren können, wenn sie im Vorfeld auf
gegenüber hilflos ist und sie nicht beeinflussen kann. diese vorbereitet werden. Diese Vorbereitung ent-
Der Zustand der erlernten Hilflosigkeit ähnelt dem spricht dem gleichen Prinzip wie bei einer Grippe-
Gefühl der Hoffnungslosigkeit und wirkt sich negativ impfung. Eine Person bekommt eine geringe Dosis
auf die Gedanken, Emotionen und Motivation aus. an Grippeviren injiziert, gegen die der Organis-
Er ist ein selbstzerstörerischer Zustand, der zu einer mus dann vermehrt Antikörper bildet. Der Körper
Selbstblockade führt, die verhindert, dass wir nach stärkt damit sein Immunsystem gegen speziell diese
konstruktiven Lösungen suchen und die Dinge aus Viren, wodurch die Wahrscheinlichkeit, von diesen
einer objektiven Perspektive betrachten. infiziert zu werden, sinkt. Ebenso kann ein Mensch
Der König und sein Gefolge gehen vermutlich sich gegen äußere Widerstände und mögliche Hin-
davon aus, dass auch weitere Versuche, die Katze aus dernisse impfen. Hierbei wird die Person nicht mit
dem Schloss zu vertreiben, erfolglos sein werden Viren, sondern beispielsweise mit einer kleinen
(geringes Kontrollerleben). In ihrer wahrgenom- Menge an Gegenargumenten zu seiner eigenen Ein-
menen Hilflosigkeit sind sie nicht in der Lage, nach stellung konfrontiert. Die Person hat die Möglichkeit,
adäquaten Lösungsstrategien zu suchen, und ent- gezielt diese Gegenargumente zu entkräften und die
scheiden sich dafür, das eigene Heim zu zerstören. eigene Position zu stärken.
Doch was kann man tun, um zu den Leuten zu Bei der Methode des Impfens unterscheidet man
gehören, die nicht so schnell aufgeben und stattdes- das aktive und passive Impfen. Beim aktiven Impfen
sen Durchhaltevermögen zeigen? müssen die Personen die Gegenargumente selbst
Die Forschung hat gezeigt, dass man Aufga- entkräften. Beim passiven Impfen wird der Person
ben/Situationen als kontrollierbarer wahrnimmt, geholfen, das Gewicht der Gegenargumente zu redu-
wenn man ein positives Selbstbild hat (Brockner zieren. Die Forschung zeigt, dass das aktive Impfen
et al. 1983). Dieses führt gleichzeitig auch zu einer die wirkungsvollere Methode ist.
192 Kapitel 25 · Die drei Glückskinder von den Gebrüdern Grimm (1819)

Schauen wir uns das am Beispiel unseres Mär- Konsequenzen nach sich ziehen und deshalb besser
chens an. Die Brüder werden bereits vorab von nicht gezeigt werden sollten.
ihrem Vater „geimpft“, dass die vererbten Gegen- Im Märchen ging der älteste Sohn mit gutem Bei-
stände nicht besonders wertvoll seien. Indirekt sagt spiel voran und ermutigte so seine Brüder, das gleiche
der Vater ihnen damit, dass es nicht leicht sein wird, Verhalten zu zeigen. Trotz vieler Misserfolge gab er
die Gegenstände in viel Geld umzuwandeln. Gleich- nicht auf und hat schließlich sein Erbe für viel Geld
zeitig, entsprechend dem passiven Impfen, gibt der verkauft. Der älteste Bruder stellt hier das Modell
Vater den Söhnen den Ratschlag, nach einem Ort zu dar, an dem die Brüder lernen. Zu vermuten ist auch,
suchen, wo die Gegenstände noch unbekannt sind. dass die beiden anderen Brüder vom ältesten gelernt
Der Vater hilft hier also den Söhnen, das negative haben, dass auf einer Insel viele Gegenstände noch
25 Gewicht der aktuellen Situation zu reduzieren, und unbekannt sind und somit eher für gutes Geld ver-
schlägt ihnen einen Lösungsweg vor, um dem kom- kauft werden können.
menden Misserfolgen effektiv zu begegnen. Schluss- Nicht umsonst sollte man vor Kindern nicht bei
endlich gelingt es allen drei Brüdern, ihre Gegen- Rot über die Straße laufen. Kinder fangen erst an,
stände zu Gold zu machen und die Hindernisse zu sich mit den Regeln und Normen der Gesellschaft
überwinden. vertraut zu machen und sind damit auf gute Vor-
Haben auch Sie ein Ziel, welches Sie in nächs- bilder angewiesen, die ihnen zeigen wie man sich
ter Zeit erreichen wollen? Dann kann es auch für „richtig“ verhalten sollte. Seien Sie sich daher Ihrer
Sie sinnvoll sein, sich einmal Gedanken zu machen, Rolle bewusst. Auch Sie dienen als Vorbild, und das
welche Hindernisse Ihnen noch auf dem Weg zur nicht nur für die eigenen Kinder.
Zielerreichung begegnen könnten und welche Mög-
lichkeiten Ihnen zur Verfügung stehen, diese Hin-
dernisse erfolgreich zu meistern. So können auch Motivation durch andere
Sie die Wahrscheinlichkeit, Ihr Ziel zu erreichen, Eine weitere psychologische Theorie, die erklä-
steigern. ren kann, warum der Erfolg des ältesten Bruders
im Märchen motivierend wirkt, ist die Theorie des
sozialen Vergleichs (Festinger 1954). Um besser ein-
25.3.3 Leistungen anderer und ihre schätzen zu können, wie gut oder schlecht unsere
Auswirkungen eigenen Fähigkeiten oder Eigenschaften sind, ver-
gleichen wir uns mit anderen Menschen.
Im folgenden Abschnitt soll es darum gehen, inwie- Vergleicht man sich mit Personen, die einem
fern wir durch die positive Leistung anderer beein- selbst hinsichtlich einer Fähigkeit überlegen sind,
flusst werden. In unserem Märchen ist der zweitäl- spricht man von einem aufwärtsgerichteten Ver-
teste Sohn von dem Geschäft des älteren Bruders gleich; man vergleicht sich mit „bessergestellten“
stark beeindruckt und sagt: „So will ich mich doch Personen. Diese Art des Vergleichs kann motivierend
aufmachen und sehen, ob ich meine Sense auch so wirken, sofern das Verhalten anderer von uns selbst
gut losschlagen kann.“ nachgeahmt werden kann und der gesetzte Standard
erreichbar wirkt.
Die zwei jüngeren Brüder haben genauso wie der
Lernen am Modell älteste Bruder scheinbar wertlose Gegenstände. Die
Allein durch das Beobachten des Verhaltens anderer äußeren Bedingungen bei der Zielerreichung sind
(von Modellen) haben wir die Möglichkeit, von also sehr ähnlich, weshalb die beiden Brüder ihren
ihnen zu lernen, ohne selbst aktiv an einer Situation eigenen Erfolg als realistisch einschätzen und dar-
beteiligt gewesen zu sein. Bandura (1973) beschrieb aufhin Handlungen unternehmen, die sie letztlich
diese Art zu lernen als Modelllernen oder auch zum Ziel führen.
Beobachtungslernen. Hierbei können wir lernen, Es ist besonders wertvoll, uns diese Art der Moti-
welche Verhaltensweisen effektiv sind und uns im vation im Alltag zunutze zu machen, denn es wird
Leben weiterbringen oder – im Gegenteil – negative immer Menschen geben, die „besser“ sind als wir.
Literaturverzeichnis
193 25
Deshalb ist es wichtig, konstruktiv damit umzuge- Literaturverzeichnis
hen. Wenn Sie also das nächste Mal mitbekommen,
Bandura, A. (1973). Aggression: A social learning analysis.
was jemand Bewundernswertes erreicht hat, oder
Oxford, England: Prentice-Hall.
Sie finden, dass Ihre Kollegin oder Freundin beson- Brockner, J., Gardner, M., Bierman, J., Mahan, T., Thomas, B.,
ders gut mit bestimmten Situationen umgehen kann, Weiss, W., Winters, L., & Mitchell, A. (1983). The roles of
schauen Sie doch einmal genauer hin, was Sie von der self-esteem and self-consciousness in the Wortman-
Person lernen können. Das bringt Sie weiter, als sich Brehm model of reactance and learned helplessness.
Journal of Personality and Social Psychology 45, 199–209.
zu ärgern, dass Sie das (noch) nicht so gut können.
Costa, P. T., & McCrae, R. R. (1980). Influence of extraversion
Sehen Sie es positiv, diese Person liefert Ihnen eine and neuroticism on subjective well-being: Happy and
wunderbare Lernvorlage, anhand derer Sie sich wei- unhappy people. Journal of Personality and Social Psycho-
terentwickeln können. logy 38, 668–678.
Dyer, J. B., & Crouch, J. G. (1988). Effects of running and other
activities on moods. Perceptual and Motor Skills 67, 43–50.
25.4 Fazit Festinger, L. (1954). A theory of social comparison processes.
Human Relations 7, 117–140.
Fordyce, M. W. (2000). Die Glückssteigerungswissenschaft von
Das Märchen drückt eine sehr positive Haltung aus, Fordyce. In: A.A. Bucher (Hrsg.), Psychologie des Glücks: Ein
die auch im Hinblick auf ihren Entstehungskontext Handbuch (S. 177–180). Weinheim, Basel: Beltz.
Grimm, J., & Grimm, W. (1819). Kinder- und Haus-Märchen,
nachvollziehbar ist. Die Industrialisierung führte zu
gesammelt durch die Brüder Grimm: Große Ausgabe (Bd. 1,
tief greifenden Veränderungen in der Gesellschafts- 2. Aufl.). Berlin: G. Reimer.
struktur. So wird der Beginn des 19. Jahrhunderts Kahneman, D., & Deaton, A. (2010). High income improves
oft als die Zeit des Durchbruchs der bürgerlichen evaluation of life but not emotional well-being. Procee-
Gesellschaft beschrieben. Es wurde nun möglich, dings of the National Academy of Sciences of the United
States of America 107, 16489–16493.
sogar ohne ständische Vorrechte, auf Basis reiner
Lyubomirsky, S., Sheldon, K. M., & Schkade, D. (2005). Pursuing
Leistungsqualifikationen eine gute Ausbildung zu happiness: The architecture of sustainable change. Review
erhalten und höhere Positionen im Staatsdienst ein- of General Psychology 9, 111–131.
zunehmen. So kamen ca. 20 % des Bildungsbürger- McGuire, W. J. (1961). Resistance to persuasion conferred by
tums aus kleinbürgerlichen Verhältnissen und schaff- active and passive prior refutation of the same and alter-
native counterarguments. The Journal of Abnormal and
ten den Aufstieg über das Abitur und ein Studium.
Social Psychology 63, 326–332.
Man könnte in diesem Kontext von einem Äquiva- Stiensmaier-Pelster, J. (1988) Erlernte Hilflosigkeit, Handlungs-
lent zum häufig in der Geschichte der USA erwähn- kontrolle und Leistung. Berlin, Heidelberg: Springer.
ten „American Dream“ sprechen. Die Menschen Wood, A. M., Froh, J. J., & Geraghty, A. A. (2010). Gratitude and
konnten nun unabhängig von ihrer Herkunft alles well-being: A review and theoretical integration. Clinical
Psychology Review 30, 890–905.
erreichen, sofern sie nur hart genug dafür arbeiteten.
Wortman, C. B., & Brehm J. W. (1975). Responses to uncontrol-
Was können wir nun aus der Märchenanalyse lable outcomes: An integration of reactance theory and
für unser Leben mitnehmen? Der Weg zum Glück the learned helplessness model. Advances in Experimental
führt primär über unsere Gedanken und unser Ver- Social Psychology 8, 277–336.
halten. Seien Sie optimistisch. Seien Sie dankbar.
Machen Sie, was Ihnen Spaß macht, und das so oft
es geht. Sollten Sie mit Misserfolgen konfrontiert
werden, verzagen Sie nicht. Glauben Sie an sich
selbst und geben Sie nicht zu früh auf. Der Erfolg
liegt in Ihren Händen. Sollten Sie trotzdem einmal
nicht weiterwissen, kann es helfen, sich an Vorbil-
dern zu orientieren. Versuchen Sie aus den Erfolgen
und Fehlern anderer zu lernen und diese Erkennt-
nisse für sich nutzbar zu machen. Somit sind Sie auf
dem besten Weg zu einem glücklichen und erfolg-
reichen Leben.
195 26

Das Rübchen von Alexander


Afanasjew (Mitte des 19.
Jahrhunderts)
Irina Bachsleitner

26.1 Inhalt des Märchens – 196

26.2 Die Charaktere – 196

26.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 196


26.3.1 Vorurteile und die Gefahr der Diskriminierung – 196
26.3.2 Arbeit im Team und Teamrollen – 197
26.3.3 Strategien zur Problemlösung – 199
26.3.4 Ausdauer und zielgerichtetes Handeln – 200

26.4 Fazit – 200

Literaturverzeichnis – 201

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_26
196 Kapitel 26 · Das Rübchen von Alexander Afanasjew (Mitte des 19. Jahrhunderts)

26.1 Inhalt des Märchens

Jedes Jahr pflanzte ein Großvater Rüben. Doch dieses


Jahr war der Großvater besonders stolz und aufge-
regt: Ein riesengroßes Rübchen wuchs auf seinem
Feld – groß, dick und süß, wie nie ein Rübchen zuvor!
Als das riesengroße Rübchen aufhörte zu
wachsen, wollte es der Großvater herausziehen. Er
fasste es an den Blättern, zog und zog. Doch so sehr
er sich auch anstrengte, das Rübchen bewegte sich
nicht.
Da rief der Großvater die Großmutter zu Hilfe.
Die Großmutter fasste den Großvater, der Großvater
26 das Rübchen und beide zogen so stark sie konnten.
Doch das Rübchen steckte weiterhin fest im Boden.
Da rief die Großmutter das Enkelchen zu Hilfe,
doch auch zu dritt schafften sie es nicht, das Rübchen . Abb. 26.1  (Zeichnung: Johanna Frey)
aus dem Boden zu ziehen.
Auch nachdem das Enkelchen das Hündchen
und das Hündchen das Kätzlein zu Hilfe geholt und Frau, Mensch und Tier und Freund und Feind
hatten, schafften sie es nicht, das Rübchen zu gemacht werden.
bewegen. Der Großvater, die Großmutter, das Enkelchen,
So holte das Kätzlein das Mäuschen zu Hilfe. das Hündchen, das Kätzlein und das Mäuschen sind
Das Mäuschen fasste das Kätzlein, das Kätzlein das alle gleichberechtigt und tragen ihren Teil zum Gelin-
Hündchen, das Hündchen das Enkelchen, das Enkel- gen, das Rübchen aus dem Boden zu ziehen, bei.
chen die Großmutter, die Großmutter den Großvater
und der Großvater das Rübchen. Gemeinsam zogen
sie noch einmal, so fest sie konnten. Und siehe da – 26.3 Psychologische Phänomene und
sie haben das Rübchen herausgezogen! Implikationen
(Afanasjew 2012; . Abb. 26.1)
Der Großvater, die Großmutter, das Enkelchen, das
Anmerkung  Hierbei handelt es sich um ein rus- Hündchen, das Kätzlein und das Mäuschen ziehen
sisches Volksmärchen des Märchensammlers Ale- gemeinsam an einem Strang, um das Rübchen aus
xander Afanasjew. Nach dem Vorbild der Gebrü- dem Boden zu ziehen. Sie agieren als Team, verlie-
der Grimm sammelte er von 1855–1863 knapp ren ihr Ziel nicht aus den Augen und verfolgen dieses
600 Märchen und veröffentlichte diese in seiner hartnäckig.
Sammlung Narodnyje russkie skazki – Russische Im Folgenden werden psychologische Phäno-
Volksmärchen. „Das Rübchen“ ist ein Märchen aus mene erklärt, die uns helfen sollen, die Verhaltens-
dieser Sammlung. weisen der Charaktere im Märchen für unser alltäg-
liches und berufliches Leben zu nutzen.

26.2 Die Charaktere


26.3.1 Vorurteile und die Gefahr der
In dem Märchen „Das Rübchen“ erfährt man nur Diskriminierung
sehr wenig Persönliches über die Charaktere. Wirft
man allerdings einen genaueren Blick auf deren Der erste Eindruck, den wir von Menschen gewin-
Zusammenstellung, so wird deutlich, dass hier nen, basiert vor allem auf Informationen, die leicht
keine Unterschiede zwischen Jung und Alt, Mann von außen sichtbar sind, beispielsweise Kleidung,
26.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
197 26
Attraktivität, nonverbales Verhalten und weitere gemeinsam an der Lösung einer bestimmten Aufgabe
äußere Merkmale. Alter, Geschlecht oder Ethni- arbeitet oder die gemeinsam ein bestimmtes Ziel
zität messen wir dabei eine besondere Bedeutung verfolgt. Teams kennzeichnen sich durch intensive
zu. Dadurch entstehen verschiedene Vorurteile, die wechselseitige Beziehungen, partnerschaftliches Ver-
unsere Einstellungen und unser Verhalten beein- halten und eine gleichberechtigte Mitbestimmung
flussen. Wir neigen dazu, Verallgemeinerungen zu aller Teammitglieder.
treffen und Menschen allein aufgrund ihrer Zuge- Der Erfolg eines Teams ist besonders von dessen
hörigkeit zu einer bestimmten Gruppe einzuordnen Effektivität abhängig. Doch was macht ein Team
und in Schubladen zu stecken. So können beispiels- effektiv? Dieser Frage ging der britische Psychologe
weise Frauen nicht einparken oder Männer nicht gut Meredith Belbin bereits in den 1970er-Jahren nach.
zuhören. Die Deutschen gelten als pflichtbewusst Er untersuchte die Auswirkungen der Teamzusam-
und trinken gerne Bier, wohingegen die Russen eine mensetzung aus verschiedenen Persönlichkeits-
Vorliebe für Wodka haben und zumeist unfreundlich typen auf die Teamleistung und fand, dass sich die
aussehen. Wir alle haben an der einen oder anderen Persönlichkeitsprofile jedes Einzelnen, seine Stärken
Stelle unsere Vorurteile gegenüber anderen, was uns und Schwächen, später im Team beeinflussen und
nur allzu menschlich macht. ergänzen. Belbin identifizierte basierend auf den Per-
Man sollte seine eigenen Vorurteile jedoch sönlichkeitsprofilen der Untersuchungsteilnehmer
immer auf den Prüfstand stellen und bewusst hin- zunächst acht verschiedene Teamrollen und fasste
terfragen, damit diese nicht zu Diskriminierung diese 1981 in einem Modell zusammen, welches er
führen. So zeigt eine Studie von Kaas und Manger später um eine weitere Rolle, die des Spezialisten,
(2011), dass im Bewerbungskontext die Ethnizi- erweiterte. Ein effektives Team besteht nach Belbin
tät einen Einfluss auf die Einladung zum Vorstel- aus mehreren heterogenen Rollentypen, wobei er
lungsgespräch hat. Bewerber mit türkisch klingen- drei Hauptorientierungen (handlungs-, wissens- und
den Namen wurden deutlich seltener eingeladen als kommunikationsorientierte Rollen) unterscheidet,
Bewerber mit deutschen Namen. Dieser Diskrimi- welche sich wiederum in jeweils drei Teamrollen
nierung scheint vor allem Angst und Unsicherheit untergliedern lassen (Belbin 2012).
gegenüber dem Unbekannten zugrunde zu liegen. Einen Überblick über die neun Teamrollen nach
Belbin (2012) mit ihren jeweiligen Stärken und
Schwächen bietet die . Tab. 26.1.
Implikationen für die Lebensgestaltung Durch einen Fragebogen zur Selbsteinschät-
Gerade in der heutigen Zeit, die durch eine anhal- zung , welcher durch Feedback außenstehender
tende Zuwanderung auch nach Deutschland geprägt Beobachter ergänzt werden kann, lässt sich das
ist, sollte uns das Ergebnis der Studie von Kaas und Teamrollenprofil einzelner Personen bestimmen.
Manger (2011) aufhorchen lassen. Unsere Gesell- Belbins Test bietet somit die Möglichkeit, mehr über
schaft muss aktiv daran arbeiten, Unsicherheiten und die eigenen Stärken und Schwächen zu erfahren.
somit Vorurteile speziell gegenüber anderen Kultu- Man kann sich besser in Teams einfügen, ist moti-
ren abzubauen, um ein friedliches Zusammenleben vierter und kann entsprechend der eigenen Fähigkei-
zu gewährleisten. ten einen wichtigen Teil zum Teamerfolg beitragen.
Im Märchen „Das Rübchen“ gehen die Charak- Ebenso lässt sich durch den Fragebogen das Rollen-
tere mit gutem Beispiel voran, alle als gleichwertige verhalten einer Person im Team vorhersagen.
Individuen anzusehen. An dieser Stelle sei angemerkt, dass nicht zwin-
gend alle neun Rollen in einem Team vorhanden
sein müssen, ebenso können – je nach Situation –
26.3.2 Arbeit im Team und Teamrollen mehrere Rollen auf eine Person zutreffen als auch
eine Rolle mehrfach besetzt sein. Die Situation ist
Die sechs Charaktere in dem Märchen agieren als also ausschlaggebend dafür, welche Kombination
Team. Doch was versteht man unter einem Team? Als an verschiedenen Teamrollen ein Team effizienter
Team wird eine Gruppe von Personen bezeichnet, die macht oder auch schwächt.
198 Kapitel 26 · Das Rübchen von Alexander Afanasjew (Mitte des 19. Jahrhunderts)

. Tab. 26.1  Teamrollen nach Belbin (2012)

Teamrolle Stärken Schwächen

Handlungsorientierte Rollen
Macher Drängt andere zum Handeln; Mut, Hindernisse zu Neigt zu Provokation, kann als
überwinden, dynamisch, energiegeladen, arbeitet arrogant wahrgenommen werden,
gut unter Druck verbreitet durch seine Ungeduld
Unruhe im Team
Umsetzer Setzt Pläne in die Tat um, zuverlässig, pflichtbewusst, Unflexibel
effizient
Perfektionist Achtet auf Details, vermeidet Fehler, stellt optimale Überängstlich, detailverliebt,
Ergebnisse sicher, gewissenhaft, pünktlich, akribisch delegiert ungern
26 Wissensorientierte Rollen
Neuerer Bringt neue Ideen ein, findet auch für schwierige Oft gedankenverloren, nicht
Problemstellungen Lösungen, unorthodox, kreativ kritikfähig
Beobachter Untersucht Vorschläge auf Machbarkeit, nüchtern, Wenig inspirierend und motivierend,
strategisch, hat einen guten Überblick überkritisch
Spezialist Liefert Fachwissen und Informationen, engagiert, Verliert sich oft in technischen
selbstbezogen, konzentriert Details, neigt zu Egozentrik
Kommunikationsorientierte Rollen
Koordinator Fördert Entscheidungsprozesse, setzt Ziele, selbst- Kann als manipulativ empfunden
sicher, guter Zuhörer, delegiert Aufgaben effektiv, werden, wenig kreativ
idealer Teamleiter
Teamarbeiter Baut Reibungsverluste ab, kooperativ, einfühlsam, Unentschlossen in kritischen Situa-
diplomatisch, sorgt für eine angenehme Atmosphäre tionen, vermeidet Konfrontationen
Wegbereiter Knüpft wertvolle Kontakte nach außen und pflegt Oft zu optimistisch, beschäftigt sich
diese, extrovertiert, enthusiastisch oft mit Nebensächlichkeiten

In unserem Märchen ist es eine Kombination aus Team in dem Märchen „perfekt“ macht? Grund-
Macher (Großvater, der alles in Gang setzt), Umset- voraussetzung ist allerdings, dass man seine Rolle
zer (alle anderen Charaktere), Neuerer (Enkelchen, kennt, also seine eigenen Stärken und Schwächen.
das Hilfe aus dem Tierreich holt) und Perfektionist Welcher Typ sind Sie? Unter http://testyourself.psych-
(Mäuschen, das trotz geringer Kraft akribisch das tests.com/testid/3113 (Team Roles Test) können Sie
gemeinsame Ziel verfolgt), welche zum Ziel führt. es herausfinden.
Im beruflichen Kontext arbeiten wir eigentlich
immer im Team. Nutzen Sie das Modell von Belbin,
Implikationen für die Arbeit und um ihre Selbstwahrnehmung zu schärfen: Welche
Lebensgestaltung Rollen sind im Team bereits besetzt? Welche passt
Belbin befreit uns von dem Aberglauben, dass ein am besten zu mir? Welche Teamrolle fehlt uns noch?
Team aus Experten immer erfolgreicher sein muss Wenn Sie ihre optimale Rolle kennen, können Sie
als ein durchschnittliches Team. Jeder von uns besitzt Ihre Stärken besser ausspielen und Defizite geziel-
Fähigkeiten, die ein Team erfolgreich machen, man ter ausgleichen – nicht nur als Individuum, sondern
muss nur auf die richtige Zusammensetzung bezie- auch als Gruppe. Zusätzlich sollten Sie auf Vielfalt
hungsweise Mischung achten. Oder wer von Ihnen (Diversity) statt Einfalt setzen. Achten Sie darauf,
hätte am Anfang gedacht, dass das Mäuschen das wenn Sie ein Team zusammenstellen.
26.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
199 26
Aber auch privat können wir von dem Team- verfügbare Operatoren verfügbar gemacht, man
rollenmodell lernen. Ist eine Familie nicht auch in spricht auch von dem Prinzip der Rekursivität (lat.
gewisser Weise ein Team? Oder sind Sie vielleicht in „recurrere“ = zurücklaufen). Stellen Sie sich vor, dass
einem Sportverein tätig? Machen Sie sich auch hier Sie einen Nagel in die Wand schlagen wollen, jedoch
Ihre Rolle bewusst und tragen Sie mit Ihren Fähig- keinen Hammer zu Hause haben. Was ist der nächste
keiten zu einem effektiven beziehungsweise harmo- Schritt? Sie bilden ein Teilziel und kaufen zuerst
nischen Zusammenleben bei. einen Hammer. Dieses Teilziel führt zwar zunächst
Denken Sie daran, dass Sie je nach Lebensbe- vom Ziel weg (Sie laufen „zurück“), der Hammer
reich unterschiedliche Rollen einnehmen können. (der Operator) ist jetzt jedoch verfügbar und lässt
In der Arbeit sind Sie beispielsweise der Macher Sie den Nagel in die Wand schlagen (Ziel).
und/oder Koordinator, privat im Mannschaftssport Um die Methode der Mittel-Ziel-Analyse anwen-
sind Sie eher der Teamarbeiter und überlassen gerne den zu können, müssen wir den Anfangs- und Ziel-
dem Trainer die Führung. Sie sind also nicht auf eine zustand ständig vergleichen, verschiedene Prob-
Rolle festgelegt. lemzustände nach ihrer Wichtigkeit ordnen können
und über bestimmte Informationen bezüglich der
Anwendbarkeit und Auswirkungen eines Operators
26.3.3 Strategien zur Problemlösung verfügen.

Das Rübchen steckte im Boden und ließ sich einfach


nicht herausziehen. Dieses Problem hat den Groß- Implikationen für die Lebensgestaltung
vater vor eine große Herausforderung gestellt, die Machen Sie es wie der Großvater, gehen Sie Pro-
er mit der Hilfe der anderen Charaktere zum Glück bleme direkt an, packen Sie sie sozusagen beim
lösen konnte. Schopf! Wichtig ist, dass Sie dabei Ihr Ziel nicht aus
Auch wir werden tagtäglich mit einer Vielzahl den Augen verlieren, auch wenn mehrere Teilschritte
von Problemen konfrontiert, beispielsweise finden nötig sind.
wir keinen Parkplatz beim Einkaufen, der PC macht Das Bilden von Teilzielen stellt gerade in unserem
nicht das, was er soll, oder der Chef beschwert sich alltäglichen Leben eine sinnvolle Methode dar. Oft
bei einem. Karl Popper sagte auch: „Alles Leben ist können wir Dinge nicht von heute auf morgen ver-
Problemlösen.“ ändern. Wer von Ihnen würde nicht auch gerne das
In der Psychologie unterscheidet man drei ein oder andere Kilo verlieren und ist am Anfang
Komponenten des Problemlösens (Mayer 1992): noch hoch motiviert? Ab heute esse ich keine Scho-
Anfangszustand, Zielzustand und Operationen. kolade mehr und mache täglich Sport. Aber so wird
Durch Letztere wird die Diskrepanz zwischen den das leider nichts! Gehen Sie gezielt vor, indem Sie sich
beiden Zuständen überwunden. Sind keine Opera- kleine, realistische Ziele setzen.
tionen nötig, kann also der Anfangszustand ohne Die Mittel-Ziel-Analyse stellt eine eher ratio-
Hindernisse in den Zielzustand überführt werden, nale Methode dar, Probleme anzugehen. Im Beruf
so liegt kein Problem vor, sondern eine Aufgabe. werden wir aber immer häufiger aufgefordert, kreativ
Unterschiedliche Forschungsrichtungen brach- zu sein und innovative Wege zu gehen. Deshalb
ten eine Vielzahl von Problemlösestrategien hervor. möchte ich Ihnen an dieser Stelle noch eine krea-
Hier wird die Methode der Mittel-Ziel-Analyse tive Gruppentechnik zur Problemlösung vorstel-
(Newell u. Simon 1972) vorgestellt, die auf eine kog- len, welche Sie ganz einfach anwenden können, die
nitive Sichtweise zurückgeht. Die Mittel-Ziel-Ana- ­ ominal-Group-Technik (Delbecq u. Van de Ven
N
lyse ist durch das Bilden von Teilzielen gekenn- 1971). Bei dieser Technik werden die Teilnehmer
zeichnet. Die Diskrepanz zwischen Anfangs- und durch einen Moderator aufgefordert, Vorschläge
Zielzustand wird durch das Bilden eines Teilziels zu einem bestimmten Thema (dem „Problem“)
verkleinert und macht den Operator (uns zur Ver- in schriftlicher Form und für sich zu sammeln.
fügung stehende Mittel) direkt anwendbar. Durch Anschließend werden die Vorschläge gemeinsam
die Definition von Teilzielen werden also nicht gruppiert und wieder unabhängig voneinander
200 Kapitel 26 · Das Rübchen von Alexander Afanasjew (Mitte des 19. Jahrhunderts)

priorisiert. Die Rangfolgen werden addiert, sodass Doch ist es wirklich sinnvoll, alles was wir in
sich eine Gesamtrangliste aller Vorschläge ergibt. die Hand nehmen auch mit 100%-iger Motivation
Keiner weiß so viel wie alle zusammen und durch das zu verfolgen, oder gibt es Momente, an denen man
individuelle Sammeln der Vorschläge gehen keine sagen sollte: „Stopp, jetzt reicht’s“? Wahrscheinlich
Ideen verloren. muss das jeder für sich selbst entscheiden, ab wann
er seine Zeit für andere, möglicherweise sinnvollere
Dinge nutzt oder die Prioritäten neu gewichtet.
26.3.4 Ausdauer und zielgerichtetes Sicher ist jedoch, dass ein gewisses Maß an Aus-
Handeln dauer zu Erfolg führt. Dies zeigt eine Studie mit
Schulkindern von Dweck (2007), in der folgende
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der unsere Charaktere Typen unterschieden werden: Der eine Typ hält
in „Das Rübchen“ zum Ziel führt, ist deren Hartnä- Erfolg für eine Frage von Begabung, kann Fehler
ckigkeit, nicht aufzugeben, bis sie das Rübchen aus nicht aushalten und bricht hilflos zusammen, sobald
26 dem Boden gezogen haben. der Erfolg ausbleibt. Der andere Typ ist überzeugt
Ausdauer (Persistenz) spielt bei der Realisierung davon, dass Erfolg hart erarbeitet werden muss
von Zielen eine entscheidende Rolle und stellt in der und orientiert sich am Meistern von Aufgaben. Die
Psychologie ein Merkmal zielgerichteten Handelns Erfolgsaussichten des zweiten Typus sind deutlich
dar (Brandstätter 2014). Um Ziele zu erreichen, ist oft höher als die des ersten.
wiederholtes Handeln notwendig, man muss Hand- Wir sollten unseren Kindern mit gutem Beispiel
lungsschritte unterbrechen, abwarten und wieder vorangehen und sie ermutigen, sich Herausforderun-
aufnehmen. Ebenso kann es zu Ablenkungen oder gen zu stellen, die ein angemessenes Maß an Aus-
Misserfolgen bei der Zielerreichung kommen. Hier dauer verlangen. Jeder Erfolg auf diesem Weg, lässt
gilt es, nicht einfach aufzugeben. Ausdauer bezeich- sie eigene Kompetenzen erfahren und stärken.
net also die Fähigkeit einer Person, ein Ziel auch
dann gleichbleibend motiviert zu verfolgen, wenn
die Anstrengung über eine längere Zeit oder gegen 26.4 Fazit
Widerstände aufrechterhalten werden muss.
Märchen begleiten uns ein Leben lang. Von Gene-
ration zu Generation geben wir in Deutschland vor
Implikationen für die Lebensgestaltung allem Märchen der Gebrüder Grimm an unsere
und Erziehung Kinder und Enkelkinder weiter. In Zeiten der stetig
Ausdauer oder auch Persistenz, Durchhaltevermö- zunehmenden Globalisierung und Migration sollten
gen, Beharrlichkeit, Geduld, Hartnäckigkeit – es gibt wir jedoch über den Tellerrand hinausblicken und
so viele Synonyme und noch mehr Situationen im uns von anderen Kulturen und deren Märchen ins-
Leben, in denen Ausdauer gefragt ist. Es gibt Auf- pirieren lassen, so mit dem russischen Volksmärchen
gaben, mit denen wir uns kontinuierlich beschäfti- „Das Rübchen“.
gen und die uns grundsätzlich viel Durchhaltever- Das Märchen zeigt uns, dass, wenn wir vor
mögen abverlangen, z. B. die Kindererziehung. Dann scheinbar unlösbare Herausforderungen gestellt
gibt es Aufgaben, die uns beim ersten Versuch viel- werden, als Team agieren sollten, unser Ziel nicht aus
leicht misslingen oder die wir unterbrechen. Auch den Augen verlieren dürfen und dieses hartnäckig
hier lohnt es sich oftmals, einen neuen Versuch zu verfolgen müssen. Es liegt somit an uns, die psycho-
starten wie die Charaktere in unserem Märchen. Und logisch fundierten Ratschläge für unser alltägliches
dann gibt es Aufgaben, die uns langfristig begleiten und berufliches Leben zu nutzen. Auch ein Blick über
und mit denen wir ein übergreifendes Ziel erreichen unsere eigenen Grenzen hinaus kann zu mehr Offen-
wollen, z. B. Erfolg in Schule, Studium oder auch im heit gegenüber anderen Kulturen, zu neuen Erkennt-
Beruf. nissen und Ideen führen.
Literaturverzeichnis
201 26
Literaturverzeichnis

Afanasjew, A. N. (2012). Russische Volksmärchen. Frankfurt am


Main: Fischer.
Belbin, R. M. (2012). Team roles at work. London: Routledge.
Brandstätter, V. (2014). Persistenz. In: M. A. Wirtz (Hrsg.),
Dorsch-Lexikon der Psychologie (17. Aufl., S. 1238). Bern:
Hans Huber.
Delbecq, A. L., & Van de Ven, A. H. (1971). A group process
model for problem identification and program planning.
The Journal of Applied Behavioral Science 7, 466–492.
Dweck, C. S. (2007). The secret to raising smart kids. Scientific
American Mind 18, 36–43.
Kaas, L., & Manger, C. (2011). Ethnic discrimination in Germa-
ny’s labour market: A field experiment. German Economic
Review 13, 1–20.
Mayer, R. E. (1992). Thinking, problem solving, cognition. New
York: WH Freeman.
Newell, A., & Simon, H. A. (1972). Human problem solving. New
Jersey: Prentice-Hall.
203 27

Hans im Glück von den


Gebrüdern Grimm (1819)
Katharina Gerstung

27.1 Inhalt des Märchens – 204

27.2 Die Charaktere – 204

27.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige


Zeit – 205
27.3.1 Glück und Zufriedenheit – 205
27.3.2 Materieller Besitz: Haben oder Sein? – 207

27.4 Implikationen für die Führung und Erziehung – 208

27.5 Fazit – 208

Literaturverzeichnis – 208

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_27
204 Kapitel 27 · Hans im Glück von den Gebrüdern Grimm (1819)

27.1 Inhalt des Märchens

Es war einmal ein fleißiger Geselle namens Hans, der


seinem Herrn sieben Jahre gedient hatte. Eines Tages
spricht er zu ihm: „Herr, meine Zeit ist um, nun will
ich gerne wieder zu meiner Mutter, gebt mir doch
bitte meinen Lohn.“ Der Herr antwortet: „Du hast
mir treu und ehrlich gedient, du sollst deinen Lohn
bekommen.“ Und er gibt ihm einen Klumpen Gold,
der so groß wie ein Kopf ist. Hans schultert das Gold
und macht sich auf den Weg zu seiner Mutter. . Abb. 27.1  (Zeichnung: Johanna Frey)
Nach einer Weile kommt ein Reiter vorbei, und
Hans spricht: „Ach, das Reiten ist eine schöne Sache,
da muss man nicht selber laufen und kommt schnell Leute ausgeschickt, dem Dieb droht Schlimmes.“
wohin man will.“ Da spricht der Reiter: „Weißt du Betroffen ruft Hans: „Was soll ich tun? Hilf mir in
27 was, ich will mit dir tauschen. Du gibst mir dein meiner Not, nimm mein Schwein und gib mir deine
Gold, dann bekommst du mein Pferd.“ „Von Herzen Gans.“ Der Bursche willigt ein und so zieht Hans
gern“, erwidert Hans, springt auf das Pferd und reitet erleichtert und glücklich von dannen.
fröhlich davon. Er will aber etwas schneller reiten, so Im nächsten Dorf trifft Hans einen Scheren-
schnalzt er mit der Zunge. Ehe er sich’s versieht, wirft schleifer, der munter vor sich hin pfeift. Auf Hans’
ihn das Pferd ab und er landet im Graben. Frage, wieso er so fröhlich sei, antwortet dieser:
Ein Bauer, der eine Kuh vor sich hertreibt, fängt „Dieses Handwerk hat einen goldenen Boden, man
das Pferd ein und bringt es zurück. „Das Reiten ist hat immer Geld in der Tasche.“ „Das möchte ich auch
kein Spaß, da bricht man sich noch den Hals. Ich lob haben, wie stelle ich das an?“ „Dazu brauchst du nur
mir deine Kuh, da kann man gemächlich hinterher- einen Wetzstein, der Rest findet sich von selbst. Ich
gehen und hat Milch wann immer man mag“, spricht habe hier einen. Wenn du mir deine Gans gibst, soll
Hans. „Nun“, sagt der Bauer, „dann will ich dir einen er dir gehören.“ Voller Glück tauscht Hans, lädt den
Gefallen tun und meine Kuh gegen das Pferd tau- Stein auf und geht vergnügt davon. Der Stein drückt
schen.“ Mit Freuden willigt Hans ein und treibt die schwer auf die Schultern, so macht er Halt an einem
Kuh die Straße hinunter. Bei einem Wirtshaus macht Brunnen, um sich etwas Wasser zu schöpfen. Er legt
er Pause und möchte gerne die Kuh melken. Und wie den Wetzstein auf den Brunnenrand und lehnt sich
er sich abmüht, gibt ihm die Kuh einen Tritt, dass er hinunter. Dabei stößt er gegen den Stein, und dieser
zu Boden taumelt. fällt in den tiefen Brunnen.
Da kommt ein Metzger des Weges, der auf einem Da springt Hans vor Freude auf, dankt Gott, dass
Karren ein junges Schwein liegen hat. Er spricht er ihm diese Gnade auch noch erwiesen und ihn von
„Deine Kuh ist ein altes Tier, aus dem bekommst du diesem Stein befreit hat. „So glücklich wie ich“, ruft
keinen Tropfen mehr“. Betrübt sagt Hans „Was bringt er aus, „gibt es keinen Menschen unter der Sonne.“
mir dann die Kuh? Lieber hätt ich ein Schwein, das Mit frohem Herzen und frei von aller Last springt er
bringt einmal ein saftiges Stück Fleisch.“ Da schlägt fort, bis er daheim bei seiner Mutter ist.
der Metzger vor: „Dir zuliebe will ich tauschen, (Grimm u. Grimm 1819; . Abb. 27.1)
nimm mein Schwein, dann nehme ich deine Kuh.“
Glückselig marschiert Hans mit dem Schwein weiter.
Da gesellt sich ein Bursche mit einer schönen 27.2 Die Charaktere
Gans zu ihm. Er schüttelt den Kopf und raunt Hans
zu: „Hör zu, in dem Dorf, durch das ich gerade ging, Die Erzählung von Hans im Glück folgt, anders als
ist dem Bauern ein Schwein aus dem Stall gestoh- die meisten Märchen, einer Logik der Antiklimax,
len worden. Ich fürchte, es ist dieses hier. Es wurden was bedeutet, dass die Tauschgegenstände in Wert
27.3 · Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
205 27
und Größe stetig abnehmen. Ebenso erscheinen die 27.3.1 Glück und Zufriedenheit
Tauschpartner in absteigender Hierarchie (Reiter,
Bauer, Metzger, Bursche und Scherenschleifer). Es Das Thema Glück ist ein zentraler Bestandteil
handelt sich hierbei um ein Schwankmärchen, d. h., Grimm’scher Märchen. Dies wird deutlich, wenn
es kommt keine Zauberei darin vor, sondern der Held man die Schlussformeln vieler Märchen betrach-
findet sein Glück durch Klugheit und Mut. Im Fall tet: „ … und sie lebten in lauter Freude zusammen“
von Hans spielen jedoch vielmehr eine optimistische (Hänsel und Gretel), „ … ging fröhlich nach Haus“
Sicht auf die Dinge sowie Naivität und möglicher- (Rotkäppchen) oder „ … und sie lebten vergnügt
weise Einfalt eine Rolle. bis an ihr Ende“ (Dornröschen). Das Glück wird in
Die Hauptrolle im Märchen spielt Hans . Er den einzelnen Märchen vielseitig beschrieben, dabei
wird beschrieben als fleißiger, treuer und ehrlicher wird unterschieden nach Liebesglück, Reichtum und
Mensch. Gleichzeitig kann er als naiv bezeichnet Wohlstand und nach dem Glück, das nicht selbst
werden. Er lebt im Hier und Jetzt und macht sich erworben wurde, sondern göttlicher Gnade oder
keine Gedanken, was morgen kommen möge. Er Zaubern zu verdanken ist. Auch in dem Märchen
kann somit, ebenso wie seine Tauschpartner, als „Hans im Glück“ steht, wie der Titel bereits verrät,
gemischter Charakter beschrieben werden. Glück im Mittelpunkt. Hans ist ein sehr glücklicher
Die Tauschpartner erweisen sich als hilfreich und zufriedener Mensch.
und tun Hans einen Gefallen, indem sie mit ihm tau- In der deutschen Sprache kommen dem Begriff
schen, jedoch sind sie stets auf ihren eigenen Vorteil Glück verschiedene Bedeutungen zu: Einerseits
bedacht und scheinen Hans’ Naivität auszunutzen. Glück versteht man darunter Glück haben (z. B.
Sie suggerieren ihm ein gutes Geschäft, was sich Lottogewinn), andererseits Glück empfinden (z. B.
jedoch hinterher als Kuhhandel herausstellt. glücklich sein). Der letzteren Bedeutung, dem
Einseitige moralische Wertungen, wie sie für Glücksempfinden, wird eine besondere Rolle in der
viele Märchen typisch sind (beispielsweise die böse Psychologie zugesprochen.
Stiefmutter), finden sich hier nicht. Glück wird dabei definiert als stark positive
Emotion und als dauerhafter Zustand intensiver
Zufriedenheit (Mayring 1991). Es wird unterschie-
27.3 Psychologische Phänomene und den zwischen aktuellem Glückserleben (einem
Bedeutung für die heutige Zeit Zustand oder „state“) sowie einem Charakterzug
beziehungsweise dem über die Lebenszeit hinweg
Zu Beginn eine vielleicht etwas provokative Frage: entwickelten Glück (bezeichnet als Merkmal oder
Sind Sie glücklich? Warum sind Sie glücklich (oder „trait“). Die beiden Konzepte unterscheiden sich
auch nicht)? Und was bedeutet Glück für Sie? dabei im Hinblick auf die Stabilität (vorübergehend
Glück ist ein sehr aktuelles Thema, mit dem sich vs. andauernd), Kausalität (der Situation zuzuschrei-
jeder, unabhängig von Alter und sozialem Stand, ben vs. in der Person selbst liegend), Dauer (kurz vs.
beschäftigen kann. Nie gab es mehr Literatur zum lang), Häufigkeit (selten vs. häufig) und Generali-
Thema; die Regale sind voll mit Ratgebern und sierung (situationsspezifisch vs. situationsübergrei-
Romanen mit Titeln wie Der Glücks-Faktor: Warum fend) des Glückserlebnisses. Häufig wird der Begriff
Optimisten länger leben, Glück kommt selten allein der Zufriedenheit synonym zu Glück verwendet.
oder Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück. Glück hat dabei jedoch eine populärwissenschaft-
Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen, ein Best- lichere Note.
seller zum Thema Glück jagt den nächsten. Ein Forschungsgebiet, das sich besonders mit
Die Gebrüder Grimm griffen den Gegenstand Glück beschäftigt, ist die positive Psychologie.
bereits zur ihrer Zeit in vielen Märchen auf, aber Einer ihrer Hauptvertreter ist Martin Seligman, der
keines beschäftigt sich so intensiv damit wie „Hans seit Mitte der 1990er-Jahre den Schwerpunkt der
im Glück“. Im Folgenden werden die psychologi- Psychologie, der bis dato auf psychischer Krankheit
schen Phänomene beleuchtet. und deren Heilung lag, verlagerte. Der Fokus der
206 Kapitel 27 · Hans im Glück von den Gebrüdern Grimm (1819)

positiven Psychologie liegt auf dem, was den Men- Häufig wird auch über den Zusammenhang zwi-
schen stärkt und vorantreibt. Es werden normativ schen Reichtum und Glück debattiert. Den Nobel-
positive Gegenstände der Psychologie behandelt, preis der Wirtschaftswissenschaften 2015 gewannen
z. B. Optimismus. Daniel Kahneman und Angus Deaton für ihre For-
Dieses Konstrukt lässt sich gut auf das Märchen schung zum Thema „Einfluss des Einkommens auf
übertragen: Hans ist ein durch und durch optimisti- Zufriedenheit“. Sie fanden heraus, dass ein großes
scher Mensch. Er sieht in all seinen Tauschgeschäften Einkommen zwar die Lebensbewertung verbessert,
etwas Gutes und freut sich auf das, was kommt (z. B. nicht jedoch das emotionale Wohlbefinden. Bis zu
„das bringt mal ein saftiges Stück Fleisch“). einer gewissen Schwelle macht Geld glücklicher,
Optimismus (lat. „optimum“ = das Beste) kann Kahneman und Deaton setzen diese Schwelle bei
definiert werden als eine positive Erwartung hin- einem Jahreseinkommen von etwa 60.000–65.000
sichtlich zukünftiger Ereignisse sowie als eine gene- Euro an. Wird dieser Wert überschritten, macht Geld
rell zuversichtliche Lebensauffassung (vgl. Seligman alleine nicht glücklicher.
2005). Für Seligman hängt Glück stark mit einer opti- In die gleiche Richtung geht auch ein Forschungs-
mistischen Erwartungshaltung zusammen. 1990 bereich, der als „happiness economics“ bezeichnet
27 veröffentlichte er das Buch Erlernter Optimismus. wird. Hier treffen Ökonomie und Psychologie aufein-
Beim optimistischen Erklärungsstil werden nega- ander. Der Volkswirt Richard Easterlin nutzte diesen
tive Ereignisse nach außen, variabel und situations- Begriff erstmals 1974 und beschrieb, dass wohlha-
spezifisch interpretiert. Der optimistische Erklä- bende Menschen mit ihrem Leben zwar zufriedener
rungsstil steht damit im Gegensatz zum depressiven sind als arme, Menschen in einer reichen Gesellschaft
Erklärungsstil, bei dem Negatives internal, stabil und aber gleichzeitig nicht zwangsläufig glücklicher sind
global attribuiert wird. als Menschen in Entwicklungsstaaten. Easterlins
Optimistische Menschen zeichnen sich durch These, auch bekannt als Easterlin-Paradoxon, lautet
ein positives Selbstbild und Selbstwertgefühl sowie wie folgt: Menschen können auch mit weniger Wohl-
ein subjektives Wohlbefinden aus (Diener 1984). stand leben; wenn grundlegende Bedürfnisse befrie-
Subjektives Wohlbefinden ist relativ stabil über digt sind, führt mehr Reichtum nicht zu mehr Glück.
die Zeit und eng mit Persönlichkeitseigenschaften Als wie glücklich würden Sie sich auf eine Skala
verbunden. von 1–10 (1 = ganz und gar unzufrieden, 10 = ganz
und gar zufrieden) bezeichnen?
Die Deutschen geben bei dieser Frage laut
Faktoren des Glücks dem sog. OECD Better Life Index im Durchschnitt
Ob und inwieweit Glücksempfinden angeboren ist einen Wert von 7,0 an (OECD 2013). Damit sind
und in der Persönlichkeit einer Person liegt, wird die Deutschen im Allgemeinen glücklicher als der
viel diskutiert. Inzwischen geht man davon aus, dass Durchschnitt der OECD-Bürger (Durchschnitt 6,6),
Glück zu etwa 50 % von genetischen Faktoren und insgesamt liegen sie aber nur auf Platz 17. Den nied-
angeborenen Persönlichkeitseigenschaften abhängt rigsten Wert im OECD-Raum geben die Griechen an
(Bucher 2009). Im Bereich der Erbfaktoren spielen (4,8), am glücklichsten sind die Isländer und Dänen
hier vor allem die Hormone Dopamin, Serotonin (jeweils 7,5).
und Oxytocin eine Rolle. Menschen unterschie-
den sich genetisch in der Menge dieser Botenstoffe
und der Anzahl ihrer Rezeptoren. Bei den angebo- Auswirkungen von Glück
renen Persönlichkeitseigenschaften wirkt sich das Das Empfinden von Glück hat vielfältige Auswir-
Merkmal Extraversion positiv, das Merkmal Neu- kungen. Es fördert nachweislich die psychische und
rotizismus dagegen negativ auf das Glücksempfin- physische Gesundheit, fördert kognitive Fähigkei-
den aus (Bucher 2009). Die restlichen 50 % setzen ten und erleichtert das Lernen. Zudem führt es dazu,
sich zusammen aus Faktoren wie erfüllenden Bezie- dass man sich sozialer und empathischer gegenüber
hungen zu anderen, Arbeit und Freizeitaktivitäten, seinen Mitmenschen verhält (Bucher 2009; Mayring
die uns fordern und fördern, sowie Glaube und Spi- 1991). Somit profitiert man nicht nur selbst, sondern
ritualität (Bucher 2009). auch das soziale Umfeld vom Glückserleben.
27.3 · Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
207 27
Optimismus kann auch zu unrealistischen Ver- Mensch ein Sklave des Wirtschaftssystems. Er will
zerrungen führen (in der Psychologie bekannt als immer mehr besitzen und entfremdet sich dadurch
unrealistisch optimistischer Bias (Weinstein 1980). von sich selbst. Dem steht die Existenzweise des
Hierbei schätzen Personen ihr Risiko zu erkran- Seins gegenüber. Hier wird der Mensch nicht über
ken im Vergleich zum Durchschnitt als unterdurch- das definiert, was er hat, sondern über das, was er ist.
schnittlich ein. Dass jeder unter dem Durchschnitt Auch Hans definiert sich im Märchen nicht über
liegt, ist natürlich unmöglich. Dies ist ein bekannter den Besitz seiner Güter, sondern über das, was er ist:
Fehlschluss. ein freier, glücklicher Mensch.
Hans kann als naiver Optimist bezeichnet
werden, was bedeutet, dass er seine Augen vor dem
Risiko verschließt. So tauscht er, aufgrund aktuel- Tauschhandel und faire Geschäfte
ler Empfindungen, seine Gegenstände gegen etwas Sollte man nun also so handeln wie Hans und sein
weniger Wertvolles ein, ohne zu überlegen, was auf Hab und Gut für Freiheit hergeben? Hans tauscht
lange Sicht die bessere Wahl wäre. nach und nach seinen Besitz gegen etwas Minder-
wertigeres. Allerdings wird der kurzfristige Gewinn
langfristig zu einem Verlust, denn am Ende steht
27.3.2 Materieller Besitz: Haben oder Hans ohne etwas da. Er gibt direkt auf, statt an einer
Sein? Sache festzuhalten. Für den Moment scheint er glück-
lich ohne die Last seines Besitzes, jedoch könnte er
Existenz des Habens vs. Existenz des nach tieferer Reflexion zu dem Schluss kommen, dass
Seins er nicht für Notfälle vorgesorgt hat und nach sieben
„Ach, hätt ich nur mehr Geld, was könnte ich mir Jahren harter Arbeit ohne Lohn nach Hause kommt.
nicht alles Schönes kaufen.“ Diesen Wunsch verspü- Außerdem denkt er nicht an andere und fragt
ren vermutlich viele Menschen, denn häufig wird sich z. B. nicht, was seine Mutter denken wird, wenn
nach der Vergrößerung des Reichtums gestrebt. er mit leeren Händen nach Hause kommt. Da er
Jedoch ist Materielles nicht alles, und Geld macht, dies nicht bedenkt, kann er als naiv und verantwor-
wie oben beschrieben, nicht zwangsläufig glückli- tungslos bezeichnet werden. Daneben ist Hans nie
cher. Was zwar viel wert ist und auf den ersten Blick lange glücklich mit dem, was er hat, sondern benei-
nützlich erscheint, kann hinderlich werden. det andere um deren Besitz. So kann Hans auch die
So ist Hans nach jedem Tausch für eine kurze Zeit Eigenschaft eines Neiders zugeschrieben werden.
glücklich, doch dann wird der neue Gegenstand zur Neid ist die Emotion, die wir verspüren, wenn
Last. Am Ende ist für ihn das Loslassen das eigentli- wir bemerken, dass andere Menschen Dinge oder
che Glückserlebnis und er war nie glücklicher als in Qualitäten besitzen, die wir selbst nicht haben. Diese
dem Moment, als der Schleifstein in den Brunnen Emotion ist negativ mit Glück und Zufriedenheit
fällt und er einfach nur frei ist. korreliert (Bucher 2012).
Manchmal kann Reichtum und Erfolg auch Last Das mag auf den ersten Blick widersprüchlich
und Fluch sein. Dies äußert sich auch in der Neude- erscheinen: Wie kann es sein, dass Hans sowohl
finition von Glück der Generation Y (geboren in den glücklich als auch neidisch ist? Hans ist, wie zu
Jahren 1981–2000). Für die Generation X (geboren Beginn beschrieben, ein gemischter Charakter. Wenn
1965–1980) waren eine gute Arbeit und ein geregel- sein Besitz zur Last wird, so wird Hans neidisch auf
tes Einkommen besonders wichtig. Dies trifft auf die sein Gegenüber. Kaum besitzt er den neuen Gegen-
Generation Y nicht länger zu. Für diese Generation stand, scheint er glücklicher als je zuvor zu sein. Ob
spielen die Work-Life-Balance, Sinnhaftigkeit der er am Ende wohl neidisch wäre auf einen Gesellen,
Arbeit und Unabhängigkeit eine wichtigere Rolle. der mit einem Klumpen Gold des Weges käme?
Dies steht im Einklang mit Erich Fromm. In Die List der Tauschpartner ist besonders kritisch
seinem gesellschaftskritischen Werk Haben oder zu betrachten, da sie einem fairen Handel entgegen-
Sein, das 1976 zum ersten Mal erschien, analysierte steht. Diese suggerieren Hans allerdings, er mache
er die Existenzweisen des Habens und des Seins. In ein gutes Geschäft. Dies ist meistens in der Wirtschaft
einer Gesellschaft des Habens ist ihm zufolge der und dem täglichen Handel so, Marketingstrategien
208 Kapitel 27 · Hans im Glück von den Gebrüdern Grimm (1819)

wollen einen glauben lassen, man habe nur Vorteile des Zusammenhangs zwischen Geld und Glück.
vom Kauf eines Produktes. Allein das Gehalt zu erhöhen, reicht also sowohl der
Mit diesem Aspekt befasst sich die Prinzipal- Theorie als auch dem Märchen zufolge nicht aus,
Agent-Theorie (Jensen u. Meckling 1976). Diese um (Arbeits-)Zufriedenheit zu steigern. Stattdessen
Theorie untersucht Wirtschaftsbeziehungen, in erscheint es sinnvoll, an den Motivatoren anzusetzen,
denen die Informationen asymmetrisch verteilt d. h., den Mitarbeitern sinnvolle, den Leistungen und
sind, indem ein Geschäftspartner Informations- Interessen entsprechende Aufgaben zu übertragen.
vorteile gegenüber dem anderen hat. Diese Asym- Und was kann man aus „Hans im Glück“ für
metrien führen zu Problemen bei der Vertrags- Erziehung lernen? Für Kinder gilt meist das Motto
bildung. In der Praxis ist z. B. ein Verkäufer der „Mehr ist mehr“ statt das den Erwachsenen bekannte
Prinzipal, ein Käufer der Agent. Der Verkäufer wird „Weniger ist mehr“. Für Kinder ist es häufig zweitran-
die Mängel eines Produktes, das er verkaufen will, gig, welchen Wert die Geschenke haben, die unter
nicht preisgeben. Dadurch hat der Verkäufer einen dem Weihnachtsbaum liegen, es kommt hauptsäch-
Informationsvorsprung. lich auf die Anzahl und Größe an. Sie müssen erst
Im Märchen haben Hans’ Tauschpartner einen noch lernen und selbst die Erfahrung machen, dass
27 Wissensvorteil, so weiß beispielsweise der Bauer, manchmal auch vermeintlich kleine Dinge das große
dass die Kuh keine Milch gibt. Dadurch stellt sich Glück bedeuten können. Was die Eltern zu diesem
das Geschäft für Hans später als Kuhhandel heraus. Lernprozess beitragen können? Vielleicht könnten
Um ein gutes Geschäft zu machen, hätte er versu- sie ihren Kindern das Märchen von „Hans im Glück“
chen müssen, eine Gleichheit der Informationsver- erzählen.
teilung herzustellen, indem er beispielsweise hinter-
fragt, warum der Metzger wohl sein schönes Schwein
gegen eine alte Kuh tauschen will. 27.5 Fazit

Das Märchen „Hans im Glück“ zeigt uns, dass man


27.4 Implikationen für die Führung zwar nicht naiv und blauäugig durch die Welt gehen
und Erziehung sollte, doch ebenso sehen wir: Um glücklich zu sein,
bedarf es im Grunde nicht viel. Sicher kann man
Welche Lehren kann man nun aus dem Märchen für nicht immer das tun, was man gerade möchte. Auch
die Führung ziehen? Eine der wichtigsten Erkennt- darf man nicht vergessen, dass man nicht nur die
nisse ist wohl, dass Materielles und Geld nicht alles ist. Verantwortung für sein eigenes Glück, sondern auch
An dieser Stelle kann die Zwei-Faktoren-Theorie für das anderer trägt, beispielsweise für die Partner,
(Herzberg et al. 1959) herangezogen werden. Dabei Kinder oder Eltern. Eine angemessen positive Sicht
werden hinsichtlich der Arbeitszufriedenheit fol- auf die Dinge und eine Portion Optimismus können
gende Einflussgrößen unterschieden: im Leben aber sicherlich nicht schaden.
44Motivatoren, die auf den Inhalt der Arbeit Um zum Schluss auf folgende Fragen zurückzu-
bezogen sind (z. B. Verantwortung tragen) kommen: Sind Sie glücklich? Warum sind Sie glück-
44Hygienefaktoren, die sich auf den Kontext der lich? Und was bedeutet Glück für Sie? – Letztend-
Arbeit beziehen (z. B. Bezahlung) lich muss wohl jeder selbst herausfinden, nach was
man im Leben strebt und was einen glücklich macht.
Laut Herzberg und Kollegen (1959) sind Hygiene-
faktoren die Einflussgrößen, die bei positiver Aus-
prägung die Entstehung von Unzufriedenheit zwar Literaturverzeichnis
verhindern, nicht jedoch unmittelbar Zufriedenheit
Bucher, A. (2009). Psychologie des Glücks. Weinheim: Beltz.
erzeugen. In anderen Worten: Geld macht in diesem Bucher, A. (2012). Geiz, Trägheit, Neid & Co. in Therapie und Seel-
Zusammenhang nicht glücklich, es macht ledig- sorge. Berlin, Heidelberg: Springer.
lich nicht unglücklich. Dies steht im Einklang mit Diener, E. (1984). Subjective well-being. Psychological Bulletin
den oben beschriebenen Erkenntnissen bezüglich 95, 542–575.
Literaturverzeichnis
209 27
Easterlin, R. A. (1974). Does economic growth improve the
human lot? Some empirical evidence. Nations and House-
holds in Economic Growth 89, 89–125.
Fromm, E. (1976). Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen
einer neuen Gesellschaft. Stuttgart: Deutsche Verlags-An-
stalt GmbH.
Grimm, J., & Grimm, W. (1819). Kinder- und Haus-Märchen,
gesammelt durch die Brüder Grimm: Große Ausgabe
(Bd. 1, 2. Aufl.). Berlin: G. Reimer.
Herzberg, F., Mausner, B., & Snyderman, B. (1959). The motiva-
tion to work. New York: Wiley.
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Kahneman, D., & Deaton, A. (2010). High income impro-
ves evaluation of life but not emotional well-being.
Proceedings of the National Academy of Sciences 107,
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hammer.
Organization for Economic Co-Operation and Development
(OECD). (2013). OECD Better Life Index. Besser leben –
wie und wo? http://www.oecdbetterlifeindex.org/de/.
­Zugegriffen: 05. November 2016.
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ger leben. Köln: Bastei Lübbe.
Weinstein, N. D. (1980). Unrealistic optimism about future life
events. Journal of Personality and Social Psychology 39,
806–820.
211 28

Die Spinne und die


Weisheit – ein afrikanisches
Volksmärchen
Franziska Wittmann

28.1 Inhalt des Märchens – 212

28.2 Die Charaktere – 213

28.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung


für die heutige Zeit – 213
28.3.1 Streben nach Weisheit – 213
28.3.2 Nutzen von Weisheit – 213
28.3.3 Wissen ist Macht – 214

28.4 Implikationen für die Arbeitswelt und


Lebensgestaltung – 216

28.5 Fazit – 217

Literaturverzeichnis – 217

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_28
212 Kapitel 28 · Die Spinne und die Weisheit – ein afrikanisches Volksmärchen

28.1 Inhalt des Märchens ein Hase vorbei und beobachtete das Treiben Kwaku
Ananses. Als er endlich wieder auf den Füßen stand,
Kwaku Ananse, das Spinnenmännchen, ärgerte sich versuchte er wohl zum tausendsten Mal, sein Ziel
schon seit vielen Jahren darüber, dass es unter den zu erreichen.
Menschen so viele weise Männer gab. Er beschloss Der Hase war ein gutmütiger Kerl, und so
deshalb, alle Weisheit zu sammeln und für sich und beschloss er, dem sich abmühenden Freund zu
seine Nachkommen aufzubewahren. Zu diesem helfen. „Guten Abend, Kwaku Ananse“, sagte er
Zweck holte er sich aus seinem Hause einen großen freundlich. Bei diesen Worten schrak Kwaku
Tonkrug; den gedachte er mit Weisheit anzufül- Ananse so heftig zusammen, dass er wieder auf den
len. Viele Jahre zog er durch die Lande und stellte Rücken fiel und mit seinem Krug vor dem Bauch in
Mensch und Tier die schwierigsten Fragen. Erhielt er den Abendhimmel starrte. Der Hase sprang schnell
eine kluge Antwort, so öffnete er schnell den Deckel herbei und befreite den armen Kwaku aus seiner
seines Kruges und flüsterte sie zum Staunen seiner hilflosen Lage. „Was hast du denn in deinem Krug?“
Zuhörer hinein. Als er endlich glaubte, alle Weisheit fragte er ihn. „Das kann ich dir nicht verraten“,
dieser Welt gesammelt zu haben, machte er sich auf erwiderte Kwaku Ananse. „Wenn ich dir die Wahr-
den weiten Weg in die Heimat. heit sage, müssen wir beide auf der Stelle sterben.“
„Kwaku Ananse ist nun weiser als die Götter“, „Nun, dann will ich dieses Geheimnis nicht wissen.
28 sang er viele Tage lang vor sich hin, bis er endlich die
runden Hütten seines Heimatdorfes erblickte. Da er
Ich habe dir eine Zeit lang zugesehen, wie du dich
vergeblich abgemüht hast, deinen bauchigen Krug
fürchtete, man könnte ihm im Dorf seinen kostba- auf den Baum zu bringen. Wäre es nicht einfa-
ren Schatz stehlen, beschloss er, ihn zunächst einmal cher, wenn du dir das Gefäß auf deinen Rücken
für ein paar Tage im Wald zu verbergen. Nach der bändest?“ „Was sagst du da?“, schrie Kwaku Ananse.
ersten Wiedersehensfreude wollte er heimlich seine „Ich dachte, ich hätte alle Weisheit dieser Welt in
Familie zu seinem Versteck führen und sie die Weis- meinem Krug eingefangen, und jetzt sehe ich, dass
heit der Welt in sich aufnehmen lassen. „Wo ver- es immer noch klügere Leute als mich gibt.“ Bei
berge ich nur meinen Krug“, murmelte er vor sich diesen Worten riss er sich seine schwere Last vom
hin und hielt Ausschau nach einem geeigneten Ver- Bauch und schleuderte sie mit solcher Gewalt an
steck. Lange überlegte er hin und her und entschied den Kazaurabaum, dass der Krug in tausend Scher-
sich schließlich für einen hohen Kazaurabaum, in ben zersprang.
dessen obersten Ästen er die Weisheit dieser Erde „Nun mag die Weisheit in alle Welt entfleuchen“,
aufhängen wollte. schimpfte er und stapfte durch das hohe Gras nach
Er ergriff seinen Krug, band ihn sich mit Hause.
Schlingpflanzen vor den Bauch und versuchte (Original zitiert aus Hekaya.de 2016; . Abb. 28.1)
nun, an dem dicken Stamm empor zu klettern.
Weil aber der Krug einen zu großen Umfang hatte, Anmerkung  Geschichten über Anansi wurden erst-
konnte er mit seinen Armen und Beinen die Rinde mals vom Volk der Ashanti erzählt und breiteten sich
des Baumes nicht erreichen. So mühte sich Kwaku dann über Ghana und später über ganz Westafrika
Ananse drei Tage lang vergeblich, die gesammelte aus. Anansi gilt als Schöpfer der Welt und soll oft zwi-
Weisheit in die luftige Höhe des alten Kazaura- schen seinem Vater, dem Himmelsgott Nyame, und
baumes zu bringen. Schon unzählige Male war er den Menschen vermitteln. Er wird auch als Kwaku
auf den Rücken gefallen und hatte sich dabei die oder Kweku Ananse bezeichnet, da Kweku für Mitt-
Haut abgerissen, die nun in großen Fetzen her- woch steht – der Tag, an dem seine Seele das erste
unterhing. Trotz seiner Schmerzen und trotz seines Mal erschien. In manchen Überlieferungen heißt es,
großen Hungers kämpfte er verbissen weiter und dass Nyame so verärgert über die Betrügerei und den
vergaß dabei völlig, dass er für sein Gefäß wohl noch Unfug seines Sohnes war, dass er ihn in eine Spinne
andere sichere Stellen im Wald hätte finden können. verwandelte. Anansi gilt manchmal als weise und
Während er wieder einmal auf dem Rücken lag und nachdenklich, doch vor allem als durchtriebener
hilflos mit den Beinen in der Luft strampelte, kam und gerissener Genosse.
28.3 · Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
213 28
. Abb. 28.1  (Zeichnung: Claudia
Styrsky)

28.2 Die Charaktere Phänomene haben auch für unser Leben eine Bedeu-
tung, wobei sich die folgenden Ausführungen auf den
Im Märchen sind im Wesentlichen zwei Charak- Kontext der Arbeit konzentrieren.
tere zu finden. Zum einen gibt es das Spinnenmänn-
chen Kwaku Ananse. Es möchte voller Tatendrang
die Weisheit der ganzen Welt kennenlernen und für 28.3.1 Streben nach Weisheit
sich und seine Nachkommen archivieren. Sein Vor-
haben sowie sein Vorgehen sind dabei völlig unrea- Der wissbegierige Ansatz des Spinnenmännchens,
listisch. Durch sein unreflektiertes Handeln kommt die Weisheit aller Welt kennenlernen zu wollen, ist
er sogar fast ums Leben. grundsätzlich mit Sicherheit positiv zu bewerten.
Wie auch in so vielen deutschen Märchen hat der Kwaku Ananse möchte sich weiterbilden, seinen
Hase die Rolle des Klugen inne. Er, der sehr reali- Horizont erweitern und verlässt dafür seine Heimat
tätsnah und bodenständig agiert, gibt Kwaku Ananse und macht sich auf den Weg, die Weisheit in der
Rückmeldung und rettet ihn somit. Durch den Rat- ganzen Welt zu suchen. Er will die Weisheit der Welt
schlag des Hasen wird Kwaku Ananse erst bewusst, nicht nur entdecken, sondern sie auch konservieren
dass seine Vorgehensweise sinnlos war und er selbst und somit einen Pool an Weisheit für sich und seine
nach jahrelangem Suchen nach der Weisheit noch Nachkommen schaffen.
immer von einem einfachen Hasen belehrt werden
kann.
28.3.2 Nutzen von Weisheit

28.3 Psychologische Phänomene und Leider begibt sich die Spinne auf ihrem Weg zur all-
Bedeutung für die heutige Zeit umfassenden Weisheit auf einige Irrwege. Kwaku
Ananse reflektiert weder, was die gewonnenen Weis-
Kernthema des Märchens sind die Weisheit und heiten für sein Leben bedeuten, noch gelingt es ihm,
das Erlangen von Weisheit, an dem das Spinnen- das Wissen auf sein eigenes Problemlösen anzuwen-
männchen scheitert. In der Psychologie gibt es eine den. Somit schafft es die Spinne nicht, das gesam-
Reihe von Phänomenen, anhand derer verdeutlicht melte Wissen mit seinen eigenen Erfahrungen zu
werden kann, worauf sein Scheitern beruht. Diese verknüpfen. Er übernimmt die Weisheiten blind,
214 Kapitel 28 · Die Spinne und die Weisheit – ein afrikanisches Volksmärchen

ohne überhaupt zu prüfen, ob das Gesagte als fun- Weisheit der ganzen Welt in wenigen Jahren erlan-
diert angesehen werden kann. gen und möchte sie auf keinen Fall mit irgendjeman-
Die psychologische Forschung zur Reife und dem teilen. Auch in den Führungsebenen spielen
Weisheit zeigt, dass Wissen allein Menschen nicht sich häufig ähnliche Szenen ab. Konkurrenzkampf
klüger macht, sondern erst die Überlegungen, zwischen den Führungskräften steht an der Tages-
welche Bedeutung die Erkenntnisse für das eigene ordnung und alle wollen sich mit jeglichen Mitteln
Leben haben (z. B. Staudinger u. Baltes 1996). Weis- beweisen und durchsetzen. Dafür geben die ein oder
heit bedeutet also nicht, nur etwas zu kennen und anderen auch gerne einmal vor, die Weisheit der
Wissen zu haben, sondern man muss darüber hinaus ganzen Welt zu besitzen. Diese vorgetäuschte Über-
über die Kenntnis verfügen, das Wissen auch umset- legenheit wird mit Macht in Verbindung gesetzt.
zen und anwenden zu können. Daran fehlt es Kwaku
Ananse ganz offensichtlich. Letztendlich hat er nur
Wissen, aber keine Weisheit angehäuft und weiß Formen der Macht
somit nicht, damit umzugehen. John French und Bertram Raven unterschieden
Zudem handelt er sehr irrational. Stellen Sie sich bereits 1959 verschiedene Machtbasen:
das bildlich vor: Eine Spinne, die die Weisheit durch 1. Die Belohnungsmacht beschreibt die
Flüstern in einen Tonkrug sammeln möchte oder Möglichkeit, dass eine Person oder Gruppe in
28 mit einem an den Bauch gebunden Krug den Baum
hochklettern will. Sieht lustig aus, oder? Fixiert und
der Lage ist, andere für ihre Folgeleistungen
zu belohnen. Wichtig ist dabei der Anreiz, der
geradezu verbissen konzentriert sich das Spinnen- von finanzieller Entlohnung bis zu Lob reichen
männchen nur noch auf das Ziel, die Weisheit vor kann.
allen in Sicherheit zu bringen, und merkt dabei nicht 2. Das Gegenteil davon stellt die Bestrafungs-
mehr, wie unsinnig seine Handlungen sind. macht dar. Zielvorstellungen werden durch
Da Kwaku Ananse das Wissen mit niemandem Zwang oder Strafen umgesetzt. Man fügt sich,
teilen will, geht leider viel Wissen für die Gesellschaft weil man die negativen Folgen fürchtet.
verloren. Evolutionär bedingt kann es zwar wertvoll 3. Über Legitimationsmacht verfügt man meist
sein, das Wissen nur an die eigenen Nachkommen strukturbedingt aufgrund von Positionen in
weiterzugeben. Gesellschaftlich gesehen bringt es der Organisationshierarchie.
uns jedoch nicht weiter, die Informationen streng 4. Wenn man infolge von erstrebenswerten
geheim zu halten. Dadurch verwehrt das Spinnen- Charaktereigenschaften oder Ressourcen einer
männchen anderen (z. B. dem Hasen), die eventu- Person folgt und sich mit ihr identifiziert,
ell besser mit dem Wissen umgehen können als er um wie das Vorbild zu sein, spricht man von
selbst, die Weisheiten. Am Ende führt genau dies Referenzmacht.
zum gänzlichen Verlust von Krug, Weisheit und auch 5. Die letzte Machtbasis ist die Expertenmacht,
fast seines Lebens. um die es auch vorwiegend in diesem
Märchen geht. Der Einfluss lässt sich dabei
auf Fachwissen und Spezialkenntnisse
28.3.3 Wissen ist Macht zurückführen.

Das Märchen „Die Spinne und die Weisheit“ spiegelt Später haben Raven und Kruglanski (1970) eine
einige Verhaltensmuster wider, die wir in unserem weitere Machtbasis hinzugefügt, die Informations-
Alltag ebenfalls finden können. Vor allem hinsicht- macht. Die Informationsmacht beschreibt das Ver-
lich Führung und Berufsalltag können wir einiges aus fügen über wesentliche Informationen als auch über
dem Märchen lernen. In welchen Situationen wir uns überzeugende Argumente. Auch diese Machtbasis
wie das Spinnenmännchen Kwaku Ananse verhalten, spiegelt sich im Märchen wider.
soll nun genauer beschrieben werden. Ananse denkt, er besitzt durch die exklusive
Kwaku Ananse zeigt sich im Märchen größen- Sammlung an Weisheiten viel Macht. Deswegen geht
wahnsinnig und narzisstisch, er denkt, er könne die er nicht in sein Dorf zurück und lügt sogar den Hasen
28.3 · Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
215 28
an. So versucht er sicherzustellen, keine Informatio- Feedback
nen herausgeben zu müssen. Oft führt der bereits weiter oben genannte Größen-
Informationsmacht spielt auch im Berufsall- wahn dazu, sich irrational zu verhalten. Die Spinne
tag eine wichtige Rolle. Bei Führungskräften oder denkt beispielsweise, man könne die Weisheit durch
Mitarbeitern tritt oft das Phänomen auf, dass man das Flüstern in einen Tonkrug archivieren, was
Wissen für sich behält und nicht weitergibt, ganz andere schon zum Staunen brachte. Oder sie möchte
nach der Devise: „Wissen ist Macht.“ Mitarbei- den Tonkrug am Bauch gebunden den Baum hoch-
ter wissen etwas und wollen dieses Wissen nicht tragen. Natürlich ist völlig klar, dass etwas Gesag-
mit Kollegen teilen, da sie das Gefühl haben, sich tes nicht in einem Tonkrug gespeichert werden oder
durch exklusive Informationen einen Vorteil gegen- eine Spinne keinen Tonkrug auf einen Baum bringen
über anderen geschaffen zu haben. Ein anderes Bei- kann.
spiel sind Führungskräfte, die Informationen nur Auch im Beruf sind wir manchmal so engstirnig
an ihre einzelne, die ihnen nahestehen, weitergeben und versessen auf eine Sache, dass wir losgelöst von
und nicht an die gesamte Abteilung, die die Infor- jeglicher Rationalität handeln und viele andere Facet-
mation genauso gut benötigen könnte. Dieses Ver- ten und Blickwinkel außer Acht lassen. Das Ende des
halten ist eine typische Methode, dem eigenen Team Märchens zeigt, dass uns das irrationale Vorgehen
einen Vorteil zu verschaffen. Die Informationsmacht nicht weiterbringt und man am Ende viel Zeit und
führt u. a. dazu, dass Informationen geheim gehalten Energie umsonst aufgewendet hat.
werden, weil man selbst immer mehr anhäufen will Das Thema Rückmeldung spielt im Märchen
und anderen immer weniger gönnt. ebenfalls eine wichtige Rolle. Im Zusammenhang mit
Dies hat im Märchen zur Folge, dass das Spinnen- den Themen Größenwahn und Narzissmus möchte
männchen am Ende alles verliert. Es zerstört seinen die Spinne alles alleine schaffen, ohne im Austausch
Krug, verliert damit sinnbildlich die Weisheit und mit anderen zu stehen. Die Geschichte zeigt, was das
hätte seine Gier und Sturheit beinahe mit dem Leben für ein Ende nimmt.
bezahlt. Narzissmus lässt sich als gesteigerter Selbst-
Auch im Arbeitsalltag kann sich dieses Verhal- wert interpretieren. Typische Tendenzen sind dabei
ten nachteilig auswirken und ein schlechtes Bild bei die Wahrnehmung der eigenen Großartigkeit, das
höheren Führungsebenen hervorrufen, die das Wohl Bedürfnis nach Bewunderung und geringe empa-
des gesamten Unternehmens im Blick behalten. thische Fähigkeiten. Narzisstische Menschen schät-
zen häufig ihre eigenen Fähigkeiten und Leistungen
überdurchschnittlich hoch ein, fordern Aufmerk-
Wissensmanagement samkeit und Zuwendung von anderen und vernach-
Die bereits mehrfach erwähnte Geheimhaltung von lässigen die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen (Bier-
Informationen steht im Zusammenhang mit dem hoff u. Frey 2011, S. 51ff.).
Thema Wissensmanagement (Dalkir 2013). Dabei Auch im Arbeitskontext finden wir dies wieder.
handelt es sich um den idealen Umgang mit Wissen, Feedback, vor allem für Führungskräfte, ist ein
indem strategische beziehungsweise operative Tätig- heikles Thema. Wer will schon seinem Chef eine ehr-
keiten und Managementaufgaben optimal darauf liche und kritische Meinung ins Gesicht sagen? Die
ausgerichtet werden. Zentral ist es demnach, Wissen meisten rechnen – manchmal nicht ohne Grund –
für alle zugänglich zu machen und bestmöglich zu mit negativen Konsequenzen. Aber ohne Feedback
archivieren. Die Spinne versagt in diesen beiden ist es schwierig, sich stetig zu verbessern, sich Fehlern
Punkten deutlich erkennbar. Auch wir stehen uns bewusst zu werden und dann ans Ziel zu gelangen.
bei der Abspeicherung und Weitergabe von Infor- Die psychologische Forschung zeigt, dass Diver-
mationen in der Arbeitswelt oft selbst im Weg. Wich- sität im Team, unterschiedliche Meinungen und ehr-
tige Informationen sind oft schwer zugänglich oder liche Ratschläge und Rückmeldungen nötig sind, um
nur eine Person verfügt darüber. Ist diese z. B. im gesteckte Ziele erreichen zu können (z. B. Horwitz
Urlaub oder fällt krankheitsbedingt aus, stehen ganze u. Horwitz 2007; Schulz-Hardt et al. 2006). Auch
Systeme still. die Reaktionen auf das Feedback sind wichtig. Die
216 Kapitel 28 · Die Spinne und die Weisheit – ein afrikanisches Volksmärchen

Spinne wirft den Krug einfach gegen den Baum, Gleichen Sie Meinungen anderer und neues Wissen
reagiert trotzig und beleidigt, aber auch enttäuscht. mit Ihren eigenen Erfahrungen ab und entscheiden
Genau das ist im Berufsalltag häufig unsere Angst: Sie dann, ob es für Sie sinnvoll ist oder eben auch
mit ehrlichem Feedback jemanden verletzen, verär- nicht. Was für den einen nützlich und hilfreich ist,
gern oder enttäuschen zu können. muss nicht für den anderen gelten.

3. Führen Sie ethikorientiert!


28.4 Implikationen für Anstatt sich als Führungsperson narzisstisch und
die Arbeitswelt und größenwahnsinnig zu verhalten, ist eine ethikorien-
Lebensgestaltung tierte Führung zu empfehlen (z. B. Frey 2015; Frey
et al. 2011). Ethikorientierte Führung beinhaltet ein
Nun konnte an einigen Beispielen verdeutlicht respektvolles und würdevolles Miteinander. Dabei
werden, dass die Fehler, die die Spinne im Märchen ist nicht zu vergessen, dass man neben den Mitarbei-
begeht, übertragen auch im Berufsleben häufig vor- tern, Kollegen und somit dem Team auch sich selbst
kommen. Was können wir aus dem Verhalten Kwaku und den Chef führt. Sie tragen Verantwortung für Ihr
Ananses für unser Leben lernen? Wo können und Team und auch für die Teamleistung.
sollten wir in Zukunft etwas verändern? Nachweislich wirkt sich das Arbeitsklima auf die
28 Die folgenden Leitsätze können Ihnen dabei als
Orientierung dienen:
Fluktuation und die Zufriedenheit der Mitarbeiter
aus. Zufriedene und glückliche Mitarbeiter, die sich
wohl und fair behandelt fühlen, können eine bessere
1. Seien Sie wissbegierig! Leistung erbringen (Judge et al. 2001).
Es ist positiv, neugierig und wissbegierig zu sein.
Man kommt im Beruf sowie im Leben nicht weiter, 4. Seien Sie sich der Relevanz des
wenn man immer nur auf derselben Stelle stehen Wissensmanagements bewusst!
bleibt. Machen Sie einen Schritt nach vorne! Versu- Zwar kann sich ein gewisses Maß an Konkurrenz in
chen Sie Ihren Horizont zu erweitern, indem Sie bei- manchen Branchen vorteilhaft auswirken, jedoch
spielsweise neue Perspektiven einnehmen, verschie- sollte man es nicht übertreiben. Leben Sie ein offenes
dene Meinungen anhören, lesen, sich weiterbilden und erfolgreiches Wissensmanagement vor und
und vieles mehr. fordern Sie dies auch von Kollegen, Mitarbeitern und
Wir können von jeder Kultur, von jedem Men- Vorgesetzten ein. Versuchen Sie also, Wissen und
schen etwas für uns lernen und Erfahrungen Information nicht exklusiv zu behandeln, sondern
sammeln, die unseren weiteren Weg bahnen. an alle weiterzugeben und somit das Unternehmen
als großes Ganzes zu betrachten.
2. Reflektieren Sie Wissen! Im Arbeitskontext brauchen wir sowohl Einzel-
Wichtig ist, dass Weisheit keineswegs darin besteht, als auch Teamleistungen. Beides ist enorm wichtig
Wissen einfach anzuhäufen. Ausschlaggebend ist es, für eine gut laufende Abteilung oder das gesamte
Wissen zu reflektieren und auf seine eigenen Struk- Unternehmen. In einer Firma darf es nicht gang
turen anzuwenden. und gäbe sein, dass nur eine Person über wichtiges
Ein Beispiel dafür sind Weiterbildungsmaßnah- Wissen verfügt. Führen Sie beispielsweise Übersich-
men, die wohl jeder von uns kennt. Dort wird sehr ten im Intranet ein oder haben Sie zumindest eine
viel neues Wissen in kurzer Zeit angehäuft – doch oder zwei weitere Personen, die als Vertretung aus-
was nehmen Sie am Ende mit ins Büro? Meist fehlt helfen können. Somit können Sie verhindern, dass
der Transfer. Achten Sie darauf, neues Wissen sofort ein kompletter Ablauf ins Stocken gerät.
auf Ihre konkreten Problemlagen oder Ihren Alltag
zu transferieren. 5. Denken Sie auch kreativ und verrückt!
Aber dieser Rat gilt nicht nur für Weiterbil- Kreativität meint nicht, irrational zu handeln wie
dungen, sondern eigentlich für das gesamte Leben. die Spinne Kwaku Ananse. Aber seien Sie auf keinen
Literaturverzeichnis
217 28
Fall engstirnig und trauen Sie sich auch einmal, Literaturverzeichnis
von Ihrem geplanten Weg abzuweichen, wenn Sie
Bierhoff, H. W., & Frey, D. (2011). Sozialpsychologie – Individuum
merken, dass es nicht weitergeht. Manchmal stehen
und soziale Welt. Göttingen: Hogrefe.
wir uns selbst im Weg, weil wir denken, man müsse Dalkir, K. (2013). Knowledge management in theory and practi-
der Gewohnheit folgen und alles so weitermachen, ce. London: Routledge.
wie es schon seit vielen Jahren abläuft. Aber warum? French, J., & Raven, B. (1959). The bases of social power. In: D.
Hinterfragen Sie alte Abläufe, wenn Sie denken, dass Cartwright (Ed.), Studies in social power (pp. 150–167). Ann
Arbor, MI: Institute for Social Research.
es einen besseren Weg gibt. Seien Sie mutig und pro-
Frey, D. (2015). Ethische Grundlagen guter Führung: Warum
bieren Sie Alternativen aus. Die Erfolgsmethode ist gute Führung einfach und schwierig zugleich ist. München:
hier, zwar zu wissen, wie und was andere machen, Roman-Herzog-Institut.
aber trotzdem immer seinen eigenen Weg zu gehen. Frey, D., Osswald, S., Peus, C., & Fischer, P. (2011). Positives
Management, Ethikorientierte Führung und Center of
6. Legen Sie Wert auf offenes und ehrliches Excellence – Wie Unternehmenserfolg und Entfaltung der
Mitarbeiter durch neue Unternehmens-und Führungskul-
Feedback!
turen gefördert werden können. In: M. Ringlstetter, S. Kai-
Damit kommen wir auch schon zum nächsten ser, G. Müller-Seitz (Hrsg.), Positives Management: Zentrale
und letzten Aspekt: Um Abläufe hinterfragen zu Konzepte und Ideen des Positive Organizational Scholarship
können und dadurch den Weg für Verbesserungen (S. 237–268). Wiesbaden: Gabler.
Hekaya.de. (2016). Die Spinne und die Weisheit. http://www.
zu bahnen, ist es essenziell, sich ehrliches Feedback
hekaya.de/maerchen/die-spinne-und-die-weisheit--afri-
einzuholen. Gutes Feedback findet persönlich, unter ka_115.html. Zugegriffen: 06. November 2016.
vier Augen und mit Augenkontakt zum richtigen Horwitz, S. K., & Horwitz, I. B. (2007). The effects of team diver-
Zeitpunkt und Ort statt. Es ist konkret und beinhal- sity on team outcomes: A meta-analytic review of team
tet ausschließlich Ich-Botschaften. Außerdem sollen demography. Journal of Management 33, 987–1015.
Judge, T. A., Thoresen, C. J., Bono, J. E., & Patton, G. K. (2001).
konkrete Verbesserungsvorschläge genannt und
The job satisfaction–job performance relationship: A
immer darauf geachtet werden auch genügend positi- qualitative and quantitative review. Psychological Bulletin
ves Feedback zu geben. Gehen Sie mit einer positiven 127, 376–407.
Grundhaltung in das Gespräch und vermitteln Sie als Raven, B. H., & Kruglanski, A. W. (1970). Conflict and power.
Führungsperson, dass Sie auch kritisches Feedback In: P. Swingle (Ed.), The structure of conflict (pp. 69–109).
New York, London: Academic Press.
als etwas Positives ansehen, da nur so dysfunktionale
Schulz-Hardt, S., Brodbeck, F. C., Mojzisch, A., Kerschreiter, R.,
Prozesse verändert werden können. & Frey, D. (2006). Group decision making in hidden profile
situations: dissent as a facilitator for decision quality. Jour-
nal of Personality and Social Psychology 91, 1080–1093.
28.5 Fazit Staudinger, U. M., & Baltes, P. B. (1996). Weisheit als Gegen-
stand psychologischer Forschung. Psychologische Rund-
schau 47, 1–21.
Der Wunsch von Kwaku Ananse, alle Weisheit der
Welt zusammenzutragen, so naiv er erscheinen mag,
stellt grundsätzlich ein ehrenwertes Streben dar.
Leider verwechselt das Spinnenmännchen dabei
Wissen mit Weisheit und wählt zudem eine Methode,
die nicht geeignet ist, das Wissen zu archivieren. Die
Ausführungen zu den psychologischen Phänome-
nen zeigen, dass auch wir nicht gefeit sind vor solch
elementaren Fehlern und sein Dilemma heutzutage
nicht an Bedeutung verloren hat. Allerdings liegen
Ihnen nun alle wesentlichen Informationen vor, um
nicht in seine Fußstapfen zu treten. Geben Sie die
Leitsätze gerne an Ihre Mitmenschen weiter – ob im
Alltag oder Arbeitsumfeld, sodass alle davon profi-
tieren können.
219 29

Der Teufel mit den drei


goldenen Haaren von den
Gebrüdern Grimm (1857)
Maximilian Spanner

29.1 Inhalt des Märchens – 220

29.2 Die Charaktere – 221

29.3 Psychologische Phänomene – 221


29.3.1 Zufriedenheit, Glück und Wohlbefinden – 222
29.3.2 Grundlegende soziale Motive – 222
29.3.3 Prosoziales Verhalten – 223

29.4 Implikationen für die Erziehung, Führung


und Lebensgestaltung – 224
29.4.1 Erziehung – 224
29.4.2 Führung – 224
29.4.3 Lebensgestaltung – 225

29.5 Fazit – 225

Literaturverzeichnis – 225

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_29
220 Kapitel 29 · Der Teufel mit den drei goldenen Haaren von den Gebrüdern Grimm (1857)

29.1 Inhalt des Märchens Goldäpfel trug, und ein Fährmann fragte, warum
ihn keiner ablöse. Als er die Hölle erreichte, ver-
Es war einmal eine arme Frau, die ein Söhnlein gebar, wandelte ihn des Teufels Großmutter in eine kleine
welches eine Glückshaut trug. So wurde prophezeit, Ameise und versteckte ihn in ihren Rockfalten. Sie
es werde mit vierzehn Jahren die Tochter des Königs riss dem schlafenden Teufel dreimal ein Haar aus
zur Frau haben. Der König erfuhr davon, aber hatte und fragte ihn nach dem Brunnen, dem Baum und
ein hartes Herz. Er kaufte der armen Frau ihr Kind ab, dem Fährmann. So erhielt das Glückskind die Haare
legte es in eine Schachtel und warf diese ins Wasser. und die Lösungen für die drei Probleme im König-
Sie ging jedoch nicht unter, sondern trieb zu einer reich. Er übergab dem Fährmann des Teufels Rat,
Mühle, wo das Kind von Müllersleuten aufgenom- „einfach dem Nächsten die Ruderstange in die Hand
men und in Liebe aufgezogen wurde. zu geben“, um abgelöst zu werden. Als nächstes ließ
Als der König nach vierzehn Jahren zufällig in der Junge die Kröte im Brunnen und die Maus in der
die Mühle kam und den Jüngling wiedererkannte, Baumwurzel töten, was, laut dem Teufel, die Lösun-
schickte er diesen mit einem Brief zur Königin mit gen für die Probleme im Königreich waren. Hierfür
dem Befehl, man solle diesen dort sofort töten. schenkte man ihm je zwei Esel mit Gold bepackt, die
Auf dem Weg zur Königin verirrte sich der Junge er stolz ins Königreich zurückbrachte.
jedoch und übernachtete notgedrungen im Wald bei Dem König, der neugierig geworden war, woher
Räubern. Diese lasen den Brief und schrieben aus der Junge das viele Gold habe, wurde vom Jungen
Mitleid einen neuen, sodass er mit der Königstochter erzählt „das Gold liege wie Sand am anderen Ufer des
vermählt werden sollte. Da er im Schloss durch die Fährmanns“. Nachdem der habsüchtige König dort
29 Königin nicht getötet wurde, war der König sehr auf- eintraf, überreichte ihm der Fährmann die Ruder-
gebracht und forderte nun vom Jüngling drei goldene stange, die ihn zum ewigen Fahren verdammte.
Haare des Teufels, nur dann dürfe er mit der Königs- „Fährt er wohl noch? … Es wird ihm niemand die
tochter vermählt werden. Stange abgenommen haben.“
Auf dem Wege zum Teufel befragte ihn ein Tor- (Grimm u. Grimm 1990; . Abb. 29.1)
wächter, über einen ausgetrockneten Brunnen, der
sonst Wein gab; wieder ein anderer Torwächter Anmerkung  Das Märchen „Der Teufel mit den
befragte ihn über einen verdorrten Baum, der sonst drei goldenen Haaren“ stammt aus der 7. Aufl. des

. Abb. 29.1  (Zeichnung: Claudia


Styrsky)
29.3 · Psychologische Phänomene
221 29
Sammelbandes Kinder- und Haus-Märchen der hierbei weniger Glück hatte. Weder der Plan, den
Gebrüder Grimm aus dem Jahre 1857. Zusätzlich Jungen im Fluss, noch im Schloss der Königin
besaßen sie einen tschechischen Roman von 1794, oder in der Hölle umzubringen, ist aufgegangen.
der die vorliegende Struktur von „Der Teufel mit den Würde man sich jedoch in der Zeit des Mittel-
drei goldenen Haaren“ mit Todesbrief besitzt, den sie alters befinden, wäre dieser Schritt gar nicht so
in der 1. Aufl. ihres Sammelbandes noch als „Vogel abwegig. Damals wurden Königstöchter lediglich
Phönix“ abdruckten. Die Thematik des Glückskin- unter Adeligen oder mit Königen anderer König-
des mit einem Todesbrief war bereits als Märchen im reiche vermählt, um überdauernde Bündnisse her-
Mittelalter unter Kaiser Konstantin und Kaiser Hein- zustellen und nicht mit einem Jungen, der weder
rich III. bekannt (Uther 2013). aus einer adeligen Familie stammte noch Reichtum
besaß. Aufgrund seines eisernen Willens die Ver-
mählung des Jünglings mit seiner Tochter aufzu-
29.2 Die Charaktere halten, griff der König zum äußersten Mittel des
versuchten Mordes, was diesen in der gesamten
Betrachten wir zuerst die verschiedenen Charaktere Geschichte als schlechten sowie grausamen Men-
des Märchens und was sie jeweils ausmacht. Dazu schen dastehen ließ. Ein weiser König hätte mög-
gehören der Jüngling mit der Glückshaut, der König, licherweise der Vermählung zugestimmt, da dieser
die Räuber und die Großmutter des Teufels. gewusst hätte, der Jüngling bringe mit seinem
Der Jüngling, der in eine arme Familie hinein- Glück dem Königreich nur Gutes. Der König in
geboren wurde, trug bei der Geburt eine sog. Glücks- dem Märchen empfand dies jedoch als ungerecht
haut. Diese ist medizinisch gesehen nichts anderes und wollte sein positives Selbstbild aufrechterhal-
als die unverletzte Eihauthülle, wenn bei Geburt der ten, da seine Tochter nicht an einen mit niedri-
Sprung der Fruchtblase ausgeblieben ist. In dieser ger Herkunft verheiratet werden sollte. Mehr zum
Abweichung vom normalen Verlauf der Geburt sah Thema „grundlegende soziale Motive“ im psy-
der alte Volksglaube einen Fingerzeig auf das zukünf- chologischen Sinne ist dem 7 Abschn. 29.3.2 zu
tige Schicksal des Kindes. In vielen Märchen wird entnehmen.
von Glückskindern erzählt, die mit einer Glücks- Räuber, die normalerweise dafür bekannt sind,
haut zur Welt kommen. Ihnen gelingt alles zu ihrem Menschen auszurauben oder gar zu ermorden, gaben
Besten. Auch aus den schlimmsten Situationen gehen dem Jüngling ein Dach über dem Kopf und hatten
sie unversehrt und erfolgreich hervor (von Bonin sogar Mitleid mit ihm, da er im Schloss von der
2009). Dem Jungen im Märchen „Der Teufel mit Königin getötet werden sollte. Daraufhin verfassten
den drei goldenen Haaren“ wurde nicht nur nachge- diese einen neuen Brief mit der Bitte um Vermählung
sagt, dass er ein Kind mit Glückshaut sei, sondern er mit der Königstochter.
hatte auch durchweg Glück, wenn man den Verlauf Auch die Großmutter des Teufels half dem
der Geschichte näher betrachtet. Weder ist er in der Jungen maßgeblich, indem sie ihn in eine Ameise
Schachtel ertrunken, noch wurde er von Räubern verwandelte, dem Teufel drei Haare ausriss und
oder der Königin im Schloss gewaltsam ermordet. ihn über die drei Probleme im Königreich befragte.
Allein der Aspekt von Müllersleuten aufgenommen Dieses Verhalten wird im psychologischen Sinne
und großgezogen zu werden oder von der Großmut- „prosoziales Verhalten“ genannt und näher in
ter des Teufels Hilfe zu bekommen, ist bemerkens- 7 Abschn. 29.3.3 beschrieben.
wert. Daraus könnte geschlossen werden, der Junge
habe nur Glück im Leben und die Prophezeiungen
zur Glückshaut sind wahr. Mehr zum Thema Glück 29.3 Psychologische Phänomene
finden Sie in 7 Abschn. 29.3.1.
Dem König , der von Anfang an versucht die Aus dem Märchen „Der Teufel mit den drei goldenen
Prophezeiung über die Vermählung seiner Tochter Haaren“ lassen sich einige psychologische Phäno-
aufzuhalten, kann nachgesagt werden, dass dieser mene ableiten, die im Folgenden dargelegt werden.
222 Kapitel 29 · Der Teufel mit den drei goldenen Haaren von den Gebrüdern Grimm (1857)

29.3.1 Zufriedenheit, Glück und 6. Freundschaften: Freundschaften zu pflegen


Wohlbefinden lohnt sich. Wer ein enges, gut funktionierendes
Netz an Freunden hat und Freundschaften
Im Märchen wird Glück als das Überstehen von pflegt, ist glücklicher als Menschen, die ihre
wilden Abenteuern wie die Reise durch den Räu- Zeit dem materiellen Besitz widmen.
berwald oder in die Hölle beschrieben; Glück als 7. Partnerschaft: Verheiratete sind glücklicher
ein positives Ereignis, das aufgrund von bewältigten als Menschen, die allein leben, geschieden
Gefahren eingetreten ist. oder verwitwet sind. Bezüglich der hohen
In der Psychologie ist Glück eher ein innerer Gewichtung der Partnerschaft stellt sich die
Zustand und kein Ereignis, hier wird von Zufrieden- Frage nach Intimitäten und Sex als Deter-
heit, Glück und Wohlbefinden gesprochen. Leider minanten des Glücks. Die Häufigkeit von
wissen wir aus der Geschichte nicht, wie sich der Sex korreliert signifikant positiv mit Glück,
Jüngling mit der Glückshaut fühlte, jedoch ist gewiss, unabhängig von Geschlecht und Alter (Kirchler
dass er auf seiner Reise viel Glück hatte. Das „Streben 2011).
nach Glück“ wird sogar in der amerikanischen Unab-
hängigkeitserklärung aufgeführt und im Königreich Letztendlich kann gemutmaßt werden, dass die
Bhutan ist das Staatsziel die „Maximierung des Brut- Hochzeit mit der Königstochter und der plötz-
tosozialglücks“ (Albrecht 2005). liche Reichtum den Jüngling durchaus glücklich
In der psychologischen Glücksforschung gibt und zufrieden machen könnten. Schließlich wurde
es mehrere Aspekte, die Zufriedenheit, Glück und dieser in Windeseile von einem adoptierten Mül-
29 Wohlbefinden begünstigen: lersohn zu einer wohlhabenden und einflussreichen
1. Alter: Wenn eine Person gesund ist, ein gutes Person.
finanzielles Einkommen hat und sich sinnvoll
zu beschäftigen weiß, steigt mit zunehmendem
Alter die Lebenszufriedenheit an. 29.3.2 Grundlegende soziale Motive
2. Attraktivität: Gut aussehende Menschen
scheinen glücklicher zu sein als andere. Aber „Herr Müller, Sie sind ab heute fristlos gekün-
Schönheit ist relativ. Um Neidgefühle zu digt.“ Entscheidungen wie diese, die gegen unseren
vermeiden, ist es ratsam, sich erst gar nicht mit eigenen Willen gefällt werden und darüber hinaus
anderen zu vergleichen. noch unerklärbar sind, empfindet jeder von uns als
3. Religion und Sinn im Leben: Glauben gibt Sinn äußerst ungerecht.
und macht zufrieden! Wer einer Religions- Der König, dem lediglich durch die Geburt eines
gemeinschaft angehört und einen starken Kindes mit einer nicht geplatzten Fruchtblase, die
Glauben an Gott hat, findet Sinn im Leben Mitbestimmung über die Vermählung seiner Tochter
und erträgt zudem eher Schicksalsschläge als genommen wurde, sieht dies nicht nur als unge-
Menschen, die weder an ein Leben nach dem recht an, er kann sich auch den Grund hierfür nicht
Tod noch an Gott glauben. erklären.
4. Hilfsbereitschaft: Gemeinnützige Arbeit, Nach der Theorie der kognizierten Kontrolle
Arbeit in karitativen Vereinen und Altruismus nach Frey u. Jonas (2002) haben Menschen Sehn-
sind Quellen von Zufriedenheit. Generöse sucht nach Erklärbarkeit, Vorhersehbarkeit und
Menschen sind glücklicher als neidvolle Beeinflussbarkeit. Keiner dieser drei Aspekte war im
Egoisten. Falle der vorgegebenen Vermählung zwischen der
5. Maßvolle Wünsche: Wer seine Ansprüche Königstochter und dem Jüngling mit der Glückshaut
und Erwartungen allzu hoch setzt, wird gegeben und dem König drohte ein Kontrollverlust.
unglücklich. Deshalb ist es ratsam, seine Der König versuchte daher Kontrolle durch Verän-
Wünsche danach zu prüfen, ob sie realisierbar derung der Situation – zunächst durch Ertränken des
sind oder nicht. Babys im Wasser – wiederzuerlangen, und scheiterte
29.3 · Psychologische Phänomene
223 29
hierbei, da der Junge nicht ertrank, sondern der Korb 29.3.3 Prosoziales Verhalten
mit dem Baby von Müllersleuten am Ende des Flusses
gefunden wurde. Warum haben die Räuber den Brief umgeschrie-
Jahre danach, als der König mitbekam, dass der ben? Warum hat die Großmutter des Teufels ihm
Jüngling noch lebte und die Wahrscheinlichkeit einer drei Haare ausgerissen? Warum haben diese Perso-
Hochzeit mit seiner Tochter immer größer wurde, nen dem Glückskind geholfen?
beschloss er, den Jüngling mithilfe des Todesbriefes Die Gründe, warum Menschen anderen Men-
umzubringen, da er vermutete, sein Ansehen könne schen helfen, können sehr unterschiedlich sein.
unter den Adeligen aufgrund der Hochzeit mit einem Die einen helfen aufgrund von Mitgefühl („Er tut
nicht adeligen armen Jungen leiden. mir Leid!“), die anderen wollen lediglich gut daste-
1954 fand der Forscher L. Festinger heraus, dass hen (z. B. durch eine auffällige Spende) und wieder
Menschen Informationen über sich selbst durch den andere befolgen Normen („Das gehört sich so“).
Vergleich mit anderen gewinnen. Er begründete Waren dies die Absichten der Räuber und der Groß-
hierdurch die Theorie sozialer Vergleichsprozesse, mutter? Warum verhalten sich Menschen proso-
die annimmt, dass es ein grundlegendes Bedürfnis zial? Es gibt aus psychologischer Sicht verschiedene
gibt, sich selbst zu kennen und einzuschätzen. Motive, sie prosozial zu verhalten.
Der König vergleicht sich hier somit mit Mit der Verwandtschaftsselektion erhöhen
Königen der Nachbarländer und Aristokraten Menschen die Wahrscheinlichkeit, ihre eigenen Gene
seines Standes, die ihre Töchter und Söhne unterei- weiterzugeben, indem sie ihren Verwandten zum
nander in derselben Gesellschaftsschicht verheirate- Überleben verhelfen. Diese Theorie würde erklären,
ten. Seine Tochter hingegen sollte nun einem weder warum wir den Verwandten helfen, aber sie erklärt
adeligen noch reichen Mann das Jawort geben, was nicht, warum wir uns auch gegenüber Fremden pro-
er als nicht gruppenkonform ansah, wodurch er sozial (helfend) verhalten (z. B. wurde ein fremder
hierdurch mögliche Statuseinbußen hinnehmen Mann von Passanten vom Gleis gezerrt, kurz bevor
musste. ein Zug einfuhr). Das Glückskind ist auch weder mit
In der Psychologie nennt man diesen Effekt einen den Räubern, noch mit der Großmutter verwandt.
normativen sozialen Einfluss. Dieser normative Ebenfalls in der Psychologie bekannt ist die Rezi-
soziale Einfluss anderer Menschen führt dazu, dass prozitätsnorm, die besagt, dass wir aus der Erwar-
wir uns konform verhalten, um von ihnen gemocht tung heraus helfen, dass uns auch zukünftig gehol-
und akzeptiert zu werden. Diese Art von Konfor- fen wird – nach dem Motto: „Wie du mir, so ich dir“.
mität führt zu Zustimmung und Fügsamkeit mit Evolutionspsychologisch hätte eine solche Norm
den Annahmen und Verhaltensweisen der Gruppe aufgrund der Kooperation einen Überlebensvorteil
(Aronson et al. 2004). geschaffen. Sie kann jedoch nicht erklären, warum
Nun müssen wir uns die Frage stellen, warum prosoziales Verhalten auch dann gezeigt wird, wenn
Gruppen für den König relevant sein sollten; klar ist, dass keine weitere Interaktion mehr erfolgen
Könige waren die Ranghöchsten in der Hierarchie wird (Fetchenhauer u. Bierhoff 2004). Die Großmut-
und hatten die Exekutiv-, Legislativ- und Judika- ter war sich bestimmt sicher, den Jüngling nie wieder
tivmacht. Man könnte meinen, niemand könne zu sehen.
ihnen etwas anhaben. Jedoch war auch ein König Das soziale Lernen nach Bandura (1976)
auf Gruppen angewiesen. Einerseits auf einfluss- beschreibt darüber hinaus die Tendenz, einen sozia-
reiche, wohlhabende und mächtige Familien wie len Einfluss zu akzeptieren. Hier wird argumentiert,
Adelige, andererseits auf verbündete Könige und dass die Menschen, die sich Normen einer Gesell-
Königreiche. Denn nach Werth u. Mayer (2008) schaft am besten aneignen, einen Überlebensvorteil
kann eine Gruppenzugehörigkeit für das Überle- haben (z. B. Wissen, welches Nahrungsmittel unver-
ben, die soziale Unterstützung, den sozialen Aus- träglich ist oder wie man optimal zusammenarbeiten
tausch, die soziale Identität und die Produktivität kann). Das Lernen von sozialen Normen wäre dem-
verantwortlich sein. zufolge Teil unseres genetischen Erbes geworden. Da
224 Kapitel 29 · Der Teufel mit den drei goldenen Haaren von den Gebrüdern Grimm (1857)

eine weitverbreitete Norm lautet, dass hilfsbereites Des Weiteren sollte das Kind lernen, maßvolle
Verhalten gutes Verhalten ist, könnte auch sie Teil Wünsche zu äußern, und kann sich in zunehmen-
unseres genetischen Programms geworden sein (Frey dem Alter an Weihnachten und Geburtstag bewusst
u. Bierhoff 2011). werden, in welch glücklicher Lage wir sind, da es
Auf Basis dieser Erkenntnisse lassen sich die Kinder gibt, die keine oder nur wenige Geschenke
Intentionen der Großmutter und der Räuber besser erhalten (Kirchler 2011). Hierbei sollte den Kindern
verstehen, wenngleich wir in dem Märchen wenige auch gezeigt werden, dass Dankbarkeit ein zentra-
explizite Hinweise finden, warum sie letztlich helfen. les Element in unserer heutigen Gesellschaft ist und
viele Sachen, die für uns getan werden, nicht selbst-
verständlich sind. Nur das einfache Wort „Danke“,
29.4 Implikationen für die Erziehung, das wir an unsere Mitmenschen wie Eltern, Mit-
Führung und Lebensgestaltung schüler, Lehrer und Nachbarn richten, steigert laut
neueren Studien das generelle Wohlbefinden und
Die aufgezeigten psychologischen Phänomene die Lebenszufriedenheit (Wood et al. 2007; Zygar u.
sind bedeutende Bausteine unseres sozialen Mit- Angus 2016).
einanders und finden entsprechend ihre Anwen- Andererseits, als wichtigster Punkt, sollte man
dung in den Bereichen Erziehung, Führung und als Elternteil dem Kind die hohe Bedeutung von
Lebensgestaltung. Freundschaften näher bringen, da sie glücklicher
machen als materielle Dinge (Kirchler 2011). Eltern
dienen als Vorbilder und können auf diesem Weg
29 29.4.1 Erziehung den Kindern vorleben, wie Freundschaften gepflegt
werden. Gleichzeitig betten sie ihre Kinder ein in
Im 7 Abschn. 29.3.1 wurde aufgezeigt, welche Fak- freundschaftliche Bande und vermitteln damit Halt
toren positives Wohlbefinden begünstigen. Doch und Sicherheit.
welche Auswirkungen würde dies auf Erziehung
haben?
Viele Kinder leiden oft an Niedergeschlagenheit 29.4.2 Führung
und Traurigkeit. Einflussfaktoren sind hierbei der
häufig zu hohe schulische Druck, fehlende soziale Anhand des Märchens lässt sich für die Führung
Einbindung und familiäre Probleme (Wittchen ableiten, dass Führungskräfte ihre Entscheidun-
u. Hoyer 2011). Um den Einflussfaktoren vorzu- gen so kommunizieren sollten, dass deren Mit-
beugen, sollte man schon früh mit dem Kind über arbeiter Erklärbarkeit (Warum?), Vorhersehbarkeit
verschiedene Faktoren für positives Wohlbefin- (Was wird passieren?) und Beeinflussbarkeit (Was
den reden. Einerseits sollte dem Kind beigebracht kann ich unternehmen?) wahrnehmen. Dadurch
werden, dass z. B. Schönheit und Noten relativ sind schützt man einem empfundenen Kontrollverlust
und es hierbei keine Vergleiche mit anderen Kindern vor, und die Mitarbeiter können die erforderlichen
anstreben, sondern vielmehr sich selbst, die indivi- Maßnahmen besser nachvollziehen und mittragen.
duellen Stärken und den eigenen Fortschritt in den Damit erhöht sich ihre Zufriedenheit, auch wenn die
Fokus stellen sollte. Was gestern vielleicht noch nicht Umsetzung mit einer zunächst höher erscheinenden
klappte, funktioniert zu einem späteren Zeitpunkt Belastung einhergehen sollte.
sehr gut – ungeachtet dessen, was andere Kinder Beispielsweise kann die Einführung eines Zeit-
können. erfassungssystems im Unternehmen folgenderma-
Auch auf eine Einbindung in soziale sowie karita- ßen kommuniziert werden: „Da es vermehrt zu
tive Gruppen und Vereine (z. B. Zivilcourageverein) Arbeitszeitbetrug im Unternehmen gekommen ist
sollte geachtet werden, um den Kindern zu zeigen, (Erklärbarkeit), wird für die nächsten drei Monate
dass Hilfsbereitschaft anderen Menschen gegenüber das Stempeln an einer Stempeluhr Pflicht (Vorher-
ein zentraler Aspekt für Zufriedenheit ist. sehbarkeit), nur wenn das ein- und ausstempeln
Literaturverzeichnis
225 29
zuverlässig von der Belegschaft realisiert worden ist, Fetchenhauer, D., & Bierhoff, H. W. (2004). Altruismus aus
evolutionstheoretischer Perspektive. Zeitschrift für Sozial-
kann die Abschaffung der Stempeluhr in Betracht
psychologie 35, 131–141.
gezogen werden. Falls es Bedenken hierzu gibt, Frey, D., & Bierhoff, H. W. (2011). Sozialpsychologie – Interaktion
wenden Sie sich bitte an die Personalabteilung oder und Gruppe. Göttingen: Hogrefe.
den Betriebsrat (Beeinflussbarkeit).“ Frey, D., & Jonas, E. (2002). Die Theorie der kognizierten Kont-
rolle. In: D. Frey, & M. Irle (Hrsg.), Theorien der Sozialpsycho-
logie (S. 19–50). Bern: Huber.
Grimm, J., & Grimm, W. (1990). Die schönsten Kinder- und Haus-
29.4.3 Lebensgestaltung
märchen. Hamburg: Moewig.
Kirchler, E. (2011). Wirtschaftspsychologie: Individuen, Gruppen,
Für den Bereich Lebensgestaltung gibt es drei Theo- Märkte, Staat. Göttingen: Hogrefe.
rien, die erklären, warum wir anderen Menschen Uther, H. J. (2013). Handbuch zu den „Kinder-und Hausmärchen“
der Brüder Grimm: Entstehung – Wirkung – Interpretation.
helfen: die Verwandtschaftsselektion, die Reziprozi-
Berlin: Walter de Gruyter.
tätsnorm sowie das soziale Lernen (7 Abschn. 29.3.3). Werth, L., & Mayer, J. (2008). Sozialpsychologie. Wiesbaden:
Die Mutter des Teufels und die Räuber haben Spektrum Akademischer Verlag.
uns gelehrt, dass nur durch deren Unterstützung Wittchen, H. U., & Hoyer, J. (2011). Klinische Psychologie & Psy-
der Jüngling sein Abenteuer erfolgreich bestehen chotherapie. Berlin, Heidelberg: Springer.
Wood, A. M., Joseph, S., & Linley, P. A. (2007). Coping style as a
konnte. Wenn uns demnach jemand nach dem Weg
psychological resource of grateful people. Journal of Soci-
fragt, sollten wir bedenken, dass auch diese Person al and Clinical Psychology 26, 1076–1093.
auf einer Reise sein könnte, die sie möglicherweise Zygar, C., & Angus, J. (2016). Dankbarkeit. In: D. Frey (Hrsg.),
nur durch uns erfolgreich vollenden kann. Psychologie der Werte (S. 37–52). Berlin, Heidelberg:
Springer.

29.5 Fazit

Glück, grundlegende soziale Motive und proso-


ziales Verhalten sind zentrale psychologische Phä-
nomene, die nicht nur mit den Charakteren im
Märchen verbunden sind, sondern uns ebenso
im alltäglichen Leben und Beruf begegnen. Man
erkennt so manche Schwächen, denen Menschen
unterliegen, anhand des Glückskindes, des Königs
sowie der Großmutter und den Räubern können
wir allerdings einige praktische Implikationen für
unser eigenes Leben ableiten und als Denkanstöße
mitnehmen.

Literaturverzeichnis

Albrecht, C. (2005). Alfred Bellebaum und Hans Braun (Hg.):


Quellen des Glücks – Glück als Lebenskunst. Literaturbe-
sprechungen Kultursoziologie. KZfSS Kölner Zeitschrift für
Soziologie und Sozialpsychologie 57, 763–765.
Aronson, E., Wilson, T. D., & Akert, R. M. (2008). Sozialpsycho-
logie. München: Pearson Higher Education.
Bandura, A. (1976). Self-reinforcement: Theoretical and metho-
dological considerations. Behaviorism 4, 135–155.
von Bonin, F. (2009). Wörterbuch der Märchen-Symbolik. Ahler-
stedt: Param.
227 30

Aschenputtel von den


Gebrüdern Grimm (1819)
Lena Kuchta

30.1 Inhalt des Märchens – 228

30.2 Die Charaktere – 228

30.3 Psychologische Phänomene – 229


30.3.1 Erlernte Hilflosigkeit – 229
30.3.2 Coping- und Bewältigungsstrategien – 230
30.3.3 Identität und Selbstwert – 231

30.4 Bedeutung für die heutige Zeit – 231


30.4.1 Mobbing – 231
30.4.2 Wunsch nach einer anderen Identität – 232

30.5 Implikationen für die Erziehung – 232

30.6 Fazit – 232

Literaturverzeichnis – 233

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_30
228 Kapitel 30 · Aschenputtel von den Gebrüdern Grimm (1819)

30.1 Inhalt des Märchens

Es war einmal ein junges Mädchen, dessen Mutter


nach schwerer Krankheit gestorben war. Sein Vater,
ein erfolgreicher Kaufmann, heiratete bereits kurz
nach diesem Schicksalsschlag eine böse Witwe,
welche zwei Töchter mit in die Ehe brachte. Seine
Stiefmutter und -geschwister nötigten das Mädchen
zu niederen Arbeiten, welche es jedoch stets zuvor-
kommend erledigte. Seinen Schlafplatz fand es
fortan in der Asche des Kamins, weshalb es von allen
Aschenputtel gerufen wurde. Der einzige Trost des
Mädchens war ein Bäumchen am Grab der verstorbe- . Abb. 30.1  (Zeichnung: Johanna Frey)

nen Mutter, auf welchem ihm des Öfteren eine weiße


Taube erschien. gu, rucke di gu, Blut ist im Schuh: Der Schuh ist zu
Eines Tages ließ der König des Landes zu einem klein, die rechte Braut sitzt noch daheim.“
Fest einladen, um für seinen Sohn eine passende Frau Der Prinz fragte die böse Stiefmutter daher nach
auszusuchen. Auch Aschenputtel hatte den Wunsch, einer weiteren Tochter und das Aschenputtel wurde
zum Schloss zu fahren. Um es an diesem Vorhaben herbeigeholt. Ihm passte der Schuh wie angegos-
zu hindern, schüttete die böse Stiefmutter darauf- sen und es ritt gemeinsam mit dem Prinzen zum
hin jedoch einen Topf voller Linsen in die Asche Schloss, wo er es zu seiner Frau nahm. Am Tag der
des Kamins und gab ihm die Aufgabe, alle Linsen Hochzeit versuchten sich die beiden Stiefschwestern
30 innerhalb einer gewissen Zeit wieder auszulesen. wieder einzuschmeicheln und wurden dafür von
Nur dann dürfe das Mädchen am Fest teilnehmen, dem weißen Täubchen bestraft, indem es beiden die
so versprach sie. Dank der weißen Taube schaffte es Augen auspickte.
Aschenputtel, die Arbeit rechtzeitig zu verrichten. (Grimm u. Grimm 1819; . Abb. 30.1)
Die böse Stiefmutter aber gestattete ihm dennoch
nicht, das Fest zu besuchen. Anmerkung  Das Märchen des Aschenputtels, auch
Verzweifelt suchte Aschenputtel darauf erneut als Aschenbrödel geläufig, zählt zu den bekanntes-
Trost beim Grab der Mutter und bat das Bäumchen: ten im europäischen Raum. Charles Perrault veröf-
„Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold fentlichte eine weitere, äußerst populäre Variante des
und Silber über mich!“ Die weiße Taube ließ dar- Märchens unter dem Titel „Cendrillon“. Diese diente
aufhin ein wunderschönes Kleid über das Mädchen u. a. als Inspiration für den Zeichentrickfilm „Cinde-
herabfallen und schenkte ihm feine Schuhe. Aschen- rella“ von Walt Disney.
puttel gelang es, sich unbemerkt auf das Fest zu
schleichen, wo sich der Prinz auf den ersten Blick
in das unbekannte Mädchen verliebte. Aus Scham 30.2 Die Charaktere
für seine ärmliche Herkunft verriet es dem Prinzen
jedoch nicht, wer es wirklich war. Zu Beginn des Märchens wird der Leser zunächst in
Auf seinem Weg nach Hause verlor Aschenput- die familiäre Situation des Aschenputtels eingeführt.
tel einen seiner Schuhe, mit dessen Hilfe der Prinz Hier erfahren wir, dass dessen Mutter bereits verstor-
das gesamte Land nach der unbekannten Schönheit ben ist. Näheres zu ihrer Person wird im weiteren
durchsuchen ließ. Schließlich gelangte der könig- Verlauf allerdings nicht aufgeführt. Das Verhalten
liche Suchtrupp auch zum Haus der Stiefmutter. Aschenputtels, welches in Situationen der Not stets
Gierig nach Macht befahl diese ihren Töchtern, sich Trost beim Grab der Mutter sucht, zeugt jedoch von
heimlich Teile ihrer Ferse abzuschneiden, um in einer engen und vertrauensvollen Beziehung.
den Schuh zu passen. Die Taube enttarnte die Lüge Die Verbindung, die Aschenputtel zur geliebten
jedoch, indem sie von oben herab gurrte: „Rucke di Mutter bleibt, ist die weiße Taube. Diese stellt die
30.3 · Psychologische Phänomene
229 30
einzige Verbündete des Mädchens in seinem stillen Inspiriert vom Machtmotiv der eigenen Mutter
Kampf gegen die familiären Ungerechtigkeiten dar. sind diese ebenfalls nur auf ihren Vorteil bedacht
Die Taube übernimmt für Aschenputtel die Rolle und unterstützen im Zuge dessen aktiv die Schika-
eines Ansprechpartners in jeglicher Notsituation. nen gegenüber dem Mädchen. Sie gewähren ihrer
Die Tatsache, dass es das Mädchen bevorzugt, sich Mutter blind Folge und schrecken nicht einmal davor
an dieses himmlische Geschöpf, statt an den noch zurück, sich selbst zu verstümmeln.
lebenden Vater zu wenden, deutet bereits auf eine Da eine Lösung der Situation aufgrund der
gestörte Vater-Tochter Beziehung hin. starren Verhältnisse innerhalb der Familie nicht
So wird der Vater des Mädchens lediglich zu möglich ist, bedarf es einer Erlösung von außen.
Beginn kurz erwähnt und bleibt fortan eine blasse Diese erscheint im Märchen in Form vom Prinzen,
Gestalt. Er wird nach dem Tod seiner Frau mit der dem Retter in der Not. Selbst als er am Ende der
Doppelrolle als Kaufmann sowie Alleinerziehen- Geschichte von der wahren Herkunft Aschenputtels
der konfrontiert und kann den fehlenden Einfluss erfährt, lässt er nicht von seiner Liebe ab und beendet
der Mutter nicht kompensieren. Daher sucht er sich getreu der Redewendung „Wenn du denkst, es geht
bereits kurz darauf eine neue Frau. Diese Entschei- nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her“,
dung bringt die Gegenspielerinnen Aschenputtels das langjährige Leiden des Mädchens.
ins Geschehen. Fortan entzieht er sich der Vater- Das vom Schicksal benachteiligte Aschenputtel
rolle und überlässt der Stiefmutter die Führung in symbolisiert die tragische Heldin der Geschichte.
der Familie. Es bleibt fraglich, ob er von den Schi- Sein Verhalten ist stets von Duldsamkeit und Pas-
kanen gegenüber seiner Tochter nichts erfährt sivität geprägt, mit welcher es sich den Schikanen
oder schlichtweg nicht eingreift. Diese Passivität der Stiefmutter und -geschwister fügt. So ergreift es
würde ihn zum Mittäter werden lassen, welcher die keine Eigeninitiative, um sein Leiden zu beenden,
Misshandlungen der Stiefmutter ermöglicht und sondern signalisiert seinen Wunsch nach Erlösung
unterstützt. nach außen. Diese Passivität könnte beim Leser
Durch das Bündnis mit der bösen Witwe ent- leicht zum Trugschluss führen, Aschenputtel sei
steht eine Patchworkfamilie, in welcher diese fortan zu labil, um sich gegen sein Schicksal zu wehren.
das Sagen hat. Ihre Figur ist geprägt von einem Doch gerade dieses passive Verhalten ist es, durch
starken Machtmotiv, welches sie sowohl innerhalb welches das Mädchen wahre Größe beweist und
als auch außerhalb der Familie nach Führung streben sich von seinen unmenschlichen Gegenspielerin-
lässt. Dieser Wunsch nach Einfluss motiviert sie zu nen abhebt. Denn anstatt Bosheit mit Bosheit zu
rücksichtslosen und egoistischen Handlungen. Sie begegnen, verhält es sich diesen gegenüber stets
nimmt Aschenputtel als Konkurrenz für ihre eigenen zuvorkommend.
Töchter wahr, weshalb sie dieses unterdrückt und
kleinhält. Als sich ihr schließlich eine Gelegenheit
bietet, mehr Macht und Einfluss zu gewinnen, instru- 30.3 Psychologische Phänomene
mentalisiert sie jedoch auch ihre eigenen Kinder und
nimmt in Kauf, dass sich diese Schmerzen zufügen. Zu den psychologischen Phänomenen, die eingehen-
Sie priorisiert ihr eigenes Wohlergehen gegenüber der besprochen werden, gehören die erlernte Hilflo-
dem ihrer Töchter, was einen weiteren Beleg für ihre sigkeit, Coping- und Bewältigungsstrategien sowie
krankhafte Gier nach Macht darstellt. Identität und Selbstwert.
Die Situation der beiden Stieftöchter bietet
einige Analogien zu der des Aschenputtels. Auch
sie haben bereits im Kindesalter den Verlust eines 30.3.1 Erlernte Hilflosigkeit
Elternteiles erleiden müssen und finden sich dar-
aufhin in einer völlig neuen Familienkonstellation Das von Seligmann geprägte Konzept der erlernten
wieder. Birgt der Leser jedoch die Hoffnung, dass Hilflosigkeit beschreibt die Erwartung einer Person,
die Stieftöchter hierdurch zu Leidensgenossin- bestimmte Situationen durch eigenes Handeln nicht
nen Aschenputtels werden, so wird er enttäuscht. länger beeinflussen zu können. Diese Einstellung
230 Kapitel 30 · Aschenputtel von den Gebrüdern Grimm (1819)

führt dazu, dass Betroffene nicht mehr aktiv gegen 30.3.2 Coping- und
unangenehme Zustände vorgehen, selbst wenn Bewältigungsstrategien
sie es objektiv betrachtet könnten (Barysch 2016).
Als Ursache für dieses Phänomen werden negative Sie fragen sich nun vermutlich, wie es dem Mädchen
Erfahrungen erlebter Kontrollverluste angenom- gelingen konnte, die Schikanen auszuhalten, ohne
men (Stiensmeier-Pelster 1988). daran zu zerbrechen. Die Antwort liegt im psycho-
Erstmals beobachtet wurde erlernte Hilflosigkeit logischen Phänomen der Copingstrategien.
im Rahmen eines Tierversuches. Hierbei wurden Dieser Begriff wurde von Lazarus im Rahmen
Hunden im ersten Teil des Experimentes Elektro- seines transaktionalen Stressmodells definiert und
schocks zugefügt, wobei sie keine Chance hatten, bezeichnet Strategien, die von Menschen zur Bewäl-
diesen zu entgehen. Im zweiten Teil wurden die tigung belastender Ereignisse eingesetzt werden. Die
Tiere abermals mit Schocks konfrontiert, aller- Entstehung des Phänomens basiert auf der individu-
dings mit der Möglichkeit, sich in Sicherheit zu ellen Bewertung potenziell bedrohlicher Situationen.
begeben. Es zeigte sich jedoch, dass die Mehrzahl Hierbei entscheidet eine Person zunächst anhand
der Versuchstiere keinerlei Versuch unternahm, einer sog. primären Bewertung, ob eine Bedrohung
den Schmerzen zu entgehen – die Hunde hatten vorliegt. Ist dies der Fall, so wird im Rahmen einer
die Erfahrung gemacht, durch ihr Handeln keiner- sekundären Bewertung überprüft, ob eine Bewälti-
lei Einfluss auf ihre Situation ausüben zu können. gung der Situation mithilfe vorhandener Ressourcen
Die Symptome der Versuchstiere lassen sich auf den möglich ist. Ist dies nicht realisierbar, kommt es zur
Menschen übertragen. Auch diese zeigen bei erlern- Stressreaktion. Um diese zu bewältigen, werden neue
ter Hilflosigkeit Anzeichen verminderter Motiva- Copingstrategien entwickelt, welche in ihrer Art von
tion sowie apathischer Verhaltensmuster (Selig- Person zu Person differieren (Folkman et al. 1986).
30 mann 1999). Generell unterscheidet man zwischen adapti-
Waren auch Sie schon einmal hilflos? Erinnern ven (geeigneten) sowie maladaptiven (ungeeigne-
Sie sich, wie sich dieser Zustand angefühlt hat? Wenn ten) Strategien. Letztere dienen hauptsächlich der
ja, können Sie sich mit Sicherheit gut mit der Figur Ablenkung von der zentralen Problematik, z. B.
des Aschenputtels identifizieren. Auch bei dieser Alkoholkonsum, welcher den Betroffenen kurzfris-
lassen sich Symptome erlernter Hilflosigkeit wie- tig ein positives Gefühl verschafft, ihnen auf Dauer
derfinden. Das Mädchen macht die Erfahrung, dass aber zusätzlichen Schaden zufügt. Adaptive Strate-
es nichts gegen die Machenschaften der Stiefmutter gien hingegen setzen an der tatsächlichen Ursache
ausrichten kann. Dies resultiert in einem passiven der Problematik an und tragen somit zu einer lang-
Verhalten – das Mädchen fügt sich seinem schein- fristigen Lösung dieser bei (Lazarus 1966).
bar besiegelten Schicksal. Haben auch Sie persönliche Bewältigungsstra-
Beim Lesen des Märchens würde mancher Leser tegien entwickelt, auf die Sie in schweren Zeiten
ihm vermutlich gerne zurufen: „Mädchen, unter- zurückgreifen können? Aschenputtel jedenfalls tat
nimm doch etwas, wehre dich!“ – und das Verhal- dies. Um die fehlende familiäre Zuneigung sowie die
ten Aschenputtels somit kritisieren. Viele verkennen alltäglichen Bosheiten zu bewältigen, sucht es regel-
dabei möglicherweise, dass dieser Weg der einzige mäßig das Grab der Mutter auf, welches ihm Trost
für das Mädchen war, sich selbst zu retten. Durch spendet und seine negativen Emotionen reduziert.
die fehlende schützende Hand einer Mutter konnte Das Grab ermöglicht es dem Mädchen, auf Ressour-
es nicht das nötige Selbstbewusstsein aufbauen, cen zurückzugreifen, welche ihm durch seine Bezie-
um aktiv für sich einzutreten. Für eine Selbstret- hung zur Mutter zugänglich sind. Mithilfe dieser
tung wären somit keine ausreichenden Ressour- Bewältigungsstrategie mobilisiert Aschenputtel
cen vorhanden gewesen. Statt sich mit seinem innere Kräfte, die das Mädchen sogar dazu befähigen,
Handeln nach außen zu richten, fokussiert sich das sich dem Verbot ihrer Stiefmutter, nicht auf den Ball
Mädchen folglich also auf sein Inneres und mobili- zu gehen, zu widersetzen. Dieser Punkt stellt eine
siert Kräfte, die ihm helfen, diese schweren Zeiten Wendung dar, welche das wiedergewonnene Selbst-
zu überstehen. bewusstsein Aschenputtels symbolisiert.
30.4 · Bedeutung für die heutige Zeit
231 30
30.3.3 Identität und Selbstwert Verlust dieser Zugehörigkeit hat das Mädchen fortan
keine Gruppe mehr, mit der es sich identifizieren
Haben Sie sich auch schon einmal gefragt, wer Sie kann und wird physisch als auch psychisch isoliert.
wirklich sind und was Sie von anderen unterscheidet? Mitsamt seiner Identität geht auch ein großer Teil
Diese essenziellen Fragen werden in der Psycho- von Aschenputtels Selbstwert verloren, was in seinem
logie mithilfe des Identitätskonzeptes beantwortet. unterwürfigen Verhalten resultiert.
Dieses umfasst sämtliche Merkmale und Eigenschaf- Deutlich wird der Identitätsverlust, als das
ten von Individuen, welche in deren Selbstverständ- Mädchen gegenüber dem Prinzen sein wahres Ich
nis als wesentlich erachtet werden. So kann die nicht preisgeben will. Nicht nur schämt es sich für
Antwort auf die Frage: „Wer sind Sie?“ von Person seine ärmliche Herkunft, es fühlt sich seiner neuen
zu Person völlig unterschiedlich ausfallen. Legt ein Familie auch in keiner Weise zugehörig. Die dort
Mensch beispielsweise großen Wert auf seine Her- vorherrschenden machtgierigen Verhaltenswei-
kunft, so wird die Antwort vielleicht „Ich bin Münch- sen widersprechen seinen Moralvorstellungen und
ner“ lauten. Im Gegensatz hierzu wird eine Person, werden somit nicht in dessen Identitätskonzept
die sich über ihr Hobby definiert, z. B. „Ich bin Fuß- integriert.
baller“ antworten. Der Entwicklungsweg Aschenputtels ist am Ende
Natürlich werden wir nicht mit einer bereits des Märchens somit noch nicht abgeschlossen. Ihm
ausgereiften Identität geboren. Diese entwickelt steht die herausfordernde Aufgabe bevor, seine Iden-
sich erst im Laufe unseres Lebens und befindet sich tität und damit sich selbst neu zu (er)finden. Dies
in einem stetigen Veränderungsprozess. Wie am kann ihm jedoch nur mithilfe einer neuen Gruppen-
Begriff erkennbar identifizieren wir uns mit gewis- zugehörigkeit gelingen, die es wünschenswerterweise
sen Dingen und integrieren sie daraufhin in unser in der Königsfamilie finden wird.
Selbstkonzept.
Eine wichtige Rolle bei diesem Prozess spielt die
Gruppenidentität. Wenn wir uns einer bestimmten 30.4 Bedeutung für die heutige Zeit
Gruppe zugehörig fühlen, werden relevante Merk-
male dieser ebenfalls in die persönliche Identität Zwei Aspekte haben eine besondere Bedeutung für
integriert. Gruppen bilden somit eine essenzielle die heutige Zeit, das Mobbing und der Wunsch nach
Voraussetzung für die Entwicklung der Selbstiden- einer anderen Identität.
tität (Smith u. Mackie 2007).
Jedem von Ihnen ist sicherlich die Redewendung
„sein Gesicht verlieren“ geläufig. Tatsächlich kann 30.4.1 Mobbing
der Fall eintreten, dass Menschen ihre Identität ver-
lieren. Dies geschieht dann, wenn eine Person oder Aus heutiger Sicht stellt das Märchen einen klaren
deren Außenwelt sich so grundlegend verändert, Fall von Mobbing dar. Die Stiefmutter als Täter sowie
dass wesentliche Merkmale, mit denen sie sich bisher Vater und Stiefgeschwister als passive Mittäter dekla-
identifiziert hat, entfallen. Ursache hierfür kann rieren Aschenputtel zum Opfer und bilden ein dest-
z. B. eine tief greifende Veränderung innerhalb der ruktives Mobbingnetzwerk.
Familie sein. Da unsere Identität eng mit unserem Was aber rät uns das Märchen im Bezug auf den
Selbstwert in Verbindung steht, hat ein solcher Iden- Umgang mit Mobbing? Auf der Seite des Opfers
titätsverlust für Menschen schwerwiegende Konse- flüchtet sich Aschenputtel in ihre eigens kreierte
quenzen (Kast 2003). Gedankenwelt zur verstorbenen Mutter und schafft
Der Tod der Mutter sowie der Eintritt der Gegen- es hierdurch, die Mobbingattacken zu überstehen.
spielerinnen bedeuten für Aschenputtel ebenfalls Schließlich befreit der Prinz sie von ihrem Leid.
den Verlust der eigenen Identität. Bisher begrün- Mobbingopfer heutzutage können nicht auf
dete sich diese auf der Gruppenzugehörigkeit zu solch heldenhafte Rettung hoffen. Was sich aus
seiner Familie, welche ihm jedoch durch die diver- dem Märchen allerdings ableiten lässt, ist die
sen Schicksalsschläge genommen wurde. Durch den Bedeutsamkeit sozialer Ressourcen. Es ist wichtig,
232 Kapitel 30 · Aschenputtel von den Gebrüdern Grimm (1819)

dass Betroffene auf ein Personennetzwerk zurück- 30.5 Implikationen für die Erziehung
greifen können, mithilfe dessen sie die diversen
Attacken überstehen können. Darüber hinaus Haben Sie Familie? Dann haben Sie vielleicht bereits
sollten Opfer entsprechende psychologische Bera- die Erfahrung gemacht, dass nicht nur im Märchen,
tungen aufsuchen, um dort professionelle Unter- sondern auch in unserem Alltag eine Spaltung unter
stützung zu erhalten (Kolodej 2013). Soziale Res- Geschwistern stattfinden kann.
sourcen müssen allerdings nicht immer physisch Diese wird häufig, wenn auch unbewusst, durch
präsent sein wie Aschenputtels Taube, sondern die Eltern ausgelöst, die den eigenen Kindern ver-
können ebenso in Form von webbasierten Netz- schiedene Rollen auferlegen. So werden die einen
werken eine positive Wirkung erzielen. Relevant z. B. als die Vorbildlichen und Erfolgreichen gelobt,
ist auch, dass die Rettung Aschenputtels letztlich während die anderen als Versager und Nachzügler
von außen kam. gesehen werden. Letztere führen oft einen mühsa-
Was die Seite der Täter angeht, so sind bei der men Kampf um die Anerkennung der Eltern und
Stiefmutter keinerlei Anzeichen von Einsicht zu versuchen vergeblich, sich gegen ihre Geschwister
erkennen. Sie schikaniert das Mädchen bis zum bit- durchzusetzen. Rollenverteilungen wie diese lassen
teren Ende. Lediglich die Stieftöchter werden am aus Geschwistern Konkurrenten werden, deren einzi-
Ende bestraft, indem ihnen die Taube die Augen aus- ges Ziel es ist, sich gegen den anderen durchzusetzen.
pickt. Vergeltung trifft somit lediglich die Mittäter, Wie lassen sich solche Machtkämpfe unter
während die eigentliche Täterin von jeglichen Kon- Geschwistern vermeiden? Diejenigen von uns, die
sequenzen verschont bleibt. selbst Kinder haben, wissen, dass es nahezu unmög-
Auch heutige Mobbingfälle bestehen häufig lich ist, eine völlige Gleichbehandlung innerhalb der
aus größeren Netzwerken Beteiligter, von denen Familie zu erreichen. Stattdessen sollte man versu-
30 die meisten allerdings passiv am Mobbing teilneh- chen, die individuellen Stärken der einzelnen Kinder
men (Diezel 2012). Anders als im Märchen sollte in herauszuarbeiten und hervorzuheben. Loben Sie
solchen Fällen genauestens darauf geachtet werden, ihre Kinder, für das, was sie besonders macht. Das
den Ursprung der Attacken zu identifizieren und es mögen bei dem einen Kind vielleicht die besonders
nicht bei willkürlichen Bestrafungen von Mittätern guten Schulleistungen sein, beim anderen hingegen
zu belassen. Nur so kann eine langfristige Verände- Erfolge im Sport. Durch Würdigung der individuel-
rung der Situation erreicht werden. len Persönlichkeiten wird vermieden, dass zwischen
Geschwistern ein Gefühl der Konkurrenz und damit
Machtkämpfe ausgelöst werden.
30.4.2 Wunsch nach einer anderen Vermutlich mangelte es auch den Stiefschwestern
Identität Aschenputtels an solcher Anerkennung. Denn hätten
sie diese bekommen, wäre ihr Drang, das Mädchen
Die bösen Stiefschwestern versuchen sich auf zu unterdrücken, vermutlich gering bis gar nicht
Drängen der Stiefmutter hin mit Gewalt in Aschen- ausgeprägt.
puttels Schuh und damit in eine andere Identität zu
zwängen.
Kennen auch Sie den verzweifelten Wunsch, 30.6 Fazit
jemand anderes sein zu wollen? Angetrieben durch
die Medien, die uns täglich vorgaukeln, dass Schön- Was können wir aus dem Märchen von Aschenputtel
heit und Erfolg einen Menschen definieren, streben letztlich lernen? Was davon können wir in unseren
heutzutage viele nach diesem scheinbaren Idealbild. persönlichen Alltag integrieren? Das Märchen lehrt
Stattdessen ist es sinnvoll und wichtig, uns zu uns, wie es gelingen kann, jede noch so ausweglose
akzeptieren, wie wir sind. Denn wir sind nicht auf Situation von Grund auf zu ändern. Es lehrt uns,
dieser Welt, um so zu sein, wie andere uns haben was zu tun ist, um innere Stärke zu aktivieren, mit
wollen. deren Hilfe wir uns aus jeder Lage befreien und sogar
Literaturverzeichnis
233 30
lernen können, uns Boshaftigkeiten zu widersetzen.
Es lehrt uns, wie sich aus einem Menschen, dessen
trauriges Schicksal bereits vereitelt zu sein scheint,
eine völlig neue Persönlichkeit entwickeln kann.
Auch wenn sich in unserer heutigen Gesellschaft oft
auf das alte Gerechtigkeitsprinzip „Auge für Auge,
Zahn für Zahn“ berufen wird, so ist der Schlüssel, den
das Märchen impliziert, ein anderer. Denn es leitet
uns an, nicht aktiv gegen Ungerechtigkeit anzukämp-
fen oder Bosheit mit Bosheit zu begegnen. Vielmehr
sollten wir in Situationen wie diesen unsere Kräfte
nach innen statt nach außen fokussieren, ohne dabei
unsere Würde zu verlieren. Und noch etwas gibt uns
das Märchen mit auf unseren Weg: Wenn Sie sich
wieder einmal in einer scheinbar ausweglosen Situ-
ation befinden und nicht mehr wissen, wie es weiter-
gehen soll – ganz gleich auch, wie viel Zeit verstrei-
chen muss, eine Erleichterung ist in Sicht.

Literaturverzeichnis

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Psychologie der Werte: Von Achtsamkeit bis Zivilcourage-
Basiswissen aus Psychologie und Philosophie (S. 201–2011).
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Diezel, A. (2012). Mobbing in der Schule – Ein Konstrukt im all-
täglichen Leben eines Schülers. München: GRIN.
Folkman, S., Lazarus, R. S., Gruen, R.J., & DeLongis, A. (1986).
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ptoms. Journal of Personality and Social Psychology 50,
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Grimm, J., & Grimm, W. (2001). Aschenputtel. In: H. Rölleke
(Hrsg.), Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen: Gesamt-
ausgabe in 3 Bänden mit den Originalanmerkungen der
Brüder Grimm. Ditzingen: Reclam.
Kast, V. (2003). Trotz allem Ich. Gefühle des Selbstwerts und die
Erfahrung von Identität. Freiburg: Herder.
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Sicht der Betroffenen. In: M. Chlestil (Hrsg.), Konflikte und
Mobbing am Arbeitsplatz. Rechtliche Möglichkeiten und
Praktische Handlungsanleitungen. Wien: Arbeitskammer
Wien.
Lazarus, R. S. (1966). Psychological stress and the coping process.
New York: McGraw-Hill Book Company.
Seligmann, M. E. P. (1999). Erlernte Hilflosigkeit – Über Depres-
sion, Entwicklung und Tod. Weinheim, Basel: Beltz.
Smith, E. R., & Mackie, D. M. (2007). Social psychology (3rd ed.).
New York: Psychology Press.
Stiensmeier-Pelster, J. (1988). Erlernte Hilflosigkeit, Handlungs-
kontrolle und Leistung. Berlin, Heidelberg: Springer.
235 31

Der Arme und der Reiche von


den Gebrüdern Grimm (1815)
Vanessa Allwardt

31.1 Inhalt des Märchens – 236

31.2 Die Charaktere – 236

31.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 238


31.3.1 Egoistisches und altruistisches Verhalten – 238
31.3.2 Glaube an eine gerechte Welt – 239
31.3.3 Selbstkonzept und Selbstwertgefühl – 239
31.3.4 Theorie des sozialen Vergleichs – 240

31.4 Fazit – 241

Literaturverzeichnis – 241

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_31
236 Kapitel 31 · Der Arme und der Reiche von den Gebrüdern Grimm (1815)

31.1 Inhalt des Märchens denn es würde ihm nichts Gutes bringen. Der Reiche
jedoch, getrieben von Gier und dem Wunsch nach
Vor alten Zeiten wandelte der liebe Gott noch auf der noch mehr Reichtum, ließ nicht ab und so gewährte
Erde unter den Menschen umher. Eines Tages konnte der liebe Gott auch ihm drei Wünsche.
er nicht mehr rechtzeitig vor Einbruch der Dunkel- Auf dem Rückweg grübelte der Reiche, welche
heit eine Herberge erreichen. Auf seinem Weg lagen Reichtümer und Schätze er sich wünschen könnte,
vor ihm zwei Häuser. Eines war groß und prächtig um sein Glück zu mehren. Er wollte seine Wünsche
und gehörte einem reichen Mann. Das andere hin- klug nutzen, sodass ihm keine Wünsche mehr offen
gegen war klein und ärmlich anzusehen und gehörte blieben. Als jedoch sein Pferd plötzlich unruhig
einem armen Mann. wurde und ihn beim Nachdenken störte, wünschte er
Er bat den Reichen, ihm Unterschlupf für die sich von Ärger und Ungeduld geleitet, dass sein Pferd
Nacht zu gewähren, da er annahm, diesem weniger sich den Hals bräche. Sogleich wurde sein erster
zur Last zu fallen. Der Reiche aber wollte seine Wunsch erfüllt und sein Pferd lag tot am Boden.
gut gefüllten Speisekammern und sein Haus nicht Aufgrund seines Geizes nahm er das Sattelzeug vom
mit einem ärmlich aussehenden und mittellosen Pferd ab und so musste er in der prallen Sonne mit
Fremden teilen und wies den lieben Gott ab. Dar- der zusätzlichen Last des Sattels auf den Schultern
aufhin bat der liebe Gott den Armen um ein Nacht- den restlichen Heimweg zu Fuß zurücklegen. Von
lager. Dieser und seine Frau hatten Mitgefühl mit Missgunst erfasst, dass seine Frau in der kühlen Stube
der Situation des Fremden. Sie baten ihn, ohne zu saß, wünschte er sich gedankenlos, dass sie daheim
zögern, einzutreten. Von Herzen gern gaben sie auf dem Sattel säße und nicht mehr herunterkäme,
dem Fremden von ihrem bescheidenen und ärmli- anstatt dass er ihn schleppen müsse. Sogleich wurde
chen Essen, welches zugleich das Beste war, was sie auch sein zweiter Wunsch erfüllt. Zu Hause ange-
hatten. Obwohl das Essen so einfach war, schmeckte kommen, musste der Reiche seine jammernde und
es dem lieben Gott gut, denn er schaute dabei in schreiende Frau von dem Sattel wieder loswünschen.
vergnügte Gesichter. Das arme Ehepaar ließ es sich So wurde auch sein dritter Wunsch erfüllt.
31 nicht ausreden, sein Bett an den erschöpften Wan- Der Reiche hatte nichts als Ärger und Nachteile
derer abzutreten, um ihm die Möglichkeit zu geben, mit seinen Wünschen. Die Armen hingegen lebten
sich ordentlich auszuruhen. Sie selbst richteten sich vergnügt, still und fromm bis an ihr seliges Ende.
für die Nacht ein Bett aus Streu. Als der liebe Gott (Grimm u. Grimm 1815; . Abb. 31.1)
am nächsten Tag aufbrach, durfte das Ehepaar im
Gegenzug für seine Barmherzigkeit und Frömmig- Anmerkung  Es ist zu vermuten, dass das Märchen
keit drei Wünsche aussprechen. Sie wünschten sich „Der Arme und der Reiche“ seinen Ursprung in dem
ewige Seligkeit und lebenslange Gesundheit mit dem Mythos von Philemon und Baucis findet (Feyen-
notdürftigen Brot dazu. Der arme Mann sprach, dass Mülhausen 2011). Philemon und seine Frau Baucis
er sich nicht mehr zu wünschen hätte, und so schlug sind ein armes Ehepaar, das dem Göttervater Jupiter
der liebe Gott noch ein schönes, neues Haus vor, dem und seinem Sohn Merkur Unterschlupf gebietet, als
das Ehepaar zustimmte. diese von den Einwohnern der angrenzenden Stadt
Als der Reiche und seine Frau davon erfuhren, abgewiesen werden. Das Ehepaar erkennt die Götter
waren sie rasend vor Wut, denn auch sie wollten vorerst nicht und bewirtet sie mit allem, was sie besit-
drei Wünsche erfüllt bekommen. Daraufhin ritt zen. Als Dank für ihre Gastfreundschaft und Barm-
der Reiche dem lieben Gott eilends nach. Er redete herzigkeit wird das Ehepaar von den Göttern groß-
fein und lieblich auf den lieben Gott ein, dass es sich zügig belohnt.
angeblich nur um ein Missverständnis gehandelt habe
und er ihn nicht habe abweisen wollen. Das nächste
Mal, bat der Reiche den lieben Gott, solle er bei ihm 31.2 Die Charaktere
einkehren. Der liebe Gott willigte ein, woraufhin
der Reiche ihn fragte, ob nun auch er drei Wünsche Betrachten wir zuerst die verschiedenen Charaktere
gewährt bekäme. Allwissend riet der liebe Gott dem des Märchens und was sie jeweils ausmacht. Dazu
Reichen davon ab, drei Wünsche auszusprechen, gehören der liebe Gott, die Armen und die Reichen.
31.2 · Die Charaktere
237 31
. Abb. 31.1  (Zeichnung: Claudia
Styrsky)

Da er stets getarnt als armer und mittelloser Wan- von Herzen gerne das wenige, was sie besitzen. Sie
derer auftritt, wird die Identität des lieben Gottes haben Mitgefühl mit Menschen, denen es selbst an
während des gesamten Märchens nicht aufgedeckt. etwas mangelt. Sie geben dem lieben Gott aus reiner
Zwar erfahren die reichen Leute vom armen Ehepaar, Nächstenliebe von ihrem Essen und bestehen darauf,
dass der Fremde Wünsche erfüllen kann, aber dass es dass dieser sich in ihrem Bett ausruht, wohingegen
sich um den lieben Gott handelt, wird weder explizit sie selbst für die Nacht lediglich auf Streu schlafen.
vermutet noch ausgesprochen. Umsichtig und wohl- Auch in ihren Wünschen spiegelt sich ihre Genüg-
wollend möchte der liebe Gott nicht von denen etwas samkeit wider. Ihnen selbst fallen als Wünsche nur
erbeten, die kaum für sich selbst genügend haben. Er die ewige Seligkeit und die lebenslange Gesundheit
fragt daher zuerst bei den Reichen nach einer Unter- mit stets genügend zu essen ein. Es ist der liebe Gott,
kunft. Erst als er von diesen abgewiesen wird, klopft der vorschlägt, den dritten Wunsch für ein neues
er gezwungenermaßen bei den Armen an. Aufgrund Haus zu verwenden.
seiner Bescheidenheit möchte er das Angebot, für Das reiche Ehepaar besitzt ein großes und präch-
die Nacht in dem Bett des Ehepaars zu schlafen, tiges Haus. Sie leben in Wohlstand und müssen dank
anfangs nicht annehmen und nimmt es erst an, als ihrer reichlich gefüllten Speisekammern nicht an
ihm klar wird, dass die armen Leute nicht von ihrer Hunger leiden. Der reiche Mann hat kein Mitleid mit
Bitte ablassen werden. In der zweiten Begegnung Menschen in Not. Stattdessen fürchtet er um seine
mit dem reichen Mann wird die Allwissenheit und Besitztümer. Er ist keineswegs bereit, sie mit einem
Weisheit Gottes verdeutlicht. Er weiß bereits um den Armen zu teilen, von dem er keine Gegenleistung zu
unbedachten Umgang, den der reiche Mann mit den erwarten hat. Von seinem Geiz gepackt nimmt der
Wünschen zeigen wird, und rät dem reichen Mann reiche Mann sogar das Sattelzeug vom toten Pferd
vorausschauend ab, sich drei Wünsche gewähren zu ab, um keinen Verlust zu erleiden. Obwohl er bereits
lassen. wohlsituiert ist, ist er versessen darauf, sich drei
Wie im Märchen beschrieben wird, lebt das Wünsche vom lieben Gott gewähren zu lassen, um
arme Ehepaar in einem kleinen und herunterge- seinen Wohlstand noch weiter zu mehren. Geblen-
kommenen Haus. Es sind nur einfache Speisen, die det von seiner Habgier nimmt er den Rat Gottes
sie dem Fremden bieten können. Das arme Ehepaar nicht an und verprasst seine Wünsche unbedacht
ist genügsam und bescheiden. Selbstlos teilen sie und fahrlässig.
238 Kapitel 31 · Der Arme und der Reiche von den Gebrüdern Grimm (1815)

31.3 Psychologische Phänomene und wird. Der arme Mann und seine Frau bieten dem
Implikationen Fremden, ohne zu zögern, Unterschlupf für die
Nacht an und geben ihm von ihren Speisen, ohne im
Im folgenden Abschnitt werden psychologische Phä- Gegenzug dafür etwas zu verlangen.
nomene, die in dem Märchen zum Tragen kommen, Das Wort Altruismus stammt aus dem Latei-
beleuchtet und näher erläutert. Dies hilft, das Erleben nischen und wird abgeleitet von dem Pronomen
und Verhalten der Märchencharaktere noch besser „alter“ (= der andere; Gollwitzer u. Schmitt 2009).
zu verstehen. Der Altruismus beschreibt Verhalten zugunsten von
anderen, ohne gleichzeitig einen eigenen Vorteil aus
dem Handeln zu ziehen. Abhängig von der Motiva-
31.3.1 Egoistisches und altruistisches tion werden folgende Formen unterschieden: Altru-
Verhalten ismus, den wir aufgrund von persönlichem Unbeha-
gen zeigen, und Altruismus, den wir aufgrund von
Das arme und das reiche Ehepaar stellen hinsicht- Empathie zeigen (Werth u. Mayer 2008).
lich ihres Verhaltens klare Gegenpole zueinander Wird Altruismus durch persönliches Unbehagen
dar. Das arme Ehepaar teilt, obwohl sie nur wenig motiviert, beinhaltet dieser eine egoistische Kom-
ihr Eigen nennen können, von Herzen gerne, was ponente. Menschen helfen demnach anderen nur
sie besitzen. Der reiche Mann hingegen, der Güter deswegen, weil die Not anderer in ihnen negative
im Überfluss besitzt, verweigert aus Furcht, Verluste Gefühle wie Angst und Unruhe hervorrufen. Diese
seines Hab und Gutes zu verzeichnen, dem lieben Menschen sind danach bestrebt, den unangenehmen
Gott den Unterschlupf. inneren Zustand aufzulösen, was den eigentlichen
Grund für ihre Hilfeleistung darstellt.
Der auf Empathie zurückführbare Altruismus ist
Egoismus und Eigennutz der, den das arme Ehepaar in dem Märchen zeigt.
Geradezu klischeehaft verkörpert das reiche Ehepaar Diese Art von Altruismus tritt dann auf, wenn Per-
31 egoistisches Verhalten. sonen Mitgefühl mit anderen haben oder sich Sorgen
Egoismus (lat. „ego“ = ich) bezeichnet die Ein- um sie machen. Auf diesem Gedanken aufbauend
stellung, dass der eigene Vorteil und das eigene Inte- wurde in der Psychologie die Empathie-Altruis-
resse stets an erster Stelle stehen. Egoisten gelten als mus-Hypothese (Batson et al. 1981) aufgestellt. Sie
selbstsüchtig. Sie würden nie zugunsten anderer auf besagt, dass das Nachempfinden negativer Gefühle
etwas verzichten. Dieser Vorstellung entsprechend einer anderen Person das Bedürfnis in uns weckt,
ist der Reiche nicht gewillt, seine Speisen und sein zu helfen.
Heim mit dem Fremden zu teilen. Das Wohlergehen In dem Märchen „Der Arme und der Reiche“
des Fremden ist dem reichen Mann gleichgültig, und beschreiben die Gebrüder Grimm, dass der arme
so lässt er ihn bei Einbruch der Dunkelheit schutzlos Mann und seine Frau Mitgefühl mit dem Fremden
vor der Tür stehen. haben und ihn daraufhin hineinbitten. Sie nehmen
In der Wirtschaftstheorie gibt es ein weiteres die Erschöpfung des Wanderers wahr und bestehen
Modell, welches dieses Verhalten beschreibt: das daher darauf, dass dieser in ihrem Bett ruhen soll.
Modell des Homo oeconomicus (Wildner 2015). Der Sie sorgen sich um ihn und handeln aus reiner
Homo oeconomicus ist ein Nutzenmaximierer, dessen Nächstenliebe.
Handeln ausschließlich auf wirtschaftlichen Gesichts-
punkten basiert entsprechend seiner Leitfrage: „Was
bringt es mir, welchen Vorteil habe ich davon?“ Implikationen für die Arbeit und
Lebensgestaltung
In dem Märchen werden Egoismus und Altruismus
Empathie-Altruismus-Hypothese als das Böse und Gute gegenüberstellt. Auch im All-
Das Gegenteil vom Egoismus ist der Altruismus, der tagsgebrauch ist der Egoismus meist negativ behaf-
in dem Märchen von dem armen Ehepaar verkörpert tet. Möchten Sie mit einem Egoisten befreundet sein?
31.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
239 31
Vermutlich nicht. Dennoch haben auch Egoisten Bei so vielen schlechten Taten erscheint es mehr als
Eigenschaften, von denen wir etwas lernen können, gerecht, dass der reiche Mann und seine Frau mit
z. B. die Fähigkeit, Nein sagen zu können. Im Beruf den Wünschen nichts als Ärger und Nachteile haben.
oder im Alltag werden wir häufig um Unterstützung Auch sie bekommen, was sie verdienen.
gebeten: „Kannst du diese Aufgabe/Schicht/den
Patienten noch übernehmen?“ Wer immer zu allem
Ja sagt, kommt am Ende selbst zu kurz. Implikationen für die Lebensgestaltung
Das Märchen endet damit, dass das arme, altruis- Die Vorstellung einer gerechten Welt lässt uns darauf
tische Ehepaar glücklich bis an sein Ende lebt. Das vertrauen, dass es sich beizeiten für uns auszahlen
egoistische Ehepaar hingegen ist fortlaufend erfüllt wird, wenn wir stets Rechtes und Gutes tun, und
von negativen Emotionen wie Ärger, Missgunst und wir es im gleichen Maße zurückerhalten werden.
Neid. Sicherlich steckt darin viel Wahres, und so wie wir
Studien haben gezeigt, dass altruistische Men- für Freunde und Verwandte da waren, als sie uns
schen im Vergleich zu anderen glücklicher und dringend gebraucht haben, haben auch sie uns schon
zufriedener mit ihrem Leben sind (Headey et al. einmal zur Seite gestanden.
2010). Altruistisches Verhalten trägt außerdem Dennoch sollten wir vorsichtig sein mit unseren
zu einer besseren Gesundheit und einer erhöhten Erwartungen gegenüber denjenigen, denen wir einst
Lebensdauer bei (Post 2005). Wenn wir also das geholfen haben. Nicht immer wird sich unser Einsatz
nächste Mal jemanden aus Mitgefühl unterstützen, auszahlen, nicht immer wird sich unsere Welt als
tun wir nicht nur einer anderen Person etwas Gutes, gerecht erweisen. Falsche Erwartungen können zu
sondern gleichzeitig uns selbst. großen Enttäuschungen führen.
Das soll keinesfalls heißen, dass wir anderen
nicht helfen sollen. Wir sollten jedoch uns selbst
31.3.2 Glaube an eine gerechte Welt nie aus den Augen verlieren und anderen nur dann
helfen, wenn wir selbst auch wirklich die Kapazität
Menschen, die Gutes tun, denen widerfährt dazu haben.
Gutes; Menschen, die Böses tun, denen widerfährt
Schlechtes. Der Gerechte-Welt-Glaube erwächst
aus unserem Bedürfnis, die Welt als kontrollierbar 31.3.3 Selbstkonzept und
und vorhersehbar wahrnehmen zu wollen – jeder Selbstwertgefühl
bekommt, was er verdient (Lerner 1980).
Das arme Ehepaar in dem Märchen teilt mit dem Jeder Mensch hat eine Vorstellung davon, welche
armen Wanderer alles, was es besitzt. Sie geben gerne Eigenschaften für ihn kennzeichnend sind, was
und, obwohl sie keine Gegenleistung erwarten, erhal- ihn von anderen unterscheidet und mit welchen
ten sie im Gegenzug die drei Wünsche vom lieben Gruppen (z. B. Sport, Familie) er sich identifiziert.
Gott erfüllt, sodass sie vergnügt bis an ihr seliges Unser Wissen und unsere Einschätzungen über uns
Ende leben. Das Ehepaar tut Gutes und bekommt selbst werden in der Psychologie auch als Selbstkon-
dies ebenso zurück, so wie sie es der Vorstellung einer zept bezeichnet (Werth u. Mayer 2008). Es wurde
gerechten Welt nach verdienen. herausgefunden, dass Informationen, die einen
Das reiche Ehepaar hingegen, bedacht auf den Bezug zu uns selbst haben oder für uns relevante
Erhalt seines Eigentums, lässt den lieben Gott schutz- Themen ansprechen, vorrangig von uns wahrge-
los vor der Tür stehen. Der reiche Mann belügt nommen werden, wir mehr über sie nachdenken und
danach den lieben Gott, indem er vorgibt, dass es sich uns besser an sie erinnern können. Dieses Phänomen
nur um ein Missverständnis gehandelt habe, als er wird auch self relevance effect genannt.
ihn abwies, nur um drei Wünsche gewährt zu bekom- Zum Selbstkonzept des reichen Ehepaars gehört
men und seinen Reichtum mehren zu können. Aus u. a. das Wissen, dass sie zu den gut, wenn nicht sogar
Ungeduld und blind vor Ärger wünscht er seinem sehr gut situierten Menschen gehören. Sie definie-
Pferd sogar den Tod und seiner Frau Schlechtes. ren sich über ihren Wohlstand und ihren Reichtum.
240 Kapitel 31 · Der Arme und der Reiche von den Gebrüdern Grimm (1815)

Dies erklärt, dass der reiche Mann mit als erstes das schenken soll – „Gleich und Gleich gesellt sich gern“
ärmliche Aussehen des Fremden wahrnimmt – ein oder „Gegensätze ziehen sich an“. Jedoch lässt sich
Merkmal, das ihm etwas über seinen Wohlstand nicht abstreiten, dass es auf der Basis ähnlicher Werte
verrät. Seine Wünsche drehen sich ebenfalls um das, und Einstellungen auf lange Sicht leichter ist, den
worüber er sich definiert: Reichtümer und Schätze. Alltag zu meistern und Ziele zu erreichen. Ähnlich-
Der Arme hingegen sieht nicht den Reichtum keit stellt also ein Kriterium dar, das bei der Partner-
des armen Wanderers, sondern dessen Notlage. Das wahl nicht außer Acht gelassen werden sollte. Beson-
Selbstkonzept des armen Ehepaars beinhaltet sehr ders bei der Gründung einer Familie geht es nicht
wahrscheinlich Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe, mehr nur um die eigenen Werte und Vorstellungen,
weswegen die beiden vor allem die Bedürftigkeit des sondern auch darum, die der gemeinsamen Kinder
armen Wanderers wahrnehmen. Weiterhin ist ihnen zu formen. Dies dürfte sich als einfacher erweisen,
wichtig, körperlich wohlauf und zufrieden zu sein, wenn beide Elternteile möglichst ähnliche Ansich-
was sich in ihren Wünschen widerspiegelt, die vor ten vertreten.
allem zu ihrem emotionalen und körperlichen Wohl Auch wenn sich das Selbstkonzept auf das Ver-
beitragen, nicht aber zu ihrem Ansehen oder ihrem halten von Menschen auswirkt, können wir nicht
Machteinfluss. zwangsläufig von dem Verhalten anderer auf ihr
Grundsätzlich sind wir stets danach bestrebt, ein Selbstkonzept schließen. Wir sollten deshalb vor-
positives Selbstkonzept von uns zu haben. Eine posi- sichtig sein mit voreiligen Schlüssen. Nur weil sich
tive Bewertung unseres Selbstkonzeptes führt wiede- jemand uns gegenüber ungerecht verhält, heißt das
rum zu einem positiven Selbstwertgefühl. Dieses nicht, dass er sich grundsätzlich über schlechte Werte
positive Gefühl in uns möchten wir erhalten. Um dies definiert. Manchmal kann es allein den Umständen
zu erreichen, sind wir motiviert, Verhaltensweisen zu (keine Zeit, die eigene Verfassung) geschuldet sein,
zeigen, die mit einem nach unseren Maßstäben posi- dass jemand uns nicht helfen kann oder sich aus
tiven Selbstkonzept einhergehen. unserer Sicht unpassend verhält.
Der reiche Mann bewertet seinen Wohlstand
31 und seine Zugehörigkeit zur Gruppe der Reichen
als positiv. Hätte er den ärmlich aussehenden Wan- 31.3.4 Theorie des sozialen Vergleichs
derer über Nacht bei sich aufgenommen, so hätte er
Nähe zu der Gruppe der Armen gezeigt, was nicht zu Menschen tendieren dazu, sich hinsichtlich ihrer
seinem eigenen Selbstkonzept gepasst hätte. Indem Fähigkeiten und Meinungen mit anderen zu verglei-
er den fremden Wanderer abweist, erhält er sein posi- chen. Leon Festinger (1954) beschreibt dieses Verhal-
tives Selbstwertgefühl aufrecht. ten mit der Theorie des sozialen Vergleichs.
Das Selbstkonzept der Armen beeinflusst eben- Dieser Theorie zufolge haben wir Menschen das
falls ihr Verhalten. Sie nehmen den armen Wanderer Bedürfnis nach einer korrekten Selbsteinschätzung.
auf und sorgen für sein Wohl. Ihn abzuweisen hätte Durch den sozialen Vergleich erhalten wir Informa-
nicht zu ihrem eigenen Selbstkonzept gepasst und in tionen darüber, ob unsere Fähigkeiten besonders
ihnen ein negatives Selbstwertgefühl hervorgerufen. herausragend, durchschnittlich oder eher schlech-
ter sind als die anderer Menschen. Menschen ver-
gleichen sich aber nicht nur hinsichtlich ihrer Fähig-
Implikationen für die Lebensgestaltung keiten, sondern auch hinsichtlich ihres Status und
Spannend in dem Märchen ist, dass sich die Ehe- Wohlstands wie in dem Märchen.
partner sowohl in der armen als auch in der reichen Der Reiche schließt aus dem direkten Vergleich
Ehe hinsichtlich ihrer Selbstkonzepte gleichen. Für des eigenen Aussehens mit dem des Fremden, dass
die Reichen geht es um das Erlangen von noch mehr dieser finanziell und damit auch hinsichtlich der
Wohlstand, für die Armen um das Erreichen von sozialen Schicht vermeintlich schlechter gestellt ist
menschlichem Wohlergehen. als er selbst. Dieser Vergleichsprozess ermöglicht es
Zwar gibt es immer wieder Diskussionen, dem Reichen, seinen Status in der Gesellschaft besser
welchem Sprichwort man nun mehr Glauben einordnen zu können.
Literaturverzeichnis
241 31
Implikationen für die Lebensgestaltung Literaturverzeichnis
Der Vergleich mit anderen kann uns wertvolle Infor-
Batson, C. D., Duncan, B. D., Ackerman, P., Buckley, T., & Birch,
mationen über uns selbst liefern. Wenn wir uns aber
K. (1981). Is empathic emotion a source of altruistic moti-
ständig darauf fokussieren, was andere haben und vation? Journal of Personality and Social Psychology 40,
was wir nicht haben, ist das ein zuverlässiges Rezept, 290–302.
um unglücklich zu werden (Swallow u. Kuiper 1988). Blanton, H., Buunk, B. P., Gibbons, F. X., & Kuyper, H. (1999).
Der Vergleich mit Personen, die uns hinsichtlich When better-than-others compare upward: Choice of
comparison and comparative evaluation as independent
Wohlstand, Status oder hinsichtlich einer Fähigkeit
predictors of academic performance. Journal of Personal-
überlegen sind, wird in der Psychologie auch als ein ity and Social Psychology 76, 420–430.
aufwärtsgerichteter Vergleich bezeichnet (Blanton Festinger, L. (1954). A theory of social comparison processes.
et al. 1999). In solchen Vergleichssituationen ver- Human Relations 7, 117–140.
lieren wir häufig den Blick für das, was wir bereits Feyen-Mülhausen, R. M. (2011). Märchen – erlebte und geleb-
te Erziehung. Dissertation. Bonn: Rheinische Friedrich-
besitzen.
Wilhelms-Universität zu Bonn. http://hss.ulb.uni-bonn.
Der Reiche nimmt die Armen als besser gestellt de/2011/2604/2604.pdf. Zugegriffen: 08. November 2016.
wahr, als er davon erfährt, dass diese drei Wünsche Gollwitzer, M., & Schmitt, M. (2009). Sozialpsychologie kom-
erfüllt bekommen haben. Der reiche Mann ist dar- pakt. Weinheim: Beltz.
aufhin von Gier und Unzufriedenheit erfüllt und Grimm, J., & Grimm, W. (1815) Kinder- und Haus-Märchen,
gesammelt durch die Brüder Grimm: Große Ausgabe (Bd. 2).
weiß seinen eigenen Besitz nicht mehr wertzu-
Berlin: Realschulbuchhandlung.
schätzen. Der arme Mann und seine Frau hingegen Headey, B., Muffels, R., & Wagner, G. G. (2010). Long-running
stellen keine Vergleiche an und leben so glücklich German panel survey shows that personal and economic
und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage. choices, not just genes, matter for happiness. Proceedings
Heutzutage gibt es viele Freizeittrends, die sich of the National Academy of Sciences of the United States of
America 107, 17922–17926.
damit beschäftigen, bei sich zu bleiben. Unzählige
Lerner, M. J. (1980). The belief in a just world: A fundamental
Arten von Yoga, Meditation und Achtsamkeitstech- delusion. New York: Plenum Press.
niken können einem dabei helfen, nicht rastlos nach Post, S. G. (2005). Altruism, Happiness, and Health: It's Good
immer mehr zu sinnen, sondern das Hier und Jetzt zu to Be Good. International Journal of Behavioral Medicine
genießen und wertzuschätzen, was man hat. 12, 66–77.
Swallow, S. R., & Kuiper, N. A. (1988). Social comparison and
negative self-evaluations: An application to depression.
Clinical Psychology Review 8, 55–76.
31.4 Fazit
Werth, L., & Meyer, J. (2008). Sozialpsychologie. Berlin, Heidel-
berg: Springer.
Die Ausführungen zu dem Märchen „Der Arme und Wildner, M. (2015). Unser Gesundheitswesen: Fakten, Widersprü-
che, Irrtümer. Stuttgart: Thieme.
der Reiche“ verdeutlichen sehr schön, wie bedeutsam
seine Inhalte auch in heutiger Zeit sind. So kann uns
das arme Ehepaar als Vorbild dienen, aus Mitgefühl
für andere Hilfsbereitschaft zu zeigen und den Sinn
im Leben nicht auf Besitztümer zu beschränken. Auf
der anderen Seite bieten die psychologischen Phäno-
mene auch Erklärungen für das nachteilige Verhalten
des reichen Ehepaares – ihre Betrachtung mag dazu
dienen, nicht ausschließlich zu verurteilen, sondern
ein tieferes Verständnis für ihre Beweggründe zu ent-
wickeln, die uns letztlich allen nicht ganz fern sein
dürften, da sie in der Natur des Menschen verankert
sind.
243 32

Die Schneekönigin von Hans


Christian Andersen (1844)
Sophie Drozdzewski und Katharina Sagstetter

32.1 Inhalt des Märchens – 244

32.2 Die Charaktere – 245

32.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 246


32.3.1 Mut zeigen, ohne tollkühn zu sein – 246
32.3.2 Übernahme von Verantwortung – 246
32.3.3 Selbstbestimmung vs. Depression – 247
32.3.4 Soziale Wahrnehmung und Attributionsstil – 248

32.4 Fazit – 249

Literaturverzeichnis – 250

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_32
244 Kapitel 32 · Die Schneekönigin von Hans Christian Andersen (1844)

32.1 Inhalt des Märchens erinnerte sich Gerda wieder an Kay und setzte ihre
Suche fort. Es war bereits Herbst, als sie den Blu-
Vor langer Zeit erschuf der Teufel einen Spiegel, mengarten verließ und ringsherum war es kalt und
durch den alles Gute hässlich erschien und alles grau. Auf ihrer weiteren Suche nach Kay kam Gerda
Schlechte hervortrat. Die Menschen sahen darin zu einer Prinzessin und einem Prinzen, denen sie
widerlich aus und ihre Gesichter waren bis zur ebenso ihre Geschichte erzählte. Sie bekam dar-
Unkenntlichkeit verzerrt. Eines Tages zerbrach der aufhin Kleidung für den Winter und einen kleinen
Zauberspiegel über der Erde in Billionen winzige Wagen, vor den ein Pferd gespannt war, sodass sie
Splitter. Manchen Menschen flogen die Splitter ins sich weiter auf die Suche nach ihrem Freund machen
Auge und sie sahen dadurch alles verkehrt. Einige konnte. Auf ihrem Weg durch den dunklen Wald
bekamen sogar einen Splitter ins Herz, das darauf- wurde Gerda von einer Räuberbande bedroht.
hin zu einem Eisklumpen gefror. Auch danach waren Dabei erzählte sie einem der Räubermädchen
noch immer kleine Spiegelsplitter in der Luft. ihre Geschichte. Obwohl dieses angsteinflößend
Die Nachbarskinder Gerda und Kay, die in mit ihrer Klinge spielte und ihre Tiere zum Spaß
gegenüberliegenden Dachkammern wohnten, waren quälte, beschützte sie Gerda letztlich. In der Nacht
wie Bruder und Schwester. Im Sommer saßen sie am berichteten die Waldtauben des Räubermädchens,
liebsten auf kleinen Schemeln unterm Rosenstock dass sie Kay im Wagen der Schneekönigin gesehen
und spielten miteinander. Zusammen sangen sie den hatten, woraufhin das Räubermädchen Gerda ihr
Vers: „Rosen, die blüh’n und verwehen, Wir werden Rentier gab, welches sich in Lappland, wo man
das Christkindlein sehen!“ die Schneekönigin vermutete, auskannte. Somit
Eines frühen Abends, als die Kinder gerade in konnte das Mädchen die Suche nach ihrem gelieb-
ein Bilderbuch blickten, stach Kay etwas im Herzen, ten Kay fortsetzen. Das Rentier folgte seinen altbe-
und es flog ihm ein winziger Splitter ins Auge. Von da kannten Nordlichtern und so gelangten sie nach
an hatten die Rosen für ihn einen Wurmstich, er riss Lappland, wo sie sich im Haus einer alten Lappin
sie aus, verspottete Gerda und seine Familie und gab stärken konnten. Nachdem Gerda auch ihr die ganze
sich mit den bösen Jungen ab. So verging die Zeit und Geschichte erzählt hatte, erklärte die alte Frau dem
eines Tages im Winter band er, so wie es die anderen Rentier, wohin es laufen musste, um zum Schloss
32 Jungen auch taten, beim Spielen seinen Schlitten der Schneekönigin zu gelangen.
an einen großen Wagen, um sich davon ziehen zu Dort war der kleine Kay schon ganz blau vor
lassen. Doch dieser Wagen, an den er sich da gebun- Kälte. Er versuchte das Wort „Ewigkeit“ aus Eisblö-
den hatte, gehörte der Schneekönigin, die Kay dar- cken zu legen, doch es gelang ihm jede Figur, nur
aufhin geradewegs mitnahm. nicht diese. Wenn er es schaffen würde, dieses Wort
Bald vermisste die kleine Gerda ihren Freund zu legen, dürfte er wieder sein eigener Herr sein, ver-
sehr und so machte sie sich auf die Suche nach ihm. sprach ihm die Schneekönigin. Diese war am Tag,
Am Anfang ihres Weges stieg sie in ein Boot, mit als Gerda zum Schloss gelangte, ausgeflogen, um die
dem sie einen großen Strom hinuntertrieb, bis ihr Vulkane Vesuv und Ätna ausbrechen zu lassen. „Das
eine alte Zauberin half, wieder ins Trockene zu gehört dazu, das tut den Zitronen und Weintrauben
gelangen. Daraufhin erzählte Gerda ihre Geschichte gut“, meinte sie. Als Gerda endlich durch das große
von der Suche nach ihrem Freund. Die Zauberin Tor trat und Kay ganz still und steif dasitzen sah,
mochte Gerda auf Anhieb sehr. So sehr, dass sie begann sie heiße Tränen zu weinen, die seine Brust
sie verzauberte, damit das kleine Mädchen bei ihr berührten und den Eisklumpen in seinem Herzen
blieb. „Wir werden gut miteinander leben“, ging es zum Schmelzen brachten. Gerda sang: „Rosen, die
ihr durch den Kopf. Im Blumengarten der Zauberin blüh’n und verwehen, Wir werden das Christkindlein
war es wunderschön und warm und Gerda vergaß sehen!“ Hierauf brach auch Kay in Tränen aus, sodass
ihren Kay mehr und mehr. Als sie jedoch erkannte, der Splitter aus seinem Auge schwamm. Sie umarm-
dass dort keine Rosen wuchsen, begann sie zu ten sich und beide lachten und weinten vor Freude.
weinen. Ihre Tränen ließen dabei einen Rosenstock Als Gerda Kay küsste, wurde er wieder gesund und
emporschießen, der wunderbar blühte. Auf einmal munter. Auf einmal formten die Eisblöcke von selbst
32.2 · Die Charaktere
245 32
. Abb. 32.1  (Zeichnung: Lena Frey)

das Wort „Ewigkeit“ und somit war Kay frei und sie
konnten gemeinsam nach Hause zurückkehren. auf und nimmt einen weiten Weg auf sich, um ihren
Zuhause angekommen waren die beiden bereits besten Freund zurückzuholen. Als kleines Mädchen,
erwachsen. Sie sahen sich in die Augen und verstan- das keine Angst vor der weiten Welt hat, erfährt sie
den den alten Gesang: „Sie waren erwachsen und unentwegt Hilfe, von Mensch und Tier. Kay hingegen
doch Kinder, Kinder im Herzen. Und es war Sommer, wird von der Schneekönigin entführt. Doch bereits
warmer, wohltuender Sommer.“ vor seiner Entführung hat er sich durch die Splitter
(Andersen 1976; . Abb. 32.1) im Auge und im Herzen verändert. Er hat sich von
Gerda abgewandt, aber am Ende wird Kay durch die
Anmerkung  Das Märchen „Die Schneekönigin“ Tränen und den Kuss des Mädchens wieder zu dem
ist eines von über 150 Märchen, die vom dänischen Menschen, der er einmal war.
Dichter Hans Christian Andersen (1805–1875) ver- Die Schneekönigin ist die Antagonistin des Mär-
fasst wurden. Aus ärmlichen Verhältnissen stam- chens. Sie ist skrupellos und stellt Kay, nachdem sie
mend brachte es der kreative Kopf zu Weltruhm ihn entführt hat, vor eine ihm unlösbar erscheinende
und gilt bis heute als einer der bekanntesten Schrift- Aufgabe. Jedoch hält sie ihr Versprechen, dass Kay
steller (Buchfunk Hörbuchverlag GbR 2016). Durch wieder sein eigener Herr sein kann, wenn das Wort
die finanzielle Unterstützung des dänischen Königs „Ewigkeit“ aus Eisblöcken geschrieben steht. Am
bereiste der Autor viele Länder in ganz Europa und Ende wird das Böse, in Form der Schneekönigin,
verarbeitete die Eindrücke in seinen detailreichen, schließlich bezwungen.
liebenswert gestalteten und meist humorvollen Außerdem kommen im Märchen viele Charak-
Märchen. Mit Märchen wie „Das hässliche junge tere vor, die Gerda unterstützen. Dadurch sind sie
Entlein“, „Die kleine Meerjungfrau“ oder „Die Prin- zum Teil maßgeblich an Kays Rettung beteiligt. Die
zessin auf der Erbse“ wachsen heute Kinder aus aller erste Person, die dem Mädchen hilft, ist die Zaube-
Welt auf. „Die Schneekönigin“ zählt zu den längsten rin, die ihr aus dem großen Strom ins Trockene hilft.
und komplexesten seiner Märchen. Jedoch erweist sich diese im Nachhinein, was die
Suche nach Kay betrifft, als hinderlich. Die Prinzes-
sin und der Prinz sind hierfür eine größere Hilfe, da
32.2 Die Charaktere sie Gerda Kleidung für den Winter und einen Pferde-
wagen geben. Auch das Räubermädchen zeigt Hilfs-
Im Märchen der Schneekönigin sind die Kinder bereitschaft, indem sie Gerda beschützt und ihr das
Gerda und Kay die Protagonisten. Als Kay plötz- Rentier für den weiteren Weg zur Verfügung stellt.
lich verschwindet, gibt Gerda die Hoffnung nicht Ebenso hilft die Lappin bei der Suche nach Kay, da
246 Kapitel 32 · Die Schneekönigin von Hans Christian Andersen (1844)

sie Gerda und dem Rentier den Weg zur Schneekö- Theorie der gelernten Sorglosigkeit
nigin weist. Indessen begibt sich Gerda aber auch unüberlegt
in Gefahr: Beispielsweise vertraut sie dem Räuber-
mädchen ohne Umschweife ihre gesamte Leidens-
32.3 Psychologische Phänomene und geschichte an, obwohl dieses mit einem scharfen
Implikationen Messer spielt, ihre Tiere quält und von einer Räu-
berbande begleitet wird, die Gerda schlachten will.
Es folgt die psychologische Betrachtung des Mär- Eine Theorie, die solch Tollkühnheit erklären
chens: Welche psychologischen Phänomene verber- kann, ist die Theorie der gelernten Sorglosigkeit
gen sich hinter der Geschichte um Kay und Gerda? (Frey u. Schulz-Hardt 2015). Menschen wiegen sich
in Sorglosigkeit, wenn riskantes Verhalten wieder-
holt ohne negative Konsequenzen bleibt und sie ohne
32.3.1 Mut zeigen, ohne tollkühn zu großen Aufwand Erfolge erzielen. Auch wenn Letz-
sein teres wohl bei Gerda nicht der Fall ist, so bleiben
ihre verwegenen Abenteuer doch ohne negative
Die kleine Gerda begibt sich auf die lange und Folgen. Gerda zeigt auf ihrer Reise sämtliche Sym-
anstrengende Suche nach Kay, trotzt auf dieser ptome dieser Sorglosigkeit: eine verringerte Moti-
Odyssee vielen Gefahren und hält an ihrem Ziel fest, vation und Fähigkeit zur Gefahrenerkennung, eine
ihren Freund zu finden. Dies zeugt von großer Soli- unkritisch gehobene Stimmung und eine verkürzte
darität und vor allen Dingen Mut. Zeitperspektive. Infolgedessen entwickeln Men-
schen eine Tendenz zu unangemessen waghalsigen
Handlungen.
Mut als Tugend Gerade in der Finanzbranche gehört es zum
Mut wird seit der Antike als eine der wichtigsten Berufsalltag, riskante Manöver zu tätigen, und oft
Tugenden beschrieben. Nach Peterson und Seligman wird dieses Verhalten nicht bestraft, sondern sogar
(2004) zählt Mut zu den sechs zentralen Charakter- wiederholt belohnt. Auch im Glücksspiel können
stärken: Weisheit, Humanität, Gerechtigkeit, Mäßi- wir dieses Phänomen häufig beobachten. Erfolgrei-
32 gung, Transzendenz (Stärken, die eine Verbindung che Spieler geraten in einen Rausch, setzen immer
zum „großen Ganzen“ herstellen und Bedeutung mehr und merken gar nicht mehr, wie die Zeit
schaffen, z. B. Hoffnung) und jener Mut, den Gerda verfliegt.
auf ihrer Reise in den hohen Norden so oft beweist.
Mut umfasst dabei mehrere Facetten (Peterson
u. Seligman 2004): Implikationen für die Lebensgestaltung
44Tapferkeit bedeutet, nicht vor einer Bedrohung Um dieser Sorglosigkeit zu entgehen, empfiehlt
oder Schwierigkeit zurückzuschrecken und sich für jedermann, die eigenen Handlungen fort-
deren Konsequenzen tragen zu können. Auch während zu hinterfragen, Risiken abzuwägen und
wenn sich Gerda durch Eis und Schnee kämpft auch hin und wieder den schlimmsten Fall zu
und dabei viele Gefahren lauern, sie bleibt bedenken.
tapfer. Gerda scheint dies auf ihrer Suche selten zu tun.
44Beharrlichkeit zeigt Gerda, indem sie Was meinen Sie: Ist Gerda außergewöhnlich mutig
niemals aufgibt, egal wer sich ihr in den oder zu sorglos?
Weg stellt – sei es die alte Zauberin oder das
Räubermädchen.
44Darüber hinaus sagt Gerda immer die 32.3.2 Übernahme von Verantwortung
Wahrheit und beweist damit Integrität.
44Sie behält bis zum Schluss ihre positive Das Märchen führt uns vor Augen, dass Menschen
Lebenseinstellung und begegnet dem Leben dazu neigen, ihr Verhalten rechtfertigen zu wollen,
mit Energie und Tatkraft. Auf diese Weise zeigt egal wie bizarr die Erklärung erscheint. Sie geben
sie die letzte Facette von Mut: Vitalität.
32.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
247 32
dabei häufig die Verantwortung für ihr Tun aus der macht man sich selbst dafür verantwortlich und
Hand. erkennt, dass man nicht ausreichend vorbereitet
So begründet beispielsweise die alte Zauberin das war. Oder man zieht sich aus der Verantwortung
Festhalten von Gerda damit, dass sie das Mädchen und schiebt die Schuld auf den Prüfer, der unfaire
sehr gerne hat. Die Zauberin weiß, dass dies nicht Fragen gestellt hat.
richtig ist, da Gerda ihren Freund wiederfinden
möchte, trotzdem verzaubert sie das Mädchen.
Implikationen für die Lebensgestaltung
Nehmen wir widersprüchliche Kognitionen wahr,
Kognitive Dissonanz sollten wir diesen auf den Grund gehen, anstatt
Man spricht bei diesem Phänomen von kognitiver dem unangenehmen Gefühl mit einer halbherzi-
Dissonanz, welche entsteht, wenn mindestens zwei gen Rechtfertigung zu begegnen. Wir sollten dabei
unterschiedliche kognitive Inhalte (z. B. Gedanken immer Verantwortung für unser Handeln überneh-
oder Einstellungen) nicht in Einklang zu bringen men und dieses reflektieren.
sind. Da kognitive Dissonanz ein unangenehmes
Gefühl hervorruft, versucht man sie entsprechend z Fragen zur Reflexion
zu reduzieren (vgl. Frey u. Gaska 1993). 44Was löst dieses unangenehme Gefühl aus?
Die Zauberin versucht dies, indem sie sich selbst 44Kann ich mein Verhalten noch anpassen, um
versichert, dass Gerda gut mit ihr zusammenleben den Spannungszustand zu reduzieren?
wird und rechtfertigt auf diese Weise, dass sie Gerda 44Gibt es Auswirkungen meines Verhaltens, die
lange Zeit gegen ihren Willen festhält. ich nicht von vorneherein bedacht habe?
Auch die Schneekönigin zeigt in einer Situation
deutlich den Versuch, kognitive Dissonanz zu ver- Hätte sich die Schneekönigin diese Fragen gestellt
ringern. So ist sie gegen Ende des Märchens kurz und Verantwortung übernommen, wäre eine Katas-
davor, Vulkane ausbrechen zu lassen und damit den trophe für Mensch und Tier verhindert worden.
Tod vieler Menschen und Tiere in Kauf zu nehmen. Zudem hätte sie mit einem Mindestmaß an Verant-
Der Plan, die Vulkanausbrüche zu provozieren, ist wortungsbewusstsein den kleinen Kay nicht entführt
mit dem Wissen über die Auswirkungen auch für sie und bei sich festgehalten.
nicht vereinbar. Die Schneekönigin baut den unan-
genehmen Zustand ab, indem sie erklärt, die Asche
würde den Weintrauben und Zitronen guttun. Damit 32.3.3 Selbstbestimmung vs.
rechtfertigt sie ihr Verhalten, übernimmt aber kei- Depression
nerlei Verantwortung für die verheerenden Folgen.
Selbstbestimmung ist ein zentrales Thema im
Märchen. So ist Gerda ein anschauliches Beispiel
Mangelnde Verantwortung für einen selbstbestimmten Menschen.
Auch im wahren Leben begegnet uns dieses Recht-
fertigungsverhalten und der Versuch, sich aus der
Verantwortung zu ziehen. Selbstbestimmungstheorie
Vergegenwärtigen wir uns folgende Situation: Im Rahmen der Selbstbestimmungstheorie (Deci u.
Man steckt mitten in Prüfungsvorbereitungen. Einer- Ryan 1985) gibt es drei zentrale Bedingungen, die für
seits möchte man gut abschneiden, andererseits aber die Entwicklung intrinsischer, aus eigenem Antrieb
nicht auf Freizeitaktivitäten verzichten. Man verabre- kommender Motivation relevant sind: Autonomie,
det sich schließlich doch mit Freunden, wodurch ein Kompetenz und soziale Eingebundenheit.
unangenehmes Gefühl entsteht, das man reduzieren Dabei versteht man unter Autonomie ein gewis-
möchte. „Die Prüfung soll ohnehin nicht so schwer ses Gefühl der Freiwilligkeit. Gerdas Motivation, sich
sein“, hat man gehört – „Man lebt ja auch nur einmal.“ auf die Suche nach Kay zu machen, ist dabei vor allem
Erhält man dann eine schlechte Note, können durch Autonomie begründet. Niemand erwartet von
sich verschiedene Reaktionen zeigen: Entweder
248 Kapitel 32 · Die Schneekönigin von Hans Christian Andersen (1844)

ihr, nach ihm zu suchen, und dennoch macht sie sich indem er Gefühle zeigt und dadurch der Splitter in
auf den beschwerlichen Weg. seinem Auge, der alles schlecht gemacht hatte, durch
Gerdas Kompetenz zeigt sich vor allem in ihrer eine Träne herausgespült wird. Letztendlich wird er
Fähigkeit im sozialen Kontakt, was man z. B. daran wieder sein eigener Herr und kann fortan ein selbst-
erkennt, dass sie durch ihre Geschichte sogar ein bestimmtes Leben führen.
Räubermädchen überzeugt, ihr zu helfen.
Außerdem erfährt Gerda als Teil eines sozialen
Netzwerks, in welchem sie von verschiedenen Perso- Implikationen für die Lebensgestaltung
nen unterstützt wird, soziale Eingebundenheit, die und Erziehung
ihr hilft, ihre Motivation aufrechtzuerhalten. Im wahren Leben läuft es natürlich nicht immer wie
im Märchen. So lässt sich eine Depression sicherlich
nicht mit einigen Tränen fortspülen, sondern bedarf
Depression einer intensiven therapeutischen Unterstützung.
Kay hingegen erfährt die Autonomie, die Gerda zum Dennoch kann uns das Märchen für die Themen
Vorankommen hilft, nicht. Er wird von der Schnee- Selbstbestimmung und Depression sensibilisieren.
königin gefangen gehalten und steht vor einer ihm Wir werden angeregt, uns folgende Fragen zu stellen.
unlösbar erscheinenden Aufgabe. Trotz seiner Fähig-
keit, sämtliche Worte aus Eis zu formen, gelingt es z Fragen zur Reflexion
ihm nicht, das Wort, das ihm zur Freiheit verhelfen 44Wie wichtig ist mir selbstbestimmtes Handeln
würde, zu legen. Er scheint den Antrieb verloren und und habe ich die Möglichkeit dazu?
die Hoffnung aufgegeben zu haben. Der Junge wirkt 44Habe ich soziale Unterstützer, die mir in
depressiv, was metaphorisch durch den Eisklumpen schwierigen Situationen zur Seite stehen?
in seinem Herzen betont wird. 44Und bin ich auch selbst Teil eines unterstüt-
Zu den Kennzeichen einer Depression zählen zenden sozialen Umfelds für andere?
u. a. deutlich vermindertes Interesse an Aktivitäten,
Schlafstörungen, Energieverlust und das Gefühl von Am Beispiel von Gerda und Kay erkennen wir, wie
Wertlosigkeit bis hin zur Suizidalität (APA 2013). unerlässlich Selbstbestimmung schon in der Kind-
32 Diese Anzeichen verursachen Leiden und eine heit sein kann. Daher ist es besonders wichtig, bereits
bedeutsame Beeinträchtigung in sozialen, berufli- in der Kindererziehung darauf Wert zu legen, Kinder
chen oder anderen Lebensbereichen. Der Anteil der zu selbstbestimmten Erwachsenen und künftigen
Erwachsenen, die im Laufe ihres Lebens an einer Unterstützern zu erziehen.
Depression erkranken, liegt bei 19 % (Wittchen et al.
2010), was die gesellschaftliche Relevanz der Depres-
sion verdeutlicht. 32.3.4 Soziale Wahrnehmung und
Der Umgang mit der Thematik ist jedoch in Attributionsstil
vielen Fällen kritisch zu beurteilen. So sehen einige
die Depression als Tabuthema, und vor allem im Zu Beginn des Märchens schmiedet der Teufel einen
beruflichen Kontext würden Betroffene diese am Spiegel, der alles Gute und Schöne in der Welt ver-
liebsten verbergen, um nicht als schwache Personen schwinden und alles Böse und Hässliche hervor-
zu gelten. Unter anderem dadurch bedingt ziehen treten lässt. Der Spiegel zersplittert, und der kleine
sich depressive Menschen häufig aus ihrem Sozial- Kay bekommt Splitter des Zauberspiegels in Herz
leben zurück, obwohl sie im Gegenteil von positi- und Auge. Sogleich findet er alles hässlich, rupft die
ven Impulsen aus ihrem sozialen Umfeld profitieren schönen Rosen aus und macht sich über Freunde und
würden, um ihre Depression zu überwinden. Familie lustig. So verbreitet der Teufel mit seinem
Im Märchen kann Kay diesen Zustand ebenfalls Zauberspiegel auf der ganzen Welt sein negatives
nicht alleine überwinden. Durch Gerdas Unterstüt- Weltbild.
zung wird er jedoch wieder für das Positive empfäng- Weltbilder sind das kumulierte Ergebnis der
lich. Den letzten Schritt schafft er schließlich selbst, Erfahrungen eines Menschen mit der Welt, seine
32.4 · Fazit
249 32
Glaubenssätze im Hinblick auf alles, was existiert Ausschlusses wie Mobbing oder auch genetische Fak-
und nicht existiert, was gut und schlecht ist (Hauke toren können hier eine Rolle spielen.
2011). Kays Weltbild wird durch den Splitter des
Zauberspiegels verzerrt – er läuft fortan mit einer
Brille durch die Welt, die alles negativ erscheinen Implikationen für die Erziehung
lässt. Wer von vorneherein von anderen nur Schlechtes
denkt, wird wenig Entgegenkommen erwarten können
und verpasst vielleicht die Chance, Freundschaft, Liebe
Hypothesentheorie der sozialen und Glück zu erfahren. Wie schön ist es, die Welt mit
Wahrnehmung reinen Kinderaugen zu sehen – noch ungetrübt von
Eine Theorie, die sich mit verzerrter Wahrnehmung schlechten Erfahrungen. In dem Märchen erhält sich
und Urteilsbildung beschäftigt, ist die Hypothesen- die kleine Gerda ihren positiven Blick auf die Welt.
theorie der sozialen Wahrnehmung (Lilli u. Frey Ermutigen wir unsere Kinder zu einem offenen
1993). und vorurteilsfreien Umgang mit anderen Menschen.
Sie besagt, dass Menschen bereits eine Erwartung Die Suche nach dem Haar in der Suppe sollte eine Suche
haben, bevor sie etwas wahrnehmen. Diese Wahr- nach dem Silberstreif am Horizont sein. Vielleicht
nehmungs-Erwartungs-Hypothese beeinflusst, wie können wir hier auch etwas von den Kindern lernen.
etwas wahrgenommen und interpretiert wird, bei-
spielsweise die Erwartung durch Einfluss des Zauber-
spiegels, alles sei schlecht und hässlich. Je öfter diese 32.4 Fazit
Hypothese in der Vergangenheit bestätigt wurde,
desto mehr halten wir daran fest. „Die Schneekönigin“ erzählt eine Geschichte vom
Sogar unsere Informationsverarbeitung wird Erwachsenwerden. Gerda und Kay erleben auf
dadurch beeinflusst: Neue Informationen werden ihrer Reise in den hohen Norden viele Abenteuer
gemäß der gebildeten Hypothese über die Welt und müssen sich ihren größten Ängsten stellen.
interpretiert und angepasst. So formen wir im Laufe Die kleine Gerda wächst dabei über sich hinaus: Sie
unseres Lebens ein System bewährter Erwartungen überwindet alle Hindernisse, die sich ihr in den Weg
und damit unser Weltbild. stellen. Erwachsenwerden ist oft mit Hindernissen
und auch Misserfolgen verbunden – die Art, wie wir
damit umgehen, bestimmt, welchen Blick wir auf die
Feindseliger Attributionsstil Welt als Erwachsene behalten.
Kennzeichnend für ein negatives Weltbild ist auch Andersen lehrt uns, im Herzen immer ein Kind
der sog. feindselige Attributionsstil (Krahé 2014). zu bleiben. Kinder sehen die Welt mit ungetrübtem
Aus dieser verzerrten Wahrnehmung heraus wird das Blick: Ihre positive Lebenseinstellung, ihr immer-
normale Verhalten von anderen als feindselig, pro- währender Glaube an das Gute im Menschen und
vokativ oder aggressiv gegen sich selbst eingeschätzt, ihr Vertrauen in die Welt sollen uns ein Vorbild sein.
obwohl dies keinesfalls der Absicht des Gegenübers Gerda erkämpft sich tapfer den Weg bis zum Schloss
entspricht. der Schneekönigin und begegnet dabei allen Krea-
Es handelt sich um eine verfestigte Art der Infor- turen und Personen mit Vertrauen, Freundschaft
mationsverarbeitung, die aggressives Verhalten und Herzlichkeit. Das unschuldige, reine Kinder-
begünstigt. Kay sieht alles negativ, er findet in der herz steht im Zentrum des Märchens. Auch wenn
schönsten Rose einen Fehler und reagiert aus hei- Kay und Gerda am Ende des Märchens erwachsen
terem Himmel feindselig, beleidigend und unnötig sind, so halten sie doch an ihrem Kinderglauben fest
aggressiv (z. B. reißt er die schönen Rosen aus). und singen: „Rosen, die blüh’n und verwehen; Wir
Wie sich solch ein feindseliger Attributionsstil werden das Christkindlein sehen!“ Der Vergänglich-
prägt, hängt von mehreren Faktoren ab. Ein autori- keit und allen Hindernissen und Niederlagen trot-
tärer und aggressiver Erziehungsstil, Modelllernen zend verlieren sie nie den Glauben an das Schöne
von aggressiven Vorbildern, Erfahrungen sozialen und Gute in dieser Welt.
250 Kapitel 32 · Die Schneekönigin von Hans Christian Andersen (1844)

Literaturverzeichnis

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nitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsT/
depression.pdf. Zugegriffen: 08. November 2016.
251 33

Die Lebenszeit von den


Gebrüdern Grimm (1840)
Isabel Kroiß

33.1 Inhalt des Märchens – 252

33.2 Die Charaktere – 252

33.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 253


33.3.1 Kontrolle – 253
33.3.2 Mäßigung – 255
33.3.3 Lebenszufriedenheit – 256

33.4 Fazit – 257

Literaturverzeichnis – 257

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_33
252 Kapitel 33 · Die Lebenszeit von den Gebrüdern Grimm (1840)

33.1 Inhalt des Märchens dies so eine lange Zeit nicht ertragen würde. So kam
es, dass auch der Affe von Gott nur noch eine Lebens-
Vor langer Zeit schuf Gott die Welt und wollte allen zeit von zwanzig Jahren erhielt.
vorhandenen Lebewesen die ihnen verbleibende Dann jedoch kam ein Mensch zu Gott. Auch ihm
Lebenszeit bestimmen. bot Gott eine Lebensspanne von dreißig Jahren an –
Zuerst kam ein Esel herbei, diesem bot Gott eine anders jedoch als bei den vorherigen Lebewesen war
Lebensspanne von dreißig Jahren an. Der Esel jedoch der Mensch unzufrieden mit dem Angebot. In solch
lehnte das Angebot ab, da er tagtäglich schwere Last einem kurzen Zeitraum könne er sich gerade so ein
schleppen muss, getreten und verprügelt von seinem angenehmes Leben aufbauen, nur um im Anschluss
Besitzer – solch ein Leben möchte er nicht länger daran gleich sterben zu müssen. Nach längeren, wie-
als unbedingt nötig führen. So gab Gott ihm eine derkehrenden Diskussionen überließ Gott ihm nicht
Lebenszeit von nur noch zwölf Jahren. nur die übrig gebliebenen Jahre des Esels, sondern
Als nächstes kam ein Hund herbei. Aber- auch die des Hundes und des Affen.
mals bot Gott dem Tier eine Lebensspanne von So kommt es, dass der Mensch siebzig Jahre lebt.
dreißig Jahren an, doch auch der Hund verneinte Die ersten dreißig Jahre nun gehen schnell vorbei,
das Angebot. Solch ein hohes Alter machten seine er arbeitet gerne und erfreut sich an seiner Gesund-
Pfoten nicht mit, außerdem verliere er mit der heit. Daraufhin folgen die achtzehn Jahre des Esels –
Zeit seine Stimme zum Bellen und die Zähne zum er arbeitet zum Wohle von anderen und erntet dafür
Beißen – er könne also nur noch von einer Ecke in Schläge und Tritte. Die darauf folgenden zwölf Jahre
die andere laufen und knurren. Gott erließ ihm also des Hundes liegt der Mensch im Eck, knurrt und hat
ebenfalls ein paar Jahre und setzte seine Lebenszeit kaum mehr Zähne zum Beißen. Nach dieser Zeit-
auf achtzehn Jahre fest. spanne folgen noch die zehn Jahre des Affen: Der
Danach kam ein Affe herbeigelaufen. Wie schon Mensch ist schwachköpfig, macht alberne Dinge und
bei den Tieren zuvor bot Gott ihm eine Lebensspanne wird zum Gespött der Kinder.
von dreißig Jahren an, da er davon ausging, dass ein (Grimm u. Grimm. 1840; . Abb. 33.1)
Affe nicht hart zu schuften brauche und außerdem
immer guter Dinge sei. Der Affe jedoch war anderer
Meinung: Zwar schneide er täglich Grimassen und 33.2 Die Charaktere
spiele lustige Streiche, damit die Leute ihren Spaß
33 hätten, doch die Entlohnung dafür wäre oftmals ent- Das Märchen „Die Lebenszeit“ zeichnet sich vor
täuschend. Er klagte darüber, dass sich hinter seiner allem dadurch aus, dass es Charaktere hervorhebt,
Fröhlichkeit häufig nur Traurigkeit verberge und er die unterschiedlicher nicht sein könnten.

. Abb. 33.1  (Zeichnung: Claudia


Styrsky)
33.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
253 33
Da wäre zum einen Gott, der Allmächtige, der die aber unerfülltes Leben, oder lieber ein kurzes, aber
Macht über das Leben aller anderen Charaktere hat. ruhmreiches Leben? Achilles entscheidet sich letzten
Er wird als sehr gerechte Person dargestellt, da er den Endes für ein kurzes und ruhmreiches Leben. Eine
Lebewesen nicht einfach eine Lebenszeit bestimmt, ähnliche Konstellation findet sich auch in dem
sondern mit sich reden lässt und die Lebenszeit ent- Märchen wieder: Die Tiere entscheiden sich für ein
sprechend verkürzt oder verlängert. Er nutzt seine kurzes, aber erfülltes Leben, während der Mensch
Autorität also nicht aus, sondern überlässt es den lieber ein langes Leben führen will, ohne zu wissen,
Lebewesen selbst, ihre Lebenszeit zu bestimmen – in welcher Verfassung er sein wird.
dass dies allerdings nicht immer der beste Zug sein In dem Märchen „Die Lebenszeit“ wird aufge-
muss, wird am Beispiel des Menschen deutlich, der zeigt, dass es sinnvoll sein kann, eine gewisse Mäßi-
seine Lebenszeit verlängert, ohne von Gott gewarnt gung an den Tag zu legen, um ein angenehmes und
zu werden, was das für ihn bedeutet. Dies mag darauf zufriedenes Leben zu führen. Zudem lernen wir aus
hindeuten, dass es nicht vorgesehen ist, sein Leben dem Märchen, dass wir unser Leben – so gerne wir
vollkommen zu steuern. das auch möchten – nicht kontrollieren können.
Die drei ersten Charaktere, die Gott unterge- Folgende Ausführungen behandeln die psy-
ordnet sind, sind allesamt Tiere: ein Esel, ein Hund chologischen Phänomene, die diesen Aspekten
und ein Affe. Alle drei werden als sehr demütige und zugrunde liegen.
genügsame Wesen dargestellt, die Gott nur wider-
sprechen, um sein großzügiges Angebot abzuleh-
nen. Keines der Tiere erwartet ein angenehmes 33.3.1 Kontrolle
Leben: Der Esel befürchtet, nur schwere Lasten
schleppen zu müssen und von seinem Besitzer Was denken Sie – worin besteht der Unterschied zwi-
geschlagen zu werden; der Hund befürchtet, seine schen dem Menschen und den Tieren in unserem
Kraft, Stimme und Zähne zu verlieren, und der Affe Märchen? Worauf ist es zurückzuführen, dass alle
befürchtet, ein Opfer seiner eigenen inneren Trau- Tiere einstimmig eine lange Lebenszeit ablehnten,
rigkeit zu werden, verursacht durch die nach außen während der Mensch gar nicht genug Lebenszeit
aufgesetzte Fröhlichkeit. Alle drei Tiere bitten Gott erhalten konnte?
darum, weniger Zeit auf der Erde verbringen zu Höchstwahrscheinlich besitzt der Mensch ein
dürfen. deutlich ausgeprägteres Verlangen nach Kontrolle
Der vierte Charakter, über den Gott die Macht als die Tiere vor ihm. Unterstützt wird diese Hypo-
hat, ist ein Mensch. Anders als die Tiere verhält er these, da alle Tiere gleichermaßen ausdrücken, dass
sich keineswegs demütig, sondern fordernd: Die Zeit, sie sich als an ihr Schicksal gebunden fühlen. Es geht
die Gott ihm großzügig anbietet, lehnt er ab und ver- hierbei also um die Selbst- statt Fremdbestimmung,
langt die verbliebene Zeit, die die Tiere abgelehnt die sich der Mensch zu eigen macht.
hatten. Diese unersättliche und undankbare Art wird
von Gott zwar geduldet, und der Mensch erhält die
gewünschte Zeit, doch als „Strafe“ muss er mit den Theorie der Selbstbestimmung
Konsequenzen leben, die die zeitliche Verlängerung Der Mensch möchte ausreichend Lebenszeit erhal-
mit sich bringt. ten, um sich ein geregeltes Leben aufbauen und
auch noch genießen zu können – sprich, er möchte
Kontrolle über sein Leben wahrnehmen. Der Esel,
33.3 Psychologische Phänomene und der Hund und der Affe hingegen geben sämtliche
Implikationen Kontrolle über ihr Leben an Gott ab und überlas-
sen es ihm, ihre Lebenzeit zu bestimmen bzw. zu
Schon in der Antike beschäftigten sich die Men- kürzen.
schen mit den Themen Lebensdauer und Schick- Das Bedürfnis nach Kontrolle ist seit jeher ein
sal. Denken wir nur zurück an die Sage von Achilles: menschliches Grundbedürfnis. Schon Ryan und Deci
Er wird vor die Schicksalswahl gestellt – ein langes, (2000) stellten in ihrer Theorie der Selbstbestimmung
254 Kapitel 33 · Die Lebenszeit von den Gebrüdern Grimm (1840)

die Hypothese auf, dass Menschen von Geburt an Illusorische Kontrolle


ein Bedürfnis nach Kompetenz und Autonomie, also Wie schon angedeutet, kann man in dem Märchen
Selbstbestimmung, und sozialer Eingebundenheit aber auch von illusorischer Kontrolle (Langer 1975)
verspüren und dadurch ihr eigenes Wohlbefinden sprechen – Menschen halten selbst in Situationen,
steigern können. die objektiv unkontrollierbar sind, eine gewisse Kon-
Dies ist in gewisser Weise vergleichbar mit Kon- trolle für möglich.
trolle – von Kontrolle nämlich spricht man, wenn es Jeder weiß, dass der Tod unausweichlich ist und
einem möglich ist, Ereignisse (nach eigenen Wün- wir unseren Lebensverlauf nur sehr begrenzt kont-
schen) zu beeinflussen (Schorr u. Rodin 1982). rollieren können. Dennoch beginnt der Mensch im
Märchen Verhandlungen mit Gott, um doch noch
etwas Lebenszeit herausschlagen zu können. Zwar
Theorie der kognizierten Kontrolle erhält er einige Jahre zusätzlich, doch die Kontrolle
Die Möglichkeit zur Kontrolle muss nicht einmal über genau diese Jahre verliert er, da sein Körper und
wirklich vorliegen, oftmals reicht es schon, wenn Geist über die verlängerte Zeit nicht dasselbe Funk-
man sie zumindest subjektiv wahrnimmt. Dieses tionsniveau beibehalten und zunehmend verfallen.
Phänomen beschreibt die Theorie der kognizierten
Kontrolle (Frey u. Jonas 2002). Hierbei wird davon
ausgegangen, dass man Kontrolle anhand von folgen- Modell der selektiven Optimierung und
den Aspekten wahrnimmt. Kompensation
Zum einen benötigt der Mensch ein Gefühl von Warum die Tiere gerne die Kontrolle über ihr Leben
Beeinflussbarkeit: Man muss die Möglichkeit wahr- an Gott abgeben, lässt sich leicht erklären: Alle drei
nehmen, ein Ereignis und dessen Folgen durch das klagen über die negativen Folgen, die sie bei länge-
eigene Verhalten steuern zu können. rer Lebenszeit zu erwarten hätten – der Esel müsste
Dies trifft schon einmal auf den Menschen in schwere Last schleppen und Schläge seines Besitzers
dem Märchen zu – er denkt, dass er durch die eigens ertragen, der Hund würde seine Kraft und Zähne ver-
veranlasste Verlängerung seines Lebens auch seinen lieren, und der Affe müsste weitere Jahre gegen seine
Lebensverlauf verändern, steuern und beeinflussen innere Traurigkeit ankämpfen.
kann. Dass auch Menschen die Kontrolle bevorzugt
Der zweite Aspekt, der einem ein Gefühl von abgeben, wenn ein negatives Ereignis der eigenen
33 Kontrolle verleiht, ist Vorhersehbarkeit: Hierbei Handlung zu erwarten ist, konnte schon Dolinski
braucht man Informationen, um welches Ereignis (1998) bestätigen. Auch Baltes und Baltes (1990)
es sich handelt und wann/wie lange es stattfinden beschreiben dieses Phänomen in ihrem SOK-Mo-
wird. Grundsätzlich hat ein Mensch das Bedürfnis, dell, dem Modell der selektiven Optimierung und
Ereignisse in seinem Leben sowohl zeitlich als auch Kompensation – laut ihrer Ansicht ist die Lebens-
inhaltlich vorhersehen zu können – er benötigt eine spanne eines jeden Menschen durch diese Entwick-
gewisse Transparenz. lungsstrategien geprägt:
Auch Vorhersehbarkeit nimmt der Mensch im 44Selektion bedeutet, dass der Mensch
Märchen wahr, wenn auch illusorisch: Er denkt, bestimmte Ziele für sich priorisiert und die ihm
dass sein Leben gleichbleibend schön verlau- zur Verfügung stehenden Ressourcen dann nur
fen wird, ganz gleich, wie lange es andauert. Dass darauf verwendet.
Gott ihm hierbei nicht widerspricht und ihn vor- 44Unter Optimierung versteht man den Prozess
warnt, bestätigt ihn nur noch in seinen Erwartun- der Zielverfolgung: Man lernt neue Dinge, um
gen (Antizipationen). sein Ziel zu erreichen, oder investiert Zeit in
Zuletzt benötigt man zur kognizierten Kont- das gesteckte Ziel.
rolle noch Erklärbarkeit: Solange ich etwas erklären 44Zudem gibt es die Kompensation: Man setzt
kann, bin ich auch bereit, es zu akzeptieren. Erklär- bestimmte Mittel ein, um Verlusten entgegen-
barkeit verleiht dem Ganzen einen Sinn; man ver- zuwirken, z. B. durch Unterstützung von
steht warum und wieso etwas passiert. anderen Personen.
33.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
255 33
Durch den Einsatz dieser Strategien kann ein ver- Selbstverständlich ist das sehr übertrieben
hältnismäßig hohes persönliches Wohlbefinden gesi- beschrieben – nicht jeder ist im Alter notwendiger-
chert werden. Bezogen auf unser Märchen lässt sich weise eingeschränkt, es hängt stark vom individuel-
also sagen, dass die Tiere freiwillig auf mehr Lebens- len Alterungsprozess ab. Jedoch ist mit einer gewis-
zeit verzichten und stattdessen versuchen diese zu sen Kontrolleinschränkung zu rechnen.
optimieren und kompensieren. Wie können wir mit dieser umgehen? Da wir an
der Tatsache, dass wir auf die Dauer unserer Lebens-
zeit nur wenig Einfluss haben, nichts ändern können,
Kontrollverlust und erlernte sollten wir versuchen, das Beste aus dem Hier und
Hilflosigkeit Jetzt zu machen. Ganz nach dem Motto: „Carpe
Da die Tiere die Kontrolle freiwillig abgeben, also diem!“ – „Nutze den Tag“, mit dem schon Horaz den
Fremd- gegenüber Selbstbestimmung präferieren, Menschen empfahl, die knapp bemessene Lebenszeit
kann man hier nicht von Kontrollverlust sprechen. aufs Vollste zu genießen und Dinge, die uns etwas
Würde aber beispielsweise dem Menschen die Mög- bedeuten, nicht auf den nächsten Tag zu verschieben.
lichkeit genommen, sein Leben zu verlängern, ent- Keinesfalls also sollten wir – wie oben angespro-
spräche dies einem Kontrollverlust, da er auf das chen – erlernte Hilflosigkeit verspüren, sondern
Ergebnis keinen Einfluss nehmen könnte. dankbar sein für die Zeit, die wir erhalten haben,
Doch nicht nur die Tatsache, die Kontrolle ver- und jeden Tag optimistisch angehen.
loren zu haben, belastet Menschen, es können
daraus weitere negative Folgen resultieren: Ob
dieser Unkontrollierbarkeit verspürt man verständ- 33.3.2 Mäßigung
licherweise Angst und die eigene Leistungsfähigkeit
wird vermindert (Schorr u. Rodin 1982), außerdem Wie Ihnen sicherlich aufgefallen ist, verhalten sich
erkrankt man häufiger (Schulz 1978). Schlimmsten- alle drei Tiere im Märchen ähnlich: Keines möchte
falls kann man aufgrund länger andauernder Unkon- die von Gott großzügig angebotene Lebenszeit
trollierbarkeit in eine erlernte Hilflosigkeit verfal- annehmen, jedes wünscht sich eine Verkürzung der
len, durch die man wenig Motivation verspürt, noch Lebenszeit.
etwas an der Situation ändern zu wollen, und zudem Dieses sehr bescheidene, genügsame Verhal-
Furcht, die möglicherweise in eine Depression über- ten gibt Hinweise darauf, dass es lohnenswert sein
gehen kann (Seligman 1975). könnte, sich näher mit dem Thema Mäßigung aus-
einanderzusetzen. Mäßigung hat ihren Ursprung
bereits in der Antike gefunden und stellt seit jeher
Implikationen für die Lebensgestaltung neben Gerechtigkeit, Tapferkeit und Weisheit eine
Das Märchen „Die Lebenszeit“ zeigt uns die Grenzen der vier platonischen Kardinaltugenden dar:
unserer Existenz auf: Jeder Mensch möchte die Kon- Hierbei wird postuliert, dass man in jedem Lebens-
trolle über sein Leben behalten, doch es ist schlicht- bereich das rechte Maß einhalten soll – weder zu viel
weg nicht möglich, sein Leben vollends zu kontrollie- noch zu wenig; weder Übertreibung noch Mangel.
ren. Dieser Tatsache müssen wir uns leider bewusst Als Einstieg soll zunächst ein philosophischer
werden. Ansatz zusätzlich zu Hilfe genommen werden: Laut
Der Mensch im Märchen versucht um jeden Kilburg (2012) stellt Mäßigung eine Fähigkeit dar,
Preis, seine Sterblichkeit hinauszuzögern und sein Gedanken, Emotionen und Verhalten angemessen
Leben zu verlängern, kann jedoch die Kontrolle ausdrücken oder einschränken zu können. Somit
über sein Leben trotzdem nicht komplett behal- lässt sich festhalten, dass es sich bei Mäßigung nicht
ten: Sobald seine Lebenszeit über die von Gott vor- um einen Verzicht, sondern nur um eine Beschrän-
gegebene hinausging, verfiel sein Körper langsam kung handelt, also eine Maßregelung des eigenen
und ermöglichte es ihm nicht mehr, den bisherigen Willens.
Lebensstandard, den sich der Mensch erträumt hatte, Ganz anders hingegen verhält sich der Mensch in
aufrechtzuerhalten. dem Märchen, er stellt quasi einen Gegenpol zu dem
256 Kapitel 33 · Die Lebenszeit von den Gebrüdern Grimm (1840)

maßvollen Verhalten der Tiere dar. Er überschrei- Stromverbrauch, verursacht durch Weihnachtsbe-
tet das oben angesprochene rechte Maß und muss leuchtung und Zubereitung des Festessens, Müll-
dafür die negativen Konsequenzen in Kauf nehmen: berge aus Geschenkpapier. Der Ökonom Joel Wald-
den langsamen Verfall seines Körpers und Geistes. fogel bezeichnet die Weihnachtszeit sogar als „Orgie
Wo findet sich aber das Konzept Mäßigung in der der Weltvernichtung“ (Schimansky 2012, S. 2). Das
Psychologie wieder? Ein Schlagwort hierfür ist die grundlegende Problem hierbei ist unser Wirtschafts-
positive Psychologie. Einer der wichtigsten Vertre- system, in welchem die Philosophie vorherrscht, dass
ter dieses psychologischen Feldes, Martin Seligman, Wohlstand nur durch Wachstum entstehen kann,
betrachtet positive Psychologie als eine Art Fokus- ohne zu reflektieren, ob dieses Wachstum überhaupt
verschiebung: weg von den negativen Faktoren, hin sinnvoll und notwendig ist.
zu dem, was das Leben angenehm macht. Natürlich ist hiermit nicht gemeint, dass man
Der Fokus liegt also nicht wie bisher auf den sich an Weihnachten überhaupt nicht beschenken
Schwächen des Menschen, sondern auf seinen sollte – es geht nur um das Übermaß, das teilweise
Stärken. Mäßigung wird als eine der Stärken des gezeigt wird. Dieses drastische Beispiel sollte jedem
Menschen aufgeführt. Nun mag es auf den ersten vor Augen führen, dass ein gemäßigtes (Konsum-)
Blick vielleicht schwerfallen, Mäßigung als Stärke Verhalten in der heutigen Zeit angemessen und not-
und somit als Weg zum Lebensglück anzuerkennen. wendig ist.
Dies wirft die Frage auf, worin der Vorteil liegt, Einkaufen nach dem rechten Maß – so sollte die
auf Vieles zu verzichten oder sich einzuschränken. Devise lauten. Durch das Überangebot an Produk-
Maßvolles Verhalten mag vordergründig keinen ten werden wir dazu verführt, Dinge zu erwerben,
direkten Einfluss auf die Lebenszufriedenheit und die wir nach genauerer Überlegung eigentlich nicht
-qualität haben – man muss (teilweise angestrengt) brauchen. Beim nächsten Einkauf könnte also jeder
auf Dinge verzichten, die man eventuell gerne haben von uns zweimal darüber nachdenken, ob das soeben
würde. Doch sollte man sich gleichzeitig bewusst in den Einkaufswagen gelegte Produkt wirklich von-
machen, dass der Preis von maßlosem Verhalten oft nöten ist oder ob es nur aus einer gewissen Maßlosig-
hoch ist, da die Gefahr besteht, die eigenen Fähigkei- keit heraus hineingelegt wurde. Die Welt wird es uns
ten und Energie zu überschätzen. Durch maßvolles in naher Zukunft danken!
Verhalten erwirbt man auf lange Sicht mehr Gelas-
senheit und entwickelt einen alternativen Umgang
33.3.3 Lebenszufriedenheit
33 mit Dingen, die einen ansonsten über Gebühr in
Stress versetzt hätten. Folge ist letztlich eine gestei-
gerte Zufriedenheit. » Wer nicht zufrieden ist mit dem, was er hat,
der wäre auch nicht zufrieden mit dem, was er
haben möchte. (Berthold Auerbach)
Implikationen für die Lebensgestaltung
Mäßigung ist gerade in der heutigen Zeit ein bedeu- So sprach einst Berthold Auerbach, ein deutscher
tendes Thema. Die Welt wird immer mehr von Schriftsteller, und man kann ihm eigentlich nur
Konsum bestimmt: Der Markt bietet laufend neue zustimmen. Man muss das Leben so nehmen, wie es
Produktvarianten, die Wahl fällt dem Konsumenten kommt, da man es nicht ändern kann.
immer schwerer. Warum nur einen Laptop kaufen, Dies haben auch die Tiere in dem Märchen „Die
wenn es doch so viele auf dem Markt gibt, die auch Lebenszeit“ erkannt: Alle sind zufrieden mit dem,
noch unterschiedliche Funktionen haben? was Gott ihnen bietet, beziehungsweise sogar zufrie-
Dass dieser Ansatz der falsche ist, zeigt sich dener mit weniger als seinem Angebot. Der Mensch
gerade zur Weihnachtszeit: Die meisten Menschen hingegen ist unzufrieden mit dem Angebot, welches
kaufen für ihre Lieben Produkte im Überfluss, egal Gott ihm unterbreitet, und fordert mehr – doch auch
ob sie sinnvoll erscheinen oder nicht. Folgen dieses mit mehr ist er noch nicht wirklich zufriedengestellt.
Konsumrausches sind u. a. miserable Arbeitsbedin- Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass
gungen bei großen Versandhändlern, ein immenser die Tiere zwar ein kürzeres Leben führen, dafür
Literaturverzeichnis
257 33
aber (im Vergleich zum Menschen) in Zufrieden- Gerade in der Arbeitswelt werden einem häufig
heit und Wonne, während jener zwar viele Lebens- Seminare oder Workshops zu diesem Thema ange-
jahre erlangt hat, diese allerdings nach und nach – boten, die man beispielsweise nutzen könnte. Ein
aufgrund seiner zunehmenden körperlichen und zusätzlicher positiver Faktor ist, dass man in solchen
geistigen Schwäche – in Unzufriedenheit verleben Seminaren in der Gruppe das Gefühl von Autono-
muss. mie, Kompetenz und Eingebundenheit erleben kann
Zufriedenheit mit dem eigenen Leben ist ein (Ryan u. Deci 2000). Das dort Erlernte ist dann nicht
entscheidender Faktor für das eigene Wohlbefin- nur hilfreich für den Bereich Arbeit, sondern auch
den. Die Theorie der Lebenszufriedenheit basiert für das eigene Leben.
auf der Annahme, dass jeder Mensch über ausge-
prägte Stärken verfügt, die die Basis für verschie-
dene positive Bestandteile seines Lebens darstel- 33.4 Fazit
len (Ruch et al. 2010). Solche Bestandteile wären
beispielsweise das Erleben von Sinnhaftigkeit und Aus dem Märchen „Die Lebenszeit“ entspringt ohne
Erfolg, ein Engagement für Dinge, die einem wichtig viele Worte sehr viel Lebensweisheit: Man soll ein
sind, und das erfolgreiche Führen von Beziehun- maßvolles Leben führen, der Gier entsagen, akzep-
gen. Diese Elemente bestimmen das Wohlbefinden tieren, dass man sein Leben und dessen Verlauf
eines Menschen und folglich auch die Lebenszufrie- nicht vollauf kontrollieren kann, und folglich jeden
denheit. Ausgeprägte Stärken wie Mut, Gerechtig- Tag des Lebens voll und ganz genießen. Es müssen
keit und Wissen verhelfen einem also zum eigenen dabei nicht immer große Dinge sein – auch kleine
Lebensglück. Dinge können das Leben schöner machen wie die
auf- oder untergehende Sonne, singende Vögel, Mee-
resrauschen, ein Lächeln. All dies kann einem dabei
Implikationen für die Lebensgestaltung helfen, einen Sinn im Leben zu finden und das Posi-
und Arbeit tive zu sehen.
Egal wie lange das Leben sein mag – man ist vermut- Mit den genannten Aspekten kann sich, anders
lich nie zufrieden mit der Zeit, die einem gegeben als vielleicht in anderen Märchen, wohl jeder
wurde. Unsinnig allerdings ist es, sich über diese Mensch identifizieren – eine schönere Moral von
Tatsache den Kopf zu zerbrechen und nur noch der Geschichte könnte es also kaum geben!
unglücklich zu sein, dass einem nicht mehr Zeit auf
dieser Erde bleibt.
Wie sagte einst Viktor Frankl, ehemaliger KZ- Literaturverzeichnis
Häftling, so schön? – „Wenn wir eine Situation nicht
Baltes, P. B., & Baltes, M. M. (1990). Psychological perspecti-
ändern können, müssen wir uns selbst ändern.“ Er ves on successful aging: The model of selective optimi-
vertrat die Ansicht, dass man seinem Leben einen zation with compensation. In: P.B. Baltes, & M. M. Baltes
Sinn geben und dankbar sein muss für das, was man (Eds.), Successful aging: Perspectives from the behavioral
erhalten hat. Lebenszufriedenheit ist also unabhän- sciences (S. 1–33). New York: Cambridge University
gig von der Lebenszeit – auch ein kurzes Leben kann Press.
Dolinski, D. (1998). To control or not control. In: M. Kofta, G.
sehr erfüllend sein, wenn man es richtig anstellt. Weary, & G. Sedek (Eds.), Personal control in action: Cog-
Zieht man beispielsweise die eben angespro- nitive and motivational mechanisms (pp. 319–340). New
chene Theorie der Lebenszufriedenheit zurate, so York: Springer US.
sollte man sich auf seine inneren Stärken besinnen, Frey, D., & Jonas, E. (2002). Die Theorie der kognizierten Kont-
rolle. In: D. Frey, & M. Irle (Hrsg.), Theorien der Sozialpsycho-
da diese das Lebensglück steigern können. Auch
logie. Band III: Motivations-, Selbst- und Informationsver-
wenn man der Meinung ist, dass man keine wirk- arbeitungstheorien (S. 13–50). Bern: Huber.
lichen Stärken besitzt – jeder von uns hat Persön- Grimm, J., & Grimm, W. (1840). Kinder- und Haus-Märchen,
lichkeitseigenschaften, die sich zu Stärken ausbauen gesammelt durch die Brüder Grimm: Große Ausgabe (Bd.
lassen, z. B. Kreativität, Risikofreude, Schnelligkeit 2, 4. Aufl.). Göttingen: Verlag der Dieterichschen Buch-
handlung.
oder Lernwille.
258 Kapitel 33 · Die Lebenszeit von den Gebrüdern Grimm (1840)

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33
259 34

Frau Holle von den Gebrüdern


Grimm (1812)
Nicole Blabst

34.1 Inhalt des Märchens – 260

34.2 Die Charaktere – 261

34.3 Psychologische Phänomene – 262


34.3.1 Charakter und Gehorsam – 262
34.3.2 Stockholm-Syndrom – 263
34.3.3 Glücksempfinden und sozialer Vergleich – 263

34.4 Bedeutung für die heutige Zeit – 264


34.4.1 Denken und Entscheiden – 264
34.4.2 Leistungs- und Sollerbringung – 264
34.4.3 Glück – 265

34.5 Fazit – 265

Literaturverzeichnis – 265

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_34
260 Kapitel 34 · Frau Holle von den Gebrüdern Grimm (1812)

34.1 Inhalt des Märchens sodass es auf der Erde schneite. Es fehlte ihr an nichts.
Doch eines Tages bekam sie Heimweh und sie teilte
Eine Witwe hatte zwei Töchter: eine Stieftochter, die den Wunsch mit, zurück zu ihrer Stiefmutter und
schön und fleißig war, und eine leibliche Tochter, Stiefschwester zu wollen. Frau Holle war beeindruckt
die hässlich und faul war. Die Stieftochter musste und schenkte ihr zum Abschied einen Goldregen. Bei
alle niederen Arbeiten verrichten und jeden Tag an ihrer Rückkehr ins Dorf, schrie der Hahn: „Kikeriki,
einem Brunnen so lange spinnen, bis ihre Finger unsere goldene Jungfrau ist wieder hie.“ Sie wurde
blutig waren. Eines Tages war die Spule so mit Blut gebührend wieder aufgenommen.
bedeckt, dass sie diese im Brunnen abwaschen wollte. Doch die Witwe schmiedete den Plan, dass auch
Doch fiel sie ihr dabei hinab. Ihre Stiefmutter war ihre leibliche Tochter mit solch einem Segen über-
außer sich und verlangte, dass sie die Spule wieder schüttet werden sollte. Daraufhin tat es diese der
heraufholen müsse. Vor lauter Verzweiflung sprang Stiefschwester gleich und landete in der anderen
die Stieftochter in den Brunnen. Welt. Doch sie weigerte sich, das Brot aus dem Ofen
Sie verlor das Bewusstsein und erwachte in einer zu holen und das Apfelbäumchen zu schütteln. Bei
anderen, wunderschönen Welt. Sie begab sich auf Frau Holle angekommen, strengte sie sich nur einen
Erkundungstour und kam zu einem Ofen, der mit Tag lang an. Danach wurde sie faul, und Frau Holle
Brot bestückt war. Dieses Brot bat sie, es herauszu- kündigte ihr bald ihre Dienste. Freudvoll erwartet
holen. Pflichtbewusst, wie die Stieftochter war, kam die Stiefschwester den Goldregen, doch Frau Holle
sie der Forderung nach. Daraufhin ging sie weiter bestrafte sie mit einem Pechregen. Daraufhin kehrte
und entdeckte ein Apfelbäumchen. Wieder wurde sie die Stiefschwester pechüberströmt ins Dorf zurück
um einen Gefallen gebeten, sie solle doch das Bäum- und der Hahn begrüßte sie mit: Kikeriki, unsere
chen schütteln, da die Apfel reif wären. Auch diesem schmutzige Jungfrau ist wieder hie.“ Sie konnte sich
Wunsch kam sie nach. Als sie weiterging, erblickte sie ihr Leben lang des Pechs nicht mehr entledigen.
ein Haus, aus dem eine alte Frau mit großen Zähnen (Grimm u. Grimm 1812; . Abb. 34.1)
blicke. Die Stieftochter erschrak, aber lies sich auf
ein Gespräch mit der Frau ein. Sie bot ihr an, bei ihr Anmerkung  Frau Holle war eine zentrale weibliche
auszuhelfen und ihr würde es im Gegenzug an nichts Urgestalt, die bereits zur spätgermanischen Zeit und
mehr fehlen. Die Frau stellte sich als Frau Holle vor. im frühen Mittelalter als Göttin verehrt wurde. Ihr
Die Stieftochter willigte ein. Sie erledigte pflichtbe- wurden als Mutter Erde Macht über das Kommen
wusst alle Aufgaben und schüttelte auch die Betten, und Gehen sowie die Naturgewalten zugeschrieben.

34 . Abb. 34.1  (Zeichnung: Claudia


Styrsky)
34.2 · Die Charaktere
261 34
Frau Holle galt als bedeutende volksmythologische Die schmutzige Jungfrau ist die Hässliche und
Gestalt, die in Sagen, Märchen und Brauchtümern die Faule. In ihr personifiziert sich die Gewinnerin,
wiederzufinden war (Naturpark Meißner-Kaufun- die zur Verliererin wird. Trotz ihrer privilegierten
ger Wald 2011). Stellung strebt sie nach weiterem Glück und lässt
sich dazu drängen, ihr Schicksal in die Hand zu
nehmen. Sie ist die Böse und Egoistin, die nur auf
34.2 Die Charaktere ihren eigenen Vorteil bedacht ist und nicht gelernt
hat, über sich hinauszuschauen. Sie ist das Produkt
In dem Märchen „Frau Holle“ sind im Wesentli- der Erziehung ihrer Mutter, lässt sich von dieser ins-
chen die goldene Jungfrau, die schmutzige Jungfrau, trumentalisieren und kopiert blind das offensicht-
Frau Holle und die Witwe die Hauptcharaktere. Als liche Verhalten ihrer Stiefschwester. Sobald sie in
Nebencharaktere fließen das Brot, das Apfelbäum- der anderen Welt angekommen ist, verfällt sie aller-
chen sowie der Hahn mit ein. Im Folgenden sollen dings rasch wieder in ihr vertrautes Verhaltens-
die Haupt- und Nebencharaktere noch einmal aus- muster. Nur einen Tag lang schafft sie es, ihrer Stief-
führlicher vorgestellt werden. schwester ähnlich zu sein und zu helfen. Doch ihr
Die goldene Jungfrau ist die Schöne und die Charakter ist schwach, instabil und ohne Durchhal-
Fleißige. Sie stellt die Verliererin und Schicksals- tevermögen. Letztendlich bekommt sie genau das,
gebeutelte dar, die zur Gewinnerin wird und – eher was sie verdient, und ihre Belohnung ist eine Bestra-
zufällig – ihr Glück findet. Ihre Aufopferungsbe- fung – sie hat „Pech“.
reitschaft und bedingungslose Hingabe zeichnen Frau Holle ist die Weise. Sie gehört einer anderen
sie dabei aus. Die goldene Jungfrau, die Stieftochter Welt an und ist eine Instanz, die Macht über beide
der Witwe, wird als tugendhaft eingeführt. Sie stellt Welten hat. Sie hat gottähnliche Entscheidungs-
sich aufopferungsvoll allen Aufgaben, erledigt bedin- kompetenzen: vom Goldsegen über den Pechre-
gungslos alle niederen Tätigkeiten und springt sogar gen sowie der Reise zwischen den Welten. Sie ist Teil
in den Brunnen, um einen an sie gestellten Auftrag des Himmels und doch befindet sich ihre Welt nicht
auszuführen, nämlich die Spule heraufzuholen. Sie oberhalb, sondern unterhalb der anderen Welt. Um
geht also bis zur Selbstaufgabe in ihrem Pflichtbe- zu ihr zu gelangen, muss man in den Brunnen hinab-
wusstsein auf, denn der Sprung in den Brunnen springen. Traditionell würde man erwarten, dass Frau
erfolgt mit ungewissem Ausgang. Es ist ein Sprung, Holle eine Gestalt des Himmels ist, da der Schnee von
der über Leben und Tod entscheidet. Da wir uns oben auf die Erde herabfällt – und dennoch führt der
jedoch in einem Märchen befinden, endet ihr altes Weg zu ihr durch die Tiefe. Das könnte auf eine Ein-
Leben nur symbolisch am Grunde des Brunnens. ordnung in Himmel und Hölle schließen lassen, über
Die goldene Jungfrau gelangt in eine neue Welt, in die Frau Holle eine omnipotente Kompetenz besitzt.
der sie ihre alten Verhaltensmuster aufrechterhält. Gleichzeitig zeigt diese Ambivalenz die Uneindeu-
Sie ist hilfsbereit und erledigt erneut pflichtbe- tigkeit zwischen der lokalen Verortung von Himmel
wusst die an sie gestellten Aufgaben. Doch irgend- und Hölle. Frau Holle ist zudem Lehrerin und Rich-
wann kommt ein Wendepunkt: Sie bricht mit ihrem terin. Ihr werden zwei Mädchen geschickt, die in ihre
Verhalten und bittet darum, wieder zurückkehren Lehre kommen und diese mit einer jeweils angemes-
zu dürfen. Sie widersetzt sich also zum ersten Mal senen „Belohnung“ beenden.
und spricht aus, was ihr wichtig ist. Obwohl es ihr Die Witwe ist die böse Stiefmutter. Sie ist die
bei Frau Holle an nichts fehlt, hat sie Heimweh und Getriebene und Manipulierende und behandelt
sehnt sich nach ihrer Familie. Dieses Verhalten stößt ihre Stieftochter ungerecht. Doch sie ist auch eine
jedoch auf Anerkennung bei Frau Holle, und sie wird Witwe und Zurückgebliebene, die sich alleine um
reich beschenkt. Sie kehrt als Heldin und Beschenkte zwei Kinder zu kümmern hat. In diesem Spannungs-
nach Hause zurück. Was macht sie zur Heldin? Auch feld agiert sie nach dem evolutionstypischen Ansatz:
wenn sie sich nicht – wie im klassischen Sinne – für Das eigene Fleisch und Blut ist mehr wert, als das
andere aufopfert, so zeigt sie eine besondere persön- anvertraute nicht leiblich verwandte. Dementspre-
liche Stärke, indem sie ausspricht, was ihr wichtig ist. chend findet eine Zweiklassenbehandlung der beiden
262 Kapitel 34 · Frau Holle von den Gebrüdern Grimm (1812)

Schwestern statt. Die leibliche Tochter ist die Heilige, Doch ihr ist nicht direkt bewusst, dass ihr aufopfe-
wohingegen die Stieftochter das „Aschenputtel“ rungsvolles Verhalten belohnt wird. Sie kann dies
spielen muss. Auch nach dem zeitweiligen Verlust höchstens antizipieren und weiß, dass ihr so zumin-
der ungeliebten Stieftochter setzt die Witwe ohne dest keine Bestrafung widerfährt.
Umschweife ihr altes Verhalten fort. Sie möchte ihrer
leiblichen Tochter den gleichen Segen ermöglichen
und drängt sie in ein kopierendes Verhalten. Doch Theorie des autoritären Charakters
die Rechnung der Witwe geht nicht auf. Ihr Verhal- Man könnte Theodor W. Adornos Theorie des autori-
ten wird bestraft – ihre Tochter wird für immer mit tären Charakters auf die goldene Jungfrau anwenden
Pech übergossen bleiben. (Fahrenberg u. Steiner 2004). Dieser beschreibt Per-
Das Brot, das Apfelbäumchen und der Hahn sind sonen, die eine durch ihre Persönlichkeitseigenschaf-
die Testenden und die Kommentierenden. Das Brot ten und die Erziehung entstandene Neigung haben,
und das Apfelbäumchen erfüllen einen Zweck und sich Autoritäten zu unterwerfen.
sollen die Mädchen prüfen. Sie sind lebendige Test- In gewisser Weise tut die goldene Jungfrau genau
verfahren. Sie zeigen das gleiche Verhalten, registrie- dies – zuerst gehorcht sie blind ihrer Stiefmutter,
ren aber unterschiedliche Antworten auf ihre stan- danach erledigt sie alles, was von ihr im Reich der
dardisierte Situation. Die goldene Jungfrau besteht Frau Holle verlangt wird.
den Test, die schmutzige fällt durch. Der Hahn hin-
gegen hat eine kommentierende Funktion. Er ist die z Fragen zur Reflexion
Zeitung, das Radio und der Fernseher des Dorfes. Er 44Wie eigenständig ist die goldene Jungfrau?
spricht aus, was offensichtlich ist, und begrüßt die Handelt sie vielleicht gar nicht aus ihrem
beiden Rückkehrerinnen. eigenen Willen heraus, sondern weil sie sich gar
nicht anders verhalten kann?
44Ist sie ebenfalls das Produkt ihrer Stiefmutter
34.3 Psychologische Phänomene und kennt nur den absoluten Gehorsam, ohne
selbst nachzudenken?
Im Märchen „Frau Holle“ finden sich einige psy- 44Versteckt sie sich sogar hinter dem gelernten
chologische Phänomene wieder. In den folgenden Verhalten und hat absolut blindes Vertrauen in
Abschnitten werden diese anhand des autoritären jede Autorität?
Charakters und des Milgram-Experiments sowie des
Stockholm-Syndroms und der Theorie des sozialen
Vergleichs herausgearbeitet. Milgram-Experiment
34 In diesem Zusammenhang lässt sich auch das 1961
durchgeführte Experiment von Stanley Milgram
34.3.1 Charakter und Gehorsam (1963) zum Gehorsam anführen.
Dieser teilte Versuchspersonen in Lehrer und
Voller Hingabe, Aufopferung und blindem Gehor- Schüler ein. Danach wurden beide in getrennte
sam folgt die goldene Jungfrau den Aufträgen ihrer Räume geführt, und der Lehrer musste dem Schüler
Stiefmutter. Sogar der lebensgefährliche Sprung in Aufgaben stellen. Sollte dieser falsche Antworten
den Brunnen ist ihr nicht zu viel. Selbst als sie in der geben, hatte der Lehrer die Möglichkeit, ihm Strom-
anderen Welt ankommt, verändert sie ihr Verhalten schläge in abgestufter Stärke zu geben. Die Versuchs-
nicht. Sie kümmert sich um das um Hilfe rufende personen wussten allerdings nicht, dass die angebli-
Brot, sie schüttelte den klagenden Apfelbaum und chen Schüler in das Experiment eingeweiht waren.
sie unterstützt nach bestem Wissen und Gewissen Natürlich bekamen sie keine echten Stromschläge,
den Haushalt der Frau Holle. gaben aber je nach Stärke entsprechende Schmerz-
Ihre Hingabe geht weit über das normale Maß laute von sich, die die Lehrer hören konnten. Es gab
hinaus und wird am Ende mit einem Dank gesegnet, einige Versuchspersonen, denen das Ganze keines-
der ihr individuellen und sozialen Reichtum liefert. wegs behagte, doch sie wurden vom Versuchsleiter
34.3 · Psychologische Phänomene
263 34
immer wieder ermutigt, dass alles in Ordnung sei. und ein Heimwehgefühl zu entwickeln. Man sollte
Dieser trat als vertrauenswürdige Autorität auf, jedoch nicht außer Acht lassen, dass es der golde-
und viele ließen sich durch ihn so bestärken, dass sie nen Jungfrau bei Frau Holle zwar objektiv an nichts
sogar die höchsten und zugleich lebensgefährlichen gefehlt hat, sie sich aber – abgeschottet von anderen
Stromschläge gaben. Sie versteckten sich also hinter Menschen – isoliert gefühlt haben dürfte.
der Autorität und zeigten blinden Gehorsam. Auch sollte man nicht vergessen, dass jeder
Dies erinnert sehr an die goldene Jungfrau, Mensch eine Heimat braucht und für viele eine
insbesondere wenn man an ihren Sprung in den schlechte Heimat trotzdem noch besser ist als gar
Brunnen denkt, der normalerweise ihren sicheren keine Heimat. Vor diesem Hintergrund fällt es viel-
Tod bedeutet hätte. Doch die Stiefmutter stellte die leicht auch heutzutage dem einen oder andern leich-
Anforderung an sie, die Spule wieder herauszuholen, ter zu verstehen, warum sich manche Opfer nicht von
und die goldene Jungfrau führte diesen Auftrag auf- ihrem Täter lösen können.
opferungsvoll aus.
z Fragen zur Reflexion
z Fragen zur Reflexion 44Warum kehren misshandelte Frauen zu ihren
44Erleben Sie sich selbst manchmal auch in der Ehemännern zurück?
Position des blinden Ausführens? 44Warum wehren sie sich nicht viel früher?
44Was für Gefahren stecken hinter so einem
Verhalten? Was für Vorteile kann es haben, und
wann ist es unerlässlich? 34.3.3 Glücksempfinden und sozialer
Vergleich

34.3.2 Stockholm-Syndrom Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Glück in seinem


Leben zu finden. Diese Möglichkeiten sind so vielfäl-
Ein weiterer augenscheinlicher Aspekt, der an eine tig, dass es nicht das Patentrezept gibt, das allgemein-
psychologische Theorie erinnert, ist das Verhalten gültig anwendbar wäre. Jeder ist also seines eigenen
der goldenen Jungfrau nach einiger Zeit bei Frau Glückes Schmied.
Holle. Gegen jeden gesunden Menschenverstand Die Theorie des sozialen Vergleichs besagt
äußert sie den Wunsch, auf die Erde zurückkeh- jedoch, dass wir unser eigenes Glück gerne in Rela-
ren zu dürfen, und sie gesteht sogar einen Funken tion zu anderen betrachten (Festinger 1954). Als
Heimweh nach ihrer Familie. Dieses Verlangen Referenzwert können wir entweder jemanden
scheint schwer vorstellbar, war sie doch absolut nehmen, dem es deutlich besser geht als uns (auf-
unterdrückt und kaum geliebt von ihrer Stiefmutter wärtsgerichteter Vergleich), oder wir schauen auf
und Stiefschwester. jemanden herab, dem es deutlich schlechter geht
Dieses Verhalten verweist auf das sog. Stock- (abwärtsgerichteter Vergleich). Doch macht uns das
holm Syndrom (Harnischmacher u. Muether 1987). nicht unbedingt glücklicher, sondern oftmals eher
Hierbei entwickelt ein Opfer eine gewisse Sympa- unglücklicher. Wir verlieren unser eigenes Glück aus
thie für seine/seinen Täter. Dieser oder diese werden den Augen und sehen uns nur noch im Vergleich zu
positiver beurteilt, als dies objektiv gesehen möglich anderen Menschen.
wäre. Die Opfer beginnen, das Verhalten des Täters Das Negativbeispiel der schmutzigen Jungfrau
zu rechtfertigen, es zu verstehen und sogar gutzu- offenbart dies besonders drastisch. Grundsätzlich
heißen. Sie fangen im extremsten Fall an, ihre Täter geht es ihr gut – sie ist die Lieblingstochter, und
zu lieben und die Motive, die hinter dem Handeln es fehlt ihr an nicht. Als jedoch die goldene Jung-
stecken, nachzuvollziehen oder so zu verdrehen, dass frau nach einem wahren Glückstreffer von ihrer
diese für sie angemessen halten. Reise zurückkehrt, beginnt die Witwe einen Plan
Ähnlich verhält es sich mit dem Verhalten der für ihre leibliche Tochter zu schmieden. Diese soll
goldenen Jungfrau. Sie sehnt sich nach ihren Tätern den glücksbringenden Weg der Stiefschwester eben-
und beginnt nach einiger Zeit, diese zu vermissen falls beschreiten, um so einen ebenso große Lohn
264 Kapitel 34 · Frau Holle von den Gebrüdern Grimm (1812)

zu erhalten. Die schmutzige Jungfrau versucht sich Kennen Sie das auch? Denken ist anstrengend
daraufhin als Kopie der Stiefschwester, agiert jedoch und Entscheiden ebenso. Das beginnt bei der Ent-
nur als Abbild und wird diesem nicht einmal ansatz- scheidung für eine Marmeladensorte im Supermarkt
weise gerecht. Folglich schafft sie es auch nicht, ihr und endet mit der Wahl des Berufes oder des Lebens,
Glück in gleicher Weise zu erlangen. Sie findet genau das man führen möchte. Ein Teil unserer Entschei-
das Gegenteil, nämlich ihr Pech. Im wahrsten Sinne dungen lässt sich sicherlich treffen, ohne sich diese
des Wortes, haftet ihr dieses Pech – erlangt aus der stets bewusst zu machen – diese Erleichterungen
Kopie des Glückes eines anderen Menschen – ihr gestalten unser Leben wesentlich einfacher und sind
Leben lang an. sinnvoll. Geht es allerdings um Wichtiges, sollten wir
Das eigene Glück ist losgelöst von den Vorstel- uns der Problematik übereilter Entscheidungen und
lungen, Erwartungen und Wünschen anderer Men- mangelnder Verantwortungsübernahme bewusst sein
schen. Es liegt nicht in der Kopie eines vorgeblich und eingehend reflektieren, wie wir vorgehen wollen.
glücklichen Menschen, es liegt nur in einem selber.
Denn nur dort liegt die Kraft, das goldene Licht
zum Strahlen zu bringen und sein eigenes Glück zu 34.4.2 Leistungs- und Sollerbringung
finden. Alles andere verschwärzt die Seele und lässt
einen nur Unglück finden. An dieser Stelle lohnt es, Die goldene Jungfrau ist ein Paradebeispiel für Leis-
sich selbst und die eigenen Motive zu hinterfragen. tungs- uns Sollerbringung bis zur Selbstaufgabe.
Sie arbeitet und arbeitet bis über die Grenzen der
z Fragen zur Reflexion eigenen Belastbarkeit.
44Wie ist das bei Ihnen? Wo suchen Sie ihr Glück? Das finden wir auch in unserer heutigen Gesell-
44Blicken Sie nach Innen? Oder laufen Sie schaft immer wieder. Wir werden dazu erzogen, Leis-
vielleicht wie die schmutzige Jungfrau einem tung zu erbringen – zuerst in der Schule, dann im
kopierten Glück hinterher? Studium und danach im Beruf. An Kinder, die jetzt
in die Schule kommen, werden immer höheren Leis-
tungserwartungen gestellt, als das zu früherer Zeit
34.4 Bedeutung für die heutige Zeit üblich war. Die Tendenz ist steigend. Der Mensch
muss immer besser werden, immer mehr leisten,
Was können wir nun aus „Frau Holle“ für uns selbst immer früher ein gewisses Niveau erreichen.
mitnehmen? Lässt sich ein Bezug zu unserem heu- Schon im Kindergartenalter erfolgt Frühförde-
tigen Leben herstellen? Im Folgenden werden – ins- rung, es werden Englisch und Chinesisch geübt oder
piriert durch das Märchen – drei Überlegungen weitere Förderungsmaßnahmen installiert, sodass
34 aufgezeigt, die zum Nachdenken, Mitdenken und den Kindern keine andere Wahl bleibt, als in dieses
Durchdenken anregen sollen. Leistungssystem hineinzuwachsen. Sie lernen es
einfach nicht mehr anders. Nur wer alles gibt und zu
geben bereit ist, macht es richtig. Wenn nicht, bricht
34.4.1 Denken und Entscheiden die Welt zusammen. Zumindest wird ihnen das so
beigebracht. Da ist es nicht verwunderlich, dass
Die goldene Jungfrau ergibt sich die meiste Zeit ihrem schon jetzt immer höhere Burn-out-Quoten vorlie-
Schicksal und verrichtet, was von ihr verlangt wird. gen (Statista 2016) und viele Menschen arbeiten bis
Dadurch hat sie ein hartes Leben und muss physisch zum Umfallen.
immer wieder an ihre Grenzen gehen. Denken wir an Doch was ist das Ziel, wie geht es weiter? Was
das Spinnen, bis sie blutige Finger hat, oder an den bringt es der Gesellschaft, wenn die meisten Men-
lebensbedrohlichen Sprung in den Brunnen. Doch schen in ihrer ersten Lebenshälfte das Maximum
auf der anderen Seite hat sie ein einfaches Leben, sie aus sich herausholen, um sich dann in der zweiten
muss nicht viel nachdenken, muss nicht entscheiden, Lebenshälfte davon erholen zu müssen? Recht tref-
sondern richtet sich nach dem, was Autoritäten wie fend sind folgende Worte des Dalai Lama, die zum
die Stiefmutter oder Frau Holle sagen. Nachdenken anregen (Ehrmann 2011, S. 1):
Literaturverzeichnis
265 34
» Der Mensch opfert seine Gesundheit, um Geld Gesellschaft und allen voran von denen, die Sie sich
zu machen. Dann opfert er sein Geld, um seine selbst auferlegt haben!
Gesundheit wiederzuerlangen. Und dann ist
er so ängstlich wegen der Zukunft, dass er die
Gegenwart nicht genießt; das Resultat ist, dass 34.5 Fazit
er nicht in der Gegenwart oder in der Zukunft
lebt; er lebt, als würde er nie sterben, und dann Wie aufgezeigt lassen sich aus dem Märchen „Frau
stirbt er und hat nie wirklich gelebt. (Dalai Holle“ einige interessante psychologische Phäno-
Lama) mene ableiten, die bis in die heutige Zeit wichtig
für die Lebensgestaltung und das Zusammenleben
sind. Die schöne und fleißige Jungfrau wird erst
34.4.3 Glück dann mit Gold überschüttet, als sie das erste Mal
in ihrem Leben für sich selber eintritt, nachdem sie
Das vorherige Zitat des Dalai Lama greift bereits einen sich lange für andere aufgeopfert sein. Sie dient als
wichtigen Punkt auf, der besonders durch die schmut- Vorbild dafür, dass es sich lohnen kann, Fleiß und
zige Jungfrau thematisiert wird. Sie ist das Produkt Durchhaltevermögen zu zeigen und dabei hilfsbereit
der Erziehung ihrer Mutter, lässt sich von dieser ins- und zuvorkommend zu sein. So findet sie ihr eigenes
trumentalisieren und geht den ihr vorgegeben Weg, Glück. Mögen auch Sie auf Ihrem weiteren Lebens-
ohne darüber nachzudenken, ob es auch wirklich ihr weg das Glück finden, das Sie sich wünschen!
Weg ist. Man könnte fast sagen – glücklicherweise –
wird ihr gezeigt, dass es der falsche Weg ist. Doch die
gelernte Lektion bleibt lebenslänglich an ihr haften – Literaturverzeichnis
sie kann sich nie wieder vom Pech befreien.
Ehrmann, W. (2011). Der Dalai Lama - Zitat und Joke. Artikel
Wir bekommen oft genug die Chance, die eine vom 26. Juli 2011. http://wilfried-ehrmann.blogspot.
oder andere Lektion zu lernen – meist ohne einen de/2011/07/der-dalai-lama-zitat-und-joke.html. Zugegrif-
lebenslangen Schaden davonzutragen. Jeder Mensch fen: 10. November 2016.
ist geprägt durch sein Umfeld. Die Menschen, mit Fahrenberg, J., & Steiner, J. M. (2004). Adorno und die autori-
denen wir uns umgeben oder die uns umgeben, täre Persönlichkeit. Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie 56, 127–152.
prägen uns. Wir werden bewusst und unbewusst durch Festinger, L. (1954). A theory of social comparison processes.
sie beeinflusst. Im Idealfall geht dies mit ausgespro- Human Relations 7, 117–140.
chen positiven Erfahrungen einher, wenn wir uns mit Grimm, J., & Grimm, W. (1812) Kinder- und Haus-Märchen,
den zu uns passenden Menschen umgeben. Auf der gesammelt durch die Brüder Grimm: Große Ausgabe (Bd. 1).
Berlin: Realschulbuchhandlung.
anderen Seite kann uns das von unserem Weg abbrin-
Harnischmacher, R., & Muether, J. (1987). Das Stockholm-Syn-
gen, sollten wir in die für uns „falsche Gesellschaft“ drom. Zur psychischen Reaktion von Geiseln und Geisel-
geraten. Wir können uns dabei verlieren und einem nehmern. Archiv für Kriminologie 18, 1–12.
Glück nachstreben, dass gar nicht unseres ist. Dennoch ich.raum. (2013). free.tool – Werte Hierarchie – Welches ist
ist es sehr schwer, sich dessen bewusst zu werden. mein wichtigster Wert? Artikel vom 02. Juni 2013. http://
www.ichraum.de/werte-hierarchie/. Zugegriffen: 10.
Gehen Sie ihren eigenen Weg? Handeln Sie im
November 2016.
Einklang mit ihren Werten? Wissen Sie, was Ihnen Milgram, S. (1963). Behavioral study of obedience. The Journal
wirklich wichtig ist? Ich möchte in diesem Zusam- of Abnormal and Social Psychology 67, 371–378.
menhang auf die Werte Hierarchie verweisen, die Naturpark Meißner-Kaufunger Wald (2011). Geheimnisvolle
online verfügbar ist unter http://www.ichraum.de/wer- Frau Holle … weltberühmt und doch unbekannt. http://
www.urlaub-werratal.nordhessen.de/download.php?ar-
te-hierarchie/ (ich.raum 2013). Sie kommt aus dem
tid={818125dc-518e-0fc5-8bc7-094729bbe1df }. Zuge-
Coaching und kann Ihnen helfen, ein Stück weit zu griffen: 09. November 2016.
sich selbst zu finden. Entdecken Sie Ihre Werte und Statista. (2016). Statistiken und Studien zu Depression und
versuchen Sie nach Ihnen zu handeln, dann werden Burn-out-Syndrom. Online im Internet: URL: http://de.sta-
Sie auch Ihr Glück und Ihren Weg finden. Seien Sie tista.com/themen/161/burnout-syndrom/. Zugegriffen:
10. November 2016.
bei sich und befreien Sie sich von den Zwängen der
267 35

Der alte Großvater und der


Enkel von den Gebrüdern
Grimm (1857)
Julia Käs

35.1 Inhalt des Märchens – 268

35.2 Die Charaktere – 268

35.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 269


35.3.1 Lernen am Modell – 269
35.3.2 Selbstreflexion – 270
35.3.3 Soziale Rollen, Stereotype und selbsterfüllende Prophezeiung – 271

35.4 Fazit – 273

Literaturverzeichnis – 273

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_35
268 Kapitel 35 · Der alte Großvater und der Enkel von den Gebrüdern Grimm (1857)

35.1 Inhalt des Märchens beschrieben, sodass sich weder Wesen oder Tempe-
rament, noch spezifische Eigenheiten der Personen
Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die ausmachen lassen. Ihre Darstellung wirkt sachlich
Augen trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie neutral und ist auf das Nötigste reduziert. Es wird
zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den nur so viel beschrieben, dass es für das Erzählen und
Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das das Verständnis der Geschichte ausreicht. Einzig die
Tischtuch, und es floß ihm auch etwas wieder aus Altersunterschiede und in welcher Beziehung die
dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich Akteure zueinander stehen, wird deutlich hervorge-
davor, und deswegen mußte sich der alte Großvater hoben. So lebt der „alte Großvater“, ein „steinalter
endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie Mann“, mit seinem „Sohn und dessen Frau“ sowie
gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen und seinem „kleinen Enkel von vier Jahren“ als Familie
noch dazu nicht einmal satt; da sah er betrübt nach unter einem Dach. Mit dieser Art, das Märchen zu
dem Tisch, und die Augen wurden ihm naß. Einmal erzählen, unterstreichen die Autoren dessen Allge-
auch konnten seine zitterigen Hände das Schüssel- meingültigkeit. Der Großvater, die Eltern und der
chen nicht festhalten, es fiel zur Erde und zerbrach. Enkel sind jeweils Stellvertreter für eine ganze Gene-
Die junge Frau schalt, er sagte aber nichts und seufzte ration und jeder von uns soll sich in seiner aktuellen
nur. Da kauften sie ihm ein hölzernes Schüsselchen (Alters-)Rolle im Märchen wiederfinden.
für ein paar Heller, daraus mußte er nun essen. Wie Allein durch ihr Handeln lassen der Großvater,
sie da so sitzen, so trägt der kleine Enkel von vier sein Sohn und dessen Frau sowie der Enkel gewisse
Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. „Was Charakterzüge erahnen:
machst du da?“ fragte der Vater. „Ich mache ein Trög- Der Großvater ist mit seinen trüben Augen,
lein,“ antwortete das Kind, „daraus sollen Vater und tauben Ohren und zittrigen Knien schon sehr
Mutter essen, wenn ich groß bin.“ Da sahen sich gebrechlich und verhält sich in allen Situationen
Mann und Frau eine Weile an, fingen endlich an zu passiv. Er protestiert nicht, als er zu wenig zu Essen
weinen, holten alsofort den alten Großvater an den bekommt, vom Tisch weggesetzt wird oder das höl-
Tisch und ließen ihn von nun an immer mitessen, zerne Schüsselchen bekommt, und verbirgt seine
sagten auch nichts, wenn er ein wenig verschüttete. Trauer und Enttäuschung.
(Original zitiert aus Grimm u. Grimm 1857, Sein Enkel dagegen sammelt munter Brett-
S. 398; . Abb. 35.1) lein zusammen und zeigt damit ein natürlich spie-
lerisches und kindgerechtes Verhalten. Außerdem
haftet ihm eine gewisse kindliche Naivität an. Denn
35.2 Die Charaktere wir können nicht davon ausgehen, dass dem Enkel
die Tragweite seines Handelns sowie seiner Bemer-
In dem Märchen „Der alte Großvater und der Enkel“ kung gegenüber den Eltern, auf die Nachfrage was er
35 gibt es keine Charaktere im klassischen Sinne. da mache, bewusst ist. Mit Sicherheit wollte der Enkel
Die Akteure sind gar nicht oder nur sehr dürftig seine Eltern nicht mit Absicht beschämen.
Großvater und Enkel spiegeln somit bezüglich
ihres Alters (jung vs. alt) und ihres Verhaltens (aktiv
vs. passiv) Gegensätze wider, bilden auf der anderen
Seite aber auch eine Art verschworene Einheit, wenn
man sieht wie der Enkel sich – wenn auch unbe-
wusst – für seinen Großvater einsetzt.
Der Sohn des Großvaters und dessen Frau ekeln
sich vor dem Großvater, und besonders die Frau kann
dies nicht oder nur schwer verbergen. Während das
Seufzen des Sohnes, als dem Großvater die Schüs-
sel herunterfällt, verrät, dass er doch nachsichtig mit
ihm ist, bleibt seine Frau gefühlskalt und kann mit
. Abb. 35.1  (Zeichnung: Johanna Frey) ihrem Aufschrei ihre Empörung nicht zurückhalten.
35.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
269 35
Beide Eltern des Enkels schätzen den Großvater nicht dass die Person für den Beobachter wichtig ist, indem
wert, zeigen aber am Ende Einsicht, indem sie ihn sie einen gewissen sozialen Status oder eine gewisse
wieder zurück an den Tisch holen. soziale Macht besitzt. Deshalb sind die Eltern prädes-
tiniert dazu, von ihren Kindern als Vorbilder wahrge-
nommen zu werden, da zu ihnen die Bindung beson-
35.3 Psychologische Phänomene und ders eng ist und, vor allem am Anfang des Lebens,
Implikationen eine große Abhängigkeit zwischen einem Kind und
seinen Eltern besteht. Dies ist erweiterbar auf alle
Jeder der Charaktere in dem Märchen durchläuft näheren Bezugspersonen im Umfeld der Kinder wie
einen eigenen Entwicklungsprozess und lernt hinzu: Verwandte, Erzieher und Lehrer.
Das Kind nimmt seine Eltern als Vorbild wahr und In der Ausführungsphase (Performanz) erfolgt
orientiert sich an ihrem Verhalten, die Eltern wiede- dann die motorische Ausführung der erlernten Ver-
rum werden durch ihren Sohn zur Selbstreflexion haltensweise. Der Enkel sammelt also Brettlein, um
angeregt, und der Großvater erhält seinen Platz am daraus einen Trog zu bauen.
Tisch zurück. Anhand von psychologischen Phäno- Beide Phasen – die Phase des Lernens und die
menen lassen sich diese Prozesse detailliert beschrei- Phase des Handelns – sind voneinander unabhängig.
ben und daraus Implikationen für unser heutiges Es kann durchaus sein, dass ein bestimmtes Verhal-
Leben ableiten. ten erlernt, aber eine lange Zeit nicht gezeigt wird.
Ein Verhalten wird nur dann von dem Beobachter
ausgeführt, wenn es für ihn in einer gewissen Situa-
35.3.1 Lernen am Modell tion sinnvoll erscheint.
Der Enkel sammelt die Brettlein in jenem
Im Märchen sehen wir am Verhalten des Enkels Moment wohl schon zusammen, weil er seinen Eltern
ein schönes Beispiel für das von Albert Bandura damit zeigen möchte, dass er sich um sie sorgt. Er
erforschte Beobachtungslernen, auch Lernen am begreift nicht, dass der Austausch der irdenen durch
Modell genannt (Bandura 1977). Der Enkel möchte die hölzerne Schüssel keine fürsorgliche Geste ist,
für seine Eltern, entsprechend ihrem Vorbild, auch sondern die geringe Wertschätzung der Eltern gegen-
eine hölzerne Schüssel machen, aus der er ihnen über dem Großvater ausdrückt.
später zu Essen geben kann. Dieses Verhalten ist
das Ergebnis eines Lernprozesses, der auf der Beob-
achtung und Nachahmung des Verhaltens eines Implikationen für Erziehung
Modells – dies sind in diesem Fall die Eltern – beruht.
Auf diese Weise können Menschen und insbeson- » Wir brauchen unsere Kinder nicht erziehen, sie
dere Kinder komplexere (soziale) Verhaltensweisen machen uns sowieso alles nach. (Karl Valentin)
erlernen. Der Lernprozess gliedert sich dabei in zwei
Phasen, die Aneignungs- und Ausführungsphase. Kinder sind durch ihre besonders starke emotionale
In der Aneignungsphase (Akquisition) findet Bindung zu ihren Eltern leicht beeinflussbar, da sie
das eigentliche Lernen statt. Das zentrale Element diese vor allem im Kleinkind- und frühen Schul-
in dieser Phase ist die Aufmerksamkeit, die auf das alter ohne Einschränkung als Vorbilder nehmen. Die
Modell und die ausgeführte Handlung gerichtet ist. Eltern in unserem Märchen sind sich nicht bewusst,
Der Enkel muss seine Eltern also aufmerksam dabei dass sie ihren Sohn insbesondere dadurch, dass sie
beobachtet haben, wie sie mit seinem Großvater ihm bestimmte Verhaltensweisen vorleben, erziehen.
umgehen und ihm eine hölzerne Schüssel geben, Auf diese Weise können Eltern ihren Kindern
aus der er essen soll. nicht nur Regeln, z. B. bei Rot nicht über die Ampel
Warum tut der Enkel das? Warum nehmen sich zu gehen, oder gesellschaftliche Normen, z. B. sich
Kinder ihre Eltern zum Vorbild? Das liegt daran, dass zur Begrüßung die Hände zu schütteln, sondern
wir besonders solche Personen als Modell annehmen, auch zwischenmenschliches Verhalten und Weltan-
zu denen eine emotionale Beziehung besteht oder schauungen vermitteln. Also lohnt es sich, zu reflek-
die uns ähnlich sind. Weiterhin ist ausschlaggebend, tieren, wie wir uns in einem Streit verhalten, wie wir
270 Kapitel 35 · Der alte Großvater und der Enkel von den Gebrüdern Grimm (1857)

reagieren, wenn uns jemand provoziert, oder auch stimmt. Sie löst unangenehme Gefühle und Gedan-
wie nachhaltig wir leben. ken in uns aus. Daraufhin erfolgt eine kritische Aus-
Trotzdem hat auch das Zitat von Karl Valentin einandersetzung mit unseren Gefühlen und der
seine Grenzen. Denn es gibt natürlich auch Fälle, in vorherrschenden Situation, indem wir Gedanken
denen Kinder bewusst anders sein wollen als ihre assoziieren, integrieren und validieren und auf die
Eltern – vielleicht weil sie sich schlecht behandelt gegebene Situation anwenden. Abschließend ent-
fühlten oder andere/bessere Vorbilder gefunden wickeln wir auf dieser Basis eine neue Perspektive
haben. Dies wird sich allerdings erst in zunehmen- auf die Situation. Dies spiegelt sich sowohl in einer
dem Alter zeigen, wenn eine Unabhängigkeit von den kognitiven als auch affektiven Veränderung wider,
Eltern möglich und erreicht ist. die wiederum zu einer Veränderung im Verhal-
Für die Erziehung nehmen wir mit, dass es nicht ten führen können, aber nicht müssen (Atkins u.
nur darum geht, in expliziten Situationen sein Kind Murphy 1993).
zu fordern und zu fördern, sondern auch in allen Selbstreflexion ist also ein Lernprozess, den auch
anderen Situationen das eigene Verhalten wegwei- die Eltern des Enkels durchlaufen haben. Die Erfah-
send ist. Das gilt nicht nur für Eltern, sondern auch rung, dass ihr Sohn auch für sie eine hölzerne Schüs-
für alle anderen Personen, die aufgrund ihrer Rolle sel anfertigen möchte, bringt beide zum Nachden-
z. B. als Tante oder Onkel, Erzieher, Lehrer oder auch ken. Die Gefühle und Gedanken, die sie dabei haben,
Prominenter potenzielle Modelle für Kinder sein sind für sie so unangenehm, dass sie sogar anfangen
können. Denn, wie uns das Märchen so schön ver- zu weinen. Wahrscheinlich haben beide noch einmal
deutlich, wir ziehen die Generation groß, die später rekapituliert, wie sie mit dem Großvater umgegan-
einmal für uns und den Rest der Welt Sorge tragen gen sind und ob dieses Verhalten gerechtfertigt war.
wird. Letztendlich kommen beide zu dem Schluss, dass
sie den Großvater wieder zurück an den Tisch holen
möchten. Sie haben also eine neue Perspektive auf
35.3.2 Selbstreflexion die Situation entwickelt, die es ihnen nun erlaubt
über das unappetitliche Verhalten des Großvaters
Nachdem der Enkel seinen Eltern offenbart hat, hinwegzusehen.
wofür er die Brettlein zusammen sucht, sehen sich Damit stellt Selbstreflexion auch immer eine
diese eine Weile an und lassen den Großvater von da Chance dar, aus falschen Entscheidungen oder
an wieder mit bei sich am Tisch essen. Krisen zu lernen und ist somit ein wichtiger Bestand-
Doch was ist passiert, während sich die Eltern teil von Weisheit. Schon im Grimm‘schen Wörter-
angesehen haben? Was hat sie zu der Einsicht buch ist Weisheit als „Erkenntnis seiner selbst und
gebracht, dass ihr Handeln nicht angemessen war? der Welt“ definiert (Grimm u. Grimm 1984). Denn
Man spricht hier von Selbstreflexion. Als Selbstrefle- durch Selbstreflexion erlangen wir Wissen über uns
35 xion bezeichnet man die Fähigkeit, über die eigenen selbst und die Welt auf einer Metaebene. Solches
Gefühle, Gedanken und Einstellungen sowie das Metawissen ermöglicht es uns, Erkenntnisse auch
eigene Handeln nachzudenken. auf andere Kontexte und Problemstellungen anzu-
Dabei wird Selbstreflexion von vielen Wissen- wenden (Staudinger u. Baltes 1996).
schaftlern als mehrstufiger Prozess gesehen, der sich
im Wesentlichen in folgende Stufen gliedert:
1. Bewusstsein über unangenehme Gefühle und Implikationen für Lebensführung
Gedanken In der heute sehr schnelllebigen Zeit hetzen wir oft
2. Kritische Analyse der Gefühle und Situation von einer Sache zur anderen oder beginnen einen
3. Entwicklung einer neuen Perspektive neuen Lebensabschnitt, ohne den alten wirklich
reflektiert zu haben: Wir stürzen uns in neue Bezie-
Anstoß zur Selbstreflexion ist meist eine Erfah- hungen, ohne zu fragen, warum wir uns in der alten
rung, die uns bewusst werden lässt, dass etwas nicht Beziehung nicht mehr wohlgefühlt haben. Wir
35.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
271 35
wechseln von einem Job zum nächsten, ohne uns zu abgleichen kann – stimmen beide gut überein, führt
fragen, was wir uns von unserem nächsten Job erwar- sie erfolgreicher. Aber auch außerhalb solch institu-
ten. Vielleicht bietet es sich an, öfter einmal ein Lear- tionalisierter Formen sollte man sich als Führungs-
ning by Doing durch ein Learning by Thinking zu kraft Feedback von seinen Mitarbeitern einholen,
ersetzen; damit wäre manchem Fehltritt womöglich indem man beispielsweise fragt: „Wie haben Sie mich
vorgeschützt (Di Stefano et al. 2015). heute in dieser Situation erlebt?“
Gönnen Sie sich öfters eine Auszeit und denken Als Führungskraft fällt einem darüber hinaus
Sie über sich selbst nach. Selbstreflexion kann für die Aufgabe zu, andere zum Nachdenken zu bringen
uns eine Chance sein, Probleme und Ansatzpunkte und eventuell sogar Verhaltens- oder Einstellungs-
für Veränderungen, aber auch eigene Stärken zu änderungen bei Mitarbeitern zu erzielen. Ihnen
erkennen. schonungslos den Spiegel vorzuhalten, wie es der
Selbstreflexion geschieht selten nebenbei, wir Enkel mit seinen Eltern getan hat, ist dabei nicht das
müssen uns aktiv Zeit dafür nehmen. Dies können geeignete Vorgehen. Stattdessen kann man als Füh-
wir realisieren, indem wir in unseren Alltag bewusst rungskraft zur Selbstreflexion anregen beziehungs-
Zeiten für Selbstreflexion integrieren – z. B. indem weise eine Hilfestellung geben, indem man als eine
man, bevor man sich Schlafen legt, den Tag noch Art „Sparringspartner“ die richtigen Fragen stellt:
einmal im Bett Revue passieren lässt. Dabei kann man „Wieso haben Sie in dieser bestimmten Situation so
sich selbst fragen, was gut oder schlecht gelaufen ist reagiert? Wie haben Sie das Verhalten Ihres Kollegen
und warum man sich in bestimmten Situationen so wahrgenommen? Wie hat Sie anders herum wohl der
verhalten oder gefühlt hat. Für einige kann es hilfreich Kollege wahrgenommen?“, und den Mitarbeiter aus
sein, diese Gedanken in Form eines Tagebuchs aufzu- neutraler Sicht bei seiner Reflexion begleitet.
schreiben, um nicht in ziellosem Grübeln zu enden. Weitergreifend könnte man diese Vier-Augen-
Außerdem sollte man darauf achten, auch die Gespräche auch auf das ganze Arbeitsteam auswei-
positiven Dinge hervorzuheben, indem man sich ten. Denn eine gemeinsame Reflexion kann sowohl
beispielsweise fragt: Was war heute mein größter der Führungskraft also auch den Mitarbeitern neue
Erfolg? Hilfreich kann es zudem sein, sich Feedback Perspektiven eröffnen, die ihnen möglicherweise
von Freunden oder Familienmitgliedern einzuholen, sonst verborgen bleiben würden. Ganz grundsätz-
um das eigene Selbstbild mit dem Fremdbild anderer lich geht es auch bei der Teamreflexion darum,
abzugleichen und so aktiv Erfahrung zu schaffen, die sowohl auf der Sach- als auch auf der Beziehungs-
zum Nachdenken anregen. ebene im Team darüber zu sprechen, was gut oder
schlecht läuft. Dabei sollte besonders die Reflexion
von gemeinsamen Zielen, Strategien, Prozessen
Implikationen für Führung sowie der eigenen Leistung im Mittelpunkt stehen
Besonders als Führungskraft ist Selbstreflexion (West 2012).
relevant, um das eigene Führungsverhalten zu ver-
bessern. Es ist wichtig, sich selbst, den eigenen
Führungsstil und Entscheidungen regelmäßig zu 35.3.3 Soziale Rollen, Stereotype und
hinterfragen. selbsterfüllende Prophezeiung
Das sog. 360°-Feedback ist ein geeignetes Instru-
ment, um einen Anstoß zur Selbstreflexion zu geben. Die vier Charaktere in dem Märchen erfüllen unter-
Mit dieser Methode zur Einschätzung der Fähigkeit schiedliche Rollen. Die Eltern sind die „Versorger“
und Leistung einer Führungs- oder Fachkraft aus und damit für das Essen und den Haushalt zustän-
unterschiedlichen Perspektiven lässt sich das Feed- dig. Großvater und Enkel dagegen sind auf die Eltern
back sowohl von Mitarbeitern, Vorgesetzten und angewiesen – der Großvater, weil er körperlich nicht
Kunden einholen. Eine Führungskraft erhält somit mehr in der Lage ist, sich selbst zu versorgen, und der
einen vielgestaltigen Überblick zu ihrer Außenwir- Enkel, weil er mit seinen vier Jahren noch zu naiv und
kung, die sie wiederum mit ihrem eigenen Selbstbild unbeholfen ist.
272 Kapitel 35 · Der alte Großvater und der Enkel von den Gebrüdern Grimm (1857)

Auch wir übernehmen im Laufe unseres Lebens bisher im Leben erbrachten Leistungen verliert er
zahlreiche soziale Rollen. Jeder von uns erfüllt meist seinen Platz in der Gesellschaft und wird aus dem
sogar mehrere Rollen gleichzeitig: gesellschaftlichen Leben herausgedrängt.
44Altersrollen: Kind, Jugendlicher, Erwachsener Damit einher geht ein negativer Altersstereo-
etc. typ vom gebrechlichen, abhängigen und hilfsbe-
44Geschlechterrollen: Mann, Frau dürftigen alten Menschen, so wie ihn der Großvater
44Ausbildungsrollen: Grundschüler, Haupt- im Märchen verkörpert. Diese Verallgemeinerun-
schüler, Realschüler, Azubi, Studierender etc. gen führen dazu, dass ältere Menschen sich selbst in
44Berufsrollen: Polizist, Bäcker, Arzt, Sekretär, ihrem Lebensraum beschränken und vielfach Dinge
Psychologe etc. nicht mehr tun, die sie noch tun könnten und die
44Rollen im Privatleben: Vater/Mutter, Sohn/ ihnen Spaß machen würden, aus Angst davor, von
Tochter, Freund, Ehepartner, Vereinsmitglied anderen dafür belächelt zu werden.
etc. Das bedeutet, die Erwartungen anderer Men-
schen an das Verhalten alter Menschen bringt diese
Alle diese sozialen Rollen sind implizit mit Rollen- erst dazu, „altersgemäße“ Verhaltensweisen zu
erwartungen verknüpft. Es existieren also Vorstel- zeigen (Harwood et al. 1995). In der Sozialpsycho-
lungen davon, wie man sich in einer bestimmten logie bezeichnet man dieses Phänomen als selbst-
Rolle verhalten sollte und wie diese Rolle auszufül- erfüllende Prophezeiung (Jussim 1986). Das heißt
len ist: Ein Erwachsener sollte vorausschauend und den Satz „Man ist so alt, wie man sich fühlt“ müsste
umsichtig handeln, eine Mutter sollte ihren Kindern man demnach abändern in „Man ist so alt, wie man
viel Zeit widmen und sich um sie kümmern, ein sich aufgrund der Einstellungen und Erwartungen
Polizist sollte sich für Recht und Ordnung einset- der Gesellschaft an einen selbst fühlt“ (Lehr 2007).
zen und unbestechlich sein. Die Beispiele ließen sich
fortführen.
Doch welche Rolle übernehmen ältere Men- Mögliche Lösungen zur
schen wie der Großvater im Märchen? In früheren Generationsproblematik
Gesellschaften, als die Menschen noch nicht so alt Um negative Altersstereotype abzubauen und die
wurden wie heute, wurden ältere Menschen beson- damit einhergehenden Effekte von selbsterfüllenden
ders geachtet. Sie übernahmen häufig die Rolle des Prophezeiungen zu reduzieren, müssen wir wieder
Ratgebers, waren Übermittler der Traditionen und mehr mit alten Menschen in Kontakt treten, sie als
wurden aufgrund ihrer Erfahrung geschätzt. Außer- vollwertigen Teil der Gesellschaft sehen und vor
dem waren die Großeltern meist für die Kinderbe- allem auch wieder wertschätzen lernen. Wir dürfen
treuung zuständig, während die Eltern die Arbeit die Lebensleistung älterer Menschen nicht ignorie-
verrichteten. Dieses Rollenverständnis gilt in unserer ren, denn wir bauen auf dem auf, was sie erarbeitet
35 Zeit schon lange nicht mehr. Die Weitergabe von haben.
Wissen und Informationen wird heutzutage weit- Gleichzeitig geht es neben dem Respekt, den die
gehend durch moderne Technologien bewerkstel- Gesellschaft den älteren Menschen entgegenbringen
ligt und durch den Strukturwandel der Familie sind sollte, aber auch darum, dass die ältere Generation
familiäre Funktionen wie die Kinderbetreuung auf sich selbst respektieren lernen muss. Sie dürfen die
andere gesellschaftliche Systeme übergegangen (Lehr von der Gesellschaft hoch gehaltenen Altersstereo-
2007). type nicht einfach übernehmen und sich von diesen
Erfüllen alte Menschen in unserer Gesellschaft nicht einschränken lassen. Stattdessen braucht es
also keine Aufgabe mehr? Kommt ihnen keine Rolle eine ältere Generation, die sich dagegen zur Wehr
mehr zu? Tatsächlich kann man in Anbetracht der setzt und für sich den nötigen Selbstrespekt auf-
Tatsachen von einer Art Rollenverlust alter Men- bringt. Denn nicht das Alter an sich ist ein Problem,
schen sprechen. Produktive Effizienz und Fortschritt sondern unser aller Einstellung dazu.
bilden das neue Leitbild unserer Gesellschaft, dem Mehrgenerationenhäuser, die generationen-
der alte Mensch zum Opfer fällt. Ungeachtet der übergreifend als Wohnraum sowie Treffpunkt
Literaturverzeichnis
273 35
genutzt werden, eignen sich beispielsweise bestens Di Stefano, G., Gino, F., Pisano, G., & Staats, B. (2015). Learning
by thinking: Overcoming the bias for action through reflec-
dafür, möglicherweise vorhandene Vorurteile abzu-
tion. Cambridge, MA, USA: Harvard Business School.
legen. Die Projekte fördern den Austausch zwischen Harwood, J., Giles, H., & Ryan, E. B. (1995). Aging, communicati-
den Generationen auf der Basis von gegenseiti- on, and intergroup theory: Social identity and intergene-
ger Bereitschaft zu alltäglichen Hilfen. Von diesen rational communication. In: J. F. Nussbaum & J. Coupland
Hilfen profitieren nicht nur ältere Menschen, wenn (Ed.), Handbook of communication and aging research
(S. 133–160). Hillsdale: Erlbaum.
z. B. jemand den Einkauf für sie erledigt, sondern ins-
Jussim, L. (1986). Self-fulfilling prophecies: A theoretical and
besondere auch Familien mit Kindern, die so auch integrative review. Psychological Review 93, 429–445.
spontan jemanden für die Kinderbetreuung finden. Lehr, U. (2007). Psychologie des Alterns. Wiebelsheim: Quelle &
Es kommt also darauf an, die Stärken des Alters zu Meyer.
erkennen und auch zu nutzen. Staudinger, U. M., & Baltes, P. B. (1996). Weisheit als Gegen-
stand psychologischer Forschung. Psychologische Rund-
Doch neben solchen alltäglichen Gefälligkei-
schau 47, 57–77.
ten, können wir auch den Erfahrungs- und Wis- West, M. (2012). Effective teamwork: Practical lessons from orga-
sensschatz älterer Menschen nutzen. Projekte wie nizational research. Hoboken, NJ: Wiley.
„Helden im Ruhestand“ setzen hier an der richti-
gen Stelle an, indem sie Menschen in den aktiven
Ruhestand begleiten. Das tun sie, indem sie Pers-
pektiven aufzeigen und altersgerechte Angebote für
gesellschaftliches Engagement vermitteln. Somit
können ältere Menschen auch weiterhin etwas zum
gesellschaftlichen Leben beitragen und dadurch das
Selbstbewusstsein entwickeln, das ihrer Lebensstufe
entspricht.

35.4 Fazit

Der Intention der Autoren folgend, die die Cha-


raktere wenig spezifisch illustriert haben, wird
das Märchen bis heute seiner Allgemeingültigkeit
gerecht. Der alte Großvater, die Eltern und der Enkel
zeigen uns wunderbar eindrücklich auf, worauf es im
Zusammenleben und in unserer Gesellschaft letzt-
lich ankommt: Akzeptanz, Fürsorge und Respekt für
sich und die anderen über alle Generationen hinweg!

Literaturverzeichnis

Atkins, S., & Murphy, K. (1993). Reflection: A review of the lite-


rature. Journal of Advanced Nursing 18, 1188–1192.
Bandura A. (1977). Social learning theory. Englewood Cliffs,
N.J.: Prentice Hall.
Grimm, J., & Grimm, W. (1857). Kinder- und Haus-Märchen,
gesammelt durch die Brüder Grimm: Große Ausgabe (Bd.
1, 7. Aufl.). Göttingen: Verlag der Dieterichschen Buch-
handlung.
Grimm, J., & Grimm, W. (1984). Deutsches Wörterbuch. Nach-
druck der Erstausgabe von 1854. München: Deutscher
Taschenbuch Verlag.
275 36

Die drei kleinen Schweinchen


von Joseph Jacobs (1890)
Katharina Sagstetter

36.1 Inhalt des Märchens – 276

36.2 Die Charaktere – 276

36.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 277


36.3.1 Erziehungskontext: Vorbereitung auf ein selbstständiges
Leben – 278
36.3.2 Arbeitskontext: Gemeinsame Ziele, Bedürfnisse und
Motivation – 279
36.3.3 Sozialer Kontext: Lernen und Helfen – 280
36.3.4 Kritische Bewertung zur Moral in der Geschichte – 281

36.4 Fazit – 281

Literaturverzeichnis – 282

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_36
276 Kapitel 36 · Die drei kleinen Schweinchen von Joseph Jacobs (1890)

36.1 Inhalt des Märchens Kessel mit Wasser auf die Feuerstelle. Schließlich
fiel der Wolf in den Kessel mit kochendem Wasser,
Es war einmal eine alte Schweinemutter, die drei und die Schweinchen setzten einen Deckel darauf.
kleine Schweinchen aufzog, bis sie so groß waren, Vor Freude, den bösen Wolf bezwungen zu haben,
dass sie in ihrem Haus keinen Platz mehr hatten. Also tanzten sie um den Kamin und sangen: „Der Wolf
schickte sie sie raus in die weite Welt und gab ihnen ist tot, der Wolf ist tot, ein Ende hat die große Not!“
mit auf den Weg, dass sich jedes der Schweinchen ein Nach diesem erschreckenden Erlebnis beschlossen
eigenes Haus bauen sollte. die ersten beiden Schweinchen, sich ebenfalls Häuser
Das erste Schweinchen traf auf einen Mann, der aus Ziegelsteinen zu bauen.
ein Bündel Stroh bei sich hatte, und tauschte seine (Jacobs 1890; . Abb. 36.1)
Borsten gegen das Stroh, um sich damit ein Haus zu
bauen. Der Mann half ihm dabei, und so setzten sie Anmerkung  Joseph Jacobs wurde am 29. August
eine große Vordertür und eine kleine Hintertür in 1854 in Sydney geboren und starb am 30. Januar 1916
das Haus. Als es fertig war, war das Schweinchen froh in Yonkers. Als australischer Historiker und Litera-
und fühlte sich sicher vor dem bösen Wolf. Auch das turwissenschaftler war er einer der berühmtesten
zweite Schweinchen begegnete einem Mann. Dieser Kindermärchenautoren des 19. Jahrhunderts. Jacobs
trug ein Bündel Holz mit sich, und so tauschte das war ein Sprachentalent: Er übersetzte hebräische,
Schweinchen seine Borsten gegen das Holz des spanische und italienische Werke und veröffent-
Mannes, um sich ein Haus zu bauen. Der Mann half lichte neue Versionen englischer Klassiker (Bergman
dem zweiten Schweinchen, und sie setzten ebenso 1983). Die Märchensammlung English Fairy Tales,
zwei Türen ein, eine große Tür vorne und eine kleine in der auch das Märchen „Die drei kleinen Schwein-
hinten. Das zweite Schweinchen fühlte sich ebenso chen“ veröffentlicht wurde, zählt zu seinen bekann-
sicher und war froh mit seinem neu erbauten Haus. testen Werken (Encyclopaedia Britannica 2016).
Als das dritte Schweinchen einen Mann traf, der
einen Karren voller Ziegelsteine zog, tauschte es
seine Borsten gegen die Ziegelsteine und baute sich 36.2 Die Charaktere
mit der Hilfe des Mannes ein Haus aus Ziegeln mit
einer großen Vordertür und einer kleinen Hinter- Die Hauptcharaktere des Märchens, die drei kleinen
tür. Schließlich war auch das dritte Schweinchen froh Schweinchen, bauen sich ihre Häuser aus unter-
und fühlte sich sicher vor dem Wolf. schiedlichen Materialien. Man kann sich nun fragen,
So lebten die drei Schweinchen glücklich und ob es Glück des dritten Schweinchens war, Ziegeln zu
zufrieden bis eines Tages der böse Wolf zum Stroh- bekommen, um damit ein Haus zu bauen. Vermut-
haus kam. Da ihn das erste Schweinchen auf sein lich nicht, da dieses auch am Ende den durchdachten
Bitten nicht ins Haus ließ, hustete und prustete er so Vorschlag äußert, einen Kessel mit Wasser aufs Feuer
lange, bis das Strohhaus zusammenfiel. Zum Glück zu stellen, um den bösen Wolf endgültig zu bezwin-
konnte sich das erste Schweinchen durch die Hin- gen. Das zweite Schweinchen ist fast ebenso gewieft,
36 tertür in das Holzhaus des zweiten retten. Doch baut sein Haus aus Holz und hat die Idee, Feuer zu
auch das Holzhaus konnte der Wolf mit Husten und machen, als der Wolf durch den Kamin in das Zie-
Prusten zum Einsturz bringen, sodass sich die zwei gelhaus eindringen will. Im Gegensatz dazu ist das
kleinen Schweinchen zum dritten ins Ziegelhaus erste Schweinchen unbedacht und baut ein Stroh-
retten mussten. Am Ziegelhaus scheiterte der Wolf, haus. Außerdem zeigt es in der Notsituation keine
da er es mit Husten und Prusten nicht einstürzen Initiative und wäre ohne seine Geschwister vermut-
lassen konnte. lich verloren.
So fasste der Wolf den Plan, durch den Kamin Die Schweinemutter kommt nur zu Beginn
in das Haus einzudringen. Das erste Schweinchen des Märchens vor. Sie hat ihren Erziehungsauftrag
fragte verzweifelt: „Was sollen wir nur tun?“ Dar- für sich selbst bereits abgeschlossen und stellt ihre
aufhin beschloss das zweite Schweinchen, Feuer Kinder vor die Herausforderung, sich eigene Häuser
im Kamin zu machen, und das dritte setzte einen zu bauen.
36.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
277 36

. Abb. 36.1  (Zeichnung: Claudia Styrsky)

Ein weiterer Charakter ist ein fremder Mann, Lage, dem Tod zu entkommen. Hätten sie nicht einen
der den Schweinchen verschiedene Materialien zum solch starken Zusammenhalt, möchte man sich gar
Tausch anbietet. Man kann durchaus davon ausge- nicht ausmalen, wie das Märchen ausgegangen wäre.
hen, dass es immer der gleiche Mann ist, da er jedem Wenn die Familie nicht in der Nähe ist, muss man
Schweinchen hilft, das Haus aufzubauen, und dabei häufig auf die Hilfe von Freunden, Bekannten oder
an eine Hintertür denkt, durch die sich zwei der drei sogar Fremden bauen. So ist es auch im Märchen: Die
Schweinchen retten können. Hilfestellung des Mannes, der ihnen Rohstoffe zur Ver-
Der letzte Charakter, der im Märchen vorkommt, fügung stellte und beim Hausbau half, obwohl sie ihn
ist der böse Wolf, das Feindbild der drei kleinen zuvor nicht kannten, war äußerst nützlich. Hätten sie
Schweinchen. Das dritte Schweinchen ist ihm mit diese Hilfe nicht angenommen und keine Hintertür
seinem Haus und der Idee, den Kessel auf das Feuer eingebaut, wären die ersten beiden Schweinchen ver-
zu setzen, überlegen. So schaffen es die Schweinchen, mutlich dem Wolf zum Opfer gefallen. Glücklicher-
den Wolf zu überlisten, was für ihn den Tod bedeutet. weise haben sie die Hilfe angenommen und konnten
sich so zum jeweils anderen Schweinchen retten. Hil-
festellung von anderen anzunehmen, besteht dabei aus
36.3 Psychologische Phänomene und zwei Komponenten. Einerseits muss man bereit sein,
Implikationen Hilfe anzunehmen. Andererseits ist die Basis dafür, dass
es hilfsbereite Menschen gibt, die Unterstützung anbie-
Die drei kleinen Schweinchen machen deutlich, wie ten. In der heutigen Gesellschaft ist dies keine Selbst-
wichtig familiärer Zusammenhalt ist, vor allem wenn verständlichkeit, weshalb es wichtig ist, dass Autoren
Gefahr droht. Sie halten zusammen und sind in der wie Jacobs in ihren Texten darauf aufmerksam machen.
278 Kapitel 36 · Die drei kleinen Schweinchen von Joseph Jacobs (1890)

Zudem lehrt uns der Autor, dass man nicht von überlegen, fragt es die anderen beiden am Ende:
einem auf den anderen Tag selbstständig ist und „Was sollen wir nur tun?“, in der Hoffnung, diese
vernünftige Entscheidungen treffen kann. Auch könnten etwas unternehmen. Es glaubt nicht daran,
im wahren Leben ist klar: Erwachsenwerden geht mit seinen eigenen Fähigkeiten etwas bewirken zu
nicht von heute auf morgen. Dazu braucht man können. Glücklicherweise erwarten die anderen
den Rat älterer Ansprechpartner, beispielsweise beiden Schweinchen mehr Selbstwirksamkeit und
den der Eltern, und muss zudem selbst Erfahrun- schmieden schnell einen Plan, der allen dreien das
gen sammeln. Eine solche Erfahrung ist die Begeg- Leben rettet. Hätte die Mutter in der Erziehung des
nung der Schweinchen mit dem bösen Wolf. Es ersten Schweinchens mehr Wert auf Selbstständig-
bringt alle drei einen Schritt weiter in ihrem Leben, keit gelegt, hätte es womöglich eine höhere Selbst-
und sie erkennen, wie wichtig vorausschauendes wirksamkeitserwartung und dadurch in der gefähr-
Denken und Handeln ist. Ein Haus aus Stroh, um lichen Situation eine Idee generieren können.
sich vor dem Wolf zu schützen, war jedenfalls nicht Aus der mangelnden Selbstwirksamkeitser-
der richtige Weg. Auch wir stoßen immer wieder auf wartung des ersten Schweinchens können wir auch
Erlebnisse, die uns zeigen, was wir in Zukunft besser etwas für die Erziehung im echten Leben lernen: Es
unterlassen sollten oder besser lösen könnten. ist wichtig, seinen Kindern die Möglichkeit zu geben,
Selbstwirksamkeit zu erfahren. Das bedeutet, dass
z Fragen zur Reflexion man sie auch sich selbst überlassen muss und ihnen
44Hatten Sie in letzter Zeit ein Erlebnis, das Sie Aufgaben zutragen sollte, die eigenständig zu lösen
einen Schritt nach vorne gebracht hat? sind.
44Welche Erfahrungen, die Sie in der Vergan- Dabei ist es wichtig, sie mit Problemstellungen zu
genheit gemacht haben, sind Ihnen bis heute im konfrontieren, die eine Herausforderung darstellen,
Gedächtnis geblieben? ähnlich wie es die Schweinemutter gemacht hat. Jedoch
sollte die Lösung des Problems nicht unmöglich sein,
sonst würde man nur Frustration hervorrufen. Ver-
36.3.1 Erziehungskontext: mutlich war das erste Schweinchen im Vergleich zu
Vorbereitung auf ein seinen Geschwistern mit der Situation überfordert.
selbstständiges Leben Wenn man erkennt, dass die Aufgabe (noch)
nicht alleine bewältigt werden kann, kann man
Das Märchen gibt uns mit auf den Weg, wie wichtig durchaus Hilfestellung anbieten. Dabei ist darauf zu
es ist, Kinder auf das Leben vorzubereiten. Vor allem achten, dem Kind nicht das Ruder aus der Hand zu
das erste Schweinchen hätte wissen müssen, dass ein nehmen. Als Erziehungsperson muss man hierfür
Haus aus Stroh nicht sicher ist. Jedoch erhielt es von das richtige Maß finden und sollte auf den Charak-
seiner Mutter diesbezüglich keinen Ratschlag. So ter des Kindes eingehen. Es gibt Kinder, die ohnehin
hat sie nicht ausreichend für die Grundlage gesorgt, vieles selbst ausprobieren, denen man eher Rich-
die das erste Schweinchen für eine gesunde Wahr- tung geben muss. Zurückhaltende Kinder brauchen
36 nehmung seiner Selbst sowie seiner Befähigung häufig erst den Antrieb, um sich Herausforderun-
gebraucht hätte. gen zu stellen.
Dies trifft auch auf das erste Schweinchen zu.
Es hätte von seiner Mutter mehr dazu angetrieben
Selbstwirksamkeit werden müssen, sich Problemen zu stellen. Sie hätte
Unter Selbstwirksamkeitserwartung versteht man ihm beispielsweise Aufgaben stellen können, die es
die Einschätzung darüber, was man mit seinen ohne die Hilfe der Geschwister lösen sollte, oder es
eigenen Fähigkeiten erreichen kann (Bandura 1977). dazu animieren können, sich handwerklich zu betä-
Diese erwartete Selbstwirksamkeit ist beim tigen. Dann hätte es den Hausbau mit mehr Selbst-
ersten Schweinchen offensichtlich am gerings- sicherheit angehen können und vermutlich von vor-
ten ausgeprägt. Anstatt sich selbst eine Lösung zu neherein ein stabileres Material gewählt.
36.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
279 36
Geschwisterliebe und familiärer Identität an, die hauptsächlich auf dem für die Eigen-
Zusammenhalt gruppe (Ingroup) vorteilhaften Vergleich mit einer
Abgesehen davon, dass man seine Kinder auf das relevanten Fremdgruppe (Outgroup) basiert.
Leben vorbereiten soll, ist es auch wichtig Geschwis- Im Märchen gibt es keine Fremdgruppe im klas-
terliebe und familiären Zusammenhalt zu betonen. sischen Sinne, jedoch stellt der Wolf einen Gegenpol
Das haben auch die Schweinchen in ihrer Kind- zu den Schweinchen dar. Das Bezwingen des Wolfes
heit gelernt, da sie in der schwierigen Situation stärkt ihren Zusammenhalt, was zu einer positiven
zusammengehalten haben und nur dadurch die sozialen Identität der Schweinchen führt.
ersten beiden gerettet werden konnten. Auch in menschlichen Teams, z. B. im Organisa-
Wenn man schon in der Kindheit erfährt, wie för- tionskontext, ist es wesentlich ein gemeinsames Ziel
derlich der Zusammenhalt unter Geschwistern sein zu verfolgen, wobei Rahmenbedingungen und Ent-
kann, hilft das auch bei künftigem Verhalten in der wicklungsmaßnahmen für das Team durch die Füh-
Schule oder im Berufsleben. Man weiß, wie Geben rungskraft gesteuert werden. In der Teamentwick-
und Nehmen funktioniert, und ist für verschiedenste lung stehen soziale und aufgabenbezogene Prozesse
soziale Situationen gewappnet. Bei Einzelkindern innerhalb des Teams im Fokus, es sollen in direkter
können die Funktion der Geschwister natürlich die Interaktion Barrieren abgebaut, Rollenbilder geklärt
Eltern oder befreundete Kinder übernehmen. und zwischenmenschliche Beziehungen verbessert
werden (Nerdinger 2014, S. 114).
z Fragen zur Reflexion Im Märchen wirkt die gemeinsame Bewälti-
44Wie haben Sie als Kind familiären Zusam- gung des Wolfes wie eine Teamentwicklungsmaß-
menhalt erfahren? nahme, da die Geschwister erfahren, wie nützlich es
44Hat Sie dieser in Ihrer Selbstwirksamkeits- ist, zusammenzuhalten. Außerdem klären sich durch
erwartung beeinflusst? die gefährliche Situation ihre Rollen, wobei das dritte
Schweinchen die Führungsposition einnimmt, das
zweite die Rolle des Unterstützers und das dritte als
36.3.2 Arbeitskontext: Gemeinsame Mitläufer agiert.
Ziele, Bedürfnisse und
Motivation
Bedürfnispyramide von Maslow
Zu Beginn waren die Schweinchen auf sich alleine In ihrem Dreierteam verfolgen die Schweinchen
gestellt, was sich als gefährlich herausstellte, da sie das gemeinsame Ziel, sicher und geschützt vor dem
vom Wolf angegriffen wurden. Um sich gegen den bösen Wolf zu sein.
Wolf zu wehren, haben sie sich zusammengeschlos- Hier geht es nach der Bedürfnispyramide von
sen, wobei das dritte Schweinchen mit seinem Zie- Maslow (1943) um eines der grundlegendsten
gelhaus eine Leitposition einnahm. Das gemeinsame menschlichen Bedürfnisse, die Sicherheit. Er geht
Ziel, den Wolf zu bezwingen, hat ihrem Team eine davon aus, dass manche Bedürfnisse anderen vor-
Richtung gegeben. Durch die Abgrenzung zu einem angehen, was die Handlungsmotivation beeinflusst.
außenstehenden Faktor (dem Wolf) ist die Dreier- Dabei bilden physiologische Bedürfnisse die Basis
gruppe zusammengewachsen. der Bedürfnispyramide, worauf die Sicherheitsbe-
dürfnisse folgen. Wenn diese gewährleistet sind,
denkt man an soziale Bedürfnisse, die Maslow als
Theorie der sozialen Identität und Liebes-, Zuneigungs- und Zugehörigkeitsbedürf-
Teamentwicklung nisse bezeichnet. Sind diese wiederum sicherge-
Laut der Theorie der sozialen Identität (Tajfel u. stellt, hegt man Bedürfnisse nach Wertschätzung
Turner 1979) hat jeder Mensch neben seiner per- wie Selbstrespekt, Selbstachtung und Ansehen. An
sönlichen Rolle auch verschiedene soziale Identitä- der Spitze der Pyramide steht das Bedürfnis der
ten. Man strebt dabei vor allem eine positive soziale Selbstverwirklichung.
280 Kapitel 36 · Die drei kleinen Schweinchen von Joseph Jacobs (1890)

Im Märchen ist diese Rangfolge der Bedürfnisse Vereinfacht lässt sich das Modelllernen folgen-
daran zu erkennen, dass die Schweinchen zuerst dermaßen beschreiben (Kauffeld 2010, S. 42f.):
sicher vor dem Wolf sein mussten, um sich weiter- 1. Die Aufmerksamkeit muss bewusst auf den
zuentwickeln. Sobald der Wolf tot und die Schwein- relevanten Aspekt gelenkt werden. Im Fall
chen in Sicherheit waren, hatten das erste und das der Schweinchen wird die Aufmerksamkeit
zweite Schweinchen die Motivation, sich auch ein unweigerlich auf die Vorzüge des Ziegelhauses
Ziegelhaus zu bauen. gelenkt.
Übertragen auf den Arbeitskontext bedeutet dies, 2. Im nächsten Schritt werden Gedächtnispro-
dass zuerst Arbeitsplatzsicherheit gewährleistet sein zesse relevant. Dabei wird die Beobachtung
sollte, um Motivation für weitere Bedürfnisse, z. B. des Modells abgespeichert und die Informa-
der beruflichen Selbstverwirklichung, schöpfen zu tionen werden gedanklich oder handlungs-
können. mäßig wiederholt. Die Schweinchen
wiederholen vermutlich die Begegnung
z Fragen zur Reflexion mit dem Wolf und die Rettung durch
44Welche Ausgangsfaktoren empfinden Sie das Ziegelhaus gedanklich immer wieder,
als essenziell, um sich im Beruf entfalten zu sodass das Modell „Ziegelhaus bedeutet
können? Sicherheit“ in ihrem Gedächtnis abgespeichert
44Was motiviert Sie in Ihrem Beruf? Was wird.
empfinden Sie als Hemmnis? 3. Als nächstes folgt die Reproduktion des
Gelernten. So ahmen die ersten beiden
Schweinchen das dritte nach, indem sie nach
36.3.3 Sozialer Kontext: Lernen und dem schrecklichen Ereignis selbst Häuser aus
Helfen Ziegeln bauen.
4. Abschließend beleuchtet man die Motivation
Im Märchen wird der Wert des Familienzusam- zur Handlung, der die Selbstwirksamkeits-
menhalts und die Tatsache, dass man gemeinsam erwartung vorangeht (7 Abschn. 36.3.1).
in der Gruppe stark ist, betont. Hierdurch wird Nachdem die Schweinchen dem Tod so knapp
auch vermittelt, dass Familie ein gewisses Maß an entronnen sind, haben sie die Motivation,
Sicherheit bedeutet. Gruppen bieten aber nicht nur mehr Mühe für den Bau eines sicheren Hauses
Schutz, sondern auch die Möglichkeit voneinander aufzuwenden. Zudem ist die Selbstwirksam-
zu lernen. keitserwartung der Schweinchen, nachdem sie
So lernen das erste und das zweite Schwein- den Wolf bezwingen konnten, offensichtlich
chen aus ihrer Begegnung mit dem Wolf, dass ein groß genug, um sich tatsächlich selbst Ziegel-
Stroh- beziehungsweise Holzhaus nicht genügend häuser zu bauen.
Schutz bietet. Sie ziehen daraus ihre Lehre und
bauen sich nach dem erschreckenden Erlebnis auch
Prosoziales Verhalten und Altruismus
36 jeweils ein Ziegelhaus nach dem Vorbild des dritten
Schweinchens. Neben dem Familienzusammenhalt steht auch pro-
soziales Verhalten im Fokus des Märchens. Darunter
versteht man die Form des Hilfeverhaltens, die nicht
Soziales Lernen und Lernen am Modell auf beruflicher Verpflichtung beruht oder von einer
Diese Art des Lernprozesses kann man als soziales Organisation ausgeführt wird.
Lernen beschreiben, bei dem eine andere Person Das zweite und das dritte Schweinchen, die das
als Modell dient. Der Wegbereiter des Lernens am erste beziehungsweise die ersten beiden Schwein-
Modell war Albert Bandura, der hervorhob, dass eine chen in ihr Haus lassen, zeigen prosoziales Verhal-
besondere Eigenschaft des Menschen die Fähigkeit ten. Ebenso, wie es der fremde Mann tut, der den
ist, sich Wissen und Fertigkeiten durch Modelllernen Schweinchen beim Hausbau hilft und ihnen mit dem
anzueignen (Bandura 1976). Einbau der Hintertür indirekt das Leben rettet.
36.4 · Fazit
281 36
In diesen Fällen wäre zu diskutieren, ob es sich mehr Eigenverantwortung erwarten können. Es hätte
dabei um Altruismus handelt, also um prosozia- reflektierter bei der Wahl des Materials für sein Haus
les Verhalten mit dem obersten Ziel, einer anderen vorgehen und am Ende, bei der Überführung des
Person zu nützen, ohne dabei eigene Interessen zu Wolfes, eigene Ideen einbringen können, anstatt sich
verfolgen und daraus einen Vorteil zu nehmen (vgl. auf die Hilfe der anderen zu verlassen.
Bierhoff 2007, S. 299). In Bezug auf den Wolf gibt es zwei moralische
Der Mann hat zwar die Borsten als Gegenleis- Aspekte, über die man sich Gedanken machen
tung für das Baumaterial erhalten, jedoch hat er ohne sollte. Einerseits verhält sich der Wolf sehr hinter-
zusätzliche Gegenleistung beim Hausbau geholfen. hältig, indem er höflich fragt, ob er ins Haus hinein-
Vermutlich wollte er die jungen Schweinchen einfach kommen kann, und gleichzeitig den Hintergedan-
unterstützen. Bei den Schweinchen ist es nicht ken hat, die Schweinchen zu fressen. Andererseits
ganz so klar, da sie gemeinsam stärker waren, um wird er am Ende grausam getötet, indem er in einem
den bösen Wolf zu bezwingen und vermutlich das Kessel voll Wasser lebendig gekocht wird. Hier ver-
Bezwingen des Wolfes oberstes Ziel war. Das dritte läuft das Märchen nach dem Prinzip, Gleiches mit
Schweinchen hätte jedoch seine Geschwister nicht Gleichem zu vergelten. Doch hätte man den Wolf
ins Haus lassen müssen, was wiederum auf altruisti- nicht auch auf eine weniger brutale Art überfüh-
sches Verhalten hindeutet. ren können?
Wenn man auch im echten Leben prosoziales Es bietet sich vor allem beim Vorlesen des Mär-
Verhalten an den Tag legt, kann man viel bewirken chens an, diese Kritikpunkte anzusprechen und
und womöglich sogar Leben retten. gemeinsam mit den Kindern zu reflektieren.

z Fragen zur Reflexion


44Erinnern Sie sich an Situationen, in denen 36.4 Fazit
Ihnen prosoziales Verhalten entgegengebracht
wurde? Ein wesentlicher Aspekt, den wir aus dem Märchen
44Was hätten Sie ohne diese Hilfe gemacht? mitnehmen können, ist die Bedeutung des Zusam-
menhalts in der Familie und in Gruppen. Wenn sich
Einzelpersonen zusammenschließen, können sie
36.3.4 Kritische Bewertung zur Moral in Probleme besser bewältigen, da jeder andere Ideen
der Geschichte und Ressourcen einbringen kann. Aufgrund ihres
Gruppenzusammenhalts können die drei Schwein-
Es ist wichtig, das Märchen auch mit einem kriti- chen sogar den bösen Wolf bezwingen.
schen Blick zu betrachten. So hilft der fremde Mann Zudem kann prosoziales Verhalten, das man
den Schweinchen einerseits, verkauft aber anderer- als Einzelner zeigt, einen positiven Einfluss auf
seits dem ersten Schweinchen Stroh für den Hausbau. das Leben anderer haben und sogar Leben retten.
Dieses Verhalten stellt sich als fahrlässig heraus und Abgesehen davon, dass wir in sozialen Situationen
hätte dem Schweinchen beinahe das Leben gekostet. Hilfe erfahren können, ist es uns auch möglich, von
Auch der Schweinemutter ist aus moralischer anderen zu lernen. Indem wir unser Umfeld reflek-
Sicht ein Vorwurf zu machen. Sie stellt ihre drei tiert wahrnehmen, können wir für uns Relevan-
kleinen Schweinchen vor vollendete Tatsachen: Sie tes herausziehen und selbst anwenden. Die ersten
müssen in die Welt hinaus, um sich eigene Häuser zu beiden Schweinchen erkannten den Nutzen eines
bauen. Jedoch ist sie selbst ihrer Pflicht nicht vollum- Ziegelhauses zwar erst, nachdem sie hier Schutz vor
fassend nachgekommen und hat vor allem das erste dem Wolf fanden, sie erwarben aber gleichzeitig die
Schweinchen nicht ausreichend auf das Leben in Motivation und Kompetenz, eines zu bauen.
der weiten Welt vorbereitet, sodass es bald in Gefahr Die Bedürfnispyramide von Maslow zeigt, dass
gerät. wir uns nur weiterentwickeln können, wenn unsere
Um die Schuld nicht nur auf andere abzuwäl- physiologischen Grund- und Sicherheitsbedürfnisse
zen, hätte man jedoch auch vom ersten Schweinchen gewährleistet sind. Sobald diese sichergestellt sind,
282 Kapitel 36 · Die drei kleinen Schweinchen von Joseph Jacobs (1890)

entwickeln wir Bedürfnisse nach Liebe, Zuneigung,


Zugehörigkeit und Wertschätzung. Schließlich hegen
wir den Wunsch, uns selbst zu verwirklichen.

Literaturverzeichnis

Bandura, A. (1976). Lernen am Modell. Ansätze zu einer sozial-


kognitiven Lerntheorie. Stuttgart: Klett.
Bandura, A. (1977). Self-efficacy: toward a unifying theory of
behavioral change. Psychological Review 84, 191–215.
Bergman, G. F. J. (1983). Jacobs Joseph (1854–1916). Australian
Dictionary of Biography, 9. http://adb.anu.edu.au/bio-
graphy/jacobs-joseph-6817. Zugegriffen: 11. November
2016.
Bierhoff, H.-W. (2007). Prosoziales Verhalten. In: K. Jonas, W.
Stroebe, & M. Hewstone (Hrsg.), Sozialpsychologie. Eine
Einführung (S. 296–327). Berlin, Heidelberg: Springer.
Encyclopaedia Britannica. (2016). Joseph Jacobs. English
scholar. http://www.britannica.com/biography/Joseph-
Jacobs. Zugegriffen: 11. November 2016.
Jacobs, J. (1890). English Fairy Tales. New York: P. G. Putnam’s
Sons.
Kauffeld, S. (2010). Nachhaltige Weiterbildung. Betriebliche
Seminare und Trainings entwickeln, Erfolge messen, Transfer
sichern. Berlin, Heidelberg: Springer.
Maslow, A. H. (1943). A theory of human motivation. Psycho-
logical Review 50, 370–396.
Nerdinger, F. W. (2014). Teamarbeit. In: F. W. Nerdinger, G. Bli-
ckle, & N. Schaper (Hrsg.), Arbeits- und Organisationspsy-
chologie (S. 103–118). Berlin, Heidelberg: Springer.
Tajfel, H., & Turner, J. C. (1979). An integrative theory of inter-
group conflict. In: W. G. Austin, & S. Worchel (Eds.), The
social psychology of intergroup relations (S. 33–47). Monte-
rey, CA: Brooks/Cole.

36
283 37

Der kleine Muck von Wilhelm


Hauff (1826)
Jochen Baumeister und Maximilian Spanner

37.1 Inhalt des Märchens – 284

37.2 Die Charaktere – 285

37.3 Psychologische Phänomene – 286


37.3.1 Voreingenommenheit – 286
37.3.2 Jeder bekommt, was er verdient – 286
37.3.3 Gruppenverhalten – 286
37.3.4 In Erwartung des Guten – 287

37.4 Implikationen für die Lebensgestaltung, Erziehung und


Führung – 287
37.4.1 Lebensgestaltung – 287
37.4.2 Erziehung – 287
37.4.3 Führung – 288

37.5 Fazit – 289

Literaturverzeichnis – 289

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_37
284 Kapitel 37 · Der kleine Muck von Wilhelm Hauff (1826)

37.1 Inhalt des Märchens Stadt. Dort suchte er den königlichen Hof auf und
wollte sich als Schnellläufer beim König verdingen.
Vor einigen Jahrhunderten durchquerten unzählige Als man ihn jedoch aufgrund seiner kleinen Gestalt
Karawanen die Wüste nach Mekka, um Handelsgü- auslachte und er sich mit dem besten Läufer in der
ter und Kaufleute an ihr Ziel zu bringen. Den Reisen- Stadt messen sollte, zeigte er seine Geschwindig-
den war oft langweilig, daher erzählten sie sich viele keit, die ihm durch die Schuhe verliehen wurde.
Geschichten. So begab sich im frühen 18. Jahrhun- Bald war er des Königs Liebling, was ihm den Neid
dert ein junger Kaufmann namens „Muley“ auf die der anderen Höflinge bescherte. In der irrigen
Reise nach Mekka. Da ihm nach einiger Zeit lang- Annahme, sich Freundschaft bei ihnen erkaufen
weilig wurde, erzählte er eine Geschichte aus seiner zu können, setzte er das Stöckchen ein, um einen
Kindheit über den kleinen Muck: Schatz zu finden. Nachdem er im Palastgarten fündig
In Nicea, meiner lieben Heimatstadt, wohnte wurde, verteilte er großzügig sein Gold, doch der
ein Mann, den man den kleinen Muck nannte. Der Schatzmeister bezichtigte ihn darauf des Diebstahls
kleine Muck war schon ein alter Mann, als ich ihn aus der Schatzkammer, weil keiner sich erklären
kennenlernte; doch er war nur drei bis vier Fuß konnte, woher der kleine Muck das viele Gold habe.
groß. Ich und meine Freunde waren böse Jungen, Muck versicherte, dass er das Gold nicht habe ver-
die jedermann gerne neckten und belachten, daher graben, sondern ausgraben wollen. Damit die dro-
war es uns allemal eine Freude, wenn wir den kleinen hende Todesstrafe abgewendet werde, lüftete Muck
Muck neckten. Wir liefen hinter ihm her und schrien: das Geheimnis seines Zauberstabs und führte den
„Kleiner Muck, kleiner Muck!“ König zum Beweis zu einem weiteren vergrabe-
Nur kurze Zeit später erfuhr mein Vater davon, nen Schatz. Der König wollte nun auch wissen, was
verpasste mir fünfundzwanzig Hiebe und erzählte es mit den Pantoffeln auf sich habe und zog diese
mir die Geschichte vom kleinen Muck: an. Nachdem er sie ausprobiert hatte, nahm er dem
Nachdem Mucks Vater starb, wurde Muck mit kleinen Muck Pantoffeln und Stöckchen ab, ver-
sechzehn Jahren Waise. Von seinen Verwandten als schloss diese und verwies ihn des Landes.
Nichtsnutz missachtet, machte er sich auf, um in der Arm wie zuvor ernährte sich der kleine Muck
weiten Welt sein Glück zu finden. Aufgrund seiner von dem, was er fand. Hungrig aß er ein paar Feigen,
zierlichen Gestalt empfing ihn die Welt nicht gerade woraufhin ihm Eselsohren und eine lange Nase
mit offenen Armen, jedoch nahm ihn die etwas son- wuchsen. Nachdem er die Früchte eines benachbar-
derbare Frau Ahavzi in ihr Haus auf. Sie gab ihm die ten Feigenbaums gegessen hatte, verschwanden zu
Aufgabe, ihre zahlreichen Katzen zu füttern und zu seinem Glück diese Auswüchse wieder. Er pflückte
pflegen. Im Beisein von Frau Ahavzi verhielten sie von beiden Sorten einen Korb voll und verkaufte die
sich ruhig, als Muck jedoch mit ihnen alleine war, schädliche Sorte am Hofe des Königs. Dort war der
zerstörten sie viele wertvolle Gegenstände. Jammer groß, als alle ihre langen Ohren und Nasen
Aus Angst vor harter Bestrafung fasste der kleine sahen. Kein Arzt konnte helfen. Schließlich verklei-
Muck den Entschluss zu fliehen; und nahm, auf der dete sich Muck selbst als Arzt und behandelte sie mit
Suche nach etwas Wertvollem, ein Paar Pantoffeln der anderen Sorte Feigen. Zur Belohnung durfte sich
und einen Spazierstock an sich. Nachdem er eine Muck aus der Schatzkammer des Königs aussuchen,
Weile am Wegrand rastete und daraufhin einschlief, was er wollte. Er nahm schnell sein Stöckchen und
37 wurde ihm im Traum erzählt, dass seine geklauten seine Pantoffeln und verschwand in seine Heimat.
Gegenstände Zauberkräfte besitzen. Die Pantoffeln Der Kaufmann „Muley“ ließ der Geschichte
würden ihn in Windeseile zu jedem gewünschten Ort seines Vaters folgende Worte folgen: „Ich erzählte
tragen und der Stock würde verraten, ob an einer meinen Kameraden das wunderbare Schicksal des
bestimmten Stelle ein Schatz vergraben sei. Kleinen, und wir gewannen ihn so lieb, dass ihn
Nachdem der kleine Muck aufwachte, probierte keiner mehr schimpfte. Im Gegenteil, wir ehrten ihn,
er gleich seine neugewonnenen Gegenstände aus solange er lebte.“
und raste mithilfe der Schuhe zur nächstgelegenen (Hauff 2011; . Abb. 37.1)
37.2 · Die Charaktere
285 37
. Abb. 37.1  (Zeichnung: Claudia
Styrsky)

Anmerkung  Wilhelm Hauff verfasste 1826 die zu finden“. Da er weder ein Handwerk beherrschte
Geschichte des kleinen Mucks, die in eine Rahmen- noch belesen war, bekam er nur durch einen Zufall
erzählung namens „Die Karawane“ in dem Sam- eine Anstellung bei Frau Ahavzi, deren Katzen er
melband Märchen-Almanach auf das Jahr 1826 ein- pflegen musste. Nachdem er keinen Lohn erhalten
gebunden wurde (Hauff 1869). Das Märchen vom hatte, bestahl er die gutmütige Frau, die ihn sorgen-
kleinen Muck ähnelt den Märchen aus Tausendund- voll aufnahm, und gelangte durch diesen Diebstahl
einer Nacht, die ebenso im orientalischen Milieu an die verzauberten Pantoffeln und den Stock. Hätte
stattfinden und durch eine verschachtelte Erzähl- Muck nicht so viel Glück gehabt, wäre er möglicher-
technik gekennzeichnet sind. Auch hier erzählen sich weise auf frischer Tat ertappt worden und man hätte
Teilnehmer einer Karawane aus Langeweile gegensei- ihn in den Kerker sperren lassen. Als er später vom
tig Geschichten. Der deutsche Schriftsteller Wilhelm König unrechtmäßig verstoßen wurde, war er recht
Hauff wurde 1802 in Stuttgart geborgen, starb schon einfallsreich und rächte sich frech mit Feigen.
früh im Jahre 1827 an Typhus und gehörte zum Kreis Der Erzähler „Muley“, der gerade nach Mekka in
der schwäbischen Dichterschule (Neuhaus 2002). einer Karawane unterwegs ist, erzählt die Geschichte
vom kleinen Muck. Damals war dieser noch jung
und ärgerte sowie verspottete den kleinen Muck. Nur
37.2 Die Charaktere durch die Erzählung seines Vaters, der ihm über die
Erlebnisse des kleinen Mucks berichtete, wurde ihm
Hauptcharakter ist der kleine Muck, der als kleine klar, welchen Fehler er durch die Hänseleien begangen
und zierliche Person beschrieben wird und von hatte, und er entwickelte eine tiefe Sympathie für ihn.
seinem Vater wie auch von seinen Verwandten im Der König, die Bediensteten und Mucks Ver-
Stich gelassen und verstoßen wird. Naiv wie er war, wandten sahen alle in ihm einen kleinen Tauge-
machte er sich in die große weite Welt auf, um – nichts, unterschätzten ihn und wurden später eines
wie in der Geschichte beschrieben – sein „Glück besseren belehrt.
286 Kapitel 37 · Der kleine Muck von Wilhelm Hauff (1826)

37.3 Psychologische Phänomene dass er wegen seiner Fähigkeiten eine Anstellung als
Bote erhalten würde.
Die Geschichte des kleinen Mucks lässt sich aus ver- Beide sehr unterschiedlichen Geschehnisse
schiedenen Perspektiven beleuchten. Einerseits aus können durch den Gerechte-Welt-Glauben erklärt
der Sicht des Betroffenen, nämlich der von Muck. werden (Haddock u. Maio 2014; Lerner 1980; Par-
Andererseits aus dem Blickwinkel der Menschen, kinson 2014). Menschen erwarten dabei, dass sich
denen Muck begegnet. Zuletzt noch aus der Pers- die Geschehnisse im Leben als gerecht erweisen.
pektive der Beobachter, die nicht direkt mit Muck in Erlittenes Unrecht soll sich langfristig durch Glück
Kontakt stehen, aber sehen, wie andere Menschen wieder ausgleichen. Ungerechte Taten sollen bestraft
ihn behandeln. werden. Gutes Verhalten soll durch Glück belohnt
werden. Dies betrifft das Grundvertrauen in eine all-
gemeine Gerechtigkeit im Leben.
37.3.1 Voreingenommenheit Der Erzähler behandelt Muck flegelhaft und wird
deswegen von seinem Vater dafür bestraft. Der Leser
Ein ganz auffälliger Teil der Geschichte des kleinen empfindet dies – unabhängig von den Erziehungs-
Mucks ist die Voreingenommenheit der Leute, denen methoden der damaligen Zeit – als passende Reak-
er begegnet. Er wird ständig unterschätzt oder aus- tion auf sein Verhalten.
gegrenzt, weil er ungewöhnlich aussieht. Muck wiederum erlitt ein ungerechtes Dasein in
In der Psychologie nennt man dies Verklärungs- seiner ersten Anstellung als Tierbetreuer. Daraufhin
effekt (Fischer et al. 2013) oder Halo-Effekt (engl. entwendete er die Pantoffel und den Stock. Dieser
„halo“ = Heiligenschein). Dabei wird aus einer relativ Diebstahl ist eine kriminelle Handlung, die aber
auffälligen Eigenschaft einer Person auf die gesamte durch den Gerechte-Welt-Glauben moralisch nicht
Persönlichkeit geschlossen. Das heißt, diese eine verurteilt wird. Später kommt er an den Königshof
beobachtete Eigenschaft wird auf viele andere Eigen- und wird wegen seines Aussehens unterschätzt. Er
schaften eines Menschen übertragen, obwohl man setzt sich nur aufgrund seiner Pantoffeln in einem
von seinen weiteren Eigenschaften noch gar keinen Wettlauf durch und bekommt eine Anstellung. Das
Eindruck gewinnen konnte. ist ein Betrug, aber er wird dafür moralisch nicht
Leider betrifft dies auch die wenig attraktiven verurteilt, da man als Leser seine Vorgeschichte
Menschen wie den kleinen Muck. Er kämpfte Zeit kennt.
seines Lebens gegen die Voreingenommenheit der
anderen Leute. Schon zu seiner Geburt wurde ihm
sein Äußeres negativ ausgelegt. Als er in späteren 37.3.3 Gruppenverhalten
Jahren durch die Lande zog, wurde er an allen Orten
wegen seines Aussehens abgelehnt. Der Erzähler der Der Erzähler befand sich zu Beginn der Geschichte
Geschichte verspottete den kleinen Muck, obwohl er in einer Gruppe mit anderen Jungen, die den Muck
ihn nur sporadisch gesehen hatte. Nur der Vater des verspotteten. Im Laufe der Geschichte vollzog sich
Erzählers sah in Muck mehr als das äußere Erschei- allerdings ein grundlegender Wandel des Verhaltens
nungsbild, da er über weitere Informationen ver- der gesamten Gruppe, am Anfang noch despektier-
fügte. Deswegen schloss er nicht mehr vom Ausse- lich verhalten sie sich ihm gegenüber am Ende sehr
37 hen auf andere Eigenschaften. respektvoll.
Dieses Phänomen nennt man Herdenverhal-
ten, bei dem Menschen ihr Verhalten der gesamten
37.3.2 Jeder bekommt, was er verdient Gruppe anpassen (Nijstad u. van Knippenberg 2014).
Man überlässt das eigene Urteil der Gruppe, um sich
Der Erzähler der Geschichte, der Junge, behandelte selbst als Teil derselben zu sehen. Die Geschlossen-
den Muck sehr despektierlich und wurde von seinem heit der Gruppe blieb auch dann noch erhalten, als
Vater dafür bestraft. Als Muck mit seinen Zauber- eine Person aus der Gruppe einen starken Meinungs-
gegenständen am Königshof vorsprach, erwartete er, schwenk hinlegte. Das zeigt, wie stark sich Menschen
37.4 · Implikationen für die Lebensgestaltung, Erziehung und Führung
287 37
in einer Menge an die vorherrschende Meinung unbewusst. Ebenso schreitet man nicht immer ein,
anpassen können, anstatt sich selbst eine Meinung wenn andere unfair behandelt werden.
zu bilden. Im Laufe der Kindheit erlernen Menschen,
einen moralischen Kompass zu entwickeln. Dabei
ist es auch für Erwachsene wichtig, dass man diesen
37.3.4 In Erwartung des Guten Kompass immer wieder neu justiert. Es ist nämlich
in der Hektik des Alltags schnell passiert, dass man
Häufig passiert es Menschen, dass sie positive Erleb- anderen Menschen voreingenommen gegenübertritt.
nisse erwarten, obwohl sie nicht sehr realistisch sind. Das ist nur allzu menschlich, wie Psychologen immer
Das geschah auch in der Geschichte vom Muck, wieder aufs Neue erfahren.
als er in all seiner Einfalt zum Königshof ging, um Jedoch kann man sich der Voreingenommen-
dort eine Anstellung zu finden. Man darf sich einen heit entziehen, wenn man sich bewusst macht, dass
Königshof durchaus als begehrten Arbeitsplatz vor- die andere Person wie der kleine Muck darunter zu
stellen, an dem sehr viele Menschen gerne arbeiten leiden hat. Es ist in vielen Lebenslagen wichtig, dass
würden. Die Erwartung, dass man am Hof vorbei- man Empathie empfindet und auch einsetzt, denn
schaut und kurzerhand eine Anstellung bekommt, Menschen sind soziale Wesen.
ist somit nicht besonders realistisch. Für Muck Im Märchen des kleinen Muck kann man
war das allerdings aufgrund seiner Pantoffeln eine einen solchen Wandel sehr schön nachvollziehen:
Selbstverständlichkeit. Zunächst besaß der Erzähler als Junge noch keinen
Aus psychologischer Sicht handelt es sich um moralischen Kompass, er trat frech auf und ver-
eine voreingenommene Wahrnehmung der Reali- spottete Muck. Sein Vater bestrafte ihn dafür nicht
tät – die die Annahme impliziert, ein positives Ergeb- nur, sondern vermittelte ihm in der Geschichte
nis zu erzielen (Pendry 2014). Es passiert im Alltag über den kleinen Muck weitere Informationen,
sehr oft, dass Menschen auf ein positives Ergebnis die es dem jungen Erzähler ermöglichten, seine
einer Handlung hoffen, nur weil sie glauben, dass sie Voreingenommenheit abzulegen. Dieser Aspekt
wegen einer bestimmten Eigenschaft einen solchen der Geschichte ist aus psychologischer Sicht sehr
Verlauf erwarten könnten. interessant, denn die Handlung des erzählenden
Vaters ist sozusagen der Ursprung der Entwick-
lung des moralischen Kompasses beim jungen
37.4 Implikationen für die Erzähler.
Lebensgestaltung, Erziehung Für den Leser des Märchens bietet es Hoff-
und Führung nung und Warnung zugleich. Es warnt davor, wie
falsch man sich verhält, wenn man sich nicht mit
Aus dem Märchen „Der kleine Muck“ lassen sich der eigenen Voreingenommenheit auseinander-
Implikationen für die Lebensgestaltung, Erziehung setzt. Aber es bietet auch die Hoffnung, dass man
und Führung ableiten. sich beständig verbessern kann und es nie zu spät
ist, anderen Menschen gegenüber offen und fair zu
sein. Selbst wenn man sich schon einmal falsch ver-
37.4.1 Lebensgestaltung halten hat, kann man das durch eine ehrlich gemeinte
Entschuldigung und ein respektvolles Verhalten
Als Leser des Märchens vom kleinen Muck ertappt wiedergutmachen.
man sich zwangsläufig dabei, dass man sich mit den
verschiedenen Charakteren identifizieren kann.
Wahrscheinlich fühlte sich jeder schon einmal unter- 37.4.2 Erziehung
schätzt, obwohl es keine fairen Gründe dafür gab.
Ebenso kann man davon ausgehen, dass eine andere Wie oben beschrieben, lässt sich Voreingenommen-
Person schon einmal durch einen selbst so wie den heit nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei
kleinen Muck behandelt wurde – ob bewusst oder Jugendlichen und Kindern beobachten. In einer
288 Kapitel 37 · Der kleine Muck von Wilhelm Hauff (1826)

Gruppe von mehreren Kindern und Jugendlichen unterbrochen, besteht eine gute Chance, ihm rasch
kann sich dies weiter zu Mobbing entwickeln. Einhalt zu gebieten.
In unserer Geschichte wurde unser Hauptcha-
rakter von mehreren Kindern aufgrund seiner Größe
mit „Kleiner Muck, kleiner Muck!“ gehänselt. Nicht 37.4.3 Führung
nur im Märchen findet Mobbing durch Kinder
statt, auch in unserer Welt gibt es täglich Opfer von In der Geschichte des kleinen Mucks ist der König
Mobbingattacken. der Herrscher über seine Ländereien und der Anfüh-
Mobbing wird definiert als „negative kommuni- rer seines Volkes. Er ist derjenige, der Entscheidun-
kative Handlungen, die gegen eine Person gerichtet gen trifft und Anweisungen gibt.
sind (von einer oder mehreren anderen) und die sehr In unserer heutigen Zeit mag es kaum noch Mon-
oft oder über einen längeren Zeitraum vorkommen archen geben, jedoch arbeiten in jedem Unterneh-
und damit die Beziehung zwischen Täter und Opfer men Führungskräfte, die Entscheidungen treffen
kennzeichnen“ (Leymann 1993, S. 21). und ihren Mitarbeitern Anweisungen geben. In der
Mobbingopfer zeichnen sich meistens durch Psychologie existiert eine Vielzahl an Forschung zur
Unsicherheit, Einsamkeit sowie mangelndes Selbst- Führung, die das Erleben und Verhalten der Füh-
wertgefühl aus; sie weinen und ziehen sich zurück als rungskräfte und ihrer Mitarbeiter untersucht.
Reaktion auf Angriffe. Als Elternteil bekommt man Würde man das Erleben und Verhalten des
oft von alldem nichts mit. Hinweise auf einen kör- Königs und seiner Höflinge untersuchen, stieße man
perlichen Angriff auf das eigene Kind würde man auf eine Reihe von Verhaltensweisen, die in der heu-
beispielsweise an beschädigter Kleidung oder Verlet- tigen Zeit mit schlechter Führung in Zusammenhang
zungen erkennen. Indirekte Anzeichen wären wenige stehen.
freundschaftliche Kontakte, das Kind wird selten zu Schlechte beziehungsweise destruktive Führung
Feiern von Klassenkameraden eingeladen sowie die ist definiert als „das systematische und wieder-
Angst, in die Schule zu gehen. holte Verhalten von einem Vorgesetzten, Chef oder
Nicht zu vergessen ist der Umgang mit den Manager, welches die legitimen Interessen der Orga-
Tätern. Es geht einerseits darum, das Opfer zu schüt- nisation durch das Untergraben und/oder die Sabo-
zen, andererseits sollen die Täter zur Verantwor- tage der Organisationsziele, Aufgaben, Ressour-
tung gezogen werden. Die Eltern von Tätern sind cen, und der Effektivität und/oder der Motivation,
in Kenntnis zu setzen und angehalten, eine ableh- das Wohlergehen oder die Arbeitszufriedenheit der
nende Haltung gegenüber Gewalt zu fördern und Mitarbeiter verletzt oder sabotiert“ (Einarsen et al.
Familienregeln aufzustellen (Lob für Einhaltung, 2007, S. 208).
Strafe für Nichteinhaltung). Auf Schul- und Klassen- Wie die anderen Charaktere in dem Märchen
ebene sollten Regeln gegen Gewalt (Konsequenzen unterschätzt auch der König den kleinen Muck und
von Einhaltung/Nichteinhaltung) eingeführt, und schließt von der kleinen Gestalt auf seine Unfähig-
die Lehrer dafür sensibilisiert werden, Mobbing zu keit, schnell zu laufen. Als der König jedoch die
erkennen. Auch gegen die, die Mobbing billigen, also wahre Schnelligkeit Mucks kennt, macht er ihn zu
die geheimen Unterstützer, sollten sich die Klassen- seinem Liebling und erzeugt dadurch den Neid der
regeln richten und Lehrer sowie Eltern entsprechend anderen Höflinge.
37 informiert und sensibilisiert werden (Olweus 1996). Dies war ein Fehler des Königs, da die Bevorzu-
Im Idealfall bieten klare Strukturen und Regeln, gung eines Mitarbeiters/Höflings zu negativen Syn-
die Ächtung von Gewalt sowie die Schulung der ergien innerhalb des Teams/Unternehmens führt.
Lehrer einen guten Schutz vor Mobbing, nichts- Wie in dem Beispiel des Königs könnte dieser Mit-
destotrotz empfiehlt es sich, außerdem Vertrau- arbeiter aufgrund der Bevorzugung aus der Gruppe
enspersonen an den Schulen zu installieren (z. B. ausgeschlossen und hierbei das Wohlergehen des
ältere Mitschüler und Lehrer), die für die Schüler Mitarbeiters verletzt werden.
als Anlaufstelle dienen, sollte es doch zu Mobbing Als Gegenstück zur destruktiven Führung gibt es
kommen. Wird Mobbing bereits im Ansatz die Theorie der transformationalen Führung. Dies
Literaturverzeichnis
289 37
beschreibt einen Führungsstil, bei dem Mitarbeiter Literaturverzeichnis
durch die Führungskraft dabei unterstützt werden,
Einarsen, S., Aasland, M. S., & Skogstad, A. (2007). Destructive
ihre Werte und Einstellungen den übergeordneten
leadership behaviour: A definition and conceptual model.
Zielen des Unternehmens zuzuwenden, um eine The Leadership Quarterly 18, 207–216.
Leistungssteigerung zu erzielen. Transformationale Fischer, P., Asal, K., & Krueger, J. I. (2013). Urteilen und Entschei-
Führung basiert auf folgenden vier Basisstrategien den. In: P. Fischer, K. Asal, & J. I. Krueger (Hrsg.), Springer-
(Robbins u. Judge 2007): Lehrbuch. Sozialpsychologie für Bachelor (S. 29–44). Berlin,
Heidelberg: Springer.
44Idealisierter Einfluss
Haddock, G., & Maio, G. R. (2014). Einstellungen In: K. Jonas, W.
44Inspirative Motivation Stroebe, & M. Hewstone (Hrsg.), Springer-Lehrbuch. Sozial-
44Intellektuelle Stimulation psychologie (S. 197–229). Berlin, Heidelberg: Springer.
44Individualisierte Beachtung Hauff, W. (2011). Die Geschichte von dem kleinen Muck: Mär-
chen. Berlin: Fischer.
Lerner, M. J. (1980). The belief in a just world: A fundamental
Um dem transformationalen Führungsstil gerecht zu
delusion. New York: Springer US.
werden, hätte sich der König den Höflingen somit als Leymann, H. (1993). Psychoterror am Arbeitsplatz und wie
Vorbild präsentieren sollen, an dem sie sich mensch- man sich dagegen wehren kann. Reinbek bei Hamburg:
lich und fachlich orientieren können (idealisierter Rohwolt.
Einfluss). Er hätte ihnen eine inspirierende Vision Neuhaus, S. (2002). Das Spiel mit dem Leser: Wilhelm Hauff:
Werk und Wirkung. Vandenhoeck & Ruprecht.
geben müssen, beispielsweise die Schaffung allgemei-
Nijstad, B. A., & van Knippenberg, D. (2014). Gruppendynamik.
nen Wohlstandes (inspirative Motivation), zudem In: K. Jonas, W. Stroebe, & M. Hewstone (Hrsg.), Springer-
kreative und innovative Fähigkeiten der Höflinge Lehrbuch. Sozialpsychologie (S. 439–467). Berlin, Heidel-
anregen (intellektuelle Stimulation) und alle indi- berg: Springer.
viduell unterstützen sowie gezielt deren Fähigkei- Olweus, D. (1996). Gewalt in der Schule. Was Lehrer und Eltern
wissen sollten – und tun können. Karlsruhe: Huber.
ten und Stärken entwickeln sollen (individualisierte
Parkinson, B. (2014). Soziale Wahrnehmung und Attribution.
Beachtung). In: K. Jonas, W. Stroebe, & M. Hewstone (Hrsg.), Springer-
Lehrbuch. Sozialpsychologie (S. 65–106). Berlin, Heidel-
berg: Springer.
37.5 Fazit Pendry, L. (2014). Soziale Kognition. In: K. Jonas, W. Stroebe, &
M. Hewstone (Hrsg.), Springer-Lehrbuch. Sozialpsychologie
(S. 107–140). Berlin, Heidelberg: Springer.
Die zu dem Märchen „Der kleine Muck“ vorgestell- Robbins, S. P., & Judge, T. (2007). Organizational behavior
ten psychologischen Phänomene kommt nach wie (12th ed.). Upper Saddle River, NJ: Pearson Prentice Hall.
vor eine große Bedeutung für unser Zusammenle-
ben zu. Wenn wir dazu in der Lage sind, zu reflektie-
ren, dass auch wir nicht frei davon sind, Menschen
aufgrund ihres Aussehens oder anderer auffälliger
Merkmale zu bewerten, und dazu neigen, uns allzu
oft ungeprüft der Meinung einer Gruppe anzuschlie-
ßen, können wir Menschen wie dem kleinen Muck
mit Respekt und vorurteilsfrei begegnen. Ein gestei-
gertes Bewusstsein dafür, dass der Glaube an eine
gerechte Welt sowie übermäßig positive Erwar-
tungen enttäuscht werden können, schützt uns vor
Naivität und überstürzten Handlungen. Trotz aller
Schwierigkeiten, die der kleine Muck in seinem
Leben zu meistern hatte, blieb er sich selbst treu und
ging unbeirrt seinen Weg – als gutes Vorbild, niemals
zu verzagen.
291 38

Dornröschen von den


Gebrüdern Grimm (1819)
Katharina Gerstung und Lorea Urquiaga

38.1 Inhalt des Märchens – 292

38.2 Die Charaktere – 292

38.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige


Zeit – 293
38.3.1 Bedürfnis nach Zugehörigkeit und sozialer Ausschluss – 293
38.3.2 Neugier – 294
38.3.3 Verdrängung in der Psychoanalyse – 295

38.4 Fazit – 295

Literaturverzeichnis – 296

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_38
292 Kapitel 38 · Dornröschen von den Gebrüdern Grimm (1819)

38.1 Inhalt des Märchens die dort bereits seit einhundert Jahren schlief, gehört
hatte. Nun war gerade der böse Fluch vorbei, und der
Es war einmal ein König und eine Königin, die sich Tag war gekommen, an dem Dornröschen wieder
sehnlichst ein Kind wünschten. Nach langer Zeit erwachen sollte. Als der Königssohn sich der Dor-
gebar die Königin ein Mädchen, das so schön war, nenhecke näherte, waren es lauter große, schöne
dass der König vor Freude ein großes Fest veranstal- Blumen, die ihn unbeschädigt hindurch ließen.
tete. Er lud alle Verwandten, Freunde und Bekann- Er kam zu dem Turm und öffnete die Türe zu der
ten ein sowie die weisen Frauen. Es waren ihrer drei- kleinen Stube, in welcher Dornröschen schlief. Da lag
zehn in seinem Reiche, weil er aber nur zwölf goldene es und war so schön, dass er die Augen nicht abwen-
Teller hatte, von welchen sie essen sollten, so musste den konnte, und er bückte sich und gab ihm einen
eine von ihnen daheim bleiben. Kuss. Wie er es mit dem Kuss berührt hatte, schlug
Das Fest wurde gefeiert, und die weisen Frauen Dornröschen die Augen auf, erwachte und mit ihr
beschenkten das Kind mit ihren zauberhaften Gaben. kam der ganze Hofstaat wieder zum Leben.
Als elf von ihnen ihre Wünsche hatten verlauten Und da wurde die Hochzeit des Königssohns mit
lassen, trat plötzlich die dreizehnte herein. Sie wollte Dornröschen in aller Pracht gefeiert, und sie lebten
sich dafür rächen, dass sie nicht eingeladen war und vergnügt bis an ihr Ende.
rief erzürnt: „Die Königstochter soll sich in ihrem (Grimm u. Grimm 1819; . Abb. 38.1)
fünfzehnten Lebensjahr an einer Spindel stechen und
tot hinfallen.“ Alle waren zutiefst erschrocken. Da
trat die zwölfte hervor, die ihren Wunsch noch übrig 38.2 Die Charaktere
hatte, und weil sie den bösen Spruch nicht aufhe-
ben, sondern ihn nur mildern konnte, sagte sie: „Es Die Akteure in diesem Märchen der Gebrüder
soll aber kein Tod sein, sondern ein hundertjähri- Grimm sind zunächst das Königspaar und ihre
ger tiefer Schlaf, in welchen die Königstochter fällt.“ schöne Tochter Dornröschen. Weiterhin spielen die
Der König, der sein liebes Kind vor dem Unglück dreizehn weisen Frauen eine wichtige Rolle – insbe-
gern bewahren wollte, befahl, dass alle Spindeln im sondere die dreizehnte böse Fee – und am Ende des
ganzen Königreiche verbrannt werden sollten. An
dem Tage, an dem die Königstochter gerade fünfzehn
Jahre alt wurde, war sie allein im Schloss. Neugierig
ging sie umher, besah Stuben und Kammern, wie es
Lust hatte, und kam schließlich in einen alten Turm.
Dort fand sie die letzte Spindel des Königreichs, stach
sich daran und fiel sogleich in einen tiefen Schlaf. Der
Schlaf breitete sich über das ganze Schloss aus – da
schliefen auch die Pferde im Stall, die Hunde im Hof
und die Tauben auf dem Dache. Rings um das Schloss
begann eine Dornenhecke zu wachsen, die jedes Jahr
höher wurde und das ganze Schloss umzog.
Es ging aber die Sage in dem Land umher von
dem schönen, schlafenden Dornröschen, denn so
ward die Königstochter genannt. Immer wieder
38 kamen Königssöhne zum verwunschenen Schloss,
aber die Jünglinge blieben in den Dornen hängen
und starben eines jämmerlichen Todes. Nach vielen
Jahren kam wieder einmal ein besonders furchtloser
Königssohn in das Land, der bereits viel von der Dor-
nenhecke und der wunderschönen Königstochter, . Abb. 38.1  (Zeichnung: Lena Frey)
38.3 · Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
293 38
Märchens schließlich noch der Prinz. Im Folgenden nur man selbst nicht, haben wohl die meisten schon
werden diese Charaktere näher dargestellt. einmal erlebt. Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit (in
Die Königin wünscht sich mit ihrem Ehemann der Psychologie auch bekannt als „need to belong“)
sehnlichst ein Kind und ist überglücklich, als sie ist eine fundamentale menschliche Motivation
schließlich ihre Tochter Dornröschen zur Welt (Jonas et al. 2014). Menschen haben ein Verlangen
bringt. nach häufigen positiven, affektiven Interaktionen
Der König vergöttert seine kleine Familie und mit anderen. Das Zugehörigkeitsbedürfnis ist evo-
will für seine Tochter nur das Beste. Hierbei verhält lutionär gesehen sinnvoll: Einer Gruppe zugehörig
er sich übervorsichtig und versucht alles Böse von ihr zu sein, bedeutete mehr Sicherheit und die Möglich-
fernzuhalten. Eine offene und ehrliche Kommunika- keit zur Reproduktion.
tion findet zwischen Vater und Tochter nicht statt. Aufgrund dessen hat der Mensch eine Art Warn-
Die weisen Frauen werden vom König zur Feier system entwickelt, das anspringt, wenn er sich sozial
der Geburt seiner schönen Tochter eingeladen. ausgeschlossen fühlt. Schwächste Hinweise auf
Sie sollen die neugeborene Prinzessin mit guten Exklusion genügen dabei, um das Alarmsystem
Wünschen segnen. Da der König jedoch nur zwölf anzuregen (Jonas et al. 2014). Beispiele für eine mög-
goldene Teller hat, lädt er die dreizehnte weise Frau liche Deprivation und somit Verletzung des Zugehö-
nicht zum Fest mit ein. Diese zeigt sich daraufhin so rigkeitsbedürfnisses sind Fernbeziehungen, Verwit-
erzürnt über diese Schmach, dass sie die Königstoch- wung, Heimweh – oder eben, wenn man selbst nicht
ter mit einem tödlichen Fluch belegt. zu einer Feier eingeladen wird, zu der alle anderen
Der Prinz beweist sich als furchtloser Jüngling, gehen. Ein solcher Entzug von sozialer Interaktion
der es trotz der tragischen Schicksale seiner zahlrei- hat vielfältige Folgen, die sich sowohl auf psychischer
chen Vorgänger wagt, Dornröschen zu retten. Der Ebene (z. B. Einsamkeit und Traurigkeit, ein Gefühl
mutige Königssohn kommt zum rechten Zeitpunkt von Kontrollverlust, Beeinträchtigung des logischen
und kann somit durch seinen Kuss Dornröschen und Denkens und der Selbstregulation; Jonas et al. 2014)
das ganze Königreich aus dem Schlaf erwecken. als auch auf physischer Ebene zeigen. In Studien
konnte nachgewiesen werden, dass körperlichem
und sozialem Schmerz ein gemeinsamer neuroanato-
38.3 Psychologische Phänomene und mischer Ursprung zugrunde liegt (Eisenberger et al.
Bedeutung für die heutige Zeit 2003). Dies bedeutet, dass dasselbe Gehirnzentrum
aktiviert wird, wenn man getreten oder von einem
Im Folgenden werden einige wichtige psychologische Spiel ausgeschlossen wird.
Phänomene vorgestellt, die einen Aufschluss über die Die dreizehnte weise Frau reagiert zornig und
möglichen Beweg- und Hintergründe für das Verhal- mit Gewalt auf ihren sozialen Ausschluss, indem sie
ten der Hauptcharaktere geben. Dornröschen den Tod wünscht.
Dass man wütend ist, wenn man sich von einer
Gruppe ausgeschlossen fühlt, ist vermutlich für die
38.3.1 Bedürfnis nach Zugehörigkeit meisten eine bekannte Empfindung. Es konnte viel-
und sozialer Ausschluss fach in Studien gezeigt werden, dass Aggression eine
häufige Reaktion auf soziale Ausgrenzung ist (Jonas
Die Wurzel des Bösen in diesem Märchen, der Fluch et al. 2014). Dies kann u. a. dadurch erklärt werden,
und damit die Verdammnis zum hundertjährigen dass Exklusion zu einer verringerten Selbstregula-
Schlaf Dornröschens, liegt darin, dass die dreizehnte tion führt. Eine geringere Selbstregulation kann wie-
weise Frau nicht zur Feier der Geburt der Königs- derum unangemessenes Verhalten zur Folge haben,
tochter eingeladen wird, weshalb sie sich missachtet z. B. indem man ausfällig wird, herumschreit oder
und ausgeschlossen fühlt und sich dafür rächt. körperliche Aggression zeigt.
Dass man sich schlecht fühlt, wenn man erfährt, In der Psychologie gibt es die Hypothese der
dass alle anderen zu einem Fest eingeladen sind, feindseligen kognitiven Verzerrung (engl. „hostile
294 Kapitel 38 · Dornröschen von den Gebrüdern Grimm (1819)

cognitive bias“). Dieser zufolge werden neutrale 44Gewissenhaftigkeit


Informationen nach Exklusion häufig als feindse- 44Offenheit für Neues
lig wahrgenommen, wodurch wiederum aggressive
Reaktionen hervorgerufen werden können (DeWall Die Neugier gehört dabei zur Facette Offenheit,
et al. 2009). welche Personen im Hinblick auf die eigenständige
Die weibliche Aggression unterscheidet sich in Suche nach Erfahrungen sowie Toleranz gegen-
ihrer Erscheinungsform von der männlichen. Weib- über Unbekanntem und dessen Erkundung unter-
liche Aggressoren handeln eher indirekt und wenden scheidet. Es bestehen aber auch Zusammenhänge
Strategien sozialer Manipulation an (z. B. Ignorie- zwischen Neugier und dem Persönlichkeitsfaktor
ren oder Abwerten der anderen Person durch Läs- Extraversion. Extravertierte Menschen beobachten
tereien und Gerüchte), wohingegen Männer meist und erkunden ihre Umwelt mehr und begeben sich
direkt aggressiv handeln und rationale Strategien aktiver auf Reizsuche als introvertierte, eher in sich
verfolgen (z. B. mündliche Drohungen und körper- gekehrte Menschen. Dornröschen ist demnach ver-
liche Übergriffe; Scheithauer 2003). Das lässt sich gut mutlich eine offene, extravertierte Person.
auf dem Schulhof beobachten: Dort sieht man häufig, Neugier ist nicht nur eine Persönlichkeitseigen-
dass Mädchen eher „hintenherum“ handeln, wohin- schaft, sondern auch eine Form intrinsischer Motiva-
gegen Jungs geradeaus angreifen. tion. Intrinsische Motivation beschreibt einen in der
Auch die dreizehnte weise Frau reagiert mit Sache selbst liegenden Antrieb, z. B. Freude an der
ihrem feindseligen Wunsch auf die soziale Ausgren- Ausführung einer Aktivität unabhängig vom Ergeb-
zung indirekt körperlich aggressiv. Sie verdammt die nis (ein häufig genanntes Beispiel an dieser Stelle ist
Königstochter zum Tode, tötet sie aber nicht selbst, das Segeln ohne ein bestimmtes Ziel). Im Gegen-
sondern wünscht, dass sich das Mädchen selbst an satz dazu beinhaltet extrinsische Motivation einen
einer Spindel stechen und daran sterben soll. externen Anreiz, z. B. eine Belohnung wie Geld oder
Das Verhalten der bösen Fee zeigt also deutlich, Anerkennung. Wer neugierig ist, empfindet bereits
wenn auch überspitzt, wohin es führen kann, wenn Freude bei der Suche und Erforschung neuer Dinge
man sich sozial ausgeschlossen fühlt. und Gegenden, ganz gleich was man am Ende findet.
Neugier spielt eine wichtige Rolle im Bereich der
Erziehung und Bildung. Wenn ein Kind neugierig
38.3.2 Neugier ist, hat es mehr Freude am Erlernen von Neuem. Für
Neugier gilt hier wie für die Persönlichkeit im Allge-
Wäre Dornröschen alleine im Schloss umherge- meinen, dass sie nicht erzeugt, sondern von Eltern,
gangen, hätte sie Kammern besichtigt und den Lehrern oder anderen Erziehungsberechtigten ledig-
alten Turm bestiegen und hätte sie das ihr unbe- lich gefördert oder geschwächt werden kann.
kannte Objekt, die Spindel, berührt, wenn sie ver- Wie das Märchen zeigt, gibt es jedoch auch
schlossen und nicht neugierig gewesen wäre? Wohl Situationen, in denen ein ungehemmtes Erkunden
kaum. Auch Neugier spielt also eine wichtige Rolle gefährlich werden kann und Neugier zu leichtsin-
in diesem Märchen, ohne die die Geschichte sicher- nigem Verhalten führt. Jedes Elternteil kennt wohl
lich anders verlaufen wäre. das Gefühl, wenn der kindliche Erkundungstrieb des
Neugier ist eine Persönlichkeitseigenschaft. Ein Sprösslings den eigenen Puls in die Höhe schnellen
in der Psychologie viel verwendeten Persönlichkeits- lässt. Glücklicherweise steht der Neugier hier jedoch
modell ist das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlich- meist ein anderes menschliches Empfinden gegen-
38 keit oder auch „Big Five“ genannt (z. B. McCrae u. über: Vorsicht oder Angst vor neuen Dingen. Auch
Costa 2004). Dieses Modell unterscheidet die folgen- wenn Ängstlichkeit per se keine positive Eigen-
den fünf Persönlichkeitsfaktoren: schaft zu sein scheint, sieht man am Beispiel von
44Extraversion Dornröschen, was passieren kann, wenn man unge-
44Neurotizismus hemmt und unvorsichtig mit fremden Gegenstän-
44Verträglichkeit den umgeht.
38.4 · Fazit
295 38
38.3.3 Verdrängung in der Wie viele Kinder werden heutzutage aufgeklärt?
Psychoanalyse Unserer Meinung nach immer noch zu wenige.
Vielmehr reimen sich Kinder und Jugendliche das
Sigmund Freud ist wohl der Name, der den meisten Wissen aus Jugendzeitschriften und dem Internet
Lesern in Bezug auf Psychologie als Erstes in den zusammen, und Sexualität ist und bleibt leider in
Sinn kommen dürfte. Er gilt als Begründer der Psy- vielen Familien ein Tabuthema. Besonders für Väter
choanalyse und seine Theorien werden nach wie vor ist es oft schwierig, zuzulassen, dass ihre Töchter
weltweit gelehrt. selbstständig werden und andere Männer eine
1924 schreibt Freud in seinem Werk Schrift zur wichtigere Rolle in ihrem Leben spielen. Kann das
Geschichte der psychoanalytischen Bewegung: „Die Ver- Märchen Dornröschen als Aufruf zu einem offene-
drängungslehre ist nun der Grundpfeiler, auf dem das ren Umgang mit Sexualität verstanden werden? Für
Gebäude der Psychoanalyse ruht, […]“ (S. 13). In der die Freud-Kritiker unter Ihnen dürfte das vermut-
Psychoanalyse bedeutet Verdrängung das Abschieben lich recht weit hergeholt sein, angesichts der Zeit-
unangenehmer oder schmerzlicher Erfahrungen ins losigkeit der Thematik ist es jedoch sicherlich einen
Unbewusste. In Bezug auf Freuds Drei-Instanzen-Mo- Gedanken wert.
dell (Ich, Es, Über-Ich) werden diese schmerzlichen
Erfahrungen vom Ich, dem bewusst zugänglichen Teil
des Selbst, zum Es, in welchem die Triebe und Affekte 38.4 Fazit
gespeichert sind, verschoben.
Dieses Phänomen lässt sich beim König beobach- Dornröschen gehört zu den bekanntesten Märchen
ten. Die Verdrängung dient als Abwehrmechanis- der Gebrüder Grimm. Was kann man daraus nun für
mus. Der König möchte die Bedrohung, die seiner das alltägliche Leben lernen?
Tochter aufgrund des Fluches der dreizehnten weisen Zunächst einmal sollte man niemanden mit
Frau bevorsteht, von ihr und somit seiner Familie, Absicht ausgrenzen. Das passiert leider oft schneller
fernhalten. Anstatt jedoch offen mit der Prinzessin als uns lieb ist. Natürlich ist es etwas drastisch, dass
über den Fluch zu sprechen und ihr die drohende soziale Exklusion mit dem Tod bestraft wird (und ein
Gefahr darzulegen, befiehlt er lediglich alle Spindeln hundertjähriger Schlaf dürfte mehr als unrealistisch
im ganzen Königreich zu verbrennen. Die Folgen sein), aber dass dadurch eine Freundschaft oder der
seines Handelns sind uns allen bekannt. Dornrös- Ruf eines Menschen zerstört werden können, liegt
chen sticht sich an der letzten im Königreich vor- relativ nahe.
handenen Spindel und der Fluch der bösen Fee wird Vom Vater Dornröschens kann man mitneh-
Wirklichkeit. men, dass offene Kommunikation oftmals die bessere
Welche tiefere Bedeutung liegt dem möglicher- Wirkung zeigt als strikte Verbote. Er hätte sich seiner
weise zugrunde? Da die Verbindung zwischen Freud Angst vor dem Wahrwerden des Fluches stellen und
und der Sexualität nicht ganz aus der Luft gegrif- darüber sprechen sollen. So hätte er seine Tochter
fen ist, kann die Geschichte Dornröschens auch letztendlich besser geschützt. Wie erklären Sie selbst
als Anspielung auf das Erwachen der Sexualität im Ihren Kindern oder Enkeln, dass etwas tabu ist, z. B.
Jugendalter betrachtet werden (Drewermann 2005; das Spielen mit der Schere? Ist ein einfaches „Es ist
Waiblinger 1988). Der fünfzehnte Geburtstag – der verboten, weil es eben so ist“ ausreichend? Dies mag
Tag an dem sich die Königstochter gemäß dem Fluch sicherlich für einige Bereiche gelten, wenn allerdings
an der Spindel stechen soll – stand in alten Zeiten nur Verbote ausgesprochen werden, ohne auch über
symbolisch für geschlechtliche Reifung und erwa- die möglichen Folgen und Gefahren aufzuklären,
chende bzw. erwachte Sexualität. In vielen psycho- wird der Reiz des Verbotenen wohl irgendwann
analytischen Interpretationen des Märchens wird größer sein als die Angst vor der Strafe.
dieser Spindelstich mit einer ersten sexuellen Erfah- Mit Dornröschen haben die Gebrüder Grimm
rung gleichgesetzt – eine Erfahrung, die im Falle einmal mehr ein Märchen niedergeschrieben, das
Dornröschens schlimme Folgen hat. nach all der Zeit nicht an Bedeutung verloren hat.
296 Kapitel 38 · Dornröschen von den Gebrüdern Grimm (1819)

Noch heute kann man viel daraus lernen – oder sich


einfach an dieser schönen Geschichte erfreuen.

Literaturverzeichnis

DeWall, C. N., Twenge, J. M., Gitter, S. A., & Baumeister, R. F.


(2009). It's the thought that counts: The role of hostile
cognition in shaping aggressive responses to social
exclusion. Journal of Personality and Social Psychology 96,
45–59.
Drewermann, E. (2005). Dornröschen. Grimms Märchen tiefen-
psychologisch gedeutet. Düsseldorf: Walter.
Eisenberger, N. I., Lieberman, M. D., & Williams, K. D. (2003).
Does rejection hurt? An fMRI study of social exclusion.
Science 302, 290–292.
Freud, S. (1924). Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewe-
gung. Leipzig: Internationaler Psychoanalytischer Verlag.
Grimm, J., & Grimm, W. (1819). Kinder- und Haus-Märchen,
gesammelt durch die Brüder Grimm: Große Ausgabe (Bd. 1,
2. Aufl.). Berlin: G. Reimer.
Jonas, K., Stroebe, W., & Hewstone, M. (Hrsg.) (2014). Sozialpsy-
chologie. Berlin, Heidelberg: Springer.
McCrae, R. R., & Costa, P. T. (2004). A contemplated revision of
the NEO Five-Factor Inventory. Personality and Individual
Differences 36, 587–596.
Scheithauer, H. (2003). Aggressives Verhalten von Jungen und
Mädchen. Göttingen: Hogrefe.
Waiblinger, A. (1988). Dornröschen. Auch des Vaters liebste
Tochter wandelt sich zur Frau. Zürich: Kreuz-Verlag.

38
297 39

Der Jäger, der seine Frauen


ungleich behandelte – ein
afrikanisches Volksmärchen
Nicole Blabst und Franziska Wittmann

39.1 Inhalt des Märchens – 298

39.2 Die Charaktere – 299

39.3 Psychologische Phänomene – 300


39.3.1 Glaube an eine gerechte Welt – der Jäger – 300
39.3.2 Frustrations-Aggressions-Theorie und soziale Zurückweisung – die
vernachlässigte Frau – 301

39.4 Bedeutung für die heutige Zeit – 301


39.4.1 Ungerechtigkeit in der Gesellschaft – 302
39.4.2 Kulturelle Unterschiede – Monogamie und Bigamie – 302
39.4.3 Gleichberechtigung von Mann und Frau – 302
39.4.4 Rationale Liebe – 303

39.5 Fazit – 304

Literaturverzeichnis – 304

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_39
298 Kapitel 39 · Der Jäger, der seine Frauen ungleich behandelte – ein afrikanisches Volksmärchen

39.1 Inhalt des Märchens Sein Rufen wurde von den Affen gehört, die
sogleich loseilten, um die wilden Tieren zu unter-
Es war einmal ein Jäger, der war zu seiner Zeit und stützen, denn die Affen können besonders gut klet-
in seinem Land der berühmteste aller Jäger, denn tern. Der Ort des Geschehens war sieben Kilome-
er hatte nie auf Kosten der kleinen und schwachen ter vom Dorf entfernt. Als die Hunde die rufende
Tiere gejagt, und er verstand es, im Wald immer auf Stimme ihres Herrn hörten, waren sie in ihrer Hütte
große und starke Opfer zu stoßen. Deshalb kannten eingesperrt, und es war niemand da, der sie hätte
ihn auch alle Tiere des Waldes. In seinem Haus lebte befreien können. Inzwischen hatten sich die wilden
er mit zwei Hunden, die er Kitimiri und Duramani Tiere unter dem Baum versammelt. Die einen klet-
nannte; und er hatte zwei Frauen, aber die erste Frau terten am Baum in die Höhe, die anderen machten
war seine Lieblingsfrau. Die zweite fühlte sich zu sich über die Wurzeln des Baumes her, um ihn zu
wenig geliebt und unrecht behandelt. Deshalb war fällen. Mit ihren scharfen Zähnen war es ihnen schon
sie selten zu Hause. bald gelungen, die äußeren Wurzeln zu durchtren-
Eines Tages wollte die zweite Frau ihm eine nen. Dann kam die Hauptwurzel an die Reihe.
Lektion erteilen. Sie hatte Böses im Sinn, denn Immer noch waren die Hunde des Jägers in der
sie ging in den Wald und verbündete sich mit den Hütte gefangen. Doch die Lieblingsfrau des Jägers
größten Tieren: mit den Panthern, Löwen, Tigern, kam gerade nach Hause und hörte das Bellen der
Wölfen und Elefanten. Danach täuschte sie ihren Hunde. Als sie sah, dass ihr Mann nicht zu Hause
Mann, indem sie vorgab, seine beiden Hunde seien war, verstand sie sofort, dass die Hunde ihrem Mann
krank. In Wirklichkeit hatte sie die Tiere zwei Tage zu Hilfe eilen wollten. Sie öffnete ihnen das Tor und
lang ohne Futter eingesperrt. Der Jäger glaubte, dass ließ sie hinaus. Obwohl sie vom Hunger geschwächt
seine Hunde krank seien. Und er ließ sein Gewehr waren, rasten sie so schnell sie konnten den bekann-
zu Hause, als er sich zu einem Ausflug in den Wald ten Waldweg entlang, um ihrem Herrn zu helfen. Sie
begab. Entgegen seiner Gewohnheit blieb er immer kamen gerade rechtzeitig bei ihrem Herrn an, denn
auf dem Waldweg, denn er wollte möglichst keinem es fehlte nur noch wenig, und der Baum wäre gefällt
wilden Tier begegnen. Nach zwei Stunden kletterte er worden. Wütend stürzten sie sich auf die bösen Tiere
auf einen Baum, machte es sich auf einem großen Ast und bissen, was sie zu fassen kriegten. Unter lautem
gemütlich und fing an zu singen. Das hörte ein Tiger, Bellen verjagten sie die großen Tiere, den Tiger, den
der sich ganz unbemerkt heranschlich. Als er gesehen Elefanten und den Panther, bis sie endlich ihren
hatte, dass es der Jäger war, mit dessen zweiter Frau Herrn befreit hatten. Der Jäger kam vom Baum her-
sich die wilden Tiere verbündet hatten, eilte er zu unter, dankte seinen treuen Hunden für die Erret-
seinen Tigerkollegen, um sie zu informieren. Unter- tung vor dem Tode und ging mit ihnen zum Dorf
wegs traf er zuerst den Panther und dann den Wolf. zurück. Dort erklärte er seiner Familie, was ihm im
Sobald der Wolf von dem Jäger gehört hatte, rief er Walde widerfahren war. Die zweite Frau sagte dar-
mit seiner scharfen Stimme in den Wald hinein nach aufhin: „Es hat noch gar nicht angefangen mit den
den Tieren. Zehn Minuten später waren alle Tiere, Angriffen gegen dich! Solange Du mich in Deinem
mit denen sich die Frau verbündet hatte, versam- Hause nicht genügend anerkennst und gleichberech-
melt. Unter dem Kommando des Tigers rückten sie tigt behandelst, wirst du von allen Tieren bedroht
gegen den Jäger vor, der immer noch auf dem Baum bleiben!“
saß. Als der Jäger das erste Tier erblickte, war es für Da verstand der Jäger, dass jeder Mensch frei
ihn zu spät, um zu fliehen. Da er keine Waffe und ist, sein Recht zu verteidigen. Von diesem Tage an
auch seine Jagdhunde nicht dabei hatte, blieb ihm nur behandelte er seine beiden Frauen gleich.
seine Stimme, um Hilfe zu rufen. Er rief seine beiden (Original zitiert aus Hekaya.de 2016; . Abb. 39.1)
39 Hunde mit einem Gesang, der so klang:
„Kitimiri, yo! Duramani, yo! Kitimiri, yo! Dura- Anmerkung  Das Märchen „Der Jäger, der seine
mani yo! Die wilden Tiere töten mich, Durumani, Frauen ungleich behandelte“ stammt ursprünglich
yo! Die Tiger töten mich, Durumani, yo! Die Löwen aus Guinea in Westafrika. Das Wort Guinea leitet sich
töten mich, Duramani y! Kitimiri! Durumani! Yo, wohl von „Aguuinaoui“ ab, was „schwarz“ bedeutet.
yo! Durumani!“ Heute leben in Guinea 11,4 Mio. Einwohner, davon
39.2 · Die Charaktere
299 39

. Abb. 39.1  (Zeichnung: Claudia Styrsky)

sind über 90 % Muslime. Die Amtssprache in Guinea 39.2 Die Charaktere


ist Französisch, da das Land lange Zeit eine franzö-
sische Kolonie war. Insgesamt werden dort jedoch Das Märchen „Der Jäger, der seine Frauen ungleich
etwa 20 weitere Sprachen gesprochen (Auswärtiges behandelte“ besteht im Wesentlichen aus zwei
Amt 2015). Am 28.09.1958 entschied Guinea sich Hauptcharakteren: Die zweite und vernachlässigte
für die vollständige Unabhängigkeit und somit folgte Frau und der Jäger. Nebencharaktere sind die erste
am 02.10.1985 die Ausrufung der Republik Guinea. Frau, die Hunde Duramani und Kitimiri sowie die
Eigentlich zeichnet sich Guinea durch frucht- Tiere des Waldes. Im Folgenden sollen die Haupt-
bare Böden, reiche Vorkommen an Bodenschätze, und Nebencharaktere noch einmal ausführlicher
abwechslungsreiche und wunderschöne Landschaf- vorgestellt werden.
ten sowie einen Hafen als Tor zur Welt aus. Doch Die zweite Frau – die Vernachlässigte – nimmt
bisher werden diese Potenziale kaum genutzt, und eine zentrale Rolle im Märchen ein. Sie steht eindeu-
Guinea machte in den vergangenen Jahren vor allem tig an zweiter Stelle und ist diejenige, die weniger
Schlagzeilen durch politische Unruhen, Streiks und Aufmerksamkeit und Liebe von ihrem Mann
Korruption. Guinea kann zudem auf dem Human bekommt. Sie befindet sich in einer Situation, in der
Development Index der Vereinten Nationen, der als sie Ungerechtigkeit erlebt und nimmt ihr Schicksal
Wohlstandsindikator für Staaten fungiert, immer in die Hand, um Gerechtigkeit herzustellen. Inter-
nur die hintersten Plätze belegen. Dieser Rang spie- essanterweise richtet sie sich dabei nicht gegen ihre
gelt zudem wider, dass rund die Hälfte der Bevöl- potenzielle Rivalin, die erste Frau, sondern gegen
kerung von weniger als 1 US-Dollar pro Tag lebt ihren Mann. Sie möchte keine Einzelstellung haben,
(vgl. Deutsche Gesellschaft für Internationale sondern strebt eine Gleichbehandlung durch ihren
Zusammenarbeit). Mann an. Dass sie dabei sein Leben aufs Spiel setzt,
300 Kapitel 39 · Der Jäger, der seine Frauen ungleich behandelte – ein afrikanisches Volksmärchen

da er ohne die Hilfe der ersten Frau und seiner gefahrlos mit ihnen verbünden, ohne dass ihr selbst
Hunde von den Tieren getötet worden wäre, ist eine dabei etwas passiert. Die Tiere könnten sich die auf
sehr radikale Maßnahme. Letztendlich schafft sie es den Pakt mit ihr eingelassen haben, da der Jäger für
dadurch jedoch, die Gleichberechtigung durch ihren sie eine grundsätzliche Bedrohung darstellt.
Mann herzustellen. Zumindest schließt das Märchen
mit dieser Annahme – ob es tatsächlich funktioniert,
bleibt dahingestellt. 39.3 Psychologische Phänomene
Der Jäger ist der zweite Hauptcharakter des Mär-
chens. Er steht zwischen den beiden Frauen und wird In dem Märchen „Der Jäger, der seine Frauen
zum Spielball der zweiten Frau. Normalerweise ungleich behandelte“ finden sich einige psychologi-
betritt der Jäger mit seinen Hunden den Wald, nur sche Phänomene wieder, die anhand des Jägers, der
da die zweite Frau diese hungern lässt und ihm sagt, vernachlässigten Frau und der Dreiecksbeziehung
sie seien krank, zieht er alleine los. Dies lässt ihn zum zwischen dem Jäger und seinen beiden Frauen her-
Opfer der wilden Tiere werden, mit denen die zweite ausgearbeitet werden.
Frau einen Pakt geschlossen hat. Glücklicherweise
hören die Hunde seine Rufe, und die erste Frau lässt
diese auf ihr Bellen hin frei, um ihn zu retten. Doch 39.3.1 Glaube an eine gerechte Welt –
wie kam der Jäger in diese missliche Lage? Da er seine der Jäger
beiden Frauen ungleich behandelt, fühlt sich die ver-
nachlässigte Frau gekränkt und schmiedet einen Durch den Charakter des Jägers erschließt sich im
Racheplan, sodass letztlich sein Verhalten als Täter Wesentlichen das Phänomen Gerechtigkeit, im Spe-
dazu führt, zum Opfer zu werden. ziellen der Glaube an eine gerechte Welt, welcher im
Der erste Frau – die Bevorzugte – kann eher als Folgenden im Bezug zum Märchen genauer darge-
Nebencharakter bezeichnet werden, da ihr Handeln stellt wird.
nur eine marginale, wenngleich wichtige Rolle spielt. Gerechtigkeit und vor allem Ungerechtigkeit
Sie ist die Nummer 1 und wird von ihrem Mann der scheinen in diesem Märchen eine wichtige Rolle zu
zweiten Frau vorgezogen. Wahrscheinlich war sie spielen. Ein Phänomen, welches sehr gut zum Jäger
auch die erste Frau, die der Jäger geheiratet hat. Im passt, ist der Glaube an eine gerechte Welt. Bereits
Märchen tritt sie nur am Rande auf, sie ist die andere 1965 begann Melvin Lerner sich mit dem Glauben
Frau, der gegenüber sich die zweite Frau ungerecht an eine gerechte Welt auseinanderzusetzen. Lerner
behandelt fühlt. Ihre einzige maßgebliche Tat ist, dass beschrieb, dass Menschen davon ausgehen, dass
sie auf das Bellen der Hunde aufmerksam wird und sie in einer gerechten Welt leben, in der jeder das
diese daraufhin freilässt, damit diese ihren Mann bekommt, was er verdient, und auch jeder das ver-
retten können. dient, was er bekommt. Ohne diese Annahme wäre es
Die Hunde – Duramani und Kitimiri – sind die schwierig, langfristig zielgerichtetes Verhalten auszu-
treuen Gefährten des Jägers. Normalweise sind sie führen oder Vertrauen in Mitmenschen und Instan-
immer an seiner Seite und beschützen ihn im Wald. zen aufzubauen. Deswegen sind Menschen bemüht,
Doch durch den perfiden Plan der vernachlässigten diesen Gerechtigkeitsglauben aufrechtzuhalten.
Frau sind sie geschwächt und können den Jäger nicht Doch nur zu oft erfahren wir in unserer Welt
begleiten. Als dieser jedoch in seiner Not nach ihnen eine Verletzung dieser Annahme, z. B. wenn Men-
ruft, zeigen sie über ihre eigenen Grenzen hinaus schen unschuldig zum Opfer von Gewaltverbre-
Treue und Hingabe und kommen ihrem Herren zur chen werden. Dann brauchen wir Bewältigungs-
Rettung. strategien , die Lerner (1980) in rationale und
39 Die Tiere des Waldes stellen sowohl eine Bedro-
hung als auch eine Nahrungsquelle für die Men-
nichtrationale Strategien einteilte. Dabei ist es sogar
möglich, dass wir dem Opfer eine Schuld zuwei-
schen dar. Der Jäger macht normalerweise Jagd auf sen, um unseren Glauben an die gerechte Welt nicht
sie. Erstaunlicherweise kann sich die zweite Frau infrage stellen zu müssen. Lerner (1978) konnte
39.4 · Bedeutung für die heutige Zeit
301 39
experimentell bestätigen, dass der Gerechte-Welt- Areale im Gehirn aktiviert, in denen das Schmerz-
Glaube zur Ausgrenzung und Abwertung von Opfern empfinden lokalisiert ist.
oder Verlieren sowie zur Aufwertung und Bewunde- Die ungerechte Behandlung und soziale Zurück-
rung von Gewinnern führt. weisung, die die vernachlässigte Frau erfährt, wäre
Dieser Theorie folgend geschieht es dem Jäger damit vergleichbar mit einer körperlichen Misshand-
recht, dass ihn seine vernachlässigte Frau bestrafen lung durch ihren Mann.
will, da er die beiden Frauen ungerecht und ungleich In weiteren Studien stellte sich heraus, dass Ver-
behandelt hat. Er erhält also eine gerechte Bestrafung suchspersonen, wenn sie soziale Zurückweisung
für seine vorangegangenen Taten. erfahren, z. B. Bewerbungen schlechter beurteilen
oder andere Versuchspersonen in einem Experiment
z Fragen zur Reflexion stärker bestrafen. Letztendlich kann soziale Exklu-
44Kann und darf man erlebte Ungerechtigkeit mit sion also ein Auslöser für Aggression sein (Twenge
Ungerechtigkeit vergelten? et al. 2001). Daneben sind die Selbstregulation sowie
44Welche Handlungsalternativen haben wir? die kognitive Kontrolle bei Menschen herabgesetzt,
die soziale Zurückweisung erfahren (Baumeister u.
DeWall 2005). Versuchspersonen konnten nach dem
39.3.2 Frustrations-Aggressions- Lesen einer Textpassage Gedächtnisinhalte schwerer
Theorie und soziale abrufen und schnitten bei einem Test zu logischem
Zurückweisung – die Denken schlechter ab.
vernachlässigte Frau Dass die zweite Frau zu einer aggressiven Lösung
der erlebten Ungerechtigkeit greift, wird damit nach-
Das Handeln der vernachlässigten Frau lässt sich vollziehbar, wobei sie sogar den Tod ihres Mannes in
durch die Frustrations-Aggressions-Theorie sowie Kauf nimmt. Fraglich ist, ob ihr dies in ihrer blinden
durch die Forschung zur sozialen Zurückweisung Rache überhaupt bewusst ist oder ob sie vollkommen
als Auslöser für Aggression erklären. Das Verhal- kopflos handelt.
ten der zweiten Frau soll keineswegs gerechtfertigt
werden, doch bietet die psychologische Forschung z Fragen zur Reflexion
einige Erklärungsansätze, um das Verhalten nach- 44Waren Sie schon einmal in einer Situation, in
vollziehbar zu machen und vielleicht auch sein der Sie aufgrund von Zurückweisung kopflos
eigenes Verhalten unter diesen Erkenntnissen anders oder aggressiv reagiert haben? Oder haben Sie
zu betrachten. von anderen Menschen gehört, die sich in solch
Im Rahmen der Frustrations-Aggressions-Theo- einer Situation befunden haben?
rie wird davon ausgegangen, dass Aggression eine 44Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie von einem
Folge von Frustration sein kann (Dollard et al. 1939). anderen Menschen oder einer Gruppe von
Je intensiver und lang anhaltender die Frustration ist, Menschen zurückgewiesen werden? Können
desto stärker fällt die aggressive Reaktion aus. Aller- Sie nachempfinden, dass sich eine Zurück-
dings führt nicht jede Frustration automatisch zur weisung wie körperlicher Schmerz anfühlt?
Aggression. Die vernachlässigte Frau wird allerdings
dauerhaft ungerecht behandelt, es summieren sich
also die Frustrationserfahrungen und irgendwann 39.4 Bedeutung für die heutige Zeit
gipfelt dies in dem aggressiven Angriff ihrem Mann
gegenüber. Nun stellt sich die Frage, was wir aus dem Märchen
Die Studie von Eisenberger et al. (2003) zeigt, für uns selbst, unser Leben und unsere Weltan-
dass soziale Zurückweisung, auch Exklusion genannt, schauung mitnehmen können. Im Folgenden sollen
ebenso schmerzhaft ist wie physischer Schmerz. vier Denkanregungen diskutiert werden, die durch
Sowohl bei Zurückweisung wie auch körperlichen die Themenschwerpunkte des Märchens angeregt
Verletzungen werden ähnliche neuroanatomische werden.
302 Kapitel 39 · Der Jäger, der seine Frauen ungleich behandelte – ein afrikanisches Volksmärchen

39.4.1 Ungerechtigkeit in der Hinzuzufügen ist, dass in den meisten Ländern in


Gesellschaft denen Polygamie erlaubt ist, die Polygynie gemeint
ist und praktiziert wird. Das bedeutet, dass ein Mann
In einer westlichen Kultur lässt sich das konkrete Bei- mehrere Frauen heiratet wie im Märchen. Im Hin-
spiel, eine Frau der anderen vorzuziehen, vermutlich blick auf Gerechtigkeit stellt sich doch die Frage,
seltener finden, daher soll der Begriff der Gerechtig- warum nur Männer mehrere Frauen heiraten dürfen,
keit in einen größeren Kontext gestellt werden. aber Frauen nicht mehrere Männer. Mit Gleichbe-
Wo gibt es Ungerechtigkeiten in unserer Gesell- rechtigung hat das nichts gemein.
schaft? Im Jahr 2016 soll es nun so weit sein: 1 % Auch im Tierreich finden wir Monogamie
der Weltbevölkerung besitzt mehr als der Rest der kaum. Sowohl männliche als auch weibliche Tiere
Welt. Wenn man sich vor Augen führt, dass bei- nehmen es mit der Treue oft nicht so genau, selbst
spielsweise in Guinea die Hälfte der Bevölkerung wenn sie eigentlich in Zweierbeziehungen leben.
mit nur 1 US-Dollar pro Tag auskommen muss, ist Bei den großen Menschenaffenarten, den Schim-
dies eine große Ungerechtigkeit. Die Schere zwischen pansen und Gorillas, war man sich schon lange
Arm und Reich wird leider immer größer, und wir sicher, dass sie polygam leben. Selbst Gibbons, von
scheinen diesen Prozess kaum aufhalten zu können. denen man glaubte, dass sie monogam leben, wurden
Ist das gerecht und fair? Vermutlich nicht. Welches „enttarnt“ – auch sie haben mehrere Partner. Eine
als gerecht empfundene Verteilungsprinzip könnte Ernüchterung, galten sie doch lange als ein Vorbild
dem zugrunde liegen? Unter dem Leistungsaspekt im Tierreich, welches die Monogamie vorlebt. David
betrachtet arbeiten Multimilliardäre mit Sicher- Barash erklärt jedoch, dass unsere Biologie die
heit nicht so viel härter als diejenigen, die deutlich Monogamie definitiv nicht ausschließt – wir stehen
weniger verdienen. Gleichheit und Gerechtigkeit einfach vor der Wahl (Wilhelm 2010).
sind somit nicht gegeben. Man neigt häufig dazu, alternative Praktiken
Vermutlich fallen Ihnen aber auch noch andere anderer Länder pauschal zu verurteilen und als
Beispiele ein – nicht auf gesellschaftlicher Ebene, „schlecht“ und „falsch“ abzustempeln. Doch wer
sondern in Ihrem privaten Umfeld, in der Schule, sagt uns, was richtig und falsch ist? Welche ist die
in der Familie. „bessere“ Beziehungsform, die Monogamie oder
Polygamie? Das ist schwer zu beurteilen, und am
z Fragen zur Reflexion Ende sollte jeder eine Entscheidung für sich selbst
44Wo wurden Sie ungerecht behandelt? treffen. Hierzulande haben Vielehen vor dem Gesetz
44Und – Hand aufs Herz - wo haben auch Sie keinen Bestand, dafür können wir unsere Sexuali-
selbst jemanden ungerecht behandelt? tät – ob als Mann oder Frau – frei ausleben. Einige
wählen dabei ebenfalls mehrere Partner. In armen
Ländern, in denen Frauen keine ausreichende
39.4.2 Kulturelle Unterschiede – soziale Absicherung haben, kann der Zusammen-
Monogamie und Bigamie schluss größerer Gemeinschaften, z. B. in einem
erweiterten Familienverbund, aber durchaus sinn-
In unserer Kultur stellt sich die Frage zwischen voll sein.
Monogamie und Bigamie überhaupt nicht. Bigamie
wird laut Strafgesetzbuch sogar mit bis zu zwei Jahren
Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe geahndet. Doch 39.4.3 Gleichberechtigung von Mann
andere Länder, andere Sitten – heute finden wir und Frau
Bigamie beziehungsweise Polygamie vor allem in den
39 mehrheitlich muslimischen Ländern, ausgenommen
sind beispielsweise die Türkei, Tunesien und Alba-
Im vorherigen Absatz wurde bereits kurz angespro-
chen, dass es auch beim Thema Polygamie oftmals
nien. Am häufigsten wird Polygamie in Westafrika keinen gleichberechtigten Ansatz gibt. Häufig dürfen
und in einigen arabischen Staaten praktiziert. In nur Männer polygam leben, Frauen sollen – teils
diesen Ländern ist das also auch vollkommen legal. unter Strafandrohung – monogam bleiben.
39.4 · Bedeutung für die heutige Zeit
303 39
Aber auch in vielen anderen Bereichen gelten für Es lohnt sich im Zusammenhang mit der Gleich-
Frauen und Männer nicht die gleichen Maßstäbe. berechtigung von Mann und Frau, einen genaueren
Hierzu genügt ein Blick in den eigenen Kulturkreis, Blick auf das eigene Leben zu werfen.
auch in Deutschland herrscht Ungerechtigkeit zwi-
schen Männern und Frauen. z Fragen zur Reflexion
Ein Paradebeispiel, welches immer häufi- 44Finden Sie eigene Beispiele aus Ihrem Leben?
ger Gehör findet, sind Frauen in Führungsposi- Wo erleben Sie in Ihrem Alltag Gleichberech-
tionen. Die neu eingeführte Frauenquote spricht tigung zwischen Mann und Frau, wo hingegen
dabei Bände. 51 % der Hochschulabsolventen sind nicht?
weiblich, aber am Ende schaffen es nur sehr wenige 44Können Sie vielleicht selbst etwas daran
Frauen in die hohen Führungsetagen. Beispielsweise ändern, egal ob Mann oder Frau?
sind nur 15 % des mittleren Managements weiblich
besetzt und 3 % der Vorstandsebene (Wippermann
2010). Die geringen Prozentsätze können dabei nicht 39.4.4 Rationale Liebe
allein dadurch erklärt werden, dass es Frauen auf-
grund von Familienplanung oder zu wenig Ehrgeiz Als letzter Denkanstoß soll noch einmal das Ende
nicht schaffen könnten. des Märchens aufgegriffen werden: „Da verstand
Eagly und Karau (2002) beschreiben dieses Phä- der Jäger, dass jeder Mensch frei ist, sein Recht zu
nomen mit der Rolleninkongruenztheorie . Die verteidigen. Von diesem Tage an behandelte er seine
Rolle einer Führungskraft zeichnet sich vor allem beiden Frauen gleich.“
durch männliche oder „agentische“ Eigenschaften Liebe ist eine Emotion, Gefühle spielen eine
aus wie leistungsorientiert, selbstsicher, dominant wichtige Rolle und das Herz entscheidet meist,
und durchsetzungsfähig. Die Rolle der Frau hingegen nicht der Verstand. In dem Märchen wird Liebe
beinhaltet weibliche oder „kommunale“ Eigenschaf- als etwas sehr Rationales dargestellt, dass man
ten. Eine Frau gilt als fürsorglich, rücksichtsvoll, res- kopfgesteuert verändern kann. Im wahren Leben
pektvoll und einfühlsam. Das Problem stellt nun die sieht das wohl etwas anders aus. Unsere Gefühle
Inkongruenz zwischen den zugeschriebenen Rol- machen manchmal, was sie wollen, ohne dass wir
leneigenschaften dar. Diese führt zu dem Vorurteil, gezielt darauf einwirken können. Menschen ver-
dass Frauen weniger geeignet für Führungspositio- halten sich oft irrational, und gerade die Liebe ent-
nen wären. Aufgrund dessen gelangen sie seltener in zieht sich dem rationalen Denken in besonderem
Führungspositionen. Maße.
Eine Studie von Eagly et al. (2003) konnte nach- Ob man zwei Menschen nun gleich lieben und
weisen, dass Frauen sogar die „besseren“ Füh- behandeln kann, muss auch hier jeder für sich selbst
rungskräfte sind, indem sie transformationaler entscheiden. Dass man die Liebe nicht von einem auf
führen als Männer. Zu betonen ist, dass die heraus- den nächsten Moment aus- und einschalten kann wie
gestellten Unterschiede der Studie nur sehr gering einen Lichtschalter, ist vermutlich nachvollziehbar
sind. Mitnehmen kann man jedoch, dass Frauen und gilt für alle gleichermaßen.
mit Sicherheit keine schlechteren Führungskräfte
sind. Der transformationale Führungsstil gilt als z Fragen zur Reflexion
eine der besten Formen von Führung. Er zeichnet 44Kann man zwei Menschen wirklich gleich-
sich beispielsweise durch die Vorgabe von Visio- zeitig lieben und gleich behandeln? Oder wird
nen, die Übernahme neuer Perspektiven für Pro- man immer mehr Zuneigung für eine Person
blemlösung und Aufgabenbewältigung oder durch empfinden?
Mentoring der Geführten, abgestimmt auf deren 44Ist Liebe außerdem etwas, dass man rational
individuelle Bedürfnisse, aus. Transformationale steuern kann? Oder hat der Jäger einfach
Führung steht nachweislich in einem positiven aus Angst vor dem Tod und der Gewalt der
Zusammenhang mit Führungseffektivität (Lowe zweiten Frau und der Tiere des Waldes „klein
et al. 1996). beigegeben“?
304 Kapitel 39 · Der Jäger, der seine Frauen ungleich behandelte – ein afrikanisches Volksmärchen

39.5 Fazit jaeger-der-seine-frauen-ungleich-behandelte--afrika_52.


html. Zugegriffen: 12. November 2016.
Lerner, M. J. (1965). Evaluation of performance as a function of
Afrika und somit auch Guinea stellen einen aus- performer's reward and attractiveness. Journal of Perso-
geprägten Gegensatz zu unserer westlichen Kultur nality and Social Psychology 1, 355–360.
dar. Gerade darin liegt der Reiz, das Märchen „Der Lerner, M. J. (1978). … but nobody liked the Indians. “Belief
Jäger, der seine Frauen ungleich behandelte“ genauer in a just world” versus the “Authoritarianism” syndrome.
Ethnicity 5, 229–237.
zu betrachten. Das Märchen ist geprägt von einem
Lerner, M. J. (1980). The belief in a just world. In: M. J. Ler-
grundlegenden Wandel der Beziehungen. Von der ner (Ed.), Belief in a just world. A fundamental delusion
Bevorzugung der ersten Frau und der fortwähren- (pp. 9–30). New York: Springer US.
den Benachteiligung der zweiten Frau führt uns die Lowe, K. B., Kroeck, K. G., & Sivasubramaniam, N. (1996). Effec-
Geschichte zu einem spannenden Höhepunkt, bei tiveness correlates of transformational and transactional
leadership: A meta-analytic review of the MLQ literature.
dem der Jäger zum Gejagten wird und sein Opfer
The Leadership Quarterly 7, 385–425.
zur Täterin. Erst dadurch wird dem Jäger die große Twenge, J. M., Baumeister, R. F., Tice, D. M., & Stucke, T. S.
Ungerechtigkeit vor Augen geführt, die er selbst (2001). If you can't join them, beat them: effects of social
begangen hat und die er nachfolgend ausgleicht – er exclusion on aggressive behavior. Journal of Personality
bringt von nun an beiden Frauen Respekt entgegen and Social Psychology 81, 1058–1069.
Wilhelm, K. (2010). Fremdgehen ist die Regel. Bild der Wissen-
und behandelt sie gleich.
schaft online. http://www.bild-der-wissenschaft.de/bdw/
Daraus ergeben sich wertvolle Denkanstöße für bdwlive/heftarchiv/index2.php?object_id=32356794.
unser Zusammenleben und eine Sensibilisierung für Zugegriffen: 12. November 2016.
Ungerechtigkeiten – seien es die Ungleichheit von Wippermann, C., Bundesministerium für Familie, Senioren,
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positionen. Barrieren und Brücken. Heidelberg: Sinus
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Eisenberger, N. I., Lieberman, M. D., & Williams, K. D. (2003).
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Hekaya.de. (2016). Der Jäger, der seine Frauen ungleich
behandelte. http://www.hekaya.de/maerchen/der-­
305 40

König Drosselbart von den


Gebrüdern Grimm (1812)
Irina Bachsleitner und Julia Käs

40.1 Inhalt des Märchens – 306

40.2 Die Charaktere – 307

40.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 307


40.3.1 Psychologischer Vertrag – 307
40.3.2 Zufriedenheit und Anspruchsniveau – 308
40.3.3 Bestrafungslernen – 309

40.4 Fazit – 310

Literaturverzeichnis – 310

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_40
306 Kapitel 40 · König Drosselbart von den Gebrüdern Grimm (1812)

40.1 Inhalt des Märchens Spott des Spielmanns: „Du taugst zu keiner Arbeit,
mit dir habe ich’s schlimm getroffen.“ Und sie musste
Ein König hatte eine Tochter, die überaus schön war, von nun an Töpfe auf dem Markt verkaufen. Die
aber so stolz und hochmütig, dass ihr kein Verehrer Leute kauften gern, doch am zweiten Tag kam ein
gut genug war. Einmal veranstaltete der König ein betrunkener Husar daher gejagt und ritt ihr alle
großes Fest und lud heiratslustige Männer aus aller Töpfe kaputt. Verzweifelt erzählte sie ihrem Mann
Herren Länder ein. Die Prinzessin aber wies einen das Unglück, dieser aber schimpfte nur und schickte
nach dem anderen ab und trieb noch dazu Spott mit sie als Küchenmagd ins Königsschloss. So wurde die
ihnen. Der eine war ihr zu dick, „Das Weinfass!“, der Königstochter zur Küchenmagd, musste die sauerste
andere zu lang, „Lang und schwank hat keinen Gang!“, Arbeit tun und brachte Essensreste nach Hause,
und ein dritter zu blass, „Der bleiche Tod!“. Sie hatte an damit sie und der Spielmann etwas zu essen hatten.
jedem etwas auszusetzen, besonders aber machte sie Als bekannt gegeben wurde, dass die Hochzeit des
sich über einen guten König lustig, dem das Kinn ein ältesten Königssohnes gefeiert werden sollte, ging die
wenig krumm gewachsen war. „Ei“, rief sie und lachte, arme Frau zur Saaltür hinauf, um zuzusehen. Traurig
„der hat ein Kinn, wie die Drossel einen Schnabel“, und über ihr Schicksal, verwünschte sie ihren Stolz und
von nun an bekam er den Namen König Drosselbart. Hochmut, die sie erniedrigt und in so große Armut
Zornig über das Verhalten seiner Tochter schwur gestürzt hatten. Auf einmal kam der Königssohn auf
der König, dass sie den erstbesten Bettler, der zum sie zu und wollte mit ihr tanzen. Aber sie weigerte sich
Schloss käme, zum Mann nehmen solle. Als wenig und erschrak, als sie sah, dass es der König Drossel-
später ein bettelnder Spielmann unter dem Fenster bart war, den sie mit Spott abgewiesen hatte. Doch er
zu singen begann, hielt der König sein Versprechen. sprach ihr freundlich zu: „Fürchte dich nicht, ich und
Als Bettelweib musste sie das Schloss verlassen und der Spielmann, der mit dir in dem elenden Häuschen
mit ihrem Mann fortziehen. Auf dem Weg zu ihrem gewohnt hat, sind eins. Dir zuliebe habe ich mich so
neuen Heim bewunderte sie schöne Besitzungen verstellt. Und der Husar, der dir die Töpfe niederge-
und erfuhr voller Reue, dass alles König Drosselbart ritten hat, bin ich auch gewesen. Das alles ist gesche-
gehörte: „Ich arme Jungfer zart, ach, hätt‘ ich genom- hen, um deinen stolzen Sinn zu beugen und dich für
men den König Drosselbart.“ deinen Hochmut zu strafen, womit du mich verspot-
In ihrem neuen Heim angekommen, musste sie tet hast.“ Sie weinte bitterlich und zeigte Reue. Und so
arbeiten, doch kochen, flechten und auch spinnen heirateten sie und die rechte Freude fing jetzt erst an.
misslangen ihr. Für ihre Unfähigkeit erntete sie den (Grimm u. Grimm 1812; . Abb. 40.1)

. Abb. 40.1  (Zeichnung: Claudia


Styrsky)

40
40.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
307 40
Anmerkung  Als Teil der Kinder- und Hausmär- seine Tochter dem nächstbesten Bettler zur Frau zu
chen-Sammlung der Gebrüder Grimm wurde das geben. Wie es sich für einen guten Herrscher gehört,
eher unbekannte Märchen 1812 zum ersten Mal steht der König zu seinem Wort, als der Spielmann
abgedruckt und ab 1954 auch mehrmals verfilmt. ankommt.
Typisch für die mittelalterliche Märchenliteratur ist Von da an wandelt sich das Verhältnis von
das Verhältnis zwischen Umworbener und Werber, König und Tochter, indem der sorgende Vater von
welcher zuerst Ablehnung erfährt, seine Umwor- einem Tag auf den anderen seine einzige Tochter
bene letztlich aber doch verführen kann. Auch einem völlig Fremden anvertraut und sie regelrecht
„König Drosselbart“ bedient sich dieser beliebten verstößt.
Grundkonstellation. Außerdem ist das Märchen ein Dieser Fremde, der Spielmann, ist König Dros-
schönes Beispiel für die „zänkische Weiberrede“, selbart. Im Gegensatz zur Königstochter ist er trotz
welche zur literarischen Tradition des Mittelalters seines Standes mit der Realität der normalen Bürger
gehört. vertraut und findet sich in ihr zurecht. Im Märchen
wird er entsprechend als von Grund auf guter
Mensch beschrieben. Wenn man jedoch genauer hin-
40.2 Die Charaktere blickt, hat auch er seine Schattenseiten. Mit seinen
Rollenspielen möchte er die Königstochter letztend-
Die Königstochter, um deren Geschichte sich das lich genauso wie ihr Vater für ihr hochmütiges Ver-
Märchen dreht, ist ein verwöhntes und verzoge- halten bestrafen und dadurch gefügig machen. Sein
nes Einzelkind. Schön, selbstbewusst und mit einer teilweise sehr erniedrigendes Verhalten rechtfertigt
starken Ichbezogenheit, zeigt sie einen deutlichen er mit seiner Liebe zu ihr.
Hang zum Narzissmus. Genauso wie der Jüng- Die Beziehung zwischen König Drosselbart und
ling Narziss aus den Metamorphosen von Ovid der Königstochter wandelt sich über das Märchen
verschmäht auch sie die Liebe vieler Männer und hinweg. Zunächst fühlt sich die Königstochter König
nimmt dabei keine Rücksicht auf deren Gefühle. In Drosselbart aufgrund seines äußeren Makels über-
der Erzählung von Ovid wird der Jüngling für sein legen und verletzt seinen Stolz durch ihren Spott. In
Verhalten mit unstillbarer Selbstliebe bestraft, die der Rolle des Spielmanns und Husaren rächt er sich
Königstochter wird stattdessen zur Strafe von ihrem und demütigt sie, um anschließend als König Dros-
Vater mit einem Bettler, dem Spielmann, verheira- selbart, der Retter in der Not, aufzutreten.
tet. Während ihres Zusammenlebens mit dem Spiel-
mann offenbart sich, dass sie weder für die Arbeit
„normaler“ Bürger gemacht ist noch eine Vorstel- 40.3 Psychologische Phänomene und
lung von deren Leben hat. Ihr einziges Kapital ist ihre Implikationen
Schönheit, durch die sie einige Töpfe verkaufen kann,
aber auch dies ist vergänglich, wie der Husar zeigt, als Aus dem Verhalten der Hauptcharaktere lassen sich
er ihre Töpfe zerstört. einige wichtige psychologische Phänomene ablei-
Zu ihrer Einstellung und ihrem Verhalten trug ten, die auch heutzutage bedeutsam sind. Darge-
sehr wahrscheinlich auch ihr alleinerziehender Vater, legt werden insbesondere Aspekte der persönlichen
der König, bei, für den die Tochter sein Ein und Alles Beziehungen, die die Königstochter zu ihrem Vater
ist. Daher veranstaltet er ein großes Fest für sie, zu sowie zu König Drosselbart hat.
dem er Männer aus aller Herren Länder von Rang
und Namen einlädt, um ihr die besten potenziel-
len Ehemänner zur Auswahl zu bieten. Doch neben 40.3.1 Psychologischer Vertrag
dieser gütigen und fürsorglichen Art zeigt der König
auch eine andere Seite von sich. Als seine Tochter Zuerst wollen wir einen genaueren Blick auf das Ver-
alle Männer, die er extra für sie einlud, zurückweist, hältnis zwischen König und Tochter werfen. Hier
fühlt er sich gekränkt. Er fürchtet einen Gesichtsver- kommt es, wie zu den Charakteren bereits darge-
lust und reagiert zornig und impulsiv, als er schwört, stellt, zu einer Art Bruch zwischen Vater und Tochter.
308 Kapitel 40 · König Drosselbart von den Gebrüdern Grimm (1812)

Doch wie konnte es soweit kommen, dass der König Implikationen für die Arbeit
seine Tochter von sich stößt und einem Wildfrem- Neben privaten Beziehungen ist der psychologi-
den anvertraut? sche Vertrag besonders auch Bestandteil berufli-
Unser Zusammenleben mit anderen Menschen cher Beziehungen. Hier geht es um die gegensei-
ist neben klar kommunizierten Regeln, dass man tigen Erwartungen und Verpflichtungen speziell
z. B. seinem Partner oder den Eltern Bescheid gibt, von Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die über den
wenn man sich verspätet, auch durch einen implizi- (schriftlichen) Arbeitsvertrag hinausgehen. Inter-
ten psychologischen Vertrag bestimmt. Ein psycho- essant ist vor allem, wie psychologische Verträge in
logischer Vertrag umfasst die Wahrnehmung gegen- diesem Kontext geschlossen werden. Das Unterneh-
seitiger Erwartungen und Verpflichtungen in einer mensleitbild, Bewerbungs- und auch Mitarbeiterge-
Beziehung. Wie wir uns anderen gegenüber verhalten spräche spielen hier eine wichtige Rolle.
ist also – neben definierten Regeln – implizit durch Man muss sich auf beiden Seiten darüber im
unsere Wahrnehmung bestimmt, und im Gegenzug Klaren sein, dass alles, was man nach außen trägt,
erwarten wir ebenso ein gewisses Verhalten auf der auch gewisse Erwartungen weckt und Verpflichtun-
Gegenseite. gen mit sich bringt. So erwartet beispielsweise der
In unserem Märchen bietet der König seiner Arbeitnehmer, dass fair mit ihm umgegangen wird,
Tochter alles, was sie braucht, im Gegenzug erwar- wenn das Unternehmensleitbild auf der Homepage
tet er Gehorsam und Dankbarkeit. Die Tochter weiß verspricht: Fairness ist einer unserer wichtigsten
die Mühen des Vaters jedoch nicht zu schätzen und Werte. Dabei ist es wichtig, nur das zu versprechen,
lässt ihn durch ihren Übermut auch noch lächerlich was man auch einhalten kann. Hat der Arbeitnehmer
dastehen. Sie bricht sozusagen den psychologischen allerdings das Gefühl, dass der Arbeitgeber seinen
Vertrag zu ihrem Vater, was diesen sehr enttäuscht. Verpflichtungen nachkommt, so können psychologi-
Als Konsequenz dieses Vertragsbruches bestraft sche Verträge den Arbeitnehmer motivieren, zusätz-
er seine Tochter, indem er sie an den nächstbesten liche Verpflichtungen zu erfüllen (Rousseau 1995).
Bettler verheiratet.

40.3.2 Zufriedenheit und


Implikationen für die Erziehung Anspruchsniveau
Als Erstes möchten wir das Verhalten des Königs kri-
tisch hinterfragen. Ist die Konsequenz des Königs, Warum findet die Königstochter nun unter all diesen
seine Tochter derart zu bestrafen, wirklich sinnvoll? Männern niemanden, der ihr gefällt? Warum ist sie
Sollten wir auf das Nichteinhalten eines psychologi- mit keinem zufrieden und hat an jedem etwas aus-
schen Vertrages wirklich mit Strafe oder Abweisung zusetzen? Die Antwort auf diese Fragen liegt in ihr
reagieren? Nein! selbst und ihren sehr hoch gesetzten Ansprüchen.
Wird ein psychologischer Vertrag gebrochen, Gemäß der sozialen Austauschtheorie von
also unsere Erwartungen an das Verhalten einer Thibaut u. Kelley (1959) haben wir gewisse Erwar-
anderen Person verletzt, so sollten wir das zualler- tungen an eine soziale Beziehung. Diese Erwartun-
erst kommunizieren. Besonders bei der Kinder- gen ergeben sich aus unseren eigenen Erfahrungen,
erziehung spielt dies eine wichtige Rolle. Kindern ist die wir in der Vergangenheit gemacht haben, sowie
oft gar nicht bewusst, dass sie durch ihr Verhalten aus der Beobachtung anderer Beziehungen.
einen „Vertragsbruch“ begehen. Eltern sollten den Für die Königstocher waren diese Erfahrungen
Kindern ihr Fehlverhalten aufzeigen, indem sie mit wahrscheinlich recht einseitig. Als einziges Kind
ihnen darüber sprechen und alternative Verhaltens- in einen hohen Stand geboren und von Schönheit
weisen aufzeigen. gesegnet, stand sie bisher vermutlich immer im
Durch Kommunikation hätte auch der König Mittelpunkt und ihr wurde jeder Wunsch von den
seiner Tochter den steinigen Weg zur Einsicht mög- Augen abgelesen. Entsprechend dieser persönlichen
40 licherweise erleichtern können. Erfahrungen glaubt sie nun ein Anrecht auf einen
40.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
309 40
Partner zu haben, der allen ihren Wünschen und Dinge (Iyengar u. Lepper 2000; Schwartz 2004).
Vorstellungen entspricht. Doch keiner der Männer, Wenn man sich somit für eine Person als Partner ent-
die der Vater ihr präsentiert, wird ihren Ansprüchen scheidet, schließt man gleichzeitig eine womöglich
gerecht. Gleichzeitig sieht sie sich nicht gezwungen, besser passende Alternative aus.
eine Wahl zu treffen. Warum sollte sie sich auch für An der Fülle des Angebotes können wir nichts
einen dieser Männer entscheiden, wenn die Auswahl ändern, wohl aber an unserem Anspruch. Niemand
doch so groß ist? Irgendwann wird der eine, der all ist perfekt – auch wir selbst nicht. Die Königstoch-
ihren Ansprüchen gerecht wird, schon dabei sein. ter muss letztlich einsehen, dass sie mit ihrer Unge-
Ob wir mit einer sich uns darbietenden sozia- schicktheit in handwerklichen Dingen wahrlich nicht
len Beziehung zufrieden sind, hängt also sowohl von die beste Partie für den Spielmann ist. Wir sollten
unserem generellen Anspruchsniveau als auch von also nicht vergessen, dass es in einer Partnerschaft
der Anzahl und Qualität der Alternativen, die sich oder bei der Partnerwahl nicht nur um unser eigenes
uns bieten, ab. Glück geht, sondern auch um das unseres Partners.
Die Königstocher könnte noch so wählerisch
sein – böten sich ihr z. B. nur zwei Alternativen, wäre
sie gezwungen, ihre Ansprüche herunterzuschrau- 40.3.3 Bestrafungslernen
ben, um überhaupt einen Ehemann zu bekommen.
Doch unter der Vielzahl an heiratswilligen Männern Die Beziehung zwischen Königstochter und König
scheint die Auswahl schier grenzenlos zu sein, sodass Drosselbart ist das zentrale Thema unseres Mär-
die Königstochter an ihren unrealistischen Ansprü- chens. Diese ist vor allem durch Demütigungen auf
chen festhält und mit keinem der Männer zufrie- beiden Seiten geprägt. König Drosselbart geht sogar
den ist. so weit, dass er die Königstochter für ihr hochmüti-
ges Verhalten bestraft und sie somit zu einem demü-
tigeren Verhalten „erziehen“ will.
Implikationen für die Lebensgestaltung In der Psychologie ist Bestrafung ein Teil der ope-
Wie sieht es in unserem eigenen Leben aus? Wo ranten Konditionierung. Operantes Konditionieren
liegen unsere Ansprüche an einen Partner und sind beschreibt das Lernen des Zusammenhangs zwi-
diese angemessen oder auch, wie die der Königstoch- schen einem Verhalten und den Konsequenzen, zu
ter, vollkommen überzogen? Ist an der Behauptung denen das Verhalten in einer bestimmten Situation
„Generation Beziehungsunfähig“, die derzeit öfters führt (Lefrancois 2013). Lernen erfolgt also durch
zu hören ist, womöglich etwas dran? Konsequenzen, welche positiver oder negativer
Zumindest stehen auch uns, ebenso wie der Natur sein können (Verstärkung oder Bestrafung).
Königstocher, viele potenzielle Kandidaten für die Man unterscheidet zwei Arten der Bestrafung,
Partnerwahl zur Verfügung. Eine größere Mobilität, die direkte und die indirekte Bestrafung:
Online-Dating-Plattformen oder Apps wie Tinder 44Bei der direkten Bestrafung folgt auf ein
machen es möglich. Insbesondere bei Tinder finden bestimmtes Verhalten eine unangenehme
wir eine ähnliche Situation wie bei der Königstoch- Konsequenz. Beispiel: Ein Kind spielt aus
ter vor: Auf der Basis eines Bildes wird entschieden, Langeweile mit einem Messer und fügt sich
ob einem der andere Mensch zusagt oder eben nicht. eine Schnittwunde zu.
Doch eine größere Auswahl bedeutet nicht auto- 44Bei der indirekten Bestrafung führt ein
matisch, dass wir dann glücklicher oder zufriedener bestimmtes Verhalten dazu, dass eine
mit unserer Entscheidung sind. Im Gegenteil führen angenehme Konsequenz ausbleibt. Beispiel:
mehr Auswahlalternativen dazu, dass sich auch die Ein Kind lügt und bekommt daraufhin
Entscheidungsfindung komplexer gestaltet und wir Fernsehverbot.
den möglichen verpassten Chancen hinterhertrau-
ern. Denn jede Entscheidung für etwas ist gleichzei- König Drosselbart nutzt beide Arten der Bestrafung.
tig eine Entscheidung gegen eine Vielzahl anderer Zum einen bestraft er die Königstochter indirekt,
310 Kapitel 40 · König Drosselbart von den Gebrüdern Grimm (1812)

indem er ihr allen Reichtum nimmt, zum anderen 40.4 Fazit


bestraft er sie aber auch direkt, indem er sie niedere
Arbeiten verrichten lässt oder als Husar alle Töpfe Grundsätzlich würden wir Märchen als gut, lehrreich
zerstört. und moralisch korrekt beschreiben, doch „König
Drosselbart“ zeigt uns, dass wir ihre Inhalte durchaus
kritisch hinterfragen sollten. Die Charaktere zeigen
Implikationen für die Lebensgestaltung Verhaltensweisen wie Demütigung oder Bestrafung,
Durch Bestrafung soll neues bzw. verändertes Verhal- welche zur damaligen Zeit akzeptabel gewesen sein
ten erlernt werden. Fraglich ist jedoch, ob eine Ver- mögen, heute jedoch differenziert betrachtet werden
haltensänderung wirklich durch Bestrafung erzielt müssen und im Lichte neuerer Erkenntnisse nicht
werden kann oder soll. Krapp und Weidemann mehr tragbar sind. Doch auch daraus können wir
(2001, S. 150) weisen beispielsweise darauf hin, „[…] unsere Lehren ziehen. Wir sollten öfter einmal einen
dass mit einer Strafe lediglich ein unerwünschtes kritischen Blick auf gesellschaftliche Rollen werfen
Verhalten gestoppt, noch nicht aber ein erwünsch- und auch unser eigenes Verhalten hinterfragen.
tes Alternativverhalten aufgebaut wird.“
Die Taktik von König Drosselbart, bei der Bestra-
fung eingesetzt wird, um das Verhalten der Königs- Literaturverzeichnis
tochter zu ändern, könnte sich ebenso gut ins
Grimm, J., & Grimm, W. (1812) Kinder- und Haus-Märchen,
Gegenteil kehren: Zwar scheint die Königstochter gesammelt durch die Brüder Grimm: Große Ausgabe (Bd. 1).
im Moment der Heirat geläutert zu sein, sie könnte Berlin: Realschulbuchhandlung.
jedoch jederzeit wieder in ihr altes Verhaltensmus- Iyengar, S., & Lepper, M. (2000). When choice is demotivating:
ter zurückfallen. Can one desire too much of a good thing?. Journal of Per-
Bestrafung birgt viele negative Auswirkungen sonality and Social Psychology 79, 995–1006
Krapp, A. & Weidemann, B. (2001). Pädagogische Psychologie.
wie Angst, Wut oder Hilflosigkeit und sollte deshalb Weinheim: Beltz
nie die erste Wahl darstellen, wenn es darum geht, Lefrancois, G. R. (2013). Psychologie des Lernens. Berlin, Heidel-
das Verhalten anderer Menschen zu ändern. Wenn berg: Springer
überhaupt, sollte Verstärkung (hinzufügen angeneh- Rousseau, D. (1995). Psychological contracts in organizations:
Understanding written and unwritten agreements. Califor-
mer Konsequenzen oder entfernen unangenehmer
nia: Sage Publications
Konsequenzen) einer Bestrafung immer vorgezo- Thibaut, J. W. & Kelley, H. H. (1959). The social psychology of
gen werden. groups. New York: Wiley
Generell stellt sich allerdings die Frage, ob es Schwartz, B. (2004). The paradox of choice: Why less is more.
überhaupt unsere Intention sein kann, andere Men- New York: Harper Perennial
schen ändern zu wollen? Zunächst ist festzuhalten,
dass wir uns das Verhalten von König Drosselbart
keinesfalls zum Vorbild nehmen sollten, vor allem
nicht, wenn es um partnerschaftliche Beziehungen
geht. Erniedrigungen und Demütigungen haben
in Beziehungen nichts verloren. Vielmehr sollten
wir andere so akzeptieren, wie sie sind – keiner ist
perfekt und jeder hat die eine oder andere, auch lie-
benswerte, Macke. Und sollte uns doch einmal etwas
gar nicht passen – wie wäre es zunächst einmal
mit einem Gespräch, in dem wir unsere Probleme
ansprechen?

40
311 41

Der gestiefelte Kater von den


Gebrüdern Grimm (1812)
Lena Kuchta und Sabine Weber

41.1 Inhalt des Märchens – 312

41.2 Die Charaktere – 312

41.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 313


41.3.1 Lageorientierung – 314
41.3.2 Handlungsorientierung – 314
41.3.3 Freundschaft und Dankbarkeit – 315
41.3.4 Selbstüberschätzung – 316

41.4 Fazit – 317

Literaturverzeichnis – 318

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_41
312 Kapitel 41 · Der gestiefelte Kater von den Gebrüdern Grimm (1812)

41.1 Inhalt des Märchens Eitelkeit und Stolz getriebene Zauberer in eine Maus
41
42 verwandelte, die er sodann auffraß.
Es war einmal ein Müller, der hatte drei Söhne, Die königliche Kutsche kam währenddessen an
eine Mühle, einen Esel und einen Kater. Als der alte den Wiesen, Kornfeldern und Wäldern vorbei. Auf
Müller starb, wurde das Erbe auf seine Nachkommen die Frage, wem die ganzen Ländereien gehören, ant-
aufgeteilt: Der Älteste erhielt die Mühle, der Mitt- worteten die eingeschüchterten Arbeiter stets, sie
lere den Esel, der Jüngste den scheinbar wertlosen seien im Besitz des Grafen. Am Schloss angekom-
Kater. Dieser war recht traurig über sein Erbe, denn men wurden sie bereits vom Kater empfangen und
er wusste nichts mit dem Kater anzufangen, außer ins imposante Gebäude eingeladen. Verwundert über
sich ein Paar Fellhandschuhe schneidern zu lassen. all den Reichtum, versprach der König dem Grafen
Der gewiefte Kater, der diese Überlegungen seine Prinzessin. Als dieser eines Tages starb, wurde
mitbekam, überzeugte jedoch seinen Herrn, ihn der Müllersohn zum König, der gestiefelte Kater zum
am Leben zu lassen, indem er versprach, ihm zu ersten Minister ernannt, und alle lebten glücklich
Reichtum und Ansehen zu verhelfen. Alles was er und zufrieden bis an ihr Lebensende.
im Gegenzug dafür verlangte, war ein Paar Stiefel. (Grimm u. Grimm 2001; . Abb. 41.1)
Daraufhin begab sich der gestiefelte Kater in den
Wald, um einen Sack voller Rebhühner zu fangen.
Als Geschenk des angeblichen Grafen, seinem Herrn, 41.2 Die Charaktere
überbrachte er diesen dem König, wofür er mit Gold
entlohnt wurde. Den Müllersohn erfreute der Reich- Konfrontiert mit dem Tod des Vaters und einem
tum, auch wenn er nicht recht begriff, wie es zuge- scheinbar nutzlosen Kater als Erbe scheint der Mül-
gangen war. Tag ein Tag aus wiederholte der gestie- lersohn hilflos und zu verzweifelt zu sein, um etwas
felte Kater seine Jagd, brachte die Beute dem König an seiner Lage zu ändern. In seinem Selbstmitleid
und erntete dafür große Beliebtheit. überlegt er sogar, dem Kater das Leben zu nehmen.
Als er eines Tages davon erfuhr, dass der König Dieser kann ihn jedoch vom Gegenteil überzeugen,
mit der schönen Prinzessin einen Ausflug an den See was auf eine mitfühlende Seite des Müllersohns hin-
unternehme, eilte der Kater zurück zu seinem Herrn deutet. Zudem wirkt er etwas naiv, denn er leistet
und sprach: „Wenn du ein Graf und reich werden dem Kater stets blind Folge, ohne dessen Anweisun-
willst, so komm mit mir hinaus an den See und gen kritisch zu hinterfragen.
bade darin.“ Der Müllersohn wusste nicht, wie ihm Wie ein Mensch steht der Kater seinem Herrn
geschah, gehorchte jedoch dem Kater. Während er im als treuer Begleiter zur Seite. Auch wenn es anfangs
See badete, schnappte sich der Kater all seine Kleider, schlecht um ihn steht, bleibt der Kater optimistisch
versteckte sie und lamentierte dem vorbeikommen- und lässt getreu dem Motto „Not macht erfinderisch“
den König erbärmlich vor, dass sein Herr bestohlen seine Kreativität spielen, womit er sich schließlich
worden sei. Wie der König das hörte, schickte er seine aus seiner misslichen Lage befreit. Trotz seiner Geris-
Diener zurück zum Schloss, um prächtige Kleider für senheit wird er zunächst vom Müllersohn sowie dem
den Grafen zu besorgen. Gekleidet mit den schöns- Zauberer in seinen Fähigkeiten unterschätzt, was
ten Gewändern, fuhr der Müllersohn mit dem König ihn jedoch nicht davon abhält, sich stets höflich und
und der Prinzessin durch die Landschaft. freundlich zu geben. Seine Überzeugungskraft und
Der Kater war indes auf dem Wege zum verwun- gesundes Selbstvertrauen bringen ihm die blinde
schenen Schloss des mächtigen Zauberers. Überall, Folgsamkeit seines Herrn und verhelfen diesem letzt-
wo er vorbeikam, beauftragte er die arbeitenden lich zu Ruhm und Reichtum.
Leute anzugeben, dass all die Wiesen, das Korn und Der überhebliche Zauberer unterschätzt den
die Wälder, die eigentlich im Besitz des Zauberers Kater und lässt sich von ihm hinters Licht führen.
waren, dem Grafen gehörten. Als er schließlich das Aufgrund seiner Selbstverliebtheit und narziss-
prächtige Schloss des Zauberers erreichte, gelang es tischen Züge will er sein Können unter Beweis
ihm durch geschicktes Handeln, dass sich der von stellen. Dabei verkennt er die Gefahr des Spiels der
41.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
313 41

. Abb. 41.1  (Zeichnung: Claudia Styrsky)

Verwandlung und wird zum Opfer seines anmaßen- Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm
den Verhaltens. Seine Arroganz und Selbstüberschät- erschienen ist. Aufgrund der Ähnlichkeit zu Per-
zung haben ihn damit zum Fall gebracht. raults „Le Maître Chat ou le Chat botté“ wurde es in
Daneben gibt es den König und sein Gefolge, die späteren Auflagen nicht mehr überliefert. Anhand
sich von dem gestiefelten Kater allein durch seine des folgenden Gedichts reflektiert Perrault (1697)
aufrechte Haltung und seine Überzeugungskraft die Moral der Geschichte (zitiert in Mme Cardui
beeinflussen und hinters Licht führen lassen. Die 2016):
Heirat mit der Prinzessin öffnet dem Müllersohn
schließlich Tür und Tor zu höchstem Ansehen im » Wie groß auch wohl der Vorteil sei
Lande. So wird der Müllersohn erst Graf, dann Prinz- Viel Gut zu erben, denn dabei
gemahl und am Ende sogar König. Lebt man bequem und ohne Müh’
Nach seiner eigenen Phantasie,
So lob’ ich doch Geschicklichkeit,
41.3 Psychologische Phänomene und Denn auch durch sie kommt man recht weit,
Implikationen Und kann der Erde schöne Gaben oft in der
besten Fülle haben.
Der Inhalt des gestiefelten Katers ist vielen heute
nicht mehr geläufig. Dies hat den einfachen Grund, Dies lässt bereits erahnen, dass sich aus dem Märchen
dass das Märchen lediglich in der 1. Auflage der in Bezug auf den Alltag und die Lebensgestaltung
314 Kapitel 41 · Der gestiefelte Kater von den Gebrüdern Grimm (1812)

einige Implikationen ableiten lassen, deren Hinter- Verhalten herangezogen werden. Dem Vater, der die
41
42 gründe im Folgenden erörtert werden. meiste Zeit mit dem Betreiben der Mühle beschäftigt
war, fehlte vermutlich die Zeit, auf die Bedürfnisse
der Kinder einzugehen. Werden kindliche Selbstäu-
41.3.1 Lageorientierung ßerungen jedoch nicht wahrgenommen, kommt es
später oft zu Problemen bei der Emotionsregulation.
„Mir ist es doch recht schlimm ergangen, mein ältes-
ter Bruder kann mahlen, mein zweiter auf seinem
Esel reiten – was kann ich mit dem Kater anfan- Implikationen für die Erziehung
gen?“ Dieses Zitat, mit dem die Figur des Müller- Hatten auch Sie schon einmal das Gefühl, die Kon-
sohns in das Märchen eintritt, führt uns dessen Hilf- trolle verloren zu haben? Wenn ja, dann können
losigkeit direkt vor Augen. Er scheint wenig Einfluss Sie sicher nachvollziehen, wie wichtig es ist, einem
darauf zu haben, an seiner ungünstigen Lage etwas solchen Kontrollverlust bereits in der Erziehung
zu ändern. vorzubeugen.
Betrachtet man das Märchen aus psychologi- Kinder sollten hierzu frühzeitig verschiedene
scher Sicht, so tritt bei ihm das Phänomen der Lage- Bewältigungsstrategien erlernen, auf die sie künftig
orientierung auf. Den Gegenpol zur Lageorientie- in kritischen Situationen zurückgreifen können.
rung bildet die Handlungsorientierung, auf welche Auch soziale Ressourcen dienen oftmals als solche
in 7 Abschn. 41.3.2 genauer eingegangen wird. Strategien und müssen daher ausreichend geschaf-
Nach Kuhl und Kazén (2003) verfangen sich lage- fen werden.
orientierte Personen, die mit der Bewältigung eines Das Beispiel des Müllersohns lehrt uns jedoch
Missgeschicks konfrontiert sind, in dysfunktiona- auch, wie bedeutend es ist, Verantwortung für unser
len Gedankenabläufen. Diese Gedanken fokussieren eigenes Leben zu übernehmen und uns auf unserem
sich dabei in erster Linie auf emotionale Zustände Weg zum Glück nicht blind auf andere zu verlassen.
und den Istzustand der jeweiligen Person, nicht Im realen Leben bekommen Kinder keinen Kater zur
jedoch auf Lösungs- und Handlungsmöglichkeiten. Seite gestellt, der für sie jegliche Herausforderungen
Die Aufmerksamkeit der Betroffenen richtet sich auf bestreitet. Durch regelmäßige Anregung zum kriti-
handlungsirrelevante statt -relevante Informationen. schen Denken und Reflektieren kann daher ein früh-
Das Für und Wider verschiedener Handlungsalter- zeitiges Bewusstsein für Eigenverantwortung entwi-
nativen wird lange abgewogen, und es treten häufig ckelt werden. So lernen Kinder, auch in schwierigen
handlungshemmende Gefühle, z. B. Unsicherheit, Situationen auf eigenen Beinen zu stehen und nicht
auf (Stiensmeier-Pelster et al. 1989). Als Ursache für wie der Müllersohn den Kopf in den Sand zu stecken.
eine Lageorientierung können sowohl personenspe-
zifische als auch situative Faktoren wie Erfahrungen
andauernden Misserfolgs angeführt werden (Kuhl 41.3.2 Handlungsorientierung
u. Kazén 2003).
Auch der Müllersohn weist im Märchen Merk- „Als die Stiefel fertig waren, zog sie der Kater an,
male einer Lageorientierung auf. Anstatt sich nach nahm einen Sack, […] warf ihn über den Rücken
dem Tod des Vaters auf Lösungswege zu konzentrie- und ging auf zwei Beinen, wie ein Mensch, zur Tür
ren, versinkt er in negativen Emotionen und Selbst- hinaus.“ – Der gestiefelte Kater stellt den Gegen-
mitleid. Selbst als eine Lösung des Problems (in Form pol zum Müllersohn dar, indem er die Initiative zur
des Katers) in Sicht ist, zeigt der Müllersohn keinerlei Handlung ergreift.
Eigeninitiative, sondern verlässt sich auf die Kreati- Wie in 7 Abschn. 41.3.1 erwähnt, beschreibt
vität des Katers. auch das Konzept der Handlungsorientierung den
Zwar können aus dem Märchen keine Aussagen Umgang mit kritischen Situationen. Im Gegensatz
über mögliche vorherige Misserfolgserfahrungen zur Lageorientierung gelingt es handlungsorientier-
gemacht werden, so könnte jedoch die fehlende Mut- ten Personen ihre Aufmerksamkeit auf handlungs-
terrolle durchaus als Ursache für sein lageorientiertes relevante Informationen und die Realisierung von
41.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
315 41
Lösungsstrategien zu richten. Alternativen werden 41.3.3 Freundschaft und Dankbarkeit
nicht langwierig abgewogen, und es werden meist
handlungsfördernde Gefühle , z. B. Zuversicht, „Du brauchst mich nicht zu töten, um ein Paar
erlebt (Stiensmeier-Pelster et al. 1989). Statt lange schlechte Handschuhe aus meinem Pelz zu kriegen,
über mögliche Schuldzuweisungen zu grübeln, lass mir nur ein Paar Stiefel machen, dass ich ausge-
wird der eigene, für die Situation ursächliche Fehler hen und mich unter den Leuten sehen lassen kann,
schnell identifiziert und korrigiert. Negative Gefühle dann soll dir bald geholfen sein.“
als Folge von Misserfolgen können erfolgreich aus- Die Beziehung zwischen gestiefeltem Kater und
geblendet werden, was Betroffenen dabei hilft, ihr Müllersohn ist durch Freundschaft und Dankbar-
Ziel nicht aus den Augen zu verlieren (Kuhl u. Kazén keit, die auf Gegenseitigkeit beruhen, gekennzeich-
2003). net. Der Kater zeigt sich dankbar, da ihn sein Herr am
Auch der Kater verliert sein Ziel nie aus den Leben lässt, und will ihm im Gegenzug zu Ruhm und
Augen. Er weiß stets, was zu tun ist, und stellt seine Reichtum verhelfen. Zudem begleitet er diesen mit
Kreativität und Eigeninitiative immer wieder aufs Rat und Tat auf seinem Entwicklungsweg vom naiven
Neue unter Beweis. Dabei fokussiert er sich auf kon- Müllersohn zum verantwortungsvollen König und
krete Lösungswege, die er schließlich gezielt reali- unterstützt ihn bei der Ausformung seiner Identität.
siert. Negative Gefühle nennt er nicht sein eigen, Dabei verweist der Kater jedoch auch auf das Böse im
denn sein Wesen ist selbst in scheinbar ausweglosen Menschen, indem er Tücken anwendet, manipuliert
Situationen stets von überschwänglichem Optimis- und lügt, um an sein Ziel zu gelangen.
mus geprägt.

Freundschaft
Implikationen für die Führung und Im Märchen ist Freundschaft ein wichtiges Thema.
Lebensgestaltung Was macht diese jedoch aus und wieso sind Freund-
Im Märchen übernimmt der Kater für den Mül- schaften für uns wichtig? Dies sind Inhalte der
lersohn die Rolle einer Führungskraft, die ihm als positiven Psychologie, die sich mit diesen Fragen
Mentor zur Seite steht und ihm schließlich zu einer beschäftigt.
verantwortungsvollen Position verhilft. Sein Füh- Generell bezeichnet Freundschaft eine infor-
rungsstil ist eher autoritär geprägt, denn er lässt melle soziale Zweierbeziehung, die sich durch Frei-
dem zurückhaltenden Müllersohn keinerlei Raum willigkeit, Gegenseitigkeit und das Überwiegen posi-
für Eigeninitiative und Selbstentfaltung. tiver Emotionen auszeichnet (Bierhoff et al. 2011).
Auch heute finden wir viele Situationen, in Freundschaften können – wie auch im Märchen – zur
denen Personen Verantwortung für andere über- Entwicklung der Selbstidentität beitragen.
nehmen. Dies kann beispielsweise im Unterneh- Voraussetzung für Freundschaft ist zunächst eine
menskontext, aber auch im familiären Umfeld der wechselseitige Anziehung zwischen Personen, deren
Fall sein. Die Weisheit, „jemandem mit Rat und Beziehung sich dann im Verlauf der Zeit entwickelt:
Tat zur Seite zu stehen“, ist allerdings mit Vorsicht Zu Beginn handelt es sich zumeist um eine Aus-
zu genießen. Zwar ist es für die Verantwortlichen tauschbeziehung, bei der der Ertrag proportional
wichtig, jederzeit als Ansprechpartner zur Verfü- zur eingebrachten Investition steht. Später erfolgt ein
gung zu stehen, jedoch sollte den geführten Per- Übergang in eine prosoziale Beziehung, die intrin-
sonen auch Freiheit für eigene Kreativität gelassen sisch motiviert ist und Hilfe als Wertschätzung ohne
werden. Betroffene sollen hierdurch lernen, eigene Erwartung von Gegenleistung beinhaltet.
Problemlösestrategien zu entwickeln und dabei Auch im Märchen erscheint die Beziehung
nicht auf andere angewiesen zu sein. Um dies umzu- anfangs als Austauchbeziehung (Leben und Stiefel
setzen, muss dem Einzelnen jedoch ausreichend gegen das Gold des Königs). Im weiteren Verlauf
Raum zur Eigeninitiative geschaffen werden, denn wirkt das Handeln des Katers jedoch vermehrt pro-
letztlich ist jeder von uns seines eigenen Glückes sozial – er verhilft seinem Herrn zum Thron, ohne
Schmied. eine Gegenleistung zu erwarten.
316 Kapitel 41 · Der gestiefelte Kater von den Gebrüdern Grimm (1812)

Aber wieso kommt Freundschaften eine so große betrachten. Zwar hilft der Kater seinem Herrn, aber
41
42 Bedeutung zu? Forschern zufolge ist die Zufrieden- er manipuliert und betrügt gleichzeitig und anhal-
heit mit Beziehungen wichtiger für unser allgemei- tend andere und scheut sich nicht einmal davor, über
nes Wohlbefinden als Arbeit oder Gesundheit – Leichen zu gehen.
soziale Beziehungen stellen also eine der wichtigsten Man sollte niemals aus den Augen verlieren,
Quellen für ein glückliches Leben dar. Denn Freund- dass nicht nur das Ziel, sondern auch die Mittel und
schaften vermitteln uns ein Gefühl von Einzigartig- Wege dorthin relevant sind und dabei kein anderer
keit, befriedigen psychologische Bedürfnisse (z. B. zu Schaden kommen darf. Besonders im wirtschaft-
Verbundenheit) und führen zu der Wahrnehmung, lichen Kontext ist diese Problematik oft gegenwär-
dass wir wichtig sind (Smith u. Mackie 2007). tig. Es herrschen das Ellenbogenprinzip und soziale
Ausgrenzung vor, um Vorteile für sich oder/und sein
Team zu erlangen. Dabei sollte man sich stets fragen:
Dankbarkeit Wie weit ist zu weit? Häufig angewandte Manipu-
Unter Dankbarkeit versteht man eine Einstellung in lationsstrategien und Provokation sind hierbei als
bewusster Anerkennung eines Gefallens, den man bedenklich einzustufen.
erhalten hat. In der Forschung wird zwischen Dank- Auch Kindern muss früh beigebracht werden,
barkeit als Disposition (Tendenz, dankbare Gefühle dass sie auf ihrem Weg nie aufhören sollten, auf
zu empfinden) und Dankbarkeit als Zustand (Affekt, andere zu achten, nicht nur auf enge Freunde und
der auftritt, nachdem einer Person geholfen wurde die Familie. Zudem sollte verdeutlicht werden, dass
und zur Erwiderung der Hilfe motiviert) unterschie- unser Glück vor allem auf sozialen Beziehungen,
den (Zygar u. Angus 2016). nicht auf materiellen Dingen basiert, wie es in unserer
Auch der gestiefelte Kater verspürt ein Dank- heutigen Konsumgesellschaft oft suggeriert wird.
barkeitsgefühl gegenüber seinem Herrn, das ihn zur Dennoch ist das Märchen ein Paradebeispiel
Unterstützung motiviert. dafür, wie wichtig es ist, Freunde zu haben, dankbar
In einer Gesellschaft spielt Dankbarkeit eine zu sein und sich gegenseitig zu unterstützen – mit
große Rolle, da sie die Gegenseitigkeit zwischen Men- dem angenehmen Nebeneffekt, das eigene Wohlbe-
schen begünstigt. Befunde zeigen zudem, dass daraus finden maßgeblich zu steigern.
beträchtliche positive Konsequenzen für jeden ein-
zelnen resultieren. Dankbare Personen erleben z. B.
positivere Affekte, bessere psychische Gesundheit 41.3.4 Selbstüberschätzung
sowie Lebenszufriedenheit (Zygar u. Angus 2016).
„Der Kater stellte sich erschrocken und rief: ‚Das ist
unglaublich […]; aber noch mehr, als alles andere,
Implikationen für die Arbeit, Erziehung wär es, wenn du dich auch in ein so kleines Tier,
und Lebensgestaltung wie eine Maus ist, verwandeln könntest. Du kannst
Freundschaften erfreuen uns, unterstützen unsere gewiss mehr, als irgendein Zauberer auf der Welt,
Entwicklung und sind essenziell für unser Glück. aber das wird dir doch zu hoch sein.‘ Der Zauberer
Freunde setzen sich füreinander ein, helfen aus der ward ganz freundlich von den süßen Worten und
Not. Lassen sich Personen z. B. zu sehr von ihrer sagte: ‚O ja, liebes Kätzchen, das kann ich auch‘ und
Arbeit vereinnahmen, verlieren sie oft den Kontakt sprang als eine Maus im Zimmer herum. Der Kater
zu Freunden und vernachlässigen diese. war hinter ihm her, fing die Maus mit einem Satz
Das Verhalten des gestiefelten Katers wirft aller- und fraß sie auf.“
dings folgende Fragen auf: Wo liegen die Grenzen Die Arroganz und Selbstüberschätzung des Zau-
freundschaftlicher Dienste? Wie viel Trickserei berers führen dazu, dass er sich von dem Kater aus-
zum „guten Zweck“ ist erlaubt? Wie weit darf man tricksen lässt und letztlich durch ihn getötet wird.
für das eigene und das Glück von Freunden gehen? Auch die Psychologie beschäftigt sich mit Selbst-
Das Märchen ist diesbezüglich durchaus kritisch zu überschätzung von Menschen. Es wurde gezeigt,
41.4 · Fazit
317 41
dass ca. 60 % der Bevölkerung zu Selbstüberschät- (Fremdwahrnehmung) als Informationsquelle und
zung neigen. Wer glaubt nicht, besser Autofahren zu Spiegel genutzt werden.
können als andere? Fast jeder hält sich für überdurch-
schnittlich, nicht nur beim Autofahren, sondern auch
wenn es um intellektuelle Fähigkeiten oder Sozial- Implikationen für die Erziehung und
kompetenz geht („above average effect“). Diese Ein- Arbeit
schätzungen korrelieren allerdings nur gering mit Wer möchte schon gern durchschnittlich sein? In
der Realität (Traut-Mattausch et al. 2011). Forschern unserer Leistungsgesellschaft gilt diese Bezeichnung
zufolge überschätzen besonders inkompetente Men- beinahe als Schimpfwort. Dennoch können – wie im
schen das eigene Können. Fall des Zauberers – aus Selbstüberschätzung und
Wie kommt es aber, dass wir uns so schlecht Hochmut negative Folgen resultieren.
selbst beurteilen können? Unsere Selbsteinschät- Bereits in der Erziehung sollte daher Bodenstän-
zung basiert auf Erfahrungen, aus denen ein Bild digkeit vermittelt und ein gesundes Selbstvertrauen
von unserem Können entsteht. Es gibt jedoch aufgebaut werden, das jedoch nicht in Arroganz
einen „blinden Fleck“ in der Verarbeitung, denn und Selbstüberschätzung umschlagen darf. Diesbe-
es wird meist ein entscheidender Teil weggelassen: züglich ist es wichtig, dass Reflexion und Feedback
nämlich das, was wir in Situationen nicht wussten stattfinden.
oder bedachten. Befunde zeigen, dass wir uns Auch im Arbeitskontext sollten alle Mitarbei-
überschätzen, weil wir sog. Fehler der Auslassung ter als gleichwertig angesehen, flache Hierarchien
machen. Menschen ist nicht bewusst, welche Wis- gefördert und stets gegenseitiges Feedback gegeben
senslücken sie haben oder welche anderen Prob- werden, um unrealistische Selbstüberschätzungen
lemlösungen gefunden werden können. Wir wissen zu vermeiden. In vielen Führungsetagen findet man
also recht genau, was wir wissen, aber uns ist nicht heutzutage narzisstische Führungskräfte, die sich
klar, was wir alles nicht wissen (Caputo u. Dunning als etwas Besseres fühlen und überheblich sind.
2005). Man darf nie vergessen, dass derartige Verhaltens-
Personen überschätzen sich tendenziell in Aufga- weisen und Einstellungen auch schaden können.
benbereichen, die für sie einfach und üblich sind und Wer zu arrogant ist, wird langfristig keinen Erfolg
unterschätzen sich eher bei schwierigen Aufgaben. haben – denn Hochmut kommt bekanntlich vor
Zudem überschätzen sich Männer mehr als Frauen dem Fall.
und Jüngere stärker als Ältere.
Wozu dient Selbstüberschätzung? Eine hohe
Selbsteinschätzung geht in der Regel mit psychi- 41.4 Fazit
schem Wohlergehen einher. Jemand, der seine
Fähigkeiten überschätzt, wird sich für einen heraus- Was ist nun die Quintessenz des Märchens? Wie
fordernden Job bewerben, wohingegen Gleichquali- bereits diskutiert, gibt es Hinweise auf zahlreiche
fizierte, die sich unterschätzen, auf eine Bewerbung Implikationen, die wir auch in der heutigen Zeit
verzichten und ihre Chance vergeuden. Selbstüber- in unseren Alltag integrieren können und sollten.
schätzung kann also durchaus positiv sein. Die Hauptbotschaft des Märchens jedoch lehrt uns,
In riskanten Situationen kann das Unvermögen, dass jeder – egal in welcher Situation – sein Leben
sich korrekt zu beurteilen, allerdings negative Kon- in die Hand nehmen und es zum Positiven verän-
sequenzen haben, z. B. wenn sich ein Hausarzt eine dern kann. Und diejenigen unter uns, die keinen
Behandlung zutraut, die er besser einem Fachkolle- treuen Märchenkater zum Freund haben, vermö-
gen überließe. Auch im Märchen endet die Selbst- gen dennoch ihr Leben als Chance zu begreifen.
überschätzung des Zauberers letztlich tödlich. Denn wie Perrault in seinem Gedicht bereits richtig
Wie können wir dem vorschützen? Man sollte erfasst hat, kann jeder Einzelne nur durch ausrei-
stets auch Dinge einbeziehen, die man nicht über chend Fantasie und Geschicklichkeit seinen Weg
sich weiß. Dazu können Einschätzungen anderer zum Glück finden.
318 Kapitel 41 · Der gestiefelte Kater von den Gebrüdern Grimm (1812)

Literaturverzeichnis
41
42
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319 42

Es ist wirklich wahr von Hans


Christian Andersen (1848)
Kim Borrmann und Miriam Krug

42.1 Inhalt des Märchens – 320

42.2 Die Charaktere – 320

42.3 Psychologische Phänomene und Implikationen – 321


42.3.1 Psychologie der Kommunikation – 321
42.3.2 Soziale Neugier und Gossip – 323
42.3.3 Medien und unser Bild von der Welt – 324

42.4 Fazit – 325

Literaturverzeichnis – 325

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_42
320 Kapitel 42 · Es ist wirklich wahr von Hans Christian Andersen (1848)

42.1 Inhalt des Märchens zu zeigen, welches von ihnen am magersten vor Lie-
beskummer um den Hahn geworden wäre, und sie
Es war einmal ein Huhn, welches seine erwartete hackten aufeinander los, bis das Blut floss, und fielen
42 Anzahl an Eiern legte und in jeder Weise respek- tot zur Erde, ihrer Familie zu Schimpf und Schande
tabel war. Es war bereits Abend, als es die Leiter im und dem Besitzer zu großem Verlust.“
Hühnerstall hinaufstieg und sich mit dem Schnabel Das Huhn, das die lose, kleine Feder verloren
kratzte. Dabei fiel ihm eine kleine Feder aus. „Hin ist hatte, erkannte sich natürlich in der Geschichte
hin!“, sagte es, aber „je mehr ich mich putze, desto nicht wieder, und da es ein respektables Huhn war,
schöner werde ich noch!“ Das war scherzhaft hin- sagte es: „Diese Hühner verachte ich. Aber es gibt
gesprochen; denn es war das lustigste unter den mehr von dieser Art. So etwas soll man nicht vertu-
Hühnern. Im Übrigen war es, wie gesagt, sehr res- schen, ich will jedenfalls das meinige dazu tun, dass
pektabel; und dann schlief es ein. Huhn an Huhn die Geschichte in die Zeitung kommt, dann geht sie
saß auf der Stange, es war bereits dunkel. Nur eines durch das ganze Land, das haben die Hühner ver-
schlief noch nicht. Halb hörte sie, halb hörte sie dient und die Familie auch!“
nicht. Aber seiner Nachbarin musste es doch noch Und es kam in die Zeitung und wurde gedruckt
schnell zuflüstern: „Hast Du gehört, was hier gespro- und es ist wirklich wahr: Aus einer kleinen Feder
chen worden ist? Ich nenne keinen Namen, aber es können schnell fünf Hühner werden!
gibt hier ein Huhn, das sich rupfen will, um schön (Andersen 2004; . Abb. 42.1)
auszusehen! Wenn ich ein Hahn wäre, würde ich es
verachten.“
Gegenüber von den Hühnern saß die Eule mit 42.2 Die Charaktere
ihrem Eulenmann und den Eulenkindern. Sie hatten
scharfe Ohren und hörten, was das Nachbarhuhn In dem Märchen „Es ist wirklich wahr“ von Hans
sagte. „Da ist eins unter den Hühnern, was in einem Christian Andersen werden verschiedene Tiere als
solchen Grade vergessen hat, was sich für ein Huhn Protagonisten aktiv.
schickt, dass es sitzt und sich alle Federn vom Leibe Die zentrale Rolle ist dem Huhn zuzuschreiben,
zupft und es den Hahn mit ansehen lässt!“ welchem zu Beginn eine kleine Feder ausfällt. Dieses
Die Tauben am gegenüberliegenden Tauben- setzt mit ihren Worten „Hin ist hin! Je mehr ich mich
schlag bekamen mit, worüber die Eulenfamilie putze, desto schöner werde ich noch!“ alles in Gang.
tuschelte. „Habt ihr schon gehört? Uhuh! Da ist ein Die anderen Hühner, die Eulen und Tauben blasen
Huhn, das sich alle Federn ausgerupft hat wegen die Geschichte auf und tratschen sie weiter bis sie
des Hahns. Es wird sich totfrieren, wenn es nicht wieder bei dem Hühnerstall angelangt ist, wo sie
schon tot ist. Es ist zwar eine etwas unanständige entstand.
Geschichte, aber es ist wirklich wahr!“ Das Huhn, welchem die kleine Feder ausgefal-
Und so trugen die Tauben an die Hühner weiter, len ist, erkennt sich nicht wieder und berichtet die
was sie gehört hatten: „Da ist ein Huhn, ja, einige Geschichte den Medien. Sie steht für jene „respek-
sagen sogar, es seien zwei, die sich alle Federn aus- tablen Bürger“, die meinen, Menschen, die vermeint-
gerupft haben, um nicht wie die anderen auszuse- lich „Unrecht tun“ sollten damit bestraft werden, dass
hen und dadurch die Aufmerksamkeit des Hahns zu alle es erfahren. Den Wahrheitsgehalt der Geschichte
erregen. Das ist ein gewagtes Spiel, man kann sich prüft sie nicht.
dabei erkälten und am Fieber sterben, nun sind sie Andersen beendet sein Märchen mit dem Satz
beide tot!“ „Aus einer kleinen Feder können schnell fünf Hühner
Und so eilte die Geschichte von Hühnerhaus zu werden!“, welcher sich später als eine dänische Rede-
Hühnerhaus und endete zuletzt an der Stelle, von wo wendung etablierte und ein Aufruf ist, nicht allen
sie ausgegangen war. „Da sind fünf Hühner“, hieß Klatsch und Tratsch zu glauben, sondern sich durch-
es, „die sich alle die Federn ausgerupft haben, um aus kritisch mit Themen auseinanderzusetzen.
42.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
321 42
. Abb. 42.1  (Zeichnung: Claudia
Styrsky)

42.3 Psychologische Phänomene und Information in einen Kontext ab. Je länger und besser
Implikationen man sein Gegenüber kennt, umso weniger detailliert
muss kommuniziert werden, damit man einander
In dem Märchen werden folgende drei psychologi- versteht. Es mag womöglich eine Person in Ihrem
sche Phänomene thematisiert: nahen Umfeld geben, welcher Sie nie lange erklä-
44Psychologie der Kommunikation ren müssen, wie es Ihnen geht, während bei anderen
44Soziale Neugier und Gossip scheinbar nie das ankommt, was Sie meinen. Sie erin-
44Medien und unser Bild von der Welt nern sich vielleicht an Situationen, in denen Blicke
mehr als tausend Worte sagten?

42.3.1 Psychologie der Kommunikation


Kommunikation vs. Interaktion
Wenn Menschen nicht sagen, was sie meinen, und Kommunikation ist immer an eine Intention gebun-
hören, was sie hören wollen – sei es im Berufs- oder den, z. B. jemanden zu warnen oder zu informieren
im Privatleben, Menschen befinden sich ständig in (Nerdinger 2014). Mit dem Begriff „Interaktion“ sind
Interaktion und Kommunikation. Kommunika- lediglich wechselseitige Beeinflussungen zwischen
tion umfasst nicht nur den Informationsaustausch, Personen gemeint, die nicht notwendigerweise eine
sondern auch Verständigung und Verständnis. Das Absicht beinhalten (Blickle 2004).
heißt, es kommt nicht nur darauf an, was wir sagen, In dem Märchen gibt es zwei Möglichkeiten,
entscheidend ist auch, wie wir etwas sagen und in welche Intention das Huhn verfolgt, das im Halb-
welchem Kontext dies geschieht. schlaf den Kommentar des ersten Huhns verzerrt
Wir kommunizieren auf verbaler und nonver- weitererzählte. Zum einen könnte es die Informatio-
baler Ebene. Das Vermitteln von Information und nen extra verändert und dramatisiert haben, um das
das Verstehen des Gesagten hängen somit auch von andere Huhn schlecht dastehen zu lassen und durch
der Gestik und Mimik sowie der Einbettung der die Dramatik der Nachricht Aufmerksamkeit auf sich
322 Kapitel 42 · Es ist wirklich wahr von Hans Christian Andersen (1848)

zu ziehen (Falschaussage). Auf der anderen Seite hat Wie in dem Märchen verdeutlicht, stellt das
es vielleicht einfach nicht das verstanden, was das gemeinsame Verständnis (ähnliche allgemeine Wis-
andere Huhn eigentlich sagen wollte, und somit gar sensstrukturen) die Grundlage für effektive Kommu-
42 nicht gewusst, dass es eine Unwahrheit verbreitet. nikation dar – beschrieben im Filtermodell der Kom-
Dies geschieht in der Realität erschreckend munikation von Theis (1993). Weit gefasst, könnten
oft. So wird beispielsweise im Büro etwas beiläu- die verschiedenen Tierarten unterschiedliche Kul-
fig aufgeschnappt und über den informellen Weg turen oder Ethnien repräsentieren, bei welchen auf-
an die Kollegen weitergeleitet (sog. Flurfunk als grund unterschiedlicher Ansichten ein gemeinsames
Kommunikationsform im Büro). Das Ergebnis: Verständnis erschwert ist, was sich heute in verschie-
Halbwahre oder gar falsche Nachrichten werden denen gesellschaftlichen Debatten widerspiegelt.
in Umlauf gebracht, erzeugen Aufruhr und der ein
oder andere mag sich gar vor den Kopf gestoßen
fühlen, nicht offiziell informiert worden zu sein. Stille Post und
Wie im Märchen wird die Nachricht aufgrund ihrer Kommunikationsverhalten
Dramaturgie sowie ihres informellen Charakters Wenn ein Empfänger das Verstandene einer wei-
weiterverbreitet. teren Person erzählt, die ihrerseits die Information
an andere weitergibt, dann weist die Information
nach der sechsten/siebten Weitergabe nur noch eine
Kommunikationsmodell und schwache Ähnlichkeit mit der Ursprünglichen auf.
Verständigungsprobleme Dies ist auch der Fall, wenn das Ziel explizit in der
Dem Vier-Seiten-Kommunikationsmodell von Aufrechterhaltung des Wahrheitsgehaltes liegt.
Schulz von Thun (1981) zufolge können Nachrich- Das Phänomen, dass Nachrichten nach mehre-
ten, welche zwischen zwei Personen (Sender und ren Weitergaben verändert werden, nennt man stille
Empfänger) ausgetauscht werden, auf vier Ebenen Post (Sader 2008). Wie im Märchen werden die Bot-
betrachtet werden: schaften durch die Informationsweitergabe so ver-
44Sachinhalt: Worüber informiert der Sender? zerrt, dass sie am Ende – im extremen Fall – nicht
44Selbstoffenbarung: Was vermittelt der Sender einmal mehr der Initiator wiedererkennt.
über sich? Laut der Hypothesentheorie der sozialen Wahr-
44Beziehungsaussage: Was hält der Sender vom nehmung (Lilli u. Frey 1993) werden Wahrneh-
Empfänger und in welcher Beziehung steht er mungsprozesse durch Wahrnehmungshypothesen
zu ihm (positiv oder negativ)? gefiltert, welche auf vergangenen Erfahrungen auf-
44Appell: Wozu möchte der Sender den bauen. Wenn wir etwas wahrnehmen, bilden wir im
Empfänger veranlassen? ersten Schritt eine Hypothese darüber, was gesche-
hen wird. Im Anschluss integrieren wir Informatio-
Der Schwerpunkt einer Nachricht liegt häufig auf nen aus der Umwelt. Da wir in der Regel davon aus-
einem oder zwei der Aspekte. Die Kommunikation gehen, dass das Wahrgenommene auch der Wahrheit
ist dann gestört, wenn der Sender auf einer anderen entspricht, konstruiert sich jeder seine eigene Realität
Ebene spricht als die, die der Empfänger wahrnimmt. beziehungsweise Wahrheit. Individuelle Wahrheiten
Es liegt nahe, dass das Huhn im Halbschlaf die können unterschiedlich ausfallen, gleichzeitig stehen
Aussage des anderen Huhns, dem eine kleine Feder sie in Koexistenz zueinander, was in einem erhöhten
ausfiel, wohl auf der Selbstoffenbarungsseite empfan- Konfliktpotenzial resultiert.
gen hat, indem es der Überzeugung ist, dass sich das Es ist anzunehmen, dass bei den verschiede-
andere Huhn rupfen will, um für den Hahn schöner nen Tieren im Märchen jeweils stark ausgeprägte
auszusehen. Hätte es die Nachricht auf der Sachin- Wahrnehmungshypothesen vorherrschten, denn
haltsebene empfangen, wäre es lediglich von den Tat- je stärker die Hypothese, desto wahrscheinlicher
sachen des Gesagten ausgegangen, dass das andere wird sie aktiviert und spiegelt sich in dem Verhalten
Huhn durch das Putzen einfach nur noch schöner wider, umso weniger unterstützende Informationen
wird. aus der Umwelt werden zur Bestätigung benötigt und
42.3 · Psychologische Phänomene und Implikationen
323 42
umso mehr widersprechende Informationen aus der Reden über nicht anwesende Personen und dient u. a.
Umwelt werden zur Widerlegung benötigt. der Unterhaltung (Hartung 2010).
Hartung (2010) konnte zeigen, dass sozial neu-
gierige Menschen, Eigenschaften von anderen Men-
Implikationen für die Lebensgestaltung schen, die in ersten Begegnungen relevant sind
Führt man sich die grundlegenden Mechanismen (Extraversion und Offenheit), genauer einschätzen
und Probleme von Kommunikation vor Augen, ist konnten. Zudem erleichtert soziale Neugier durch
es möglich, Missverständnissen und Konflikten vor- vermehrte explorative (z. B. Fragen stellen) und
zubeugen. Kommunikation kann bereits durch ein- responsive (z. B. auf Gesagtes näher eingehen) Ver-
fache Mittel, z. B. aktives Zuhören, Ausreden lassen haltensweisen den Aufbau sozialer Beziehungen.
und Rückversicherung durch die Verbalisierung des In dem Märchen wird weniger soziale Neugier
Verstandenen, maßgeblich verbessert werden. gezeigt, sondern eher getratscht, da das Huhn/die
Hühner, über die geredet wurde, nicht anwesend
waren.
42.3.2 Soziale Neugier und Gossip Obwohl wir den Gedanken als unangenehm
empfinden, dass andere in unserer Abwesenheit über
Klatsch und Tratsch sind nichts Neues in der uns reden, tratschen wir selbst gerne. Geschätzt wird,
Geschichte der Menschheit. Der Historiker Yuval dass sich ein Drittel der Gespräche von Männern und
Noah Harari (2013) erläutert in seinem Buch Eine Frauen um Themen über nicht anwesende Personen
kurze Geschichte der Menschheit die Klatschhypo- dreht. Doch warum tratschen wir? Zum einen erfüllt
these des Spracherwerbs. Seiner Hypothese nach es wie die soziale Neugier die Bedürfnisse der Ver-
hat sich die Sprache entwickelt, um Informationen bundenheit und Kontrolle. Über das Fehlverhal-
über die Umwelt auszutauschen; Informationen über ten von anderen Menschen zu tratschen, gibt uns
Nahrungsquellen waren dabei nicht annähernd so darüber Aufschluss, wem wir trauen können und
wichtig, wie zu erfahren, wer in der Gruppe wen wem nicht. Es ermöglicht uns damit, unsere Inter-
leiden kann und wen nicht. Durch den Austausch aktionspartner besser auszuwählen, und erfüllt das
des Wissens über andere konnten unsere frühen Vor- Bedürfnis nach Kontrolle in einer hoch komplexen
fahren komplexere Formen der Zusammenarbeit sozialen Umgebung. Wird in Gruppen über andere
entwickeln. Gruppen oder Personen gelästert, so stärkt dies das
Diese Ansicht vertritt auch der Psychologe Robin Gefühl der Verbundenheit innerhalb der Gruppe
Dunbar (2004), der Gossip als Ersatz für die gegen- sowie den eigenen Selbstwert.
seitige Fellpflege zur Stärkung des sozialen Zusam- Allerdings lästern wir auch über Personen, die
menhaltes von Affen ansieht. wir gar nicht kennen, z. B. Prominente. Der Grund
dafür könnte sein, dass es darum geht, Verhaltens-
weisen in einer Gemeinschaft zu evaluieren und so
Soziale Neugier vs. Gossip Normen der Gruppen zu erlernen, zu festigen und
In der Psychologie unterscheidet man zwischen zu verändern. Dadurch findet durch Gossip zum
sozialer Neugier und Gossip (Klatsch und Tratsch). anderen auch kulturelles Lernen statt (Baumeister
Laut Renner (2006) versteht man unter sozialer et al. 2004).
Neugier das Bedürfnis nach neuen Informatio- Schließlich kann Lästern auch als Machtins-
nen über andere Personen, um die soziale Umwelt trument eingesetzt werden, indem wahre oder
zu explorieren. Sozialer Neugier werden daher die bewusst falsche Informationen über Konkurrenten
Funktionen zugeschrieben, sich Wissen und Infor- gestreut werden. Dies geschieht z. B., weil man sich
mationen über die soziale Umwelt anzueignen, über jemanden geärgert hat und so die aufgestaute
Beziehungen und soziale Netzwerke aufzubauen Wut oder Aggression abbaut. Es kann aber auch aus
und zu erhalten und ein Gefühl der Kontrollierbar- Furcht oder Angst geschehen; man fürchtet einen
keit der sozialen Umwelt zu erlangen. Sie ist somit Konkurrenten und versucht diesen durch Rufmord
positiv konnotiert. Gossip hingegen bezeichnet das auszuschalten.
324 Kapitel 42 · Es ist wirklich wahr von Hans Christian Andersen (1848)

Das gezielte wiederholte Verbreiten von Gerüch- sondern erst einmal eine ökonomische Form der
ten über eine Person wird auch als Mobbing bezeich- Kommunikation (Mundpropaganda).
net. Farley (2011) zeigte, dass Mobbing jedoch auch Insbesondere in Krisensituationen zögert das
42 für den Tratschenden negative Auswirkungen haben obere Management die offizielle Informationsweiter-
kann. Menschen, die regelmäßig lästern, werden gabe an die Mitarbeiter häufig so lange wie möglich
als weniger mächtig wahrgenommen und weniger hinaus. Hohe Unsicherheit und Ambivalenz führen
gemocht als solche, die seltener lästern. Allgemein zu Angst und Stress, wodurch die Wahrscheinlichkeit
werden Personen, die positive Dinge über andere zur Entstehung von Gerüchten erhöht wird (Kapfe-
Menschen erzählen, als positiver wahrgenommen rer 1997). Je transparenter Veränderungen im Unter-
und eher gemocht als solche, die Negatives über nehmen kommuniziert werden, desto weniger Raum
andere Menschen erzählen. entsteht für Gerüchte und Unsicherheit.

Implikationen für die Lebensgestaltung 42.3.3 Medien und unser Bild von der
Der Austausch sozialer Information stellt eine wich- Welt
tige Basis für unser Zusammenleben dar. Durch das
Bewerten von Verhaltensweisen werden Normen Das Märchen endet damit, dass die unwahre
über Erlaubtes und Verbotenes innerhalb einer Geschichte in der Zeitung gedruckt wird. Andersen
Kultur festgelegt. Allerdings kann dieser Austausch bringt damit schon damals ein Thema zur Sprache,
individuell unterschiedlich gestaltet werden und dessen Bedeutung im 20. und 21. Jahrhundert immer
unterschiedliche Auswirkungen haben. Das Inte- wichtiger wurde: der Umgang mit Medien und deren
resse am Gegenüber, die soziale Neugier, hilft uns Einfluss auf unser Weltbild.
dabei, Menschen besser einzuschätzen und bessere
Beziehungen aufzubauen. Der Tratsch über Fehltritte
anderer Menschen mag kurzfristig unseren Selbst- Lügenpresse und
wert erhöhen, kann jedoch auch dazu führen, dass Bestätigungsverzerrung
andere uns langfristig weniger positiv wahrnehmen. Sein Rat ist letztendlich, dass man nicht alles glauben
Wie häufig tratschen Sie? Versuchen Sie sich an sollte, was einem erzählt wird beziehungsweise in
das letzte Mal zu erinnern und überlegen Sie, was der Zeitung steht. 2014 wurde „Lügenpresse“ zum
eigentlich Ihre Intention dahinter war. „Unwort des Jahres“ gewählt. Tatsächlich findet der
Begriff der Lügenpresse schon Ursprünge zu Ander-
z Fragen zur Reflexion sens Zeit. Seit der Zeit des Nationalsozialismus wird
44Wollten Sie sich mit Ihrem Gegenüber dieser Begriff vornehmlich in rechtsradikalen Bewe-
verbunden fühlen, indem Sie gemeinsam das gungen verwendet, die der Presse eine systematische
Verhalten anderer bewerten und sich darüber Wahrheitsverzerrung unterstellen.
amüsieren? Besteht eine solche Einstellung, werden auch
44Wollten Sie sich von Ihrem Gegenüber die wahre Daten und Fakten der Presse abgelehnt.
Bestätigung einholen, dass das Verhalten eines Extreme Meinungen werden dadurch verstärkt, dass
anderen unrechtmäßig war? vornehmlich Menschen mit denselben Ansichten und
44Oder wollten Sie Aggressionen abbauen und bestätigende Informationen aufgesucht und wahrge-
vielleicht sogar bewusst jemandem schaden? nommen werden. Gegenteilige Informationen werden
systematisch weniger wahrgenommen oder gar nicht
beachtet. Dies wird als Bestätigungsverzerrung (engl.
Implikationen für die Führung „confirmation bias“) bezeichnet (Wason 1968). Eine
In Unternehmen stehen Gerüchte häufig in Konkur- solch pauschale Ablehnung aller Medieninhalte, die
renz zu den offiziell verbreiteten Informationen und nicht mit eigenen Vorstellungen und Werten überein-
lassen sich durch die Unternehmensleitung kaum stimmen, macht die kritische Auseinandersetzung, zu
kontrollieren. Gerüchte sind per se nicht negativ, der Andersen rät, jedoch eher schwierig.
Literaturverzeichnis
325 42
Positive und negative Nachrichten 44Mediennutzung: Nutzung von Medien nach
Eine Verzerrung hinsichtlich der Inhalte von Medien eigenem Bedürfnis
besteht definitiv in Bezug auf das Verhältnis von 44Mediengestaltung: Einsatz von Medien zur
positiven und negativen Berichten. Negative Nach- Weitergabe eigener Botschaften
richten, z. B. über Krieg, Terror, Naturkatastrophen
und das Fehlverhalten von Menschen, sind deutlich z Fragen zur Reflexion
häufiger zu lesen als positive Nachrichten. 44Wie würden Sie Ihre Medienkompetenz
So schien die Geschichte im Märchen auch erst beschreiben?
„reif für die Presse“ zu sein, nachdem angeblich fünf 44Wie kritisch gehen Sie mit den Medien um?
Hühner gestorben waren. 44Wie hoch schätzen Sie die Macht der Medien ein?
Dies begründet sich darin, dass Menschen – ins- 44Inwieweit beeinflusst die Berichterstattung Ihr
besondere politisch Interessierte – mehr negative eigenes Weltbild?
Nachrichten lesen/sehen, vermutlich weil sie sich
von ihnen mehr relevante Hinweise oder Informa-
tionen versprechen. Dieses Verhalten zeigt sich auch, 42.4 Fazit
wenn diese sich vorher mehr positive Nachrichten
wünschen (Trussler u. Soroka 2014). In dem Sinne Im Märchen werden hochaktuelle gesellschaftskriti-
wirkt die Nachfrage der Leser/Zuschauer auf das pro- sche Thematiken angesprochen: Kommunikations-
duzierte Angebot der Journalisten. verhalten, Gerüchteentstehung und -verbreitung,
Umgekehrt wirkt sich jedoch auch das, was wir soziale Neugier und Gossip sowie die Beeinflus-
lesen/hören, auf unsere Wahrnehmung der Welt und sung unseres Weltbildes durch die Berichterstat-
die Konstruktion der sozialen Realität aus (Batinic tung in den Medien. Andersen adressierte eine klare
u. Appel 2008). Wenn wir also überwiegend nega- Botschaft mit aktueller Brisanz. Doch die entschei-
tive Nachrichten lesen, verzerrt sich unser Weltbild dende Frage ist und bleibt, was Sie persönlich aus
zum Negativen. dem Märchen mitnehmen.

z Fragen zur Reflexion


44Wann haben Sie zuletzt die Tageszeitung Literaturverzeichnis
gelesen und sich gefragt, wann die Welt
Andersen, H. C. (2004). Das Andersen Märchenbuch. Wien,
zu einem so schlechten Ort geworden München: Annette Betz.
ist? Baacke, D. (1999). Im Datennetz. Medienkompetenz (nicht
44Wann hingegen haben Sie nach einer positiven nur) für Kinder und Jugendliche als pädagogische Her-
Schlagzeile tatsächlich den ganzen Artikel ausforderung. In: Gesellschaft für Medienpädagogik und
Kommunikationskultur in der Bundesrepublik (GMK).
gelesen?
(Hrsg.), Ins Netz gegangen. Internet und Multimedia in der
außerschulischen Pädagogik (S. 14–28). Bielefeld: GMK.
Batinic, B., & Appel, M. (2008). Medienpsychologie. Berlin, Hei-
Implikationen für die Erziehung delberg: Springer.
Es besteht Anlass zur Hoffnung, dass die Welt nicht Baumeister, R. F., Zhang, L., & Vohs, K. D. (2004). Gossip as cul-
tural learning. Review of General Psychology 8, 111–121.
ganz so schlecht dran ist, wie sie in den Medien dar-
Blickle, G. (2004). Interaktion und Kommunikation. In: H.
gestellt wird. Dies betont jedoch, wie wichtig es ist, Schuler (Hrsg.), Organisationspsychologie 2 – Gruppe und
den Umgang mit Medien zu erlernen. Im Rahmen Organisation. Enzyklopädie der Psychologie (S. 55–128).
von Erziehung spielt daher die Vermittlung von Göttingen: Hogrefe.
Medienkompetenz eine große Rolle. Dazu gehören Dunbar, R. I. (2004). Gossip in evolutionary perspective. Review
of General Psychology 8, 100–110.
nach Baacke (1999):
Farley, S. (2011). Is gossip power? The inverse relationship
44Medienkritik: Fähigkeit zur Reflexion über between gossip, power, and likability. European Journal of
Medien Social Psychology 41, 574–579.
44Medienkunde: Kenntnis der Harari, Y. N. (2013). Eine kurze Geschichte der Menschheit. Mün-
Produktionsbedingungen chen: Deutsche Verlags-Anstalt.
326 Kapitel 42 · Es ist wirklich wahr von Hans Christian Andersen (1848)

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327 43

Ali Baba und die vierzig


Räuber aus Tausendundeiner
Nacht
Natalie Hartung

43.1 Inhalt des Märchens – 328

43.2 Die Charaktere – 328

43.3 Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige


Zeit – 329
43.3.1 Von Recht und Unrecht: Psychologie der Moral – 329
43.3.2 Ehrgefühl und Gesichtsverlust – 331
43.3.3 Gier und materieller Besitz – 332
43.3.4 Loyalität, Gegenseitigkeit und Dankbarkeit – 333

43.4 Fazit – 333

Literaturverzeichnis – 333

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_43
328 Kapitel 43 · Ali Baba und die vierzig Räuber aus Tausendundeiner Nacht

43.1 Inhalt des Märchens der Räuberhauptmann von Morgiane erdolcht.


Zum Dank schenkt Ali Baba Morgiane die Freiheit
Es war einmal ein Holzfäller mit dem Namen Ali und verheiratet sie mit seinem Sohn. Ali Baba, in
Baba, der gemeinsam mit seiner Frau ein beschei- der ganzen Stadt für seine Großzügigkeit bekannt,
denes Leben am Rande des persischen Königreiches teilt seine Reichtümer nicht nur mit seiner Familie,
führte. Eines Tages beobachtet Ali Baba im Wald eine sondern bedenkt auch die Armen der Stadt. Ali Baba
43 Räuberbande, wie sie sich mit den Worten „Sesam, vertraut seinem Sohn das Geheimnis von der Schatz-
öffne Dich!“ Zutritt zu einer Höhle voller Gold und höhle an, das seither von Generation zu Generation
wertvoller Teppiche verschafft. Als die Räuber die weitergegeben und mit weiser Mäßigung genossen
Höhle wieder verlassen haben, geht Ali Baba selbst wird.
hinein und belädt seine drei Esel mit Gold. Um den (Weil 1984; . Abb. 43.1)
Wert des Goldes zu prüfen, leiht sich Ali Babas Frau
bei ihrer Schwägerin, der Frau von Ali Babas Bruder Anmerkung  Ali Baba und die vierzig Räuber ist
Casim, ein Maß. An diesem bleibt beim Abwiegen eine Geschichte aus der Geschichtensammlung von
ein Goldstück kleben, wodurch die Schwägerin von Tausendundeiner Nacht. Die ersten Überlieferun-
den Goldvorräten ihrer arm geglaubten Verwand- gen der Erzählungen gehen zurück in die Zeit um
ten erfährt. 250 n. Chr. Man geht von einem indischen Ursprung
Als Casim Ali Baba auf das Goldstück anspricht, der Geschichten aus, aber auch persische Einflüsse
erzählt dieser ihm gutmütig, wo sich die Schatz- können nicht ausgeschlossen werden, da die indi-
höhle befindet, bittet ihn aber, dieses Geheimnis für sche und persische Kultur zu dieser Zeit stark mit-
sich zu behalten. Gierig sucht Casim anderntags die einander verwoben waren. Erst deutlich später, ver-
Höhle auf, um seine zehn Maulesel mit Schätzen zu mutlich im 8. Jahrhundert, erfolgte die Übersetzung
beladen. Er wird dabei von den Räubern überrascht ins Arabische. In dieser arabischen Fassung finden
und bezahlt dies mit seinem Leben. Da Casim nicht sich keine Hinweise auf das Märchen von Ali Baba
nach Hause zurückkehrt, macht sich Ali Baba auf und den vierzig Räubern, das vermutlich erst der
den Weg zur Höhle und findet dort den Leichnam europäischen Übersetzung von Antoine Galland
seines Bruders. hinzugefügt wurde. Dieser gab an, die Geschichte
Als die Räuberbande die Höhle das nächste Mal von einem syrischen Märchenerzähler gehört zu
aufsucht, erkennt der Räuberhauptmann am Ver- haben.
schwinden des Leichnams, dass noch jemand von
der Schatzhöhle wissen muss. Er lässt Wachposten
aufstellen, um den Eindringling zu stellen, doch Ali 43.2 Die Charaktere
Baba hat genug Reichtum erworben und strebt nicht
nach mehr. Dennoch will sich der Räuberhaupt- Ali Baba ist die Hauptfigur des Märchens und ein
mann an dem Unbekannten, der sich seiner Schätze gutmütiger Mann, der trotz seiner Armut mit seiner
habhaft gemacht hat, rächen und lässt ihn suchen. Lebenssituation zufrieden ist und mit seiner Frau
Doch Ali Babas kluge Sklavin Morgiane durchschaut, eine glückliche Ehe führt. Dennoch entspricht er
dass einer der Räuber das Haus Ali Babas gefunden nicht dem klassischen Märchenhelden, da er sich
und mit einem Kreuz versehen hat, damit andern- und seine Familie, wenn auch in gemäßigter Menge,
tags der Räuberhauptmann das Haus aufsuchen und an der Beute der Räuber bereichert.
sich an dem Hausherren rächen kann. Kurzerhand Morgiane ist die Sklavin Ali Babas, die sich
markiert Morgiane sämtliche umstehende Häuser Ali Baba durch die plötzlichen Reichtümer aus
ebenfalls mit Kreuzen und vereitelt so den Plan des der Schatzhöhle leisten kann. Morgiane beschützt
Räuberhauptmannes. ihren Herrn mit Geschick, Mut und ausgespro-
Dank Morgianes Einfallsreichtum und Umsicht chener Klugheit ein ums andere Mal vor den töd-
überlebt Ali Baba diesen und eine Vielzahl fol- lichen Racheplänen des Räuberhauptmannes. Ihre
gender Rachepläne des Räuberhauptmannes. Bei Loyalität kennt keine Grenzen und wird von Ali
seinem letzten Versuch, Ali Baba zu töten, wird Baba mit großem Dank belohnt. Morgiane stellt das
43.3 · Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
329 43

. Abb. 43.1  (Zeichnung: Claudia Styrsky)

moralische und durchaus auch heldenhafte Vorbild konfrontiert und er durch die überraschenden Wen-
in diesem Märchen dar. dungen immer wieder selbst entscheiden muss, wie
Der Räuberhauptmann ist als Anführer der er auf die Veränderungen reagiert und Handlun-
vierzigköpfigen Räuberbande und durch seine gen bewertet. Psychologisch gesehen erlauben diese
exponierte Stellung innerhalb der Bande daran Überraschungsmomente viel gedanklichen Spiel-
gewöhnt, anderen überlegen zu sein. Dass Ali Baba raum und lassen bei jedem Leser eine individuelle
und dessen Dienerschaft ihn an der Nase herumfüh- Dynamik entstehen, was die Geschichte sehr außer-
ren, verletzt das Ehrgefühl des Räuberhauptman- gewöhnlich macht.
nes daher umso stärker, sodass seine rachsüchtigen
Gedanken in der Folge immer perfidere Ausmaße
annehmen. Obwohl er nicht dumm und äußerst 43.3.1 Von Recht und Unrecht:
hartnäckig ist, wird er von der klugen Morgiane Psychologie der Moral
überlistet und schließlich erdolcht.
Die wohl wichtigste Frage, die die Geschichte von
Ali Baba und den vierzig Räubern an den Leser
43.3 Psychologische Phänomene und stellt, ist eine moralische: Hat man das Recht, Diebe
Bedeutung für die heutige Zeit zu bestehlen?
Ali Baba nimmt das Gold von den Räubern und
Die Geschichte von Ali Baba und den vierzig teilt es mit seiner rechtschaffenen, aber armen Frau
Räubern steckt voller Überraschungen und ist sehr und anderen Bedürftigen in seiner Stadt. Ali Baba
lebendig erzählt. Das Märchen fordert den Leser bringt die Räuberschätze jedoch genauso unrecht-
heraus, weil es ihn mit vielen moralischen Fragen mäßig in seinen Besitz, wie die Räuberbande selbst,
330 Kapitel 43 · Ali Baba und die vierzig Räuber aus Tausendundeiner Nacht

einzig mit dem Unterschied, dass auch die Räuber sehr langfristig denken und sich für soziale Ziele
nicht die wahren Eigentümer des Goldes sind. stark machen (Hafer u. Rubel 2015).
Die Theorie der gerechten Welt spiegelt auf
abstrakter Ebene wider, was die Charaktere des
Robin-Hood-Effekt und Märchens empfinden und trägt so zum Verständ-
Ausgleichsprinzip nis ihrer Handlungen bei. So ist der Räuberhaupt-
43 Dieses Verhalten wird auch in der Geschichte von mann der Überzeugung, dass es Ali Baba verdient
Robin Hood beschrieben, der wohlhabende Kauf- hat, für seinen Diebstahl zu sterben. Die Sklavin
leute bestiehlt und die erbeuteten Güter an arme Morgiane hingegen geht davon aus, dass es rech-
Mitmenschen verteilt. Dieses Phänomen hat ent- tens ist, den Räuberhauptmann zu töten, um Ali
sprechend als sog. Robin-Hood-Effekt Eingang in Baba vor dem Tod zu bewahren. Sowohl für den
die psychologische Forschung gefunden (Brickman Räuberhauptmann als auch für Morgiane ist es
u. Bryan 1975). Es setzt sich damit auseinander, ob wichtig, dass das wahrgenommene Unrecht ver-
man als Individuum das Recht hat, einer reichen golten wird, damit ihr Glaube an eine gerechte Welt
Person etwas zu nehmen, um es an bedürftige Men- bestehen bleibt.
schen weiterzugeben. Das ist auch der Eindruck, der nach der
Ergebnisse dieser Forschungen zeigen, dass Lektüre des Märchens entstehen soll: In sich ist die
Kinder Diebstähle positiver bewerten, wenn ein Kind Geschichte stimmig, jeder hat bekommen, was er
einer reichen Person etwas wegnimmt und es einem verdient, und die Gerechtigkeit wurde wiederher-
Bedürftigen gibt, als wenn das Kind gleichaltrige gestellt. Es wird damit eine deutliche moralische Bot-
Kinder mit einer willkürlichen Begründung bestiehlt schaft transportiert, wie es für Märchen typisch ist.
oder sich durch den Diebstahl selbst bereichert. Das sollte Sie als Leser jedoch nicht davon abhalten,
Umverteilungsprozesse, bei denen einem Men- sich kritisch mit der Moral des Märchens auseinan-
schen, der ohnehin viel hat, etwas genommen wird, derzusetzen und die dargestellten Handlungen zu
was dann an bedürftige Personen weitergegeben hinterfragen.
wird, steigern die wahrgenommene Gerechtigkeit.
Diese Umverteilung folgt dem Ausgleichsprinzip, bei
dem benachteiligte bzw. bedürftige Personen größere Rechtsprechung und moralische
Anteile erhalten, um Ungleichheiten zu minimieren. Maßstäbe
Unabhängig von einer subjektiven Gerechtigkeits-
wahrnehmung gibt es heutzutage natürlich objektive
Theorie der gerechten Welt gesetzliche Vorgaben, die festlegen, wie man sich an
Die Theorie der gerechten Welt ist im Zusammen- der Stelle der einzelnen Charaktere verhalten muss.
hang mit der moralischen Fragestellung im Märchen Diebstähle werden heute ungeachtet des Reichtums
ein wichtiges Erklärungsinstrument. Die Theorie des Bestohlenen und der finanziellen Verhältnisse
besagt, dass Menschen das Bedürfnis haben, zu des Diebes strafrechtlich verfolgt. Dass Gesetze ein-
glauben, dass sie in einer Welt leben, in der jeder gehalten werden müssen und durch die Rechtspre-
grundsätzlich das bekommt, was er verdient (Lerner chung eindeutige Grenzen aufgezeigt werden, ist
1977). Nur so haben Individuen die Zuversicht, selbstverständlich.
langfristige Ziele zu verfolgen, wenn diese über die Es lassen sich dennoch mehrere Antworten auf
Erfüllung der unmittelbar persönlich bedeutsamen die moralische Frage, die das Märchen aufwirft,
Bedürfnisse hinausgehen. Das gilt beispielsweise für finden. Wie so oft gibt es mehrere Wahrheiten und
sozial motivierte Ziele. nicht nur ein ethisch-moralisches Prinzip, an dem
Der Glaube an eine gerechte Welt ist bei den sich unser Handeln orientieren sollte. Als mündi-
Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt. Neue gen Mitgliedern unserer Gesellschaft wird von uns
Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass die verlangt, unsere Entscheidungen und Urteile stets
Aufrechterhaltung des Glaubens an eine gerechte gründlich zu reflektieren. Nur so stellen sie eine feste,
Welt vor allem für jene Menschen wichtig ist, die gut begründbare Basis unserer Handlungen dar.
43.3 · Psychologische Phänomene und Bedeutung für die heutige Zeit
331 43
Wir selbst können hierzu beitragen, indem wir Stellenwert der Familie innerhalb einer solchen
z. B. Institutionen und Einzelpersonen, die sich für Kultur.
mehr Gerechtigkeit in Unternehmen, Bildungsein- Auch die Räuberbande stellt eine Art familiä-
richtungen und der Gesellschaft insgesamt einset- ren Verbund dar, und die aggressiven Reaktionen
zen, unterstützen. des Räuberhauptmannes könnten möglicherweise
dadurch erklärt werden, dass der Räuberhauptmann
z Fragen zur Reflexion seine Bande als Familie ansieht und diese verteidi-
44Gibt es für Sie verschiedene Arten von gen möchte.
Diebstahl? Wenn ja, bewerten Sie diese Darüber hinaus werden die aggressiven Reak-
unterschiedlich? tionen auf eine Verletzung des Ehrgefühls mit einem
44Finden Sie, dass die Intention des Diebes z. B. niedrigen gesellschaftlichen und ökonomischen
beim juristischen Strafmaß berücksichtigt Status und einer Stigmatisierung bestimmter Bevöl-
werden sollte? kerungsgruppen in Verbindung gebracht (Henry
2009).
Hier zeigt sich eine weitere Parallele zur Räu-
43.3.2 Ehrgefühl und Gesichtsverlust berbande, die ebenfalls am Rande der Gesellschaft
existiert.
Ein zweites großes psychologisches Thema, das in
diesem Märchen behandelt wird, ist die Ehre. Die
Räuberbande kann nicht auf sich sitzen lassen, dass Prinzip der Rechtsstaatlichkeit
sie von Ali Baba überlistet wurde. Vor allem der Räu- Auch in unserer Kultur haben sich die Menschen
berhauptmann fühlt sich stark in seinem Ehrgefühl früher schnell duelliert, weil ihr Ehrbegriff sehr stark
gekränkt, weil ihm etwas geraubt wurde, obwohl er ausgeprägt war, so z. B. im Mittelalter. In der islami-
sich selbst Tag für Tag unrechtmäßig an den Besitz- schen Kultur ist er nach wie vor zentral im Wertever-
tümern anderer bereichert. ständnis verankert.
Ganz im Sinne Max Webers kann Gerechtigkeit
heute aber nicht mehr durch individuelle Handlun-
Kultur der Ehre und Verletzung des gen hergestellt werden, sondern ist durch rechts-
Ehrgefühls staatliche Regelungen vorgegeben. Insofern wird
Ein Bereich der Psychologie, der sich mit Ehrgefühl die Bedeutung des Ehrbegriffs in einer entwickel-
auseinandersetzt, ist die Forschung zur Kultur der ten und von wissenschaftlichen Prinzipien gepräg-
Ehre (engl. „culture of honor“). Ursprünglich wurde ten Welt reduziert, und es findet eine kontinuierliche
die in den Südstaaten der USA vorherrschende Veränderung in Richtung Rechtsstaatlichkeit und
Kultur als solche bezeichnet. Vor allem Beleidigun- Toleranz statt – hin zu einer offenen Gesellschaft, in
gen der Familie, des Zuhauses und der Besitztümer der nur der Staat das Recht auf bestimmte Formen
werden von Männern dieser Kultur im Vergleich der Gewalt hat.
zu Männern aus anderen Kulturen sehr schnell als
unangemessen wahrgenommen und mit aggres-
siven Reaktionen beantwortet (Nisbett u. Cohen Gesichts- und Autoritätsverlust
1996). Da ähnliche Effekte für die türkische Kultur Aktuelle mit dem Ehrbegriff zusammenhängende
gezeigt werden konnten, ist davon auszugehen, dass psychologische Themen sind Gesichts- und Auto-
sich dieses Phänomen nicht nur auf die Südstaaten ritätsverlust. Beides wird dann wahrgenommen,
der USA bezieht (Van Osch et al. 2013). Dennoch ist wenn jemand in Gegenwart anderer seine soziale
in diesem Zusammenhang zu betonen, dass das Phä- Rolle und die damit verbundenen Erwartungen
nomen kulturspezifisch ist und keinesfalls überall nicht erfüllen kann (Lin u. Yamaguchi 2011). So
auftritt. kann dies z. B. bei Führungskräften der Fall sein,
Die Kultur der Ehre wird weniger durch das aber auch bei Eltern in der Kindererziehung oder in
Ehrgefühl eines Mannes bestimmt als durch den politischen Szenarien.
332 Kapitel 43 · Ali Baba und die vierzig Räuber aus Tausendundeiner Nacht

Aus dieser Warte betrachtet könnte das Verhalten Motivationstheorie


des Räuberhauptmannes durchaus durch die Angst Darüber hinaus macht mehr Besitz nicht glückli-
vor einem Autoritätsverlust motiviert sein. Sobald cher. Dieses Phänomen kann gut anhand der Zwei-­
unter den Räubern der geringste Zweifel an seiner Faktoren-Theorie erklärt werden, der zufolge es
Vormachtstellung aufkommt, wäre ihm die Führung bestimmte Faktoren gibt, die zu Zufriedenheit führen
der Bande nicht mehr sicher. (Motivatoren) und unabhängig von diesen zufrie-
43 denheitsfördernden Faktoren weitere, die Unzufrie-
denheit nach sich ziehen, wenn sie nicht gegeben
43.3.3 Gier und materieller Besitz sind (Hygienefaktoren; Herzberg et al. 1959).
So resultiert z. B. das Fehlen von materieller
Im Märchen stirbt Ali Babas Bruder Casim durch Sicherheit in Unzufriedenheit (Hygienefaktor), aber
seine unersättliche Habgier. Die Bestrafung gierigen Besitz führt ab einer bestimmten Menge, wenn das
Verhaltens kann als eine moralische Lehre des Mär- Bedürfnis nach Sicherheit erfüllt ist, nicht zu mehr
chens verstanden werden. Zufriedenheit (kein Motivator).

Streben nach Besitz Materieller Besitz und Zufriedenheit


Das Thema Gier ist in unserer Gesellschaft sehr Bereits mehrfach konnte in der psychologischen
aktuell und kommt oft in Zusammenhang mit Forschung aufgezeigt werden, dass Menschen, die
unternehmerischen und finanziellen Skandalen Geld und verwandten materiellen Besitztümern in
zur Sprache: Was ist Ihr Eindruck? Wird Gier in ihrem Leben einen großen Stellenwert zuschreiben
unserer Gesellschaft angemessen bestraft? Viel zu und sich stark darüber definieren, insgesamt weniger
haben und noch mehr anzustreben, scheint eher zufrieden sind (Dittmar et al. 2014). Begründet wird
ein Wert zu sein, der von der Gesellschaft gelebt dies u. a. damit, dass materieller Besitz nicht die
und unterstützt wird. So stellen Status und Reich- Bedürfnisse nach Kompetenz und Verbundenheit
tum immer noch Kriterien dar, anhand derer der mit anderen Menschen erfüllt. Dazu passen einige
Erfolg von Menschen gemessen wird. Ein Übermaß aktuelle Konsumentwicklungen, die weg vom klas-
des Besitzstrebens, die Gier, ist allerdings negativ sischen Kaufen in Richtung des Teilens von Gütern
besetzt. und Ressourcen bis hin zum völligen Konsumver-
In Form des heute vorherrschenden Materia- zicht reichen.
lismus ist Besitzstreben ein Phänomen, das jeder Schlussendlich scheint es sinnvoll zu sein, einen
von uns kennt. Viele Menschen glauben, dass die eigenen Maßstab für Lebenszufriedenheit anzulegen:
Zufriedenheit im Leben mit dem Vorhandensein Menschen sind dann zufrieden, wenn ihre Lebens-
materieller Güter ansteigt. Außer Frage steht, dass situation ihren Erwartungen entspricht oder diese
materielle Armut überwiegend zu Unzufrieden- übersteigt – auf allen erdenklichen Ebenen. Auch
heit führt, vor allem wenn nicht einmal elementare Ali Baba teilt die Schätze aus der Räuberhöhle mit
Bedürfnisse wie Nahrung und Kleidung sicherge- seiner Familie und ist großzügig gegenüber seinen
stellt sind. Ergebnisse psychologischer Forschung Bediensteten.
unterstützen zudem die Annahme, dass Menschen,
die im Mittel gut verdienen und das über einen län- z Fragen zur Reflexion
geren Zeitraum hinweg, zufriedener sind (Cheung 44Wie stehen Sie zu Konsum?
u. Lucas 2015). Das kann so jedoch nicht verallge- 44Macht Besitz Sie glücklich?
meinert werden und gilt nur bis zu einer bestimmten 44Haben Sie vielleicht auch schon die Vorteile des
Einkommenshöhe. Teilens für sich entdeckt?
Literaturverzeichnis
333 43
43.3.4 Loyalität, Gegenseitigkeit und z Fragen zur Reflexion
Dankbarkeit 44Erinnern Sie sich noch an das letzte Mal, als
Sie einem anderen Menschen richtig dankbar
Die Heldin der Geschichte ist die Sklavin Morgiane. waren?
Ihre Loyalität ihrem Herrn Ali Baba gegenüber wird 44Hat diese Dankbarkeit etwas in Ihrer Beziehung
belohnt, indem ihr die Freiheit geschenkt und sie zu der anderen Person verändert?
ihrer wahren Liebe freigegeben wird.

43.4 Fazit
Reziprozitätsprinzip
Diese Vergeltung der Loyalität Morgianes kann psy- Aus der Geschichte von Ali Baba und den vierzig
chologisch durch das Reziprozitätsprinzip, dem Räubern können wir lernen, dass es in vielen Situa-
Prinzip der Gegenseitigkeit, beschrieben werden. Es tionen nicht einfach ist, eine moralische Bewertung
handelt sich dabei um eine Regel im sozialen Miteinan- der Taten anderer Menschen abzugeben. Die Hin-
der, die besagt, dass sich Menschen dazu aufgefordert tergründe des menschlichen Handelns sind viel-
fühlen, etwas zurückzugeben, wenn sie von jemand schichtig. Dass wir dabei umsichtig vorgehen und
anderem etwas erhalten haben (vgl. Kogan et al. 1959). uns dennoch unserer gesellschaftlichen Verantwor-
Das durch ein Geschenk oder eine Hilfeleistung tung und der Vorbildfunktion für andere bewusst
entstehende Verpflichtungsgefühl wird dadurch sein sollten, kann eine zentrale Erkenntnis aus dem
reduziert, dass man dem Gegenüber ebenfalls etwas Märchen sein. Die Kritik an Habgier und Unersätt-
schenkt oder ihm einen Gefallen tut. Auch aufseiten lichkeit kann uns zum Umdenken in unserem
des Schenkers besteht oft die Erwartung, nach der eigenen Konsumverhalten anregen. Zu guter Letzt
gezeigten Aufmerksamkeit eine Gegenleistung zu lernen wir, dass wir das, was wir anderen geben, auch
bekommen. Allerdings ist das nicht in allen Kontex- zurückbekommen werden. Und wer weiß – vielleicht
ten der Fall. Innerhalb der Familie z. B. besteht diese können Sie für sich persönlich noch ganz andere
Erwartung eher nicht. Schlüsse ziehen? Diese Freiheit lassen uns Märchen
Zudem unterstützen psychologische Studien die schließlich auch.
Annahme, dass Schenken oft mehr Wohlbefinden
erzeugt, als beschenkt zu werden, und daher auch
Geschenke alleine um des Schenkens willen gemacht Literaturverzeichnis
werden (Charness u. Haruvy 2002).
Brickman, P., & Bryan, J. H. (1975). Moral judgment of theft,
charity, and third-party transfers that increase or decrease
equality. Journal of Personality and Social Psychology 31,
Dankbarkeit 156–161.
In der Geschichte von Ali Baba kommt zu dem Charness, G., & Haruvy, E. (2002). Altruism, equity, and
reciprocity in a gift-exchange experiment: an
gerade beschriebenen Gefühl, sich revanchieren zu
­encompassing approach. Games and Economic Behavior
müssen, die unendliche Dankbarkeit, die er seiner 40, 203–231.
Sklavin Morgiane gegenüber empfindet. Cheung, F., & Lucas, R. E. (2015). When does money matter
Mit Dankbarkeit, die wir aufgrund der Zuwen- most? Examining the association between income and
dung durch andere empfinden, befasst sich die posi- life satisfaction over the life course. Psychology and Aging
30, 120–135.
tive Psychologie. Sie ist korreliert mit einer höheren
Dittmar, H., Bond, R., Hurst, M., & Kasser, T. (2014). The relation-
Zufriedenheit und Glück. Die Erfahrung von Dank- ship between materialism and personal well-being: A
barkeit kann die Beziehungen zu anderen Menschen meta-analysis. Journal of Personality and Social Psychology
verändern, wie es auch im Märchen der Fall ist. 107, 879–924.
334 Kapitel 43 · Ali Baba und die vierzig Räuber aus Tausendundeiner Nacht

Hafer, C. L., & Rubel, A. N. (2015). Long-term focus and proso-


cial-antisocial tendencies interact to predict belief in just
world. Personality and Individual Differences 75, 121–124.
Henry, P. J. (2009). Low-status compensation: A theory for
understanding the role of status in cultures of honor.
Journal of Personality and Social Psychology 97, 451–466.
Herzberg, F. I., Mausner, B. M., & Snyderman, B. (1959). The
43 motivation to work. New York: Wiley.
Lerner, M. J. (1977). The justice motive: Some hypotheses as to
its origins and forms. Journal of Personality 45, 1–52.
Lin, C.-C., & Yamaguchi, S. (2011). Under what conditions do
people feel face-loss? Effects of the presence of others
and social roles on the perception of losing face in Japa-
nese culture. Journal of Cross-Cultural Psychology 42,
120–124.
Kogan, N., Tagiuri, R., & Portis, B. (1959). Perception of reci-
procity and the grouping principle. The Journal of Social
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Nisbett, R. E., & Cohen, D. (1996). Culture of honor: The psycho-
logy of violence in the South. Boulder, CO: Westview Press.
Van Osch, Y., Breugelmans, S. M., Zeelenberg, M., & Bölük, P.
(2013). A different kind of honor culture: Family honor
and aggression in Turks. Group Processes & Intergroup
Relations 16, 334–344.
Weil, G. (1984). Geschichte des Ali Baba und der vierzig Räu-
ber, die durch eine Sklavin ums Leben kamen. In: G. Weil
(Hrsg.), Tausendundeine Nacht (Bd. 3, Kap. 10). http://
gutenberg.spiegel.de/buch/tausend-und-eine-nacht-
dritter-band-3446/10. Zugegriffen: 14. November 2016.
335 44

Nachwort: Märchen sind


Chancen für eine bessere Welt
Dieter Frey und Paula Münster

Literaturverzeichnis – 337

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1_44
336 Kapitel 44 · Nachwort: Märchen sind Chancen für eine bessere Welt

Märchen finden immer in sozialen, kulturellen und Respekt für Menschen, einem Höchstmaß an Tole-
historischen Kontexten statt, deshalb ist es nicht ranz sowie Selbstbestimmung.
überraschend, dass der Schwerpunkt der Märchen- Daneben regen uns Märchen an, darüber nach-
analyse die Sozialpsychologie und die damit verbun- zudenken, was jeder einzelne tun kann, um ein
denen Phänomene sind, z. B. soziale Wahrnehmung, lebenswertes, sinnvolles und glückliches Leben zu
Gruppenprozesse, Werte, Einstellungen, Konflikte führen. Fast alle Märchen zeigen Chancen und Wege
oder Führung. Daneben werden weitere Teildiszi- auf, seines eigenen Glückes Schmied zu sein und das
plinen der Psychologie angesprochen, beispielsweise Beste aus ungünstigen Bedingungen zu machen.
44 die allgemeine Psychologie mit ihren Prinzipien von Tief verankert sind auch die optimistische Grund-
Belohnungs-, Bestrafungs- und Modelllernen oder haltung und Zukunftsperspektive. Wenn man diese
auch Motivation und Emotion. Ebenso findet die Botschaften versteht, selbst lebt und anderen wei-
Persönlichkeitspsychologie in unseren Analysen tergibt, dann erfüllen Märchen auch in der heutigen
ihren Platz. Persönlichkeitseigenschaften wie Intra- Zeit eine Funktion, die sie schon über Jahrhunderte
version oder Extraversion, Ängstlichkeit, Gewissen- erfüllt haben.
haftigkeit oder auch ein hoher oder niedriger Selbst- Natürlich haben wir auch reflektiert, was die
wert charakterisieren unsere Protagonisten. Märchen heute bedeuten. Die heutige Gesellschaft
Natürlich haben sich bereits viele Autoren ist mit Sicherheit eine andere als die frühere, welche
mit Märchen in den unterschiedlichsten Facetten durch Aristokratie und Stände geprägt war. Wir sind
beschäftigt, ein Beispiel wäre Bruno Bettelheim von einer humanistischen Grundidee ausgegangen,
(1977). Aber jedes einzelne Märchen hinsichtlich der d. h. einer offenen Gesellschaft, einer Gesellschaft
psychologischen Relevanz zu analysieren wie hier in des gegenseitigen Respekts, der Wertschätzung und
diesem Buch, ist bisher weltweit einmalig. Menschenwürde (wie es auch im Grundgesetz ver-
Wir wünschen uns, dass diese Märchen und Mär- ankert ist). Glücklicherweise leben wir heute in einer
chenanalysen geeignet sind, Menschen zu unter- Gesellschaft, in der Toleranz, Offenheit, Menschlich-
halten, zu begeistern, neugierig zu machen, aber keit und die Akzeptanz der Vielfalt von Kultur, Reli-
gleichzeitig auch dazu anregen, die Hintergründe zu gion, Geschlecht und Alter (überwiegend) vorhan-
verstehen und den Bezug zur Gegenwart und zum den sind.
eigenen Leben herzustellen. Unsere Hoffnung ist, Wir haben daher das ein oder andere Märchen
dass wir Ihnen nahebringen konnten, welche Weis- dahingehend besprochen, dass man die Inhalte
heit und welches Wissen in diesen jahrhundertealten durchaus kritisch hinterfragen kann und sollte –
Märchen steckt, und Sie davon überzeugen konnten, Mord und Totschlag, Kindesmisshandlung sowie
welche Chancen und Möglichkeiten uns Märchen Tierquälerei können nicht unkommentiert im Raum
auch heutzutage bieten können. stehen bleiben. Damit wird eine humanistische Phi-
Jedem Märchen liegt die Weisheit vieler Jahrhun- losophie der Psychologie transportiert, die sich nicht
derte zugrunde. Diese Weisheit können wir nutzen, darauf beschränkt, wissenschaftliche Phänomene zu
um eigene Episoden im Leben zu interpretieren und erklären und vorherzusagen, sondern immer auch
darüber hinaus Erkenntnisse zu gewinnen, wie wir Vorstellungen beinhaltet, wie Idealzustände aussä-
unser Leben gestalten, strukturieren, organisieren, hen, wie die Zukunft einer Gesellschaft aussehen
verändern und neu definieren können und möchten. könnte.
Sie schärft zudem den Blick für die Interpretation Wir verstehen Psychologie nicht nur als Erfah-
gesellschaftlicher Phänomene und zeigt auf, wie wir rungs- und Erklärungswissenschaft, sondern auch
darauf Einfluss nehmen können. als Aufklärungswissenschaft und als Wissenschaft,
Märchen als Ausgangspunkt für Reformen und die verantwortlich ist, (Miss-)Zustände in der Welt
Revolutionen zu bezeichnen, führt sicherlich zu aufzuzeigen und zu verbessern. Anhand wissen-
weit, aber sie bieten eine großartige Gelegenheit zur schaftlicher Erkenntnisse kann veranschaulicht
Selbstreflexion und damit zu sinnvollem Handeln. werden, wie Gewohnheiten überwunden, starre
Unser erklärtes Ziel sollte eine offene und menschen- Strukturen aufgelöst und Menschen für eine huma-
würdige Gesellschaft sein, die getragen wird von nistische Grundidee gewonnen werden können.
Literaturverzeichnis
337 44
Darüber hinaus ist es uns wichtig, eine Grundstim- Egal unter welchen Gesichtspunkten Sie das
mung zu schaffen, wie sie z. B. die positive Psycho- Buch gelesen haben mögen, wir hoffen, dass es Ihnen
logie proklamiert: Verantwortung für die Zukunft Spaß gemacht hat und Sie intellektuell durch den psy-
zu übernehmen und Verantwortung dafür zu über- chologischen Background der Märchen inspiriert
nehmen, dass kritische Zustände, die die Menschen- wurden und vielleicht sogar etwas für Ihr eigenes
würde verletzen, indiskutabel sind und man Perso- Leben lernen konnten.
nen oder Institutionen braucht, die für eine offene
Gesellschaft kämpfen. Dies mag auf den ersten Blick
der wissenschaftlichen Psychologie widersprechen, Literaturverzeichnis
die sich wertneutral verhalten will.
Bettelheim, B. (1977). Kinder brauchen Märchen. München:
Neben dem Erkenntnisgewinn haben wir immer Random House.
auch eine Vorstellung davon, wie eine zukünf- Frey, D. (Hrsg.). (2016). Psychologie der Werte – Von Achtsamkeit
tige offene Gesellschaft, und zwar eine Weltgesell- bis Zivilcourage. Basiswissen aus Psychologie und Philoso-
schaft, aussehen sollte. Im Sinne Poppers oder Max phie. Berlin, Heidelberg: Springer.
Webers folgen wir der Idee, dass man als Wissen-
schaftler nicht nur Verantwortung für Ist-, sondern
auch für Sollzustände hat. Diese muss man zwar
klar trennen, aber Wissenschaft kann sehr oft einen
wichtigen Beitrag dazu leisten, wie man von einem
Ist- zu einem Sollzustand gelangen kann. Deshalb
hat Wissenschaft neben reiner Deskription, Erklä-
rung und Aufklärung immer auch etwas zu tun
mit Visionen, Werten und Infragestellung des
Bestehenden.
Bei der Analyse der Märchencharaktere haben
sich bei uns im Seminar auch interessante Selbst-
reflexionen ergeben: Bin ich/ist mein Partner eher
Hase oder eher Igel? Wer in meiner Familie bringt
die Gewitztheit eines gestiefelten Katers mit? Hätte
ich als Förster auch Gehorsam gezeigt? Wer wäre in
unserem Team der böse Wolf? Hätte ich mich als
Hans im Glück ebenso verhalten? Und wo ist mir
das Verhalten anderer Charaktere schon einmal
begegnet? Es sind genau diese Selbstreflexionen, die
bewirken, dass man sehr viel über sich und andere
lernen kann.
Wer die psychologische Betrachtung der
Märchen aufmerksam liest, erkennt darin grundle-
gende Elemente eines Lehrbuches der Psychologie
oder Sozialpsychologie, da jedes Märchen und die
damit verbundenen psychologischen Phänomene
anhand der Erkenntnisse, Modelle und Theorien der
Psychologie erläutert werden, die sowohl den Grund-
lagen- als auch angewandten Bereich betreffen. Der
Vorteil gegenüber einem Lehrbuch liegt darin, dass
die Erkenntnisse lebendig und mit hohem Anwen-
dungsbezug präsentiert sind. Dies stellt – wenn benö-
tigt – eine effektive Lernhilfe dar.
339

Serviceteil
Stichwortverzeichnis – 340

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2017


D. Frey (Hrsg.), Psychologie der Märchen,
DOI 10.1007/978-3-662-53668-1
340

Stichwortverzeichnis

360°-Feedback  271 Beharrlichkeit  200, 246 Der Teufel mit den drei goldenen
Belohnungsmacht  214 Haaren  219
Beobachtungslernen  192, 269 Der Wolf und die sieben jungen

A Beratergruppe  17
Berufstätigkeit der Mutter  151
Geißlein  149
Des Kaisers neue Kleider  13
Besitz, materieller  207, 332 Die drei Glückskinder  187
Abwehrmechanismus  295
Besitzstreben  332 Die drei kleinen Schweinchen  275
Adoleszenz  65
Bestätigungsverzerrung  324 Die Lebenszeit  251
Adoptivelternschaft  166
Bestrafung  145, 309 Die Prinzessin auf der Erbse  37
Advocatus Diaboli  17
Bestrafungslernen  309 Die Schneekönigin  243
Aggression  121, 294, 301
Bestrafungsmacht  214 Die Spinne und die Weisheit  211
Ähnlichkeitsprinzip  40, 81, 240
Beurteilung durch andere  146, 176 Die Sterntaler  29
Akzeptanz  310
Bewältigungsstrategie  158, 230, 300, Diskretion, gegenseitige  49
Ali Baba und die vierzig Räuber  327
314 Diskriminierung  65, 197
Altersstereotyp  272
Bewertungsangst  74, 158 Dissonanz, kognitive  247
Altruismus  32, 95, 238, 281
Bewertungserwartung  16 Diversity  198
–– krankhafter  33
Big Five  294 Diversity Management  183
Aneignungsphase  269
Bigamie  302 Dornröschen  291
Angst  113
Bindungsbedürfnis  34 Dr. Allwissend  171
–– vor Bestrafung  80
Blaubart  45 Dramadreieck  71
–– vor dem Tod  137
Bremer Stadtmusikanten  179 Durchhaltevermögen  191, 200
Anspruchsniveau  308
Bürger, mündiger  19, 330
Arbeitsplatzsicherheit  87, 280
Bystander-Effekt  15, 67, 96
Arbeitsprobe  42
Arbeitspsychologie  9 E
Arbeitsvertrag  87, 308
Aschenputtel  227 C Easterlin-Paradoxon  34, 206
Ego-Depletion  144
Attraktivität  39, 222
Charakter, autoritärer  262 Egoismus  32–33, 238
Attraktivitätskriterium  39
Consumer-Experience-Modell  82 Ehrenamt  33
Attraktivitätsstereotyp  64
Copingstrategie  158, 230, 300, 314 Ehrgefühl  331
Attribution  174
Corporate Social Responsibility  25 Ehrlichkeit  177
–– dispositionale  176
Eigengruppe  279
–– feindselige  249
Eigeninitiative  315
Attributionsfehler, fundamentaler  146,
174 D Eigennutz  238
Eigenverantwortung  281, 314
Attributionstheorie  174 Dankbarkeit  190, 224, 316, 333 Einfluss, sozialer  57, 79
Ausdauer  200 Das kleine Mädchen mit den –– informationaler  106
Ausführungsphase  269 Schwefelhölzern  155 –– normativer  106
Ausgleichsprinzip  330 Das Märchen von den drei Eingebundenheit, soziale  181, 248,
Austausch, sozialer  32, 315 Brüdern  133 254
Austauschtheorie, soziale  81, 308 Das Rübchen  195 Elternliebe  166
Autonomie  56, 114, 181, 247, 254 Defizitmotiv  129 Emanzipation  66, 82
Autoritätsgläubigkeit  175 Depression  55, 248 Empathie  25, 32, 51, 138, 287
Autoritätsperson  80, 168, 263 Deprivation, soziale  120, 293 Empathie-Altruismus-Hypothese  32,
Autoritätsverlust  331 Der alte Großvater und der Enkel  267 67, 96, 238
Der Arme und der Reiche  235 Empathiemangel  122

B
Der Fischer und der Dschinn  141 Engagement  33, 82, 257
Der gestiefelte Kater  311 Entscheidung  48, 74, 264, 309
Der Hase und der Igel  117 Enttäuschung  88, 112
Bedürfnis, physiologisches  34, 159
Der Jäger, der seine Frauen ungleich Entwicklung, psychosoziale  66, 98
Bedürfnisprinzip  129
behandelte  297 Entwicklungspsychologie  9
Bedürfnispyramide von Maslow  34,
Der kleine Muck  283 Erfahrungswissen  48
129, 159, 279
Stichwortverzeichnis
341 A– K

Erfolg  257 Gehorsam, blinder  168, 263 Hänsel und Gretel  101
–– finanzieller  190 Gehorsamkeit  80, 106, 167, 262 happiness economics  206
Erfolgsarroganz  90 Gelassenheit  256 Hedonismus  114
Ergebnisgerechtigkeit  129 Generationenvertrag  183 Herdenverhalten  286
Erinnerung  6 Generativität  35 Heuristik  48, 177
Erklärungsstil Genovese-Syndrom  15 Hidden-Profile-Effekt  153
–– depressiver  206 Gerechte-Welt-Glauben  88, 130, 239, Hilfeverhalten  25, 32, 66, 74, 157, 280
–– optimistischer  206 286, 300 Hilflosigkeit, erlernte  31, 55, 89, 105,
Erwachsenwerden  278 Gerechtigkeit  90, 129, 185, 330 136, 184, 191, 229, 255
Erwartung  72, 112, 239, 287, 308 –– distributive  129 Hilfsbedürftigkeit  160
–– enttäuschte  112 –– interaktionale  130 Hilfsbereitschaft  33, 222, 224, 240
–– implizite  87 –– prozedurale  129 Hochmut  317
Erziehungsstil, autoritärer  249 Gerücht  324 Hochsensibilität  42
Es ist wirklich wahr  319 Geschlechtsstereotyp  103 Hochsensitivität  42–43
Eudämonie  82, 114 Geschwisterbeziehung  95, 232 Homo oeconomicus  95, 238
Exil  145 Geschwisterliebe  279 Hygienefaktor  208, 332
Exkludierung (Exklusion), soziale  144, Gesichtsverlust  331 Hypothesentheorie der sozialen
293, 301 Gewalt  7, 51, 128, 288 Wahrnehmung  105, 249, 322
–– Bedürfnistheorie  145 Gewaltverbrechen  300
Expertenmacht  214 Glaube an eine gerechte Welt  88, 130,
Expertenwissen  16
Extraversion  189, 206, 294
239, 286, 300, 330
Glaubenssystem  137
I
Gleichberechtigung  185, 302 Identität  6, 231
Gleichheitsprinzip  129 –– sexuelle  66
F Glück  35, 82, 174, 205, 222, 264–265,
316
–– soziale  279
Identitätsentwicklung  66
Fairness  130, 308 –– essenzielle Grundsätze  190 Identitätskonzept  231
Falschaussage  322 –– eudämonisches  114 Identitätskrise  66
Feedback  215, 217 Glücksempfinden  82, 189, 205–206, Identitätsverlust  231
Feedbackkultur  18 263 Ignoranz, pluralistische  16, 67, 157
Fehlentscheidung  17, 153 Glücksfaktor  189, 206 Impfen, aktives und passives  191
Fehlerkultur  161 Gossip  323 Impftheorie  191
Filtermodell der Kommunikation  322 Gratifikationskrise, soziale  56 Impression-Management-
Flow  82 Größenwahn  89, 215 Hypothese  146
Flow-Erleben  182 Grundbedürfnis  129, 159 Informationskontrolle  104
Flurfunk  322 Grundsicherung  159 Informationsmacht  214
Frau Holle  259 Gruppendenken  17 Ingroup  184, 279
Frauenquote  303 Gruppeneinfluss  175 Inkongruenz  112
Fremdbestimmung  89 Gruppenentscheidung  17, 153 Integrität  246
Fremdgruppe  184, 279 Gruppenidentität  231 Intelligenztest  42
Freundschaft  222, 224, 315 Gruppenkonformität  223 Interaktion  321
Frustration  121 Gruppenpolarisation  153, 175 Interrollenkonflikt  151
Frustrations-Aggressions-Theorie  301 Gruppenverhalten  286 Interview, strukturiertes  42
Führung Gruppenzugehörigkeit  145, 183, 223, Intimität  39
–– destruktive  288 231, 240 Intuition  48
–– ethikorientierte  216 Gutgläubigkeit  177
–– transformationale  177, 288, 303
Fünf-Faktoren-Modell der K
Persönlichkeit  294
Furchtlosigkeit  113
H Kardinaltugend, platonische  255
Fürsorge  138 Habgier  89–90, 332 Klatschhypothese des
Halo-Effekt  65, 175, 286 Spracherwerbs  323
Handeln Klugheit, intuitive  174
G –– selbstständiges  58
–– zielgerichtetes  200
Kommunikation  308, 321
–– Filtermodell  322
Gegenseitigkeit  23, 315, 333 Handlung, autotelische  182 –– gewaltfreie (GFK)  51
Geheimhaltung  214 Handlungsorientierung  183, 314 Kompass, moralischer  287
Geheimnis  49–50 Hans im Glück  203 Kompensation  254
342 Stichwortverzeichnis

Kompetenz  114, 181, 248, 254, 332 Machtstreben  56, 90 Organisationspsychologie  9


Kompetenzgefühl  160 Manipulation  63, 294 Orientierung  7
Konditionierung, operante  309 Märchenanalyse  10 –– sexuelle  66
Konflikt  50 Märchenschema  112 Outgroup  184, 279
Konfliktfähigkeit  51 Marshmallow-Experiment  144
Konformität  16, 106, 146, 223 Mäßigung  255
König Drosselbart  305
Konkurrenz  65, 120, 216, 232
Medienkompetenz  325
Mehrgenerationenhaus  272
P
Konsumrausch  256 Mentor  315 Partnerschaft  49–50, 79, 222
Kontaktfreudigkeit  57 Metawissen  270 Partnerwahl  39, 47, 81, 240, 309
Kontrollbedürfnis  145 Milgram-Experiment  80, 106, 167, 262 Partnerwahlpräferenz  47
Kontrolle  31, 56, 253, 323 Minderwertigkeit  120 Passivität  105
–– illusorische  254 Minderwertigkeitstheorie  120 Patchworkfamilie  166
–– kognizierte  56, 136, 222, 254 Misserfolg  158, 190 Perfektion  114
–– über andere  56 Missgunst  239 Performanz  269
–– wahrgenommene  106 Mitspracherecht  18, 58 Persistenz  200
Kontrollerleben  191 Mittel-Ziel-Analyse  199 Persönlichkeitsentwicklung  8
–– hohes  191 Mobbing  65, 145, 231, 288, 324 Persönlichkeitspsychologie  8
–– niedriges  191 Modell der selektiven Optimierung Persönlichkeitsstörung
Kontrollverlust  57, 88, 136, 230, 255, und Kompensation  254 –– abhängige  33
314 Modelllernen  192, 269, 280 –– narzisstische  64, 81
Kooperation  73 Monogamie  302 Pflichtbewusstsein  168
Kosten-Nutzen-Überlegung  32, 95, Moral  7, 281, 329 Pflichtgefühl  80
158 Mortalitätssalienz  137 Phobie  113
Kreativität  216, 315 Motivation  192, 279 Plagiatsaffäre  19
Kultur der Ehre  331 –– extrinsische  294 Polygynie  302
–– intrinsische  294 Positivity  105
Motivationstheorie  332 Prinzipal-Agent-Theorie  135, 208
L Motivator  208, 332
Mundpropaganda  324
Problemlösung  199
Prophezeiung, selbsterfüllende  98,
Lageorientierung  184, 314 Mut  246 128, 272
Lebenszufriedenheit  82, 256 Psychoanalyse  295
Legitimation  168 Psychologie
Legitimationsmacht  214
Leistung  120, 192
N –– allgemeine  8
–– biologische  9
Leistungsbewertung  176 Nächstenliebe  32, 35, 238, 240 –– klinische  9
Leistungserwartung  264 Naivität  152 –– pädagogische  9
Leistungsorientierung  181 Narzissmus  63, 122, 215 –– physiologische  9
Leistungsprinzip  129 Neid  63–64, 207, 239 –– positive  205, 256
Leistungsvergleich  119 Neugier  294, 323
Lernen Neuropsychologie  9
–– kulturelles  323
–– soziales  26, 223, 280
Neurotizismus  189, 206
Nominal-Group-Technik  199
Q
Lernerfahrung, korrigierende  105 Notlüge  104 Queen-Bee-Syndrom  65
Lernprozess  269 Notsituation  16, 25, 66, 96, 157
Liebe  34, 40, 159
–– rationale  303 R
List  135, 174, 207
Lösungsstrategie  315
O Rache  121
Lüge  49, 103, 176 OECD Better Life Index  206 Radikalisierung  146
Lügenpresse  324 Offenheit  49, 294, 323 Rapunzel  53
One-Reason-Decision-Making- Rassismus  184
Strategie  48 Reaktanz  88–89, 136

M Online-Dating  41
Opferrolle  71
Realitätsflucht  158
Recht  90, 329
Macht  79, 214 Optimierung  254 Rechtsprechung  330
Machtinstrument  323 Optimismus  104, 206 Rechtsstaatlichkeit  331
Machtmissbrauch  107 –– realistischer  105 Referenzmacht  214
Stichwortverzeichnis
343 L– V

Reichtum  35, 206, 332 Selbstrespekt  121, 272 Transaktionsanalyse  71


Rekursivität  199 Selbstständigkeit  278 Tugendhaftigkeit  35, 114
Religion  137, 222 Selbstüberschätzung  316–317
Repression  42 Selbstverwirklichung  34–35, 159
Resilienz  57–58, 105
Respekt  24, 80, 121, 138, 182, 272
Selbstwertbedrohung  65, 120
Selbstwertgefühl  231, 239
U
Ressource, soziale  231, 314 –– geringes  82 Ungerechtigkeit  7, 300, 302
Retterrolle  72 –– hohes  137 Ungleichbehandlung  127, 301
Reziprozität  23, 72, 80, 96 Selbstwirksamkeit  80, 106, 278 Unternehmensleitbild  308
–– generalisierte  183 Selbstwirksamkeitserwartung  105, Unterschied, kultureller  302
–– negative  24, 97 184, 278 Unterwürfigkeit  168
–– positive  97 Selektion  254 Unverwundbarkeit, psychische  57
Reziprozitätsnorm  23–24, 80, 97, 223 Self-Determination-Theorie  114
Reziprozitätsprinzip  73, 333 Sensation-Seeking-Skala  115
Risky-Shift-Phänomen  153 Sensation Seeking  113 V
Robin-Hood-Effekt  330 Sensitivität  42
Rolle, soziale  271 Sexualität  66, 295 Väterchen Frost  163
Rollenerwartung  272 Sicherheitsbedürfnis  34, 159, 279 Von den drei Groschen  21
Rolleninkongruenztheorie  303 Sinnhaftigkeit  257 Von einem, der auszog, das Fürchten zu
Rollenkonflikt  151 SOK-Modell  254 lernen  109
Rollenverlust  272 Sorglosigkeit, gelernte  246 Verantwortung  24, 246–247
Rollenverteilung, familiäre  232 Sozialpsychologie  8 Verantwortungsdiffusion  16, 67, 157
Rotkäppchen  69 Sozialstaatsystem  33 Verantwortungsethik  25
Ruhestand, aktiver  273 Soziometertheorie  121 Verantwortungsübernahme  25, 74,
Rumpelstilzchen  85 Spendenbereitschaft  24, 33 168, 264
Spracherwerb, Klatschhypothese  323 Verbundenheit  39, 114, 323, 332
Stärken, individuelle  232, 256 Verdrängung  295

S Statusdenken  16
Stereotyp  128, 175, 271
Verfahrensgerechtigkeit  129
Verfolgerrolle  72
Salienz, perzeptuelle  174, 176 Stiefelternschaft  166 Verfremdungseffekt  112
Schema Stiefkind  166 Vergleich, sozialer  119, 192, 223, 240,
–– kognitives  112 stille Post  322 263
–– normatives  122 Stockholm-Syndrom  263 –– abwärtsgerichteter  263
Schenken  97, 333 Strategie, sexuelle  47 –– aufwärtsgerichteter  192, 241, 263
Schneeweißchen und Rosenrot  93 Stressmodell, transaktionales  158, 230 Vergnügen  82
Schneewittchen  61 Verhalten
Schuldgefühl  25, 33 –– aggressives  249
Schutzfaktor  57
Schwarz-Weiß-Denken  9
T –– antisoziales  138, 145
–– prosoziales  23, 32, 74, 96, 145, 223,
Selbst, ideales  114 Tapferkeit  246 280
Selbstbestätigung  40 Tauschhandel  207 –– unfaires  24
Selbstbestimmung  56, 247, 253 Team  197 Verhaltensvorbild  26
Selbstbestimmungstheorie  181, 247 Team Roles Test  198 Verklärungseffekt  286
Selbstbezogenheit  122 Teamentwicklung  279 Verpflichtung  24, 308, 333
Selbstbild  32, 137, 191, 206, 271 Teamreflexion  271 Versprechen  72, 90
Selbstdarstellung  41, 146 Teamrolle  197 Verstärkung  128, 310
Selbsteinschätzung  176–177, 240, 317 –– handlungsorientierte  198 Vertrag, psychologischer  87, 307
Selbstidentität  231, 315 –– kommunikationsorientierte  198 Vertragsgestaltung  135
Selbstkontrolle  143–144 –– wissensorientierte  198 Vertrauen  73, 97, 152, 177
Selbstkonzept  231, 239 Teamrollenprofil  197 –– blindes  152
–– negatives  122 Teamwork  89 Vertrauensmissbrauch  73
–– positives  240 Teilziel  199 Vertrauenswürdigkeit  50, 152
Selbstlosigkeit  34, 95 Terror-Management-Theorie  137 Verwandtschaft, biologische  166
Selbstreflexion  270–271 Testverfahren  40 Verwandtschaftsselektion  223
Selbstregulation  143–144, 293 Tischlein deck dich, Esel streck dich, Verzerrung, kognitive
Selbstregulationsfähigkeit  143 Knüppel aus dem Sack  125 –– feindselige  293
–– geringe  72, 144 Titelgläubigkeit  175 –– selbstwertdienliche  175
–– hohe  143 Todesangst  137 Victim Blaming  88
344 Stichwortverzeichnis

Vier-Seiten-
Kommunikationsmodell  322
Vitalität  246
Vom Fischer und seiner Frau  77
Vorbildfunktion  19, 192, 224, 269, 289
Voreingenommenheit  286–287
Vorsicht  73, 294
Vorurteil  184, 196

W
Wahrnehmung, soziale  105, 175,
248–249, 322
–– Hypothesentheorie  105
Wahrnehmungs-Erwartungs-
Hypothese  249
Weisheit  213, 270
Welt, veränderbare  31
Weltanschauung, kulturelle  137
Werbeversprechen  19
Wert  128
Werte-Hierarchie  265
Wertevermittlung  8
Wertschätzung  34, 80, 138, 159
Wettbewerb  120
Whistleblower  18
Widerstand  88, 90, 136
Wiedererkennungswert  7
Wirtschaftspsychologie  9
Wirtschaftsskandal  18
Wissbegierde  213
Wissen  25, 213, 216, 270
–– geteiltes  6
Wissensmanagement  215–216
Wissenstransfer  41
Wohlbefinden  114, 222
Work-Life-Balance  207
Würde  80

Z
Zivilcourage  19, 66, 107, 160
Zufriedenheit  205, 222, 308, 332
Zugehörigkeitsbedürfnis  121, 145,
159, 183, 293
Zurückweisung, soziale  301
Zusammenhalt, familiärer  279
Zuschauereffekt  15, 67, 96
Zwei-Faktoren-Theorie  208

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