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Michel
Foucault:
Päd~.gogische
Lekturen
11
VS VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFTEN
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
1. Auflage 2004
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cherung und verarbeitung in elektronischen Systemen.
Nicole Balzer
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken.
Linien der Foucault-Rezeption in der deutschsprachigen
Erziehungswissenschaft ........................................................................... 15
Christiane Thompson
Diesseits von Authentizität und Emanzipation.
Verschiebungen kritischer Erziehungswissenschaft zu einer
,kritischen Ontologie der Gegenwart' ..................................................... 39
Dirk Rustemeyer
Unmöglich wirklich ................................................................................. 77
fan Masschelein
,Je viens de voir, je viens d' entendre'. Erfahrungen im Niemandsland.. 95
Norbert Ricken
Die Macht der Macht - Rückfragen an Michel Foucault .......... ........... .... 119
6 Inhalt
Alfred Schäfer
Macht - ein pädagogischer Grundbegriff? Überlegungen im Anschluss
an die genealogischen Betrachtungen Foucaults ..................................... 145
Maarten Simons
Lernen, Leben und Investieren: Anmerkungen zur Biopolitik ........ ........ 165
Roland Reichenbach
,La fatigue de soi': Bemerkungen zu einer Pädagogik der Selbstsorge ... 187
Markus Rieger-Ladich
Unterwerfung und Überschreitung:
Michel Foucaults Theorie der Subjektivierung ........................................ 203
Rita Casale
Genealogie des Geschmacks.
Ein Beitrag zur Geschichte der ästhetischen Erziehung .......... ................ 225
Ludwig A. Pongratz
Freiwillige Selbstkontrolle.
Schule zwischen Disziplinar- und Kontrollgesellschaft .......................... 243
Roswitha Lehmann-Rommel
Partizipation, Selbstreflexion und Rückmeldung:
gouvernementale Regierungspraktiken im Feld Schulentwicklung ......... 261
Andrea Liesner
Von kleinen Herren und großen Knechten.
Gouvernementalitätstheoretische Anmerkungen zum
Selbständigkeitskult in Politik und Pädagogik .......... ...................... ........ 285
Anhang
Gabriella Schmitz
Auswahlbibliographie zur Michel Foucault-Rezeption ........................... 303
Gabriella Schmitz
Link-Sammlung zur Michel Foucault-Rezeption 311
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .... ...... ................................ ...... 313
Norbert Ricken1Markus Rieger-Ladich
Als zu Beginn der 1990er Jahre eine beachtliche Anzahl philosophischer Mo-
nographien erscheint, die sich intensiv mit den Arbeiten Michel Foucaults
auseinandersetzen und dabei entweder einzelne Studien diskutieren, größere
Themenfelder zu identifizieren suchen oder eine verlässliche Einführung in
dessen unübersichtliches Gesamtwerk zu geben versprechen, werden diese in
zwei Aufsätzen vorgestellt, die sich - von heute aus betrachtet - als eine er-
ste, vorsichtige Zwischenbilanz der deutschsprachigen Foucault-Rezeption
lesen lassen. Und obwohl die thematisch und methodisch höchst disparaten
Studien keine einheitliche Foucault-Lektüre verraten, lassen sie in ihrer Ge-
samtheit doch eine eigentümliche Fixierung auf normative Fragestellungen
erkennen, deren problematische Folgen denn auch von den beiden Rezen-
senten eigens herausgestellt werden: So merkt Ulrich Johannes Schneider in
seinem Literaturbericht kritisch an, dass hierzulande die unvoreingenommene
Kenntnisnahme von Foucaults Schriften noch immer von hartnäckigen Vor-
behalten behindert werde, die insbesondere französischen Theoretikern ent-
gegengebracht würden (vgl. Schneider 1991). Burkhard Liebsch teilt diese
Einschätzung und rät in seiner Samme1rezension daher nicht nur zu einer
größeren "Gelassenheit" in der Auseinandersetzung mit den Arbeiten Fou-
caults, sondern plädiert auch dafür, dessen unbequemen Fragen endlich mit
jener "Aufgeschlossenheit" zu begegnen (Liebsch 1992: 186), die für die
wissenschaftliche Arbeit unerlässlich sei.
Nur zehn Jahre später, als sich Axel Honneth im Rahmen der internatio-
nalen Frankfurter Foucault-Konferenz um eine Bilanzierung der Foucault-
Rezeption in den Humanwissenschaften bemüht, hat sich die Situation bereits
grundlegend gewandelt (vgl. Honneth 2003). Auch wenn Foucault in den
einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen noch immer als anstößiger Autor
gelte, der mit seinen theoretischen und praktischen Interventionen kaum ge-
eignet sei, die etablierten wissenschaftlichen Praktiken und eingespielten
akademischen Rituale zu legitimieren und diese mit einer besonderen Aura
zu versehen, so habe sich mittlerweile doch zweifellos - so die Einschätzung
Honneths - eine neue, ungleich produktivere Form der Auseinandersetzung
mit dessen Arbeiten durchgesetzt: Die schrillen Polemiken und hysterischen
8 Narbert Ricken1Markus Rieger-Ladich
Reaktionen gehörten nun der Vergangenheit an (v gl. Eßbach 1991); längst sei
an ihre Stelle die sachliche und nüchterne Auseinandersetzung getreten.
Nachdem Foucaults Arbeiten, deren Übersetzungen ins Deutsche seit Mitte
der 1970er Jahre recht zügig erschienen, lange Zeit ignoriert oder gar unter
den Generalverdacht des ,Antihumanismus' gestellt worden seien, lasse sich
gegenwärtig deren Bedeutung für die kritische Reflexion des Verhältnisses
von Individuum und Gesellschaft, von Wissen, Macht und Subjektivität
kaum überschätzen: "Sein Werk hat [ ... ] ein Umdenken innerhalb der Hu-
manwissenschaften angestoßen, das sich auf weite Teile unserer herkömmli-
chen Vorstellungen des Sozialen bezieht." Honneths abschließender Bilanz
ist daher nur zuzustimmen: "Was sich unter dem Einfluss Foucaults innerhalb
der Humanwissenschaften mithin geändert hat, ist die Vorstellung von der
Tiefengrarnmatik, nach der sich unser aller Leben in der Gesellschaft voll-
zieht" (Honneth 2003: 26).
Obwohl nun manches dafür spricht, dass Foucault nicht nur die "affekti-
ven Apriori" der deutschen Geschichtswissenschaft berührt, wie Ulrich
Brieler treffend bemerkt (Brieler 2003: 332), sondern auch jene der Erzie-
hungswissenschaft, lässt sich doch feststellen, dass sich auch hier zwischen-
zeitlich neue Rezeptionsformen und Lektürepraktiken durchgesetzt haben.
Was lange Zeit vornehmlich als Affront wahrgenommen wurde, den es of-
fensichtlich mit aller gebotenen Entschlossenheit abzuwehren galt, wird nun
immer häufiger als ernsthafte Herausforderung begriffen, die geeignet ist, ei-
nen überfalligen Prozess der Selbstkritik auszulösen und neue Reflexions-
formen zu stimulieren (v gl. Balzer, in diesem Band). Die Gründe, die dazu
geführt haben mögen, dass Foucaults materialgesättigte Studien zu den Ver-
flechtungen von Wissensformen, Machttypen und Subjektivierungspraktiken
inzwischen auch innerhalb der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft re-
zipiert werden können, ohne mit dem Verdacht vermeintlicher normativer In-
differenzen oder der Preisgabe des ,humanistischen Erbes' rechnen zu müs-
sen, sind nicht leicht zu identifizieren und unterschiedlicher Art. Sicherlich
mitverantwortlich für die neuerliche Foucault-Rezeption ist die schlichte Tat-
sache, dass nun die ersten Übersetzungen der Bände Dits et Ecrits vorliegen,
die auch seine bislang an entlegenen Orten publizierten Schriften zugänglich
machen (v gl. Waldenfels 2003). Auf einer wissenschaftssoziologischen Ebe-
ne lässt sich beobachten, dass auch die Struktur des erziehungswissenschaft-
lichen Feldes stets umkämpft ist und Foucault jenen, meist jüngeren Vertre-
ter/innen der Disziplin, die deren Umschrift durch die Einführung neuer Be-
zugstheorien zu erzwingen versuchen, zweifellos als aussichtsreicher und ge-
eigneter Kandidat gilt (vgl. Bourdieu 1998). Vielleicht am wichtigsten ist je-
doch jene Entwicklung, die Foucaults begriffliche Interventionen - gerade
auch aus pädagogischer Perspektive - gleichsam nachträglich rechtfertigt:
Weil die schroffe Entgegensetzung von Autonomie und Heteronomie, von
Mündigkeit und Unmündigkeit ihre Überzeugungskraft eingebüßt und sich
die plakative Kontrastierung von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung,
von Freiheit und Macht als begriffliche Strategie entpuppt hat, die einer un-
Einleitung 9
Literatur
Bourdieu, Pierre (1998): Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie
des wissenschaftlichen Feldes. Konstanz: UVK Universitätsverlag.
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zeption. In: Ders.IMartin Saar (Hrsg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezep-
tion. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 15-26.
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Diskurs. Würzburg: Königshausen & Neumann.
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Waldenfels, Bemhard (2003): Kraftproben des Foucaultschen Denkens. In: Philosophische
Rundschau 50, S. 1-26.
Nicole Balzer
"Warum sollte man Foucault lesen? Nicht, um die Wahrheit über ihn zu sagen. Viel
eher, um uns selbst zu denken und uns anders zu denken. Denn Foucault ist nur in
dem Maße interessant, als er anders ist. Man muß ihn daher auf eine Art und Weise
lesen, die ihn so verschieden wie nur irgend möglich macht. Dann erst ist er wirklich
erhellend, und dann erst erscheint das Charakteristische unserer Gegenwart."
Franr;ois Ewald
Blickt man auf die Rezeption der Arbeiten Michel Foucaults in der deutsch-
sprachigen Erziehungswissenschaft, so ist - weitgehend auch heute noch -
der Einschätzung nur zuzustimmen, die Ludwig A. Pongratz bereits 1989 no-
tierte: "Die Wucht seiner Analysen scheint in der deutschen pädagogischen
Diskussion bisher kaum Resonanz zu finden" (Pongratz 1989b: 57). So ließ
sich bis Ende der 1980er Jahre die erziehungswissenschaftliche Profession
nur selten von Foucault ,irritieren' und begegnete ihm überwiegend mit Igno-
ranz, Abwehr oder gar Denunziation. Erziehungswissenschaftler nahmen
Foucaults Analysen zumeist als Angriffe gegen Pädagogik wahr, die sie zu
widerlegen, in (tradierte) Ordnungsmuster einzuordnen oder - oft nur implizit
- für ein Plädoyer gegen Erziehung überhaupt aufzunehmen suchten. Erst seit
Anfang der 1990er Jahre und verstärkt seit einigen Jahren wird nun auch in
der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft immer häufiger an Foucault
angeschlossen. Während die wenigen Ausnahmen der 1980er Jahre, die
Foucaults Anregungspotential ausführlicher diskutierten wie auch für eigene
Analysen nutzten, überwiegend (bildungs-)historische Fragen an und mit
Foucault stellten, ist es nun vor allem die 'Frage nach dem Subjekt', die ins
Zentrum der Auseinandersetzung gerückt ist. Entlang dieser beiden Pole
,Bildungsgeschichte' (1) und ,Subjektkritik' (2) hat sich inzwischen die päda-
gogische Rezeption vielfältig erweitertl: zum einen dadurch, dass die päda-
gogischen Anschlüsse an Foucault sich zunehmend nicht mehr alleine für die
"deskriptiven Leistungen des Konzepts pädagogischer Disziplinarrnacht"
(Prondczynsky 1992: 242) interessieren, sondern den Facetten der Arbeiten
Foucaults sowie jenen seiner ,Analytik der Macht' nachgehen, zum anderen
aber auch dadurch, dass sie die zentralen Begriffe Macht, Wissen und Sub-
jektivität nicht mehr (nur) als voneinander getrennte Kategorien diskutieren,
sondern deren Zusammenhang fokussieren, treiben sie die (Selbst-)Kritik der
Pädagogik voran und forcieren die Frage nach erziehungs- und bildungstheo-
retischen Konsequenzen der (Subjekt-) Kritik Foucaults (3).
Die pädagogische Rezeption Foucaults kann daher, so meine leitende
These, als eine Geschichte des zunehmenden Versuchs und der mit ihm ver-
bundenen Schwierigkeiten gekennzeichnet werden, oppositionale Bestim-
mungen wie u.a. Freiheit versus Macht, Autonomie versus Heteronomie oder
Selbst- versus Fremdbestimmung hinter sich zu lassen. Erst wenn aber
Foucaults Analysen als Überlegungen gelesen werden, ein ,Denken in Oppo-
sitionen' und die darin suggerierte Möglichkeit, sich auf eine der Seiten stel-
len zu können, als Effekt von Macht sichtbar zu machen und dieses Denken
zu verlassen, erst dann ließe sich auch eine Selbstkritik der Pädagogik radi-
kalisieren, in der die Arbeiten Foucaults als Anlass wie als Instrumentarium
einer veränderten pädagogischen Selbstverständigung fungieren könnten2 • So
ringen die pädagogischen Anschlüsse an Foucault immer wieder darum, der
"fatalen Neigung zum Denken in Dichotomien" (Rieger-Ladich 2002b: 171)
zu widerstehen: Während die einen Foucaults Arbeiten entlang traditioneller
oppositionaler Denkfiguren aufnehmen oder in diese zurückzwingen, sU(~hen
andere, pädagogisches Denken und Handeln gerade aufgrund der in ihnen
implizierten oppositionalen Bestimmungen zu problematisieren und jenseits
dieser zu reformulieren.
4 Wolfgang Dreßen (Dreßen 1982), der in seiner Arbeit Belege für Foucaults Untersu-
chungen für den deutschen Raum präsentiert, folgt als einer der ersten dieser Rezepti-
onslinie; Erziehung wird von ihm dabei als Instrument der Durchsetzung "allgemei-
neer) Selbstregulierung" (ebd. 8) in der bürgerlichen Gesellschaft gekennzeichnet und
ist daher direkt daran beteiligt, "den Eigenwillen der einzelnen zu brechen" (ebd. 9).
18 Nicole Balzer
gung, Arrangement und produktive [] Reorganisation" (ders. 1990: 299f.). Auf Seiten
der Lehrer erfordere sie neben der permanenten Überwachung, Kontrolle und Prüfung
eine Strafpraxis, die im strengen Blick des Lehrers sich bündeln lässt: in diesem Blick
ist "die Sanktionsgewalt des ganzen Systems in stummer Form enthalten" (ebd.). Je-
doch hat das Schuldispositiv der Disziplinarrnacht, nachdem es gegen Ende des 19.
Jahrhunderts allgemein wurde, eine ,sanfte Wende' vollzogen, denn die Reorganisation
der Lernsituation innerhalb der reformpädagogischen Bewegung - "von der alten
Lern- und Drillschule zu dynamischeren, innengeleiteten Arbeitsformen" - müsse als
eine neue Disziplinartechnik verstanden werden, die den Prinzipien des ,Panoptismus'
folgt: nach ,innen' gerichtet ziele sie in einer "sanften Disziplinierung" darauf, "mög-
lichst früh Fremd- in Selbstregulierung zu überführen" (ebd. 305). Für die nun propa-
gierte "Selbsterziehung" werde die "Fiktion von Autonomie" (ebd. 306) bedeutsam;
diese aber wird zugleich durch einen "Gemeinschaftsmythos" (ders. 1989b: 218) und
die Fixierung der Individuen in einer "doppelte[n] Position" (ders. 1990: 306) - sie er-
fahren sich "als Subjekte von Prozessen [... ], denen sie dennoch vollständig ausgelie-
fert bleiben" (ebd.) - eingeschränkt. Damit stehen die reformpädagogischen Überle-
gungen, die sich als "Befreiungsentwurf ins Spiel" (ders. 1989b: 218) bringen, in ih-
ren Effekten der "verflossenen Disziplinaranstalt" (ders. 1990: 306) in nichts nach.
Pongratz' Analysen der schulgeschichtlichen Quellen bestätigen Foucaults Analysen
"auf Schritt und Tritt") (ders. 1989b: 244) und erlauben, den oberflächlichen Ein-
druck, dass die gegenwärtige Schule mit der Drillanstalt des 19. Jahrhunderts" (ebd.
230) nicht mehr viel gemein habe, als ,Täuschung' zurückzuweisen: "Schule und
Schultheorie bilden in unserer Zeit mehr denn je einen Macht/Wissen-Komplex"
(ebd.). Damit ist aber nicht nur die historische Kontinuität offenkundig: "Auch weiter-
hin bleibt die Disziplinargesellschaft mit ihren Intentionen im Schulsystem voll wirk-
sam" (ders. 1990: 307). Vielmehr stellt Pongratz' bildungsgeschichtliche Dekonstruk-
tion darauf ab, die vermeintliche ,Humanität' der Pädagogik bzw. der ,Humanisie-
rung' durch Pädagogik selbst als "Effekt und Instrument komplexer Machtbeziehun-
gen" (Foucault 1976: 397) auszulegen (vgl. auch Helsper 1990).
(b) In ähnlicher Perspektive bilanziert auch Hans-Joachim Plewig seine Analyse der
Entwicklung der Jugendfürsorge als einen bloßen "Mythos von der zunehmenden
Humanisierung und Liberalisierung" (Plewig 1993: 326). Mithilfe dreier fiktiver Ge-
schichten ,vom Leiden des jungen Willy' in den Jahren 1789, 1925 und 1992 stellt
Plewig dar, wie der 17jährige, stramillig gewordene Willy von sich intensivierenden
Machtmechanismen erfasst und durchdrungen wird. Dabei muss die Geschichte der
Kinder- und Jugendfürsorge wie des Kindeswohl-Denkens und dessen Erziehungs-
konzepts als Geschichte des "Begehren[s] nach Wissen" gelesen und als eine der
"Ausgestaltung der Mikrophysik der Macht" (ebd. 327) verstanden werden; der
"Wille zum Wissen" ist aber nichts anderes als ein "Wille zur Macht" (ebd. 328). Die-
sem, Willen zur Macht' spürt Plewig in seinen folgenden Studien nach: während mit
dem Besuch des Armenpflegers Petersen (1789) bei der Familie Becker der Beginn
der Erfassung markiert werden kann, indem jener aus ökonomischen Interessen "ge-
naueste Erkundigungen" (ebd. 324) einholt, fungiert in Plewigs zweiter Geschichte
(1925) der Fürsorger Flug, der den Halbstarken Willy vor dem Jugendgericht als
"verwahrlost, haltlos, [... ], erzieherisch unzugänglich und [... ] antisozial" (ebd. 329)
vorstellt, nicht mehr nur im Dienste der Vermeidung von Armut und Devianz, sondern
als Repräsentant der "Hochzeit sozialdisziplinierender Initiative" (ebd. 335). Plewigs
dritte Geschichte (1992), in der Willy als Vielfachtäter registriert ist und "die Palette
aktueller JGG-Sanktionen" (ebd.) durchläuft, verdeutlicht anhand des Berichts des
Sozialarbeiters Sanft über die verschiedenen Stationen Willys vom Sondertagesheim
bis zur Untersuchungshaft, dass die "Vertreter der SozialparbeitiSozialpädagogik ei-
nen historisch noch nie dagewesenen Zugriff auf ,deviante' junge Menschen erhalten
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken 19
haben" (ebd. 336). Was zunächst in Fonn einfacher Berichterstattung auf einen klei-
nen Personenkreis beschränkt bleibt, wird in vielfliltigen Vorgängen der Diskursivie-
rung und Materialisierung mehr und mehr zu einer Fonn systematischer Aufzeich-
nung, die immer mehr Betroffene einschließt und die Fürsorger zunehmend zu ,Wis-
senssamrn\em' werden lässt, die den Humanwissenschaften als "Produzenten von
,Wahrheit' über Jugend, Familie, Abweichung, Ursachen und Maßnahmen" (ebd.
333) in die Hände spielen. Gegen den Blick der ,Kinderretter' will Plewig den Wan-
del hin zum Ausbau des Sozialstaats sowie gegenwärtige Entwicklungen anders lesen:
"Die damalige wie heutige Praxis [... ] muß als Geschichte der Wissens-Praktiken er-
forscht werden" (ebd. 339). Festzuhalten bleibt: Auch für Plewig war (und ist) die
(Sozial-)Pädagogik angesichts ihrer Funktion im Rahmen der Aufklärung eine lfagen-
de Disziplinarmacht - vor allem aufgrund ihrer "Schwarze[n] Seite" (ebd. 341).
(c) In der Linie der genannten Autoren markiert schließlich auch Helga Glantschnig die
Pädagogik "zugleich als Wissenschaft und Instrument der Macht" (1987: 14). Leitend
für ihren Versuch, die "Selbstaufklärung der Aufklärung" (ebd. 15) durch Analyse der
Theorie und Praxis der Philanthropen weiterzutreiben, ist - neben den Überlegungen
zur Disziplinannacht - die von Foucault als "Hauptritual der Wahrheitsproduktion"
(ebd. 142) beschriebene Geständnispraxis, welche als eine der vorherrschenden (Er-
ziehungs-)Techniken der Philanthropen die Klassifizierung des Kindes ennöglichte.
Anhand dieses "diffizile[n] Instrumentarium[s] der Wissenserzwingung" (ebd. 143),
das sich bevorzugt auf die kindliche Sexualität richtete, versuchten die Philanthropen,
den Zöglingen "noch die letzten Geheimnisse zu entreißen" (ebd. 13). Doch lieferten
diese der "technisch-positiven[n] Macht" (ebd.) nicht nur das Wissen um den Men-
schen; vielmehr galt ihnen die "Ausforschung des Kindes" (ebd. 139) zugleich als
"Voraussetzung jeder Besserung und Umerziehung" (ebd. 142) überhaupt. Erziehung
und pädagogischer Diskurs des 18. Jahrhunderts bauen auf die "Maschine als Meta-
pher für den Körper" (ebd. 37): Der kindliche Körper werde zerlegt bis ins kleinste
Detail, um ihn dann "zur funktionstüchtigen Maschine" (ebd. 13) zusammenfügen zu
können. Die genaue schriftliche Erfassung und Auflistung seitens der Erzieher, das
tagtägliche Messen des Verhaltens durch "Marken, Punkte und Billets" (ebd. 130)
ziele insbesondere darauf, ,,menschliche Bewegungen aufschreibbar, kontrollierbar
und reproduzierbar zu machen" (ebd. 49). Dabei reguliere der Erzieher, der unausge-
setzt den Körper des Zöglings fixiere, die Bearbeitung des Körpers zum Zwecke der
Einwirkung auf die moralische Gesinnung (vgl. Gaebe 1991). Das so entstehende
"Netz von Kontrollbeziehungen" und der philanthropische "Disziplinarraum" (ebd.
126f.) zielen, so Glantschnig in der Linie Pongratz', darauf ab, ,disziplinierte Subjek-
te' durch "Blicke statt [durch] Schläge" (ebd. 112) hervorzubringen (vgl. Gstettner
1981). Erst diese Justierung aber erlaubt einen veränderten Blick auf die Ambivalenz
der Pädagogik, indem sie die pädagogische Rhetorik, in der "sich das Kind als eigenes
Wesen abzuzeichnen beginnt" (ebd. 14), mit der machttheoretischen Kennzeichnung
der Pädagogik als "einer der vielfältigen ,Disziplinen', die [...] für die optimale Nut-
zung der menschlichen Kräfte sorgen, für ihre Kontrolle und Regulierung" (ebd. 12f.),
verknüpft.
So eröffnen die bildungshistorischen Analysen zunächst einen veränderten,
"gegen alle humanistischen Ideologien" (FoucauIt 1973: 291) gerichteten und
insofern durchaus ideologiekritischen Blick, indem sie die Dekonstruktion
der Pädagogikgeschichte als eines Fortschritts- und Emanzipationsprozesses
5 Zur Bedeutung Foucaults für die Sozialpädagogik vgl. auch die neueren Überlegun-
gen in Maurer 2001 wie Szemeredy 2001.
20 Nicole Balzer
erlauben und verdeutlichen, dass und wie Pädagogik an der Durchsetzung der
Disziplinarmacht beteiligt ist bzw. ihre Bedeutung dieser allererst verdankt.
Was so zwar als Perspektivengewinn aufgenommen werden kann, ist jedoch
auf mancherlei Weise auch problematisch: nicht nur, weil die jeweiligen
Kennzeichnungen von Erziehung als "totale[r] Kontrolle" (Glantschnig 1987:
13), als "Konditionierung" (ebd. 130), "Unterdrückung" oder "Manipulation"
(Gstettner 1981: 196) die produktiven Effekte der Machtmechanismen ver-
decken; auch nicht nur, weil dazu widerstreitende Momente schlicht ausge-
blendet bleiben; sondern vor allem, weil sie in eine bloß oppositionale Be-
stimmung von repressiver Macht und ermöglichender Freiheit zwingen, die
nur eine mehr oder weniger "aporetische Kritik pädagogischer Institutionen"
(Prondczynsky 1992: 242) erlaubt und schließlich dazu verführt, selbst auf
vermeintlich ,verschüttete' pädagogische (Humanitäts-)Ideale und bessere
Seiten und Intentionen von Pädagogik und Schule zu verweisen, ohne diese
ihrerseits machttheoretisch wieder einholen zu können. 6 Dadurch aber gerät
Pädagogik "gleichsam im Schlagschatten ihrer aufklärerischen Intentionen"
(Pongratz 1988: 165) zum ,Doppelgänger der Macht'. Angesichts dessen ist
dann kaum verwunderlich, wenn - auch mit Blick auf sozialwissenschaftliche
Rezeptionsmuster insgesamt (vgl. Breuer 1987) - zunehmend Widersprüche
und Inkonsistenzen die Wahrnehmung Foucaults bestimmen.
In diese Richtung argumentiert denn auch Suzanne Marchand, die in ih-
rer Analyse "der Geschichte des Bildungsbegriffs in der Ära nach Napoleon"
(Marchand 1997: 326) zwar das "Auftauchen der Bildung" als eine neue "Art
von ,Technologie des Subjekts'" (ebd. 337) zu rekonstruieren sucht und so
das "bürgerliche Ideal der freien Selbstverwirklichung" (ebd. 340) als eine
veränderte Machtfigur lesbar macht, doch aber dann die für sie mit Foucault
verbundenen Schwierigkeiten "konzeptueller", "empirischer" und "morali-
scher Art" (ebd. 341) schwerer gewichtet und daher ein insgesamt skepti-
sches Fazit der pädagogischen Fruchtbarkeit Foucaults zieht: Foucault laufe
nicht nur Gefahr, die "vormoderne Vergangenheit zu romantisieren", da er es
versäume, "auch die Vorteile der Diffusion und Diversifizierung von Macht
und Herrschaft zu würdigen" (ebd. 345f.); vielmehr führe dessen machttheo-
retische Perspektive zu einer letztlich "irreführenden Interpretation der Ver-
gangenheit", so dass Foucault weder zur Perfektion der "hohe(n) Kunst histo-
rischer Forschung und Interpretation" beitragen könne, noch uns "mit dem
intellektuellen Rüstzeug versorgen [kann], das wir brauchen, um verantwort-
lich mit dem Vermächtnis der Aufklärung umzugehen" (ebd.).
Zu prüfen aber wäre nun mancherlei, ist doch nicht ausgemacht, ob im
Anschluss an Foucault aus schul- und bildungshistorischer Sicht tatsächlich
"unversehens" (Prondczynsky 1992: 242) auf diese Weise argumentiert wer-
6 Exemplarisch sei hier die Arbeit von Rapp-Wagner genannt, die am Schluss ihrer -
m.E. die pädagogische Rezeption allzu verkürzenden - Arbeit zum Verhältnis von
"Postmoderne(m) Denken und Pädagogik" (Rapp-Wagner 1997) dazu aufruft, die
einstmals "hohen Ziele" (ebd. 433) von Bildung und Erziehung wieder zu erinnern
und zur Geltung zu bringen.
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken 21
den muss, ob also Pädagogik nur als repressives Machtinstrument "an der
Unterwerfung und produktiven Ausweidung ihrer Adressaten" (Pongratz
1988: 165) beteiligt erscheinen muss.? Vielleicht aber ist es weniger einem
"durch Foucaults Optik reduzierten Blick" (Prondczynsky 1992: 242; Her-
vorhebung N.B.) als vielmehr einem ,Foucaults Optik reduzierenden Blick'
geschuldet, dass die bildungshistorischen Arbeiten immer wieder in die Op-
position von Freiheit und Macht zurückfallen und so - mehr oder weniger -
an der Opposition von Pädagogik und Macht festhalten; die Vermutung, dass
manche Schwierigkeiten der Rezeption auch damit zusammenhängen, dass -
auch bildungshistorisch - eher einseitig auf Überwachen und Strafen (v gl.
Foucault 1976) zurückgegriffen worden ist, liegt durchaus nahe (vgl. Lemke
1997).
7 Garbes Überlegungen stellen wohl eher eine Ausnahme dar, nimmt sie doch Foucaults
Analysen zur Überprüfung der "feministische(n) Repressionshypothese" (1983: 69)
auf. Entlang des Foucaultschen Machtverständnisses spürt sie gegen die "bislang
praktizierte, ideologiekritisch orientierte Lektüre" (ebd. 66) und "gegen den in diesem
implizierten Machtbegriff' (68f.) der "Konzeption des Weiblichen" sowie der "heim-
liche(n) Macht der Frauen" (ebd. 66) in den Schriften Rousseaus nach.
8 Vgl. dazu exemplarisch die (zu) generalisierende Einschätzung der ,Postmoderne' als
einer neuen ,Antipädagogik' in Benner/Göstemeyer 1987 wie - differenzierter - auch
Müller 1990.
22 Nicole Balzer
(1) So ließe sich in einer ersten Rezeptionslinie die Ambivalenz der pädago-
gischen Rezeption verdeutlichen und als Versuch lesen, ,mit und gegen
Foucault' zugleich zu argumentieren: was zunächst durchaus als kritische
Anregung und Herausforderung durch die Subjektkritik Foucaults wahrge-
nommen wird, gerät schließlich mit Blick auf mögliche "bildungstheoretische
Konsequenzen" (Fomeck 1993: 155) zu einer Verteidigung des ,Bildungs-
denkens', lege doch die - archäologisch wie genealogisch betriebene - Be-
streitung der Autonomie des Subjekts sowie die (Über-)Betonung seiner He-
teronomie eine Verabschiedung von Bildung nahe, gegen deren Infragestel-
lung am klassischen Bildungsdenken festzuhalten sei.
(d) So stellt Malte Brinkmanns Studie Das Verblassen des Subjekts bei Foucault einen
weit ausgearbeiteten Versuch einer Foucault-Lektüre dar, der der "ungeheure[n] Her-
ausforderung" (1999: 14) der Subjektkritik Foucaults insgesamt nachzugehen versucht
und angesichts der Verabschiedung des "humanistische[n] und aufklärerische[n] Fun-
dament[s]" (ebd. 12) von Pädagogik, Bildungstheorie und Anthropologie diese neuer-
lich zu begründen sich vornimmt. Doch Foucaults Weichenstellungen - so Brink-
manns durchgängiger, sich an Schütz orientierender Befund9 - gewähren letztlich kei-
ne überzeugende pädagogische Perspektive: angesichts der genealogischen Demonta-
ge des ,autonomen Subjekts' wäre Bildung "nicht nur nicht mehr möglich" (ebd. 257),
sondern ihrerseits selbst bloß "verkappte Macht- und Wissensstrategie" (ebd. 307)
und daher nichts anderes als das "Gegenteil aller aufklärerischen und humanistischen
Ambitionen" (ebd. 257). Brinkmanns Einwände zielen daher auf zweierlei: erstens ist
überaus fraglich, ob "sich das pädagogische Handeln und Denken in der Überwa-
chungs- und Disziplinierungsfunktion" bereits erschöpfe, so dass nun umgekehrt
Foucaults "Reduktion der Pädagogik" (ebd. 262f.) kritisch in den Blick kommt 10 ;
zweitens setzt - und dies ist der Kern der Zurückweisung Foucaults durch Brinkmann
- Foucaults Kritik des Subjekts selbst eine "bestimmte Vorstellung des Menschen von
sich selbst" (ebd. 271) bereits voraus, so dass nun umgekehrt nach Foucaults "Denkfi-
gur der restituierten, aber verschwiegenen Anthropologie" (ebd. 53) gefragt werden
kann. Gerade weil sich in Foucaults Arbeiten eine anthropologische Vorstellung "der
erfahrenden, befreiten, zerrissenen und endlichen Existenz" (ebd. 64) nachzeichnen
lasse, gerate Foucault in einen (selbstwidersprüchlichen) ,Zirkel'; sein ,Antihuma-
nismus' sei daher als ,Gegenhumanismus' und ,Gegenanthropologie' zu lesen, der
dazu zwinge, Anthropologie und Humanismus zwar gänzlich anders zu denken (vgl.
ebd. 312), nicht aber diese zu verabschieden erlaube. Brinkmanns zentrales Argument
ist dabei die Prämisse einer ebenso nicht hintergehbaren wie nicht ursprünglichen
Selbstbezüglichkeit: "Mit der Frage nach sich selbst gerät der Fragende in einen
Kreis, in dem er sich selbst aus sich selbst nicht vor sich bringen kann und in dem er
nicht hinter sich kommt, ohne sich selbst in einer bestimmten Weise schon vorauszu-
setzen" (ebd. 271). Mit dieser Weichenstellung versucht Brinkmann nun, die, Verab-
schiedung des Subjekts' auch in bildungstheoretischer Absicht zu revidieren: denn
lassen sich eine, wenn auch "reduzierte" (ebd. 15) Anthropologie sowie eine Redukti-
on von Pädagogik nachweisen, dann kann Pädagogik nach wie vor auf "das Ziel oder
das ,Projekt' einer Bildung" (ebd. 307) verpflichtet werden. Insgesamt zeichnen sich
9 Vgl. dazu exemplarisch die eher methodologisch justierten Überlegungen von Schütz
1989, 1991 und 1992.
10 In ähnlicher Perspektive argumentiert auch Coelen (1996), der in seiner Problemati-
sierung der Pädagogik als einer "Geständniswissenschaft" (ebd. 28) diese "Sichtweise
auf Pädagogik" (ebd.) als verkürzt herauszustellen versucht.
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken 23
Brinkmanns Analysen durch eine durchaus umfassende, allerdings die Spätschriften
durchgängig ausklammernde Rezeption Foucaults aus; auch wenn sein Versuch,
Foucault in seinen Schriften eine ,revidierte' Anthropologie und insofern einen ,revi-
dierten' Humanismus nachzuweisen, überzeugend ist, so ist doch - neben manchen
Einschätzungen der Pädagogik als einer bloßen "Konditionierungs maschine" (ebd.
307) - insbesondere seine Schlussfolgerung daraus, von einer Revision auch der Bil-
dungstheorie gerade abzusehen, überaus problematisch. Diese aber verdankt sich auch
einer eigentümlichen Wahrnehmung der Problematik des ,assujettissement' (ebd. 305;
vgl. Butler 2001), die sich gerade nicht in den Gegensatz von "subjekttheoretischem
Idealismus" und "machttheoretischem Soziologismus" (Brinkmann 1999: 264) pres-
sen lässt, sondern strikt relational ausgelegt werden muss (vgl. Rieger-Ladich, in die-
sem Band).
(e) Schärfer als Brinkmann betont Hermann-Josej Fomeck in seinem "Nachweis der
Aporien" (Forneck 1993: 155) Foucaults die Unvereinbarkeit genealogischen und bil-
dungstheoretischen Denkens: auch wenn die klassische Bildungstheorie durchaus als
,,Entwicklungstheorie des modemen Epistemes" (ebd. 162) gelesen werden kann und
daher ihre Existenz allererst ,jener Archäologie der Modeme" (ebd. 155) verdanke, so
müsse mit dem ,Verschwinden des Menschen' unweigerlich auch die Bildung "im
Treibsand der Geschichte" (ebd. 172) verschwinden. Im Gegensatz zu Brinkmanns
Abwehrversuch sucht Forneck daher ein verändertes Verständnis von Bildung da-
durch zu entwickeln, dass er die These Foucaults von der "Selbstauflösung" (ebd.
171) der Humanwissenschaften bzw. vom "Verschwinden des Menschen" (ebd. 169)
zurückweist und darauf hinweist, dass sie "eine entscheidende logische Schwierigkeit
in sich" (ders. 1992: 70) berge, gelinge sie doch nur aufgrund der "strukturalistischen
Grundannahme, daß das episteme eine dem Menschen präexistente Struktur darstellt,
die die Diskurse festlegt, und es nicht das Erfahrung verarbeitende, erkennende Sub-
jekt ist, das diese Struktur hervorbringt" (ders. 1993: 171). Foucaults Kritik der tran-
szendentalen Verdoppelung des Subjekts sei daher sowohl zuzustimmen als auch
durch die Ablösung des bewusstseinsphilosophischen ,episteme' durch das "Verstän-
digungsparadigma" (ders. 1992: 22) zu entgehen. Mit dem "Begriff des Bildungsdis-
kurses" sei daher darauf hinzuweisen, dass es nicht mehr um die "Bestimmung des
Prozesses im Subjekt" gehe, sondern um "die Bestimmung des Prozesses in der Bil-
dungsgemeinschaft" (ebd. 193); Bildung sei denn auch als der Prozess zu verstehen,
"in dem qua Intersubjektivität Subjekte entstehen" (ebd. 196). Fraglich ist jedoch
nicht nur, ob es Forneck gelingt, "die Subjektzentrierung der abendländischen Bil-
dungstheorie zu verlassen" (ebd. 193) und den "Bildungsprozeß als Einheit von
selbst- und fremdbestimmten Momenten zu konzipieren" (ebd. 208), gilt ein Subjekt
doch dann als gebildet, "wenn es seine eigene, kommunikativ vermittelte Bildungsge-
schichte rekonstruieren kann" (ebd. 263); fraglich ist auch, warum Forneck, obwohl er
durchaus die "fundamentale Funktion" (ebd. 1993: 162) der modemen Subjektvor-
stellung im Prozess der Transformation der Machtmechanismen skizziert, deren Kon-
sequenzen zurückweist, indem er eine "ideale Kommunikationsgemeinschaft" (ders.
1992: 196) als möglich behauptet, ohne Foucaults Vorbehalten gegenüber der Mög-
lichkeit eines solchen "Zustand[s] der Kommunikation [...] worin die Wahrheitsspiele
ohne Hindernisse, Beschränkungen und Zwangseffekte zirkulieren können", wie sei-
ner Betonung, dass "es keine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen geben kann" (Fou-
cault 1985: 25), ausdrücklich nachzugehen.
(2) Die hier nur angedeuteten Schwierigkeiten lenken daher den Blick auf
eine zweite Rezeptionslinie, in der die Herausforderung der Foucaultschen
Subjektkritik nicht bloß defensiv, sondern ausdrücklich offensiv aufzuneh-
men versucht wird, indem eine Neubestimmung von Bildung und Erziehung
24 Nicole Balzer
gelingen kann", sondern sie beinhalte "auch eine Weise, sich um den Anderen zu sor-
gen" (ebd. 181): es geht - so Reichenbach emphatisch - dem ethischen Subjekt als ei-
nem "Subjekt möglicher Veränderung um die Möglichkeit einer offenen [... ] Ge-
schichte" (ebd.) und um eine ,,freiheitliche Gesellschaft" (ebd. 184). Foucaults ,Ethik
des Selbst' ist daher für Reichenbach vor allem "wegen ihrer politischen Dimension
entscheidend" (ebd. 183). Sie führt zu einer "Auseinandersetzung mit Macht und [... ]
Normierung" und erhalte dadurch "aufklärerische Relevanz und Aktualität" (ebd.
184). Konsequent fordert Reichenbach, ,das Selbst' aus pädagogischer Sicht "lieber
im Hinblick auf seine konstituierenden und transformierenden Praktiken zu studie-
ren", sowie die Entwicklungsaufgabe nicht in der Selbstsuche oder Selbstfindung,
sondern vielmehr darin zu sehen, "die geistigen und affektiven Voraussetzungen zu
kultivieren" (ebd. 185), welche dem Selbst es ermöglichen, sich zu verändern. Bil-
dung hieße dann, "von der passiven und normierten zur aktiven und ethischen Form
der Selbstkonstituierung zu kommen"; bildungsrelevant wäre im Anschluss an
Foucault die Ermöglichung einer "individuelle(n) Ethik der Lebensführung" (ebd.
184).
(g) Auch Hans-Christoph Koller reformuliert Bildung als eine "Art der Lebenskunst"
(2001: 46), in deren Zentrum der "Gedanke einer Selbstformung bzw. -transformation
des Subjekts" (ebd. 45) steht. Er bestimmt den Bildungsprozess als Vorgang, in dem
sich "das Subjekt mithilfe bestimmter Praktiken Erfahrungen aussetzt" (ebd. 46) und
sich permanent selbst zu erschaffen sucht. Stärker noch als Reichenbach betont Koller
gegen die immer wieder gegen Foucault vorgebrachten Vorwürfe, dass in dessen spä-
teren Arbeiten gerade nicht "eine Rückkehr zur Vorstellung eines autonomen, einheit-
lichen Subjekts" (ebd.) stattfande; auch wenn der Transformationsprozeß vom Subjekt
gewollt ist, könne das Subjekt ihn und seine Resultate nicht planen oder steuern, wisse
es doch zu Beginn nicht, "was am Ende aus ihm und seinem Denken geworden sein
wird": ,,[D]ie Resultate [sind] zu Beginn nicht absehbar" (ebd.). Wird Bildung im An-
schluß an Foucault reformuliert, dann gelte folglich, dass sie weder "in der Verfü-
gungsgewalt des sich bildenden Subjekts" liegt, noch dass sie "pädagogisch herge-
stellt werden" (ebd.) kann (vgl. Koller 1999).
(Foucault 1984: 36) - in einer ,ästhetisierenden Lesart' liegt; sondern vor al-
lem, weil dies schließlich dazu führen kann, die Relationalität des Foucault-
schen Machtbegriffs zugunsten einer - u.a. dann auch bildungspolitisch be-
gründeten - ,Option für Freiheit' (und ,Bildung') aufzugeben. Damit aber
wären dann die zunächst eingestandenen Reflexionsgewinne der Foucault-
schen Subjektkritik wieder verspielt und die allmähliche Rückkehr in überaus
traditionelle Argumentationsmuster angebahnt.
(3) In einer dritten Rezeptionslinie lassen sich schließlich die verschiedenen
Versuche bündeln, die die Herausforderungen Foucaults gerade in dessen
machttheoretisch begründeter Betonung der Heteronomie des Subjekts sehen;
so betonen insbesondere Alfred Schäfer und Käte Meyer-Drawe in ihren viel-
faltigen Arbeiten immer wieder die "Illusionen von Autonomie" (Meyer-
Drawe 1990b), die sich im Anschluss an Foucaults provozierende Überle-
gungen als Kern pädagogischer Selbstreflexion erweisen: nicht nur, weil da-
mit immer auch die subjekttheoretische Unmöglichkeit mitgesagt ist, Auto-
nomie als Opposition zu Heteronomie zu behaupten bzw. zu fordern; sondern
auch, weil diese eingewöhnte pädagogische Selbstbeschreibung gerade in ih-
rer ,regulativen Funktion' alles andere als machttheoretisch harmlos ist.
Foucaults Infragestellung der "Souveränität des Subjekts" (dies. 1996a: 184)
ist daher als anhaltende Reflexionsanforderung und Irritation festzuha1ten,
die gerade in der paradoxen Verknüpfung von Freiheit und Repression,
Selbstbestimmung und Fremdbestimmung bzw. Autonomie und Heteronomie
ihren beunruhigenden , Kern' hat.
(h) Konsequent greift daher insbesondere Alfred Schäfer in seinen Überlegungen den Zu-
sammenhang von Autonomie und Heteronomie immer wieder auf: so verdeutlich er
einerseits, dass sich Foucaults Nachweis der "Unmöglichkeit eines vernunftautono-
men Subjekts" (1993: 52) gegen eine bestimmte "Illusion von Autonomie" richte, die
Autonomie bloß ,Jenseits sozialer Zumutung und Unterwerfung" (ders. 1996a: 185)
platzieren wolle. Mit dieser eher ,ideologiekritischen' Weichenstellung ist jedoch an-
dererseits die Behauptung verbunden, dass Autonomie "nur um den Preis der Selbst-
disziplinierung, der Unterwerfung" möglich ist: Das Individuum kann nur "genauso
souverän [sein], wie es sich den zum Gesetz verselbständigten Normalisierungser-
wartungen unterwirft" (ders. 1996a: 180). Es ist diese paradoxe Verknüpfung von
Autonomie und Heteronomie, von Befreiung. und Unterwerfung, die die oft konstitu-
tionstheoretischen Reflexionen Schäfers anhaltend prägt und auch in seinen ethnolo-
gischen Studien problematisiert wird (vgl. Schäfer 1999).
Wenn aber - so Schäfer mit Verweis auf Foucault - der Zusammenhang von "Auto-
nomisierung" und "Unterwerfungsprozeß" (ders. 1996b: 200) weder theoretisch noch
praktisch auflösbar ist, so geht es darum, den Effekt des Zusammenspiels von Auto-
nomie-Zumutung und -Illusion zu rekonstruieren und ,Autonomie' nicht undialektisch
zu verabschieden, sondern als "real wirksame Illusion" (ebd. 175) auslegen zu lernen.
Zweierlei Folgen benennt Schäfer ausdrücklich: zum einen produziert die "soziale
Zumutung der Autonomie [00'] die Legitimationsgrundlage der Kritik und des souve-
ränen Urteils", wie auch umgekehrt gerade "die Kritik den realen Schein der Autono-
mie [hervorbringe], der ihr [dann] als soziale Zumutung wiederum angetragen wer-
den" (ebd.) könne; zum anderen aber erzwingt die damit verbundene Einsicht, dass
auch die modeme Pädagogik unentrinnbar in die "Aporie von Disziplinierung und
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken 27
Autonomisierung" verstrickt ist, die "Selbstzurücknahme ihrer eigenen Intentionali-
tät", indem sie "die beabsichtigte Autonomie des Anderen zum Bezugspunkt und zur
Grenze ihrer eigenen Disziplinierungsbemühungen" (ders. 1997: 124) macht. Damit
werde zwar nicht die Verstrickung des erzieherischen Handeins in den Prozess der
Transformation von Fremd- in Selbstdisziplinierung aufgehoben, doch eine - prak-
tisch bedeutsame - Differenz eröffnet, "in der Disziplinierung gegen diese zu steueru"
(ebd.); denn erst die (andauerude) Durchkreuzung pädagogischer Intentionalität ge-
währt überhaupt die Möglichkeit ,fremder Autonomie', die sich den - auch besten-
Absichten anderer nicht bloß fügt. Vor diesem Hintergrund sind daher Erziehung und
Bildung keineswegs zu verabschieden, sonderu neu zu bestimmen. Wie Reichenbach
und Koller sieht auch Schäfer in Foucaults Konzeption einer "Ästhetik der Existenz
als der Subjektivierungsform des Ethos der Moderue" (ders. 1996b: 230) die Umrisse
einer revidierten Bildungstheorie. Ausdrücklicher jedoch als diese verdeutlicht er,
dass Foucault in seinen späteren Arbeiten auf systematische Weise das "Verhältnis
von Genealogie und Kritik" (ebd. 200) sowohl als theoretische als auch als praktische
Frage diskutiere. So betont Schäfer, dass Foucault nicht auf die "Befreiung des souve-
ränen Individuums" (ebd.) ziele, sondern vielmehr auf die Möglichkeit einer "Haltung
gegenüber der genealogisch aufgezeigten Situation der Autonomisierung als Unter-
werfung" (ebd. 210); Foucaults praktische Perspektive der Arbeit an sich selbst sei
daher als Einübung einer "Haltung der Kritik", als "Wille, nicht bzw. nicht so und auf
diese Weise regiert zu werden" (ebd. 224f.), zu verstehen. Weil aber ,Autonomie' ge-
rade nicht positiv, sondern nur als "endlose[r] Kampf um die eigene Würde", "als
Kampf um die Entunterwerfung" (ebd. 230) möglich ist, verlange die kritische Hal-
tung ein "Sich-Verhalten im Spiel von Wahrheit und Macht unter den Bedingungen
individualisierender Unterwerfung" (ebd. 225). Foucaults Überlegungen bieten daher
- so Schäfer - die Möglichkeit, den (pädagogischen) "Versuchen nicht zu unterliegen,
die Freiheit und die Möglichkeit zur Selbst-Bestimmung gerade gegen diese Unter-
werfung zu behaupten" (ebd. 229). In ihnen gehe es "gerade nicht um eine Alternative
von Herrschaft und Befreiung, zwischen der man wählen könnte, sondern um ein dis-
kursives Feld, in dem der Habitus eines ,Ethos der Modeme'" (ders. 1996a: 187) al-
lererst eingeübt werden könne. Nicht bloß resignativ bleibt der Pädagogik "wohl
kaum ein anderer Weg [... ], als sich der Verstrickung in das Verhältnis von Autono-
mie und Unterwerfung, dem Ethos der Modeme und der es markierenden Unver-
söhntheit, zu stellen" (ebd. 186); vielmehr ist ihre prinzipiell aporetische Struktur
überhaupt eine Möglichkeitsbedingung, ,Autonomie' praktisch werden zu lassen,
können doch "disziplinierende Normalisierung und [... ] autonomisierende Entunter-
werfungsstrategien" (ders. 1997: 131) nicht voneinander getrennt werden.
Schäfers Versuche, die späteren Überlegungen Foucaults im Zusammenhang der dis-
ziplinartheoretischen Arbeiten zu rekonstruieren, erweisen sich als überaus fruchtbar:
Weil sie durchgängig darum bemüht sind, Macht nicht repressiv zu verstehen, auch
weil sie betonen, dass das Verhältnis von ,Autonomie' und ,Unterwerfung' nicht als
oppositionales, sOl1dern als paradoxales zu kennzeichnen ist, vor allem aber, weil sie
darauf insistieren, Subjektivität nicht im Gegensatz zur Macht zu behaupten:
,,[K]einer der subjektiven Selbst-Bestimrnungsversuche (ist) der Macht, der Selbstver-
fehlung entzogen" (ebd. 290), kann Schäfer überzeugend sowohl dem gegen Foucault
gerichteten Vorwurf, er leugne in seinen frühen Arbeiten "jede Befreiungsmöglich-
keit" (ebd.), als auch dem Vorwurf widersprechen, Foucault betreibe in seinen späte-
ren Arbeiten eine ,Rückkehr zum autonomen Subjekt' (Fink-Eitel). Problematisch ist
jedoch, dass durch Schäfers - wenn auch desillusioniertes - Festhalten an ,Autono-
mie' als einer unweigerlich paradoxen Selbstverständigungsformel weitgehend unbe-
fragt bleibt, ob und inwiefern die Forderung von Autonomie nicht ihrerseits als über-
aus wirksamer Effekt von Machtausübung zu kennzeichnen und zu analysieren wäre.
28 Nicole Balzer
Anders ausgedrückt: vielleicht gibt es gute Gründe, Pädagogik ,diesseits der Illusion
von Autonomie' zu verorten.
(i) So hat insbesondere Käte Meyer-Drawe mit "einigen Anregungen" (1996a: 655) wie-
derholt versucht, die "Autonomieforderung im pädagogischen Zusammenhang" (dies.
1998: 36) zu problematisieren, indem sie entlang des "Zweifel[s] an der Autonomie"
(dies. 2000: 146) die pädagogische Rezeption Foucaults um dessen Untersuchungen
zu Pastoralmacht und, Techniken des Selbst' erweitert hat. Foucaults Bedenken gegen
"eine bestimmte, in der Neuzeit entstandene Redeweise vom Subjekt" (dies. 1993:
195) zeigten zunächst, dass ,,[r]eine Selbstbestimmung und bloße Fremdbestimmung
[... ] Chimären" (1996b: 57) seien; Pädagogik, so Meyer-Drawe durchaus in der Nähe
zu Schäfer, werde daher, da Selbstbestimmung als Aufgabe pädagogischen Handeins
und zugleich nur aufgrund der erzieherischen Fremdbestimmung für möglich erklärt
wird, von Anfang an "in die Alternative von Fremd- und Selbstbestimmung" (dies.
2000: 140) eingespannt. Ihre "Bevorzugung der Eigentümlichkeit, später der Indivi-
dualität und noch später der Identität" (ebd.), ihr Autonomie- wie ihr Bildungsbegriff
lassen, so Meyer-Drawes Kritik, immer mehr die "andere Seite des Subjekts, [... ] die,
die es als der Gesetzgebung unterliegend kennzeichnet" (dies. 1998: 45), in Verges-
senheit geraten. Sie trüben "den Blick für die auch konstitutive Bedeutung des Frem-
den" (dies. 2000: 140), suggerieren sie doch die Möglichkeit eines Zustands der Ver-
söhnung, in welchem das Subjekt "aller Zerrissenheit zum Trotz Einheit findet" (dies
1993: 197). Foucaults Arbeiten verweisen dagegen darauf, dass - auch aus pädagogi-
scher Sicht - die "knöcherne Alternative [... ], nämlich die von Individuum und Gesell-
schaft, von Autonomie und Heteronomie" (dies. 1996b: 49) zu verabschieden ist ll ;
die immer wieder propagierte Selbstauslegung des Subjekts als eines Souveräns sei
zwar auch eine spezifisch ,idealische' Selbstverkennung, diene jedoch überwiegend
dazu, sich die eigene Selbstrelativität und Begrenztheit, "immer Untertan und Souve-
rän zugleich" zu sein (ebd.), zu verbergen. Es ist diese Einsicht in die ,Gebrochenheit
der Subjektivität', die Meyer-Drawe immer wieder zur Geltung zu bringen versucht:
ein ,konstitutiver' Bruch, der "sich durch das Subjekt zieht, das in keiner Identität
Ruhe findet" (dies. 1991: 391), so dass das ,Ich' weder authentisch noch unmöglich
ist, sondern als eine "Differenz der Masken" (dies. 2000: 147) verstanden werden
muss - eine Kennzeichnung, die sowohl den dauernden Selbstverschiebungen als
auch der Nichtidentifizierbarkeit des Selbst Rechnung zu tragen versucht. Gerade weil
die "Differenz von souveränem Subjekt und dem Subjekt als Untertan" (dies. 1991:
397) durch das Subjekt selbst hindurch geht, eröffnen die Arbeiten Foucaults die
Möglichkeit, das Subjekt ,diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich' zu verorten
und pädagogisch "von neuem über Problematisierungsformen von Subjektivität nach-
zudenken" (dies. 1993: 195).
Anhand der späteren Arbeiten Foucaults spitzt Meyer-Drawe ihre Kritik des (pädago-
gischen) "Begehren[s] nach Befreiung von jeglicher Fremdbestimmung" (dies. 2000:
146) zu. Ausgehend von Foucaults Präzisierung der Macht als einer ,Führung der
Führungen' verdeutlicht sie, dass die aus pädagogischer Sicht vorgenommenen dualis-
tischen Weichenstellungen - insbes. die "Alternative von Macht und Freiheit" bzw.
von Fremd- und Selbstbestimmung - aus machttheoretischer Sicht sich als "irrefüh-
rend" (Meyer-Drawe 1996a: 655) erweisen: "Macht ist [... ] auf Freiheit angewiesen.
Zur Freiheit kann man nicht gezwungen werden. Freiheit kann [... ] lediglich kultiviert
werden, und zwar angesichts der Zwänge, die aus einer menschlichen Welt nicht ver-
schwinden" (dies. 2001: 450). Daher muss sowohl der Instrumentalisierung der Ana-
11 Ohne damit den Autonomiebegriff gänzlich verabschieden zu wollen: "Auf dem Feld
des Politischen fungiert der Begriff der Autonomie als Chiffre für eine humane Ge-
sellschaft" (Meyer-Drawe 1991: 399).
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken 29
lysen Foucaults als einer generellen "Denunzierung erzieherischer Tätigkeiten im Sin-
ne von Gewaltakten" als auch der umgekehrten Hoffnung, Erziehung überhaupt ohne
Macht ausüben zu können, eine Absage erteilt werden: es steht nicht in Frage, "daß
Erziehung ein Machtverhältnis bedeutet" (dies. 1996a: 655). Fraglich ist jedoch, "ob
die Machtformation so sein muß, wie sie sich im Lichte der Foucaultschen Analyen
zeigt" (dies. 1996a: 655). Folgt man dieser Weichenstellung, geht es nicht mehr allein
darum, das Verhältnis von Freiheit und Macht zu problematisieren, sondern Erziehung
und Bildung selbst in ihrer Option für Autonomie machttheoretisch zu analysieren.
Entscheidend ist dafür, die Foucaultschen Untersuchungen der , Technologien des
Selbst' und der Lebenskunst nicht als einen Rückfall in die zuvor kritisierte Subjekt-
position auszulegen, sondern als eine "Radikalisierung seiner früheren Position" (ebd.
656) zu verstehen. Folgerichtig erweitert Meyer-Drawe denn auch nicht nur die diszi-
plinartheoretischen Erörterungen, sondern radikalisiert vielmehr die machttheoretische
These: "Erzieherische Praxis wird vor allem als Pastoraltechnik ausgeübt"; das päda-
gogisch dominante Machtverhältnis ist "das der Pastoralmacht" (ebd.). Kern ihrer
Kritik ist dabei die mit der Positivierung des Selbst - qua Geständniszwang - einher-
gehende "Verhüllung der Macht" (dies. 2001: 447): "Das nicht problematisierte pasto-
rale Machtverhältnis stattet das pädagogische Primat der Selbstbestimmung mit einem
Humanismusvorschuß und mit einer quasi transhistorischen Selbstverständlichkeit
aus, die eine durchgreifende Kritik der herrschenden Machtdispositive verhindern"
(dies. 1996a: 656f.). Es darf daher "keine Tabus des Fragens geben, auch nicht, was
Selbstbestimmung und Individualität, Subjektivität und Autonomie angeht" (ebd.
662). Vielmehr ist es an der Zeit, "die affirmierende Kraft scheinbar unschuldiger
Humanitätsideale für pädagogische Theorie und Praxis zu zersetzen, um Transforma-
tionen der Macht kenntlich zu machen und dadurch der Kritik zu öffnen" (ebd. 663).
Wenn aber, wie Meyer-Drawe pointiert fordert, auch nicht vor dem Verdacht
haltgemacht werden darf, "daß Individualität und Selbstbestimmung histo-
risch bedingte Technologien des Selbst sind" (Meyer-Drawe 1996a: 662), die
als spezifische, die jeweilige Gebrochenheit operationalisierende Machttech-
niken zu kritisieren sind, und wenn es auch gerade oppositionale Bestim-
mungen sind, die diese Machtausübung kulminieren lassen, dann wird es für
die Pädagogik nicht nur gänzlich unmöglich, sich auf die (vermeintlich)
,richtige Seite' zu stellen, sondern sie gerät ganz grundsätzlich in ein ,Di-
lemma der Kritik' (vgl. Ricken 2004): erstens ist es dann nicht mehr über-
zeugend, Selbstbestimmung und Freiheit bloß oppositional Fremdbestim-
mung und Macht gegenüberzustellen; und zweitens ist zunehmend fraglich,
was denn als Maßstab von Kritik überhaupt noch gelten kann.
insofern auf die Verbesserung der Verhältnisse verpflichtet ist, wie dies ins-
besondere in der ,kritischen Erziehungswissenschaft' und deren Leitformel
der ,Emanzipation' sich zum Ausdruck gebracht hat; sondern vor allem, weil
,Kritik' gerade nicht bloß eine Frage pädagogischer Positionen ist (und damit
zunehmend bloß eine Frage der ,Gesinnung', gar des ,Geschmacks' wäre),
sondern ein konstitutives Moment jeglichen pädagogischen Handeins über-
haupt markiert: selbst der ,autoritäre' Versuch noch, andere auf die eigene
Position - Überzeugung, Haltung oder Praktik - zu verpflichten, ist darauf
angewiesen, dass die solchermaßen disziplinierten Anderen das Gesollte von
sich her leisten, so dass es nie genügt, bloß in das jeweilig ,Gegebene' einzu-
führen, ohne nicht zugleich auch ,Freigabe' und ,Selbständigkeit' irgendwie
doch mit zu ermöglichen (vgL Blankertz 1982: 306f.). Damit aber rückt die
Frage der ,Kritik' als Frage nach jeweiliger ,Andersmöglichkeit' in den Mit-
telpunkt, ohne zugleich in den traditionellen Antworten - Selbstbestimmung
bzw. ,Emanzipation' - ihre erschöpfende Beantwortung bereits gefunden zu
haben (vgL Sünker/Krüger 1999; Benner u.a. 2003; Pongratz u.a. 2004).
(j) So stellt insbesondere Jan Massehelein ausdrücklich im Anschluss an Foucault die
Frage ins Zentrum, wie eine kritische Erziehungswissenschaft heute (nicht mehr) ge-
dacht werden kann. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist dabei die Beobachtung,
dass die traditionelle ,kritische Orientierung' am "selbstbewußten, selbstreflexiven,
autonomen und vernlinftigen Subjekt" (Masschelein 2003: 126) längst selbst Be-
standteil gegenwärtiger Machtstrategien ist: Gerade weil das System zunehmend "kri-
tische und freie Subjekte" rur seine Weiterentwicklung brauche, konstituiere es diese;
"kritische Stimmen" - so Massehelein - "sind [... ] notwendig und funktional" (ebd.
131), ist doch Kritik selbst Moment systernischer Reproduktion und Verbesserung.
Angesichts dessen aber ist der Versuch, an der traditionellen Orientierung von Kritik
- "Im Namen der Autonomie, der Emanzipation, der Unabhängigkeit, der Selbstbe-
stimmung, der Freiheit können Repression, Abhängigkeit, Fremdbestimmung, Macht
kritisiert werden" (ebd. 129) - festzuhalten, eher problematisch, verschweigt er doch
die Mitverantwortung auch der ,kritischen Erziehungswissenschaft' an gegenwärtigen
Machtfigurationen.
Das Foucaultsche Instrumentarium - so Massehelein - taugt in besonderer Weise da-
zu, diese spezifische Machtform auch analytisch einzuholen, indem es die Figur der
autonomen, selbstreflexiven Person als "eine historische Figur der Selbstflihrung"
(ebd. 135), als "eine spezifische Subjektivierungsform" (ebd. 125) zu rekonstruieren
erlaubt; die Individuen werden - innerhalb einer "pastoralen Beziehung von Regie-
rung" - dazu angehalten, "sich zu sich selbst als autonome, selbstreflexive ,Subjekte'"
(ebd. 136) zu verhalten und dazu stimuliert, ihr Selbst "unter der Perspektive von
Prinzipien zu problematisieren" (ebd. 138). Das autonome, selbstreflexive Subjekt ist
daher als "Durchgangspunkt von Machtbeziehungen" (ebd. 126) zu kennzeichnen, so
dass dessen Subjektivitätsform zugleich "Effekt und Instrument" von Macht sei:
"Produkt [... ] von pastoralen Beziehungen" (ebd. 135) ebenso wie Instrument in dem
Sinne, dass "das Selbstreflexivsein und das Evaluieren ihres Verhaltens und ihrer Ge-
danken es erlaubt, im Namen der, Vernunft' eine ,menschliche Gemeinschaft' zu eta-
blieren" (ebd.), die - in ihrer gegenwärtigen Form - v.a. durch wechselseitige Indiffe-
renz und wachsende Immunisierung gekennzeichnet ist (vgl. Masschelein/Simons
2002). Da Macht, so Masseheleins Folgerung, gerade durch die "Intensivierung von
Selbstreflexivität und Kritik" (ebd. 136) operiert, können Autonomie, Selbstreflexion
und Selbstbestimmung nicht mehr als "Antithese von Herrschaft" gegen Machtver-
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken 31
hältnisse behauptet werden, sondern müssen als wohl "avancierteste Form der Macht"
(ebd. 130) gedeutet werden. Dennoch aber würden Foucaults Überlegungen keines-
wegs Anlass dazu geben, in "Pessimismus oder Zynismus" (ebd. 132) zu verfallen;
vielmehr eröffneten sie veränderte Perspektiven einer kritischen Erziehungswissen-
schaft: so ginge es zum einen darum, "das Verwobensein von gesellschaftlichen
Macht- und Bildungsprozessen zu klären" (ebd. 137); zum anderen aber ist Kritik als
"Einspruch gegen das dermaßen ,Regiertwerden'" weniger eine theoretische Frage der
Begründung (von Maßstäben etc.), sondern vielmehr die ,,Frage nach einer anderen
Haltung" - einer "praktische[n] Haltung, in der man sich der Interpellation, sich auf
diese bestimmte Weise zu sich selbst und zu anderen zu verhalten, entzieht" (ebd.
139). Masschelein folgt damit der Forderung Foucaults, dass es darauf ankomme,
neue Formen der Subjektivität zustande zu bringen; Kern einer solchen ,kritischen'
Haltung wäre die Hihigkeit (und Bereitschaft), sich von sich selbst loszureißen und
den Wunsch, ",derselbe zu sein'" (Masschelein 2003: 139) und bleiben zu wollen,
aufzugeben. Kritik und kritische Distanz aber wären dann als "Unternehmen einer
,Ent-Subjektivierung''', als "praktische Verweigerung einer bestimmten Regierungs-
und Subjektivitätsform" (ebd.) neu zu kennzeichnen.
Mit seinen Überlegungen markiert Masschelein jedoch nicht nur die Aufga-
ben einer neuen kritischen Erziehungswissenschaft, sondern auch einen Neu-
anfang der pädagogischen Rezeption Foucaults. 12 Angesichts der auffälligen
Schwierigkeiten der Foucault-Rezeption, ein ,Denken in Oppositionen' zu
verlassen, wird auch vieles davon abhängen, inwieweit es - vielleicht gerade
mit Foucault - gelingt, die "Verflechtungen" und das ,,zugleich" (Rieger-
Ladich 2002b: 171) von Macht und Freiheit, Autonomie und Heteronomie,
Fremd- und Selbstbestimmung so zu denken, dass sowohl ,neue Formen der
Subjektivität' (Foucault) als auch der ,Sozialität' angedacht werden, um die-
auch pädagogisch zentrale - Frage danach, ,was wir sind und sein könnten'
(vgl. Foucault 1994: 250), wieder stellen zu lernen. Immer wieder wird es
daher darum gehen, "die Verschiebung zu ermessen, der er [Foucault; N.B.]
die Reflexion über die Wahrheit, über das Subjekt und über die Macht unter-
worfen hat, und den Raum, der sich von hier aus für das [ ... ] Denken eröff-
net" (Pasquino 1985: 52). Oder, um es mit Foucault zu sagen: Von neuem
wird es um die Bewegung gehen, "mit deren Hilfe man sich nicht ohne An-
strengung und Zögern, nicht ohne Träume und Illusionen von dem freimacht,
was für wahr gilt, und nach anderen Spielregeln sucht" - einzig "um anders
zu denken, um anderes zu machen und anders zu werden als man ist"
(Foucault 1984: 22).
12 Diese ,andere' Rezeption Foucaults ließe sich schließlich an den Arbeiten von Nor-
bert Ricken (vgl. z.B. Ricken 2000; 2004), Jan MasscheleinlMaarten Simons (vgl.
z.B. MasscheleinlSimons 2002) wie auch Markus Rieger-Ladich (vgl. z.B. Rieger-
Ladich 2002b) verdeutlichen, die historische und gegenwärtige Praktiken nach ihrer
"Pastoraltechnologie in der Menschenführung" (Meyer-Drawe 1996a: 661) zu befra-
gen, aber auch Erziehung ,jenseits oppositionaler Bestimmungen' - nicht "jenseits
von Macht" (ebd. 655) - neu zu bestimmen suchen.
32 Nicole Balzer
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Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken 35
Ein Blick auf die Geschichte des pädagogischen Denkens zeigt, dass insbe-
sondere in der modemen Pädagogik Erziehung und Bildung auf eine kritische
Inblicknahme und Verbesserung der gegebenen menschlichen Verhältnisse
bezogen werden. So versteht beispielsweise Kant unter Erziehung ein herrli-
ches Ideal, welches einen Vorblick auf ein künftig glücklicheres Menschen-
geschlecht erlaube (vgl. Kant 1963). Dabei hat eine "echte" Erziehung "sehr
vieles zu tun", wenn sie sich vornimmt, den Menschen nicht bloß zu dressie-
ren oder abzurichten, sondern ihn "wirklich" aufzuklären (vgl. ebd.: 17). Mit
der Vorstellung, dass die Kinder das Denken lernen und also durch Erziehung
zum selbständigen Gebrauch des eigenen Verstandes befahigt werden, eignet
sich die modeme Pädagogik den aufklärerischen Rationalitätsanspruch an
und konfiguriert ,Mündigkeit' als pädagogisches Problem.
Eine besonders prominente Fassung dieses Problems findet sich bei
Rousseau, der den Fortschritts- und Aufklärungsoptimismus kritisiert und ra-
dikalisiert, indem er den von der Aufklärung geforderten Vernunftgebrauch
auf seine gesellschaftliche Vermitteltheit hin befragt (vgl. Rousseau 1988).
Auf diese Weise geraten die ,entfremdenden' Tendenzen der ,Wissenschaf-
ten und Künste' ebenso wie das Ungenügen der Vernunft, einen Maßstab für
Entfremdung und Wahrheit beibringen zu können, in das Blickfeld einer
scheinbar unmöglichen Untersuchung. Damit werden die Schwierigkeiten für
jene deutlich, die mit dem Anspruch auftreten, die Aufklärung über sich
selbst aufzuklären (für Rousseau vgl. Schäfer 1992). Auf welche Maßstäbe
soll sich eine Untersuchung, welche die diskursiven Fähigkeiten der Vernunft
in Frage stellt, noch beziehen?
Benannt ist damit der zugleich notwendige und problematische Ansatz-
punkt einer Pädagogik, die sich als ,kritisch' verstehen will. Anders gesagt
tritt hier der Anstoß und die Anstößigkeit einer kritischen Pädagogik oder Er-
ziehungswissenschaft zutage, die einerseits die anti-aufklärerischen Tenden-
zen der Aufklärung zum Thema machen will und muss (wenn es ihr denn
wirklich um Aufklärung geht), die aber andererseits feststellt, dass die eige-
nen diesbezüglichen Spielräume des Nachdenkens bedenklich eingeschränkt
sind.
40 Christiane Thompson
Mit dieser knappen Problemanzeige zeichnet sich zum einen die Konsti-
tutivität der Kritik für die Pädagogik ab, d.h. die Überlegung, dass Kritik ei-
nen programmatischen Charakter für die Pädagogik besitzt. Zum anderen
verweist die sich aufdrängende Frage, inwieweit der Kritiker nicht noch dem
Kritisierten unterliegt (dazu Schäfer 1991), auf die schwierige Platzierung
pädagogischer Kritik zwischen Zäsur und Rückfall.
Im Folgenden soll es um die Frage von ,Aufklärung und Selbstkritik' ge-
hen und um den Beitrag, den Michel Foucault mit seinen Überlegungen zu
einer ,kritischen Ontologie der Gegenwart' (vgl. Foucault 1990) diesbezüg-
lich liefern kann. Bevor allerdings auf Foucaults spätere Umschreibungen ei-
ner ,kritischen Ontologie' (2) eingegangen und entsprechend seine Selbstpo-
sitionierung durch den Erfahrungsbegriff (3) rekonstruiert wird, soll die bis-
lang nur holzschnittartige Problemanzeige von ,Pädagogik und Kritik' im
Zusammenhang der ,kritischen Erziehungswissenschaft' des 20. Jahrhunderts
weiter expliziert werden (1).
2 Diese Unruhe geht allerdings umso mehr verloren, als unter ,Emanzipation' eine ein-
hellige pädagogische Aufgabe verstanden wird.
Diesseits von Authentizität und Emanzipation 43
mas, apriori mit der Sprache gesetzt sei. An diese Stelle gehört der - inzwi-
schen wohl eher ,berüchtigte' - Satz: "Mit dem ersten Satz ist die Intention
eines allgemeinen und ungezwungenen Konsensus unmißverständlich ausge-
sprochen" (Habermas 1968: 163). Der Versuch, die Vernunft dialogisch in
Bewegung zu bringen und aus ihrem Monolog zu befreien, ruht auf dem Ver-
ständigungspotential der Sprache auf, für das der Geltungsanspruch einsteht.
Habermas entwickelt an dieser Stelle ein Verfahren, durch das - trotz kon-
trafaktischer Ausgangslage - die Erreichbarkeit von Emanzipation vorge-
zeichnet wird. Diese Rahmung verleiht der Emanzipation letztlich einen ob-
jektiven Sinn, mit dem die Geschichte der Menschheit auf Fortgang bzw.
Entwicklung hin orientiert werden kann. Diese Interpretationslinie aufgrei-
fend spricht Mollenhauer von der "intersubjektiv prüfbare[n] Analyse der
Bedingungen für Rationalität" (Mollenhauer 1973: 11, vgl. auch: 67f.). Die
kommunikative Auseinandersetzung und Diskussion bildet die einzige Mög-
lichkeit, die Verhinderung von Rationalität in der gegebenen Gesellschaft als
Ideologie zu entlarven und zu überwinden (vgl. ebd.: 68f.).
Eine unter systematischen Gesichtspunkten vergleichbare Rahmung des
Emanzipationsbegriffs nimmt Herwig Blankertz in seiner Geschichte der
Pädagogik vor. Die Erziehungswissenschaft rekonstruiere die Erziehung als
den Prozess der Emanzipation, d.h. als Befreiung des Menschen zu sich
selbst - darin liege ihr Sinn (Blankertz 1982: 307; vgl. dazu auch Rieger-
Ladich 2002: 167ff.). Die Frage, wonach sich der "progressiv-revolutionäre
Gehalt" der pädagogischen Tradition (vgl. Blankertz 1969: 51) eigentlich
bemisst, wird durch den Rekurs auf die Funktion der Emanzipation als einer
,regulativen Idee' des Bildungs- und Erziehungsdenkens der Tradition be-
antwortet: Insbesondere durch Immanuel Kant und Wilhelm von Humboldt
habe sich mit Blick auf eine ,mögliche Zukunft' ein kritisches Moment der
Pädagogik gegenüber den Zwängen und Instrumentalisierungen in der ge-
genwärtigen Gesellschaftslage herausgebildet und eine Sensibilität für die
Dialektik von Pädagogik und Gesellschaft entwickelt. Die Differenz zwi-
schen wünschbarer Möglichkeit und defizienter Wirklichkeit hat ihren Ur-
sprung in der Bildungstradition, in der wir stehen. ,Emanzipation' aber wird
auf diesem Wege, so hat Keckeisen kritisch angemerkt, mit der deutschen
Bildungstradition schlicht "kurzgeschlossen" (vgl. Keckeisen 1984: 203).
In der Selbstreflexion der ,kritischen Erziehungswissenschaft' hat sich
diese Auslegung des Emanzipationspostulats, die letztlich auf den Gegensatz
von kruder Gesellschaft und vernünftigem Menschen hinausläuft, schnell als
unzureichend erwiesen, da eine derartige Interpretation den Bezug zur eige-
nen Situativität der Problemlagen und Kritikoptionen einbüßt (vgl. Keckeisen
1984: 191ff.) und damit der (selbst-)kritische Anspruch in eine positive Dia-
lektik überführt wird (dazu auch Dammer 1990: 190). In der so erfolgten
Sinnzuschreibung verabsolutiert sich das Emanzipationspostulat, so dass nur
eine abgehobene Defizitzuschreibung gesellschaftlicher Realität möglich ist.
Damit aber wird die jeweilige konkrete Genese, Funktion und Wirkung von
Herrschaftsverhältnissen aus den Augen verloren (vgl. Keckeisen 1984: 193);
44 Christiane Thompson
andererseits wird einem blinden Vertrauen auf die Vernunft zugearbeitet, de-
ren Ideen sich nur gegen die Wirklichkeit durchzusetzen hätten.
Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus dieser Problemlage für den
pädagogischen Kritikanspruch? Ist denn die Forderung nach Emanzipation
für die Möglichkeit von Kritik angesichts der gesellschaftlichen Präformation
wissenschaftlichen Denkens (einschließlich der oben genannten Problemati-
sierungen) nicht unverzichtbar? Diese Frage erinnert an die Forderung Hork-
heimers und Adornos nach der "Unnachgiebigkeit der Theorie gegen die Be-
wußtlosigkeit, mit der die Gesellschaft das Denken sich verhärten läßt"
(Horkheimer/Adorno 1987: 65). Wenn nun aber angesichts gegenwärtiger
gesellschaftlicher Interessenlagen eine unnachgiebige Theorie unerlässlich
ist, wie lassen sich in einem kritischen Sinn "Veränderungsbedürftigkeit" so-
wie "Veränderungsmöglichkeit" plausibel machen? Erliegt die kritische Päda-
gogik notwendig dem Schicksal, dass ,,[kleine Kritik, so sehr sie sich gegen
ideologische Projektionen zu schützen versucht, [ ... lohne jeden Vorgriff und
also auch ohne einen (wiewohl) abstrakten Vorbegriff dessen aus[kommt],
was den utopischen Zustand des richtigen Lebens und der wahrhaften Bil-
dung kennzeichnet" (Keckeisen 1984: 191)? Der Kern dieser Fragen kreist
nach wie vor um die schwierige Platzierung pädagogischer Kritik. Es geht
um die Frage nach den Kriterien, auf die sich eine pädagogische Kritik noch
meint, beziehen zu können. Im Folgenden möchte ich prüfen, ob in diesem
Zusammenhang eine Bezugnahme auf das Denken Michel Foucaults Anre-
gungen liefern kann.
lehrter bzw. fachbezogener Gesellschaften gelten; auf diese Weise wird auch
bestimmt, wer überhaupt Zugang zu einem Diskurs erhält (vgl. Foucault
1992a: 20ff.).
Bei der Reflexion dieser Beispiele mag die Frage aufkommen, ob von
den Hindernissen und Lenkungen, die der wissenschaftliche Diskurs von in-
nen und außen erfährt, nicht doch ein ,echtes' Wissen unterschieden werden
kann, das sich aber nach Umfang und Form nur entsprechend der Diskursver-
fassung zeigt. Foucault fragt nicht in der Linie solcher Idealisierungen und
deren unbeeinträchtigten Erkenntnisräumen: Das von ihm erarbeitete histo-
risch-philosophische Programm versucht gerade, diese Idealisierungsstrate-
gien, Strukturierungen und Durchsetzungsmechanismen im Bereich des
, Wissens' aufzudecken. Die Grundthese ist mithin, dass der Raum der Er-
kenntnis keineswegs eine neutrale und machtfreie Zone darstellt. Damit Wis-
sen als Wissen funktionieren kann, muss es positioniert werden, eingesetzt
werden, in Anschlag gebracht werden oder kurz: Es muss Macht ausüben:
,,[N]ichts kann als Wissenselement auftreten, wenn es nicht mit einem Sys-
tem spezifischer Regeln und Zwänge konform geht - etwa mit dem System
eines bestimmten wissenschaftlichen Diskurses in einer bestimmten Epoche,
und wenn es nicht andererseits, gerade weil es wissenschaftlich und rational
oder einfach plausibel ist, zu Nötigungen oder Anreizungen fähig ist. Umge-
kehrt kann nichts als Machtmechanismus funktionieren, wenn es sich nicht in
Prozeduren und Mittel-Zweck-Beziehungen entfaltet, welche in Wissenssyste-
men fundiert sind" (Foucault 1992: 33). Zwischen Wissen und Macht besteht
demnach ein inniges Wechselverhältnis. Anstatt einen objektiven Blick auf ,die
Wirklichkeit' zu gewährleisten, ist Wissen auf der einen Seite durch einen be-
stimmten Zugriff gekennzeichnet. Jedes Begreifen ist danach mit einem pro-
duktiven Machtanspruch verbunden, der die Beziehung von Bezeichnetem und
Bezeichnung reguliert. Auf der anderen Seite ist Wissen immer schon in Struk-
turen eingepasst und damit Lenkungen unterworfen, die seinen Einsatz und
seinen Fortgang bestimmen. Umgekehrt lässt sich sagen, dass sich Machtan-
sprüche gerade durch Wissens- und Wahrheitsproduktionen durchsetzen.
Wenn Wissen nicht jenseits von Macht lokalisiert ist, dann ist die Sehn-
sucht nach einem transparenten und machtfreien Wissen ebenso aufzugeben
wie der Ort der Wahrheit als idealer Jenseitigkeit: "Die Wahrheit ist von dieser
Welt; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie
über geregelte Machtwirkungen" (Foucault 1978: 51). Welche Funktionen und
Strategien stehen hinter ,der Wahrheit' als Befreiungsschlag gegen die Ideolo-
gie, oder als Belohnung für jene, die sich auf einen langwierigen Forschungs-
weg (inklusive Abirrungen und Entbehrungen) begeben haben? Die Wahrheit
steht in Verbindung mit Machtmechanismen, so dass eine Untersuchung der
"Politik der Wahrheit" (vgl. ebd.) erforderlich wird. Zu einer solchen Analyse
würde nach Foucault heute beispielsweise gehören, wie stark die Wahrheit auf
den wissenschaftlichen Diskurs und die Institutionen, die diesen erzeugen, be-
zogen ist. Anhand dieses Beispiels lässt sich zudem plausibel machen, dass es
Foucault keineswegs um ein ontologisch-metaphysisches Statement - ,Alles ist
Diesseits von Authentizität und Emanzipation 47
3 Einsichtig wird damit, warum Michel Foucault Nietzsches Begriff der ,Genealogie'
zur Charakterisierung seines Vorgehens aufgreift: Im Gegensatz zur Rückführung auf
einen bestimmbaren Ursprung, von dem aus sich Geschichte kontinuierlich und te-
48 Christiane Thompson
sen spräche aus der Sicherheit seiner eigenen Verortung unter der Annahme
eines unproblematischen Referenzpunktes.
Es ist eine systematisch schwierige und fast unmögliche Aufgabe, sich an
dieser Stelle nicht doch von jenem, Willen zur Wahrheit' einholen zu lassen
und also nicht mit einer machtvollen (historischen oder erklärenden) These
aufzutreten. Foucault folgt wohl seiner Intuition, wenn er sagt: "Es ist richtig,
daß wir die Hoffnung aufgeben müssen, jemals einen Standpunkt zu errei-
chen, der uns Zugang zu einer vollständigen und definitiven Erkenntnis dar-
über gewähren könnte, was unsere historischen Grenzen konstituiert. Und
von diesem Standpunkt aus ist die theoretische und praktische Erfahrung, die
wir von unseren Grenzen und ihrer Überschreitung machen, stets selbst be-
grenzt, bestimmt und von neuem zu beginnen" (Foucault 1990: 50). Foucault
zieht an dieser Stelle die Konsequenzen aus der methodologischen Anlage
seines Projekts. Ohne transzendentale Begründungsmechanismen, wie z.B.
die Sinn verbürgende Subjektivität, ist es unmöglich, die eigenen lokalen
Untersuchungen unter die Begriffe ,Wissenschaft' oder ,Erkenntnis' und ihre
Ansprüche von Nachprüfbarkeit und Standpunktfreiheit zu stellen. Foucault
bezeichnet die Genealogie in diesem Zusammenhang auch als ,Antiwissen-
schaften'; in der oben zitierten Textstelle wählt Foucault den Begriff "Erfah-
rung" (ebd.) für die Ergebnisse der archäologisch-genealogischen Untersu-
chung, durch den der radikal geschichtliche Hintergrund seines Projekts so-
wie dessen fiktiver Charakter deutlich wird. Der spannungsreiche Ausdruck
,kritische Ontologie der Gegenwart' bezeichnet folglich eine Untersuchung,
die einerseits im Bewusstsein von Endlichkeit und Begrenztheit stattfindet,
die andererseits im Rahmen dieser Grenzerfassung erst die Grenzen be-
stimmt. Die Bestimmung enthält ein kritisches Potential, da die in den En-
sembles von Macht-Wissen herausgestellten Brüche und Kontingenzen ein
Feld möglicher Umkehr oder Veränderung vorauszeichnen. Die Momente
von Relativität (Geschichtlichkeit) und Kritik drücken sich in der folgenden
auf das menschliche Selbstverständnis bzw. Selbstverhältnis bezogenen
Textstelle aus: ,,[D]ie Menschen [haben] im Laufe ihrer Geschichte niemals
aufgehört [ ... ], sich selbst zu konstruieren, das heißt ihre Subjektivität be-
ständig zu verschieben, sich in einer unendlichen und vielfältigen Serie un-
terschiedlicher Subjektivitäten zu konstituieren. Diese Serie von Subjektivi-
täten wird niemals zu einem Ende kommen und uns niemals vor etwas stel-
len, das ,der Mensch' wäre. Der Mensch ist ein Erfahrungstier: Er tritt stän-
dig in einen Prozeß ein, der ihn als Objekt konstituiert und ihn dabei gleich-
zeitig verschiebt, verformt, verwandelt - und der ihn als Subjekt umgestaltet"
(Foucault 1996: 85). Michel Foucault entsagt einer metaphysisch-anthro-
pologischen Seinsformel und richtet seine Aufmerksamkeit auf die Wandlun-
gen und Verschiebungen von Subjektivität in der Geschichte der abendländi-
sehen Tradition, wobei vor allem die doppelte Perspektive von Subjektivie-
rung und Objektivierung für Foucault bedeutsam ist. Diese Dopplung4 als
Unterwerfung und Ermächtigung des Selbst angesichts von Macht-Wissen
lässt sich anhand der Idee neuzeitlicher Subjektivität verdeutlichen. Die
Selbstbestimmung des neuzeitlichen autonomen Vemunftsubjekts lässt sich
(in theoretischer wie praktischer Hinsicht) einerseits als Autonomisierung,
andererseits als Unterwerfung lesen, deren Effizienz äußere Formen der
Handlungsbeschränkung und -anleitung weit übertrifft: Der freisetzenden
Handlungsautonomie steht die die Individuen regelnde Zuschreibung von
Verantwortlichkeit für das eigene Tun zur Seite (vgl. zur Autonomieproble-
matik Meyer-Drawe 1990a und zum ,Täter hinter dem Tun' Schäfer 1996).
Eine Untersuchung ist nach Foucault gerade hinsichtlich dieser uns Jahrhun-
derte lang nahe gelegten Form von Individualität erforderlich, die es zu er-
schließen und zu hinterfragen gilt (vgl. Foucault 1996: 52).
Die dargestellte ,kritische Ontologie der Gegenwart' lässt sich nun in
analytischer Absicht auf die kritische Pädagogik, insbesondere auf das Eman-
zipationspostulat, beziehen. Nach Foucault erregt die im Hintergrund fungie-
rende Unterscheidung von ,Ideologie' versus ,Wahrheit' und damit die An-
nahme machtfreier Erkenntnis Verdacht (vgl. Foucault 1978: 33f.). Bei dieser
Konfiguration von Kritik wird ausgeblendet, was für ein machtvoller Diskurs
mit dem Emanzipationsbegriff selbst verbunden ist: Wer könnte oder wollte
jemals die These, dass es um die Überwindung von Unmündigkeit zu gehen
habe, verneinen? Eine am Emanzipationspostulat geübte Kritik kann sich an
den Bedingungen der ,Emanzipation' und ihrer Explikation stoßen, aber
kaum die Notwendigkeit oder Wünschbarkeit derselben in Frage stellen. Die
sich ausdrückende Polarität von Mündigkeit und Unmündigkeit, Wahrheit
und Ideologie beinhaltet eine ,denkerische Erpressung' (vgl. Foucault 1990:
45ff.). Bei den vorgestellten Wahlmöglichkeiten sind lediglich zwei Extreme
vorgesehen: entweder Mündigkeit, Rationalität, Selbst- und Mitbestim-
mungsfähigkeit oder Unmündigkeit, Irrationalität, Willkür und Fremdbestim-
mung. Der Wählende steht also unter dem moralischen Druck, sich entweder
der Aufklärung mit allen ihren Nebenwirkungen zu verschreiben oder prinzi-
piell auf die Möglichkeit einer auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
ausgerichteten Gesellschaft zu verzichten. Der Spielraum des Nachdenkens
wird durch diesen "Bekenntniszwang" (Meyer-Drawe 1990: 83) einge-
schränkt. Eine kritische Vorgehensweise muss sich an dieser Stelle der mo-
4 Die doppelte Perspektive von Ermächtigung und Unterwerfung folgt eigentlich schon
aus der Anlage von Foucaults Machtbegriff. Obwohl man sich niemals diesseits von
Machtstrukturen bewegt und die Mechanismen der Macht durch das Subjekt, durch
das Individuum und seinen Körper verlaufen, ist damit doch keinem Fatalismus oder
Determinismus das Wort geredet: Macht ist nach Foucault von Herrschaft zu unter-
scheiden, die dem Handelnden alle Spielräume nimmt. Macht in der von Foucault
vorgesehenen produktiven Bedeutung basiert auf einem bedingt ,freien' Handeln: Ihre
Produktivität lässt Wissen entstehen, ermöglicht neue Diskursmöglichkeiten etc. (vgl.
Foucault 1978: 35).
50 Christiane Thompson
chend den Ort zu: "Ich denke niemals völlig das gleiche, weil meine Bücher
für mich Erfahrungen sind im vollsten Sinne, den man diesem Ausdruck bei-
legen kann. Eine Erfahrung ist etwas, aus dem man verändert hervorgeht"
(Foucault 1996: 24). Foucault inszeniert sich nicht als Urheber und Autor,
der seine Schriften als verändernde Strategie in der Gesellschaft einsetzt.
Foucault empfindet sich nicht als Theoretiker, sondern - wie er an anderer
Stelle bemerkt - als Experimentator, der weder eine (gesetzte) Position hin-
sichtlich des diskutierten Themas einbringt noch sich daran macht, unter Zu-
hilfenahme eines Systems "eine Erkenntnis zu gewinnen". Dem auf "Beweis"
hin angelegten Buch steht das auf Veränderung zielende "Erfahrungsbuch"
gegenüber: "Ich schreibe nur, weil ich noch nicht genau weiß, was ich von
dem halten soll, was mich so sehr beschäftigt. So daß das Buch ebenso mich
verändert wie das, was ich denke. Jedes Buch verändert das, was ich gedacht
habe, als ich das vorhergehende Buch abschloß" (vgl. ebd.). Und: "Mein
Problem bestand darin, selbst eine Erfahrung zu machen und die anderen auf-
zufordern, vermittelt über einen bestimmten historischen Inhalt an dieser Er-
fahrung teilzunehmen: nämlich an der Erfahrung dessen, was wir sind und
was nicht nur unsere Vergangenheit, sondern auch unsere Gegenwart aus-
macht; an einer Erfahrung unserer Modernität, derart, daß wir verwandelt
daraus hervorgehen" (ebd.: 28f). Aus Foucaults Äußerungen wird deutlich,
dass er an kritischen Veränderungen und Verschiebungen im menschlichen
Selbst- und Weltverhältnis festhält, wobei gleichzeitig eine Gegengeschichte
zur ,Emanzipation' erzählt wird. An die Stelle von Überwindung eingesehe-
ner Verblendung und Ideologie, von vernünftiger Selbstbestimmung tritt eine
"Grenzerfahrung, die das Subjekt von sich selbst losreißt [ ... ]" (vgl. ebd. 27).
Die Geschichte, die Foucault der befreienden Selbstbehauptung gegenüber-
stellt, ist die der Entsubjektivierung und des Anders-Werdens (vgl. den Vor-
blick von Waldenfels 1995: 223ff.). Es geht mithin um ein ,Aussetzen' (Mas-
schelein) der Selbstgestaltungen und Selbstkonstruktionen, um dadurch die
Grenzen unseres Seins ,zu verflüssigen'. In welchem theoretischen Kontext
steht die Einführung einer ,Erfahrung', bei der das Selbst nicht gewonnen
wird, sondern abhanden kommt? Verbindet man die ,kritische Ontologie' mit
dem Erfahrungsbegriff, so erscheint eine ,kritische (weil verändernde) Erfah-
rung' aus der archäologisch-genealogischen Betrachtung zu erwachsen. Diese
Richtung wäre unter einer bildungsphilosophischen Perspektive weiter zu
beleuchten (vgl. Masschelein, in diesem Band).
Die Politik der Wahrheit und unseres Seins drängt sich unvermeidbar als
Frage auf, wenn man mit Foucault akzeptiert, dass sich für den Menschen
keine ,Erzeugungsformel' (mehr) angeben lässt. Die ,kritische Ontologie der
Gegenwart' untersucht (lokal) unser heutiges ,Sein' und beabsichtigt, noch
unser Verhältnis zu Wahrheit und Wissen in den Blick zu bringen. Die Anre-
gungen für die Pädagogik bestehen insbesondere darin, die Beziehungen zwi-
schen Rationalität und Macht, wie sie z.B. im Begriff und Phänomen ,Eman-
zipation' bestehen, offen zu legen: Foucault stellt hinsichtlich der geforderten
, vernünftigen Selbstbestimmung' die Verengungen durch die Begrenzung auf
54 Christiane Thompson
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Hans-Christoph Koller/Jenny Lüders
1. Einleitung
Einer der ersten deutschen Erziehungswissenschaftler, die sich mit den Ar-
beiten Foucaults auseinander gesetzt haben, war Klaus Mollenhauer. Gegen-
über der damals vorherrschenden Tendenz, Foucaults Schriften (wie Über-
wachen und Strafen) vor allem als antipädagogische Kritik an der disziplinie-
renden Wirkung der Schule und anderer Erziehungsinstitutionen zu verste-
hen, empfahl er 1979 in einem Beitrag für die Zeitschrift päd extra, Foucault
vielmehr "auf seine Methode hin zu lesen", die darauf abziele, die "Formie-
rung von Kognitionen und Antrieben nach den Regeln gesellschaftlichen
Wissens" herauszuarbeiten (Mollenhauer 1979: 64f.). Seltsamer Weise sind
dieser Empfehlung, Foucaults diskursanalytischem Zugriff auf die Regeln der
Wissensproduktion besondere Aufmerksamkeit zu schenken, nur wenige
Pädagogen gefolgt. Die Rezeption der Arbeiten Foucaults in der deutschspra-
chigen Erziehungswissenschaft ist vielmehr vor allem von dem Versuch ge-
prägt, Foucaults begriffliche Konzepte (nämlich insbesondere seine Theorie
der Macht sowie die in den späten Schriften entwickelte Konzeption eines
ethischen Selbstverhältnisses) als Anregung für die erziehungswissenschaftli-
che Theoriebildung zu nutzen - sei es im Blick auf das Verhältnis von Erzie-
hung und Macht (vgl. z.B. Meyer-Drawe 1996; 2001), sei es im Blick auf die
Konsequenzen aus Foucaults Subjektkritik für bildungstheoretische Frage-
stellungen (vgl. z.B. Forneck 1992; Schäfer 1996; Ricken 1999; Reichenbach
2000; Rieger-Ladich 2002).
Die methodischen Verfahren Foucaults im Zuge seiner materialreichen
Untersuchungen zur Geschichte des Wahnsinns, des ärztlichen Blicks, der
Humanwissenschaften, der Strafjustiz und der Diskursivierung der Sexualität
haben demgegenüber in der Erziehungswissenschaft erstaunlich wenig Auf-
merksamkeit und noch weniger Nachahmer gefunden. Soweit wir sehen, sind
lediglich im Bereich der pädagogischen Historiographie Arbeiten zu ver-
zeichnen, die sich in ihrer Vorgehensweise an Foucaults methodischen
Überlegungen orientieren und anband eigener Quellenstudien z.B. die "Er-
oberung des Kindes durch die Wissenschaft" (Gstettner 1981) oder die
"Schule als Dispositiv der Macht" (pongratz 1989; 1990) einer diskursanaly-
tischen Untersuchung unterziehen. Doch auch dort handelt es sich bei nähe-
58 Hans-Christoph Koller/Jenny Lüders
"diskursive Praxis" als geregelte Produktion von Aussagen. Sie stellt spezifi-
sche, sich strukturell wiederholende Beziehungen zwischen Aussagen her
und konstituiert so, was zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt an ei-
nem bestimmten Ort gesagt werden kann. Gleichzeitig meint "Diskurs" aber
auch das durch die Regeln charakterisierte Ordnungssystem selbst (vgl. Ko-
nersmann 1991: 77). Lässt sich für eine bestimmbare Menge von Aussagen
eine Regelmäßigkeit in ihrer Anordnung, Verknüpfung und gegenseitigen
Modifikation angeben, so handelt es sich um einen bestimmten Diskurs bzw.
um eine so genannte "diskursive Formation" (vgl. Foucault 1981: 48-60).
Ziel der auf diesem Diskursbegriff aufbauenden archäologischen Dis-
kursanalyse ist es, die diskursive Praxis in ihrer jeweiligen Regelmäßigkeit
zu erfassen. Den Ausgangspunkt bilden die Aussagen: ,,[W]ie kommt es",
fragt Foucault, "daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere
an ihrer Stelle?" (Foucault 1981: 42). Aussagen sind dadurch gekennzeich-
net, dass sie Diskursgegenstände, Subjektpositionen, begriffliche Ordnungen
und diskursive Strategien - kurz: das spezifische historische "Wissen" - her-
vorbringen. Dies vermag eine Aussage allerdings nur, indem sie Teil einer
regulierten diskursiven Praxis ist, die das Aussagenfeld ordnet und dabei cha-
rakteristische Beziehungen zwischen dessen Elementen herstellt. Die ge-
suchte Regelmäßigkeit einer diskursiven Praxis besteht demnach in der. Art
und Weise, wie eine Aussage - in ihrer spezifischen Funktion des Hervor-
bringens von Diskursgegenständen, Subjektpositionen, Begriffsbündeln und
strategischen Verwendungsmöglichkeiten - mit anderen Aussagen, Aussage-
gruppen und anderen Diskursen sowie nichtdiskursiven Praktiken, Institutio-
nen und gesellschaftlichen Gruppen in Beziehung gesetzt wird. Um dieses
regelhafte In-Beziehung-Setzen zu erfassen, schlägt Foucault eine Methode
vor, die er aus seinen eigenen materialreichen Analysen zum Wahnsinn, zur
Medizin und zu den Humanwissenschaften rekonstruiert und systematisch
ausbaut. Die diskursive Konstitution von "Wissen" wird dabei in vier Rich-
tungen verfolgt, die im Folgenden darstellt werden sollen.
Als erstes fragt Foucault nach den Diskursgegenständen. Foucaults
Grundannahme ist, dass ein Diskurs nicht auf Gegenstände referiert, sie er-
kennt oder bezeichnet, sondern diese nach bestimmten Regeln überhaupt erst
hervorbringt. Sein Hauptaugenmerk gilt also dem Phänomen, dass zu einer
bestimmten Zeit spezifische - eventuell sehr heterogene - Gegenstände auf
gleichmäßige Weise unterschieden, verändert und in Beziehung gesetzt wer-
den. Um diese "Formation der Gegenstände" genauer zu beschreiben, fragt
Foucault zunächst nach den gesellschaftlichen Feldern, in denen ein Gegen-
stand als solcher erscheint. Gemeint sind soziale Gruppen, Milieus oder In-
stitutionen wie Justiz, Kirche und Schule; d.h. "Oberflächen", die für spezifi-
sche Unterschiede empfindlich sind und diese diskursiv konstituieren. Inner-
halb von solchen Oberflächen und Feldern wird der Gegenstand in charakte-
ristischer Weise weiter differenziert. Dabei interessieren einerseits die In-
stanzen, die den Gegenstand diskursiv eingrenzen und ausarbeiten. Anderer-
seits fragt Foucault nach den Systemen und Rastern, mit deren Hilfe Gegen-
Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse 61
Form dadurch, dass er Felder von zitierten und als wahr übernommenen Aus-
sagen bildet; dass er Nachbardiskurse als Modelle, Prämissen oder Analogien
geltend macht; und dass er aus nicht mehr ,zugelassenen' Aussagen Gebiete
historischer Ableitung, Abgrenzung oder Transformation etabliert. Des Wei-
teren interessieren die Prozeduren der charakteristischen Bearbeitung von
Aussagen: ihre Formalisierung, Umarbeitung oder Systematisierung sowie
Verfahren zur Steigerung bzw. Verringerung ihrer Gültigkeit. Auch hier liegt
nun die gesuchte Regelmäßigkeit nicht in den einzeln beschriebenen Ele-
menten, sondern in der Weise, wie die innere Konfiguration eines Aussagen-
feldes, seine Verbindungen zu anderen Feldern und seine Formen der Bear-
beitung von Aussagen durch die diskursive Praxis zueinander in Beziehung
gesetzt werden. Erst so findet man ein regelmäßiges System der Formation
von Begriffen, das einen Diskurs konstituiert.
Die vierte und letzte Untersuchungsrichtung zielt auf die Strategien eines
Diskurses. Die Frage gilt dabei den Regeln, nach denen eine diskursive Pra-
xis verschiedene thematische Optionen eröffnet und realisiert. Solche Optio-
nen ergeben sich aus der "strategischen" Ausarbeitung von Diskursobjekten,
Äußerungsformen und Begriffen, die sich einerseits diskursimmanent, ande-
rerseits durch Praktiken ergeben, die dem Diskurs äußerlich sind. Demzufol-
ge zielt die Analyse auf die innere und äußere Organisation einer diskursiven
Praxis. In einem ersten Schritt betrachtet Foucault die diskurs immanenten
"Bruchpunkte" und Verzweigungsstellen. Inkompatibilitäten im Diskurs
können strategische Ausgangspunkte für verschiedene Themen sein. Da je-
doch niemals alle thematischen Optionen tatsächlich realisiert werden, unter-
sucht Foucault in einem zweiten Schritt, welche Instanzen in die Realisierung
bzw. den Ausschluss bestimmter Themen involviert sind. Hierbei spielt ei-
nerseits die diskursive Gesamtkonstellation eine Rolle. Je nachdem, ob der
Diskurs zu anderen Diskursen im Verhältnis der Über- oder Unterordnung,
der Analogie, der Opposition, der Begrenzung oder der Komplementarität
steht, sind bestimmte Themen möglich oder werden ausgeschlossen. Ande-
rerseits hängt die Realisierung einer strategisch-thematischen Möglichkeit
auch von dem Feld der "nicht-diskursiven Praktiken" ab. Je nach ihren Ein-
satzmöglichkeiten in praktischen Zusammenhängen (z.B. zur Aneignung des
Diskurses durch bestimmte Gruppen oder zur Instrumentalisierung im Diens-
te von Bedürfnissen und Interessen) werden bestimmte Themen realisiert und
ausgebaut. l Auch hier muss nun die spezifische und konstante Weise gefun-
den werden, in der diese Differenzierungsebenen miteinander in Beziehung
Das Verhältnis von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken bleibt in der "Archä-
ologie des Wissens" insgesamt vage (vgl. Waldenfels 1991: 291). Die von Fink-Eitel
vorgeschlagene Trennung, wonach die archäologische Vorgehensweise die Praktiken
als vom Diskurs abhängig betrachte, während die Genealogie diesen Blick umkehre
und den Diskurs als abhängig von Praktiken sehe (vgl. Fink-Eitel 1997: 64), erscheint
zwar als überspitzt, ist aber immerhin insofern plausibel, als dass die nicht-
diskursiven Praktiken tatsächlich erst in der Genealogie ihren entscheidenden Stel-
lenwert gewinnen.
Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse 63
gesetzt werden. Erst darin bestimmt sich nämlich die Regelmäßigkeit einer
diskursiven Praxis in Bezug auf die von ihr realisierten bzw. ausgeschlosse-
nen Themen.
Natürlich stellen diese vier Schritte keine vollständige und beliebig
übertragbare Methode einer archäologischen Diskursanalyse dar. Sie zeigen
eher eine mögliche Annäherungsweise an die Quellen, die im konkreten Fall,
abhängig von Fragestellung und Untersuchungsgegenständen, modifiziert
und ausgebaut werden muss. Als entscheidendes Prinzip erscheint dabei der
archäologische Blick auf Diskurse: ein Blick, der seine Gegenstände als
"Monumente" und nicht als "Dokumente" begreift (vgl. Foucault 1981: 14f.),
d.h. nicht als Hervorbringungen intentional handelnder Subjekte, sondern als
Produkte eines anonymen, aber regelhaften Geschehens. Dieser Blick leistet
zunächst negative Arbeit, indem er traditionelle Prinzipien der Synthese -
wie Autorschaft, Werk, Bewusstsein, Teleologie, Identität, Sinn usw. - in
Frage stellt, und stattdessen die Diskontinuität in das Denken einführt. Es
geht ihm um tatsächliche sprachliche Ereignisse, die nicht auf ihre Bedeu-
tung, sondern auf ihre äußerlichen Erscheinungsbedingungen hin untersucht
werden. Und er stellt keine Einheiten her, sondern konstituiert Serien und
rückt dabei eine Regelhaftigkeit in den Mittelpunkt, die sich jedem Ur-
sprungsdenken entzieht. Die ganze Archäologie des Wissens kann in dieser
Hinsicht also als Exposition einer Problemstellung gelesen werden, die
Foucault auch in den folgenden Jahren beschäftigen wird.
2 Bekanntlich kritisierte Foucault später die von ihm als "Repressionshypothese" be-
zeichnete Beschränkung auf den repressiven Aspekt der Macht und versuchte ihr ei-
nen Machtbegriff entgegenzusetzen, der vor allem den produktiven Aspekt betont
(vgl. z.B. Foucault 1978: l04f.). Auf die Frage, ob dieser weit gefasste Machtbegriff
tatsächlich der "katastrophale Endpunkt der Foucaultschen Theorie" (Waldenfels
1991: 280) ist, bzw. ob Foucault trotz seiner theoretischen Anstrengungen im Grunde
der Repressionstheorie bis mindestens 1976 verhaftet bleibt (vgl. Fink-Eitel 1997:
94f.), kann hier nicht eingegangen werden. Wichtig erscheint uns in diesem Zusam-
Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse 65
menhang nur, dass die produktive Seite der Macht schon in der Ordnung des Diskur-
ses mitgedacht ist.
3 Dies ist wohl auch der Grund dafür, dass die Genealogie oft als Erweiterung bzw. Er-
gänzung der Archäologie gesehen wird (vgl. Z.B. Habermas 1986: 290; Marti 1988:
71; Waldenfels 1991: 292; Davidson 1986: 224). Der "kritische" Blick wird dabei
meist als modifizierte Archäologie aufgefasst, während die Analytik der Machtkämpfe
das eigentlich genealogische Forschungsprogramrn darstelle. Demgegenüber behaup-
ten Dreyfus und Rabinow, es gebe ,,keine vor- oder nacharchäologische oder -genea-
logische Phasen", sondern nur eine Verschiebung in "Gewichtung und Konzeption
dieser Ansätze" (DreyfuslRabinow 1987: 133).
66 Hans-Christoph Koller/Jenny Lüders
Diskurse untersucht und beschreibt, wie sich durch oder gegen die Zwangs-
systeme Wissen konstituiert hat. 4
An der oben zitierten Stelle beschreibt Foucault als Ziel der Genealogie
nun aber nicht nur ein "historisches Wissen der Kämpfe", sondern will dieses
Wissen auch "in aktuelle Taktiken" eingebracht sehen. Der Genealoge darf
also nicht nur gewissenhaft und geduldig Dokumente sichten, sondern sollte
sich auch mit einer "eifrigen Ungeniertheit" (Foucault 1991: 43) des histori-
schen Wissens bemächtigen und es gegen sich selbst wenden. Diese Forde-
rung geht über den oben beschriebenen "kritischen" Blick von Archäologen
und Genealogen noch hinaus. Genealogie betreiben wäre demnach nicht nur
methodische Zerstörung vermeintlicher Evidenzen, sondern selbst "strategi-
sches und polemisches Spiel" (Foucault 2002d: 671), das auf bestimmte Ge-
fahren reagiert: "Den Machtwirkungen, wie sie einem als wissenschaftlich
betrachteten Diskurs eigen sind, muß die Genealogie den Kampf ansagen"
(Foucault 200la: 24). In diesem Sinne ist die Genealogie nicht (nur) Analyse-
methode, sondern vor allem eine Praxis5, die um ihre eigene Perspektivität
(und die damit verbundene Ungerechtigkeit) weiß. Sie versucht, der - in Re-
geln gefassten - Gewalt ihrerseits Gewalt anzutun: sich ihrer zu bemächtigen
und sie gegen sich selbst zu kehren. Deshalb ist Genealogie ebenso gelehrtes
Graben in den Archiven wie parodistische Zerstörung. Sie ist ungeniert und
doch gelehrt - eine "Anti-Wissenschaft" (Foucault 2001a: 23), die analyti-
sche Wirksamkeit entfaltet.
Insgesamt wird bei der Beschreibung des genealogischen Verfahrens
noch deutlicher, was schon für die Archäologie galt: Sie ist keine festgelegte,
theoretisch abgesicherte "Methode" und sperrt sich gegen jede schematische
Anwendung. Jeder Gegenstand bedarf seiner eigenen Instrumente und verän-
dert insofern immer auch die Theorie. Nicht umsonst meint Foucault noch
1976 (also nach seinen genealogischen Studien zur "Geburt des Gefängnis-
ses" und zur Entstehung des Sexualitätsdispositivs), dass es auch in Zukunft
"keineswegs darum gehen [wird], den verstreuten Genealogien einen einheit-
lichen und soliden theoretischen Boden zu bereiten", um ihnen "eine Art
theoretische Krönung [zu] verleihen, die sie vereinheitlichen würde" (Fou-
4 Dass diese Trennung in "Kritik" und "Genealogie" problematisch ist, macht Foucault
schon in der Ordnung des Diskurses deutlich: Gerade die produktive Kraft von Dis-
kursen wirkt immer auch ausschließend (indem Gegenstandsbereiche als "Wissen"
konstituiert werden, erfolgt gleichzeitig der Ausschluss von "Nicht-Wissen"), und be-
stimmte Prinzipien des Ausschlusses ziehen meist eine Vielzahl von Diskursen nach
sich (man betrachte hierfür nur Foucaults spätere Untersuchungen zur "Diskursivie-
rung" der Sexualität). Repression und Produktion sind in Foucaults Konzeption kor-
relativ und können nicht voneinander getrennt werden.
5 Zur Frage, inwiefern Genealogie als (performative) Praxis betrachtet werden kann,
vgl. Honneth 2003: 120f. Saar unterscheidet drei Aspekte der Genealogie: die genea-
logische Geschichtsschreibung bzw. historische Methode, die genealogische Kritik
oder Wertungsweise und die genealogisch-textuelle Praxis. Dieser dritte Aspekt führt
Saar zur Frage des "Stils", d.h. der narrativen und rhetorischen Praxis der Genealogie
und ihrer performativen Wirkung (vgl. Saar 2003: 158 und 172-177).
Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse 67
cault 2001a: 28). Besonders problematisch für die Rekonstruktion einer dis-
kursanalytischen Vorgehensweise erscheint allerdings, dass die Genealogie
weit mehr als nur Diskurse betrachtet. Immer sind diskursanalytische Motive
und Fragen in einen größeren Rahmen der Analyse von Machtverhältnissen
einzustellen - auf die in diesem Beitrag nicht näher eingegangen werden
kann. Der Gewinn der Genealogie liegt also vor allem in einer Erweiterung
der Perspektive, die es nicht nur erlaubt, Diskurse als Ausgangspunkt für
nicht-diskursive Praktiken zu betrachten, sondern auch umgekehrt nicht-
diskursive Praktiken als (machtvoll-produktive) Anreize für Diskurse erfasst.
dabei nicht. Sie würde bereits in das von Foucault geschmähte Gebiet des Ur-
sprungs und der Kausalität hineinführen.
Der Frage nach den Regeln einer diskursiven Praxis entsprechen be-
stimmte methodische Gnmdsätze einer Diskursanalyse, die sich einer strikten
Ablehnung der "Ideengeschichte" verdanken. Dem Prinzip der Schöpfung
wird das Ereignis, der Einheit die Serie, der Ursprünglichkeit die Regelhaf-
tigkeit und der Bedeutung die Möglichkeitsbedingungen gegenüber gestellt
(vgl. Foucault 1991: 35). Und auf diesem Grundprinzip der Diskontinuität,
der Spezifität und der Äußerlichkeit baut die konkrete Analyse auf, deren ar-
chäologische Verfahrensweise oben skizziert wurde. Was allerdings auf den
ersten Blick als Bemühung um eine streng wissenschaftlich-objektive Me-
thode erscheint, entpuppt sich auf den zweiten Blick als strategisches Unter-
nehmen. Sowohl Archäologie als auch Genealogie sind perspektivisch und
interessengeleitet - und wissen darum. Ihr Ziel ist es, als wahr geltende Aus-
sagensysteme durch den Nachweis deren letztlich kontingenter Entstehung in
Frage zu stellen und "Machtsysteme kurz zu schließen, zu disqualifizieren
oder zu zerschlagen" (Foucault 2002e: 888).6
Eng mit den methodischen Grundsätzen verknüpft ist zuletzt das, was
man vielleicht den methodologischen Rahmen der Foucaultschen Diskursana-
lyse nennen könnte. Es geht dabei vor allem um eine Abgrenzung zu Metho-
den der (hermeneutischen) Exegese und der (strukturalistischen) linguisti-
schen Formalisierung (vgl. Foucault 2001b: 869). Exegetische Ansätze wol-
len aufdecken, was als Intention bzw. Sinn dem jeweiligen Sprechen zugrun-
de liegt. Ihr Interesse gilt einem "Wiederfinden des stummen, murmelnden,
unerschöpflichen Sprechens, das von innen die Stimme belebt" (Foucault
1981: 43). Die formalistische Analyse zielt demgegenüber auf allgemeine
Konstruktionsgesetze der Sprache in ihrer syntaktischen Struktur. Beide He-
rangehensweisen lehnt Foucault ab: "Die Diskursanalyse, die der diskursiven
Verfertigung von Objektfeldem und Subjektpositionen nachgeht, bezieht sich
nicht auf Ungesagtes, das als verborgener Sinn dem Diskurs vorausläge, noch
bezieht sie sich auf allgemeine Formen der Sagbarkeit, die an die Materialität
und Spezifität der Diskurse nicht heranreichen. Ihre Domäne ist die Positivi-
tät des Gesagten, wo Regelndes und Geregeltes miteinander im Ereignis der
Regelung verklammert sind" (Waldenfels 1991: 287). Einerseits verzichtet
die Archäologie also auf jede Begründung durch Bewusstsein, Willen oder
Intentionen der sprechenden Subjekte. Andererseits verschiebt sich die Ana-
lyse von der (strukturalistischen) Frage nach Möglichkeitsbedingungen hin zu
6 Insofern kann man Foucault auch nicht vorwerfen, er reflektiere seinen eigenen Ana-
lysestandpunkt nicht. Die Befangenheit im eigenen Blick wird in der Archäologie des
Wissens nicht nur ausgiebig diskutiert (vgl. Foucault 1981: insbes. 189f.), sondern ist
geradezu Voraussetzung für eine Analyse, die archäologisch "die Unterschiede
macht" (ebd.: 293), von denen sie spricht, und genealogisch betrachtet eine strategi-
sche Praxis darstellt. Foucault geht davon aus, "daß die Vorstellung eines Blicks von
nirgendwo ein Fehler ist" (Owen 2003: 135).
Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse 69
ne dass dabei bisher das theoretische und methodische Potential der Arbeiten
Foucaults genutzt worden wäre. Die Bedeutung diskursanalytischer Verfah-
ren läge dabei vor allem darin, für je spezifische Diskursformationen in ar-
chäologischer Perspektive die Regeln der Hervorbringung, Verbreitung und
Verwendung pädagogischen Wissens zu beschreiben und genealogisch deren
Entstehung im Kontext jeweiliger Machtverhältnisse herauszuarbeiten.
Dabei wäre nicht nur an Untersuchungen zum pädagogischen Wissen in
bestimmten historischen Konstellationen zu denken, sondern auch an päda-
gogische Diskurse der Gegenwart. Als Untersuchungsgegenstände bieten
sich hierfür sowohl die verschiedenen Formen des innerhalb der Institution
Wissenschaft produzierten pädagogischen Wissens an (wie z.B. empirisch-
analytisches, normativ-handlungsorientierendes oder kritisch-reflexives Wis-
sen) als auch das etwa in Zeitschriften und Ratgeberliteratur kursierende vor-
bzw. außerwissenschaftliche Wissen. Spezifische Themen, an denen die
Reichweite der methodischen Überlegungen Foucaults erprobt werden könn-
te, wären etwa die bildungspolitisch-erziehungswissenschaftliche Diskussion
um PISA und andere internationale Schulleistungsvergleiche, die anhaltende
Debatte über Zuwanderung und ihre Folgen für das deutsche Bildungssystem
sowie der Diskurs um die pädagogischen Implikationen von Gentechnik und
Reproduktionsmedizin (vgl. Meyer-Drawe 2001).
Der spezifische Beitrag der Foucaultschen Diskursanalyse zur Untersu-
chung solcher und weiterer Felder aktueller bildungspolitischer, erziehungs-
wissenschaftlicher und pädagogisch-praktischer Auseinandersetzungen läge
darin, jenseits der Aufmerksamkeit für subjektive Intentionen oder Interessen
der beteiligten Akteure nach den anonymen und weitgehend unbewussten
Regeln zu fragen, die den unterschiedlichen Äußerungen innerhalb eines Fel-
des zugrunde liegen und das konstitutive Merkmal einer diskursiven Forma-
tion ausmachen. Dabei stünde im Zentrum der Aufmerksamkeit nicht die
Frage, warum, aufgmnd welcher politischen Interessen oder persönlichen
Motive "ausländische" Kinder und Jugendliche im deutschen Bildungssystem
benachteiligt werden (um ein einziges der genannten Beispiele herauszugrei-
fen), sondern vielmehr, kraft welcher Unterscheidungen diese Gruppe über-
haupt als solche definiert wird (Formation der Gegenstände), von welchen
institutionellen Positionen aus solche Unterscheidungen getroffen und durch-
gesetzt werden (Formation der Äußerungsmodalitäten), wie Aussagen über
"Migrantenjugendliche" angeordnet, organisiert und bearbeitet werden (For-
mation der Begriffe) und in welchem Verhältnis dieser Diskurs zu anderen
Diskursen (wie z.B. dem ökonomischen Diskurs) und nicht-diskursiven
Praktiken (wie z.B. dem Ausländerrecht) steht (Formation der Strategien).
Ein zweites Forschungsfeld der Erziehungswissenschaft, in dem diskurs-
analytische Verfahren im Anschluss an Foucault zu einer Perspektiverweite-
rung beitragen könnten, stellt die qualitative bzw. interpretative Forschung
dar. Die Bedeutung der Foucaultschen Diskursanalyse bestünde in dieser
Hinsicht darin, ein Gegengewicht zur Konzentration qualitativer Forschung
auf Einzelfallstudien zu liefern, indem sie es erlaubt, den diskursiven Kontext
Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse 71
9 Wenn Foucault einräumt, dass das provisorisch festgelegte Gebiet "im Lauf der Ana-
lyse umgestoßen und, wenn nötig, neu organisiert" werden müsse (Foucault 1981:
45), beschreibt er eine Bewegung, die dem hermeneutischen Zirkel nicht unähnlich
ist: Während einerseits die einzelnen Elemente oder Fragmente einer diskursiven
Formation nur im Blick auf die unterstellte ,Einheit' des Diskurses ausgewählt wer-
den können, dem sie vermutlicher Weise angehören, muss diese ,Einheit' umgekehrt
auf der Basis der Analyse ihrer Elemente modifiziert oder gänzlich neu bestimmt
werden.
Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse 73
Literatur
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der Erziehung. In: Dieter Lenzen (Hrsg.): Enzyklopädie Erziehungswissenschaft. Bd.
1, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 55-78.
Dirk Rustemeyer
Unmöglich wirklich
1.
Die dominierende Figur der abendländischen Vernunft besitzt die Faszination
einer Tautologie, deren Form Wahrheit ist. In ihr bestimmt sich das Denken
als Bewegung der Selbstunterscheidung von einem Sein, mit dem es sich in
der Idealität seiner Inhalte kongruent weiß. Logik, Begriff und Zeit repräsen-
tieren Unterscheidungen des Denkens in bezug auf Seiendes, die zugleich als
Ordnungen der Differenz vom Sein unterschieden und in seinem Namen un-
terlaufen werden. Wahrheit erscheint als Unveränderlichkeit des immer
schon Gewesenen. In der Ruhe des Wissens fällt das Denken mit dem Ge-
wussten in reiner Gleichzeitigkeit zusammen. Seine eigene Bewegung ent-
faltet das Eine und Bleibende in der Zeit, die es in sich als Einheit von Zeit-
differenzen absorbiert. Lernen gewinnt die Signatur einer Erinnerung, in der
es sich aneignet, was es schon weiß. Anamnesis wiederholt die Form der
Ontologie: Denken, das Sein ist, erkennt in seinen eigenen Bestimmungen
sich als Reflex eines Unvordenklichen, das sich nur in ihm als ihm vorgängi-
ges und es begründendes Sein offenbart. Dieses Modell des Wissens und des
Lernens findet im Platonischen Mythos der sich erinnernden unsterblichen
Seele einen metaphorischen Ausdruck. Kritik und Selbstreflexion, in denen
das Denken sich erfasst und die Bestimmungen des Seienden prüft, begrün-
den das immer schon Wahre und Gewisse. Die Vertrautheit des Denkens mit
sich selbst in seinen eigenen Operationen ist gewisser als jeder Inhalt der
Vorstellung oder jede Bestimmung innerhalb der Welt. Von Platons Dialektik
über Augustinus' Gotteslehre bis zu Decartes' Zweifelsargument und Fichtes
absolutem Ich gehört diese Überzeugung zu den konstitutiven Merkmalen
abendländischer Vernunft und ihrer Idee von Wissen und Lernen.
Diese Signatur der abendländischen Vernunft dichtet sie gegen Kontin-
genz ab. Ihr Ideal ist das Notwendige, das, als Zeitloses, nicht anders möglich
ist. Hegels Bildungsphilosophie bündelt die antiken und christlichen Vor-
stellungen eines nichtkontingenten Seins noch einmal in einer Theorie des
absoluten Geistes, der seine eigene zeitliche Entfaltung als weltgeschichtliche
Tautologie durchschaut, in der die Logik der Differenzen als Explikation ei-
ner absoluten Identität erscheint. Das Wissen von der Welt, die Ordnung des
Begriffs gleicht eher einer Selbstinspektion als einem Lernen von den Kon-
78 Dirk Rustemeyer
tingenzen der Welt. Kontingent Seiendes ist letztlich nicht von Interesse. An-
dere Möglichkeiten des Wirklichen fallen ins Nichtsein. Die Ordnung der
Welt ist gut - als Kosmos, Schöpfung oder Vernunft. Wirkliches ist vernünf-
tig und Vernünftiges wirklich, weil Sein und Vernunft in einer Logik der
Identität koinzidieren. Selbst posthegelianische Vorstellungen einer inner-
weltlichen Emanzipation vom Wirklichen zugunsten besserer Möglichkeiten
nehmen für sich ein gewisses Wissen in Anspruch, das die Revolution ihrer
eigenen Notwendigkeit versichert. Noch in der Rebellion gegen die Ordnung
führt die Vernunft ihr beruhigendes Regiment. Was für die episternischen
Fragen einer Erkenntnis des Seienden als innerweltlich Vorhandenen gilt,
findet ein Äquivalent auf der Ebene der Moralphilosophie. Auch diese ver-
sucht, sich nach der Lösung von christlichen Verankerungen in einer Güte
der Schöpfung in notwendigen Strukturen selbst zu begründen. Der Notwen-
digkeit des Seins korrespondiert in der Figur der Vernunft eine Notwendig-
keit des Seinsollenden. Die Erkenntnis der Welt entspricht einer Selbster-
kenntnis des modemen Subjekts, die seiner eigenen Seinsmöglichkeit den
Charakter einer moralischen Nichtkontingenz aufprägt.
Gegenüber diesem Konzept der Vernunft sind die Versuche eines Den-
kens der Kontingenz entweder selbst als notwendige Formen der Vernunft
behandelt oder aber theoriegeschichtlich an den Rand gedrängt worden. Die
Arbeiten Michel Foucaults gewinnen ihre Bedeutung daraus, dass sie pro-
grammatisch und auf der Ebene historischer Rekonstruktionen das Denken
anderer Möglichkeiten des Wirklichen rehabilitieren. Sie greifen damit auf
Traditionen einer Moralistik von Montaigne bis Nietzsche zurück, die stets
skeptisch gegenüber den Ambitionen einer notwendigen Vernunft blieb.
Foucault hat diese Intention eines Denkens der Kontingenz sowohl wissen-
schaftlich als auch politisch entfaltet. Sein Konzept der Macht, des Wissens
und des Selbst bieten seiner "Genealogie" das begriffliche Instrumentarium,
um die Struktur des "Seienden" als eines kontingent Bestimmten zu be-
schreiben. An diese Signatur der Foucaultschen Arbeit kann eine Theorie der
Sinnbildung anknüpfen, auch wenn sie dem Fluchtpunkt seiner Genealogie
im Detail nicht folgt. Wissensformen strukturieren und erzeugen eine Wirk-
lichkeit ebenso wie sie eine Wirklichkeit repräsentieren. Erzeugung, Durch-
setzung und Bewahrung von Wissen gründen auf kognitiven Dispositionen
und symbolischen Ordnungen ebenso wie auf leiblichen Habitualisierungen
und institutionellen Voraussetzungen, auf kulturellen Alternativen und tem-
poralen Verweisungshorizonten. Theorie verwandelt sich von der Instanz der
Suche nach gewissem Wissen zur Instanz der Reflexion auf andere Möglich-
keiten des Bestimmten. Das Fehlen von theoretischer Gewissheit verlangt die
Suche nach praktischen Formen des Einbezugs anderer Möglichkeiten als be-
stimmter Unbestimmtheiten. Das Mögliche gewinnt so an Bedeutung gegen-
über dem Wirklichen und Notwendigen. Daraus ergeben sich empirisch ope-
rationalisierbare Beobachtungsprogramme, die Wirkliches als Variante des
Möglichen erfassen. - Nach einer theoriesystematischen Skizzierung des
Kontextes, in dem eine Theorie der Kontingenz ihren Stellenwert gewinnt
Unmöglich wirklich 79
(2.), wird die Bedeutung der Überlegungen Michel Foucaults zu einer Ge-
nealogie des Wissens für eine Theorie der modemen Kultur diskutiert (3.).
Dabei deutet sich die Möglichkeit an, das Projekt einer Genealogie zu einer
Theorie der Kultur weiterzuentwickeln. Dies gelingt allerdings nur um den
Preis einer Lösung von den pädagogisch-existentiellen Motiven des späten
Foucault (4.).
2.
Traditionell zielt die Frage nach dem Wissen auf das Sein. Nur das, was ist,
kann Korrelat wahren Wissens sein. Die Reflexion auf die Einheit und die
Differenz von Sein und Wissen führt jedoch auf die modale Unterscheidung
von Notwendigkeit, Wirklichkeit und Möglichkeit. Noch innerhalb der onto-
logischen Einheit von Sein und Wissen entfaltet sich so eine Differenz, deren
logische, epistemische und temporale Implikationen das abendländische
Konzept des Wissens langfristig unterminieren. Die aristotelische Unter-
scheidung zwischen realer und logischer Möglichkeit eröffnet einerseits dem
Wissen einen Zugang zur Zeit und Erfahrung, indem es Werden und Bewe-
gung anerkennt. Andererseits bereitet sie langfristig die Abkopplung eines
realen Möglichkeitsbegriffs von einem epistemischen vor, der das Problem
der Kontingenz in radikaler Weise aufwirft. Nun stellt sich nämlich das Not-
wendige und Wirkliche als Variante des Möglichen dar. Mögliches kennt
seinerseits keinen realen Gegenhalt mehr, sondern erweist sich als Resultat
temporaler Operationen und epistemischer Unterscheidungen.
Für Aristoteles gilt als möglich sowohl das Werden aufgrund eines Ver-
mögens der Veränderung als auch das Sein, das als Möglichkeit des Zu-
Werdenden Voraussetzung des Werdens selbst ist (vgl. Aristoteles 1989;
1987). Wirklich möglich heißt Aristoteles erstens dasjenige, das noch nicht
ist, zweitens das im Gegensatz zur Notwendigkeit stehende Mögliche oder
Kontingente sowie drittens das im Notwendigen liegende Mögliche als des-
sen Voraussetzung. Nicht notwendiges Wirkliches scheidet aus dem Bereich
der Wissenschaft aus, die auf Notwendiges und Allgemeines zielt (vgl. Aris-
toteies 1989: V 12f.). Denkmöglich wiederum ist einerseits die noch nicht
verwirklichte, andererseits die nur abstrakt allgemeine Vernunfterkenntnis
(vgl. ebd.: XIII 10). Logisch wird das Mögliche gegen das Unmögliche und
gegen das Notwendige abgegrenzt, wobei Aristoteles von der Widerspruchs-
freiheit des Seins selbst als ontologischer Prämisse ausgeht, die ihrerseits die
Möglichkeit wahren Wissens begründet (vgl. ebd.: IV 3ff.).
Diese ontologische Verklammerung einer modalen Differenz, wie sie
sich bei Aristoteles findet, hat die christliche Tradition von Augustinus über
Thomas von Aquin bis Nikolaus von Kues schöpfungstheoretisch transfor-
miert. In Gott als der Einheit der modalen Differenzen fallen reale und logi-
sche Möglichkeit so zusammen, dass sie bereits vor ihrer Welt-Wirklichkeit
80 Dirk Rustemeyer
oder des Geistes als der Einheitsformel, die entweder als Einheit des wirklich
Möglichen oder als Einheit des Notwendigen unter Ausschluss anderer Mög-
lichkeiten bestimmt wird. Die Tradition eines ontologischen Wissensbegriffs
von Aristoteles bis Hegel konzipiert mithin die Möglichkeit als sekundär ge-
genüber der Wirklichkeit und Notwendigkeit. Für das Wissen von der empi-
rischen Welt des Werdens ist diese Differenz jedoch zunehmend folgenlos.
Dies hat Kant herausgearbeitet, indem er die notwendige Bedingung der
Einheit der Möglichkeit von der göttlichen Vernunft in die menschliche ver-
lagert. Möglichkeit gründet nicht länger in der Realstruktur des Seienden,
sondern in den formalen Erkenntnisvoraussetzungen des epistemischen Sub-
jekts, die das Sein der Dinge zu Erscheinungen depotenzieren. Die modale
Differenz im Schema der Ontologie, wie Aristoteles sie mit seiner Unter-
scheidung zwischen realer und logischer Möglichkeit einführt, gewinnt bei
Kant eine Schärfe, die das Schema der Ontologie und des mit ihr korrelieren-
den Wissensbegriffs sprengt. Demnach ist möglich, was mit den formalen Er-
fahrungsbedingungen, und wirklich das, was mit den materialen Bedingun-
gen der Erfahrung, den Empfindungen, zusammenstimmt (vgl. Kant 1956: A
218). Zwischen begrifflich-logischen Bestimmungen und Sein klafft nun ein
Abgrund, den keine Theorie der Einheit des Möglichen, Wirklichen und
Notwendigen mehr schließt.
Kant markiert einen theoriestrategischen Bruch, der die Kategorie des
Möglichen für eine Neubestimmung freigibt und sie erkenntnistheoretisch
aufwertet. Wenn die Einheit modaler Differenzen nicht länger in einem wi-
derspruchslosen Sein oder einer absoluten Gottesinstanz abgesichert wird,
erlangt das Mögliche tendenziell ein Übergewicht gegenüber dem Wirklichen
und Notwendigen. Wirkliches kann auf seine Möglichkeitsbedingungen be-
fragt werden, die ihrerseits nicht, wie noch die Transzendentalphilosophie
annimmt, notwendig sein müssen, sondern sich als wirkliche nur im Gegen-
licht anderer Möglichkeiten und Erfahrungen profilieren. Das Denken der
Möglichkeit geht deshalb mit einer Radikalisierung der Zeitlichkeit, aber
auch der Materialität der Erkenntnis einher. Einerseits bestimmt sich Seien-
des, wie Heidegger aufzeigt, in bezug auf ein Dasein, das selbst konstitutive
Möglichkeit ist (vgl. Heidegger 1979). Andererseits erscheint es, wie die
Phänomenologie Husserls demonstriert, vor dem Hintergrund eines simulta-
nen Horizontes anderer Möglichkeiten. Solche Möglichkeiten des Wirklichen
hängen aber, wie eine symboltheoretische Transformation der kantischen Ar-
gumentation von Vaihinger über Cassirer bis Goodman nahelegt, in ihrer
wirklichkeitskonstitutiven Möglichkeit nicht nur von Strukturen des Be-
wusstseins, sondern von Symbolordnungen ab, die, als kontingente, auf ande-
re Möglichkeiten des Wirklichen hinweisen (vgl. Vaihinger 1986; Cassirer
1987; 1994; Goodman 1990). Wirkliches ist ein Spezialfall des Möglichen,
und es bestimmt sich vor dem Hintergrund bestimmter Möglichkeiten nur im
Kontext semiotischer Ordnungen möglicher Referenzen, die ihrerseits zeitli-
che Operationen sind. Dies gilt folgerichtig auch für die Ordnungen des Wis-
sens. Korrelat des Wissens ist kein Sein und keine Notwendigkeit. Sein heißt
82 Dirk Rustemeyer
eigene Gesellschaft enthüllt (vgl. Montesquieu 1991; 2000; vgl. zum Kon-
text: Rustemeyer 2001; 2003). Nietzsches Genealogie der Moral forciert mo-
ralistische Einsichten zu einer Theorie, in der das Ich und die Vernunft zum
Effekt eines anonymen, in Ressentiments und Leidenschaften wie in gram-
matischen Zwängen fundierten Denkgeschehens depotenziert werden (vgl.
Nietzsche 1988: 9-244). Die Welt der Vernunft entlarvt Nietzsche als eine
Zeichen-Welt, in der die Vernunft sich in ihre eigene Mythologie verstrickt.
Den Bedingungen der Möglichkeit eines nichtkontingenten Denkens kon-
frontiert er die Bedingungen der Nötigkeit eines Wesens, dessen Leben stets
ein Streben nach "Macht" ist. Die Beobachtung von Unterschieden, die Her-
ausarbeitung kontingenter Möglichkeiten des Seienden löst das Projekt einer
Metaphysik ab, die mit einem zeitlosen Denken und einer notwendigen Ver-
nunft rechnet.
3.
Vor diesem historisch-systematischen Hintergrund gewinnen die Arbeiten
von Michel Foucault ihr Profil. Sie nehmen verschiedene Motive einer ver-
nunftkritischen Reflexion auf und wenden sie zu einem wissenschaftlichen
Beobachtungsprogramm, das im "Sein" die Spielräume von Abweichungen
erkundet. Mit dieser philosophisch-empirischen Doppelstruktur haben sie
nachhaltig dazu beigetragen, die Immanenz eines Denkens der "Vernunft" zu
sprengen. Ein Denken der Kontingenz jenseits der Logik einer selbstbezügli-
chen Vernunft gewinnt die Kontur einer historischen Analyse von Wissens-
formen. Das treibende Motiv ist nicht eine reine Erkenntnis nach dem Modell
tautologischer Vernunft, sondern die Neugier auf eine Distanzierung des
scheinbar Notwendigen. Andere Möglichkeiten aber müssen in ihrer Wirk-
lichkeit erzeugt statt bloß erkannt werden. Anstatt das Denken auf Rechtfer-
tigung zu verpflichten, möchte Foucault erproben, "wie und wie weit es
möglich wäre, anders zu denken" (Foucault 1986: 18). Rationalität ist eine
Praktik, deren Form nicht abstrakter Logik, sondern sozialen Beziehungen
folgt. Einer Vernunftskepsis, die sich noch immer als Vernunft etabliert, kon-
frontiert Foucault eine empirische Rekonstruktion der Genealogie von "Ver-
nunft" selbst.
An die Stelle einer dialektischen Ordnung der Begriffe, die als Bestim-
mungen des Seienden fungieren und ihre Relationalität dem reflektierenden
Denken preisgeben, tritt ein methodisches Arrangement von "Aussageereig-
nissen", die zu Serien, Feldern und Dispersionsräumen gruppiert, ihrer ver-
meintlichen Homogenität entrissen, ihrer Linearität und Kontinuität beraubt
und schließlich in Praktiken der Macht fundiert werden. Diskurse verklam-
mern Worte und Dinge zu eigenlogischen Räumen, die weder zu einer Ord-
nung der Natur noch zu einer Ordnung des Denkens einfach homolog sind
(vgl. Foucault 1981). Die Tätigkeit des Bestimmens holt kein vorgängig Sei-
Unmöglich wirklich 85
endes in die Erkenntnis, sondern erzeugt als Praxis, was eine Mythologie der
Erkenntnis zu einem an sich Seienden hypostasiert. Das Denken oder das
Subjekt verlieren ihren zentralen Ort der Reflexion, um sich als Effekt dis-
kursiver Positionen, Regeln und Diskontinuitäten zu erweisen. Aber im Den-
ken der Kontingenz wird keineswegs die Notwendigkeit einer tautologischen
Vernunft durch ein Spiel des geschichtlichen Zufalls substituiert. In den Dis-
persionsfeldern der Diskurse regiert vielmehr ein System von Abhängigkei-
ten, Ein- und Ausschlussverhältnissen, semantischen Repertoirs, Klassifika-
tionen, sozialen Positionen, möglichen Strategien der Umkehrung oder Logi-
ken der Transformation (vgl. Foucault 1977). Diskurse erzeugen Referentiale
für Bestimmungen, die Seiendes historisch konstituieren (vgl. Foucault 1981:
133). Die Einheit der Vernunft pluralisiert sich in die Mehrheit ,,historischer
Aprioris". Sie stellen Koexistenztableaus für Bestimmungen dar, sind aber
weder transzendental noch anthropologisch fundiert. Epistemologische
Schwellen transformieren Sagbares zu formalisierten, in kohärenten Ver-
knüpfungssystemen fixierten Regeln des Sprechens, die dem Denken seine
historischen Möglichkeiten vorschreiben. Renaissance, Klassik und Modeme
repräsentieren in Foucaults Rekonstruktion solche historischen Aprioris, de-
ren Diskontinuität die lllusion einer linearen Entwicklung der Vernunft hin
zur modemen Wissenschaft vor Augen führt (vgl. Foucault 1974).
Ein Denken, das die empirischen Regeln des Denkens in kontingenten
historischen Konstellationen ansiedelt, ist für Foucault "kritisch" in einem
nachaufklärerischen Sinne. Hatte Kant die Vernunft als ein reflexives Verfah-
ren begründet, in dessen Vollzug sich das Denken einem "Gerichtshof' stellt,
der Regeln apriori zur Geltung bringt, versteht Foucault das Geschäft der
Kritik als eine "Haltung". Grenzen der Erkenntnis zu erkennen bedeutet
demnach nicht, die universellen Regeln eines Denkens freizulegen und einen
ersten Grund oder eine reine Form aller Bestimmungen aufzufinden, sondern
die kontingenten Zwänge zu identifizieren, die in bestimmten Situationen zu
bestimmten Zeiten für bestimmte Akteure Grenzen des Denkbaren und Sag-
baren aufrichten (vgl. Foucault 1992: 18). Hinter den vermeintlichen Positi-
vitäten verbergen sich Ausschlussbeziehungen, die nicht logisch, sondern hi-
storisch begründet sind. Ihre Kritik kann deshalb nicht darauf beschränkt
bleiben, logische Widersprüche zu identifizieren, um schließlich womöglich
der Versuchung zu erliegen, in der Einheit der Widersprüche eine tiefere
Wahrheit zu entziffern, die über Sinnlosigkeiten der historischen Kontingen-
zen evolutionär hinwegtröstet. Vielmehr muss sie veränderliche Regeln be-
schreiben, die in Form von Praktiken die Welt so serniotisieren, dass sie
Handlungen, Intentionen, Worte, Institutionen und Theorien aufeinander ab-
stimmen. Medizin, Justiz, Psychiatrie oder Sexualität bieten Beispiele dafür,
wie Macht-Wissens-Komplexe Ordnungen des Sprechens, Denkens und
Handeln konstituieren, die sich in Institutionen und Wissenschaften, in Pro-
zeduren der Subjektkonstitution, der Sozialisierung und der Selbstbeschrei-
bung niederschlagen (vgl. Foucault 1973a; 1973b; 1977; 1983). Der Blick
von außen, den Foucault von innen her auf den Diskurs der Gegenwart rich-
86 Dirk Rustemeyer
scheint die politische Konsequenz eines Denkens der Kontingenz als Projekt
einer Selbsterziehung des seine kontingente Konstitution reflektierenden
"Selbst". Die Zumutung der Personenveränderung, durch deren systemati-
sche gesellschaftliche Installierung Pädagogik sich als Sinnform konstituiert
(vgl. Rustemeyer 2003), nimmt hier die Gestalt einer permanenten, kontrol-
lierten, aber ateleologischen Selbstveränderung an. Selbstbeobachtung geht
mit der Beobachtung kultureller Möglichkeiten, sozialer Institutionen, sym-
bolischer Ausdrucksformen und temporaler Veränderungsdynamiken einher.
Auch wenn Foucaults Vernunftkritik sich von einem Emanzipationsmo-
dell abwendet, das in der Geschichte hinter den kontingenten Ereignissen
oder dem Spiel der Macht eine Logik der Befreiung entdecken will, bleibt
sein Denken an eine Struktur der Negation gebunden, das ihn in die Nähe ei-
ner "kritischen Theorie der Gesellschaft" rückt. Nicht von ungefähr richtet
der späte Foucault sein Interesse von der Analyse epistemischer Aprioris und
einer Genealogie der Vernunft im Zusammenspiel mit Machtpraktiken auf
Prozesse der Konstitutierung von "Subjektivität". Die Formierung der Kör-
per, des Denkens, der Bedürfnisse und der Anerkennung steht nun im Zen-
trum eines Forschungsprogramms, das nach den anderen Möglichkeiten des
Wirklichen fragt. Auch wenn diese modeme Subjektivität Produkt von
Machtbeziehungen ist, will Foucault ihre Möglichkeiten erweitern, ohne sich
dem Traum einer Emanzipation oder einer rationalen Selbstbestimmung hin-
zugeben. An deren Stelle tritt die Vision einer "Kunst" der Existenz, die ei-
nen neugierig-kontrollierten Umgang mit den eigenen Möglichkeiten er-
schließt (Foucault 1986: 305). Die Theorie des Subjekts wird aus einer Philo-
sophie des Bewußtseins herausgelöst und einem Denken der "Sorge" um sich
zugeordnet. Diese Sorge beschreibt einen praktischen Umgang mit "sich",
der sich in bezug auf Andere und auf zukünftige Möglichkeiten seiner selbst
reflektiert verhält. Hierzu bedarf es nicht nur der Reflexion eines sich als
zeitlich begreifenden Daseins, sondern der Beherrschung von Praktiken und
Techniken der Selbsttransformation. Damit unterscheidet Foucaults "prakti-
sche" Philosophie der Selbstsorge sich von Heideggers Figur der Eigentlich-
keit, der es um die Durchbrechung der Verfallenheit des "Man" in der radi-
kalen Erfahrung einer Zeitlichkeit des Daseins im Modus der Angst und im
Vorlauf zum Tode geht (vgl. Heidegger 1979: §§ 39ff.). Heideggers Vor-
stellung eines sich zu sich verhaltenden und sich aus seinen Möglichkeiten
heraus verstehenden "Daseins" bleibt hinsichtlich einer Praktik der Selbst-
transformation abstrakt, obwohl es "Sein" in Möglichkeiten und damit in
Zeitlichkeit fundiert. Heideggers Gedanke, dass im ausgezeichneten Selbst-
verhältnis der "Eigentlichkeit" die Unterscheidung theoretischen und prakti-
schen Verhaltens hinfällig wird, findet jedoch bei Foucau1t sein Analogon in
der ausgezeichneten Struktur der Selbstsorge, wenngleich er die weitreichen-
den Konnotationen des Heideggerschen Terminus vermeidet. Es wird ein
Existenzmodus ins Auge gefasst, der in Reflexion und Praxis neuzeitliche
Differenzierungen der Vernunft unterläuft. In der Heideggerschen Eigent-
lichkeit vermag das Dasein sein kontingentes Geworfensein zu reflektieren,
88 Dirk Rustemeyer
4.
Im Zentrum des Denkens der Kontingenz, wie Foucault es betreibt, steht die
Geste der Selbstdistanzierung. Nicht der Kontakt eines Denkens mit sich,
dem die Form der Beziehung der Reflexion gewisser und wichtiger ist als der
Inhalt, garantiert Erkenntnis, sondern die Bewegung der Unterscheidung, die
sich in kontingenten Bestimmungen ateleologisch weiterbewegt. Als Opera-
tion ist dieses Denken in einem habitualisierten, in Dispositiven der Macht
geformten Leib inkorporiert. Es ist damit an die Kontingenz seiner Inhalte
und die Situiertheit seiner Erfahrung gekoppelt. Als Praxis einer Verfrem-
dung, die nicht weiß, wohin sie führt, sondern sich von ihren eigenen Effek-
ten überraschen lässt, erfährt es sich selbst. Theorie wird zum Mittel der Re-
flexion auf Ereignisse, die einer beweglichen Arbeit der Negation von Be-
stimmtheiten entspringen. Solche "Kritik" weicht einer Logik des Wider-
spruchs aus. Eher zeigt sie die Signatur eines Differenzierungsgeschehens,
das die Elastizität von Grenzen und Regeln herausfordert. Methoden archäo-
logischer und genealogischer Konstruktionen von Tableaus des Sagbaren
unterstützen seine Bewegung einer Distanzierung von Seiendem als Be-
stimmtem. Freiheit als Selbstkonstitution bedeutet eine ateleologische Bewe-
gung der erprobenden Veränderung. Sie hat wenig mit einem Bildungspro-
zess gemeinsam, der das Modell einer vernünftigen Geschichte auf das Ein-
90 Dirk Rustemeyer
nunft erblickt. Aber die Kultivierung des Selbst in der Sorge um seine noch
unbekannten Möglichkeiten ist, wie der Genealoge Foucault weiß, eine Vor-
stellung, die an die Diskursformation der Gegenwart gebunden ist. Diese Ge-
genwart erzeugt in ihrer Wirklichkeit einen Raum des Möglichen, der sich in
jeder sinnhaften Bestimmung reproduziert und verformt. Für diesen Raum ist
es charakteristisch, die Figur des Subjekts nach dem Modell einer Selbstreali-
sierung zu konzipieren und ihm eine Autonomie für seine Lebensführung zu-
zusprechen. Diese Annahme liefert die Grundlage für sich "links" verstehen-
de Theorien einer Emanzipation aus gesellschaftlichen Verhältnissen, die den
Möglichkeitsreichtum der Einzelnen vermeintlich strangulieren, ebenso wie
für (neo-)konservative Modelle einer Selbstverantwortung des Einzelnen ge-
genüber den Kontingenzen seines Schicksals, die soziale Determinanten ge-
sellschaftlicher Unterschiede bagatellisiert. Foucaults Modell der Selbstsorge
deutet diese Figur ästhetisch und steigert sie zu einer individualistischen Pä-
dagogik der reflektierten Selbsttransformation. Verfremdung und Verände-
rung sind die entscheidenden Merkmale solcher ateleologischen "Bildungs-
prozesse". Der Rückgriff auf antike Vorbilder wirkt angestrengt, weil es dort,
etwa für Aristoteles, nicht darum geht, eine unermüdliche Arbeit der Selbst-
transformation zu verrichten, sondern die Fähigkeit zu erwerben, mit den
Kontingenzen des Lebens auf vernünftige Weise umzugehen (vgl. Aristoteles
1985). Die dazu erforderliche Klugheit hat etwas mit einer Vernunft zu tun,
aus deren Schatten Foucaults praktische Philosophie der Kontingenz sich lö-
sen möchte, weil sie auf einer sprachlich organisierten rationalen Begründung
alternativer Optionen des Denkens und Handeins beruht. Bloße Selbstverän-
derungen bleiben, auch in reflektierter Form, so unvermeidlich wie politisch
unspezifisch. Erst die Relationierung spezifischer Möglichkeitsprofile mit
dem konstruierten Raum alternativer Optionen eröffnet Vergleichsmöglich-
keiten, die sich politisch symbolisieren lassen.
Für eine Theorie der Kultur hingegen lässt sich ein Denken der Kontin-
genzen auch anders nutzen. Räume des historisch jeweils Denk- und Sagba-
ren, wie Foucault sie rekonstruiert, konstituieren Möglichkeiten der sinnhaf-
ten Bestimmung, die stets reichhaltiger sind als die von sozialen Akteuren
jeweils realisierten. Die Differenz zwischen dem Wirklichen und dem Mögli-
chen ist theoretisch zu beschreiben, indem Muster differentieller Selektivitä-
ten konstruiert werden. Für verschiedene soziale Akteure stehen unterschied-
liche Spektren des Denkens und Handeins zur Verfügung. Diese Spektren
korrelieren mit differentiellen zeitlichen Horizonten des Erfahrens und Er-
wartens, und sie hängen mit verschiedenen symbolischen Chancen der Arti-
kulation von Bedürfnissen oder des Zugangs zu symbolisch codierten kultu-
rellen Möglichkeiten zusammen. Prozesse der Subjektkonstitution profilieren
diese Dimensionen der Sinnbildung im Blick auf "Personen". Diese soziale
Fokussierung lässt Reliefs der Verschränkung symbolischer, sozialer, tempo-
raler und kultureller Differenzen in der theoretischen Beschreibung zutage
treten. Jeweilige Wirklichkeiten bilden dabei die andere Seite bestimmter
Möglichkeiten. Sozialisations- und Bildungskarrieren konstituieren ebenso
92 Dirk Rustemeyer
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94 Dirk Rustemeyer
Ewald kommentiert ergänzend, dass es keinen Sinn habe, "sich zu fragen: Warum
sollte man sich verwandeln, sich ändern? Das nämlich ist die Frage des Sklaven, der
die Unterwerfung unter einen Vorteil sucht. Nicht für etwas sollte man sich verändern,
sondern gegen etwas, gegen was?" (Ewald 1990: 93).
96 fan Massehelein
Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen
kann, als man sieht, zum Weiterschauen oder Weiterdenken unentbehrlich ist.
Man wird mir vielleicht sagen, dass diese Spiele mit sich selber hinter den
Kulissen zu bleiben haben; und dass sie bestenfalls zu den Vorarbeiten gehö-
ren, die von selbst zurücktreten, wenn sie ihre Wirkungen getan haben. Aber
was ist die Philosophie heute - ich meine die philosophische Aktivität -,
wenn nicht die kritische Arbeit des Denkens an sich selber? Und wenn sie
nicht, statt zu rechtfertigen, was man schon weiß, in der Anstrengung liegt,
zu wissen, wie und wie weit es möglich wäre, anders zu denken? Es ist im-
mer etwas Lächerliches im philosophischen Diskurs, wenn er von außen den
andern vorschreiben und vorsagen will, wo ihre Wahrheit liegt und wie sie zu
finden ist, oder wenn er ihnen in naiver Positivität vorschreiben will, wie sie
zu verfahren haben. Aber es ist sein Recht, zu erkunden, was in seinem eige-
nen Denken verändert werden kann, indem er sich in einem ihm fremden
Wissen versucht. Der , Versuch' - zu verstehen als eine verändernde Erpro-
bung seiner selber und nicht als vereinfachende Aneignung des andern zu
Zwecken der Kommunikation [une epreuve modificatrice de soi-meme] - ist
der lebende Körper der Philosophie, sofern diese jetzt noch das ist, was sie
einst war: eine Askese, eine Übung seiner selber, im Denken" (ebd.: 15-16).
Mit Blick auf die eigene Arbeit fahrt Foucault fort: "Es war eine philosophi-
sche Übung: es ging darum zu wissen, in welchem Maße die Arbeit, seine ei-
gene Geschichte zu denken, das Denken von dem lösen kann, was es im
Stillen denkt, und inwieweit sie es ihm ermöglichen kann, anders zu denken"
(ebd.: 16).
Verknüpft man nun beides miteinander, so zeigt sich, dass die Arbeit ei-
ner ,lebenden Negativität' heißt, sich ebenso von sich selber zu lösen, wie
zugleich auch das Denken von dem zu lösen, was es im Stillen denkt. Diese
doppelte ,Lösung' geschieht dadurch, sich in einem ,fremden Wissen', durch
eine , verändernde Erprobung seiner selber' zu versuchen; dabei ist - wie
Foucault an anderer Stelle ausführt - "die Kritik dessen, was wir sind, zu-
gleich die historische Analyse der uns gegebenen Grenzen [... ] und ein Expe-
riment der Möglichkeit ihrer Überschreitung" (Foucault 1990: 53), so dass -
wie Ricken schreibt - Kritik immer eine bestimmte "Grenzarbeit" (Ricken
2000: 28) ist. Ist aber die philosophische Aktivität als ,Arbeit an sich selbst'
immer eine experimentelle Aktivität, so ist sie zwangsläufig mit einer Erfah-
rung verbunden, in der die Subjektivität auf dem Spiel steht: eine Grenzerfah-
rung, "die das Subjekt von sich selbst losreißt" und daran hindert, "derselbe
zu sein" (Foucault 1996: 27). Diese ,negative' Aktivität kann - so möchte ich
versuchen anzudeuten - als eine ,e-dukative Praktik' beschrieben werden,
und zwar in einem Sinn, der von Foucault selbst benannt worden ist, nämlich:
nicht im Sinne von ,educare', sondern von ,educere': "tendre la main, sortir
de la, conduire hors de la [die Hand reichen, hinausbringen, hinausführen]"
(Foucault 2001: 129). Folgt man Foucault, so ist eine ,e-dukative Praktik'
nicht (oder nicht nur) der Erwerb von Wissen oder Können, die die Ignoranz
und Inkompetenz aufzuheben vermögen, sondern "une certaine action qui va
,Je viens de voir, je viens d' entendre' 97
etre operee sur l'individu, [... ] une sorte d'operation qui porte sur le mode
etre du sujet lui-meme [eine bestimmte Aktion, die am Individuum durchge-
führt wird, [...] eine Art Operation, die auf die Seinsweise, oder Seinsart des
Subjektes selbst ausgerichtet ist)" (Foucault 2001: 130). Eine ,e-dukative
Praktik' ist eine Praktik des Untergehens oder des Sterbens (des Subjekts),
die das Leben bis in den Tod akzeptiert.
Ich möchte in meinen Überlegungen nun versuchen, diesen Gedanken
einer ,Entsubjektivierung' als einer ,e-dukativen Praktik' zu verdeutlichen,
indem ich von einem Beispiel, das Foucault selbst von einer solchen negati-
ven ,e-dukativen Praktik' gibt - das Schreiben (und das Lesen) von ,Erfah-
rungsbüchern' -, ausgehe (1) und dieses kommentiere (2), bevor ich wenige
Schlussfolgerungen andeute (3). Voran gestellt seien jedoch vier kurze Vor-
bemerkungen:
Erste Vorbemerkung: Wenn Foucault die, verändernde Erprobung seiner
selber' als den lebenden Körper der Philosophie versteht, dann bezieht er sich
auf eine in der Antike vorherrschende Bewegung, in der Philosophie nicht
von Spiritualität (und Pädagogik/Psycho-agogik) getrennt werden kann - oh-
ne sich übrigens einfach und ohne weiteres dieser Bewegung zuzuordnen. In
der ersten seiner unter dem Titel ,L'hermeneutique du sujet' (Foucault 2001)
veröffentlichten Vorlesungen von 1982 behauptet Foucault, dass in der ganze
Antike - Aristoteles ausgenommen - das Thema der Philosophie (wie erlangt
man Zugang zur Wahrheit?) nie von dem Thema der Spiritualität (welche
Transformationen im Subjekt sind notwendig?) getrennt worden ist. Unter
Philosophie versteht er daher: "la forme de pensee qui s' interroge sur ce qui
permet au sujet d'avoir acces a la verite, la forme de pensee qui tente de de-
terrniner les conditions et les limites de l'acces du sujet a la verite [die Form
des Denkens, die sich fragt, wie das Subjekt zur Wahrheit gelangt, die ver-
sucht, die Bedingungen und Grenzen der Zugang zur Wahrheit zu bestim-
men)" (Foucault 2001: 16). Mit Spiritualität bezeichnet er: "la recherche, la
pratique, l'experience par lesquelles le sujet opere sur lui-meme les transfor-
mations necessaires pour avoir acces a la verite [die Forschung, die Praktik,
die Erfahrung - es geht um Purifikationen, Askese, Enthaltung, Umkehrun-
gen, Modifikationen der Existenz, etc. - über und durch die das Subjekt an
sich selbst die Transformationen durchführt, die notwendig sind, um die
Wahrheit zu erreichen]" (ebd.: 16). So ist die Wahrheit dem Subjekt nicht
durch einen einfachen Erkenntnisakt gegeben, einen Akt, der dadurch legiti-
miert und fundiert wäre (und werden könnte), dass der Erkennende Subjekt
ist und eine bestimmte Struktur hat; vielmehr ist - in antiker Perspektive -
die Wahrheit nur gegeben um einen Preis, die das Sein des Subjekts selbst
aufs Spiel setzt, weil das Subjekt so, wie es ist, nicht zur Wahrheit fahig ist
(vgl. Foucault 2001: 16-17). Es kann also keine Wahrheit geben ohne eine
Konversion ("une conversion,,2) oder Transformation des Subjekts, ein ,Keh-
2 Foucault verwendet immer wieder diesen Begriff der "conversion". Er könnte auf
Deutsch als Wende, Umwendung, Änderung, Übergang, Bekehrung, Umkehrung, Kehre
98 fan Massehelein
ren' (auch) gegen sich selbst. Zweierlei ist dabei bedeutsam (vgl. ebd.: 17):
erstens unterscheidet Foucault zwischen zwei Formen dieser Kehre, der Form
des Eros, einer Bewegung, die das Subjekt losreißt von seiner aktuellen Lage
und Bedingung ("condition"), und der Form einer Kehre, die das Ergebnis
einer Arbeit an sich selbst, einer Askese ("askesis") ist. Zweitens weist er
darauf hin, dass die Wahrheit - in dieser Auffassung - immer auf eine be-
stimmte Weise auf das Subjekt zurückwirkt ("effets de retour"), so dass die
Wahrheit weniger der bloße Vollzug (und die Vollendung) des Erkennt-
nisakts ist, sondern vielmehr das, was das Subjekt in seinem Subjektsein
transformiert: "La verite, c'est ce qui illumine le sujet; la verite, c'est ce qui
lui donne la beatitude; la verite, c'est ce qui lui donne la tranquillite de l'ame
[Die Wahrheit ist, was das Subjekt aufklärt, was ihm die Glückseligkeit gibt;
die Wahrheit ist, was ihm die Ruhe der Seele gibt (tranquillitas)]" (Foucault
2001: 18).3
Zweite Vorbemerkung: Wenn Foucault sich auf die ,Kehre' in der Antike
- als ,lebende Negativität' und vor allem als Askese - bezieht, dann ist es
ihm außerordentlich wichtig, von den beiden von Pierre Hadot unterschiede-
nen Formen der (christlichen) ,metanoia' und der (platonischen) ,epistrophe,4
eine dritte Form zu unterscheiden. Während die ,epistrophe' eine Erfahrung
des Kehrens bezeichnet, die als eine Rückkehr der Seele zu ihrem Ursprung
verstanden werden kann und daher eine Bewegung zurück zur Perfektion des
Seins und in die ewige Bewegung des Seins hinein markiert, der als funda-
mentaler Modus die ,anamnesis' zugrunde liegt, so folgt die ,metanoia' einer
gänzlich anderen Logik: in ihr geht es um eine radikale Erneuerung, eine Art
von, Wieder-Geburt' des Subjektes durch sich selbst, in deren Zentrum, Tod
und Auferstehung' als Erfahrung von sich selbst und als Erfahrung der Ent-
haltung des Selbst von sich selbst stehen. Nach Foucault aber gibt es noch ei-
ne dritte Form des ,Kehrens', die er in vielen seiner späteren Arbeiten anzu-
deuten versucht und die er das ,Kehren des Blicks' ("la conversion du re-
gard"), das ,Kehren des Blicks' auf sich selbst nennt (vgl. Foucault 2001:
207-210). Diese bedeutet jedoch einerseits nicht, sich selbst (und die Tiefe
des Selbst) zum Objekt des Wissens, der Analyse, Entzifferung und Refle-
oder Kehren übersetzt werden und all diese Bedeutungen könnten in der Tat mit ,con-
version' verbunden werden. Ich werde im folgenden hier ,Kehre' oder ,Kehren' ver-
wenden.
3 Foucault verweist auf die Ausnahme der Gnosis, die den Akt der Erkenntnis, der
selbst eine spirituelle Erfahrung wird, privilegiert, so dass das Sich-selbst-erkennen zu
einem göttlichen Element wird.
4 Diese Unterscheidung lauft auch parallel an die Unterscheidung zwischen zwei Mo-
delle der ,Epimeleia Reautou': das Platonische Model der Anamnese (das Erinnern
des Seins des Subjektes durch das Subjekt selbst) wo die Sorge um sich selbst und die
Selbsterkenntnis so wie die Selbsterkenntnis und die Erkenntnis des Seins identifiziert
werden; das christliche Model der Exegese (die Exegese des Subjektes durch das
Subjekt selbst) wo es darum geht die Art und Natur der innerliche Bewegungen der
Seele herausuzfinden und zu (er)lesen. (Foucault 2001: 245-246). Pierre Radot hat
später noch auf Foucaults Interpretation reagiert: Radot 1989; 1995.
,Je viens de voir, je viens d'entendre' 99
zu einer ,lebenden Negativität' macht. Aber, was ist dann mit (dem Subjekt)
dieser Entsubjektivierung? Was ist seine Negativität? Und wie ist es mit dem
Ethos als Grenzüberschreitung?
1.
Hier möchte ich nun den Faden wieder aufnehmen und mich auf ein Beispiel
konzentrieren, das Foucault selbst von einer solcher Ent-subjektivierungs-
praktik (oder negativen Übung) gegeben hat: das Schreiben und/oder Lesen
eines Erfahrungsbuches. Mir geht es darum anzudeuten, dass und wie das
Verweigern von Subjektivität erstens möglich ist, dass dieses zweitens ge-
fährlich (und unwiderruflich) ist, dass es drittens ein öffentliches und unkom-
fortables Unternehmen ist, und - schließlich viertens - dass diese Praktik
keine pastorale Sorge benötigt.
In einem bedeutsamen Interview mit Trombadori (1978i hat Foucault
die Bücher, die er geschrieben hat, im Unterschied zu Wahrheits- oder Be-
weisbüchern als ,Erfahrungsbücher' bezeichnet: "un livre-experience par op-
position aun livre-verite et a un livre-demonstration" (Foucault 1994 IV: 47;
vgl. Foucault 1996: 34). Ein Erfahrungsbuch ist selbstverständlich kein Buch
über Erfahrungen (und sicherlich nicht über individuelle Erlebnisse), sondern
ein Buch, dessen Schreiben und Lesen selbst eine Erfahrung ist: "Es ist also
ein Buch, das dem, der es schreibt, ebenso wie dem, der es liest, als eine Er-
fahrung dient, viel eher denn als Feststellung einer historischen Wahr-
heit [C'est donc un livre qui fonctionne comme une experience, pour celui
qui l' ecrit et pour celui qui le lit, beaucoup plus que comme constatation
d'une verite historique (45)]" (Foucault 1996: 30). Dabei geht es um Erfah-
rung "im vollsten Sinne, den man diesem Ausdruck beilegen kann. Eine Er-
fahrung ist etwas, aus dem man verändert hervorgeht [mes livres sont pour
moi des experiences, dans un sens que je voudrais le plus plein possible. Une
experience est quelque chose dont on sort soi-meme transfonne (41)] (Fou-
cault 1996: 24). In einem Erfahrungsbuch geht es nicht um die Kommunika-
tion dessen, was ich denke oder gedacht habe, bevor ich angefangen habe zu
schreiben, sondern darum, "dass das Buch ebenso mich verändert, wie das,
was ich denke [... ]. Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker [... ], der
ein allgemeines System errichtet, sei es ein deduktives oder ein analytisches
[... ]. Ich bin ein Experimentator in dem Sinne, dass ich schreibe [und lese],
5 Im folgenden zitiere ich - aufgrund der Zentralität der Weichenstellung überaus aus-
führlich - aus der erst 1996 erschienenen deutschen Übersetzung dieses Interviews,
die ich um die entsprechenden französischen Passagen bereichert und - falls notwen-
dig - in ihrer Übersetzung korrigiert habe. Die französische Fassung des Interviews
findet sich in Bd. 4 der Dits et ecrits (vgl. Foucault 1994 IV: 41-95); die jeweiligen
Seitenangaben im Anschluss an die französischen Passagen beziehen sich daher auf
diese Fassung.
,Je viens de voir, je viens d' entendre' 101
um mich selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor
[De sorte que le livre me transforme et transforme ce que je pense [... ]. Je
suis un experimentateur et non pas un theoricien [... ], qui battit un systeme
general soit de deduction, soit d ,analyse [... ]. Je suis un experimentateur en
ce sens que j' ecris pour me changer moi-meme et ne plus penser la meme
chose qu'auparavant (42)]" (ebd.: 24).
Der Hinweis Foucaults auf Georges Bataille, Friedrich Nietzsche, Mauri-
ce Blanchot und Pierre Klossowski, deren "Problem nicht darin bestand, ein
System zu konstruieren, sondern eine persönliche Erfahrung zu machen [que
leur probleme n'etait pas celui de la construction d'un systeme, mais d'une
experience personnelle (43)]" (ebd.: 26), mag zu einer Klärung beitragen. Er-
fahrung - so Foucault - ist hier nicht gemeint als die phänomenologische Er-
fahrung: "Die Erfahrung des Phänomenologen ist im Grunde eine bestimmte
Weise, einen reflektierenden Blick auf [... ] das Alltägliche in seiner vergäng-
lichen Gestalt zu richten, um dessen Bedeutungen zu erfassen. Für Nietzsche,
Bataille, Blanchot dagegen bestand Erfahrung in dem Versuch, an einen be-
stimmten Punkt des Lebens zu gelangen, der dem Nicht-Lebbaren so nahe
wie möglich kommt. Gefordert wird das Äußerste an Intensität und zugleich
an Unmöglichkeit. Die phänomenologische Arbeit liegt vielmehr darin, das
gesamte Feld von Möglichkeiten zu entfalten, die mit der alltäglichen Erfah-
rung verbunden sind [... ], um herauszufinden, inwiefern das Subjekt, das ich
bin, in seinen transzendentalen Funktionen tatsächlich grundlegend ist für die
Erfahrungen und diese Bedeutungen. Dagegen dient die Erfahrung bei Nietz-
sche, Blanchot, Bataille dazu, dass Subjekt von sich selbst loszureißen, der-
art, dass es nicht mehr es selbst ist, oder dass es zu seiner Vernichtung oder
zu seiner Auflösung getrieben wird. Ein solches Unternehmen ist das einer
Ent-Subjektivierung. Die Idee einer Grenzerfahrung [... ] - genau das war es,
was bei meiner Lektüre [... ] für mich wichtig war, und gen au diese Idee hat
mich dazu gebracht, meine Bücher [... ] stets als unmittelbare Erfahrungen zu
verstehen, die darauf zielen, mich von mir selbst loszureißen, mich daran zu
hindern, derselbe zu sein [L'experience du phenomenologue est [... ] une cer-
taine fa~on de poser un regard reflexif sur [... ] le quotidien dans sa forme
transitoire pour en saisir les significations. Pour Nietzsche Bataille, Blanchot,
au contraire, l'experience c'est essayer de parvenir 11 un certain point de la vie
qui soit le plus pres possible de l'invivable. Ce qui est requis est le maximum
d'intensite et, en meme temps, d'impossibilite. [... ] l'experience [... ] a pour
fonction d'arracher le sujet 11 lui-meme, de faire en sorte qu'il ne soit plus lui-
meme ou qu'il soit porte 11 son aneantissement ou 11 sa dissolution. C'est une
entreprise de de-subjectivation. L'idee d'une experience limite, [... ] voil11 ce
qui a ete important pour moi [... ] et qui a fait que [... ] mes livres, je les ai
toujours con~us comme des experiences directes visant 11 m'arracher 11 moi-
meme, 11 m'empecher d'etre le meme (43)]" (ebd.: 26f.). So sind Erfahrungs-
bücher Mittel, "zu einer Erfahrung zu gelangen, die eine Veränderung er-
laubt, einen Wandel in unserem Verhältnis zu uns selbst und zur Welt dort,
wo wir bisher keine Probleme sahen (mit einem Wort, in unserem Verhältnis
102 fan Massehelein
zu unserem Wissen) [une experience qui autorise une alteration, une trans-
formation du rapport que nous avons a nous-memes et au monde ou, jusque-
la, nous nous reconnaissions sans problemes (en un mot, avec notre savoir)
(45-46)]" (ebd.: 31). Es ist diese spezifische Erfahrungsperspektive, die
Foucault als das "Herz meines Unternehmens [c'est vraiment le creur de ce
que je fais (45)]" (ebd.: 32) bezeichnet hat.
Foucault weist selbst darauf hin, dass die Wahrheit dessen, was er sagt,
zugleich ein ebenso schwieriges wie zentrales Problem für ihn darstellt. Da-
bei geht es ihm aber weniger um eine epistemologische Frage, sondern mehr
um die ethische Frage des Wahr-Sprechens, das er immer wieder an der Pra-
xis der ,parrhesia' erläutert (vgl. Foucault 1996a). Einerseits verwendet er, so
sagt er, die klassischen (akademischen) Methoden, aber andererseits geht es
ihm um nichts anderes als Fiktionen (,science fiction': "dass es etwas anderes
wäre, davon kann gar keine Rede sein" (Foucault 1996: 28). Sein Problem ist
daher nicht, professionelle Historiker, Philosophen, Soziologen oder Pädago-
gen zufrieden zu stellen. "Mein Problem bestand darin, selbst eine Erfahrung
zu machen und die anderen aufzufordern [inviter], vermittelt über einen be-
stimmten [... ] Inhalt an dieser Erfahrung teilzunehmen: nämlich an der Erfah-
rung dessen, was wir sind und was nicht nur unsere Vergangenheit, sondern
auch unsere Gegenwart ausmacht, [... ], derart daß wir verwandelt daraus her-
vorgehen. Das bedeutet, daß wir am Ende des Buches zu dem, um das es
geht, in neue Beziehungen treten können: daß ich, der ich das Buch geschrie-
ben habe, und diejenigen, die es gelesen haben [... ] ein neues Verhältnis ein-
nehmen können [mon probleme est de faire moi-meme, et d'inviter les autres
a faire avec moi, a travers un contenu historique determine, une experience
de ce que nous sommes, de ce qui est non seulement notre passe mais aussi
notre present, une experience de notre modernite telle que nous en sortions
transformes. Ce qui signifie qu'au bout du livre nous puissions etablir des
rapports nouveaux avec ce qui est en question: que moi qui ai ecrit le livre et
ceux qui l'ont lu aient [... ] un autre rapport (44)]" (ebd.: 28f.). "Damit man,
vermittelt über dieses Buch, eine solche Erfahrung machen kann, muß das,
was darin gesagt wird, natürlich im Sinne akademischer Wahrheit wahr sein
[... ]. Es kann nicht ganz wie ein Roman sein [Pour qu'on puisse faire cette
experience a travers ce livre, il faut bien que ce qu'il dit soit vrai en termes de
verite academique, historiquement verifiable [... ]. Ce ne peut pas etre exac-
tement un roman (45)]" (ebd.: 30). Die Erfahrung selbst jedoch ist weder
wahr noch falsch: "Eine Erfahrung ist immer eine Fiktion, etwas Selbstfabri-
ziertes, das es vorher nicht gab und das es dann plötzlich gibt. Darin liegt das
schwierige Verhältnis zur Wahrheit, die Weise, in der sie in eine Erfahrung
eingeschlossen ist, die mit ihr nicht verbunden ist und sie bis zu einem gewis-
sen Punkt zerstört [Or cette experience n'est ni vraie ni fausse. Une expe-
rience est toujours une fiction; c'est quelque chose qu'on se fabrique a soi-
meme, qui n'existe pas avant et qui se trouvera exister apres. C'est cela le
rapport difficile a la verite, la fa<;on dont cette derniere se trouve engagee
dans une experience qui n'est pas liee a elle et qui, jusqu'a un certain point,
,Je viens de voir, je viens d' entendre' 103
6 Das aber hat unter anderem zur Konsequenz, "daß es kein Buch gibt, das ich nicht,
wenigstens zum Teil, aus einer unmittelbaren persönlichen Erfahrung geschrieben
hätte. [...] Es handelt sich keinesfalls darum, persönliche Erfahrungen ins Wissen zu
übertragen. Das Verhältnis zur Erfahrung muß im Buch eine Transformation gestat-
ten, eine Metamorphose, die nicht einfach meine ist, sondern die einen gewissen Wert,
gewisse Eigenheiten hat, die anderen zugänglich sind [qu'il n'ya pas de livre que j'aie
ecrit sans, au moins en partie, une experience directe, personnelle [ ... ] 11 ne s' agit pas
du tout de transposer dans le savoir des experiences personnelles. Le rapport de
l'experience doit, dans le livre, permettre une transformation, une metamorphose, qui
ne soit pas simplement la mienne, mais qui puisse avoir une certaine valeur, un certain
caractere accessible pour les autres, que cette experience puisse etre faite par les au-
tres. Quatrieme chose, cette experience, enfin, doit pouvoir etre liee jusqu'a un certain
point a une pratique collective, a une fa«on de penser (46))" (Foucault 1996: 32).
7 Obwohl Foucault gerade Nietzsche als einen Autor von Erfahrungsbüchern in seinem
Sinne erwähnt und obwohl es in diesen Bücher darum geht, sich zur Aktualität zu
verhalten und sich selbst in diesen auf das Spiel zu setzen, indem man sagt, was wir
heute sind, warnt Foucault auch davor, dies - wie Nietzsche - zu dramatisieren: "il
faut avoir la modestie [... ] ne se donnant pas la facilite un peu dmmatique et theatrale
d'affirmer que ce moment OU nous somrnes est, au creux de la nuit, celui de la perditi-
on la plus grande, ou, au point du jour, celui, OU le solei! triomphe, etc. Non, c'est un
jour comme les autres, ou plutöt c'est un jour qui n'est jamais tout a fait comrne les
autres" (Foucault 1983b: 1267).
8 ,eroiser' und ,retraverser' sind mit ,kennenlernen' und ,nachvollziehen' übersetzt,
was mir nicht ganz angemessen erscheint.
104 fan Massehelein
damer 1960: 329); vielmehr erregt inzwischen jeder Bezug, jede Berufung
auf Erfahrung großen Argwohn. Dabei bezieht sich dieser Argwohn, der vor
allem durch einige poststrukturalistische Autoren wie Jean-Fran~ois Lyotard,
Jacques Derrida, Louis Althusser und auch FoucauIt selbst genährt ist, insbe-
sondere auf den selbst-evidenten Wert der Erfahrung und auf deren oft bean-
spruchte Unmittelbarkeit. Sich auf die Autorität von etwas, das man ,Erfah-
rung' oder sogar ,lebendige' oder ,prä-reflexive Erfahrung' nennt, zu beru-
fen, wird nicht nur als naiv, sondern auch als ideologisch disqualifiziert und
als Überrest längst vergangener Epistemologien verstanden. Im Gegenzug
wird daher immer wieder nicht nur auf die diskursive und konstruktive Natur
von ,Erfahrung' überhaupt hingewiesen, sondern auch darauf, dass eine Er-
fahrung immer zugleich selbst eine Interpretation ist, die ihrerseits interpre-
tiert werden muss. Nahezu uneingeschränkt gilt, dass Erfahrungen daher
nicht essentialisiert und verdinglicht werden dürfen (vgl. Jay 1998: 63). Ob-
wohl viel Kritiker durchaus zugestehen, dass wir das Wort ,Erfahrung' nicht
einfach aus unserem Vokabular streichen können, sind sie aber insgesamt
doch der Meinung, dass vielmehr der Diskurs, die Textualität, die Sprache
und die Machtsstrukturen eine Matrix bilden, aus der die Erfahrung hervor-
kommt (und in der die Erfahrung produziert wird) und nicht umgekehrt. Die
Kritik zielt daher immer auf jene Erfahrung, die als vermeintlich einheitlich,
holistisch, kohärent und anwesend oder präsent behauptet wird - und zwar in
zwei Formen: einerseits in der Form, die - in der Linie von Dilthey's Le-
bensphilosophie - Erfahrung mit der Unmittelbarkeit der gelebten, prärefle-
xiven Begegnungen zwischen Selbst und Welt verbindet (,Erlebnis'); ande-
rerseits in der Form, die - an eine bestimmte Bildungstradition anschließend
(Benjamin wie Buber) - Erfahrung als eine kumulative Weisheit betrachtet,
die durch die Zeit hindurch von der Interaktion zwischen Selbst und Welt
hervorgebracht wird und deren Einheit daher nur am Ende eines dialektisches
Prozesses projiziert werden kann. Beide Formen werden von den Kritikern
abgewiesen: so ist die Suche nach einer authentischen Erfahrung in ihren
Augen nur eine andere Version einer nostalgischen Sehnsucht nach einer
Anwesenheit und Unmittelbarkeit, die es nie gegeben hat und nie geben wird
(vgl. Jay 1998: 64).
Angesichts dessen ist es nicht unbedeutsam, dass Foucault - obwohl er
selbst durchaus auch zum genannten Kreis der Kritiker gehört - ,Erfahrung'
ganz anders zu bewerten scheint; seine vor allem von Bataille, Nietzsehe,
Blanchot und Klossowski inspirierten Überlegungen taugen daher vielleicht
dazu, einen Weg anzudenken, der uns an der inzwischen weitgehend steril
geworden Debatte zwischen denen, die an einer naiven Auffassung von Er-
fahrung festhalten wollen, und denen, die den Begriff derselben einfach ab-
weisen, vorbeiführen könnte und (sogar ,negative') Erfahrung zum Kern ei-
ner kritischen Pädagogik - vielleicht besser: einer ,e-dukativen Praktik' -
werden lassen könnte.
,Je viens de voir, je viens d'entendre' 105
2.
Ausgehend von und anschließend an die ausführlich zitierten Interviewpassa-
gen versuche ich, Foucaults eigenwillige ,Erfahrungsperspektive' in einigen
Schritten zu kommentieren:
(a) Ich beginne mit der Unterscheidung von ,Wahrheits-' und ,Beweisbü-
chern' von ,Erfahrungsbüchern'. Ein Wahrheitsbuch schreiben heißt ein
Buch zu schreiben, das informiert, feststellt, eine Wahrheit erkundigt; es ist
ein Buch, das versucht, über etwas zu informieren, etwas zu erklären, zu be-
weisen oder zu legitimieren. Ein Wahrheitsbuch schreiben impliziert insofern
eine bestimmte Haltung (ein ,Ethos') und ,schreibt' sie vor, nämlich eine
Haltung, in der man sich den (An-)Forderungen der Wahrheit unterwirft, d.h.
dem ,Logos' eines bestimmtes Regimes der Wahrheit. Man wendet sich da-
bei an den Leser im Namen dieses ,Logos', zu dem man Zugang hat oder zu
haben beansprucht, man wendet sich an den Leser vor dem Hintergrund oder
gar im Namen eines Tribunals, eines Tribunals der Wahrheit, der Vernunft,
der Humanität oder der Wissenschaft. Wenn man ein Wahrheitsbuch
schreibt, dann nimmt man daher in einem gewissen Sinn die Position eines
Lehrers ein, von der aus man spricht und die ich - eine Unterscheidung von
Jacques Ranciere aufnehmend - einen wissenden oder gelehrten Meister ("un
maltre savant") nennen möchte (vgl. Ranciere 1986): das, was man solcher-
maßen schreibt, wird eigentlich Unterricht oder ,Lehre' (Erklärung, Beweis,
Information usw.), so dass diejenigen, an die man sich wendet, in die Position
eines Lernenden (eines Lehrlings, eines nicht oder Noch-nicht-Wissenden,
der gerade aus dem Buch Wissen bekommt) versetzt werden. Wahrheitsbü-
cher sind daher Bücher, die von einem Wissenden/Gelehrten - und sogar
(aber in einem bestimmten Sinne) ,Erfahrenen' - geschrieben werden und
unweigerlich mit einer, wie wir mit Foucault sagen können, ,pastoralen'
Haltung verbunden sind. Diese Haltung beinhaltet, sich in den Dienst eines
Regimes und seines Logos (z.B. die kommunikative Vernunft) zu stellen und
in dessen Namen Fragen und Sorgen aufzunehmen: ohne Erklärung kein Ver-
stehen, ohne Beweis und Argument keine Wahrheit. In dieser Haltung orien-
tiert man sich schreibend an einem ,Regime' und einem ,Tribunal' und rich-
tet sich also an einen Leser, der bekannt ist in dem Sinn, dass der Leser, an
den man sich richtet, einer ist, der sich demselben Regime und Tribunal unter-
wirft (oder unterwerfen soll). Erst die Unterordnung beider unter ein Tribunal
erlaubt sowohl dem Leser als auch dem Autor, ,jemand' zu sein, so dass beide
im Horizont dieses Tribunals nicht nur immer dieselben bleiben, sondern ihre
Position, ja ihre Subjektivität allererst erlangen können. Zugleich befinden sich
beide, wie angedeutet, in einer, Unterrichtssituation " indem sie die Positionen
von Lehrenden und Lernenden einnehmen bzw. erhalten. Diese Positionen sind
Positionen in einem pastoral-pädagogischen Führungsregime, das einem be-
stimmten Logos folgt und entlang diesem regiert, indem es eine, Ungleichheit'
zwischen beiden installiert, die sich nur mit Blick auf den Logos dieses Tribu-
106 fan Massehelein
nals bestimmen und legitimieren lässt und sich entlang der Unterscheidungen
,wissendlnichtwissend', ,erwachsen! unerwachsen " ,mündig/unmündig', ,auf-
geklärt/unaufgeklärt' und ,menschlich/unmenschlich' bzw. ,human/nichthu-
man' organisiert (vgl. Masschelein 2004; Simons 2004).
Ein Wahrheitsbuch - als Lehrer - schreiben heißt daher, ausgehend von
einer bestimmten Position in einem Regime - einem ,Sicht-' und ,Sagbar-
keitsregime', einem bestimmten ,Wahrheitsregime' - zu schreiben, und im-
pliziert damit zugleich, auch die Position der Leser als diejenige zu definieren
und zu legitimieren, die der Sorge, der Erklärung, des Beweises, der Erzäh-
lung oder der Emanzipation bedarf. Dieses Schreiben ist ein ,komfortables'
Schreiben in dem Sinne, dass es ein geschütztes Schreiben ist, das seine Au-
torität erhält (oder verliert) von einem Kode (dem Gesetz, dem Logos des
Tribunals oder des Regimes) und dessen Inanspruchnahme. Sicherlich, man
kann besser oder schlechter schreiben, mehr oder weniger Wissen haben etc.,
aber die pastorale Position, d.h. das jeweilige Subjektsein innerhalb des Re-
gimes, ändert sich nicht.
Dies gilt - wie angedeutet - auch für den Leser eines Wahrheits- und
Beweisbuches: er nimmt nicht nur eine bestimmte Position innerhalb des pas-
toralen Regimes ein, sondern auch eine bestimmte Haltung, indem er das,
was er liest, als Ausdruck von Wahrheit (Vernunft, Wissenschaft, Humanität
etc.) betrachtet, auf ein bestimmtes Tribunal bezieht und es von dort beurteilt.
Wie der Autor selbst setzt sich auch ein solcher Leser nicht aufs Spiel; mit
Blanchot ließe sich dieser Leser daher kennzeichnen durch "son manque de
modestie, son achamement a vouloir continuer aetre le meme face a ce qu'il
lit, a vouloir etre un homme qui sait lire en general [seinen Mangel an Be-
scheidenheit, sein Festhalten am Willen, angesichts dessen, was er liest, der
Selbe (oder Gleiche) zu bleiben, [schließlich] am Willen, ein Mensch zu sein,
der - ganz allgemein -lesen kann]" (Blanchot 1955: 263).
Unmißverständlich weist Foucault diese Auslegung seiner Bücher zu-
rück: "Ich lehne das Wort ,Lehre' ab. [... ] Meine Bücher haben diesen Wert
gerade nicht" (Foucault 1996: 33). Seine Bücher sind gerade keine ,Wahr-
heitsbücher' , sondern ,Erfahrungsbücher' - was aber heißt das?
delt es sich dennoch bei seinen Büchern nicht darum, persönliche Erfahrun-
gen zu repräsentieren und ins Wissen zu übertragen. Die Erfahrungsbücher,
die Foucault zu schreiben versucht hat, sind gerade nicht dieser Art, sie sind
keine - auch keine persönliche - Lehre ("enseignement"); vielmehr sind sie
von einer ganz anderen Haltung aus geschrieben, die nicht die komfortable
Haltung des Lehrers oder ,Pastors' ist. Es ist die Haltung einer ,exposition',
eines , Sich-Aussetzens " die erst erlaubt, etwas anderes zu vernehmen (und
zu erfahren) und so die Gedanken, den Blick zu , befreien', so dass der Autor
(und auch Leser dieser Bücher) nicht nur anderes, sondern insgesamt anders
sehen und denken und sich selbst ändern kann. Ein solches Schreiben ist für
Foucault eine philosophische Übung in dem anfangs genannten Sinne, eine
Art des ,Sich-Schreibens': "ecriture de soi" (Foucault 1983a). Es ist eine
Operation, die auf die Seinsweise des Subjekts selbst ausgeübt wird, eine
Übung, in welcher die Grenzen der Subjektivität (und der Objektivität) auf
dem Spiel stehen. Schreiben heißt, sich selbst auszusetzen, damit ein ,Wei-
terschauen', ,Weiterdenken' oder ,Andersdenken' überhaupt möglich wer-
den. Es erfordert als philosophische Übung eine Haltung, in der man sich
konfrontiert (und konfrontieren lässt) mit dem, was ich die eigene ,Kindheit'
nennen möchte: mit dem Nicht-Zusammenfallen mit sich selbst als einem
Subjekt innerhalb eines pädagogischen Führungs- und Wahrheitsregimes,
dem Nicht-Zusammenfallen von Lehrer und Lernender mit sich selbst (vgl.
Masschelein 2004; Simons 2004). ,Kindheit' - ,infans' - ist so der Name ei-
ner Potentialität, die nicht in Aktualität aufgeht und nie darin aufzugehen
vermag; sie stellt vielmehr die Grenze dieses pädagogischen Führungs- und
Wahrheitsregimes dar. In ihr als Potentialität gibt es keine Ungleichheit wie
im pädagogischen Regime, sondern eine bestimmte Gleichheit. Ein Erfah-
rungsbuch - als verändernde Erprobung seiner selber - schreiben (und lesen)
meint daher, sich in einem fremden Wissen - ,l'inconnu', wie Bataille (vgl.
Bataille 1954) sagt - zu versuchen; es ist ein ungeschütztes, ausgesetztes
Schreiben (und Lesen), insofern es einen Verzicht beinhaltet sowohl auf die
Führung durch Religion, Gesetz, Wissenschaft etc. als auch auf die Hingabe
zur Realisierung der tiefen Wahrheit des Selbst (vgl. Dreyfus 1990: 58). Bei
diesem Schreiben (und Lesen) fragt man sich weniger, ob es wahr oder falsch
ist; vielmehr setzt man sich einem fremden Wissen aus und begibt sich in die
"Bresche der Kommunikation", wie Bataille dies - mit Bezug auf die Ekstase
- nennt: ,,11 n'y a plus sujet-objet, mais ,breche Mante' entre l'un et l'autre
et, dans la breche, le sujet, l'objet sont dissous, il y a passage, communicati-
on, mais non de I'un a l' autre: l' un et l' autre ont perdu I' existence distincte
[Es gibt kein Subjekt-Objekt, sondern nur eine ,offene Bresche' zwischen
dem einen und dem anderen und in dieser Bresche gehen das Subjekt und das
Objekt unter, es gibt Übergang und Kommunikation, aber nicht vom Einen
zum Anderen: der Eine und der Andere haben ihre unterschiedene Existenz
verloren]" (Bataille 1954: 74).
Ein ,Erfahrungsbuch' schreibt man, weil man nicht weiß, was man denkt
und denken soll; es geht nicht darum, das vorher bereits Gedachte (wieder
J08 Jan Massehelein
(c) Ein Erfahrungsbuch zu schreiben ist eine e-dukative Praktik, die die
Möglichkeit eröffnet, den Wörtern ein neues Leben einzuhauchen und den
Blick zu befreien. Aufgrund dessen ermöglicht sie ein bestimmtes ,Wahr-
sprechen': "Je viens de voir, je viens d'entendre" (Foucault 1994 ll: 238).
Versteht man , viens' von , venir' und übersetzt es mit , kommen', dann ist in
,Erfahrung' - wie auch im Deutschen - dieses Moment der Bewegung, der
Verschiebung - ,ich bin dazu gekommen zu sehen und zu hören' - mitgesagt.
Wichtig scheint mir dabei zweierlei: zum einen bezeichnet das ,Sich-
Aussetzen' oder das ,Ausgesetzt-Sein' keine (universale) ,Struktur', sondern
eine Möglichkeit; zum anderen aber ist es unverzichtbar, dass wir eine be-
stimmte Arbeit ausführen müssen, damit wir ausgesetzt sein können, damit
9 Und wie schön ist übrigens Foucault's Beschreibung dieses Untergangs der ,Lehre'
und der Lehrer, am Beispiel der ,Lehre' von Magritte's ,Ceci n'est pas une pipe'. Dies
aber ist ein unkomfortables Moment, in dem ein pädagogisches Regime ausser Kraft
gesetzt wird.
,Je viens de voir, je viens d' entendre' 109
wir aufmerksam sein können und uns etwas , widerfahren' kann, so dass die
Wörter eine neues Leben bekommen und wir (anders) ,sehen' können. In der
Tat müssen wir uns selbst disziplinieren, aber nicht als Unterwerfung unter
ein Tribunal (oder als Objektivierung im Lichte eines Tribunals), sondern
durch bestimmte Übungen, die erlernt und ausgeübt werden müssen, damit
wir überhaupt erfahren können.
Erfahrungsbücher lenken die Aufmerksamkeit auf etwas, was sichtbar
ist, aber wofür wir bisher keine Augen hatten. Auch wenn diese Aufmerk-
samkeit mit abhängig ist von der Art und Weise, in der diese Bücher ge-
schrieben werden, so ist doch die Haltung gegenüber dem Buch entscheidend
- um sie geht es, an ihr muss gearbeitet werden: sie ist, wenn auch keine pas-
torale, so doch eine bestimmte Form der Askese. Die Askese ermöglicht und
produziert ein Erfahrungssubjekt, ein Subjekt, das sich um die Welt (be-)
kümmert und ihre Erprobung versucht; diese Befreiung des Blicks und der
Gedanken erfordern Übung und Akzeptanz des Lebens bis in den Tod hinein.
E-dukative Praktiken sind Praktiken des , Sich-Aussetzens , und dienen
der Vorbereitung auf eine Erfahrung. Das ,Subjekt' solcher Praktiken, sol-
cher Erfahrungen, das Erfahrungssubjekt, das kein Erkenntnissubjekt ist,
kann aber nur ein widersprüchliches, ein paradoxes Subjekt sein: es ist ers-
tens paradox, nicht weil es Subjekt und Objekt (von Erfahrung) zugleich ist,
sondern weil es sich aufhält zwischen zwei Logiken, der Logik der Ausset -
zung (,exposition') (Gleichheit) und der des ,Unterworfenseins' (Ungleich-
heit in einem Regime). Es ist aber auch zweitens ein paradoxes Subjekt, weil
es aktiv ist, um passiv zu werden.
Der e-dukativen Praktik des Schreibens geht keine Unterwerfung unter
ein Regime oder Tribunal voraus; vielmehr bildet diese genau den Einsatz
und nicht den Ausgangspunkt des Schreibens. Ein solches Schreiben bewegt
sich außerhalb oder an den Grenzen eines Führungs- und Wahrheitsregimes
mit seinen bestimmten Positionen; es ist selbst ausgesetzt, ,ex-positioniert'
und führt uns darin nach außen, d.h. in die ,Welt' als einem öffentlichen
Raum, der nicht jemandem bereits zugeeignet ist und keine (zu-)geeignete
Positionen kennt: ein Land für jeden und niemand, ein Niemandsland. Dieses
Land hat keinen Zugang, keine Eingangstür und ist auf keiner Karte zu fin-
den; es fordert jedoch eine Anstrengung, um erreicht zu werden: eine be-
stimmte Sorge um sich selbst.
(d) Das Schreiben eines Erfahrungsbuchs ist deshalb eine Praktik, in der man
sich um sich selbst sorgt und sich zu sich selbst und anderen in einer be-
stimmten Weise verhält. Diese Selbstsorge ist aber nicht eine Introspektion
oder Erforschung der eigenen Seele, sondern eine Untersuchung der, Welt' -
eine Untersuchung, in der man selbst auf eine solche Weise ,anwesend' ist,
dass man einerseits ausgesetzt ist und deshalb untergehen, sich verlieren
kann, andererseits aber in einer besonderen Weise ,aufmerksam' ist, so dass
man ,Wahrheit' sprechen kann, eine Wahrheit, die nicht die Unterwerfung
unter ein Tribunal erfordert und dennoch einen ,Effekt' beim bzw. im Leser
110 fan Massehelein
(e) Wenn Foucault schließlich dieses Schreiben und Lesen als eine Grenzer-
fahrung, als eine ,negative' Erfahrung bezeichnet, dann hat das auch damit zu
tun, dass es ein gefährliches Unternehmen ist, insofern es - als ,Fahrt' - ohne
Garantie, wieder nach Hause zu kommen, auskommen muss; mehr noch: eine
Erfahrung ist immer etwas, aus dem man verändert hervorgeht, und das auf
eine unwiderrufliche Weise. Gerade hierin liegt die Negativität einer jeden
Erfahrung. Sicherlich, wir sollten uns davor hüten, diese Grenzerfahrungen
zu dramatisieren, aber wir sollten sie sicher auch nicht verharrnlosen. lO
10 Vgl. dazu auch Munier: "Il y a d'abord l'etymologie. Experience vient du latin experi-
ri, eprouver. Le radical est periri, que I' on retrouve dans perieulum, peril, danger. La
racine indo-euorpeenne est PER a laquelle se rattachent I' idee de traversee et, secon-
dairement, eelle d'epreuve. En gree, les derives sont nombreux qui marquent la traver-
see, le passage: peirö, traverser; pera, au-dela; peraö, passer a travers; perainö, aller
jusqu'au bout; peras, terme, limite. Pour les langues germaniques on a, en ancien haut
allemand, faran, d'ou sont issus fahren, transporter et führen, conduire. Faut-il y
ajouter justement Erfahrung, experience, ou le mot est-il a rapporter au second sens de
PER: epreuve, en ancien haut allemand, fara, danger qui a donne Gefahr, danger et ge-
fährden, meUre en danger ? Les eonfins entre un sens et l'autre sont imprecis. De
meme qu'en latin periri, tenter et periculum, qui veut d'abord dire epreuve, puis ris-
que, danger. L'idee experience comme traversee se separe mal, au niveau etymologi-
que et semantique, de eelle de risque. L'experienee est au depart, et fondamentalement
sans doute, une mise en danger" (Muruer, zit. nach Lacoue-Labarthe 1986: 30-31).
,Je viens de voir, je viens d' entendre' 111
Bündelt man die verschiedenen Momente, dann lässt sich vielleicht zeigen,
dass das Schreiben (und Lesen) eines Erfahrungsbuchs ein Denken ist, das
eher in der Stille arbeitet und ein ,Versuch' ist, sich selber in seinem Sein ei-
genhändig aus der Hand zu geben, sich selbst zur Frage zu machen; gerade
weil dieses Schreiben eine Tätigkeit verlangt (und nicht einfach mit Passivität
und Unterordnung gleichgesetzt werden darf), kann Foucault es eine nicht-
pastorale, allemal nicht-christliche Askese, eine Übung und ein Ethos nennen
und als ,Akzeptieren' (Akt-zeptieren) auslegen: dieses ,Akzeptieren' ist nicht
die Akzeptanz der Grundlosigkeit unserer Existenz als Struktur unseres
Seins, sondern ein Akzeptieren, das die Struktur unserer Subjektivität genau
aufs Spiel setzt. Was dabei passieren kann, ist nicht, dass wir um noch eine
Erfahrung reicher werden, dass wir etwas mehr wissen, sondern dass wir je-
mand anders werden und geworden sind, anders in der Welt und zur Welt
stehen und das, was vorher war, nicht mehr bewerten können, nicht mehr ein-
fach aufnehmen können. Erfahrung ist daher nicht etwas, was bloß passiert,
sondern immer etwas, was ,uns' passiert. Wir leben in einer Welt, wo un-
glaublich viel passiert, und auch unser Leben ist voll mit Ereignissen, aber
uns scheint wenig zu passieren: was wir wissen, was wir sehen, was für uns
zugänglich ist, scheint uns dennoch nicht zu ändern. Eine ,Grenzerfahrung'
ist aber genau jene Erfahrung, die uns (ver-)ändert, d.h. etwas und (in) uns
zum Sterben bringt. Wir können sterbend schreiben und schreibend sterben,
ohne dass uns ein Faden mit der Vergangenheit verbindet. Wir können uns
selbst, unserer Subjektivität etwas Unwiderrufliches antun. Damit eng ver-
bunden ist die Weigerung Foucaults anzunehmen, dass es etwas gäbe, was als
eine (von der Philosophie, Anthropologie etc. enthüllte) ,universale Struktur
der menschlichen Existenz' (wie die ,Grundlosigkeit', das ,Trauma des An-
deren' oder die Verantwortung und das ,Fatum des Daimon') gelten könne,
woran wir unwiderruflich oder ,wesentlich' hingen. Es ist dieser (universale)
Gedanke, der immer wieder neu dazu taugt, uns zu regieren und die pastorale
Sorge derer zu legitimieren, die um diese vermeintliche Struktur wissen und
sich dadurch zu immunisieren wissen. Die Möglichkeit von Grenzerfahrun-
gen zu behaupten heißt daher auch zu behaupten, dass es möglich ist, sich
dem ,Regiert-werden' (und dem ,Geführt-werden') zu entziehen, d.h. dass
Entunterwerfung durch Entsubjektivierung möglich ist. Es heisst zu behaup-
ten, dass die Erfahrung ihre eigene Autorität ist, aber zugleich auch anzuer-
kennen, dass die Erfahrung - auch wenn sie ihre eigene Autorität ist - auf
keinen externen Kriterien ,gründet' wie Vernunft, Wissenschaft oder gar
Theologie; sie ist eine paradoxe Autorität, die sich selber immer wieder un-
terminiert.
Anders formuliert: es geht grundsätzlich und radikal um eine negative
Erfahrung, die nicht einfach wieder positiv gewendet werden kann. Daher
verbietet es sich, das Experiment der Grenzüberschreitung (im Schreiben, im
Lesen, im Reisen etc.) als eine heroische Suche nach einer dionysischen Ein-
heit, einer Versöhnung mit seinem inneren ,Daimon', d.h. als das singuläre
Fatum, das uns zugeteilt wäre, zu betrachten. Zugleich verbietet es sich, die-
112 Jan Masschelein
ses Experiment oder diese Grenzarbeit einfach als singuläre Übung einer al-
lein ästhetischen Selbstformierung und Selbststilisierung zu verstehen; ein
solcher Versuch insistiert zu sehr auf ,Erfahrung' im Sinne einer ,post-facto-
Fiktion' und privilegiert die Selbstbildung, so dass die ,unmittelbar gelebte'
Erfahrung, die ,uns' und damit das Negative und ,Gemeinsame' ins Spiel
bringt ll , heruntergespielt und verharmlost wird und damit genau das Faszi-
nierende der Grenz-Erfahrung neutralisiert wird. Eine solche Perspektive wä-
re der Versuch, eine Art Bildungsgeschichte daraus zu machen; doch sowohl
Bataille als auch Foucault anerkennen die Unmöglichkeit, aus dem eigenen
Leben ein (abgeschlossenes) Werk, eine Bildungsgeschichte, eine ästhetisch
geformte Einheit oder bedeutungsvolle Identität zu ,machen'. Das Leben
kann nicht gemacht werden. Das ,Ich' zur Frage zu ,machen' heißt vielmehr,
eine Übung des ,Sich-Aussetzens', in der man sich verlieren kann, zu voll-
ziehen. Die Sorge um sich selbst ist also keine Sorge um die eigene Identität,
sondern eine Sorge, die bezogen auf das ist, was Foucault mit ,Gesichtsver-
lust' bezeichnet hatte.
3.
Ein Erfahrungsbuch bietet keinen Unterricht, keine Lehre; es ist eine ,öffent-
liche Geste', eine Einladung, sich selbst zu erforschen, ein Wort und eine Ges-
te, die in eine Erfahrung (und nicht in ein Reich der Wahrheit) einzuführen
und zu verhindern sucht, dass wir bleiben, wer wir sind; es ist ein Buch, das
nicht darauf gerichtet ist, zu erklären oder zu verstehen, wie es wirklich oder
wahrhaft ist und wie wir die Gegenwart richtig lesen und verstehen können.
Ein Erfahrungsbuch schreiben oder lesen meint daher, sich auszusetzen
als ,Infans', d.h. in einem gewissen Sinne als ein Wesen ohne Sprache, dem
die Sprache erst gegeben wird und gegeben werden muß. In e-dukativen
Praktiken wird die Sprache (neu) gegeben und empfangen. Aber das Geben
und Empfangen der Sprache als Wörter bedeutet, dass wir nicht wissen und
nicht wissen können, was wir geben und was wir bekommen - wie es Anto-
nio Porchia formuliert hat: "Was die Wörter sagen, bleibt nicht. Es sind die
Wörter, die bleiben, die dauern, weil die Wörter dieselben (identisch) blei-
ben, aber was sie sagen, ist nie dasselbe (identisch)" (Porchia 1989: Ill).
Das bedeutet auch, dass die geschriebenen und gelesenen Wörter uns aus
dem Selben hinausführen können, und wir herausfinden müssen, was sie
(uns) sagen oder fragen. Der Autor als ,E-ducator' gibt Wörter, er zeigt etwas
und ,macht' aufmerksam. Edukative Praktiken bieten keine Wahrheit, son-
11 Vgl. dazu auch Bataille: ,,,Soi-meme', ce n'est pas le sujet s'isolant du monde, mais
un lieu de communication, de fusion du sujet et de l'objet [Das Selbst, das ist nicht
das Subjekt, das sich von der Welt trennt, sondern ein Ort von Kommunikation, von
Verschmelzen von Subjekt und Objekt]" (Bataille 1954: 21).
,Je viens de voir, je viens d'entendre' 113
dem Wörter als pure Mittel, als Medium, wodurch uns etwas passieren kann.
In diesem Kontext erscheint der Meister (,E-ducator') nicht als eine pastorale
Figur, die im Namen von etwas spricht, sondern als jemand, der (ohne Ge-
sicht) im eigenen Namen spricht und schreibt, wobei sein Sprechen reines
Mittel ist und kein Mittel für einen Zweck. Der Leser verwendet das Buch in
einer Denkübung, um sich selbst zu transformieren, wobei diese Denkübung
nicht ein Spielen mit Gedanken ist, sondern eine Übung, in der Gedanken das
Individuum aufs Spiel setzen.
Wie wir gehört haben, ist das, was Foucault unter Erfahrung versteht, vor
allem eine negative Erfahrung, eine ,Grenzerfahrung', weil sie die Grenzen
der kohärenten Subjektivität, wie sie im alltäglichen Leben, im Führungsre-
gime funktionieren, überschreitet. Foucaults Darstellung von Erfahrung ist
aber paradox: einerseits verwendet er einen pro-aktiven Begriff (das Subjekt
von sich losreißen), andererseits benutzt einen reaktiven Begriff: Erfahrung
als eine post facto Rekonstruktion dieser Aktion. Eine Erfahrung, so schreibt
er, ist "immer eine Fiktion, etwas Selbstfabriziertes, das nur besteht, nachdem
es gemacht worden ist; es ist nicht das, was , wahr' ist, sondern was eine
Realität gewesen ist" (Foucault 1996: 30; vgl. Foucault 1994 IV: 864). Auch
wenn Foucault beansprucht, dass seine Bücher immer "aus einer unmittelba-
ren persönlichen Erfahrung heraus geschrieben" sind (Begegnung mit dem
Wahnsinn, den Kranken etc.) (Foucault 1996: 32), so zielen sie vorrangig
darauf, als intellektuelle Übungen auch neue Erfahrungen zu produzieren;
wenn es daher immer auch um Selbstklärung geht, so ist das Schreiben doch
kein Selbstzweck: ,,Eine Erfahrung ist etwas, was man ganz allein macht und
dennoch nur in dem Maße uneingeschränkt machen kann, wie sie sich der
reinen Subjektivität entzieht und andere diese Erfahrung - ich will nicht sa-
gen: exakt übernehmen, aber sie dennoch kreuzen und schneiden können"
(ebd.: 33). Es geht also um einen paradoxen Begriff von Erfahrung, der sich
nicht linear ausformulieren lässt. Aber eines scheint klar zu sein: Erfahrung
kann nicht auf Diskurs reduziert werden, das ist es, was Foucault (mit Ba-
taille und anderen) uns zeigt.
Sicherlich, die von Martin Jay aufgelisteten Fragen bleiben bedeutsam
(vgl. Jay 1998); doch stellen sie sich nun in einem veränderten Licht: Ist es
ein Widerspruch, eine subjekt-vernichtende Erfahrung zu privilegieren und
zugleich objektiv und unpersönlich über Erfahrung zu sprechen? Können wir
letztlich die Transformation einer negativen in eine positive Erfahrung ver-
meiden? Gibt es vielleicht gar einen Wert dieses Verlustes? Und kann
Foucault überhaupt verhindern, dass Erfahrungsbücher verdinglicht werden
und eine positive Form bekommen? Kann aber negative Erfahrung mit ihrer
Abweisung von Autorität, Struktur und Kohärenz einen Boden für Instituti-
onsbildung darstellen? Oder ist sie eine anti-institutionelle Ideologie, die
dann doch unerwartet nah kommt an die liberale Auffassungen der negativen
Freiheit? All diese Fragen dürfen uns aber nicht davon abhalten zu sehen,
dass Foucault uns dazu zwingt, an der überaus sterilen Wahl zwischen naiver
Unmittelbarkeit einerseits und ebenso naiver diskursiver Vermittlung ande-
114 fan Massehelein
rerseits vorbei zu gehen. Die Grenzen der Grenz-Erfahrung sind, wie Jay sagt
(Jay 1998: 78), die Grenzen der Kritik heute. Damit aber wird Kritik der
zentrale Gegenstand einer neu zu erfindenden Pädagogik, weil diese Grenz-
Erfahrungen eine Form der Aufmerksamkeit, Anwesenheit und Generosität
erfordern und insofern genau den Einsatzpunkt von e-dukativen Praktiken
bilden. Solche Praktiken sind , unkomfortable' Praktiken, die uns zur , Welt'
führen und in ihr halten, indem sie unsere immunisierenden und immunisier-
ten Beziehungen zu uns selbst und zu anderen zugleich beleuchten und zer-
stören.
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Zwischen Freiheit und Macht:
grundbegriffliche Sondierungen
Narbert Ricken
"Nothing appears more surprising to those who consider human affairs with a philo-
sophical eye than the easiness with which the many are governed be the few."
DavidHume
Macht provoziert - immer noch. Auch wenn ,Macht' lebensweltlich wie theo-
retisch zunehmend Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermag, so ist deren
Auseinandersetzung doch immer wieder von enormen Vereinfachungen und ir-
reführenden Kontrastierungen durchzogen, die Begriffsdurchsicht wie Pro-
blemdurchstieg empfindlich beschweren: nicht nur, weil Popularität und Diffu-
sität eines Begriffs sich auch hier gegenseitig bedingen, so dass die vermeintli-
che "Evidenz des Phänomens" die grassierende "Unklarheit des Begriffs"
(Luhmann 1969: 149) nur verstärkt; auch nicht nur, weil auch der Begriff der
Macht als alltäglich fest verankerter Begriff der Dominanz lebensweltlicher
Bedeutungszuschreibungen nur selten zu entkommen vermag, so dass Versu-
che einer begrifflichen Präzision und systematischen Neujustierung gegenüber
der enormen Beharrungskraft eingewöhnter Bedeutungen oft bloß vergeblich
sind und weitgehend folgenlos bleiben; sondern vor allem, weil die alt einge-
wöhnte Einschätzung, "dass die Macht an sich böse ist" (Burckhardt 1949: 61),
immer noch deren Thematisierung ,unterfüttert' und so in zwar längst über-
holte, aber umso wirksamere Blockierungen verführt. Luhmanns gewohnt spit-
ze wie treffsichere Kennzeichnung - "Die Macht der Macht scheint im wesent-
lichen auf dem Umstand zu beruhen, dass man nicht genau weiß, um was es
sich eigentlich handele" (Luhmann 1969: 149) - mag daher einleuchten, lässt
aber auch leicht übersehen, dass Macht sich auch deswegen einer einfachen be-
grifflichen Fassung und Festlegung entzieht, weil deren Bedeutung von weit-
reichenden Vorverständnissen abhängt und sich - schließlich - nicht unabhän-
gig von menschlichen Selbstdeutungen erläutern lässt. Wenn aber das, was un-
ter ,Macht' verstanden werden kann, oft als irgendwie bekannt vorausgesetzt
wird und werden muss, dann lässt Macht sich gerade nicht gegenständlich the-
matisieren, sondern jeweilig nur interpretativ umreißen. Was also phänomenal
in den Blick genommen wird, hängt daher ab von dem, was konzeptionell unter
,Macht' verstanden wird, so dass gerade begrifflich-systematische Zugänge zur
Macht ebenso eine bedeutsame Rolle spielen wie umgekehrt begriffliche Un-
klarheit und Diffusion schwerwiegende Folgen nach sich ziehen.
120 Norbert Ricken
Wenig erstaunlich ist daher, dass Macht trotz aller Dauerpräsenz nur selten einer prä-
zisen begriffsgeschichtlichen wie systematischen Analyse unterzogen worden ist, so
dass bis heute die neuzeitlich-klassische Begriffsfassung der Macht - als ein Einwir-
kungs- und Durchsetzungshandeln - weitgehend unangetastet tradiert werden konnte;
vgl. dazu insbes. Röttgers 1990 und Kobusch u.a. 1982 wie auch Faber u.a. 1982,
Galbraith 1987, Popitz 1992 und Imbusch 1998.
Die Macht der Macht - Rüclifragen an Michel Foucault 121
und wie Macht jeweilig verstanden und ausgelegt wird, immer auch davon
ab, als wer und wie Menschen sich jeweilig selbst verstehen. Meine Überle-
gungen zielen daher auch darauf, eine strukturale Matrix menschlicher
Selbstverständnisse zu skizzieren, vor der Macht - und dann auch Kritik -
systematisch rekonstruiert werden können.
Ein solches Vorhaben einer anthropologischen Problematisierung von
Macht sieht sich aber - insbesondere im Rückgriff auf Überlegungen Fou-
caults - vor einen doppelten Einwand gestellt: zum einen scheint mit der Jus-
tierung der Frage nach der, Macht der Macht' nun doch die Frage nach dem
,Was der Macht' wiederaufgenommen zu sein, deren Beantwortung Foucault
für ebenso uneinlösbar wie irreführend hielt und die er in der oft zitierten Be-
schränkung auf das vermeintlich klügere "Wie der Macht" (Foucault 1994:
251) folgenreich diskreditierte (vgl. Foucault 1994: 243ff. wie 1999: 22f.);
zum anderen stößt aber der Versuch, die Frage nach der ,Macht der Macht'
ausdrücklich anthropologisch aufzunehmen, gegenwärtig auf zumeist ent-
schiedenen Widerspruch: nicht nur, weil ,Anthropologie' wider besseren
Wissens immer wieder als unzulässige substantielle Aus- und Festlegung von
Menschen gelesen wird, die den erreichten ,Stand' historischer Anthropolo-
gie und Anthropologiekritik zu unterbieten scheint; sondern auch, weil ein
solcher machttheoretischer Zugriff als unvereinbar mit wichtigen Weichen-
stellungen Foucaults gilt, der in seinen vielfältigen historischen Studien auf
den zeit- und machtgebundenen Charakter einer jeden Anthropologie hinge-
wiesen und diese selbst mit der Etikettierung des ,anthropologischen Schlafs'
(vgl. Foucault 1971: 410) als Inbegriff moderner Bemächtigung zurückgewie-
sen hat, so dass Foucaults These - "Seltsamerweise ist der Mensch, dessen Er-
kenntnis in naiven Augen als die älteste Frage seit Sokrates gilt, [...] eine junge
Erfindung [...], eine Gestalt, die noch nicht zwei Jahrhunderte zählt" (Foucault
1971: 26) - inzwischen als Verdikt einer jeden zukünftigen Anthropologie
überhaupt gelesen wird. Den Wamungen Foucaults zum Trotz wird sich diese
Fragejustierung aber - insbesondere im Durchgang durch Foucaultsche Theo-
reme - als ebenso unvermeidbar wie (hoffentlich) fruchtbar erweisen; sie sei
daher auch als Rückfrage an Foucault formuliert (vgl. Butler 2003).
1.
Nimmt man seinen ersten Einsatz einer begrifflichen Erkundung der Macht in
einem (mehr oder weniger verbreiteten) Alltagsverständnis und versteht man
unter ,Macht' sowohl Kraft und Möglichkeit als auch Recht und Befugnis,
Einfluss zu nehmen und über andere bestimmen zu können (vgl. Duden 1983:
804), so lassen sich in dieser alltagsweltlichen Bedeutungsfassung insgesamt
sechs Momente als kennzeichnend ausmachen (vgl. Luhmann 1969 wie Rött-
gers 1990), deren Explikation ebenso unverzichtbar wie bereits problema-
tisch ist und daher in erhebliche philosophische Problemlagen führt:
122 Norbert Ricken
Macht wird erstens zumeist als eine substantial bestimmbare Habe, als ein
Gut oder Vermögen vorgestellt, das personal zugeschrieben wird, asymme-
trisch verteilt ist und insofern in einem Zentrum seinen Sitz hat bzw. von dort
ausgeht (Substantialität und Zentralität). Zweitens gilt Macht als Kausalität
und wird als eine spezifische Kraft der Bewirkung, als aus sich selbst Wirkun-
gen freisetzende Ursache verstanden, so dass Macht über fremdes Verhalten
nur dann gegeben ist, wenn dieses bei Wegfall der als Ursache unterstellten
Einwirkung anders abliefe (vgl. Luhmann 1969: 150). Dieser Kausalitätsfas-
sung von Macht entspricht drittens eine intentionalistische Auslegung von
Macht: meint Macht alltäglich Beeinflussung oder gar Bestimmung und Be-
schränkung anderer, so ist die Absicht des vermeintlich Einflussnehmenden
bedeutsam, um Verhalten als mächtiges Handeln erkennen zu können - denn
fehlt diese Absicht, scheint auch der Begriff der Macht unpassend (vgl. Luh-
mann 2000: 25f.), ist doch zufälliges Bewirken weder machtvoll noch in seiner
Kausalität eindeutig bestimmbar. Nur folgerichtig gilt Macht gemeinhin daher
als ein Mittel zu anderen Zwecken, so dass, wer sie als Zweck an sich selbst
praktiziert, mit moralischer Verurteilung rechnen muss. Damit eng verknüpft
ist viertens eine durchgängige Dualität und Oppositionalität in der Begriffslo-
gik: Macht wird nahezu ausschließlich als "Freiheitsbegrenzung" (Popitz 1992:
17) und Beeinträchtigung in ausdrücklicher Opposition zu Freiheit konzipiert,
damit in ein Kontinuum mehr oder weniger großer Unfreiheit gestellt und mit
Herrschaft, Gewalt und Zwang in Verbindung gebracht oder bisweilen sogar
synonym verwandt: Gewalt - so die beanspruchte Logik - ist dann nichts ande-
res als "gesteigerte Macht" (Schwartländer 1973: 869) und "die Erscheinung
der Macht oder die Macht als Äußerliches" (Hegel, zit. Röttgers 1990: 524),
während - umgekehrt - ,,Macht nichts anderes ist als gemilderte, nämlich
durch Recht eingeschränkte Gewalt" (Schwartländer 1973: 869). Solchermaßen
zwischen Gewalt und Herrschaft eingespannt gerät der Begriff der Machtfiinf-
tens in einen weitgehend politischen Kontext, der seinerseits wiederum auf den
Begriff abfärbt und Macht überwiegend als ein politisches Phänomen im enge-
ren nahelegt. Schließlich ist Macht sechstens mit einer spezifischen normativen
Problematik verbunden, die sich als ambivalente Bewertung auch begriffssys-
tematisch niederschlägt: zwar gilt sie generell als ein kaum verzichtbares und
(inzwischen) durchaus auch positiv anzustrebendes Gut, doch wird Macht
weitgehend dann doch als negativ aufgeladener Begriff verstanden, der zumeist
pejorative Bedeutung hat. Ihre Thematisierung nimmt daher allzu leicht immer
wieder den Charakter der Entlarvung, der ,Macht-Decouvrierung' an, so dass
der Begriff in seinem Gebrauch einen vermeintlich kritischen Anstrich erhält,
den auf sich beziehen zu können meint, wer von Macht - wie auch immer offen
- schon spricht. In dieser Ambivalenz aber scheint allemal zu gelten: wer die
Macht ,hat', spricht nur selten von ihr, so dass der, der von ihr spricht, immer
im Geruch steht, sie selbst erlangen zu wollen. Dies gilt auch begriffstheore-
tisch, so dass auch jede Machtdefinition mindestens performativ in das, wor-
über sie spricht, selbst verwickelt ist. Summarisch ließe sich daher zunächst
formulieren, dass Macht alltagsweltlich bedeutet, andere zu seinen eigenen
Die Macht der Macht - Rückfragen an Michel Foucault 123
Gunsten oder Zwecken beeinflussen und den eigenen Willen auch gegen ande-
re und deren möglichem Widerstand durchsetzen zu können. Dabei wird die
Möglichkeit der Durchsetzung fÜckgebunden an eine spezifische Fähigkeit
oder Essentialität - Autorität zum Beispiel - dessen, der die Macht - letztlich
dann doch zumeist als eine Form der Übermacht und des Zwangs - (inne) hat,
so dass Macht alltags sprachlich - auch in ihrer produktiven Bedeutung, etwas
bewirken und hervorbringen zu können - schließlich doch an Repression und
Gewalt gebunden bleibt. Folge machtvoller Durchsetzung ist dabei die dauer-
hafte (und gerade nicht bloß einmalige) Etablierung von Über- und Unterord-
nungsverhältnissen, die so auch als soziale Ungleichheit thematisierbar werden
und immer eine ökonomische Bedeutung enthalten; ihre Nähe zu Formen in-
stitutionalisierter Herrschaft ist damit angebahnt. Wie aber Macht alltagswelt-
lich erklärt, worauf sie gegründet und wie sie auf Menschen und ihre Konstitu-
tion fÜckbezogen wird, bleibt ebenso umstritten wie oberflächlich; auffällig ist
aber, dass eher schlichte Modelle - wie etwa ,Macht als Trieb' oder ,Willen
zur Macht' - die Auseinandersetzung dominieren (vgl. Thomae 1962) und die
Explikation jeweiliger anthropologischer Annahmen beschweren (vgl. Gehlen
1961).
Wenig erstaunlich ist daher, dass gerade jene Definition von Macht im-
mer wieder rekapituliert und sogar als "in der Tat glücklich" eingeschätzt
wird (Dahrendorf 1963: 569), die diese Elemente einer alltagsweltlichen Be-
deutung auch theoretisch zu reformulieren scheint und ihnen so eine gewisse
Weihe gibt. So kann seit gut 80 Jahren insbesondere Max Webers Definition
von Macht als soziologische Kerndefinition gelten, die nicht nur immer wie-
der zustimmend aufgenommen worden ist, sondern auch ,dogmengeschicht-
lich' von außerordentlicher Bedeutung ist und inzwischen zu vielfachen ,Pla-
giaten' geführt hat (vgl. Hradil 1980: 22 wie Hejl 2001: 398): "Macht be-
deutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen
auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance be-
ruht" (Weber 1972: 28). Machttheoretisch beunruhigend ist jedoch2, dass
Webers Definition zwar als begrifflicher Prototyp gelten kann, von ihm selbst
jedoch nicht weiter verfolgt worden ist: da "alle denkbaren Qualitäten eines
Menschen und alle denkbaren Konstellationen" jemanden "in die Lage ver-
setzen" können, "seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen"
(ebd.: 28-29), ist der Begriff der Macht "soziologisch amorph" (ebd.: 28) und
aufgrund seiner Willkürlichkeit wie Instabilität und nicht näher eingrenzba-
ren Abstraktheit wie Allgemeinheit "keine wissenschaftlich brauchbare Ka-
2 Dass dieser Begriff der Macht auch alltäglich nicht mehr ,nur' überzeugt, lässt sich an
einer interessanten Verschiebung desselben verdeutlichen: in ihrer Dokumentation
,Mythos Macht' bestimmen Reine und Meißle ,Macht' - dabei sprachlich zunächst an
Weber anschließend - als jenes Vermögen oder jene "Chance, den Willen anderer für
die Durchsetzung der eigenen Interessen zu nutzen". Bedeutsam daran ist, dass in die-
ser Umakzentuierung Macht und Freiheit gerade nicht mehr opposition al justiert sind
(vgl. dazu ReinelMeißle 2002), so dass schließlich eine ums Ganze verschobene Per-
spektive auf Macht eröffnet wird.
124 Norbert Ricken
tegorie" (ebd.: 542) - und wird von Weber direkt nach Einführung der Macht
als einem soziologischen Grundbegriff zugunsten des für ihn präziseren Be-
griffs der Herrschaft bereits wieder fallengelassen. "Herrschaft soll heißen" -
so Webers präzisierender Neueinsatz - "die Chance, für einen Befehl be-
stimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden" (ebd.: 28),
und markiert ein ebenso konkret fassbares und eingrenzbares wie institutio-
nell verlässliches Sozialverhältnis, "für einen Befehl Fügsamkeit zu finden"
(ebd.: 29). Auch seine Unterscheidung und Analyse der verschiedenen "Typen
der Herrschaft" (vgl. Weber 1972: 122-176) belegt die eigentümliche Unbe-
stimmtheit des Machtbegriffs als bloßem "Einfluß" (Weber 1972: 122) und
verstärkt die Tendenz, Formen der Herrschaft und Macht weitgehend (nur) un-
ter Legitimitätsaspekten zu diskutieren: "Dass dieser und nicht irgendein ande-
rer Ausgangspunkt der Unterscheidung gewählt wird, kann nur der Erfolg
rechtfertigen. [... ] Die Legitimität einer Herrschaft hat - schon weil sie zur Le-
gitimität des Besitzes sehr bestimmte Beziehungen besitzt - eine durchaus
nicht nur ,ideelle' Tragweite" (ebd.: 123). In dieser Pointierung aber verengt
Weber nicht nur das Problem der Herrschaft auf die - legitimitätstragende -
Relation von Befehl und Gehorsam qua Disziplin (vgl. Weber 1972: 29 wie
123 u.ö.); er verbaut sich auch die Möglichkeit einer theoretischen ,Kritik der
Macht', indem er überwiegend die Legitimitätsproblematik von Herrschaft als
einer notwendigen sozialen, durch Zustimmung getragenen Ordnung reflek-
tiert. Auch Webers methodologischer Ausgangspunkt seiner verstehenden ,So-
ziologie der Herrschaft' - den Kern alles Sozialen im ,subjektiv sinnhaften
Handeln' des einzelnen Individuums zu verankern (vgl. Weber 1972: 1 wie
6ff.) und insofern Gesellschaft nur als "Vergesellschaftung" (Weber 1972:
21f.) denken zu können - trägt zu einer weiteren begrifflichen Verengung
bei, welche die Bahnen der folgenden machttheoretischen Diskurse maßgeb-
lich vorgezeichnet hat (vgl. Käsler 1995, Breuer 1991 wie Imbusch 1998).
Kontrastiert man aber diese alltagsweltliche Bedeutungsfassung samt ih-
rem wissenschaftlichen Analogon in Gestalt des Weberschen Aufrisses mit
begriffsgeschichtlichen Befunden (vgl. Röttgers 1990), so lässt sich nicht nur
zeigen, dass in ,Macht' immer auch mehr und anderes thematisiert worden
ist, so dass die neuzeitliche Bedeutungsfassung als überaus problematische
Verkürzung sichtbar wird; vielmehr erweist eine solche ,Spurenkunde der
Macht' (vgl. Röttgers 1990: 32) auch, dass ,Macht' ohne Berücksichtigung
ihrer (historischen) Vieldimensionalität nur verkürzt konzipiert werden kann
und insofern einer weitreichenden Rekontextualisierung bedarf. Folgt man
daher den begriffs geschichtlichen Problematisierungen, die ,Macht' nicht nur
in ihrem Verhältnis zu ,Freiheit' justieren, indem sie zwischen Recht und
Gewalt (potestas) unterscheiden, sondern diese vor allem als Verhältnisbe-
stimmung von Möglichkeit und Wirklichkeit (potentia bzw. ,öDvuf.Lt<;') ent-
falten (v gl. Röttgers 1990 wie auch Ricken 2003: 48-53)3, so zeigt sich, dass
3 Bereits etymologisch verweist Macht auf Möglichkeit, indem es gerade nicht auf ,ma-
chen', sondern als ,maht' (ahd. wie mhd.), ,mah-ti-f' (germ.) oder ,mahts' (got.) auf
Die Macht der Macht - Rückfragen an Michel Foucault 125
, magan' (got.) zurückgeführt werden muss und daher vielmehr, können' und , vermö-
gen' bedeutet (vgl. Kluge 1999: 530 wie auch Grimm 1885: VI, 1397). Doch zeigen
sich bereits in der Auslegung und Erklärung von ,Können' erste Weichenstellungen,
die in verschiedene Bedeutungsfelder führen: während ,Können' zunächst (nur) eine
bestehende Möglichkeit anzeigt und damit einen (auch logischen) Relationsbegriff
markiert, lässt es sich auch als "Fähigkeit oder Kraft eines Handlungssubjekts" (Rött-
gers 1990: 51) auslegen und ,substantialisch' interpretieren. Dabei zeigt sich das eine
als (wenn auch vermeidbare) Konsequenz des anderen: denn lässt sich Möglichkeit
weder als ,bloße Möglichkeit' noch als ,verwirklichte Möglichkeit' konsistent be-
stimmen, so dass der Begriff der ,Macht' sich bereits hier in erste logische Schwierig-
keiten verwickelt, so bietet es sich an, diesen - "freilich auf fragwürdige Weise"
(Röttgers 1990: 51) - zu entkommen mithilfe der Konstruktion eines subjektiven
,Vermögens' als einer Art ,innerer Kräfte', "die im Extremfall auch permanent im
Verborgenen der Innenwelt bleiben könnten, im Normalfall aber nach außen wirken"
(Röttgers 1990: 51). Weil aber beides allein für sich - Macht als bloße Möglichkeit
oder Macht als verwirklichte Fähigkeit - theoretisch nicht zu befriedigen vermag,
wird ,Macht' weitgehend - exemplarisch von Zedlers Bestimmung der Macht als
"Krafft oder Vermögen, das mögliche würcklich zu machen" (Zedler 1739: XIX,
86f.), bis hin zu Habermas' Begriff der Macht als "Potenz [... ], die sich in Handlungen
aktualisiert" (Habermas 1978: 103) - ,zwischen' Wirklichkeit und Möglichkeit jus-
tiert. Vgl. dazu ausführlicher Röttgers 1990, der die aus dieser Weichenstellung resul-
tierenden Folgen präzise rekonstruiert und als (dann auch rechtstheoretisch justierte)
Versuche, die modallogische Problematik stillzustellen, lesbar macht.
126 Norbert Ricken
4 Von hier wird nachvollziehbar, dass auch ,Macht' - auch und gerade pädagogisch -
kategorial bedeutsam wird und durchaus als ,Grundbegriff' zu diskutieren ist; vgl. da-
zu auch den Beitrag von Schäfer in diesem Band.
128 Norbert Ricken
2.
Die gegenwärtig beobachtbare Konjunktur Foucaultscher Machttheoreme
lässt sich vor dem hier skizzierten Panorama auch als Ausdruck einer theore-
tischen Unzufriedenheit mit tradierten Machtbegriffen lesen, die es zumeist-
trotz aller Betonung der Relationalität von Macht - doch nicht erlauben, ins-
besondere auch Steuerungs- und Regulierungsmechanismen als Machtstrate-
gien zu interpretieren, die sich Prozesse der Selbstbestimmung nutzbar zu
machen versuchen und daher nicht einfach als Repressionstaktiken entziffer-
bar sind. Zudem nährt deren Grundüberzeugung - Macht "erweitert die Frei-
heit des einen gegen den anderen, indem sie sein Nein bricht, seine Freiheit
negiert" (SofskylParis 1994: 9) - trotz aller Einsicht in die jeweilige Be-
dingtheit und Begrenztheit der Menschen die (zwar illusionäre, aber überaus
wirkungsvolle) Vorstellung, dass zwar Macht, nicht aber auch Freiheit ein
soziales Phänomen ist, das "beginnt, wenn Menschen aufeinander treffen"
(ebd.: 12). Symptomatisch: "Das Handeln des einen endet am Widerstand des
anderen, seiner unhintergehbaren Selbständigkeit und Freiheit, etwas anderes
zu tun, als von ihm erwartet wird. Dagegen geht die Macht vor" (ebd.: 9).
Ein nur kurzer Blick in die (nicht mehr ganz) jüngste Machttheorie be-
lehrt aber, dass die immer wieder reformulierte Oppositionalität und Hierar-
chisierung von Freiheit und Macht alles andere als überzeugend und frucht-
bar ist. Bereits Simmels erstaunlich früher Vorschlag (1908), Machtbezie-
hungen in "ihrer Korrelation zur Freiheit" (Simmel 1992: 246) zu betrachten
und als komplexe, Über- und Unterordnungsverhältnisse' (vgl.: ebd.) zu skiz-
zieren, die sich - so schmerzhaft es bisweilen sein kann - ohne die Berück-
sichtigung der "Mitwirksamkeit des untergeordneten Subjektes" (ebd.: 162)
nicht angemessen verstehen lassen, zielt gegen eine sichtlich verbreitete "po-
puläre Ausdrucksweise" (ebd.: 161), in der die "Ausschaltung jeglicher [ei-
gener] Spontaneität innerhalb eines Unterordnungsverhältnisses" (ebd.) sug-
geriert wird und in Redeweisen des ",Zwanges', des ,Keine-Wahl-habens'"
oder gar der ,,'unbedingten Notwendigkeit'" (ebd.) sich niederschlägt. Sim-
mels Schlussfolgerungen sind dabei wegweisend: Über- und Unterordnung
müssen erstens als "komplizierte Wechselwirkung" (ebd.: 165) begriffen
werden, in der es weder "absolute(s) Beeinflussen" noch "absolute(s) Beein-
flusstwerden" (ebd.) gibt, so dass auf beiden Seiten Aktivität und Passivität
sich ineinander verschränken - mit dem Effekt, dass auch "alle Führer [... ]
geführt" (ebd.: 164) werden. Diese enge ,Wechselwirksarnkeit' lässt sich
aber zweitens nicht nur auf Phänomene der Über- und Unterordnung bezie-
hen, sondern gilt auch für - analog strukturierte - Befreiungsprozesse, so
dass auch "Befreiung von Unterordnung" (ebd.: 252) nicht bloß auf "Nicht-
Beherrschtwerden" (ebd.: 254) zielt, sondern fast immer auch als neuer "Ge-
winn irgendeiner Herrschaft" (ebd.: 252) erläutert werden kann (und muss).
Diese Korrelation von Macht und Freiheit aber lässt sich drittens nur ange-
messen mit dem Begriff der ,Führung' (ebd.: 163f.) beschreiben, erlaubt
doch dieser, in der ,Führung' durch andere sowohl die eigene Aktivität mit-
Die Macht der Macht - Rückfragen an Michel Foucault 129
(ebd.: 151) zu fassen und damit als "Prozessieren von Kontingenz" (Luh-
mann 1975: 118) medial zu buchstabieren5: als "Chance, die Wahrschein-
lichkeit des Zustandekommens unwahrscheinlicher Selektionszusammenhän-
ge zu steigern" (Luhmann 1975: 12) und dadurch die aus ,doppelter Kontin-
genz' resultierende (auch existentiale) Unsicherheit zu absorbieren (vgl.
Luhmann 1975: 9 und 2000: 36 wie 41ff.).
Vor diesem Hintergrund kursorisch ausgewählter machttheoretischer
Stationen lassen sich nun die immer noch bisweilen heftig umstrittenen
Überlegungen Foucaults zum Problem der Macht als konsequente (wenn
auch nicht ausdrückliche) Fortführung und Konkretion bisheriger Markierun-
gen verstehen: zum einen erlaubt seine - insbesondere die Relationalität von
Macht pointierende - Kennzeichnung der Macht als einer "Führung der Füh-
rungen" (Foucault 1994: 255) die Bündelung und systematische Justierung
der bisher eingeschlagenen modallogischen Perspektive, so dass mit Macht
ein "Handeln auf Handeln" (ebd.: 254) markiert ist, das in einem "Möglich-
keitsfeid" (ebd.: 255) operiert und, indem es anstachelt, eingibt, ablenkt, er-
leichtert oder erschwert und begrenzt, "mögliche Handlungen" "mehr oder
weniger wahrscheinlich" (ebd.) zu machen sucht; "regieren heißt in diesem
Sinne" - so Foucaults Erläuterung der "Tätigkeit des Anführens" (ebd.) -,
"das Feld eventuellen Handeins anderer zu strukturieren" (ebd.), ohne jedoch
dabei das jeweilige ,Sich-Verhalten' und ,Sich-Führen' der solchermaßen
,Angeführten' zu übergehen und deren wie auch immer bedingte "Freiheit"
(ebd.) zu negieren. Unmissverständlich notiert er: "Macht wird nur auf ,freie
Subjekte' ausgeübt und nur sofern diese ,frei' sind. [... ] Dort, wo die Deter-
minierungen gesättigt sind, existiert kein Machtverhältnis" (ebd.). Zum ande-
ren aber illustrieren Foucaults genealogische Arbeiten eindrücklich die Viel-
falt historischer Machtformationen und belegen deren Wandel von der souve-
ränen Macht, die qua Normierung und Repression überwiegend verbietet und
ausschließt, über die Disziplinar- und Integrationsmacht, die qua Normalisie-
rung reguliert und einschließt, bis hin zu Bio- und Pastoralmacht, die unter
der Maßgabe einer produktiven Lebensermöglichung ebenso Bedingungen
wie Selbsttechnologien zu figurieren suchen.6 "Man könnte sagen", so ließe
9 Insbesondere die Anmerkungen von Fraser, Habermas wie Taylor können als exem-
plarische Kritikfiguren gelesen werden, die allesamt um die Ambivalenz "empirischer
Einsichten und normativer Unklarheiten" (Fraser 1994) kreisen und den vermeintli-
chen "Monismus der Macht" (Fink-Eitel 1980: 64) attackieren; vgl. auch die eher ver-
einfachenden Überlegungen von Wehler (1998) wie die wesentlich differenziertere
Argumentationen Honneths (1989 und 2003). Als erster Überblick vgl. Lemke (1997:
11-37) wie auch Ricken 2003: 82ff. und 99ff., als kritische Einschätzung der Kritik
vgl. insbes. DotzlerNillinger 1986, Kelly 1994 und insbes. Schäfer 1995.
Die Macht der Macht - Rückfragen an Michel Foucault 133
Macht erst recht, sondern auch in der Weise, dass Macht an und in relationa-
ler ,Inter-Subjektivität' (vgl. Meyer-Drawe 1984) erläutert werden können
muss. Das aber verlangt, gerade nicht bei bloß allgemeiner sozialer Beein-
flussbarkeit stehen zu bleiben oder gar immer wieder eher plumpe Konstrukte
eines linearen Machtwillens oder Durchsetzungsstrebens zu bemühen, son-
dern diesseits individualtheoretischer Zugriffe der Ineinanderschachtelung
von Selbst- und Anderenführungen ausdrücklich nachzugehen.
3.
Folgt man den bisherigen Weichenstellungen, Macht als einen Beobach-
tungsbegriff für soziale Konditionalität zu justieren und produktiv auf jewei-
lige Selbstverhältnisse zu beziehen, so zeichnet sich eine erhebliche systema-
tische Schwierigkeit ab, die auch die Analysen Foucaults belastet lO : nicht nur,
weil Macht weder auf vermeintlich objektive Strukturen noch auf bloß sub-
jektive Intentionen reduziert werden kann, so dass nun umgekehrt jeder Ver-
such, Macht ohne Berücksichtigung jeweiliger Selbstverhältnisse konzipieren
zu wollen, als machttheoretisch ,naiv' gelten muss; sondern vor allem, weil
mit dieser ausdrücklich nicht-linearen Begriffsfassung Subjektivität als wi-
dersprüchliches Doppel erscheint und nun einerseits als (vorgängige) Bedin-
gung, auf die Macht angewandt wird, und andererseits als (nachgängige) Fol-
ge wie Produkt von Macht thematisiert wird. Beides aber zugleich denken zu
wollen (und zu müssen), stellt vor theoretische Aporien, die die eingewöhnte
Unterscheidung von ,Innen' (Freiheit) und ,Außen' (Macht) empfindlich ir-
ritieren und insofern einen systematischen Umbau erzwingen, Subjektivität
als ,relationale Relationalität' - als sowohl durch andere bedingtes und auf
andere angewiesenes Selbstverhältnis \Individualität) als auch als Anderen-
verhältnis (Sozialität) - zu konzipieren. I
Hilfreich nun scheint eine Überlegung Judith Butlers, die diese in einer
subtilen Rekonstruktion des von Foucault eingeführten Begriffs des ,assujet-
tissement' (vgl. Foucault 1976: 42 u.ö.) - der gleichzeitigen (und insofern pa-
radoxen) Hervorbringung und Unterwerfung von Subjektivität - entwickelt
und mit ,theories in subjection' (dt.: Subjektivation) überschrieben hat (vgl.
Butler 2001 wie 2003). Ausgehend davon, dass die Macht weder auf das
Subjekt zurückgeführt werden kann noch diesem bloß äußerlich ist und ge-
genüber steht, sucht Butler die Problemkreise von Macht und Subjektivität in
einer anerkennungstheoretisch justierten Argumentation zu verknüpfen, die
es erlaubt, ,Selbstsein' und ,Mit-anderen-Sein' relational ineinander zu den-
ken, so dass Subjektivität als ebenso nicht-hintergehbar (,subiectum' als ,Zu-
grundeliegendes') wie nicht-ursprünglich (,subiectum' als ,Unterworfenes')
in den Blick kommen kann. Die (insofern) paradoxe Logik der Subjektivation
(vgl. Butler 2001: 7ff.) erläutert sie daher in zweierlei Richtung: einerseits
können wir, so Butler, unser "Verhaftetsein mit uns selbst" nur über "ver-
mittelnde Normen [entwickeln], die uns einen Sinn für das zurückgeben, was
wir sind" (Butler 2003: 62), ist doch das "Subjekt [... ] genötigt, nach Aner-
kennung seiner eigenen Existenz in Kategorien, Begriffen und Namen zu
trachten, die es selbst nicht hervorgebracht hat" (Butler 2001: 25) - mit dem
Effekt, dass die "Annahme von Machtbedingungen" nichts anderes ist als die
"nüchterne Grundlage der Subjektwerdung": "Unterordnung ist der Preis der
Existenz" (ebd.). Andererseits aber ist genau jener Bereich, der aus den (his-
torisch kontingenten und insofern immer partikularen) Normen herausfallt,
genau jener Bereich, den wir zwar "ohne Anerkennung leben" müssen (But-
ler 2003,63), der uns aber erlaubt, die auferlegte Beschränkung und Konfor-
mität zu durchbrechen, ohne jedoch damit den vorgängigen Normen der An-
erkennung entkommen zu können. Butlers zentraler Befund - "Nur indem
man in der Alterität beharrt, beharrt man im ,eigenen' Sein" (Butler 2001:
32) - spiegelt die eigentümlich paradoxe Logik und verlangt nach Erläute-
rung: "Um zu sein", so formuliert sie pointiert, "müssen wir [ebenso] aner-
kennbar sein" (Butler 2003: 64), wie zugleich "die Normen in Frage stellen,
durch die uns Anerkennung zuteil wird", so dass ,Selbstsein' immer auch
heißt, im "Ruf nach neuen Normen" der Anerkennung unser "eigenes Sein zu
gefährden" (ebd.), uns von uns selbst abzulösen und die mühsam erworbene
Selbstidentität immer wieder neu preisgeben zu müssen. Es ist diese Doppel-
bewegung von ,Unterwerfung' und ,Überschreitung' (vgl. Rieger-Ladich in
diesem Band), die Butlers subjektivitätstheoretische Konzeption kennzeich-
net l2 ; ihre Weigerung aber, dem Zusammenhang beider ein wie auch immer
Relation mit anderen und anderem (vgl. Anzieu 1991); zugleich ist mein - immer
auch leibliches - Verhältnis zu mir selbst nicht nachträgliche Konstatierung dessen,
was ich bin, sondern von Anfang an selbst die Weise, wie ich bin, ohne dass das eine
auf das andere zurückführbar wäre. Vgl. dazu ausführlicher auch Ricken 1999.
12 Sie erlaubt zugleich, die Foucaultschen Termini ,assujettissement' (vgl. Foucault
1976: 42) und ,desassujettissement' (vgl. Foucault 1992: 15) in einen systematischen
Zusammenhang zu setzen und weist damit ,Entunterwerfung' und ,Kritik' als ein
136 Norbert Ricken
konstitutives Moment jeder ,Identitätsbildung' nach. Konformität ist daher nicht nur
vielleicht nicht wünschenswert (und insofern ein eher normatives Problem), sondern
strukturell nicht möglich, so dass ,Eigensinn' sich (im Ungehorsam) dann immer ir-
gendwie Bahn brechen muss; es ist immer bereits demütigend, zu dem mit Nachdruck
aufgefordert zu werden, was man selbst schon zu tun beabsichtigt hat. Entscheidend
ist, dem Rechnung zu tragen - oder nicht.
Die Macht der Macht - Rüclifragen an Michel Foucault 137
,sein'" (Butler 2001: 123), die unsere "Anfälligkeit" (ebd.: 103) für "Identi-
tätsverlockungen" (ebd.: 122) und Vollständigkeitsversprechungen ausmacht
und uns gerade im Namen vermeintlich erreichbarer Unabhängigkeit derart
,regierbar' macht. Ihr Mechanismus - sie "macht uns glauben, dass es darin
um unsere ,Befreiung' geht" (Foucault 1977: 190) - ist insofern nicht nur ei-
ne "Ironie des Dispositivs" (ebd.), wie Foucault provozierend formulierte,
sondern deren Strategie selbst, die dessen Behauptung der "Unterwerfung
durch Subjektivität" (Foucault 1994: 247) nachvollziehbarer macht. Insofern
das ,Eigene' nur am ,Fremden' gewonnen und insofern nie gänzlich besessen
werden kann, verleitet dies dazu, in der Bestimmung und Aneignung anderer
sowohl der eigenen als auch fremden Entzogenheit und Andersheit entkom-
men zu wollen - sei es als Unterwerfung und Abwertung anderer zu Zwecken
zentrischer Selbststabilisierung und Selbstaufwertung, so dass die Negation
des anderen als Anderen die eigene Verwiesenheit, Bedingtheit und daraus
resultierende Verletzlichkeit vermeintlich zu minimieren erlaubt; oder sei es
als Unterwerfung unter andere zu Zwecken gesicherter Anerkennung und
Selbstvermeidung, so dass die Negation des eigenen Selbst vermeintlich auch
von dessen Bedrängtheit und Riskanz suspendiert. Zugespitzt formuliert:
nicht nur, weil wir auf die Anerkennung anderer angewiesen sind und blei-
ben, sind wir regierbar; sondern auch, weil Andere und wir uns selbst immer
auch entzogen sind, wollen wir regieren. Butlers Überlegungen aber eröffnen
schließlich viertens auch eine neue Perspektive, Kritik und Widerstand dies-
seits der schiefen Alternative von Selbst- und Fremdbestimmung zu refor-
mulieren und qua Entzogenheit und Fremdheit als praktische ,Tugend der
Entunterwerfung' (vgl. Butler 2002) auszulegen; deren zentraler Mechanis-
mus einer unweigerlichen, Überschreitung' resultiert dabei weniger aus theo-
retisch-generalisierenden Argumentationen als vielmehr aus der Einsicht in
die eigene Selbstbeschränktheit durch Konformität (vgl. Butler 2003: 64):
"Wir können vielleicht wirklich spekulieren, dass der Moment des Wider-
stands, der Opposition eben dann entsteht, wenn wir uns an unsere Beschrän-
kung verhaftet finden; wenn wir uns in unserem Verhaftetsein beschränkt
finden. [... ] Die Tatsache, dass die menschliche Leidenschaft der Selbster-
haltung uns anfällig und verletzlich gegenüber denen macht, die uns unser
Brot versprechen, bringt auch die Möglichkeit der Revolte mit sich" (ebd.: 64
und 67).
Auch wenn Butlers eigentümlich ,existential' anmutenden Reflexionen
der Foucaultschen Terminologie gegenüber zunächst fremd (und mit ihr un-
vereinbar) erscheinen mögen, so erlauben sie doch eine Präzisierung des
Foucaultschen Machtzugriffs: nicht nur, weil sie dessen Forderung - "Wir
müssen neue Formen der Subjektivität zustandebringen, indem wir die Art
von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückwei-
sen" (Foucault 1994: 250) - als genealogisch begründet zu lesen erlauben
und damit deren ,ästhetischer Verseichtigung' zu oberflächlicher ,Selbstsor-
ge' (vgl. insbes. Schmid 1991) zu widersprechen zwingen; sondern auch,
weil sie ,Macht' - insbesondere mit Blick auf die ,Macht der Macht' - als ein
138 Narbert Ricken
13 Durchmustert man die unterschiedlichen Figuren der Negativität (vgl. Ricken 2004b),
so stößt man zunächst auf vielfältige Phänomene, die vom Nein-Sagen und Nein-
Sagen-Können über Formen des Nicht-Wissens und Nicht-Könnens bis schließlich
hin zu Fragen der Fragilität, Endlichkeit und Nichtigkeit reichen (vgl. Rentsch 2000:
10 u.ö.). Wie auch immer man nun diese unterschiedlichen Facetten einander zuordnet
und sortiert, immer wird mit Negativität ein Phänomen der Nichtpassung, Nichter-
reichbarkeit und Nichtvollständigkeit markiert, das - bereits begrifflich - als proble-
matisch aus- und nahegelegt wird. Systematisch gesehen lassen sich dreierlei Dimen-
sionen der Negativität unterscheiden: was zunächst im konkreten Nichtwissen und
Nichtkönnen als ,bestimmte Negation' vorherigen Wissens und Könnens erfahren
wird, fuhrt im anhaltenden Prozess der Erfahrung unweigerlich zur Einsicht in eine
,prinzipielle Negativität', die sich im Nichtkönnen- und Nichtwissenkönnen nur als
dauernde Nichterreichbarkeit, Entzogenheit und unaufhebbare Fremdheit erläutern
lässt und wohl unweigerlich die ,Nachtseite' (Plessner) unserer immer bedingten
Weltoffenheit markiert; diese aber verweist als wiederholte ,,Erfahrung der Nichtig-
keit" (Gadamer 1999: 360) schließlich auf ein, weitreichendes Wissen' (ebd.: 359), in
dem wir - wie Gadamer formuliert hat - "unserer Endlichkeit und Begrenztheit im
ganzen inne sind" (ebd.: 368). Negativität, so ließe sich bündeln, ist daher weder ein-
fach Missgeschick oder Bagatelle noch bloß Phase oder Durchgangsstadium, sondern
qua Erfahrung und Anerkennung bedeutsames Strukturmoment menschlicher Existenz
überhaupt und betrifft - wie Rentsch jüngst formulierte - "als anthropologische Fra-
gilität und Endlichkeit, Bedürftigkeit, Mangelhaftigkeit [... ] und Fehlbarkeit [... ] jeden
Menschen" (Rentsch 2000: 10). Vgl. insgesamt Weinrich 1975 und Rentsch 2000 wie
aus pädagogischer Perspektive auch die verschiedenen Beiträge in Benner 2004.
Die Macht der Macht - Rückfragen an Michel Foucault 139
und sich allererst selbst hervorbringen zu müssen, damit eher einseitig auf der
,Aufgabenseite' - mit dem Effekt, dass die längst als problematisch eingese-
hene Oppositionalität von Selbst- und Fremdbestimmung nur zementiert wird
und zur latenten Abwertung des Gegebenen führt. Versteht man Subjektivität
hingegen als Relationalität, d.h. als ein , Verhältnis, das sich zu sich selbst
verhält' (Kierkegaard), so zeigt sich neben Gegebenheit und Aufgegebenheit
ein drittes Moment, das allein aus doppelter Relationalität [x(y) +-+ y(x)] re-
sultiert und mit Entzogenheit bzw. Fremdheit bezeichnet werden kann. Sub-
jektivitätstheoretisch kommt es daher darauf an, Subjektivität als Dreidirnen-
sionalität verständlich zu machen, in der Gegebenheit, Aufgegebenheit und
Entzogenheit sich als Konstitutionsmomente ineinander verschränken: Sub-
jektivität hieße dann nicht nur, sich zu sich selbst und zu anderen wie ande-
rem gar nicht, vollständig' und transparent verhalten zu können (weil es nicht
gelingen kann, sich gänzlich vor sich selbst zu bringen), sondern sich zu die-
ser Selbst- und Anderenentzogenheit selbst wiederum verhalten zu müssen,
so dass Subjektivität als ,Differenz' deutlich werden könnte, die sich gerade
nicht in ,Identität' auflösen lässt, sondern durch Brüche, Verwerfungen und
, blinde Flecken' gekennzeichnet ist. In ihr ist daher mit Entzogenheit ein
konstitutives Moment neben Gegebenheit und Aufgegebenheit bezeichnet,
das nicht mit Entfremdung (aus ursprünglicher Vertrautheit und Beheima-
tung) verwechselt werden darf und daher systematisch eigenständige Berück-
sichtigung finden muss. 14
Was subjektivitätstheoretisch als prinzipielle (und gerade nicht bloß zu-
fällige oder ,künstlich' erdachte) ,Unausdeutbarkeit des Selbst' (vgl. Gamm
2000) einleuchtet, ist auch macht- wie kritiktheoretisch bedeutsam und sei im
kurzen Rückgriff auf Unterscheidungen Foucaults nur angedeutet: während
souveräne Macht als eine ,Führungsführung' qua Gegebenem (Gesetz) bzw.
Entzogenem (Religion) gelesen werden kann, die Aufgegebenheit zu mini-
mieren sucht und - dadurch (!) - diese als Quelle der Kritik allererst einsetzt
und stärkt, so dass das widersprechende ,Für-mich-aber' zum Argument ge-
gen ein ,An-sich' wird, zielt pastorale Macht als ,Führungsführung' auf das
Aufgegebene, das sie - wenn auch historisch dann unterschiedlich dimensio-
niert - zu bearbeiten sucht, indem das Gegebene eher eingeklammert wird;
Bio-Macht (als Bio-Politik) hingegen ließe sich dann als Arrangement des
Gegebenen rekonstruieren, durch das die Spielräume des Aufgegebenen vor-
strukturiert und eingeschränkt werden sollen. Zweierlei Folgerungen seien
exemplarisch erwähnt: zum einen kann der Wandel von negativer zu positi-
ver Macht als systematische Berücksichtigung von Aufgegebenheit zu Zwe-
14 Vor der hier nur angedeuteten Dreidimensionalität wird auch deutlich, wie und warum
,anthropologische Relativismen' - die Menschen seien die (wenn auch sozialen) Kon-
struktionen ihrer seIbst - mindestens zu einfach, wenn nicht gar schlicht falsch sind,
ohne dass deswegen ,substantialen Anthropologien' zugeneigt werden muss. VgI. aus-
führlicher dazu meine Überlegungen in Ricken 2003 wie 2004a, in denen ich - im
Rückgriff auf die Arbeiten Plessners - versucht habe, diese Dreidimensionalität als
eine elementare anthropologische Struktur aufzuweisen.
140 Norbert Ricken
cken der Steigerung und Vertiefung von Macht verständlich gemacht werden,
der nicht nur allgemein der jeweiligen Widerspenstigkeit der Menschen
Rechnung zu tragen versucht (vgl. Foucault 1976), sondern sich sehr genau
der kalkulierenden Beobachtung, dass einerseits alles, was ist, sich jeweilig
zu eigen gemacht werden muss, dieses aber andererseits auch an (gegebene)
Bedingungen geknüpft ist, verdankt (vgl. Foucault 1995). Zum anderen aber
kann Kritik als jeweilige Pointierung einer der ,unterschlagenen' bzw. gar
, unterdrückten' Momente erläutert werden: wie Selbstbestimmung gegen
(diese ausschließen bzw. bestimmen wollende) Fremdbestimmung als Kritik
zu taugen scheint, so ist der Rekurs auf Selbstbestimmung dann weitgehend
ohnmächtig, wenn Aufgegebenheit selbst zentrales Feld der Macht geworden
ist. Angesichts der gegenwärtig beobachtbaren Dominanz pastoraler Macht-
figurationen, die sich im ,Für-mich' legitimieren und im Versprechen ,stabi-
ler Identitäten' andere als Experten meiner ,Selbstsorge' zu installieren su-
chen (vgl. insgesamt Bröckling u.a. 2004), scheint es dann eher ,kritisch',
statt dauernd auf Selbstbestimmung und Autonomie zu pochen, vor allem
Momente der ,Entzogenheit' und ,Gebrochenheit' so zur Geltung zu bringen,
dass sie als jeweilig, blinde Flecken' des aktuellen ,Regiments' deutlich wer-
den können - ohne zugleich damit als substantiale Universalien und überdau-
ernde Kategorien von Kritik überhaupt Geltung beanspruchen zu können.
(vgl. Ricken 2002).
Mit diesen wenigen Andeutungen sei ein kategorialer Horizont skizziert,
der es - ausgehend von (dreidimensional verfasster) Subjektivität - erlaubt,
Macht als ,Führungsführung' wie Kritik als ,Entunterwerfungspraxis' syste-
matisch so zu formulieren, dass diese zugleich in Eigengestalt wie (histori-
scher) Variabilität deutlich werden können und auf jeweilige menschliche
Selbstauslegungen beziehbar werden. Wäre dies überzeugend, wäre ein struk-
turaler Zugriff gewonnen, vor dessen (dreidimensionaler) anthropologischer
Matrix jeweilige Lebens-, Macht- und Kritikformen als unterschiedliche Ak-
zentuierungen und Verknüpfungen der jeweiligen Dimensionen lesbar wür-
den (vgl. Ricken 2004a). Foucaults pointierte Zurück- und Zurechtweisung,
dass Machtverhältnisse keine ,Sinnverhältnisse' seien (vgl. Foucault 1978:
29), wäre - wenn auch in ihrer Justierung gegen Intentionalität zunächst be-
rechtigt - dann aber eine problematische Verkürzung, die gerade das unter-
schlägt, was Macht allererst konstituiert: dass Menschen nicht einfach ,für
sich' oder gar bloß ,an sich' sind, sondern ihr Leben zwar ,für sich', aber
, von anderen her' allererst führen müssen - und allein deshalb ebenso regier-
bar sind wie selbst regieren wollen.
Die Macht der Macht - Rückfragen an Michel Foucault 141
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Alfred Schäfer
, Wissen' meint dabei nicht den Erkenntnisprozess als solchen, sondern die Bedeutung
von ,Erkenntnis' für das Selbstverständnis des Menschen. In den Worten Foucaults:
"Ich verwende das Wort ,Wissen' in Abgrenzung von ,Erkenntnis'. Mit ,Wissen'
ziele ich auf einen Prozess, der das Subjekt einer Veränderung unterwirft, gerade in-
dem es erkennt oder vielmehr bei der Arbeit des Erkennens. Es ist dieser Prozess, der
es gestattet, das Subjekt zu verändern und gleichzeitig das Objekt zu konstruieren. Er-
kenntnis ist die Arbeit, die es erlaubt, die erkennbaren Objekte zu vermehren, ihre Er-
kennbarkeit zu entwickeln, ihre Rationalität zu verstehen, bei der jedoch das for-
schende Subjekt fest und unverändert bleibt" (Foucault 1996: 52).
148 Alfred Schäfer
Dass Wissen Macht ist, ist daher so zu verstehen, dass Wissen Macht
verleiht, nicht aber so, dass Wissen per se schon Macht sei. Dies trifft auch
für die zweite, die reflexive Dimension der Aussage, dass Wissen Macht sei,
zu. Wissen verleiht nicht nur Macht über eine vermessene Welt, sondern gibt
dem Wissenden auch die Möglichkeit, sich selbst und seine sozialen Bezie-
hungen auf der Grundlage dieses Wissens zu ordnen. Solches Wissen macht
dem Menschen die eigene ,Natur' sowie die Logik sozialer Prozesse durch-
sichtig und rückt ihn - genau wie gegenüber der Natur - in die Position des
über sie Verfügenden. Auch solches Wissen verleiht Macht und auch hier
handelt es sich um eine Macht, die in der freien Verfügung des Wissenden
liegt: Er kann, muss sich aber nicht dieses Wissens bedienen. Wissen, so be-
trachtet, konstituiert die Freiheit des souveränen Subjekts gerade dadurch,
dass es diesem Möglichkeiten der Verfügung über sich selbst wie die Welt an
die Hand gibt. Solches Wissen ist Macht, sofern es befreit. Sich ihm zu un-
terwerfen, bedeutet Freiheit. 2
Dass diese Paradoxie des Wissens als solche nicht zum Problem wurde,
liegt an der cartesianischen Subjekt-Objekt-Trennung, jener Gegenüberstel-
lung von denkendem Verstand und dinglicher Welt, die noch durch das Indi-
viduum hindurchgeht. Nur wenn man davon ausgeht, dass die res cogitans
den Bezugspunkt der freien Verfügung über die res extensa bildet, die die
Welt wie auch die eigene Körperlichkeit umfasst, über die mit Hilfe des Wis-
sens (mächtig) verfügt werden kann, nur dann stellt die Einheit von Befrei-
ung und Unterwerfung auch hinsichtlich der eigenen Subjektivität kein Pro-
blem dar. Der Verstand als Ort des Wissens über die ausgedehnten Dinge im
Raum erscheint als das, was dem Wissen gegenübersteht und es auf die Welt
wie die eigene Körperlichkeit anwendet. Andererseits aber ist nicht zu über-
sehen, dass gerade der durch die Welt wie auch die eigene Leiblichkeit nicht
vermittelte Verstand nichts anderes ist als der Ort dieses Wissens, dass er oh-
ne dieses Wissen nichts ist. Dies impliziert zugleich, dass nur unter der Vor-
aussetzung der scharfen Subjekt-Objekt-Trennung das Wissen zwar einerseits
die (Verfügungs-)Macht des denkenden Verstandes konstituiert, dass aber
andererseits dieses Wissen als Wissen schon Macht über den denkenden Ver-
stand, der ohne es nicht vorstellbar wäre, bedeutet. Nimmt man dies ernst,
dann entfällt der Ort jenes souveränen Subjekts, das erst Wissen in Macht
verwandelt. Denn in einem solchen Fall, in dem Wissen selbst als Konstituti-
onsbedingung des der dinglichen Welt gegenüberstehenden Verstandes im-
mer schon Macht über diesen Verstand bedeutet, könnte das Subjekt nur noch
als Medium verstanden werden: als Effekt der Macht des Wissens.
Dies bildet nun genau den Einsatzpunkt der Perspektive Foucaults, in der
Wissen und Macht ebenfalls nicht unabhängig voneinander definiert werden:
Wissen wird auch hier nicht als das verstanden, was nur Verfügungs macht
konstituiert, sondern zugleich als das, was überhaupt die Vorstellung und
2 Diese Paradoxie steht an zentraler Stelle in der Dialektik der Aufklärung von Hork-
heimer und Adorno.
Macht - ein pädagogischer Grundbegriff? 149
Verkennung eines verfügenden Subjekts möglich macht, der sich die Indivi-
duen dann um ihrer Souveränität willen zu unterwerfen haben. Diese Per-
spektive muss also den Ort souveräner Selbstbestimmung aufgeben, weil die-
ser immer schon die Trennung des reinen (befreienden) Wissens von der
Macht des Wissenden voraussetzt. Von einer Befreiung des Subjekts durch
Wissen zu sprechen, wird dann ebenso problematisch wie die Rede von einer
Selbstbehauptung, die sich des Wissens nur bedient - und vielleicht mit mo-
ralischen Gründen im Zaum zu halten wäre. Ich möchte diesen Einsatzpunkt
Foucaults durch eine kurze Reformulierung der beiden Dimensionen der
Aussage, dass Wissen Macht bedeute, verdeutlichen.
Dass Wissen Möglichkeiten der Selbstbehauptung gegenüber der Welt
und damit Macht konstituiert - eine solche Sichtweise ist solange unproble-
matisch, wie man von einer Repräsentationsbeziehung ausgeht, in der Wissen
die Wirklichkeit, wiedergibt', solange man glaubt, dass die sprachlichen Zei-
chen eine verlässliche Beziehung zur von ihnen bezeichneten Wirklichkeit
beinhalten. Dies trifft für beide Machtimplikationen des Wissens zu, die oben
unterschieden wurden: sowohl für die technische Verfügung über die Welt
wie auch für die Möglichkeit der Befreiung von undurchschauten Abhängig-
keiten und der damit einhergehenden Verfügung über sich selbst. Sobald man
- wie Foucault (1971) im Anschluss an Nietzsche - jedoch davon ausgeht,
dass dem sprachlich Bezeichneten keine von der Bezeichnung unabhängige
Realität zuzusprechen ist, stellt sich die Frage nach dem Status des Wissens.
Man kann - auch in Anbetracht des schon von Kant konstatierten Sachver-
halts, dass die Welt ,an sich' dem menschlichen Erkennen unzugänglich ist-
dann trotzdem darauf beharren, dass das sprachlich Bezeichnete eine hinrei-
chend verlässliche Grundlage darstellt, auf der man der Welt gerecht wird,
auf der eine adäquate Verfügung über die Welt möglich ist. Dies würde be-
deuten, die angegebene doppelte Ermächtigungsfunktion des Wissens auch
unter Unsicherheit zu behaupten. Oder man kann demgegenüber davon aus-
gehen, dass jeder Versuch, die Welt zu objektivieren, einen Bemächtigungs-
versuch darstellt, der dem Bezeichneten nicht gerecht zu werden vermag.
Wenn es auch keine Alternative zur sprachlichen Identifikation der Welt ge-
ben mag, wenn das ,Begreifen' der Wirklichkeit auch notwendig ist, so än-
dert das nichts daran, dass eine solche begriffliche Identifikation der Welt
dieser nicht gerecht zu werden vermag: dass jedem Begreifen ein Machtan-
spruch innewohnt? Wissen selbst ist unter diesem Gesichtspunkt immer
schon und nicht erst in seiner Verwendung Macht, da seine Geltung letztlich
davon abhängig gemacht wird, dass das, was als etwas identifiziert wird, mit
3 Ich verwende hier ganz bewusst sowohl zeichentheoretisches wie auch ,begriffstheo-
retisches' Vokabular, um an dieser Stelle auf die (auch vom späten Foucault konsta-
tierte) Nähe zwischen dem Zugriff Foucaults und jener Kritik identifizierenden Den-
kens bei Adomo (1966) hinzuweisen. Andererseits ist auch nicht zu übersehen, dass
das Problem der Grenzen identifizierenden Denkens sich auch in phänomenologi-
schen Ansätzen und daran anschließenden Diskussionen des Problems der Alterität
findet (vgl. für die Pädagogik: Meyer-Drawe 1990).
150 Alfred Schäfer
dem Identifizierten konvergiert. Es ist gerade diese Konvergenz, von der die
Gewissheit jener Souveränität abzuhängen scheint, die sich auf nichts anderes
als auf Wissen stützen soll. Nur wenn Wissen die Wirklichkeit erfasst, kann
es dem Subjekt bei seiner Selbstbehauptung gegenüber der Wirklichkeit als
Machtmittel dienen. Die inhärente Ungerechtigkeit des Wissens gegenüber
dem Gewussten stellt sich von hier aus als Voraussetzung der beiden oben
unterschiedenen Machtkonzepte dar. Es ist unter diesem Gesichtspunkt dann
gerade ein Kennzeichen der Neuzeit, dass der ,genuine' Machtcharakter des
Wissens abgeblendet, verkannt wird. 4
Wenn man den Überlegungen zur Ungerechtigkeit identifizierenden
Denkens gegenüber dem Identifizierten, zur Unerreichbarkeit des realen Re-
ferenten des sprachlich Bezeichneten, zustimmt, dann ist die Einheit von
Wissen und Verkennen notwendig. Nur in der Verkennung der Grenzen des
Machtcharakters von Wissen, dem das Gewusste sich immer auch entzieht,
wird dann verständlich, dass in der Neuzeit Wissen zur Signatur der Hoff-
nung auf eine universelle Beherrschung der Natur und der Selbstverfügung
werden konnte. Ohne hier auf Versuche eingehen zu wollen, die Paradoxie
von Wissen und Verkennen dadurch zu transzendieren, dass man dem fremd-
bleibenden Anderen einen die eigenen Identifizierungsversuche sprengenden
Ort zuweist5, wird doch deutlich, dass eine Berücksichtigung dieser Para-
doxie den Ort des sich wissend selbstbehauptenden Subjekts affiziert.
Erfolgt die Subjektivierung des Individuums, die Konstitution des Indi-
viduums als souveränes Subjekt gegenüber der Welt, durch ein Wissen, das
sowohl Kontrolle der Welt wie Selbstkontrolle ermöglichen soll, dann gibt es
einen klar definierten Ort dieses Subjekts: Es bildet die Schaltstelle zwischen
Wissen und Macht, jenen Ort, der Wissen erst in Macht verwandelt. Geht
man demgegenüber von der Einheit von Wissen und Verkennung aus, dann
setzt sich diese Einheit auch in der Selbstkonstitution des Subjekts fort, die
schließlich über Wissen erfolgen soll. Da in der Verkennung nichts anderes
als die Verfehlung des Machtcharakters von Wissen gegenüber dem von ihm
Vermessenen benannt ist, so bedeutet dies zugleich, dass das Subjekt nicht
nur in seinem , Bewusstsein' von der Welt diese, sondern auch in seinem
,Selbstbewusstsein' sich selbst immer schon verfehlt, sich mithin ,Gewalt'
antut, indem es sich bestimmt. Das souveräne Erkenntnissubjekt ist für
Foucault selbst ein Effekt von Wissens- und damit von Machteffekten. Es
kann nicht mehr als Ort der Freiheit postuliert werden, die, sich auf Wissen
stützend, über die Kontrolle entscheidet, die es der Welt wie sich selbst ange-
deihen lassen will. Dass Macht überhaupt als Kontrollfunktion in den Händen
eines souveränen Subjekts verstanden werden kann, ist selbst ein Effekt eines
Wissensverständnisses, das sich als gewaltfrei, weil ,wirklichkeitsadäquat'
definiert. Macht kann nicht mehr als Ergebnis einer freien Entscheidung ei-
nes souveränen Subjekts allein betrachtet werden, als etwas, das in seinen re-
pressiven Auswirkungen mit Hilfe moralischer (oder auch pädagogischer)
Überlegungen, vernünftig' begrenzt werden könnte; Macht ist in dieser Per-
spektive immer schon konstitutiv für jede Art von Selbst- und Weltvergewis-
serung (vgl. Ricken, in diesem Band).
Allerdings wird man davon ausgehen können, dass die aufgezeigte Al-
ternative hinsichtlich der Konzeption des Verhältnisses von Wissen und
Macht solange nicht drängend wird, wie man daran festhalten zu können
glaubt, dass sich die göttlich geordnete Welt offenbart, dass die unterschied-
lichen Perspektiven auf die Welt in der göttlichen Zentralperspektive auf
eben diese Welt ihre unproblematische Einheit finden. 6 Erst wenn Wissen als
Erkenntnis seine Gewissheit in jener Subjektivität findet, die dann auch zur
souveränen Instanz hinsichtlich der Anwendung dieses Wissens avanciert,
erst mit dieser Verschränkung von Wissen, denkender/freier/vernünftiger
Subjektivität und Macht entsteht jenes ,historische Apriori', innerhalb dessen
auch der ,Ermächtigungscharakter' des Wissens für eine vermeintlich souve-
räne Subjektivität diskutiert werden kann. Es entsteht der Horizont, in dem
die Frage Sinn macht, inwieweit jene Figur von konstitutivem Wissen, souve-
räner Subjektivität und Welt- bzw. Selbstkontrolle in freier Verfügung nicht
selbst einer Verkennung aufsitzt. Foucault diskutiert diese Frage nicht nur er-
kenntnistheoretisch7, sondern auch hinsichtlich ihrer sozialisatorischen Fun-
dierung. Er fragt nach den ,realen' Bedingungen jenes modemen Selbstver-
ständnisses, innerhalb dessen sich die Menschen als souveräne Subjekte zu
begreifen lernen. Und er versucht zu zeigen, dass dieses Selbstverständnis der
Effekt einer Verkennung ist: der Effekt jener Einheit von Macht und Wissen,
die im ,souveränen Subjekt' gerade getrennt handhabbar erscheint. Um dem
Vorwurf zu entgehen, er selbst unterliege dem Kritisierten insofern, als er
selbst ,Wissen' mit Objektivitätsanspruch, also Macht-Wissen, produziere,
wählt Foucault als Methode die genealogische Betrachtungsweise, die - seit
Nietzsehe ohne den Anspruch auf eine objektive Adäquanz dem Gegenstand
gegenüber, wohl aber mit dem Anspruch auf Plausibilität - ihr Ziel daran hat,
eine andere Perspektive als sinnvoll erscheinen zu lassen.
6 Das war die Perspektive, die Leibniz seiner Monadenlehre (1982) zugrundelegte und
die bildungstheoretisch noch bei Humboldt ihre Funktion erfüllt (vgl. Menze 1965;
Schäfer 1996).
7 Vgl. Foucaults Darstellung der Doppel des Menschen, die jeden ,letzten' Begrün-
dungsversuch menschlicher Erkenntnis problematisieren und nur noch auf praktische
Lebenshorizonte verweisen: 1971, Kap. 9.
152 Alfred Schäfer
9 Foucault hat seine Verwendung der Genealogie selbst auf Nietzsche zurückgeführt
(vgl. ders. 1974) und sie zugleich gegen das Verfahren der Kritik abgegrenzt (vgl.
ders. 1974a).
Macht - ein pädagogischer Grundbegriff? 155
oder das einen ,objektiven' Maßstab in der Freiheit der Subjekte von jeder
Vermittlung haben würde. Die Macht/Ohnmacht-Wahrnehmung ist ein Me-
chanismus, mit dessen Hilfe Beziehungen sortiert und strukturiert werden
können. Die Konsequenz besteht darin, dass nun nicht mehr von der Bühne
einer historischen Konfrontation von Kräften als einem Ort ausgegangen
werden muss, der als Ort seine Identität über feststehende Rollen gewinnt.
Die Bühne entsteht erst durch das Aufeinanderprallen von Kräften, deren Lo-
gik keiner vorab bestehenden Rollentrennung gehorcht. Konflikte, Distanzie-
rungen (auch diejenigen nach dem Muster Macht/Ohnmacht) entstehen aus
kontingenten Anlässen und die Beteiligten wundem sich, in welcher Position
sie sich auf einmal wiederfinden. Auch wenn Foucault später betont, dass
es neben Machtbeziehungen auch Herrschaftsverhältnisse gibt, also ein
strukturiertes Verhältnis von Macht und Ohnmacht, so bilden solche Ver-
hältnisse dennoch nur Grenzen der Machtspiele, deren Dramaturgie nicht
von vorne herein festzulegen ist. Auch wenn position al Weisungsverhält-
nisse festgelegt sein mögen, so besteht deren Durchsetzung doch in einem
Spiel, in dem jeder verlieren kann. Von Machtverhältnissen ist dann zu
sprechen, wenn der Einsatz mit dem Spiel entsteht und sich verändert. Der
Ort der Distanzierung, des Markierens von Unterschieden, des Kampfes ist
ein "Nicht-Ort" (Foucault 1974: 77) insofern, als die Fronten nicht die Vor-
aussetzung, sondern das immer wieder neu entstehende Ergebnis des Kamp-
fes sind.
Diese Perspektive verabschiedet das Repressionsmodell der Macht und
gestattet eine radikale Auffassung ihrer Produktivität. Macht wird nicht als
Reproduktion einer Struktur verstanden, in der die mächtigen und ohnmäch-
tigen Positionen immer schon verteilt sind, sondern als Prozess, in dem diese
Verteilungen in konkreten Auseinandersetzungen erst hervorgebracht wer-
den. In der immer wieder neuen, von kontingenten Bedingungen hervorgeru-
fenen Distanzierung, der Verteilung der Individuen im Raum von Macht und
Ohnmacht, konstituieren und verändern sich die Sichtweisen auf das eigene
Selbst wie die Welt, ohne dass es dafür einen festen , Grund', eine strukturell
oder substanziell definierte Identität geben würde. Man geht als vermeintlich
liberaler Pädagoge in die Schulklasse und erfährt sich anlässlich eines unvor-
hersehbaren Konflikts als autoritärer Unterdrücker. Die reuige Selbstrefle-
xion im Lehrerzimmer eröffnet ein neues Konfliktfeld, in dem man sich
wieder als liberaler Pädagoge fühlen kann oder in dem die Unterscheidung
von liberal und autoritär sich selbst als nicht trennscharf erweist usw.
,Identität', die relationale Positionsbestimmung des Eigenen im Verhältnis
zum Anderen wie zum Kontext, bildet also die immer vorläufige, kontin-
gente, unvorhersehbare, ständig zu revidierende Resultante von Konflikten.
Dass dies für Foucault auch für das Verhältnis von Macht und Ohnmacht
zutrifft, bedeutet nicht, dass Menschen von den Voraussetzungen der
Machtspiele her gleich wären, dass es also keine positionalen Unterschiede
geben würde, wohl aber, dass in jeder Situation ,oben' und ,unten' neu
ausgemacht werden, dass das Spiel von Unterwerfung und Entunterwerfung
156 Alfred Schäfer
immer wieder neu und an allen möglichen und unvorgesehenen Fronten neu
aufgemacht wird. \0
Auch wenn die Subjekte mediale Träger dieses Spiels sind, auch wenn
also im Spiel selbst erst die Subjektpositionen hervorgebracht werden, so be-
deutet das nicht, dass sie nur als ,Funktionsträger' in den Blick kommen, de-
nen keine Freiheit zuerkannt würde. Damit das Spiel der Macht gespielt wer-
den kann, ist immer schon vorausgesetzt, dass sich die Subjekte zum Spiel
selbst distanziert verhalten, dass sie also dem je aktuellen Spiel gegenüber
,frei' sind. Diese Freiheit ist aber nicht im Sinne eines Gegenprinzips zur
Macht zu verstehen!!, so als ob Freiheit nur jenseits der Machtspiele anzusie-
deln sei, sondern die Mittel der Distanzierung sind selbst nicht jenseits der
Macht anzusiedeln: Eben dies zeigt sich für Foucault am ,Willen zum Wis-
sen', also jener oben dargestellten subjektivierenden Strategie der Neuzeit,
die dem Subjekt Souveränität durch die Bemühung um ,reines Wissen' ver-
spricht.!2
Der dritte Aspekt der genealogischen Betrachtungsweise betont die Un-
hintergehbarkeit dieses Selbstverständnisses eines souveränen Subjekts, das
sich mit Hilfe von Wissen kontrolliert und von daher seine Freiheit gegen-
über der Macht und in der Anwendung von Macht gewinnt. Diese Unhinter-
gehbarkeit wird von Foucault als ,historisches Apriori' der Subjektivierung
10 Hinsichtlich einer Theorie der politischen Auseinandersetzung findet sich diese Per-
spektive bei LaclauIMouffe (2000). Dieser Ansatz geht davon aus, dass es keine zen-
trale gesellschaftliche Auseinandersetzung mit fest verteilten Fronten zwischen Kapi-
tal und Arbeit (mehr) gibt, sondern dass Konflikte, die nach dem Modus von Unter-
werfunglEntunterwerfung sich konstituieren, jederzeit an neuen Fronten ausbrechen
können, wobei sich ,Identitäten' nach je hegemonialen Konstellationen bilden.
11 Dass Macht Freiheit voraussetzt, wird von Foucault selbst betont (vgl. auch Meyer-
Drawe 2001: 450), aber damit ist eben kein kantisches Verständnis der Freiheit ge-
meint: Zur Freiheit, in deren Begriff sich nach Foucault immer ein historisch hervor-
gebrachtes Selbstverständnis ausdruckt, kann man sehr wohl gezwungen sein, wenn
einem erst einmal die historische Vorstellung eines souveränen Selbst, eines , Täters
hinter dem Tun', ,eingefleischt' worden ist. Solche 'Freiheit' fordert alleinige Verant-
wortungsübernahme für sich selbst. Eine abgründig-unbedingte Freiheit, die unter ge-
sellschaftlichen Bedingungen ,kultiviert' werden muss, mündet daher schließlich auch
bei Kant in eine Autonomievorstellung, die nur die paradoxe Einheit von Souveränität
und Unterwerfung lobt. Ein formaler Freiheitsbegriff aber, der auf die Unbedingtheit
des freien Willens abhebt, hat mit ,Vernunft' noch nicht viel zu tun. Und er liegt in
jedem Fall noch vor den Strategien von Unterwerfung und Entunterwerfung.
12 Foucault geht allerdings davon aus, dass die ,Freiheit' als Distanzierungs- und Bewe-
gungsmöglichkeit in sozialen Feldern durchaus unterschiedlich sein kann. So unter-
scheidet er im Spätwerk ,Herrschaft' und ,Macht' dadurch, dass in Herrschaftsver-
hältnissen die Bewegungsspielräume für Machtspiele äußerst begrenzt sind (vgl.
Foucault 1984). Im Rahmen von Herrschaftsverhältnissen und Machtspielen findet
nicht nur die Produktivität der Macht ihren Ort zwischen Unterwerfungs- und Entun-
terwerfungsstrategien, sondern damit werden zugleich Räume eröffnet für Selbstprak-
tiken, für Selbstforrnung. Jedoch ist dieser Bereich hier nicht Gegenstand der Überle-
gungen, da ich mich auf das Verhältnis des Machtkonzepts für Legitimationsüberle-
gungen im Rahmen einer intentional konzipierten pädagogischen Theorie beschränke.
Macht - ein pädagogischer Grundbegriff? 157
13 Vgl. Foucault 1976. Dieses Buch ist wohl das in der Pädagogik am breitesten rezi-
pierte Werk Foucaults, in dem gerade auch die Pädagogik selbst als System der Diszi-
plinen dargestellt wird.
14 Ebenda 216. Auch die folgenden Merkmalsangaben finden sich dort.
158 Alfred Schäfer
litätsmaßstäbe braucht, die von den (in diesem Horizont entstehenden) Hu-
manwissenschaften zunehmend produziert werden. Die ,Seele' als das hinter
allen Äußerungen Stehende bildet jenes Imaginäre, das durch die Disziplinie-
rung der Körper als Qualität hervorgebracht werden soll. "Die Seele: Ge-
fängnis des Körpers" (ebd.: 42). Dass die ,Seele' eine Vorstellung ist, be-
deutet nicht, dass sie nicht ,real' wäre. Foucault betont, dass ihre Wirklichkeit
in den Disziplinen liegt: ,,sie existiert, sie hat eine Wirklichkeit, sie wird stän-
dig produziert - um den Körper, am Körper, im Körper - durch Machtaus-
übung [... ] an jenen, die man überwacht, dressiert und korrigiert, an den Wahn-
sinnigen, den Kindern, den Schülern, den Kolonisierten, an denen, die man an
einen Produktionsapparat bindet und ein Leben lang kontrolliert" (ebd.: 41).
Die Vorstellung der ,Seele', jene normative Vorstellung eines hinter al-
len Äußerungen eines Individuums stehenden verantwortlichen, selbstkon-
trollierten und daher ,normalen', souveränen Subjekts, bildet den Bezugs-
punkt von Disziplinierungstechniken, die diese Vorstellung in den Körper
,einschreiben', sie zur ,zweiten Natur' werden lassen. Ein Moment jener
Subjektivierungspraxis im Zeichen der ,Seele' bilden jene Diskurse, die sich
um Souveränität, Befreiung und Autonomie dieser ,Seele' zentrieren, sich
von religiöser und sozialer Heteronomie distanzieren und um die Möglich-
keiten und Grenzen eines solchen Subjekts in erkenntnistheoretischer, mora-
lischer und politischer Hinsicht kreisen. Diese bilden in der Sicht Foucaults
als Diskurspraktiken Momente jenes Dispositivs der Subjektivierung, das
vernünftige Freiheit und Souveränität an disziplinierende Unterwerfung bin-
det.
eigenen Selbst und ein souveränes Verhältnis zur Welt transformiert wird.
Eben das macht Erziehung überflüssig. Was zum Problem wird, das ist damit
einerseits (wie schon in der pädagogischen Tradition) der Rahmen einer pä-
dagogischen Gewährleistung der ,freien' Selbstkonstitution, die Verfügungs-
und Verantwortungsansprüche gegenüber dem Prozess der Herausbildung der
,Seele'. In Frage gestellt wird dieser Rahmen durch die unterstellte Möglich-
keit einer linear und repressiv wirkenden Macht. Andererseits erscheint die-
ser Rahmen gerade auch deshalb fragwürdig, weil er mit der Vorstellung der
,Seele' operiert, also mit der Vorstellung eines souveränen Subjekts, das für
sich Wissen in Macht (über sich selbst wie die Welt) zu wandeln vermag.
Problematisch wird demnach die Qualifizierung von Handlungsweisen als
,pädagogisch', die immer über die Einordnung in einen zielintegrierten Pro-
zess erfolgt, der auf die Hervorbringung einer bestimmten Qualität von
,Seele' zielt. 15 Damit ist nicht der Sachverhalt gemeint, dass man Kinder von
sie gefährdenden Situationen fernhalten sollte, dass man darauf achten sollte,
dass sie die Rechte anderer Mitmenschen respektieren usw.; problematisch
wird nur eine Legitimationsstrategie, die dies nicht mit der einfachen Unter-
bindung und Förderung konkreter Handlungen begründet, sondern mit dem
Hinweis auf die Bedeutung des ,pädagogischen Eingriffs' für die künftige
,Persönlichkeitsbildung' , damit, dass das Kind später schon den Sinn des
Wissens einsehen werde, den der Pädagoge mit seinem Eingriff verbunden
habe.
Was in Frage steht, ist das Proprium neuzeitlicher Pädagogik: die Inten-
tionalisierung von Beziehungen und Kommunikationen im Rahmen einer
pädagogischen Handlungstheorie, die Wirkungsperspektiven und Verant-
wortungshorizonte aus der Perspektive des ,Erziehers' formuliert. Zur Kon-
zipierung solcher Handlungstheorien, zur Qualifizierung des pädagogischen
Charakters von Handlungen, wird in der Neuzeit auf die Vorstellung jener
,Seele' zurückgegriffen, jenes ,Täters hinter dem Tun', deren Hervorbrin-
gung eines langfristig angelegten Prozesses bedarf. Dieser Prozess wird dann
nach dem Muster konzipiert: Stellvertretendes Wissen legitimiert Macht, die
überflüssig wird, wenn der Adressat selbst über das Wissen verfügt. Die Er-
möglichung von souveräner und vernünftiger Selbstbestimmung, in der Wis-
sen und damit: Transparenz die Grundlage bilden, stellt den Bezugspunkt dar,
vor dem pädagogische Handlungen als solche einen Sinn gewinnen. Sie ge-
hören zum System der Disziplinen: Diese Ahnung macht den Stachel der
Macht im pädagogischen Nachdenken aus. Sie koppeln freie Selbstbestim-
mung mit Autonomie und Vernunft und hängen der Vorstellung an, dass eine
solche (disziplinierte) Selbstbestimmung nur durch pädagogisches Handeln
ermöglicht werden könne.
An dieser Möglichkeit der pädagogischen Intentionalisierung von Insti-
tutionen, Prozessen, Konflikten, Sichtweisen usw. wird festgehalten - gegen
alle Widerstände. Auch wenn selbst von empiristischer Seite zugestanden
sich dort überflüssig, wo das Wissen auch beim Adressaten vorhanden ist: in
wechselseitiger Vollendung innerhalb eines empathischen Paradieses.
Aus der Sicht Foucaults müssen solche Re-Intentionalisierungen von un-
durchschauten Verstrickungen und interaktiver Prozessualität als in der Logik
der Vorstellung einer disziplinierenden Konstitution des souveränen Subjekts
stehend betrachtet werden. Sie folgen dieser Logik gerade darin, dass sie ei-
nen Ort des (pädagogischen) Subjekts jenseits der ,Machtspiele' behaupten:
Der Pädagoge ist gleichsam die Inkarnation jenes souveränen Subjekts, das
auf der Grundlage von Wissen, von Transparenz, selbstkontrolliert Macht
ausübt, die deshalb keine illegitime Macht ist, weil ihr Ziel nur in jener Trans-
parenz beim Adressaten besteht, die jede Macht überflüssig macht. 16 Der
Pädagoge bildet im Rahmen der pädagogischen Handlungstheorie die vollen-
dete Verkörperung der, Seele', jenes Identitätszwangs, der es möglich macht,
dass jede seiner Ausdrucksformen unter dem Gesichtspunkt der entworfenen
,idealen Normalität eines Pädagogen' ihm zugerechnet werden kann.
Unter dem Gesichtspunkt einer nicht-repressiven, sondern produktiven
Vorstellung von Macht, die zudem ,unterhalb' der bewussten bzw. diskursi-
ven Thematisierung auf einer durch Normalisierungsprozeduren abgestützten
leiblichen und affektiven Bindung ansetzt, wäre ein alternativer Ansatzpunkt
eines pädagogischen Nachdenkens möglicherweise in der von Foucault be-
tonten Differenz von Unterwerfungs- und Entunterwerfungsstrategien zu se-
hen. 17 Diese Differenz, die die ,Freiheitsspielräume' der Individuen betont,
liegt nicht jenseits der, Wahrheitsspiele' der Macht. Es handelt sich bei dieser
Differenz von Unterwerfung und Entunterwerlung nicht um die idealistisch
verstandene Alternative von Unterdrückung und Freiheit, womit der Pädago-
ge wieder die einfache Möglichkeit hätte, sich auf die richtige Seite zu stel-
len. 18 , Entunterwerfung, hat ihren Bezugspunkt nicht in einer kantischen
16 Wie oben (Fußnote 12) schon betont: Mein Thema ist hier nicht die Hinwendung des
späten Foucault zu den Technologien des Selbst. Diese steht aber m.E. nicht in Ge-
gensatz zur genealogischen Betrachtung der Macht (vgl. auch Foucault 1993: 26). Die
Analytik als eine von Disziplinierung und Subjektivierung gibt den Raum von Unter-
werfungs- und Entunterwerfungspraktiken vor, innerhalb dessen auch die Technologi-
en des Selbst verortet werden können.
17 Foucault hat besonders in seiner Schrift Was ist Kritik? (1992) auf die alle Diszipli-
nierungs- und Normalisierungsversuche begleitenden Bestrebungen der Individuen
hingewiesen, sich in kritischer Haltung der Machtimplikationen von ,Wahrheiten' zu
vergewissern.
18 Von einer solchen Perspektive scheint mir selbst die bereits angeführte Interpretation
von Meyer-Drawe nicht ganz frei zu sein. Wenn die Autorin betont, dass es Aufgabe
der Pädagogik sei, "sich damit zu befassen, wie der Protest der Freiheit möglich
bleibt", dass sie jede Verschleierung von Macht zu kritisieren habe (Meyer-Drawe
2001: 450), dann wird der Ort der Pädagogik, an die solche Ansprüche gestellt wer-
den, ebensowenig deutlich wie die Bedeutung von Freiheit. Ob der ,Protest der Frei-
heit' nicht selbst ein Machtspiel ist, und inwieweit die ,Entschleierung der Macht', al-
so machtfreie Transparenz möglich sind, das sind ja gerade die von Foucault ins Zen-
trum gerückten Fragen.
162 Alfred Schäfer
Literatur
1. Einleitung
In Europa mangelt es gegenwärtig an Raum. Das zeigt sich jedenfalls an ei-
ner Reihe von Initiativen. So ist in der Verlängerung der Lissabon-Strategie
und der europäischen Wissensgesellschaft die Rede vom ,Europäischen For-
schungsraum'. Ein anderes Projekt ist die Schaffung eines ,Europäischen
Raumes für lebenslanges Lernen'. Und in Kreisen, die sich mit Unterrichts-
forschung beschäftigen, ist der bekannteste Raum der ,Europäische Hoch-
schulraum '. Man erwartet von uns, dass wir die zukünftigen Bewohner des
,Europäischen Hochschulraumes' sind. Die Bologna-Erklärung von 1999 be-
trachtet ein ,Europa des Wissens' denn auch als eine "unerlässliche Voraus-
setzung für gesellschaftliche und menschliche Entwicklung sowie als unver-
zichtbare Komponente der Festigung und Bereicherung der europäischen
Bürgerschaft. "I
* Für die kompetente Übersetzung des Manuskripts aus dem Niederländischen sei
Mechthild Ragg und Berthold Tacke herzlich gedankt.
Vgl. hierzu: Der Europäische Hochschulraum. Gemeinsame Erklärung der Europäi-
schen Bildungsminister, 19. Juni 1999, Bologna.
166 Maarten Simons
nen späteren Arbeiten bloß am Rande auf diesen Begriff zurückkommt. Ob-
wohl die Vorlesung des Jahres 1978-1979 explizit den Titel ,,Naissance de la
biopolitique" trägt, konzentriert er sich hier faktisch doch auf die Geburt der
liberalen und neoliberalen Form der Gouvernementalität. Er arbeitet die Bio-
politik in diesen ökonomischen Führungsregimen daher nicht detailliert aus.
Trotzdem erscheint es sinnvoll, sich mit dieser Beziehung zwischen der Bio-
politik und der politischen Ökonomie zu beschäftigen und sich in Anlehnung
an Bröckling mit dem "Schnittpunkt zwischen der Politisierung und der Öko-
nomisierung des menschlichen Lebens" auseinander zu setzen (Bröckling
2003: 6). Das kann meines Erachtens deutlich machen, dass in der Ökonomi-
sierung des Sozialen biopolitische Elemente enthalten sind und dass es
gleichsam um eine Bioökonomisierung geht. Obwohl sich dieser Beitrag
größtenteils auf eine Übersicht über die Idee der Biopolitik beschränkt, wie
diese von und in Anlehnung an Foucault ausgearbeitet wurde, werde ich im
letzten Teil einen Ansatz für eine Analyse der biopolitischen Dimensionen
des europäischen Hochschulraumes vorschlagen.
2 Das sagt nicht, dass die Begrifflichkeit der "Biopolitik" nicht auch andere Themenbe-
reiche betreffen kann. So gibt es Z.B. die Zeitschrift für Biopolitik, in der (nach dem
Modell der Bioethik) der Nachdruck auf den sozialen und politischen Aspekten der
Biologie und der Bio-Technologie liegt. In den Vereinigten Staaten steht die Idee der
Biopolitik für eine relativ selbstständige Denkströmung innerhalb der politischen
Wissenschaften. Es geht dabei um eine Deutung (mit einem ersten Ansatz in den
1960er Jahren, und später auch vermengt mit der Soziobiologie) des politischen Ver-
haltens anhand von biologischen Konzepten (hauptsächlich aus der Evolutionstheorie)
und biologischen Forschungstechniken (SomitlPeterson 1998). Diese Strömungen ha-
ben nahezu nichts mehr mit Foucaults Verwendung des Begriffs zu tun.
168 Maarten Simons
was er für Aristoteles war; ein lebendes Tier, das auch einer politischen Exis-
tenz fähig ist. Der modeme Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben
als Lebewesen auf dem Spiel steht" (Foucault 1976: 188). Mit dem Term
Biopolitik verweist Foucault hier auf die Tatsache, dass sich die Politik seit
der Modeme, und insbesonders seit dem neunzehnten Jahrhundert, nicht län-
ger in Relation zu den Untertanen (in der juristischen Bedeutung) oder zu ei-
nem Territorium versteht, sondern sich im Bezug auf das Leben des Indivi-
duums und der Art definiert. Diese eher "epochale" These bezüglich der
"Schwelle der biologischen Modeme" und des biopolitischen Zeitalters im-
pliziert, dass sich die Politik und die politische Machtausübung grundlegend
verändert haben (vgl. Donelly 1992: 200). Im Folgenden werde ich zuerst
komprimiert angeben, wie Foucault diese umfassende politische Veränderung
sieht. Danach zeige ich, wie dieser Begriff von Giorgio Agamben und von
Michael Hardt und Antonio Negri wiederaufgenommen wurde. Ich werde
zudem jeweils darauf verweisen, an welchen Stellen deren Ausarbeitung sol-
che Aspekte der Sicht entzieht, die es zulassen würden, eine bessere Sicht auf
die biopolitische Dimension der Ökonomisierung des Sozialen zu erlangen.
Die beiden kurzen Übersichten dienen als Deutungshintergrund dafür, inwie-
fern der Begriff Biopolitik im Rahmen einer Gouvernementalitäts-Perspek-
tive zukünftig eine Rolle spielen kann.
die Aspekte der ökonomischen Produktion bekommen daher in der Folge ei-
ne eminent politische Dimension. Es geht darum, in das Leben, in die Art des
Lebens einzugreifen und beispielsweise Unfälle und Gefahren zu regulieren
und unter Kontrolle zu halten. Kurzum, es geht darum, Ordnung und Norma-
lität auf der Ebene der Bevölkerung sicherzustellen. Die Biopolitik kann
hierzu entweder zentrale Kontrollmechanismen entwickeln (etwa Kampagnen
zur öffentlichen Hygiene oder eine zentrale medizinische Versorgung) oder
durch Disziplinierungsmechanismen eine Beziehung zum Selbst seitens des
Individuums zuwege bringen (Sparsamkeit, Vorsorge, Hygiene), die die Ord-
nung auf der Ebene der Bevölkerung sicherzustellen helfen.
In dieser Konfiguration bekommt auch die Familie eine biopolitische
Dimension. Mit dem biopolitischen Umbruch gilt der Haushalt nicht länger
als ein Organisationsmodell, vielmehr wird er nun als ein wichtiges Segment
der Bevölkerung begriffen. Foucault spricht hier denn auch von einer "In-
strumentalisierung" der Familie im Dienste der Bevölkerungsregulierung
(Foucault 1978a: 651ff.). Eng verknüpft damit kann auch die Kindheit in
biopolitischen Begriffen als eine Lebensphase problematisiert werden, die ein
physisches und moralisches Milieu benötigt, das eine optimale, gesunde
Entwicklung ermöglicht (vgl. Foucault 1979a). Jacques Donzelot wird genau
zeigen, dass das familiäre Umfeld in zunehmendem Maße zum Objekt "mo-
ralisierender" (Sparsamkeit, Ordnung) und "normierender" (die Medikalisie-
rung der Familie) Eingriffe wird (vgl. Donzelot 1977: 58ff.). Diese Besorgnis
um ein optimales erzieherisches Umfeld kommt nicht nur dem einzelnen
Kind zugute, das später dann als Erwachsener optimal funktionieren kann,
sondern diese Besorgnis bildet auch eine Garantie für die Ordnung und das
Wohlergehen auf der Ebene der Bevölkerung. Die Familie funktioniert in
diesem Sinne als Schnittpunkt zwischen dem anatomiepolitischen und dem
biopolitischen Pol der Biomacht. Zugleich zeigt die biopolitische Würdigung
der Familie auch, wie die Biomacht mit dem Ökonomischen verbunden ist.
Später werde ich auf die Beziehung zwischen der Biopolitik und der Ökono-
mie zurückkommen. An dieser Stelle genügt es zunächst festzustellen, dass
die Investition in eine gesunde Bevölkerung durch disziplinierte Individuen,
die mit Hilfe der Familie unternommen wird, die Voraussetzung sowohl für
die gesellschaftliche Sicherheit und Ordnung als auch für ein starkes ökono-
misches System bildet.
Diese Darstellung macht deutlich, dass mit dem Entstehen der Biopolitik
oder der Regulierung von Prozessen auf der Ebene der Bevölkerung eine Art
von "Verstaatlichung des Biologischen" vorliegt (Foucault 1997: 213). Mit
diesem Verständnis und der Betrachtung eines Kollektivs von Menschen als
einer Bevölkerung, die der Regulierung bedarf, wird ein entscheidender
Schritt in der Geschichte der westlichen Politik vollzogen. Kurz gehe ich auf
eine wichtige Implikation dieses politischen Umbruchs ein.
Obwohl Foucault eine Unterscheidung zwischen der klassischen souve-
ränen Macht und der modemen Biomacht und Biopolitik macht, ist er nicht
der Meinung, dass die souveräne Macht verschwindet. Ganz im Gegenteil:
170 Maarten Simons
Was er zeigen will, ist, wie die souveräne Macht auf eine bestimmte Art in
die modeme Biomacht, insbesondere in der Form des "Staatsrassismus", ein-
gebracht wird (Foucault 1997: 227ff.). Der modeme Rassismus setzt Zäsuren
im biologischen Kontinuum, teilt die Bevölkerung in Untergruppen oder -
rassen ein und stellt auf diese Weise innerhalb der Bevölkerung bestimmte
Gruppen einander gegenüber. Innerhalb dieser Konfiguration kann dann aufs
Neue das ,sterben Machen' eingeführt werden - sei es auch nur gemäß einer
Bio-Logik: Das ,sterben Machen' unterlegener, gefährlicher oder lebensbe-
drohender Gruppen und Individuen garantiert das Leben der Bevölkerung.
Der Staatsrassismus lässt daher zu, dass ein Staat, der sich einer biopoliti-
schen Logik folgend definiert und daher der Optimierung des Lebens nach-
strebt, sich auch das Recht vorbehält, im Namen dieses Lebens andere zu
eliminieren. Nach dem biopolitischen Umbruch kann ein Staat folglich nur
noch im Falle von Rassismus souverän über den Tod entscheiden. Dieses
,sterben Machen' muss daher in einem weiteren Sinne verstanden werden: So
umfasst es neben dem direkten physischen Tod auch das dem Tode-ausge-
setzt-Sein, das Vergrößern des Todesrisikos und sogar den politischen Tod,
die Abweisung und den Ausschluss (v gl. ebd.: 228-229). Gemäß dem Prin-
zip, dass der Tod anderer die biologische Stärkung des Selbst darstellt, si-
chert der Rassismus somit die Funktion des Todes in der Ökonomie der Bio-
macht.
Diese Skizze der biopolitischen Modeme macht es möglich, tiefer auf die
Art und Weise einzugehen, in der der Begriff Biopolitik kürzlich in einem
philosophischen Kontext zum einen durch Giorgio Agamben und zum ande-
ren durch Antonio Negri und Michael Hardt ausgearbeitet wurde.
Giorgio Agamben versucht in seinen Arbeiten zu zeigen, dass die Politik als
solche von Anbeginn an biopolitische Wurzeln hat (vgl. Agamben 1998). Zu
diesem Zweck erinnert er uns daran, dass im griechischen Altertum zwei Be-
griffe existieren, um auf das Leben zu verweisen: Die Zoe als das nackte Le-
ben, das allen lebenden Wesen gemein ist - insbesondere Tieren, Menschen
und Göttern -, und der Bios als die Weise zu leben, der dem Individuum oder
einer Gruppe eigen ist. Die Gründung der Polis, und allgemeiner einer juristi-
schen und institutionellen Ordnung, beruht somit genau genommen auf einem
Ausschluss, einer Aus-nahme oder einer Verbannung des nackten Lebens:
Das nackte Leben wird jedoch durch den Ausschluss auf eigentümliche Wei-
se zugleich eingeschlossen: Homo sacer ist die Bezeichnung desjenigen, der
auf das nackte Leben reduziert wird. Es ist die Figur dessen, der nicht geopfert
werden kann, der aber gleichwohl getötet werden kann, ohne dass dadurch
ein Mord begangen würde. Kurzum, die souveräne Gründung einer politi-
schen und juristischen Ordnung geht stets mit einer Ausnahme und daher mit
der Produktion des nackten Lebens einher. Daher folgt nach Agamben die
Lernen, Leben und Investieren 171
Biomacht nicht auf die souveräne Macht, wie dies Foucault behauptet, viel-
mehr besitzt die souveräne Macht von Anfang an eine biopolitische Dimensi-
on. Vor diesem Hintergrund beschreibt Agamben, was in den Nationalstaaten
seit der Modeme auf dem Spiel steht: Eine Politisierung des nackten Lebens,
oder in der Terminologie, die er von Walter Benjamin entlehnt, eine Situati-
on, in der die Ausnahme zur Regel wird. Das bedeutet, dass das nackte Le-
ben, welches einer souveränen Macht ausgeliefert ist, potentiell allen Bürgern
inne wohnt, und dass es jeden in den Ausnahmezustand versetzen kann. Dass
wir seit der Modeme nur noch einen einzigen Begriff für Leben haben und
dass dieser Ausdruck häufig in biologischen Zusammenhängen verstanden
wird, zeugt von eben diesem Ausnahmezustand (vgl. Agamben 1995).
Diese provozierende und in unterschiedlicher Hinsicht ,fundamentale'
Deutung der Politik als souveräner Macht über das nackte Leben kann eine
ganze Reihe von , Ausnahme '-Phänomenen erklären: etwa die Flüchtlingssi-
tuation oder das nackte Leben in den Lagern totalitärer Regime (vgl. Mes-
nardiKahan 2001). Problematisch ist jedoch, dass er durch die Betonung der
Beziehung zwischen der Souveränität und dem nackten Leben keinerlei Platz
lässt, um neue, modernere Auffassungen des Lebens zu berücksichtigen (vgl.
Larsen 2003). Oder anders ausgedrückt: Giorgio Agamben scheint nicht nur
die souveräne Macht zu enthistorisieren sondern auch die Biopolitik. In die-
sem Sinne entgeht beispielsweise seiner Aufmerksamkeit, wie sich die mo-
deme Biopolitik in Relation zur Bevölkerung entwickelt hat. Dies hängt da-
mit zusammen, dass Agambens Analyse zu breit angelegt ist, um deutlich
machen zu können, dass das politische Interesse am Leben der Bevölkerung
in genealogischer Hinsicht in Beziehung zum politischen Interesse an der
Ökonomie steht (vgl. Lemke 2003). Es ist genau dieser Zusammenhang zwi-
schen Biopolitik und politischer Ökonomie, der - wie ich später zeigen werde
- mit verdeutlichen kann, was gegenwärtig auf dem Spiel steht (vgl. Bröckling
2003). Trotz dieser Einwände hat Agamben jedoch zurecht auf die ursprüngli-
che Beziehung zwischen Souveränität und nacktem Leben hingewiesen.
Während also in Agambens Analyse die modeme Beziehung zwischen
Biopolitik und Ökonomie zu kurz kommt, steht diese Beziehung in der Arbeit
von Michael Hardt und Antonio Negri gerade im Vordergrund (vgl.
HardtlNegri 2000). Die Autoren zeigen, dass der globale Markt und die glo-
balen Produktionskreisläufe eine neue Ordnung ins Leben gerufen haben.
Diese neue weltumspannende Ordnung, die mit einer neuen globalen Form
der Souveränität zusammenhängt, nennen sie ,Empire' - eine immanente
Ordnung ohne Grenzen, ohne Geschichte und mit transversalen sozialen Be-
ziehungen. Sie beschreiben diese neue globale Souveränität anhand der bei-
den Elemente Biomacht (Foucault) und Kontrollgesellschaft (FoucaultlDe-
leuze).3 Ich beschränke mich hier auf die Darstellung der Weise, wie sie den
3 Die Art und Weise, in der Negri und Hardt den Begriff Souveränität verwenden, un-
terscheidet sich von der Art, in der Agamben diesen Begriff ausgearbeitet hat. Wie
Nancy anmerkt, wäre es wohl richtiger im Rahmen von "Empire" von "Beherr-
172 Maarten Simons
schung" zu sprechen. Die Problematik der Souveränität bleibt hier ungedacht. So fragt
er sich: "Et si la revolte du peuple etait la souverainete?" (Nancy 2002: 170-173).
4 Das hängt mit einer gewissen Spannung in der Arbeit von Negri und Hardt zusam-
men: Einerseits zeigen sie, wie das Leben in seiner Gesamtheit in das Imperium auf-
genommen wird, während sie andererseits - zweifellos angeregt durch Deleuzes' Vi-
talismus - auch genau im Leben und der ungeordneten Vielzahl von (auto-affirma-
tiven) Lebenskräften (,multitude') die Grundlage für neue Formen politischer Subjek-
Lernen, Leben und Investieren 173
die Beziehung zwischen der Biopolitik und dem Unternehmertum und die
Art, in der wir gefordert sind, das (biologische) Leben zu objektivieren und
zu führen, Teil des gegenwärtigen Führungsregirnes sind. Weil Hardt und
Negri jedoch die von Foucault beschriebene Biopolitik weitgehend mit einer
ökonomischen Produktionsform gleichsetzen und diese dann als zugrundelie-
gendes Prinzip der aktuellen kapitalistischen Weltordnung behaupten, verliert
ihr eigenes theoretisches Konzept unübersehbar an analytischer Kraft.
Im Vorhergehenden habe ich mich mit zwei (fundamental-)philosophi-
sehen Ausarbeitungen von Foucaults Begriff der Biopolitik beschäftigt. Bei-
de Ausarbeitungen scheinen das Konzept in einen von Foucault abweichen-
den Rahmen einzuführen, auch wenn Foucault durch seine Aussagen über die
,Schwelle der biologischen Modeme' und durch die Umkehrung der aristote-
lischen Politikdefinition hierzu vielleicht selbst Anlass gegeben hat (v gl.
Ranciere 2000). Bei Agamben wird die Biopolitik auf ein "onto-theologisch-
politisches Feld" (Heidegger, Arendt, Bataille) geführt und die ursprüngliche
Beziehung zwischen der Souveränität und dem nackten Leben, das jeglicher
sozialen, kulturellen oder politischen Form entledigt ist, als das Ungedachte
in der westlichen Philosophie dargestellt. Hardt und Negri bringen das Kon-
zept in einen ökonomischen und auf dem Marxismus basierenden anthropo-
logischen Zusammenhang. Durch die ,Ontologisierung' des Lebens (bios),
berauben sie jedoch den Begriff Biopolitik jeglicher analytischen Kraft.
Anhand dieser vorangestellten Einordnungen zweier Adaptionen des Be-
griffs Biopolitik kann ich nun den Schritt zu einer anderen Denkrichtung ma-
chen, in der dem Begriff der Biopolitik neuerdings Beachtung geschenkt
wird. Diese Denkrichtung wird angeregt durch Foucaults Auffassungen über
Gouvernementalität. Als genealogische und analytisch orientierte Denkrich-
tung scheint sie für die erneute Einführung des Begriffes Biopolitik ungleich
vielversprechender zu sein.
Wie schon erwähnt, trägt die Vorlesung, in der Foucault umfassend auf die
liberalen und neoliberalen Formen der Gouvernementalität eingeht, den Titel
"Geburt der Biopolitik". In der Zusammenfassung dieser Vorlesung erläutert
er, weshalb er an dieser Stelle nicht explizit auf die "Regulierung der Bevöl-
kerung", sondern lediglich auf die liberalen und neoliberalen Regierungsfor-
men eingegangen ist (Foucault 1979b: 818). Die Frage, die sich seit der
zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhundert stellt, ist folgende: Wie kann eine
Politik, die gemäß den Rechten und ökonomischen Freiheiten der Bürger re-
gieren will, dem Phänomen der Bevölkerung und anderen Problemen, die
sich auf dieser kollektiven Ebene stellen, angemessen Rechnung tragen? Ob-
tivität sehen. Der Begriff ,Leben' hat in ihrer Analyse daher einen ontologischen Cha-
rakter (vgl. Ranciere 2000; Lemke 2003).
174 Maarten Simons
5 Wie Ewald aufzeigt, kann die "versichernde Obrigkeit" in genealogischer Hinsicht auf
die Problematik der Arbeitsunfalle zurückgeführt werden (Ewald 1986: 185ff.).
Lenten, Leben und Investieren 175
der biologischen Optimierung der Bevölkerung und der Sicherheit auf der
Ebene der Gesellschaft erscheint das pädagogische Milieu daher als eine ent-
scheidende Domäne biopolitischer Eingriffe. Gleichwohl ist wichtig zu beto-
nen, dass in dieser Konfiguration auch die Beziehung zwischen dem Biologi-
schen und dem Ökonomischen auf eine spezifische Art problematisiert wer-
den kann: Das Leben kann in seiner Gesamtheit als eine Funktion der öko-
nomischen Entwicklung verstanden werden. 6 Bröckling bespricht in diesem
Zusammenhang die "Menschenökonomie" von Goldscheid: "Reduzierten die
Rassenhygieniker die Menschen biologisch auf ihr Erbgut, so reduzierte
Goldscheid sie ökonomisch auf ihren volkswirtschaftlichen Wert" (Bröckling
2003: 8-9). Das Leben erscheint hier als eine Form von Kapital (,organisches
Kapital') und muss in (entwicklungs-)ökonomischen Begriffen verstanden
und reguliert werden. Genau diese Charakterisierung des menschlichen Le-
bens als Kapital, als Quelle des Mehrwerts - entweder für sich selbst oder für
die Entwicklung und den Fortschritt der Art - führt dazu, dass auf das Leben
Sorge verwandt werden muss. Vor diesem Hintergrund plädiert Goldscheid
für eine umfassende biopolitische Administration und Planung. Investition in
Gesundheit und Bildung bedeutet an dieser Stelle Investition in ,organisches
Kapital', damit individuelle Bedürfnisse und gleichzeitig auch ,gesellschaft-
lich notwendige Bedürfnisse' befriedigt werden. Es liegt in dieser Konfigu-
ration begründet, obwohl sich Goldscheid diesbezüglich nicht explizit äußert,
dass auch vom Opfern ,lebensunwerten Lebens' die Rede sein kann: "Wer
dauerhaft auf Versorgung durch Dritte angewiesen war, ohne selbst durch
seine Arbeit wirtschaftliche Werte zu schaffen, der belastete das Budget und
hatte sein Existenzrecht verwirkt" (ebd.: 16). Die ökonomische Sorge um das
Leben und die Optimierung des organischen Kapitals kann daher in eine sou-
veräne Macht umschlagen, die ,sterben macht'. Anders ausgedrückt: Sobald
das Leben vollständig in ökonomischen Begriffen verstanden wird, kann eine
ökonomische Berechnung auch das Existenzrecht zur Diskussion stellen.
Diese Schilderung macht deutlich, dass sich eine Biopolitik legitimieren
lässt, sobald das Leben und die Lebensverhältnisse einen unmittelbaren öko-
nomischen Wert haben. Auch über diese auf die Lebensverhältnisse der Be-
völkerung gerichteten Regierungseingriffe hinaus sind Menschen aufgefor-
dert, ihre individuelle Freiheit, ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in "bio-
sozialen" und "bio-ökonomischen" Begriffen zu verstehen (vgl. Rose 1999:
78ff.). Die Menschen werden nun immer häufiger aufgefordert, sich als so-
ziale Individuen zu betrachten, sie müssen einsehen, dass ihre individuelle
Freiheit nur innerhalb der Gesellschaft garantiert und gesichert ist und dass
ihre Autonomie nicht nur eine juristische Frage ist, sondern hauptsächlich auf
der sozialen Normalität beruht. In diesem ,Regime des Sich-selbst-Regie-
rens' impliziert die Umsetzung von Freiheit von Anfang an ein Unterwerfen
unter das, was in der Gesellschaft als normal gilt - und mitunter auch unter
die biologischen Fundamente dieser Normalität. Erst im Kontext der sozialen
Unterwerfung, die Freiheit garantiert, und der unverbrüchlichen Beziehung
zwischen Individualität und Sozialität, kann die Beziehung zwischen der
,Bildun9' und der ,Gesellschaft' in den Mittelpunkt des Interesses gerückt
werden. Mit anderen Worten: Es gibt den Raum, Ausbildung als ein Mittel
zu betrachten, mit dessen Hilfe man eine soziale Form der Individualität zu-
standebringen kann, wie auch den Raum, ein Selbstverständnis zu entwi-
ckeln, in dem man sich als Teil eines größeren bio-sozialen oder bio-ökono-
mischen Ganzen sieht. Darüber hinaus ist dies auch der Zusammenhang, in
dem über die Reproduktion der Ordnung und Normen der Gesellschaft oder
über deren Optimierung durch biologische und/oder ökonomische Selektion
nachgedacht werden kann. Aus welcher Richtung man es auch betrachtet:
Ausbildung erscheint in dieser Regierungskonfiguration als das Scharnier
zwischen Freiheit und Sicherheit.
Diese Skizze der biopolitischen Regierung und der Selbstführung in der
liberalen Regierungsform zeigt, dass die ,Regulierung der Bevölkerung' eine
Geschichte hat. Ein interessantes Element in dieser Geschichte ist die beson-
dere Art, in der die Politisierung des Lebens mit einer Ökonomisierung dieses
Lebens verbunden wird: Die Aufrechterhaltung und Optimierung der Le-
bensumstände kann in eine politische Ökonomie eingebracht werden, wo-
durch das Leben zum Gegenstand einer Investition wird und im Sinne der
Rendite bewertet werden kann. Den Begriff Biopolitik auf diese Art in den
Rahmen der Gouvernementalität einzubringen, ermöglicht es, eine Sicht auf
das konkrete Funktionieren der biopolitischen Regulierung und den Zusam-
menhang mit einer ,ökonomischen Regierung' zu erlangen. Anstatt die zu-
nehmende ,Macht über Leben' als eine Phase in der ,Logik des Kapitals' zu
verstehen (und als die Vorgeschichte des "Imperiums", wie es Hardt und Ne-
gri offensichtlich tun), kann diese Sicht verdeutlichen, welche spezifischen
Formen der Steuerung und der Selbstführung diese ,Macht über Leben' im-
pliziert. Weiterhin kann die Einführung biopolitischer Elemente in die Analy-
se von Regierungsformen auch die Fragestellung der Souveränität wieder auf
die Tagesordnung bringen (vgl. Dean 2002; Bröckling 2003). Nach Foucault
beruht die Umkehrung des ,leben Machens' zum ,sterben Machen' (insbe-
sondere in totalitären Regimen) auf rassistischen Unterscheidungen im biolo-
gischen Kontinuum. Aber soweit in liberalen Regierungsformen das ,leben
Machen' eine ökonomische Funktion hat, kann hier eine ökonomische Be-
7 So beginnt Dewey sein "pädagogisches Credo" wie folgt: "Ich glaube, dass die ge-
samte Erziehung sich durch die Teilnahme des Individuums am sozialen Bewusstsein
der Rasse vollzieht [... ]. Ich glaube, dass die wahre Erziehung aus der Entfachung der
Fähigkeiten im Kinde und durch die sozialen Anforderungen der Umgebung, in der es
lebt, folgt" (Dewey 1897: 49).
Lernen, Leben und Investieren 177
8 Für eine Übersicht von Studien (Aspekten) bzgl. des aktuellen Regierungsregimes
oder des sogenannten "fortgesetzten Liberalismus" siehe: Barry et al. 1996; Rose
1999; Lemke et al. 2000.
9 Für eine detailliertere, auf Bildung zugespitzte Beschreibung siehe: Masschelein/Si-
mons 2003.
178 Maarten Simons
Zeit so zu nutzen, dass sie eine optimale Investition in das menschliche Ka-
pital des Kindes darstellt. Aber in ein Kind zu investieren, bleibt doch immer
ein risikoreiches Unterfangen. Kinder mit einer Behinderung sind besonders
kostenintensiv, aber auch das Geschlecht kann durchaus erheblichen Einfluss
auf die Kosten nehmen. Pränatale Untersuchungen können an dieser Stelle
das Risiko für das unternehmerische Selbst bereits deutlich verringern. In
Bezug auf Kinder muss das unternehmerische Selbst zu einer optimalen In-
vestition und Produktion gelangen, und auf dieser Ebene kann es einen gen-
technischen Einfluss ausüben (vgl. Meyer-Drawe 2000). Aber es spricht für
sich, dass die Entscheidung dafür das ökonomische Tribunal nicht überlebt,
solange noch gentechnische Eingriffe ein risikoreiches Unterfangen sind.
Das alles verdeutlicht, dass das Leben sogar bis auf die genetische Ebene
als Korrelat einer investierenden Haltung erscheint. Häufig führt dies zu einer
,genetischen Unruhe', und man versucht, die davon ausgehende Gefahr durch
die modeme ,Eugenik', den modemen Rassismus aufzuzeigen und die mo-
deme soziale Hygiene in Erinnerung zu bringen (vgl. Foucault, 14. März
1979). Dabei ist es von besonderer Bedeutung, die Gefahren richtig zu identi-
fizieren. Zumindest soweit die Biopolitik des ,unternehmerischen Selbst'
(und eventuell eines unternehmerischen Staates) vollständig durch das öko-
nomische Tribunal gesteuert wird, kann dieses Tribunal eine Schreckensherr-
schaft über das kapitalisierte Leben ausüben. Wenn das Leben eine ökonomi-
sche Funktion bekommt, dann ist das ,sterben Lassen', wie Ulrich Bröckling
treffend anmerkt, die Folge eines "desinvestments" (Bröckling 2003: 22).
Wenn das ,leben Machen' durch eine Investition garantiert wird, dann impli-
ziert nicht länger zu investieren folgerichtig das ,sterben Lassen'. Mehr noch:
Der Tod selbst wird zum Korrelat einer investierenden Haltung. So behauptet
Becker, dass die meisten Todesfälle - "if not all" - tatsächlich Selbstmorde
sind: Der Tod könnte schließlich aufgeschoben werden, wenn mehr in das
Leben und lebensverlängernde Aktivitäten investiert würde (Becker 1976:
11). Wenn das unternehmerische Selbst - und womöglich der unternehmeri-
sche Staat - alles dem permanenten ökonomischen Tribunal unterwirft, dann
ist es genau diese Form des Unternehmertums, welche die Rolle eines Souve-
räns ausfüllt. Ein Unternehmen investiert in dasjenige, von dem es erwartet,
dass es die Investitionen rechtfertigt und zu einem entsprechenden Gewinn
führt. Kinder, Wissen und Gene verdanken ihre Existenz daher eben auch der
Tatsache, dass in sie investiert wird. Falls jedoch die Erwartung möglicher
Erträge wegfällt, kommt das Fortbestehen ins Gedränge. Da das Unterneh-
mertum über das Investieren entscheiden kann, hat es also den Status eines
Souveräns - und dies nicht nur anderen gegenüber, sondern vielleicht zuerst
und in besonderer Weise bezüglich seiner selbst. Sofern es nicht mehr in das
eigene menschliche Kapital investieren will oder kann, können die Bedürf-
nisse nicht länger befriedigt werden und in der Folge steht die Fortbexistenz
auf dem Spiel. Wenn also die Kosten nicht länger die zu erwartende Befrie-
digung aufwiegen, dann betritt man das Terrain des ,sterben Lassens' und
eventuell sogar das des ,sterben Machens'. Gegenüber diesen Ausgeschlos-
182 Maarten Simons
senen oder gegenüber jenen Personen, die sich selbst ausschließen, kann ein
unternehmerischer Staat das Investieren und das ,leben Machen' überneh-
men. So kann der Staat beispielsweise einen Vertrag mit einem Langzeitar-
beitslosen, oder mit einer Person, deren Leben noch nicht hinreichend kapi-
talisiert ist, abschließen (vgl. Dean 2002: 133). Auf diese Art verlagert sich
jedoch die Souveränität auf die Ebene des Staates. Es geht in einem solchen
Vertrag nicht so sehr um eine juristische Einigung, sondern um Verpflichtun-
gen, die auf dem Hintergrund des ,leben Lassens' erzwungen werden.
Diese Machtdynamik kann durchaus auch im europäischen Hochschul-
raum entstehen. Es betrifft hier eine öffentliche Infrastruktur, in der sich
Hochschulen als Unternehmen profilieren können. In diesen Unternehmen
können sie - durch Forschung und auf Kompetenz basierendem Unterricht -
menschliches Kapital anbieten und der unternehmerische Student kann in
diese Unternehmen investieren. Der unternehmerische Student macht dabei
nicht länger einfach nur eine Ausbildung - er trifft nun eine Entscheidung für
eine bestimmte Ausbildung und investiert Zeit eine bestimmte Menge seiner
Lebenszeit, von der er erwartet, dass sie später eine entsprechende Rendite
abwirft. Die Hochschulen werden voraussichtlich alle Anstrengungen unter-
nehmen, menschliches Kapital mit einem entsprechenden Mehrwert anzu-
bieten. Sie werden nach ,Exzellenz' streben und sie werden dem Studenten
den Mehrwert (Qualität) ,publik' machen. Sie werden in jene Forschungsge-
biete und in jene Ausbildungen investieren, von denen man erwartet, dass sie
sich als besonders ertragreich erweisen. Forscher und Dozenten kommen auf
diese Art und Weise in eine Lage, in der ihr Fortbestand von dem Erfolg die-
ser Investitionen abhängig ist. Ein System vergleichbarer Abschlüsse und ein
übergreifendes Qualitätsmanagement - Elemente eines europäischen Hoch-
schulraumes - erleichtern dabei die Umkehrung in eine Schreckensherr-
schaft: Denn die unternehmerische universitäre Verwaltung wird nur in Stu-
diengänge, Disziplinen und Forschungsgebiete investieren, wenn diese auf
europäischer Ebene und gegenüber ähnlichen Ausbildungen und Forschungs-
abteilungen einen erkennbaren Mehrwert versprechen. Natürlich kann man
dafür sorgen, dass man selbst über ausreichende Mittel verfügt und dass man
den Kunden - den Studierenden oder die Wirtschaft - direkt bezahlen lässt.
Aber auch hier bleibt das Schreckensregime dasselbe. In den unternehmeri-
schen Universitäten des europäischen Hochschulraums ist es Sache der Stu-
diengänge und Forschungsabteilungen zu beweisen, dass es für den Studien-
gang und die Forschung Kunden gibt und dass sie einen Mehrwert haben.
Kurzum, es ist an ihnen, das Fortbestehen zu sichern. Es geht um ein Schre-
ckensregime, welches, um die Terminologie von Lyotard zu übernehmen,
von der Maxime regiert wird: "Sorge dafür, dass in dich investiert wird, oder
verschwinde!" (Lyotard 1979: 8).
Aber solange Lernen nur als der Erwerb von menschlichem Kapital, von
Kompetenzen und als Aufbau von Kenntnissen verstanden wird, die etwas
einbringen, kann auch auf dieser Ebene das ökonomische Tribunal in eine
Schreckensherrschaft umschlagen. Lernen, so wird immer häufiger behaup-
Lernen, Leben und Investieren 183
tet, müsse dafür sorgen, dass wir über vielfältig einsetzbare Kompetenzen
verfügen, die es ermöglichen, uns zu verwirklichen und unsere Bedürfnisse
zu befriedigen. Das ökonomische Tribunal ist an dieser Stelle unerbittlich:
Wir müssen das menschliche Kapital und die Kompetenzen fortwährend
überarbeiten. Es geht eben nicht allein darum, sich ,up-to-date' zu halten,
sondern sich mit anderen zu vergleichen und dafür zu sorgen, dass man im
Vergleich zu anderen über das bessere ,Portfolio' verfügt. Die Unterwerfung
unter das permanente ökonomische Tribunal verurteilt das unternehmerische
Selbst in dieser Betrachtung nicht nur zum Lernen, sondern zum lebenslan-
gen Lernen. Der Lernprozess sorgt für den notwendigen Mehrwert und Ler-
nen heißt Investieren in menschliches Kapital (vgL Masschelein 2001). Es
scheint offensichtlich darum zu gehen, vorausschauend und pro-aktiv mit
dem Lernprozess und dem Lernvermögen umzugehen. Man wird genötigt,
das Lernvermögen in den Dienst des Erwerbs von Kenntnissen und Fertig-
keiten stellen, von denen man erwartet, dass sie einen Mehrwert besitzen.
Ohne diese investierende Haltung sich selbst gegenüber und ohne produktive
und pro-aktive Anwendung des eigenen Lernvermögens steht der Fortbestand
auf dem SpieL In diesem Sinne lässt sich das Zitat von David Kolb, das ich
dem Text vorangestellt habe, auf folgende Art neu formulieren: Es ist der
unternehmerische Mensch, der sich mit dem Lernprozess identifiziert und der
auf diese Art den Anforderungen der Umwelt vorgreifen muss. Dem muss
man jedoch hinzufügen: Das unternehmerische Selbst ist gleichzeitig dasje-
nige, das über den Mehrwert des Lernprozesses bestimmt. Und wenn die Bi-
lanz negativ ist, kann das ,leben Machen' übergehen in ein ,sterben Lassen'
oder schließlich sogar in ein ,sterben Machen'. Dass Bildung ihre Funktion in
zunehmendem Maße mit Begrifflichkeiten wie ,Lernen lernen' oder der An-
wendung des Lernens und der Entwicklung des Lernvermögens sowie dem
Erwerb von, Kompetenzen' umschreibt, ist daher eng verknüpft mit einer ge-
fährlichen Form der Machtausübung.
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Roland Reichenbach
Vorbemerkungen
Der Selbstsorgegedanken und die Idee einer ,Ästhetik der Existenz' haben im
Anschluss an Foucault eine Renaissance erlebt. Diese für viele Rezipienten
offensichtlich attraktiven, aber im Grunde wenig komplexen Konzepte bein-
halten auch starke empirische Behauptungen zur Konstituierung des Selbst
und zur Entwicklung von Ich-Identität, die in der Psychologie, besonders
aber der Sozialpsychologie vielschichtig, differenziert und mit einer beachtli-
chen empirischen Validität erhellt, diskutiert und teilweise überprüft worden
sind. Zu erinnern sei beispielsweise (1) an die Diskussionen um das Konzept
der Entwicklungsaufgaben (vgl. Havighurst 1948), (2) an Konzepte und
Arbeiten aus der psychodynamischen und vor allem strukturgenetischen
Tradition und (3) an den heute sehr ausgefächerten Bereich der narrativen (So-
zial-)psychologie, aus welcher soziologisch und historisch anschlussfähige
Überlegungen - etwa zum Zusammenhang von Identität und Erinnerungskultur
- hervorgegangen sind. Doch offensichtlich gelingt es dem im Vergleich dazu
wenig differenzierten Selbstsorgegedanken in einer raumzeitkultürlichen Si-
tuation, die sich durch das Fehlen tragfähiger gesellschaftlicher Visionen aus-
zeichnet, das Versprechen einer Re-Politisierung des Subjektes und eines mo-
ralisch-emanzipativen Empowerments des spätmodern eher ermüdeten Selbst
glaubhaft zu machen, das sich vielleicht noch tapfer zu weigern versucht, sich
als untemehmerisches Selbst zu verstehen. Solche hoffnungsvollen Aussichten
auf starke Individualität scheinen mit dem Preis bezahlt werden zu müssen,
dass der Diskurs um die ,Selbstsorge', um die ,Ästhetik der Existenz' und die
188 Roland Reichenbach
"La fatigue de soi" ist ein Ausdruck aus Alain Ehrenbergs Depressions-
studie Lafatigue d'etre soi (2000). Das an seinen Selbstverwirklichungs- und
Selbstbemächtigungsversuchen ,ermüdete' und ,ausgebrannte' Selbst ent-
spricht vielleicht der realen Seite jener Münze, auf deren idealen Seite das so
leicht ideologisierbare Modell der Selbstsorge eingraviert ist (vgl. von Thad-
den 2003). Allerdings sei zunächst nicht der Sicht Ehrenbergs gefolgt und ein
solches Selbst als primär depressiv oder überhaupt psychopathologisch ge-
deutet; vielmehr soll hier von einem Selbst die Rede sein, das nun mehr eine
gewisse Lauheit, eine Trägheit und Leidenschaftslosigkeit besitzt (vgl. Gar-
nier 2001): ein Selbst, das sich nicht darüber aufregen kann, dass sein Leben
nicht im geringsten den Charakter eines Kunstwerks aufweist; ein Selbst, das
sich vielleicht eher fragt, ob nicht gerade der Anspruch, aus dem eigenen Le-
ben ein Werk machen zu wollen, das bestimmten ästhetischen Kriterien ge-
recht wird, überaus eitel oder exklusiv ist. Sollte man sich pädagogisch daher
nicht eher mit ,normalen' Selbsten und deren ,normalen' Sorgen und Zielen
beschäftigen, mit Selbsten also, die lernen müssen, ihr gewöhnliches Leben
zu bejahen (vgl. Taylor 1996)? Dass aber die antike Selbstsorge ein Privileg
weniger dargestellt hat, ist freilich auch für Foucault evident gewesen:
"S'occuper de soi est un privilege; c'est la marque d'une superiorite sociale,
par opposition a ceux qui doivent s'occuper des autres pour les servir ou en-
core s'occuper d'un metier pour pouvoir vivre" (Foucault 1994a: 355). Wer
sich um andere und/oder um einen Beruf kümmern "musste", dem entfiel die
Möglichkeit einer Beschäftigung mit sich selbst in einem starken (und nicht
bloß trivialen) Sinne des Konzeptes.
In einem schwachen, m.E. trivialen Sinne kann Selbstsorge kaum ande-
res meinen als eben ,auf sich selbst achten', ,sich um sich selbst kümmern',
,Sorgfalt auf sich selbst verwenden' - doch anders scheinbar bei Foucault,
ohne wirklich anzugeben, was an der Selbstsorge als epimeleia heauton so
anders ist: "Cela ne veut pas seulement dire s'interesser a soi-meme, et cela
n'implique pas non plus une tendance a exclure toute forme d'interet ou
d'attention qui ne serait pas dirigee sur soL Epimeleia est un mot tres fort en
grec, qui designe le travail, l'application, le zeIe pour quelque chose (... ), un
mot qui se rapporte a une activite, a une attention, a une connaissance ... "
(Foucault 1994b: 622f.). Kann Selbstsorge in einem so verstandenen,
scheinbar stärkeren Sinne überhaupt mehr oder zumindest anderes meinen
als "Bildung" oder "Verbesserung" der Person, als ob dies nicht schon An-
spruch genug wäre? Wie ist die gewisse Euphorie zu erklären, die das Kon-
zept bei manchen Autoren erlebt hat (v gl. etwa Keupp 2000; Schmid
1998)? Was kann man auf dem Boden der Realität, die man vielleicht ver-
ändern will, von einer ,Wiederbelebung' des alten Selbstsorgegedankens
erwarten, von der Foucault an anderer Stelle behauptet, sie sei im völlig
fremd (vgl. 1994c: 724) - was man ihm vielleicht nur schwerlich glauben
will?
Doch im Unterschied zu euphorischen Interpretationen sind Foucaults
Texte zur Selbstsorge bemerkenswert nüchtern gehalten. So behauptet Didier
,Lafatigue de soi' 191
Eribon von der Schreibweise von Foucaults letzten Büchern, Der Gebrauch
der Lüste und Die Sorge um sich, sie sei "ruhig geworden, leidenschaftslos,
(... ) weit entfernt vom früheren Glanz", ja "gedämpft" und "nüchtern" (Eri-
bon 1999: 480). Dass sich Foucault nach seinem jahrzehntelangen anti-
aufklärerischen Aufklärungsspielen, nach seinen jeweils in aporetische Zu-
sammenhänge mündenden Analysen des Diskurs- und Machtgedankens, nach
seiner für ihn wohl auch lustvollen Demontierung des Subjekts in seiner
letzten Lebensphase ausgerechnet der Praxis der ,Aufrichtigkeit' (parrhesia)
und den Techniken der Selbstsorge gewidmet hat, könnte auch ironisch
kommentiert werden. l Die Beschäftigung Foucaults mit der (antiken) Selbst-
sorge führte wohl bei manchen seiner Interpreten zu einer Auffassung der
Selbstsorge als einer Jrohen Botschaft', die uns möglicherweise Mut machen
sollte, das Leben richtig zu leben, um es dann auch richtig beenden zu kön-
nen. Dies kommt zumindest den Wünschen nach Authentizität und Läute-
rung, nach Verpflichtung und Klarheit, nach Selbstvergewisserung, nach
Selbstentschluss und Freiheitspraxis in einer kulturellen Situation entgegen,
in welcher diffuse ldentitäten als normal und akzeptabel gelten. Das Selbst-
sorgemotiv erinnert in einer weniger sozialwissenschaftlichen Sprache - und
das macht zweifellos einen Teil seines Charmes aus - an die Möglichkeit und
Pflicht, ein eigenes Leben zu führen; zugleich ist es obskur genug, um Tiefe
zu suggerieren, während das Identitätsproblem in soziologischen und psy-
chologischen Diskursen mittlerweile viel von seiner Attraktivität eingebüßt
hat. In einer Weh, in der man sich verwundert fragt, wieso man sich nicht
mehr so richtig empören mag über die Dinge, die einem missfallen, über die
Tatsache der Kraftlosigkeit so mancher politischer und ethischer Ideale,
scheint der Selbstsorgegedanke bei jenen, die hier trotz alledem noch den
Skandal des banalen Lebens erleben, ein Sinnvakuum zu füllen.
Gegen solche Lauheit und gegen das Arrangement mit dem seichten Le-
ben soll die Selbstsorgeethik sinnigerweise wieder aufrufen, uns einerseits
der Einübung von Lebenskunst (sogenannte ,Askese') zu widmen und ande-
rerseits der Ausübung von Lebenskunst (sogenannte ,Stilistik'). Charakteri-
sieren sollen wir uns als ethische Subjekte im Gegensatz zum epistemischen
Subjekt durch ein "asketisches Selbstverhältnis" (Schrnid 1992: 382) - das
soll so viel heißen wie: leisten wir Arbeit an uns, bilden wir uns, so dass wir
zunehmend von der ,passiven' und ,normierten' zur ,aktiven' und ,ethischen'
Form der Selbstkonstituierung gelangen. Durch eben solchen Gebrauch unse-
rer selbst, d.h. unserer Freiheit, ,schaffen' wir gleichsam an den Vorausset-
zungen für eine ,freiheitliche Gesellschaft' mit; dies wäre nach Wilhelm
Schmid eine Gesellschaft, die das Individuum in den Mittelpunkt stellen
würde. Dies bezeichne ich als die ,frohe Botschaft' des Selbstsorgegedan-
kens: Das Re-Empowerment des ästhetischen und gerade deshalb wieder mo-
ralischen und politischen Subjekts, das sich mit Foucault, und vielleicht auch
Etwa im Sinne einer von Foucault vielleicht nicht immer heftig abgewehrten, arbeits-
biographischen mauvaise foi ("Unaufrichtigkeit", vgl. Sartre 1943/2000).
192 Roland Reichenbach
gegen ihn, wie Phoenix aus der Asche erhebt, geschieht durch "Akte der
Freiheit", die in Konfrontation mit Problemen und im Kontakt mit dem Into-
lerablen, d.h. in Auseinandersetzung mit Macht und gegen Normierung voll-
zogen werden (Schmid 1992: 384). Doch lässt sich dies konkretisieren?
2 Nicht dass Noddings für eine rigide Durchsetzung religiöser Praktiken in der Schule
oder dergleichen wäre. Ganz im Gegenteil: "My husband and I long ago gave up for-
mal religion ... ", aber dennoch: "but we still are moved by the hymns we leamed as
children" (ebd.).
,Lajatigue de soi' 193
been astonished. ,How do you know so many verses?' they have asked. They
might better have asked why we did not teach them these songs" (Noddings
1992: 82). Nach solcher Selbstkritik darf Noddings dann wiederum festhal-
ten: "Now, older and possibly wiser, we see that matters of the spirit are too
important to be confined to centers of indoctrination. They must be part of
everyday life and of the most strenuous intellectual efforts" (ebd.). So geht es
weiter auch für die Bereiche "occupational life" und "recreational life" und
immer wieder zeigt uns Noddings mit allseits bekannten Gründen, dass das
Selbst eine relationale Entität ist und die Selbstsorge deshalb nur als Praxis
mit anderen, im weitesten Sinne als kommunikative oder interaktive Praxis
verstanden werden könne.
Dass das verbreitete Buch von der im nordamerikanischen Erziehungs-
diskurs sehr bekannten Nel Noddings in großen Teilen der Sparte ,pädagogi-
scher Kitsch' zugerechnet werden muss, mag bestritten werden, sicher er-
scheint aber, dass der pädagogische Gebrauch des Konzeptes Selbstsorge zu
zwar praktisch vielleicht bedeutsamen, theoretisch aber trivialen Einsichten
und Ratschlägen führen mag. Doch es geht hier nicht darum, Noddings Buch
zu desavouieren, sondern vielmehr um die Frage, ob man denn inhaltlich
überhaupt anders - wenn möglich: besser - über die Selbstsorge in pädago-
gisch-praktischer Hinsicht sprechen könne. Es steht zu befürchten, dass dies
leider nicht so eindeutig der Fall zu sein scheint. Nicht nur das: Weiter muss
vermutet werden, dass das Selbstsorgekonzept gegen ideologischen Miss-
brauch kaum widerständig genug ist, gerade weil es sich so leicht mit eman-
zipativen Selbstüberhöhungsträumen verbindet und damit Selbsttäuschungs-
potentiale freisetzt.
Kontext (Platon) über einen religiösen (ab der späten Antike) in einen rein
psychologischen (Modeme). Es handele sich hierbei, wie Schmid bemerkte,
um eine Transformation der Selbstsorge in Seelsorge (vgl. Schmid 1992). So
könne die humanistisch-psychologisch inspirierte Selbstkultur der Gegenwart
durchaus als Reaktion auf eine ,christliche Ethik' verstanden werden, wel-
cher es darum gegangen sei, das Selbst zu entziffern, um ihm letztlich zu ent-
sagen. Der christlich geformten Selbstentsagungspraxis werde modem eine
romantische geprägte Form der Selbstsorge entgegengestellt, welche einer
Sakralisierung eines inneren, wahren und ,unberührbaren' Kerns des Men-
schen gleichkomme (vgl. Reichenbach 2002). Der Ursprung der Idee eines
"wahren" Selbst hat allerdings weniger mit Narzissmus zu tun (vgl. Lasch
1979) als vielmehr mit dem moralischen Ideal der Authentizität (vgl. Taylor
1995); man könnte auch sagen, mit einer psychologisch-naturalistisch moti-
vierten Ethik.
Dem ,Foucaultschen Subjekt der Erfahrung' gehe es - so etwa Wilhelm
Schmid - stets um ein spezifisch ethisches Anliegen, nämlich um die mögli-
che Veränderung und damit um die Möglichkeit einer offenen Geschichte,
man darf auch etwas pathetisch sagen, um die Freiheit des Menschen, aber
eben nicht um seine ,wahre' Natur (vgl. Schmid 1992: 227; Foucault 1996).
Diese Freiheit aber, weil sie jeweils konkrete Praxis ist, zeige sich an der Art
und Weise zu leben und sich zu geben, d.h. an einem besonderen Stil, der auf
Elemente der Selbstformung verweise. Die Frage des Lebens-Stils sei gerade
wegen ihrer politischen Dimension bedeutsam, da sie in Beziehung zu dem
steht, "was wir in unserer Welt willens sind zu akzeptieren, zurückzuweisen
und zu verändern, sowohl bei uns selbst als auch in unseren Verhältnissen"
(Foucault, zit. nach Schmid 1992: 236). "Nicht Untertan zu sein", dieser
Wunsch verlange nach "Formen der Gesellschaft (... ), die auf der Selbstkon-
stituierung der Subjekte beruhen und diese ermöglichen" (Schmid 1992:
375). Hier berühren sich nun ethische Fragen mit Machtfragen, denn die
Möglichkeit der "Regierung seiner selber" scheint primär in freiheitlichen
Gesellschaften gegeben. Damit erhalte die Ethik des Selbst - so die Unter-
stellung - aufklärerische Relevanz und Aktualität (vgl. Schmid 1992: 376).
Es ist denn auch diese "theoretischen Stelle", an welcher die Einwände
gegen Foucault, wie sie etwa von Jürgen Habermas, Nancy Fraser oder
Charles Taylor erhoben wurden, in dem Argument konvergieren, Foucault
habe nicht zeigen können, wie das Subjekt in der allumfassenden Macht
überhaupt zum Widerstand fahig sein könne und derselbe überhaupt noch zu
begründen sei (v gl. Lemke 1997). Unabhängig davon, ob Foucaults "spätes
Interesse an Subjektivität und Ethik" nun als theoretischer Bruch, als Ab-
wendung von der Machtproblematik und "Flucht aus einer theoretischen
Sackgasse" verstanden wird oder gerade umgekehrt als Konsequenz seiner
intensiven Beschäftigung mit Machtpraktiken (vgl. Schobert 1998), der Be-
griff der "Regierung seiner selbst" wird stets als "Bindeglied" und Vermitt-
lungsbegriff zwischen Macht und Subjektivität, Macht und Herrschaft be-
trachtet (vgl. dazu einschlägig Ricken 2003).
,Lafatigue de soi' 195
Nur: Dafür braucht man keine Moraltheorie, keine Genealogie und kein
Ursprungsmythos, keine anti-modemen Suggestionen und keine Dichoto-
misierung zwischen vermeintlichen , Ego-Ethiken, (des guten eigenen Le-
bens) und ,Sozio-Moralen' (des richtigen Miteinanderlebens). Es reicht der
empirische Blick auf die Verse der jugendlichen Dichter in ihrem Liebes-
kummer, auf das adoleszente Herumtelefonieren und das Einholen von
Peers-Feedback, auf das ständige Korrigiertwerden, aber auch auf das Ge-
lobtwerden, auf das Messen, Bewerten und Vergleichen auf dem Sport-
platz, in der Turnhalle und in der Disco, das Diskutieren über Filme, Kon-
zerte etc. - alles mehr oder weniger angeleitete, mehr oder weniger frucht-
bare Techniken der Personwerdung; Techniken, deren Logiken natürlich
ausfindig zu machen sind und entwicklungs- und bildungstheoretisch inte-
ressieren müssen.
3 Die hier anschließende Frage lautet, ob wir die Übergänge von Selbsterkenntnis zu
Selbsterzählung, von Selbstfindung zu Selbsterfindung, von Selbstbestimmung zu
Selbstmythos, von Selbstaufklärung zu Selbstverklärung, von Se1bstenttäuschung zu
Selbsttäuschung, und den Übergang von sorgloser Gleichgültigkeit zu sorgenvoller
Ängstlichkeit wirklich klar benennen können (vgl. Thomä 1998).
198 Roland Reichenbach
s. Schlussbemerkungen
Wilhelm Schmid mag recht haben: der Selbstsorgegedanken ist tatsächlich
vielschichtig thematisierbar und es gilt vielleicht wirklich einen selbstzepti-
ven Aspekt, einen selbstreflexiven Aspekt, einen selbstproduktiven Aspekt,
einen therapeutischen Aspekt, einen asketischen Aspekt, einen parrhesiasti-
schen Aspekt, einen mutativen Aspekt, einen prospektiven und präsentiven
Aspekt, einen politischen Aspekt und eben auch einen pädagogischen Aspekt
zu unterscheiden (vgl. Schmid 1995: 530). Und richtig mag auch sein, dass
die Analysen zur Selbstsorge für die Bildungstheorie von einigem heuristi-
schen Wert sind, insofern sich diese der kulturellen und psychischen Situati-
on des Selbst zu widmen hat. Richtig mag weiterhin sein, dass die spätmo-
derne Situation mit derjenigen der griechischen Antike einige wenige auffäl-
lige Gemeinsamkeiten aufweist, wie etwa jene, dass auch wir in der Regel
nicht länger glauben, dass die Religion als Fundament der Moral fungieren
könne und dass auch wir Probleme damit haben, wenn das Rechtssystem in
unser moralisches, persönliches und intimes Leben interveniert (vgl. Ewald
1996: 24; Schmid 1992: 249f.). Nur scheint das freilich nicht auszureichen,
,Lafatigue de soi' 199
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200 Roland Reichenbach
"Washed my face
in the rivers of Empire ... "
JoeyBums
Bemüht man sich um eine erste, noch recht grobe Eingrenzung des Zeit-
raums, innerhalb dessen sich Michel Foucault für die Untersuchung histori-
scher Subjektivierungsformen zu interessieren beginnt, ist es hilfreich, sich
jenen beiden Vorträgen zuzuwenden, die er vor der Socihe jram;;aise de phi-
losophie in Paris hält. Als er 1969 unter dem schlichten Titel Was ist ein Au-
tor? (vgl. Foucault 2001a) das Augenmerk auf die besonderen Voraussetzun-
gen lenkt, denen die Kategorien Autor und Werk ihre Geltung verdanken,
wird unweigerlich auch der Begriff des Subjekts auf neue, irritierende Weise
in den Blick genommen: Statt das Subjekt noch länger als vorgängige Größe
und als verlässliche Erkenntnisgrundlage zu betrachten, müsse es vielmehr -
so Foucault - als "variable und komplexe Funktion des Diskurses" begriffen
werden (Foucault 2001a: 1029), die auf historisch je spezifische Weise be-
stimmt werde. Die Kategorie des Autors, von der kaum behauptet werden
könne, dass sie sich als sonderlich stabile und resistente historische Größe
erwiesen habe, beschreibe lediglich eine charakteristische Weise, diese
Funktion auszufüllen. Ironischerweise war es dann der marxistische Litera-
tursoziologe Lucien Goldmann, der sich in der Diskussion, die sich an den
Vortrag anschloss, zum Anwalt des Subjekts erklärte und an Foucault die
Frage richtete, ob er dieses damit nicht unzulässigerweise auf den Status ei-
ner bloßen Funktion reduziere (vgl. Foucault 2001a: 1038). In der Antwort
Foucaults, die - wie Bernhard Waldenfels treffend bemerkt - etwas auswei-
chend ausfällt (vgl. Waldenfels 2003: 12), wird deutlich, dass er das Subjekt
zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch als bloß abgeleitete und wenig komple-
xe Größe betrachtet: Man müsse, so entgegnete er Goldmann, um die "Sub-
jekt-Funktion" genauer bestimmen zu können, eine "Analyse der Bedingun-
* Für die kritische Lektüre des Manuskripts und hilfreiche Rückfragen gilt mein Dank
Rita Casale, Karin Priem, Norbert Ricken und Gabriella Schmitz.
204 Markus Rieger-Ladich
gen" vornehmen, "unter denen es möglich ist, dass ein Individuum die Funk-
tion des Subjekts" erfüllt (Foucault 2001a: 1038).
Fast zehn Jahre später spricht Foucault erneut vor dem illustren Kreis
französischer Philosophen und hält einen Vortrag, der ebenfalls eine große
Resonanz erfährt - für den er allerdings keinen Titel nennt. Im Mittelpunkt
seiner Ausführungen, die von den Herausgebern nachträglich mit dem Titel
Was ist Kritik? versehen wurden (vgl. Foucault 1992b), steht die Kritik als
eine widerständige Bewegung, in der sich der Einzelne auf jenes komplizierte
Geflecht von Diskursen und Machtverhältnissen zurückwendet, das ihn als
Subjekt erzeugt hat. Das Subjekt, das ihm in der Kritik des Autor-Konzepts
noch als eigentümlich passives Element einer diskursiven Ordnung galt, er-
weist sich nun als ein ungleich komplexeres und widersprüchlicheres Phä-
nomen (vgl. Butler 2003b: 26). Hervorgegangen aus dem intrikaten Zusam-
menspiel von raffinierten Disziplinierungspraktiken und individualisierenden
Humanwissenschaften, die - so Alfred Schäfer - einen "Täter hinter dem
Tun" fingieren (Schäfer 1996: 176), wendet sich das Subjekt dieser Konstel-
lation zu und versucht dadurch zugleich, dieser besonderen Form der Unter-
werfung zu entkommen. Wie weit sich Foucault dabei von seiner früheren
Position entfernt, wird in der Diskussion des Vortrags besonders deutlich:
Hier führt er aus, dass die aktuelle Herausforderung darin bestünde, das
komplizierte Zugleich von Unterwerfung und Aufbegehren, das für das Sub-
jekt charakteristisch sei, zu denken, ohne dieses nachträglich doch noch mit
einer elementaren Freiheit auszustatten (vgl. Foucault 1992b: 53).
Damit ist der Rahmen skizziert und die Frage aufgeworfen, die ich in
meinen Ausführungen zu beantworten suche: Wie lässt sich Foucaults Denk-
bewegung beschreiben, die offensichtlich von dem Bemühen vorangetrieben
wird, jene Praktiken, Techniken und Übungen, die ein Individuum dazu füh-
ren, sich als Subjekt zu begreifen und sich als solches an-zu-erkennen, immer
genauer und differenzierter herauszuarbeiten? Wie gelingt es ihm, zu diesem
Zweck sein begriffliches Instrumentarium immer weiter zu verfeinern und
seine Beobachtungsperspektive immer wieder neu zu justieren? Nach der
Rekonstruktion der einzelnen Etappen, die sich bei diesem - mitunter etwas
verschlungenen - Weg identifizieren lassen, versuche ich abschließend we-
nigstens anzudeuten, worin die Bedeutung dieser Denkbewegung für die er-
ziehungswissenschaftliche Reflexion bestehen könnte und weshalb die Un-
tersuchung von Subjektivierungspraktiken auch innerhalb des pädagogischen
Diskurses (noch häufiger) betrieben werden sollte.
Auch wenn Foucault schon bald nach seinem ersten Auftritt vor dem philo-
sophischen Auditorium den Gegenstandsbereich seiner Forschungen deutlich
ausweitet und sich nun immer häufiger der Untersuchung jener Effekte zu-
Unterweifung und Überschreitung 205
Kombination von Fluren und Wänden, von Fenstern und Spiegeln erreicht
wird, zu ungleich einschneidenderen Folgen, weil die Trennung zwischen In-
nen und Außen, zwischen Eigenem und Fremdem eingezogen wird: Dies ist,
nach der Lesart Foucaults, die Folge einer "Architektur, die ein Instrument
zur Transformation der Individuen ist: die auf diejenigen, welche sie ver-
wahrt, einwirkt, ihr Verhalten beeinflußbar macht, die Wirkungen der Macht
bis zu ihnen vordringen läßt, sie einer Erkenntnis aussetzt und sie verändert"
(Foucault 1992a: 222).
Abgesichert und weiter verstärkt werden jene Effekte, die die perma-
nente Überwachung erzeugen, durch die Normalisierung, die Foucault als
zweites Element der Disziplinierung identifiziert. Diese entfaltet ihre formie-
rende Macht durch das Aufstellen minutiöser Verhaltenskodizes und das Er-
richten detaillierter Regelwerke, die es ermöglichen, sämtliche Handlungen
des Inhaftierten nicht nur zu messen und zu dokumentieren, sondern sie auch
zu qualifizieren und mit denen anderer zu vergleichen. Durch den Erlass von
Ordnungen, Vorschriften und Verboten, die etwa die zeitliche Organisation
des Strafvollzugs bis in die kleinsten Details hinein regeln, werden die all-
täglichen Praktiken der Häftlinge einem engen Korsett unterworfen, das es
erlaubt, jede einzelne Handlung auf ihre Regelkonformität hin zu überprüfen
- und bei Abweichung entsprechend zu sanktionieren. Das Ziel der Normali-
sierung besteht nach Foucault folglich darin, dass die Maschen dieses Netzes
so eng geknüpft werden, dass der Häftling die unterschiedlichen Normen
vollständig verinnerlicht und es schließlich fast spielerisch gelingt, das Diszi-
plinarindividuum auf ein "System von Normalitätsgraden" zu verpflichten
(Foucault 1992a: 237). Auch hier gilt demnach, dass diese Form der Diszi-
plinierung erst dann perfektioniert ist, wenn die Normen und Regularien von
dem Häftling inkorporiert und zu eigen gemacht werden: Denn erst wenn das
Wissen um die lückenlose Erfassung und die fortwährende Kontrolle sich so
weit in die Körper eingeschrieben hat, dass "jedes Subjekt in einem Univer-
sum von Stratbarkeiten und Strafmitteln heimisch wird" (Foucault 1992a:
230), ist die Normalisierung erfolgreich verlaufen.
Das letzte Element der Disziplinierungspraktiken - die Prüfung - geht
aus der Kombination der beiden erstgenannten hervor: In ihr verschränken
sich die hierarchische Überwachung und die disziplinierende Normalisierung
auf eine Weise, die zwar in den unterschiedlichen Feldern des Sozialen je
spezifische Ausprägungen erfährt, die gleichwohl eine charakteristische und
wiedererkennbare Form der Disziplinierung etabliert. So illustriert Foucault
am Beispiel der klinischen Visite, die im 18. Jahrhundert ihre Gestalt grund-
legend verändert und sich von unregelmäßigen Besuchen des Patienten zu ei-
ner systematischen, streng geregelten Beobachtungspraxis medizinischer
Phänomene wandelt (vgl. Foucault 1992a: 239f.), dass das Individuum aus
einem komplizierten Prozess hervorgeht, in dem immer genauere Methoden
der Beobachtung entwickelt, immer leistungsfahigere Verfahren zur Erfas-
sung isolierter Merkmale erprobt und immer fortgeschrittenere Techniken zur
lückenlosen Dokumentation der erhobenen Daten eingesetzt werden. Die
208 Markus Rieger-Ladich
renden Wirkungen kaum einmal in den Blick. Und doch sind "Übungen" -
wie Christoph Menke überzeugend herausstreicht - nicht nur "Medien der
Sozialisierung", die im Dienst der Disziplinierung stehen, sie sind gleichzei-
tig eben auch "Medien der Herstellung und Erweiterung eines Selbstbezugs,
Medien der Subjektivierung" (Menke 2003b: 288) - und damit konstitutiv für
die individuelle Handlungsfähigkeit. Die in neueren Arbeiten wiederholt auf-
geworfene Frage, ob innerhalb einer Disziplinargesellschaft noch Widerstand
geleistet werden könne bzw. ob sich überhaupt noch Quellen der Handlungs-
fähigkeit identifizieren ließen (vgl. Butler 2003a; Schäfer 2003), kann daher
nur beantwortet werden, wenn den Übungen wieder ihre Uneindeutigkeit und
Ambiguität zurückerstattet und die Subjektivierung als stets wiederkehrende
Praxis begriffen wird, die keine endgültigen, unwiderruflichen Ergebnisse
kennt. Auch wenn in einer Disziplinargesellschaft die unterschiedlichen
Übungen zweifellos ungleich häufiger im Dienst jener Kräfte stehen, die die
Zurichtung der Subjekte betreiben, so geschieht dies doch nie ohne die
gleichzeitige Stärkung jener Impulse, die diesen Kräften entgegenarbeiten.
Es zeigt sich somit inmitten der Disziplinargesellschaft ein bemerkens-
wertes Paradox, das gleichsam als Platzhalter des individuellen Handlungs-
vermögens fungiert: Weil die fortgeschrittenste und raffinierteste Form der
Unterwerfung darauf abzielt, mit der Seele eine Instanz zu errichten, die nicht
nur als ,Gefängnis des Körpers' wirkt, sondern auch noch aktiv die eigene
Unterwerfung betreibt, kommen die Verfahren, die diese ins Leben rufen
sollen, nicht umhin, sie mit gewissen Spielräumen des Handeins auszustatten.
Doch genau jene Fähigkeit zur beschränkten Autonomie, die doch zweifellos
im Dienst der Heteronomie stehen soll (vgl. Menke 2003a: 116), ist es nun,
die als widerständiger Rest bezeichnet werden könnte. Verstärkt wird jener
Rest noch dadurch, dass die Subjektivierungspraktiken dazu gezwungen sind,
immer wieder neu anzusetzen. Iudith Butler hat diesen destabilisierenden Ef-
fekt der Wiederholung denn auch völlig zu Recht in unterschiedlichen
Foucault-Lektüren herausgestellt (vgl. Kögler 2003). Mit Blick auf dessen
Arbeiten zum komplizierten Verhältnis von Subjektivierung und Normalisie-
rung schreibt sie: "Das Foucaultsche Subjekt wird nie vollständig in der Un-
terwerfung konstituiert; es wird wiederholt in der Unterwerfung konstituiert,
und es ist diese Möglichkeit einer gegen ihren Ursprung gewendeten Wieder-
holung, aus der die Unterwerfung so verstanden ihre unbeabsichtigte Macht
bezieht" (Butler 2001: 90). Es kommt also bei dem perfiden Versuch, das
Disziplinarindividuum vollständig zu unterwerfen und es in seine eigene
Unterwerfung zu verstricken, zu einer unkontrollierten Streuung der Macht,
deren Partikel sich nun zu unterschiedlichen Zwecken einsetzen lassen - und
die daher auch gegen die Instanzen der Disziplinargesellschaft selbst gewen-
det werden können.
210 Markus Rieger-Ladich
wird mit der Betonung der ,Dinge' insofern eine gezielte Entgrenzung betrie-
ben, als Machiavellis Regierungskünste sich lediglich auf das Territorium
und dessen Bewohner bezogen und ein Drittes offensichtlich nicht kannten.
Zum anderen signalisiert die Betonung des ,Zweckes', dass sich auch das
Selbstverständnis der neuen Regenten grundlegend gewandelt hat: Anders als
der Souverän, der von seinen Untertanen zwar bedingungslose Unterwerfung
verlangte, gleichwohl stets dem Gemeinwohl verpflichtet blieb, wird diese
normative Rahmung von den neuen Regenten nicht länger als bindend be-
trachtet. Der Entgrenzung des Gegenstandsbereichs korrespondiert daher eine
Entgrenzung der Zwecksetzung: Die einzelnen Regenten verfolgen die unter-
schiedlichsten Zwecke und sie setzen dabei die unterschiedlichsten Mittel
ein. Als Movens gilt ihnen offensichtlich - so Foucault im Rückgriff auf La
Perriere - lediglich die Steigerung ihrer Verfügungsgewalt und die Auswei-
tung ihres Geltungsbereichs: Den Zweck der Regierung "wird man in der
Vervollkommnung, Maximierung oder Intensivierung der von der Regierung
geleiteten Vorgänge zu suchen haben" (Foucault 2000: 54). Die besondere
Regierungskunst besteht folglich in der Fähigkeit, für einen selbstgesetzten
Zweck genau jene Mittel zu identifizieren, die dabei den größten Erfolg ver-
sprechen, über diese verfügen zu können und sie schließlich effizient und
zielgerichtet einzusetzen.
Der Ertrag, den die Rekonstruktion der Abfolge unterschiedlicher Mo-
delle der Regierung für Foucaults Theorie der Subjektivierung bedeutet, er-
schließt sich allerdings erst dann vollständig, wenn das Französische Verb
gouvemer nicht nur in seiner Bedeutung als regieren, sondern auch in sei-
ner Bedeutung als lenken in den Blick genommen wird. So erläutert
Foucault an unterschiedlichen Beispielen die Funktionsweise der Lenkung:
Weil der Regent - etwa bei der Lenkung eines Schiffes, eines Klosters oder
einer Familie - die Aufmerksamkeit auf das Gesamt jener Elemente richtet,
die den Erfolg seiner Unternehmung beeinträchtigen könnten, und die
Kräfte auf das Arrangement der relevanten ,Dinge' konzentriert, kommt er
mitunter ohne eine direkte Adressierung der Akteure aus. Statt den betei-
ligten Individuen mit der Androhung offener Gewalt oder dem Angebot ra-
tionaler Argumente zu begegnen, richtet er sein Interesse vielmehr darauf,
die komplexen Zusammenhänge so auszurichten, dass diese die Handlun-
gen jener, die sich in ihrem Kraftfeld bewegen, gleichsam ,eigenständig'
präfigurieren. Weil das Verhalten des Einzelnen auf verdeckte Weise mani-
puliert und nur indirekt angeleitet wird, lässt sich die offene Konfrontation -
die den Interessengegensatz dokumentieren und den Widerstreit öffentlich
machen würde - auf diese Weise nicht selten vermeiden. An die Stelle ge-
waltsamer Zwangshandlungen treten daher immer häufiger neue Formen der
Regierung, die als solche häufig kaum noch kenntlich sind. Thomas Lernke
hat diese neue Qualität präzise herausgearbeitet: "Jenseits einer exklusiven
politischen Bedeutung verweist Regierung also auf unterschiedliche Hand-
lungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung,
Kontrolle, Leitung von Individuen und Kollektiven zielen und gleichermaßen
212 Markus Rieger-Ladich
Da ich mich hier auf die Rekonstruktion von Foucaults Untersuchungen historischer
Subjektivierungspraktiken konzentriere und dessen unterschiedliche Machttypen nur
streifen kann, sei an dieser Stelle auf zwei Arbeiten Norbert Rickens hingewiesen, in
denen diese präzise bestimmt und kenntnisreich erläutert werden (vgl. Ricken, in die-
sem Band; ders.: 2000).
Unterwerfung und Überschreitung 213
Blick nimmt: Galten ihm die Praktiken der Subjektivierung bislang meist als
disziplinierende Übungen, die aus dem engen Zusammenspiel von Wissens-
ordnungen und Machtverhältnissen hervorgingen und die deshalb nicht un-
terlaufen werden konnten, weil sie doch erst das Subjekt erzeugten, so be-
ginnt er sich nun immer stärker für jene widerständigen Bewegungen zu in-
teressieren, die einer gänzlich anderen zeitlichen Logik folgen und das starre
Schema von Ursache und Wirkung zu unterlaufen scheinen. Indem er die
Subjektivierung nun als einen Prozess interpretiert, für den eine irritierende
Gegenläufigkeit charakteristisch ist, erschließt er sich das komplizierte Zu-
gleich von Unterwerfung und Überschreitung: Das Subjekt - so die Weiter-
führung seiner Überlegungen - verdankt sich zwar machtvollen Diskursord-
nungen und informierten Machtverhältnissen, aber parallel zu jenem Prozess,
der es gleichsam ins Leben ruft und als Akteur erzeugt, beginnt es diese auf
ihre Schwachstellen und Angriffspunkte hin zu mustern. Es ist daher die Un-
tersuchung genau jener Gleichzeitigkeit von unterwerfender und freisetzender
Subjektivierung, die Foucault am Ende seines Vortrags als Schwerpunkt sei-
ner künftigen Arbeit benennt und die er in Form einer Frage ankündigt: "Wie
kann die Unlöslichkeit des Wissens und der Macht im Spiel der vielfältigen
Interaktionen und Strategien zu Singularitäten führen, die sich aufgrund ihrer
Akzeptabilitätsbedingungen fixieren, und zugleich zu einem Feld von mögli-
chen Öffnungen und Unentschiedenheiten, von eventuellen Umwendungen
und Verschiebungen, welches sie fragil und unbeständig macht, welche aus
jenen Effekten Ereignisse machen, nicht mehr und nicht weniger als Ereig-
nisse?" (Foucault 1992b: 40)?
Den Bewegungen, in denen sich das Subjekt jenen Formen zu entziehen
versucht, die seiner Existenz Gestalt verleihen und durch die es auf unter-
schiedliche Normen verpflichtet wird, spürt Foucault auch in dem Interview
nach, das er Ducio Trombadori gibt. Im Rückgriff auf Friedrich Nietzsche,
Maurice Blanchot und Georges Bataille skizziert er hier einen emphatischen
Begriff der Erfahrung (vgl. Masschelein, in diesem Band; Keitel 2002), der
ihm nun als Gegenbegriff zur Subjektivierung dient: Weil die Erfahrung je-
nen Vorgang der elementaren Erschütterung beschreibt, aus dem der Einzelne
völlig verändert hervorgeht, steht sie stets im Dienst der "Ent-Subjektivie-
rung" (Foucault 1996: 27). Ohne schon über neue Existenzmodi oder mögli-
che Identitäten zu verfügen, die zweifellos selbst wieder eine einengende und
einschränkende Wirkung entfalten würden, löst sich das Subjekt dabei von
den Formen, die seinem bisherigen Leben eine charakteristische Gestalt ver-
liehen haben und die dessen Anerkennung als Subjekt erst sicherstellten. Es
verlässt somit durch die Erfahrung den normierenden Rahmen und existiert
2 Den Versuch, die beschriebene widerständige Praxis zum Ausgangspunkt einer neuen
Rede von Mündigkeit zu machen - und diese folglich als Haltung der Kritik zu inter-
pretieren -, habe ich unternommen in: Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen
zur pädagogischen Semantik (Rieger-Ladich 2002: 359-437).
Unterweifung und Überschreitung 215
gleichsam an den Rändern jener Räume, die von den etablierten "Normen der
Anerkennung" (Butler 2003a: 33) gestiftet werden.
Kaum weniger überraschend als das unverhohlene existentialistische
Pathos, das Foucault an einigen Stellen des Interviews bemüht, ist dessen
stark veränderte Zeitdiagnose, die er am Ende des Interviews andeutet: Wäh-
rend er noch in Überwachen und Strafen das Bild einer zeitgenössischen Dis-
ziplinargesellschaft entwarf, die von der Idee besessen schien, sich an Jeremy
Bentharns Entwurf des Panopticon zu orientieren und die unzähligen Über-
wachungs- und Kontrollinstanzen immer weiter zu perfektionieren, stellt er
nun, kaum drei Jahre später, fest, dass sich die Anzeichen vermehren, die für
eine Krise der unterschiedlichen Regierungen sprechen: "Mir scheint, dass
wir uns erneut in einer Krise der Regierung befinden. Sämtliche Prozeduren,
mit denen die Menschen einander führen, sind erneut in Frage gestellt wor-
den [ ... ]. Wir stehen vielleicht am Beginn einer großen krisenhaften Neuein-
schätzung des Problems der Regierung" (Foucault 1996: 119f.). Schon gegen
Ende der 1970er Jahre deutet sich daher nicht nur eine grundlegende Neube-
wertung der zeitgenössischen Regierungstechnologien an, sondern auch eine
veränderte Einschätzung der Möglichkeiten, sich den Zwängen der aktuellen
Subjektivierungspraktiken wenigstens punktuell und vorübergehend zu ent-
ziehen.
1997), gilt es daran zu erinnern, dass das mehrere Bände umfassende Projekt
einer Histoire de la sexualite als Genealogie angelegt ist: Auch wenn
Foucault zweifellos immer wieder den irreführenden Eindruck nahe legt, dass
durch das Studium antiker Subjektivierungspraktiken Antworten auf drän-
gende aktuelle Fragestellungen gefunden und diese gleichsam als Leitbild
neuer, künftig zu entwickelnder Formen der Subjektivierung betrachtet wer-
den könnten (vgl. Foucault 1994b), so zielt seine genealogische Untersu-
chung jener Übungen, durch die das antike Moralsubjekt seinen sexuellen
Praktiken eine bestimmte Form zu verleihen versucht, doch in erster Linie
darauf ab, den zeitgenössischen Subjektivierungspraktiken ihre Geltungskraft
zu nehmen. Indem er diese in eine lange, sich permanent verschiebende "Se-
rie" (Foucault 1996: 85) einreiht, versucht er die aktuellen Formen der Sub-
jektbildung als historisches - und damit: kontingentes - Phänomen zu erwei-
sen, das veränderbar ist und daher keine unüberwindbare Grenze der ethisch-
politischen Arbeit darstellt. Anders als etwa die Studien zu den Subjektivie-
rungspraktiken in der frühen Neuzeit, im Zeitalter der Aufklärung oder etwa
an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, die Foucault in erster Linie un-
ternimmt, um die Ausprägung der zeitgenössischen Subjektformen durch die
Rekonstruktion der Entstehung der Regierungstechnologien und die Heraus-
bildung der Disziplinargesellschaft zu verstehen, zielt er mit seinen späten
Arbeiten zur Antike darauf, innerhalb der Gegenwart neue Denkräume zu er-
öffnen und diese aus der Umklammerung durch das Vertraute zu führen (vgl.
Rustemeyer, in diesem Band). Auch wenn Foucault dies nicht eigens heraus-
stellt, praktiziert er in Der Gebrauch der Lüste doch genau jene Form einer
beunruhigenden und anstößigen Geschichtsschreibung, die er bereits in
Nietzsche, die Genealogie, die Historie als einzig zeitgemäße gefordert hatte:
"Die Erforschung der Herkunft schafft keine sichere Grundlage; sie erschüt-
tert, was man für unerschütterlich hielt; sie zerbricht, was man als eins emp-
fand; sie erweist als heterogen, was mit sich übereinzustimmen schien. Wel-
che Überzeugung könnte dem widerstehen?" (Foucault 2002: 173; vgl. Ca-
sale 2001).
Der Gewinn, den die erwähnte Verschiebung für die Untersuchung von
Subjektivierungsformen darstellt, besteht daher nicht im Aufspüren ver-
meintlich freier und kunstvoller Praktiken der Selbstschöpfung, die als kriti-
sches Korrektiv gelten können, wenn es um die Erprobung neuer, alternativer
Formen der Subjektivierung geht. Statt dessen könnte sich deren Studium als
ein Weg erweisen, den engen Horizont der Gegenwart zu überschreiten und
die Fragwürdigkeit des zeitgenössischen Subjektmodells zu demonstrieren.
Erst wenn die Auseinandersetzung mit den antiken Subjektivierungspraktiken
dazu führt, dass jene ihre Überzeugungskraft einbüßen, die der zeitgenössi-
schen Disziplinar- und Kontrollgesellschaft ihr Gepräge verleihen (vgl. De-
leuze 1993), wäre das ganze provokative Potential von Foucaults Studium
antiker Texte freigesetzt. Genau dieses Moment ist es, das auch Petra Geh-
rings erhellende Foucault-Lektüre organisiert. Mit Blick auf Der Gebrauch
der Lüste führt sie aus: "Bei Foucault [ ... ] finden wir einen distanzierenden
218 Markus Rieger-Ladich
Spiegel. Er verfremdet uns das Ideal des isolierten, mittels Identität be-
stimmten Individuums, so wie es als vorgängig auf sich selbst bezogene
Handlungs-, Leibkörper- und Reflexionseinheit heute fast unumschränkt
wirklichkeitsmächtig ist" (Gehring 2003: 376).
5. Reflexionsangebote
Die Rekonstruktion von Foucaults Denkbewegung, innerhalb derer er - in
weitgestreuten Themenfeldern und Epochen - sehr unterschiedliche Formen
der Subjektivierung untersucht hat, erschließt daher zwei deutlich unter-
scheidbare Strategien, die sich in der theoretischen Arbeit freilich keineswegs
gegenseitig ausschließen müssen: Lange Zeit sind Foucaults Untersuchungen
offensichtlich von dem Bemühen geprägt, die Entstehung der zeitgenössi-
schen Subjektivierungspraktiken in ihrer Verflechtung mit Wissensordnun-
gen und Machtverhältnissen skrupulös nachzuzeichnen und deren kompli-
zierte Vorgeschichte schrittweise zu erschließen. Erst relativ spät rückt
Foucault von dieser Verfahrensweise ab und erprobt einen neuen methodi-
schen Zugang: Statt noch länger in der Vergangenheit nach den Anfangen der
Gegenwart zu suchen, beginnt er sich nun in besonderer Weise für den Ver-
fremdungseffekt zu interessieren, der historischen Subjektivierungsformen -
konfrontiert man sie mit zeitgenössischen - zweifellos innewohnt und der in
der Folge womöglich auch alternative Formen des Selbstverhältnisses denk-
bar werden lässt (vgl. Rustemeyer 2001; 2004).
Für den Diskurs der Erziehungswissenschaft sind damit zwei vielverspre-
chende Möglichkeiten eröffnet, jene aporetische Engführung der Reflexion zu
vermeiden, die die neuzeitliche Pädagogik nicht selten betreibt, wenn sie die
Autonomie des Subjekts zu erweisen sucht (vgl. Meyer-Drawe 1990; Schäfer
1996; Ricken 1999; Rieger-Ladich 2004): Statt immer wieder neu den Versuch
zu unternehmen, die eigenen Bemühungen über einen heroischen Subjektbe-
griff abzusichern, erscheint es doch ungleich ratsamer, sowohl den Weg der
historischen Rekonstruktion als auch den der distanzierenden Verfremdung von
Subjektivierungspraktiken zu beschreiten. Wirft man einen kursorischen Blick
in neuere erziehungswissenschaftliche Arbeiten, so kann man den Eindruck
gewinnen, dass die Chancen für einen solchen Neueinsatz durchaus nicht als
ungünstig eingeschätzt werden müssen: Als ein Indiz, das diese Vermutung
stützen könnte, mag jenes von Käte Meyer-Drawe jüngst geäußerte "Erstau-
nen" gelten, "dass zentrische Selbstdeutungen des Menschen im Verlaufe der
westlichen Geschichte der Selbstthematisierungen gleichsam zur Normalität
wurden, selbst wenn wir nicht nur in der reflektierenden Konfrontation mit un-
serem Selbst, sondern auch und vor allem in seinen praktischen Gebungen
ständig mit seinem Entzug konfrontiert sind" (Meyer-Drawe 2002: 363).
Es überrascht denn auch nicht, dass sich bereits einzelne Arbeiten aus-
machen lassen, die Subjektivierungspraktiken problematisieren und dabei -
Unterweifung und Überschreitung 219
wenn auch nicht in jedem Falle ausdrücklich - eine der beiden Foucaultschen
Strategien verfolgen. Jene, die die zeitgenössischen Formen der Subjektivie-
rung in ihrer Entstehung zu begreifen sucht, ist offensichtlich für zwei Ar-
beiten leitend, die sich zu diesem Zweck insbesondere auf die räumliche Di-
mension von Disziplinierungspraktiken konzentrieren. So spürt Johannes Bil-
stein unter dem Titel Die Beichte und ihre Bedeutung im Sozialisationspro-
zess den Wirkungen nach, die sich im Beichtstuhl materialisieren und die ei-
ne bestimmte Subjektform ausprägen: Als exponiertes räumliches Element,
das nicht nur den Beichtenden und den sog. Beichtvater in einem streng re-
gulierten Verfahren auf engstem Raum zusammenführt, sondern auch die
Blicke der Gemeinde einfängt und auf die handelnden Akteure lenkt, führt
die Beichtpraxis zu einer Kontrolle und Steuerung, die sich - etwa über die
angeleitete Selbsterforschung - bis auf die innersten Motive und Empfindun-
gen erstreckt (vgl. Bilstein 2000). Ähnliche Prozesse der Einschreibung ste-
hen auch im Mittelpunkt von Sonja Hnilicas Arbeit Disziplinierte Körper, die
die Schulbank als Erziehungsapparat - so der Untertitel- zu erweisen sucht:
Ihr gilt die standardisierte und industriell gefertigte zweisitzige Schulbank,
deren Vorgeschichte sie über erbittert geführte Auseinandersetzungen in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und unterschiedliche Hygienediskurse
bis hin zur Entstehung des Chorgestühls im Spätmittelalter rekonstruiert, als
ein Instrument der Disziplinierung, das nicht nur auf die Unterwerfung des
Körpers, sondern auch auf die Regierung der Seele abzielt. Dies gelingt, in-
dem durch ihren Einsatz nicht nur die räumliche Separierung und die Regu-
lierung der Körperkontakte betrieben, sondern - unterstützt durch die Einfüh-
rung von korrigierenden Haltungsapparaten - auch die Lenkung der Gesten
und die permanente Kontrolle immer weiter perfektioniert wird (vgl. Hnilica
2003).3
Die zweite Strategie, die mit der distanzierenden Wirkung der Verfrem-
dung rechnet, verfolgt Alfred Schäfer. Im Unterschied zu Foucault wählt er
jedoch nicht historische Subjektivierungspraktiken als Referenz: In seinen
bildungsethnologischen Arbeiten richtet er den Blick auf die "Grenzen des
uns Selbstverständlichen" (Schäfer 1999: 104) und sensibilisiert für die kul-
turelle Relativität jener Subjektivierungspraktiken, die sich in den hochgradig
ausdifferenzierten Gesellschaften der westlichen Hemisphäre ausgeprägt ha-
3 Weitergeführt werden diese Untersuchungen durch eine jüngst von Käte Meyer-
Drawe vorgelegte Studie, in der sie den Effekten jener Maßnahmen nachspürt, die von
den Philantropen ergriffen wurden, um die ,Selbstbefleckung' zu unterbinden. Unter
dem Titel Hygienische Imaginationen weist sie nach, dass die Geständnisdiskurse,
durch die die Zöglinge dazu verpflichtet wurden, die eigenen Lüste zu identifizieren,
zu beobachten und schließlich wortreich zu gestehen, ein Subjekt erzeugen, das ei-
gentümlich gespalten ist. In der Folge steht dem autonomen Subjekt, das vemunftbe-
stimmt handelt und sich allein der eigenen Anstrengung zu verdanken scheint, das
"verwerfliche Subjekt" gegenüber, das aus der Unterwerfung unter seine Lust hervor-
geht: "Das eine ist Folge einer mutigen Entschließung, das andere Ergebnis einer lust-
vollen Kapitulation" (Meyer-Drawe 2004: 8).
220 Markus Rieger-Ladich
ben, indem er sie mit solchen konfrontiert, die zeitgleich in segmentär diffe-
renzierten Gesellschaften beobachtet werden können. An zwei Beispielen sei
dieses Verfahren, das auf das Einüben einer distanzierten Haltung zum Ver-
trauten zielt, kurz skizziert. In Subjektivierungseffekte des Wissens stellt er
der sich in der Neuzeit ausprägenden Relation von Subjekt und Wissen jene
gegenüber, die sich bei den Initiationsriten und Mythen der Ilahita Arapesh
beobachten lässt: Während sich in den westlichen Kulturen eine Subjektivie-
rungspraxis ausformt, die das Subjekt gegenüber dem kritisierbaren und
überprüfbaren Wissen eine relativ souveräne Position einnehmen lässt,
kommt es bei den Ilahita Arapesh in Guinea aufgrund einer engen Verschwis-
terung von Wissen und Geheimnis zu völlig anderen Effekten der Subjekti-
vierung: "Das Individuum gewinnt auf diese Weise keinen Stand gegenüber
etwas, das als Wissen ihm zugehören würde und zu dem es sich in eine von
ihm abhängige Beziehung setzen könnte. Vielmehr behält das Wissen den
Status von etwas, das das Individuum durchquert, es mediatisiert, zu einem
Ort macht, der durch dieses Wissen einerseits mitkonstituiert wird und ande-
rerseits keine Möglichkeit hat, diesem Wissen gegenüber in die Position des
Urteilenden zu gelangen" (Schäfer 1999: 95). Konzentriert Schäfer sich hier
auf die Beziehung zwischen Subjekt und Wissen, problematisiert er in Ritu-
elle Subjekiivierungen die Relation von Subjekt und Verantwortung, indem er
den in westlichen Gesellschaften zur Ausbildungsphase gehörenden Unter-
richtsbesuch durch Gutachter mit der Initiation bei den Batemi in Tansania
vergleicht: In beiden Fällen handelt es sich um Rituale, die zu einer charakte-
ristischen Form der Subjektivierung führen. Anders jedoch als bei der Unter-
richtsstunde, in der über die Inszenierung des Referendars als eines uneinge-
schränkt verantwortlichen, souverän steuernden und perfekt kontrollierenden
Akteurs die "selbstverantwortliche Subjekt-Figur" etabliert wird (Schäfer
1998: 171), kommt es bei den Initiationsriten unweigerlich zu einer Begeg-
nung mit dem Unverfügbaren, das sich den Bemühungen des Einzelnen ent-
zieht und seiner Handlungsrnacht enge Grenzen setzt. Der Initiierte zeichnet
sich daher gerade erst durch die "Konfrontation mit dem Anderen des sozia-
len Selbst" (Schäfer 1998: 176) aus: Er sieht sich folglich nicht dem Zwang
ausgesetzt, die "Möglichkeit des Unmöglichen" glaubhaft inszenieren zu
müssen und verdankt seinen Subjektstatus daher auch nicht einer fingierten
Autonomie - ohne die Verantwortung völlig von sich zu weisen, weiß er dar-
um, dass der "Riß im Subjekt" nicht geheilt werden kann und die souveräne,
uneingeschränkte Verantwortung eine Fiktion bleibt (Schäfer 1998: 180).
So unterschiedlich die einzelnen Arbeiten - in der Anlage und Durchfüh-
rung - zweifellos sind, ihnen ist doch gemeinsam, dass sie sich von dem ahis-
torischen und kulturübergreifenden Subjektbegriff, der nur den Singular zu
kennen scheint, längst gelöst haben. Und obwohl bereits die ersten Ergebnis-
se, zu denen diese Studien, die sich leicht etwa um jene ergänzen ließen, die
unter dem Etikett der govemementality studies firmieren, zu einem verän-
derten Blick auf jene Praktiken geführt haben, die innerhalb der Erziehungs-
wissenschaft etwa unter den Begriffen Erziehung, Bildung und Sozialisation
Unterweifung und Überschreitung 221
verhandelt werden, so scheint es doch, dass das Anregungspotential, das Mi-
chel Foucaults Untersuchungen historischer Subjektivierungspraktiken für
den pädagogischen Diskurs besitzen, noch längst nicht ausgeschöpft ist.
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Unterweifung und Überschreitung 223
Teile dieses Textes habe ich im Jahr 2002 sowohl auf dem Münchener Kongress der
DGfE beim Symposium der Kommission Frauen- und Geschlechteiforschung als
auch auf der Jahrestagung des Forum für Erziehungsphilosophie vorgetragen. Die
Anmerkungen und Kritiken, die von den Kollegen in beiden Kontexten gemacht wur-
den, sind mir bei der weiteren Bearbeitung des Themas sehr hilfreich gewesen. Bei
allen bedanke ich mich ganz herzlich. An dieser Stelle möchte ich mich auch bei Chris-
tian Oswald für das Interesse bedanken, mit dem er die verschiedenen Schritte meiner
Argumentation verfolgt hat.
2 Bei Zitaten, die aus jenen Schriften Foucaults stammen, die ins Deutsche übersetzt
worden sind, verweise ich hier und im folgenden auf die Seitenzahl der deutschen
Ausgabe.
226 Rita Casale
Die Genealogie darf sich aber mit der Dekonstruktion der Tradition nicht
zufrieden geben. Der Glaube an die Einheit der Anfänge sei mit der Über-
zeugung der Identität des Subjekts eng verbunden: "Genau dort, wo die Seele
den Anspruch auf Einheit erhebt, wo das Ich eine Identität oder Kohärenz er-
findet, dort macht der Geneaologe sich auf die Suche nach dem Anfang -
nach den unzähligen Anfängen, die eine unscheinbare Verfärbung oder ein
kaum noch zu erkennendes Zeichen hinterlassen, auf die ein historischer
Blick achten sollte. Die Analyse der Herkunft macht es möglich, das Ich auf-
zulösen und am Ort seiner leeren Synthese zahllose heute verlorene Ereignis-
se hervortreten zu lassen" (Foucault 1971: 172).
Circa zehn Jahren später sollte Foucault in dem unveröffentlichten Dos-
sier Gouvernement de soi et des autres zur Vorbereitung eines 1981 gehalten
Vortrags über seinen Versuch einer Genealogie der immanenten Subjektivie-
rungsprozesse und über seine Distanz sowohl vom Positivismus der Histori-
ker als auch von der metaphysischen Philosophie schreiben: ,,1' ai donc es-
saye d'explorer ce que pourrait etre une genealogie du sujet, tout en sachant
bien que les historiens preferent l'histoire des objets et que les philosophes
preferent le sujet qui n'a pas d'histoire. Ce qui n'empeche pas de me sentir
une parente empirique avec ce qu'on appelle les historiens des ,mentalites' et
une dette theorique a l'egard d'un philosophe comme Nietzsche qui a pose la
question de l'historicite du sujet. 11 s'agissait donc pour moi de se degager
des equivoques d'un humanisme si facile dans la theorie et si redoutable dans
la realite; ils s'agissait aussi de substituer au principe de la transcendance de
l'ego la recherche des formes de l'immanence du sujet".3
Gäbe es keine Einheit auf einer historischen Ebene und ließe sie sich
auch nicht erkenntnistheoretisch von der Identität des Subjekts ableiten, blie-
be immer noch übrig, sie als Möglichkeit des Leibes zu denken. Der Leib an
sich habe aber für den Genealogen keinen Sinn. Und noch weniger stelle er
den Ursinn dar, der unter Formalisierungen verschiedener Natur versteckt sei
und wieder zu entdecken wäre. Er enthalte keinen potentiellen Widerstand
gegen die Kräfte, die ihn beugen und gestalten. Er sei vielmehr als historische
Fläche zu betrachten, in die sich die historischen Ereignisse einprägen (vgl.
Foucault 1971: l74).
Mit der Kennzeichnung des Leibes als eines Trägers historischer Zeichen
vermindert Foucault einerseits die Gefahren eines nietzscheanischen Vitalis-
mus. Andererseits distanziert er sich damit ganz bewusst sowohl von der
phänomenologischen Tradition als auch von einem bestimmten psychoanaly-
tischen Ansatz. Gegen E. Husserl und M. Merleau-Ponty betont er die Ge-
schichtlichkeit des Leibes als eines vorprädikativen Horizontes der Sinnge-
bung. Gegen H. Marcuse, W. Reich aber auch im Gegensatz zu G. Deleuze
und F. Guattari historisiert er die Sexualität und ihre Praktiken. Wie er einige
Jahren später in seiner Geschichte der Sexualität weiterentwickeln sollte (vgl.
Foucault 1976-1984), sei die Sexualität nicht die körperliche Erfahrung der
3 Zitiert nach Frederic Gros: Situation du Cours. In: Foucault (1981-82) 487-526,506.
Genealogie des Geschmacks 229
Begierden, sondern das historische Feld der artes eroticae, auf dem sich Be-
gierde und Wahrheitsspiele kreuzen.
Unter Foucaults Schriften hat der Nietzsche-Aufsatz eine Übergangs-
funktion. Er skizziert einerseits das Programm der Untersuchungen, denen er
sich in den folgenden Jahren widmen sollte. Andererseits ist es die letzte
Schrift, in der noch die genealogische Fragestellung mit der archäologischen
Analyse der wissenschaftlichen Diskurse verbunden wird. Das archäologi-
sche Moment oder die Analyse der diskursiven Formationen findet sich in
der Schrift über Nietzsche in der Problematisierung des Sinnes als Tradition
wieder. In seinen späteren Studien wird dieser erste der drei Gegenstände ge-
nealogischer Dekonstruktion nur noch am Rande behandelt oder sogar ganz
außer Betracht bleiben. Foucault konzentriert sich dann ausschließlich auf die
Analyse der Entstehung des Subjekts und der Geschichtlichkeit des Leibes.
Diese Vernachlässigung ist als Symptom dafür zu werten, dass er vom
archäologischen Ansatz Abschied nimmt, den er in seinen Studien der 1960er
Jahre über die Entstehung der modemen Humanwissenschaften verfolgt hat-
te. Das bedeutet nicht, dass er kein Interesse mehr an der diskursiven Ebene
der körperlichen Praktiken des Subjekts hat. Sie werden aber nicht mehr ar-
chäologisch untersucht. Sie werden als Spielregeln des Wahren und des Fal-
schen thematisiert. Falsche und wahre Aussagen werden eher in Bezug auf
ihre Wirksamkeit - Peiforrnativität würde man heute sagen - als in Bezug
auf ihren wissenschaftlichen und historischen Kontext analysiert.
Tatsächlich will es Foucault nicht mehr gelingen, die Analyse des Dis-
kurses (Archäologie) und die Problematisierung der Praktiken der Subjekti-
vierung (Genealogie) zusammen zu halten. Der erste Band der Geschichte
der Sexualität, Der Wille zum Wissen (1976), stellt einen letzten Versuch da-
zu dar, der aber scheitert. Foucault präzisiert hier noch die intellektuelle und
politische Lage, in der die Fragestellung aufgetreten ist, aber er erörtert nicht
mehr den Entstehungskontext der zu untersuchenden Praktiken. Die Ge-
schichte der Sexualität will eine Antwort auf jene falschen Propheten sein,
die in den 1960er und 1970er Jahren versprochen hatten, dass das Glück
durch die sexuelle Befreiung zu gewinnen sei. Als Reaktion auf diese enttäu-
schende promesse du bonheur wird Foucault eine Ethik entwerfen, die statt
Befreiung Selbstregulierung verlangt, die statt der Exzesse Moderation und
Maß empfehlt. Im zweiten und dritten Band der Geschichte der Sexualität,
Der Gebrauch der Lüste (1984) und Die Sorge um sich (1984), löst sich die
Untersuchung der Selbstpraktiken von der ursprünglichen Fragestellung. Der
archäologische Ansatz wird ganz verlassen. Die Untersuchung wird immer
hermeneutischer, und damit tritt schließlich auch die Genealogie in den Hin-
tergrund.
1981-1982 hält Foucault am College de France eine Vorlesung mit dem
Titel L'herrneneutique du sujet, in der er sich mit den Themen beschäftigt,
die er in den letzten zwei Bänden seiner Geschichte der Sexualität behandeln
sollte. Dem ersten Eindruck zufolge bedient sich Foucault in dieser Vorle-
sung weiter des genealogischen Verfahrens Nietzsches, indem er die Bedeu-
230 Rita Casale
tung der Sprachspiele des Falschen und des Wahren für die Konstitution des
ethischen Subjekts analysiert. Nietzsche aber hatte Subjekt und Wahrheit in
Zusammenhang mit einer bestimmten diskursiven Formation und zwar mit
der christlichen Moral des Ressentiments als einer Sklavenmoral problemati-
siert. Indem Foucault sich auf die Hermeneutik der Sprachspiele konzentriert
und ihren epistemologischen Kontext vernachlässigt, entfernt er sich von
Nietzsches und seiner eigenen bisherigen Konzeption. Die Genealogie der
Moral hatte Foucault zuerst im Sinne des Willens zum Wissen (Archäologie)
und des Willens zur Macht gedacht. Aber in dieser Vorlesung gruppiert sich
das Dispositiv Wissen-Macht-Subjekt (vgl. Nigro 2003) um sein drittes Ele-
ment.4 Das Subjekt wird auf der Basis bestimmter Praktiken ethischer Natur
oder Technologien des Selbst hermeneutisch rekonstruiert.
Die ersten Formulierungen der Technologien des Selbst seien im Alki-
biades und in der Apologie des Sokrates von Platon zu finden (Foucault
1981182: 12 u.f.). Ihre Blütezeit sei das erste und zweite Jahrhundert und das
vierte und fünfte Jahrhundert n. ehr. gewesen, die Zeit des Übergangs von
der heidnischen Philosophie zur Philosophie der christlichen Askese. 5 Das
Merkmal dieser Praktiken sei die "Sorge um sich".
Mit der Hermeneutik dieser Praktiken will Foucault den Wendepunkt der
Geschichte der abendländischen Moral verschieben und damit die bisherige
Subjektivitätstheorie in Frage stellen. Die Geschichte der Subjektivität stehe
nicht unter dem Motto des delphischen Orakels "Erkenne dich selbst", son-
dern unter dem der "Sorge um sich". Im Unterschied zum delphischen Impe-
rativ setzte die Ethik der "Sorge um sich" nicht eine selbstbezogene reflexive
Ebene voraus, sondern bestehe in einer Reihe von Praktiken, die das Subjekt
immanent konstituieren. Das Subjekt, das sich zu kennen hat, benötige in der
abendländischen Tradition der Moralphilosophie vom delphischen Orakel
über Descartes bis zu Kant und Husserl eine transzendentale Struktur, die
ihm durch die transzendentale Apperzeption zugänglich werde (vgl. Foucault
4 Unter dieser Prämisse fällt es mir schwer, der Hypothese von Butler (2001) von der
Subjektivation als paradoxaler Form der Macht zu folgen (vgl. dazu Rieger-Ladich, in
diesem Band). Bei Butler implizieren die Subjektivierungsprozesse eine Herr-Knecht-
Dialektik zwischen Objektivation und Subjektivation, die sich psychoanalytisch deu-
ten lässt. Die theoretische Konstellation, in der Foucault seine Analyse der Subjekti-
vierungsprozesse in den 1980er Jahren entwickelt hat, ist m. E. eine gänzlich andere.
Bei Foucault stellt die Hermeneutik des Subjekts oder die Genealogie der Praktiken
des Selbst einen Versuch dar, die impasses seiner Theorie bzw. der Metaphysik der
Macht zu überwinden. Im Unterschied zu den Analysen der 1960er Jahre über den
Tod des Subjekts beabsichtigt die Genealogie der Praktiken des Selbst, für das Sub-
jekt einen neuen Handlungsspielraum zu gewinnen. Das sollte durch die Problemati-
sierung der ethischen Sphäre ermöglicht werden, die nicht als die Dimension interpre-
tiert werden sollte, die das menschliche Handeln zu normalisieren habe. Sie sei eher
die Sphäre, in dem sich das Subjekt immanent konstituiert: "L'idee aussi que la mo-
rale peut etre une trt!S fort structure d' existence sans etre liee a un systeme ni juridique
en soi, ni a une structure de discipline" (Foucault 1983: 390).
5 Hier sind insbesondere die Werke Gregor von Nizzas gemeint.
Genealogie des Geschmacks 231
1966b: 389 u.f.). Im Gegensatz zu dieser Tradition sei das Subjekt, das um
sich sorgen soll und muss, nicht gegeben. Es entstehe in den Praktiken, durch
die es sich um sich sorgt.
Wie ich schon angedeutet habe, ist das ethische Kriterium der "Sorge um
sich" nicht normativer oder disziplinierender Art. Im Unterschied zu seinen
Studien der 1960er Jahre über die normalisierenden Strategien der Institutio-
nen der transzendentalen Moral (Gefängnis, psychiatrisches Internat) erkennt
Foucault in seinen späteren Schriften eine positive Funktion der Moral als
Ethik der Selbstregulierung an. Die Differenz zwischen den zwei Arten von
Moral sei nicht zu unterschätzen. Im Gegensatz zur transzendentalen Moral
gebe es in der stoischen Moral und in der christlichen Askese keine Normen
transzendenter Natur, sondern eine ästhetische Regulierung des Selbst: "Il
s'agissait de faire de sa vie un objet de connaissance, de tekhne, un objet
d'art. Nous avons a peine le souvenir de cette idee dans notre sodete, idee
selon laquelle la principale oeuvre d'art dont il faut se souder, la zone ma-
jeure Oll 1'0n doit appliquer des valeurs esthetique, c'est soi-meme, sa proprie
vie, son existence. On trouve cela a la Renaissance, mais sous une forme le-
gerement academique - et encore dans le dandysme du XIXe siec1e, mais ce
n'ont ete que de brefs episodes" (Foucault 1983: 402).
In dieser Hermeneutik der stoischen und der frühen christlichen Prakti-
ken des Selbst gibt es m. E. weder Spuren vom archäologischen noch vom
genealogischen Ansatz. Der diskursive Kontext, in dem die Technologien des
Selbst formuliert worden sind, und die Gegenwart, in der sie problematisiert
werden, spielen keine Rolle. Ihre Exegese führt zu einer Idealisierung ästheti-
scher Selbstinszenierungen bei den Antiken, deren Ziel eine ziemlich offen-
sichtliche ethische Alternative zu der cartesianischen und kantianischen
Subjektivitätstheorie ist. In dieser sollte die Wahrheit und Geltung von Ur-
teilen von der Einheit des Selbstbewusstseins abhängen bzw. von dessen von
der Erfahrung unabhängigen Strukturen. Dagegen wendet Foucault ein, dass
das Subjekt nicht zu sich komme, ohne sich zu verändern. Ihm zufolge ge-
schehe dies durch eine Reihe von Praktiken. Das Selbst konstituiert sich
durch seine Praktiken (vgl. Foucault 1981182: 340 u.f.). Diese seien als
"Künste der Existenz" zu fassen: "Darunter sind gewußte und gewollte Prak-
tiken zu verstehen, mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres
Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem be-
sonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen su-
chen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien ent-
spricht" (Foucault 1984: 18).
Wie kann Foucault behaupten, dass die Selbsttechnologien, als "Künste
der Existenz" verstanden, sich auf keine transzendente Norm beziehen? In-
wiefern sind die Stilkriterien, nach denen sich das ethische Verhalten gestal-
tet, immanent? Ist es ein Zufall, dass die Selbsttechnologien ästhetisch ge-
kennzeichnet sind? Trotz des Versuches, eine ethische Alternative zur kanti-
schen Moral hermeneutisch rekonstruieren zu wollen, bleibt Foucault Kant
zumindest in zwei Hinsichten verpflichtet. Erstens durch die Kennzeichnung
232 Rita Casale
der Ethik als Feld, in dem der Mensch zum Subjekt des eigenen Selbst, zum
"mündigen" Individuum wird (vgl. dazu Rieger-Ladich 2002: 361 uJ.). Das
Individuum, das regieren will bzw. das politisch handeln will, solle nicht auf
erkenntnistheoretischem sondern auf ästhetischem Wege Herr seiner selbst
werden. Zweitens ist die ästhetische Immanenz der Selbsttechnologien nach
dem Modell der Autonomie des Geschmacksurteils bei Kant gedacht. Wie in
Kants Kritik der Urteilskraft ist auch bei Foucault die allgemeine Gültigkeit
der ästhetischen Urteile nicht durch den Rückgriff auf Ideen, Normen und
Begriffe zu begründen.
Aus dem Hauptpostulat der modemen Ästhetik, der Autonomie des äs-
thetischen Urteils, macht Foucault den Kern einer ethischen Aufklärung bei
den Stoikern und den flühen Christen. Im Hinterkopf hat er Kants Kritiken
und vor den Augen Burckhardts Renaissanceideal der Existenz als Kunst-
werk (vgl. Foucault 1984: 18; 1983: 410). Aber er setzt sich weder mit Kants
Texten noch mit den ästhetischen Schriften der Renaissance auseinander.
Weil diese Konfrontation fehlt, bleibt unklar, welche Bedeutung der Imma-
nenz in den sogenannten Künsten der Existenz zukommt. In welchem Sinn
sind die Stilkriterien immanent, nach denen das Subjekt sein Leben als
Kunstwerk zu gestalten hat? Sind sie rein subjektiv? Wenn ja, sollte man
dann erläutern, inwiefern sie eine ethische Bedeutung haben können. 6 Eine
weitere Folge der fehlenden Konfrontation mit den Texten des Zeitalters der
ästhetischen Moral par excellence ist eine Unterschätzung der historischen
Konjunkturen, in denen die Verkopplung von Ästhetik und Moral sowohl ei-
ne politische Bedeutung als auch eine epistemische Relevanz gehabt hat.
Im Gegensatz zu Foucaults Idealisierung einer ästhetischen Ethik bei den
Antiken werde ich im Folgenden versuchen, eine Genealogie des modemen
Geschmacks bzw. der ästhetischen Theorie zu skizzieren. Die Problematisie-
rung des neuzeitlichen Begriffs des Geschmacks stellt dabei eine Möglichkeit
dar, die Bedeutung der ästhetischen Immanenz zu fassen. Ich werde mich zu-
erst auf seine Thematisierung im Moment seiner höchsten Deutlichkeit, was
seine Begrifflichkeit angehe, konzentrieren. Dann werde ich auf einen Text
hinweisen, der eine entscheidende Rolle für die Entstehung der modemen
Geschmackstheorie gespielt hat. Dass es sich bei der Genealogie des Ge-
schmacks um Praktiken der Subjektivierung handelt, werde ich versuchen
klar zu stellen, indem ich sowohl die ethische als auch die erzieherische Be-
deutung der modemen Ästhetik zeige.
6 Solche Fragen müssen sich demjenigen aufdrängen, der sich nicht gleich von dem pu-
ren Klang des Wortes Immanenz beeindrucken lässt, das in den letzten Jahren in be-
stimmten intellektuellen und politischen Szenen eine ungeahnte Suggestivkraft ent-
wickelt hat (vgl. Agamben 1996; HardtINegri 2002: 84 u. f.).
7 Ich distanziere mich von den Analysen von Rudolph Lüthe und Martin Fontius ganz
entschieden, denen zufolge die modeme Bedeutung des Geschmacks ein Ergebnis der
ästhetischen Diskussion während der Aufklärung sei (vgl. LüthelFontius 2001 792).
Was Kant und Baumgarten begrifflich fixieren, ist etwas, dessen Entstehungsprozess
ab dem 16. Jahrhundert verfolgt werden kann (vgl. dazu auch Frackowiak 1994)
Genealogie des Geschmacks 233
8 Für die Aporien dieser Formulierung innerhalb der kantischen Systematik vgl. Lyo-
tard (1994) und Scheer (1997).
Genealogie des Geschmacks 235
zen, dass der Gegenstand der Ästhetik ist, was allgemein (bzw. gemein-
schaftlich) gefallt.
Wenn man den Text von hinten liest und dem vierten Moment der Ana-
lytik des Schönen logische und historische Priorität zurechnet, erschließt sich
leichter, was Kant mit der Qualität, der Quantität und der Relation des Schö-
nen meint. Er versteht darunter die Tatsache, dass das Urteil über das Schöne
unabhängig von einem besonderen Interesse gefallt wird (Qualität: interes-
seloses Wohlgefallen); die Tatsache, dass die allgemeine Gültigkeit des
Schönen einem Begriff nicht subsumiert ist (Quantität: "Schön ist das, was
ohne Begriff [unmittelbar, R. C.] allgemein gefallt") und die Unabhängigkeit
des Schönen von einem bestimmten Zweck (Relation: zwecklose Zweckmä-
ßigkeit).
Die Betrachtung des Gemeinsinnes als Voraussetzung der Analytik des
Schönen impliziert eine Historisierung des Transzendentalen. Die allgemeine
Gültigkeit ist dann als historisches Produkt zu begreifen und die Analytik des
Schönen in eine historische Genealogie des Geschmacks zu verwandeln. De-
ren Ziel sollte die Analyse der politischen und historischen Bedingungen
sein, unter denen der Geschmack zu praktischer Vernunft, zum regulativen
Kriterium des Handeins geworden ist. Ihr Ausgangspunkt sollte die Untersu-
chung der spezifischen historischen und theoretischen Form sein, in der der
Geschmack für die ethische Sphäre entscheidend wird. Er funktioniert als die
unsichtbare und dennoch normative Ordnungskategorie der Praxis einer Ge-
sellschaft, die sich als "gute Gesellschaft" definiert. Der Geschmack fungiert
sowohl als Kriterium für Ausschließung als auch für Integration. Als Aus-
schließungskriterium entscheidet er darüber, ob ein Individuum dazugehören
kann oder nicht. Als Integrationsprogramm definiert er die Erziehungsrnaß-
nahmen, dank deren ein Individuum zum Mitglied der guten bzw. der Bil-
dungsgesellschaft wird. Insofern wird der Geschmack zum "politischen Ima-
ginären" (vgl. Schäfer 2002) der Erziehung. Als solches stellt er zugleich ih-
ren normativen Horizont und ihr Ziel dar. Die Normativität des Geschmacks
ist von besonderer Art. Wie schon in der Analyse des Geschmacksurteils bei
Kant festgestellt worden ist, hängt seine Verbindlichkeit von keiner Idee und
von keinem Begriff ab. Sie ist pragmatischer Natur bzw. ist immanent, aber
nichtsdestotrotz rein subjektiv oder individuell. Sie entsteht aus der Kreuzung
nicht nur verschiedener Vermögen, sondern auch unterschiedlicher Bereiche.
Wissenschaftliche Entwicklungen, politische Formen, religiöser Glaube und
moralische Vorstellungen einer Zeit finden ihr Echo im Geschmack einer
Epoche.
Wegen dieser Verbindung von Epistemologie, Moral und Politik eignet
sich die Genealogie des Geschmacks in besonderer Weise dazu, die histo-
risch immanente Normativität der Erziehung zu problematisieren. Als Pra-
xis, die das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft zu regulieren
beabsichtigt, hat die Erziehung mit den Formen der wissenschaftlichen, der
praktischen und der ästhetischen Vernunft implizit oder explizit immer zu
tun.
236 Rita Casale
Es lohnt sich, wie schon für die Analyse des Geschmacksurteil, so auch
für die Erziehung zum Geschmack, sich zuerst mit ihrer Formulierung im
Moment ihrer begrifflichen Codierung auseinander zu setzten. In Schillers
Überlegungen über die ästhetische Erziehung zeigt sich auf einer begriffli-
chen Ebene, inwiefern Kants ästhetische Theorie für die Erziehung program-
matisch wird.
9 Auf den Begriff der zweiten Natur hat sich Meyer-Drave (2001) bezogen, um den Zu-
sammenhang zwischen Macht und Erziehung zu erläutern.
Genealogie des Geschmacks 237
in diesem Spiel kann sich der Mensch für Schiller frei verhalten. Die zweite
Natur ist im Sinne Foucaults das Ergebnis bestimmter Praktiken bzw. Tech-
nologien, die eine sich am guten Geschmack ausrichtenden Erziehung aus-
machen.
Der gut erzogene Mensch bewegt sich mit Leichtigkeit und Eleganz.
Anmutig ist sein Auftreten. Würdig ist sein Verhalten. Seine Souveränität
kollidiert nicht mit dem Gemeinwohl. Vielmehr genießt er die allgemeine
Gunst, weil er deren Ideal verkörpert.
Ist dieses Bild des geschmackvollen Menschen als ein Ideal der Aufklä-
rung zu betrachten? Das hängt von der Perspektive ab, in der die Geschichte
der ästhetischen Erziehung bzw. die Geschichte der Praktiken der ästheti-
schen Inszenierungen betrachtet wird. Folgt man der Sichtweise der kanoni-
sierten Bildungsgeschichte, ist die Geschichte der ästhetischen Erziehung
durch den Dreischritt Kant-Schiller-Herbart charakterisiert (vgl. Benner
1997: 17-40). Kant habe die Prämissen für das Programm einer ästhetischen
Erziehung entworfen, deren Ziel die pädagogische Willens bildung sei. Aber
in den kantischen Schriften bleiben Moral und Ästhetik noch analytisch ge-
trennt. Erst Schiller habe in der ästhetischen Erziehung das moralische Po-
tential der Ästhetik Kants entdeckt und damit die praktische Vernunft von ih-
rem Pflicht- bzw. Normcharakter befreit. Schließlich habe Herbart den Be-
griff des Ästhetischen über denjenigen des Kunst-Schönen hinaus ausgedehnt
und die ästhetische Erziehung in den Dienst der transzendentalen Moralität
(vgl. Herbart 1804) gestellt.
Diese Interpretation scheint mir zu geistesgeschichtlich und zu wenig hi-
storisch. Herbart würde einen Prozess zur Vollendung bringen, der mit Kant
begonnen und von Anfang an auf die Identifikation des Ästhetischen mit der
transzendentalen Moralität gezielt habe. Aber woher kommt diese Verknüp-
fung zwischen Moral und Ästhetik? Worauf reagieren zuerst Kant und dann
Schiller?
Die Antwort auf diese Fragen wird man kaum in Kants systematischen
Schriften finden. Denn ihr Anliegen ist zweifelsohne nicht historischer Art.
Allerdings gibt er in seinen letzen Schriften über Anthropologie und Pädago-
gik einige interessante Hinweise bezüglich des diskursiven Kontextes, inner-
halb dessen er seine Geschmackstheorie formuliert. In diesen Werken setzt
sich Kant explizit mit jener höfischen Tradition der vorherigen Jahrhunderte
auseinander, die am Geschmack dessen soziale Verbindlichkeit hervorgeho-
ben hat. 10 Kant rezipiert sie, um sie zu negieren. Sie stelle eine Vorstufe einer
allgemein gültigen Moral dar. Ihr Ziel sei eine Kultivierung der Gesellschaft,
die in ihrer höchsten Phase zum Zivilisierungsprozess beigetragen habe.
Merkmale einer zivilisierten Gesellschaft seien eine gewisse Vertrautheit mit
10 Hier ist die häfische Literatur über Geschmack gemeint, die insbesondere im Italien
des 16. und im Frankreich des 17. Jahrhunderts eine moralische Wirkung sowohl in-
nerhalb als auch außerhalb des Hofes erzeugt (vgl. dazu: Casale 2003).
238 Rita Casale
der Kunst des Scheins und die Abhängigkeit des Geschmacks von den Ge-
bräuchen der Zeit und von den Umständen des Ortes (vgl. Kant 1803: 707).
Der disziplinierenden und der ästhetischen Kultivierung der Gewohn-
heiten solle eine Moralisierung der Sitten folgen, deren Kern die Unabhän-
gigkeit von Ständen und Umständen sei (vgl. Kant 1803: 707). In dieser Dar-
stellung des Übergangs von der höfischen Ethik des Ancien Regime zu der
Moral der Aufklärung skizziert Kant die neuzeitliche Entwicklung der Mo-
ralerziehung bzw. der Erziehung zum guten Geschmack. Was in dieser Ent-
wicklung konstant bleibt, ist die ethische Verbindlichkeit des Geschmacks
und die Anmut als Ziel der Erziehung zum guten Geschmack. Was sich än-
dert, ist die begriffliche Legitimation der allgemeinen Gültigkeit des Ge-
schmacks und das daraus folgende Verständnis der ästhetischen Erziehung.
Bei dem Versuch eine Genealogie der neuzeitlichen ethischen Funktion
des Geschmacks zu skizzieren, kommt man an Illibro deI Cortegiano (1528)
von Baldassar Castiglione nicht vorbei. Der Grund dafür ist systematischer,
nicht nur historischer Natur - das Buch erlangte außerordentliche Bekannt-
heit im Europa des 16. und des 17. Jahrhunderts. lI Das Buch von Castiglione
führt die "regula generalissima" der Erziehung zum guten Geschmack ein. Es
stellt eine Art Archetypus für die neuzeitliche Verknüpfung von Ethik, Äs-
thetik und Erziehung dar, weil es die ästhetische grazia (die Anmut) zum
ethischen Handlungsprinzip und zum Bildungsideal macht.
Das Ziel des Buches besteht darin, die Erziehung des vollkommenen
Hofmanns bzw. eines Hofmannes, der sich mit Geschmack verhält, zu be-
schreiben. An vier aufeinanderfolgenden Abenden des Jahres 1507 versam-
melt der Autor eine Hofgesellschaft am Hof von Urbino, in deren Gesprächen
sich seine Gedanken entfalten. Am ersten Abend (I. Buch) geht es vor allem
darum, die allgemeine Regel zu definieren, die das Benehmen des Hofmanns
zu bestimmen hat. Am zweiten Abend (11. Buch) soll untersucht werden, wie
sich der Hofmann in der Konversation verhalten sollte. Am dritten Abend
(Ill. Buch) ist die Rede vom Verhältnis zwischen dem perfekten Hofmann
und der perfekten Hofdame und von deren Unterschieden. Schließlich wird
am letzten Abend (IV. Buch) darüber gesprochen, was der Hofmann zu be-
rücksichtigen hat, wenn er ein guter Instrukteur des Prinzen sein will.
Auch Castiglione geht schon, wie später Kant und Schiller, von der Ver-
bindlichkeit des Geschmacksurteils aus. Aber im Unterschied zu ihnen ver-
steckt er nicht die Paradoxa, die eine solche Verbindlichkeit enthält, weil er
bei seinem Versuch, sie aufzulösen, nicht auf eine transzendentale Ebene re-
kurriert. Er denkt die allgemeine Gültigkeit des Geschmacks nur historisch:
Zum einen gilt sie allgemein nur in Bezug auf bestimmte Kontexte. Zum an-
11 Für die europäische Wirkung des Buchs Castigliones vgl. Peter Burke (1989 und
1995). Bis 1618 gab es 110 Ausgaben des 11 Libro dei Cortegiano (60 in Italien und
50 in anderen Länder). Unter dem Eindruck von Castigliones Werk wurden 1418
Traktate über den Hofmann in Europa bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert ge-
schrieben.
Genealogie des Geschmacks 239
deren wird sie von einer sozialen Haltung abhängig gemacht, die nicht den
Anspruch hat, als moralische Tugend zu gelten.
Die theoretische Widersprüchlichkeit der Argumentation und des Vorha-
bens von Castiglione kommt schon in der Widmung an Messer Alfonso
Ariosto zum Ausdruck, in der explizit erklärt wird, dass ,,il perfetto cortegia-
no" nur derjenige genannt werden kann, der "la forma piu conveniente" (der
angemessensten Form) der Höflichkeit entspricht. Das Paradox besteht darin,
dass der vollendete Hofmann formiert werden soll, ohne ein normatives Kri-
terium (einen Begriff oder eine Idee würden wir mit Kant sagen) zu haben, an
dem das Gelingen des Unternehmens gemessen werden kann. Denn bei der
Defmition der Norm werde man mit zwei Problemen konfrontiert. Das erste
resultiere aus der Mannigfaltigkeit der Gebräuche oder dem Relativismus der
Sitten. Das zweite betreffe die Geltung der Norm, ob sie rationalen oder kon-
ventionellen Charakter hat: "Denn die Gewohnheit läßt uns oft dasselbe so-
wohl gefallen als auch mißfallen: Daher kommt es zuweilen vor, dass Sitten,
Gewohnheiten, Gebräuche und Manieren, die eine Zeitlang hoch geschätzt
wurden, für häßlich erachtet und die häßlichen im Gegenteil geschätzt wer-
den. Daraus wird klar ersichtlich, dass die Gewohnheit mehr als die Vernunft
die Kraft hat, Neues bei uns einzuführen und Altes abzuschaffen; wer die
Vollkommenheit solcher Dinge zu beurteilen sucht, täuscht sich oft" (Castig-
lione 1528: 14).
Castiglione weiss, dass er das Paradox von varietas und veritas (hier als
Norm verstanden) nicht systematisch bzw. nicht durch den Hinweis auf ra-
tionale Prinzipien lösen kann. Die Qualitäten, die einem vollkommenen Hof-
mann zukommen müssen, sind unterschiedlich und noch unterschiedlicher ist
ihre Interpretation.
Trotz der Anerkennung dieser Mannigfaltigkeit ist Castiglione, der die
Hofgesellschaft für sich sprechen lässt, überzeugt, dass es etwas gibt, das
dem Hofmann nie fehlen darf: der Adel. Jedoch kann die Hofgesellschaft sich
bei der Unterhaltung des ersten Abends über die Bedeutung des Adels, ob er
eher sozialer oder moralischer Natur sei, nicht einigen. Aber sie hat keine
Mühe, Übereinstimmung hinsichtlich seiner Kennzeichen zu erlangen. Die
Vornehmheit sei eine Haltung, die ermögliche, zugleich stolz und angenehm,
distanziert und bescheiden, scharfsinnig und leicht zu sein.
Offenbar lässt sich der vollkommene Hofmann nur durch ein Oberflä-
chenphänomen charakterisieren: Die grazia. Sie charakterisiert die Art, wie
der Hofmann die Waffen benutzen müsse, wie er tanzen dürfe, wie er spre-
chen und schreiben solle und sich mit den Frauen zu unterhalten habe.
Die "grazia" ist das Ergebnis einer gelungenen Dissimulation, der ver-
gessenen Mühe. Sie ist das Spiel der Leichtigkeit. Ihr gefährlichster Feind sei
die aJfettazione (Geziertheit, Künstelei): die Unfähigkeit, die Gewalt und die
Last der Leichtigkeit zu verstecken; die Unfähigkeit, lügend die Wahrheit zu
sagen. Bei ihrem Versuch, die grazia näher zu definieren, um ihre universelle
Regel (regula universalissima) zu formulieren, hatte die Hofgesellschaft sys-
tematisch keine andere Möglichkeit, als sie an ihrem Dissimulationscharakter
240 Rita Casale
festzumachen. Der Ausdruck dafür ist: "sprezzatura": "Da ich aber schon
häufig bei mir bedacht habe, woraus die Anmut entsteht, bin ich immer,
wenn ich diejenigen beiseite lasse, die sie von den Sternen haben, auf eine
allgemeine Regel gestoßen, die mir in dieser Hinsicht bei allen menschlichen
Angelegenheiten, die man tut oder sagt, mehr als irgendeine andere zu gelten
scheint: nämlich so sehr man es vermag, die Künstelei als eine rauhe und ge-
fährliche Klippe zu vermeiden und bei allem, um vielleicht ein neues Wort zu
gebrauchen, eine gewisse Art von Lässigkeit anzuwenden, die die Kunst ver-
birgt und bezeigt, dass das, was man tut oder sagt, anscheinend mühelos und
fast ohne Nachdenken zustanden gekommen ist" (Castiglione 1528: 53).
"Sprezzatura" bedeutet nonchalance, neglicence, Sorglosigkeit. Sie ist
die Dissimulation mittels der Kunst und als solche Ziel der ästhetischen Er-
ziehung. Die Künste des Hofmanns werden zum unverzichtbaren Instrument,
um die zum Leben nötige Anstrengung zu maskieren, um Leichtigkeit zu si-
mulieren und die Unvollkommenheit des Lebens als natürliches Phänomen
zu überlisten.
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Ludwig A. Pongratz
der Disziplinierung enträt. Um diesem auf die Spur zu kommen, muss der
Begriff der ,Disziplinierung' jedoch neu gefasst werden. Denn die ,Diszipli-
nierung' in ihrer zeitgenössischen Gestalt versucht alle negativen Konnota-
tionen wie Sanktion, Drohung, Bestrafung etc. abzuschütteln. Sie bringt sich
stattdessen sublim und produktiv ins Spiel. Sie nimmt gesellschaftliche
Kräfte unter Kontrolle, indem sie sie steigert und potenziert. Wer diesen
Sachverhalt erfassen will, muss seinen Blick für das Netzwerk von Taktiken
und Strategien schärfen, mit denen sich - meist unterhalb des Niveaus politi-
scher Programme und pädagogischer Institutionen - die gesellschaftlichen
Integrations- und Disziplinierungsmechanismen einschleifen. Dies geschieht
vielleicht lautloser und bewusstloser als ehedem, gewiss aber nicht weniger
effektiv. Erst der mikrologische Blick, mit dem sich ein Historiker wie Mi-
chel Foucault Geschichts- und Gesellschaftsprozessen nähert, bringt die un-
terschwellig wirksame ,politische Ökonomie der Macht' ans Licht. Hervor
kommt ein ganzes Beziehungsnetz von subtilen Zwängen, die sich des Kör-
pers und der Seele der Menschen bemächtigen, sie durchkreuzen, unterwer-
fen und reintegrieren. Der Prozess der Aufklärung, "der die Freiheiten ent-
deckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden" (Foucault 1976: 286).
Natürlich fällt diese Einsicht nicht vom Himmel. Ihr geht ein langer Pro-
zess des Fragens und Suchens voraus, der - was Foucault betrifft - durchaus
nicht geradlinig verlaufen ist. Immer wieder musste er selbstkritisch innehal-
ten und sich fragen, ob er nicht in eine Sackgasse geraten sei. Und mehrfach
versuchte er, sein Denken neu zu orientieren. Folgt man der gängigen Perio-
disierung des Foucaultschen Gesamtwerks, lassen sich drei Forschungspha-
sen unterscheiden, die in Thematik, methodischem Zugriff und theoretischem
Bezugsrahmen differieren:
Was Foucaults frühe Untersuchungen in besonderer Weise kennzeichnet,
ja regelrecht vorantreibt, das ist der Zweifel an der sinnstiftenden Funktion
des historischen Subjekts. In Frage steht, ob die Menschen mit Bewusstheit
und Willen tatsächlich ihre eigene Geschichte machen. Unermüdlich proble-
matisiert Foucault in seiner ersten Forschungsphase das Prinzip der begrün-
denden Subjektivität, die Idee also, dass unser Erkennen auf den Erkenntnis-
leistungen eines Erkenntnissubjekts aufruht. Dass das, was - mit Kant ge-
sprochen - der Erkenntnis apriori vorausliegt und sie allererst ermöglicht, im
Erkenntnissubjekt selbst zu suchen sei, bestreitet Foucault ausdrücklich. Statt-
dessen möchte er im Rahmen von wissenschaftshistorischen Analysen gerade
zeigen, dass es die ,diskursive Formation' einer jeweiligen Epoche ist - also
ein Regelgeflecht historisch unterscheidbarer Aussagesysteme -, die die Mög-
lichkeitsbedingungen für ein Wissens-Subjekt abgibt. Es ist das ,historische
Apriori' einer spezifischen diskursiven Formation, das schließlich ,den Men-
schen' oder ,das Erkenntnissubjekt' ins Zentrum einer bestimmten Wissens-
ordnung bzw. Wissensepoche setzt. Entsprechend ist es Foucault zufolge
auch kein Erkenntnissubjekt, das die historisch auffindbaren Wissensgebiete
zur Einheit einer Ordnung zusammenhält. Vielmehr formieren sich die Aussa-
gesysteme um die Brennpunkte einer diffusen Macht und ihres Widerstands.
Freiwillige Selbstkontrolle 247
ferenz von der Macht als Kräfteverhältnis speist. Das Selbst erscheint so als
eigenständige Dimension. Gleichwohl ist es nichts Ursprüngliches; vielmehr
erscheint es als ,Hohlraum' der Macht, die sich auf sich selbst zurückbiegt.
Die ,Analytik der Macht' steht somit vor der Aufgabe, das Verhältnis von drei
Forschungsfeldern jeweils neu aufzuschlüsseln: von Wissen, Macht und
Selbst.
Gerade diese letzte Revision seines Forschungsansatzes führt Foucault -
ähnlich wie die Autoren der Dialektik der Aufklärung (vgl. Horkheimerl
Adorno 1969) - weit hinter jene historischen Ereignisse zurück, die im gän-
gigen Sinn als ,Aufklärungszeit' gefasst werden. "Auch wenn die ,Aufklä-
rung'" (im Original deutsch), so gibt Foucault zu bedenken, "eine sehr wich-
tige Phase unserer Geschichte und der Entwicklung der politischen Techno-
logie war, glaube ich, dass wir auf sehr viel entferntere Vorgänge zurückge-
hen müssen, wenn wir verstehen wollen, Kraft welcher Mechanismen wir zu
Gefangenen unserer eigenen Geschichte geworden sind" (Foucault 1987:
245). Der Tenor der ,selbstbereiteten Gefangenschaft in der Geschichte' ist
nicht neu; auch die Dialektik der Aufklärung weiß davon ein Lied zu singen.
Der Bezug zu konkreten Erfahrungen moderner ,Pathologien der Macht' -
Faschismus und Stalinismus - speist die theoretischen Analysen Foucaults
und HorkheimerslAdornos gleichermaßen. Foucault ist sich mit letzteren
darin einig, dass Faschismus und Stalinismus "trotz ihrer historischen Ein-
maligkeit nichts Ursprüngliches sind. Sie benutzten und erweiterten Mecha-
nismen, die in den meisten anderen Gesellschaften schon vorhanden waren.
Mehr als das: Trotz ihres inneren Wahnsinns haben sie in großem Ausmaße
die Ideen und Verfahrens weisen unserer politischen Rationalität benutzt"
(ebd.: 244). Sein von Beginn an lebendiges Interesse für historische Diskon-
tinuitäten führt Foucault dazu, spezifische ,Rationalitäten' in den Blick zu
nehmen, denen unterschiedliche Machtformationen korrespondieren. Die
Spielräume für Subjektivierungsprozesse variieren mit diesen historischen
Bedingungen: Zwar ermöglichen sie einen produktiven Selbstbezug - kon-
servieren, gar fixieren lässt er sich jedoch nicht.
Stets findet sich das Selbst, das den Differenzierungsprozessen im Ge-
webe der Macht entspringt, im historischen Prozess auch wieder, umcodiert'.
Es wird zum Einsatzort einer Macht, die mit spezifischen Disziplinarstrate-
gien und eigens ausgebildeten Wissensapparaten und ,Regierungsformen '
Individualitäten und Identitäten in Beschlag nimmt. Um diesen Über- und
Durchgriff auf die Individuen angemessen beschreiben zu können, justiert der
späte Foucault die Genealogie der Macht in neuer Weise: Er entwirft das
Konzept der ,Gouvernementalität' als Bindeglied zwischen strategischen
Machtbeziehungen und Subjektivierungsformen, um zu untersuchen, wie sich
politische Herrschaftstechniken mit den, Technologien des Selbst' verknüp-
fen. Da Foucault dieses ambitionierte Unternehmen in seinen Vorlesungen
nur ansatzweise ausführen konnte, wurde es lange von einer Foucault-Rezep-
tion, die sich vor allem auf den Übergang von genealogischen zu ethischen
Fragestellungen konzentrierte, nicht angemessen berücksichtigt. Zahlreiche
Freiwillige Selbstkontrolle 249
Literatur
Macht - wie Foucault sie versteht - durchzieht alle Lebensbereiche und va-
riiert ständig im Wechsel und Zusammenspiel der Beziehungen. Wirksame
globale und lokale Machttechniken sind untrennbar miteinander verbunden.
Ihre vielfältigen Strategien durchziehen Diskurse und Praktiken. Damit
grenzt Foucault sich ab von Konzepten souveräner Macht, die von der Idee
eines steuernden und souveränen Zentrums ausgehen und die Ursprünge der
Macht identifizieren (wie legitimieren) sollen. Wenn Macht aber nicht im
Besitz eines Staates, von Gruppen oder einzelnen ist, sondern allein in Bezie-
hungen existiert, können Individuen beherrscht werden, ohne dass ihre for-
melle Autonomie gebrochen werden muss. Machtphänomene sind daher
nicht (strikt) an Hierarchien gebunden, sondern etablieren sich ebenso wir-
kungsvoll in Praktiken der Demokratisierung und Partizipation. Vorausset-
zung dafür aber ist, Macht gerade nicht bloß negativ als Repression und Ver-
bot zu denken und als Fremdbestimmung mit vermeintlicher freier Selbstbe-
stimmung zu kontrastieren; vielmehr geht es Foucault immer wieder darum,
Macht als eine produktive Strategie der Anreizung, Ermöglichung und Her-
vorbringung aufzunehmen. I
Nur folgerichtig denkt Foucault Macht dabei ohne Rekurs auf individu-
elle Intentionalität; nicht die Absicht, sondern die - oft nicht absehbaren -
Wirkungen machen Macht zu dem, was sie ist: "Die Leute wissen, was sie
tun; häufig wissen sie, warum sie das tun, was sie tun; was sie aber nicht wis-
sen, ist, was ihr Tun tut" (DreyfuslRabinow 1994: 219). Folgt man daher
Foucault, so lässt sich Macht nicht als lineare ,Einwirkung' auf andere ver-
stehen; vielmehr muss diese relational als ein "Führen der Führungen"
(Foucault 1994: 255) verstanden werden, so dass Macht und Freiheit, damit
auch Fremd- und Selbstbestimmung nicht konträr zueinander sind, sondern
einander bedingen. Dies aber wird nur verständlich, wenn Macht auch mit
den sozialen Bedingungen der eigenen Existenz verbunden werden kann, so
dass Selbsthervorbringung und Anderenunterwerfung nicht zwei strikt von-
einander getrennte Prozesse sind, wie Butler dies in ihrer anerkennungstheo-
retischen Lektüre aufzuzeigen versucht hat (vgl. Butler 2003). Macht eta-
bliert sich (auch), indem Individuen fortwährend Normen der Anerkennung
ausgesetzt sind, an die sie sich in ihrer Selbstführung gebunden fühlen und
die ihre soziale Existenz allererst ermöglichen. "Das bedeutet, [... ] daß die
Nichtbefolgung dieser Normen die Fähigkeit gefährdet, sich einen Sinn für
den eigenen fortwährenden Status als Subjekt zu erhalten" (Butler 2003: 63).
Normen geben so den einzelnen nicht nur ein Verständnis für das, was sie
sind; vielmehr binden sie auch die eigene Lebensführung an soziale Erwar-
tungen, die als oft unbefragte und unbefragbare Bedingungen der Anerken-
nung fungieren (vgl. Ricken, in diesem Band).
Wenn Foucault daher im Begriff der Gouvernementalität schließlich
,Regieren' (gouverner) und ,Denkweise' (mentalite) miteinander verbunden
hat, so zielt er damit auf zweierlei: zunächst setzt sein Begriff des Regierens
unterhalb der Sphäre des Staates an und bezeichnet "die Gesamtheit von Pro-
zeduren, Techniken, Methoden, welche die Lenkung der Menschen unterein-
ander gewährleisten" (Foucault 1996: 118f.; vgl. 2000: 64); zum anderen
aber markiert er damit die wechselseitige Konstitution von Machttechniken
und Wissensformen (vgl. ebd.: 65). Sein Anliegen, Machttechnologien und
die sie leitende politische Rationalität zu untersuchen, impliziert daher auch,
einen "Nachweis für die Ko-Formierung von modernem souveränem Staat
und modernem autonomen Subjekt (zu) liefern" (Lernke 2000: 33). Gouver-
nementalität umfasst daher die ,Regierung des Selbst' ebenso wie die Regie-
rung anderer; dieses Kontinuum von Selbst- und Fremdführungen, von
selbsttechnologischer und politischer Regierung stellt insofern eine Alterna-
tive dar gegenüber den vereinfachenden Trennungen von Staat und Gesell-
schaft, Öffentlichkeit und Privatheit, Subjektivität und Macht. Foucaults
Konzept der Gouvernementalität ermöglicht es, Reformdiskurse und -prakti-
ken nicht von Idealen und Sollensvorstellungen her, sondern als funktionie-
rende Regierungspraktiken zu betrachten und die als selbstverständlich ange-
nommenen Heilmittel - u.a. ,Partizipation', ,Reflexivität' und Rückmel-
dung/Evaluation - in ihren Effekten und Machtwirkungen auf die Bildungs-
prozesse der ,Beteiligten' zu beschreiben.
Insgesamt basiert Foucaults genealogische Methode darauf, vertraute
Denkschemata in Frage zu stellen, um Prozesse der Subjektkonstituierung
thematisieren, Netze von Kräfteverhältnissen, Interessen und Strategien auf-
zeigen und Exklusionen beobachten zu können. Im Unterschied zur Kriti-
schen Theorie geht es ihm genealogisch darum, das ,Gefangensein' nicht in
einer Ideologie bzw. einer ,falschen' oder ,unwahren' Überzeugung, sondern
in für selbstverständlich genommenen Perspektiven (,Diskursen ') zu untersu-
chen, welche - als Inbegriff des Selbstverständlichen - auch die jeweiligen
Praktiken durchziehen. Als "Formen zur Konzeptualisierung des Realen"
(Owen 2003: 125) eröffnen sie Erfahrungsfelder, in denen sich Subjekte wie
Objekte allererst konstituieren, und bestimmen vorgängig, welche Behaup-
tungen als wahr oder falsch gelten können (, Wahrheitsspiele'). Zugleich sind
sie immer Teilansichten und enthalten immer Vorurteile (d.h. Urteile, die als
Urteilsprinzipien fungieren), die sich selbst aus den Interaktionen mit der
Welt herleiten (nicht von elementaren Urteilen). Anliegen einer jeden Ge-
nealogie ist es daher, Bilder und Perspektiven nachzuzeichnen, welche die
Partizipation, Selbstreflexion und Rückmeldung 265
Einzelnen gefangen halten und die spezifischen Weisen prägen, "wie sich
Subjekte oder Individuen selbst verstehen und auf sich beziehen, aber auch
wie sie für andere erkennbar und beschreibbar sind" (Saar 2003: 164). Ge-
nealogische Verfahren rekonstruieren und historisieren insofern epistemische
Rahmen, moralische Normen wie praktische Konventionen, die zuvor zeitlos
gültig schienen und als jeweilige Konstruktionen in ihrer Kontingenz und ih-
ren Machtwirkungen nicht erkennbar waren. Perspektiven relativer oder hy-
pothetischer Freiheit eröffnen sich in dem Maße, wie einzelne die eigene
Verstricktheit in Selbstverständlichkeiten aufdecken und damit die Illusion
aufheben, sie würden ,Realität' beschreiben, während sie doch nur den eige-
nen Denkbahnen entlang folgen. Foucaults Genealogie - so ließe sich bün-
deln - untersucht daher, auf welche konstitutive Weise Subjektivitäten
macht- und diskursabhängig sind und welche Techniken, Institutionen und
Normen Effekte von InklusionlExklusion, ErkennbarkeitlUnsichtbarkeit,
WertschätzungNerworfenheit produzieren. Identifizierungen (z.B. als ,Ho-
mosexueller' oder als ,Orientalin') werden im Kontext sozialtechnologischer
und geschichtlicher Normen und Machtgefüge gesehen, welche nur wenig
Spielräume lassen, die Zuschreibungen abzuwehren oder sie zumindest nicht
zum Hauptbezugspunkt des eigenen Selbstverstehens zu machen.
Es ist diese weitgehend nicht dualistische und lineare, sondern relationale
Konzeption von Macht, die Foucaults genealogische Überlegungen gegen-
wärtig so fruchtbar macht, hat doch am Ende des 20. Jahrhunderts eine Ver-
schiebung von disziplinarischen, direkten Regierungsformen zu eher indi-
rekten und neoliberalen Machtpraktiken stattgefunden, die nun - so die Gou-
vernementalitätsanalysen im Anschluss an Foucault (u.a. RoselMiller 1992;
Lemke 2000) - qua Selbstbestimmung und Kommunikation ,führen' und re-
gieren. So erlaubt insbesondere Foucaults Instrumentarium (und regt dazu
an), die Kennzeichen der neoliberalen Rationalitätsform wie die ,Generalisie-
rung der ökonomischen Form' und das neoliberale Programm des Rückzugs
des Staates aus sozialen Fragen als spezifische Regierungstechniken zu de-
chiffrieren. Die Dominanz des Marktes als politisches Programm wird als ei-
ne Transformation des Politischen in informelle, zivilgesellschaftliche For-
men von Autorität und Kontrolle gelesen. ,Freie Wahl' auf einem (Bildungs-)
Markt bedeutet dann keinesfalls Freiheit im Sinn einer Abwesenheit von
Herrschaft; im Gegenteil, die Verlagerung auf die Regierung des zivilen Le-
bens und die Ökonomisierung vormals außerökonomischer Bereiche durch
Kriterien wirtschaftlicher Effizienz beinhalten weitreichende Anforderungen
für die Individuen und bringen tiefgreifende Folgen für Subjektivierungspro-
zesse sowie neue strukturelle Zwänge mit sich. So impliziert der - oft als
Freiheitsgewinn apostrophierte - neoliberale Abbau direkter staatlicher Inter-
ventionen auch die Etablierung vermehrt indirekter Techniken der Führung
von Individuen; insbesondere die zunehmende Privatisierung gesellschaftli-
cher Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Armut zielt auf die Kon-
struktion verantwortlicher, ökonomisch-rationaler Subjekte, die die Wahl von
Handlungsoptionen als freie, selbstbestimmte Willensentscheidungen er-
266 Roswitha Lehmann-Rommel
scheinen lässt und dafür sorgt, dass deren Folgen allein dem Subjekt zuzu-
rechnen sind. Die strukturell bedeutsamen Effekte neoliberaler Ökonomisie-
rungspolitik zeigen sich daher nicht nur in der Schaffung von Bildungsmärk-
ten (und Märkten überhaupt), sondern vor allem darin, dass Menschen und
Organisationen sich selbst als ein Unternehmen betrachten, entsprechend
agieren und sich solchermaßen auf andere wie auf sich selbst beziehen (vgl.
Bröckling 2003). So hat ein ,unternehmerisches Selbst' die Bereitschaft, in
das eigene Leben und Lernen, in die eigene Gesundheit und Sicherheit zu in-
vestieren; und nur folgerichtig gilt umgekehrt: "Wer es an Initiative, Anpas-
sungsfähigkeit, Dynamik, Mobilität und Flexibilität fehlen lässt, zeigt objek-
tiv seine oder ihre Unfähigkeit, ein freies und rationales Subjekt zu sein. [... ]
Entscheidend ist die Durchsetzung einer ,autonomen' Subjektivität als gesell-
schaftliches Leitbild, wobei die eingeklagte Selbstverantwortung in der Aus-
richtung des eigenen Lebens an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien
und unternehmerischen Kalkülen besteht" (Lernke u.a. 2000: 30). Analog da-
zu realisiert sich Ökonomisierung im schulischen Sektor primär durch das
Schaffen von Umgebungen, in denen Techniken, Arrangements und Taktiken
Subjekte als selbstregulierende und autonome Agenten positionieren und da-
für sorgen, dass zunehmend indirekt, d.h. ohne Vorschriften, regiert werden
kann. Im derzeitigen Umbau des Schulsystems werden entsprechende Indivi-
dualisierungsnormen auf unterschiedlichen Ebenen von Schülerlernen, Leh-
rerhandeln sowie Personal- und , Organisationsentwicklung , etabliert (vgl.
Liesner, in diesem Band).
(a) Partizipation
Die Ablösung des zentralistischen Steuerungsmodells durch dezentrale Ein-
bindung von LehrerInnen in schulrelevante Entscheidungsprozesse wird als
ein "steuerungsstrategischer Paradigmenwechsel" (Terhart/Weiß 2000: 2)
betrachtet und besitzt eine Schlüsselfunktion für derzeitige Schulreformen.
(Teil-)Autonornisierung der Einzelschulen funktioniert nur durch Partizipa-
tion der betroffenen Lehrer; deren Umwandlung in ,Beteiligte' bildet daher
einen Fokus der Reformprogramme. In Diskursen zu Partizipation, Demo-
3 Die Konstruktion von Verantwortlichkeit bezieht sich nicht nur auf Lehrer, sondern
auch auf Schüler und auf Eltern. So hat Ball gezeigt, wie im Zusammenhang mit zu-
nehmenden Marktelementen im Bildungssektor auch die Rolle von Eltern sich verän-
dert, indem diesen nun zunehmend die Verantwortung zugeschoben wird, die Ausbil-
dung ihrer Kinder zu sichern und die ",richtigen' Entscheidungen bezüglich der
Schulwahl" (Ball 2000: 39) zu treffen. "Wenn Eltern also schlechte Entscheidungen
treffen, dann sind sie eben schlechte Eltern. Deshalb propagiert die Labour-Regierung
auch die Verbesserung elterlicher Fähigkeiten. [... ] Einige Soziologen sind nicht davor
zurückgeschreckt, diese Entwicklung als ,responsibilitisation' zu bezeichnen" (ebd.: 40).
Partizipation, Selbstreflexion und Rückmeldung 269
4 Ich sehe hier einen Zusammenhang zur verbreiteten Tendenz, die Berichte der empiri-
schen Schulvergleichsforschung (TIMSS, PISA) immer wieder auch als normative
Texte zu lesen, d.h. ihnen direkt Veränderungsbedarf und Verbesserungsvorschläge zu
entnehmen.
270 Roswitha Lehmann-Rommel
tive ,Umsetzung' der ,richtigen' Modelle. Für das Gelingen sind letztlich
Engagement und Teilnahme der eigenverantwortlichen Individuen aus-
schlaggebend. Dabei legen die an die Kompetenz der einzelnen gerich-
teten Normen gleichzeitig nahe, wo die Schuldigen für ein Nichtgelingen
zu suchen sind: bei den ,eigenverantwortlichen' Lehrern. 5 Es werden
Anerkennungsbedingungen aufgestellt, deren polarisierend bewertender
Semantik die Beteiligten sich kaum entziehen können. Evaluationspro-
zesse - so wird z.B. betont - sind hoch voraussetzungsvoll; Echtheit,
Vertrauensbeziehungen und die Fähigkeit, Folgen aus den Beschreibun-
gen zu ziehen, gelten als unabdingbar. Man wünscht sich keine "Fassa-
denevaluation", sondern eine "authentische Evaluation" (KempfertlRolff
1999: 25, 24), um Misstrauen gegenüber bewertenden Übergriffen im
Vorfeld auszuschalten und die Fähigkeit der einzelnen zu stärken, die
notwendigerweise mit Evaluation einhergehenden persönlichen Destabi-
lisierungs- und Überlastungseffekte in den Griff zu bekommen. Die
Denkfiguren, mit denen dieser Komplexität begegnet wird, sind oft ein-
fach und werden in Form von Normen und rezeptartigen Hinweisen aus-
gesprochen: Wer ein Schulprogramme aufstellt oder eine Evaluation
durchführt (die Impulse für die weitere Entwicklung geben soll), "muß in
der Kommunikation gut sein" (Hameyer/Schratz 1998: 89). Empfohlen
werden: längere Phasen vertrauensbildender Maßnahmen, zunächst nur
,homöopathische Dosen' in Form von kleineren Erhebungen, das Befol-
gen ausführlicher Ethik-Kodices (Altrichter 1998: 285f., 302). Hinweise
auf Problemlagen und Widersprüche münden "meist direkt in Lösungs-
hilfen in Form von Leitfäden für die Schulleitung und Fortbildungspro-
grammen" (Knab 2000: 630).
So sorgen Machbarkeitsannahmen und Normativität im Diskurs zu Schul-
entwicklung einerseits systematisch dafür, dass kaum beschrieben werden
kann, was z.B, in Lehrerkollegien geschieht, die nicht ,gut in der Kommuni-
kation' sind, die kein Vertrauen in die Schulverwaltung haben oder wo mo-
ralische Regeln für Evaluationen verletzt werden. Es wird keine Sprache
entwickelt, um Aktivitäten und Ereignisse unter einem nicht durch Normati-
vität enggeführten Blick zu beschreiben. Andererseits führen diese Praktiken
dazu, dass selbstverständlich gesetzte Diskursregeln sich in Kommunikatio-
nen und Denkungsart der Beteiligten einschreiben. Unabhängig davon, ob
diese die Maßnahmen ablehnen oder sich engagieren, sind sie Anerken-
nungsbedingungen ausgesetzt, die einen stillschweigenden, weitreichenden
Einfluss auf Identitätsverständnis und die Bildung von Subjektivität haben.
5 Dem entspricht der ,double bind' in den gegenwärtigen öffentlichen Diskussionen zur
Schulreform: dem Bildungssystem wird zugemutet, die Heilmittel für die gesell-
schaftlichen Probleme und Missstände hervorzubringen, während man gleichzeitig
durch Schuldzuschreibungen und Abwertungen seine öffentliche Wertschätzung de-
montiert.
Partizipation, Selbstrejlexion und Rückmeldung 271
(3) Vertraut man aber darauf, dass das notwendige Wissen für Verände-
rungsprozesse als ein theoretisches Wissen formuliert werden kann, so
dass Schwierigkeiten immer nur Umsetzungsschwierigkeiten sind und
damit zur Abwertung der Handelnden führen, dann ist Exklusion eine nur
logische Folge dieser Vorstellung. Selbst die explizite Forderung, nicht
linear, sondern systemisch zu denken (vgl. Horster 2003: 19ff.), ist dann
Bestandteil eines Diskurses, der durch feststehende Ziele und Kategorien
von Effektivität und Erfolg strukturiert wird und insofern mechanisch-
linear operiert.
Insbesondere der ,Umgang mit Widerstand' wird zum bevorzugten The-
ma von schulpädagogischen Ratgebern und Schulleiterfortbildungen. Die
Ratschläge konzentrieren sich - unterschiedlich subtil - darauf, wie, wi-
derständige' Lehrer - u.a. in Form von paradoxen Interventionen - zu
manipulieren sind. Eine Metapher für ein ,konstruktives Umgehen mit
Widerstand' lautet: "Ein Kalb, das nicht in den Stall will, soll man nicht
am Kopf ziehen, sondern am Gegenteil - am Schwanz nämlich und zwar
in jene Richtung, die vom Stall wegführt. Das Kalb macht - widerständig
wie es ist - den Sprung nach vom" (Geißler, zit. nach Philipp 1998: 241).
Häufig betonen die Autoren die Notwendigkeit, differente Standpunkte
"zunächst" zuzulassen und auf Einwände einzugehen - andernfalls drohe
"innere Kündigung" und Misserfolg von Entwicklungsrnaßnahmen (Hor-
ster 2003: 20).
Insgesamt werden so in der bildungspolitischen Rhetorik von Partizipation
und Autonomie offensichtlich Komplexität und Ungewissheit drastisch redu-
ziert, was zugleich die Vielzahl von Aktivitäten überhaupt erst ermöglicht.
Zentral darin ist die Konstruktion ,eigenverantwortlicher Beteiligter' (vgl. b),
deren Aktivitäten systematisch auf ihre ,Qualität' hin kontrolliert und in
Kommunikationen Normen der Anerkennung unterworfen (vgl. c) werden.
sonderheiten kennt, nutzt und ausbaut, eigene Schwächen offenlegt und sie
überwindet und in jeder Hinsicht sein Leben in die eigene Hand nimmt.
"Selbstmanagement beruht in wesentlichen Teilen auf der Überzeugung, das
erreichen zu können, was man erreichen will. Dem entspricht der mehr oder
weniger radikale Konstruktivismus der impliziten Psychologien: ,Unser Le-
ben ist das, wozu unser Denken es macht' ... Erfolg wird zur Einstellungssa-
che im wörtlichen Sinn. [... ] Wer Erfolg hat, hat ihn verdient, wer keinen hat,
hat etwas falsch gemacht" (Bröckling 2000: 158f., 162). Aus dieser Logik
heraus entsteht die Tendenz, Probleme der Kinder (und Lehrer) nicht in ihren
sozialen oder institutionellen Kontexten zu untersuchen, sondern als persön-
liche Defizite der Selbstwertschätzung, Selbstdisziplin und Motivation the-
matisiert. Das eigene Leben als ein Unternehmen zu führen, lässt Investitio-
nen in Lernen, Gesundheit, Sicherheit und psychisches Wohlbefinden zum
Hauptbemühen werden. Dabei gehen Mobilisierung von Ehrgeiz und Exi-
stenzangst Hand in Hand. Zwei Aspekte der Konstruktion des ,neuen' selbst-
bewussten, unternehmerischen Bürgers in Bezug auf Schulentwicklungsprak-
tiken werden im folgenden beispielhaft herausgestellt: (1) die Objektivierung
und Problematisierung von Lernprozessen (z.B. unter dem Stichwort ,Lernen
lernen' oder ,lebenslanges Lernen', vgl. Rose 1999: 160ff.) sowie (2) die An-
forderung, Emotionen, Begehren und Konflikte managen zu können. 6
(1) Metakognitive Kompetenzen gelten als Schlüssel, der Schüler und Lehrer
befähigen soll, sich an Veränderungen von Arbeitsorganisationen und
Gesellschaft anzupassen und gleichzeitig die eigene ,Selbstverwirkli-
chung' voranzubringen. Man betrachtet Fertigkeiten, Wissen und Wohl-
ergehen als Kapital, in das die Einzelnen selbstverantwortlich investieren
sollen. Fortwährende Verbesserung von Qualität wird zur "Obsession"
für diejenigen, die ihr Leben bzw. ihre Organisation als Unternehmen
managen (vgl. Simons 2002: 617).
So wird vom Lehrer (z.B. als Handlungsforscher) ebenso wie vom
Schüler (mit metakognitiven Lernkompetenzen) Eigenverantwortung für
Selbstreflexion und Verhaltensänderungen auf der Basis von Selbsteva-
luation und Rückmeldungen als selbstverständlich erwartet. Der Lehrer
hat für das pädagogische Ziel der Formation des sich selbst regierenden
Bürgers, der frei ist von äußerlicher Überwachung, eine Mittlerposition.
Die Grundlage für die Rhetorik des selbstreflexiven Lernen und Lehrens
bildet die Orientierung an psychologisch-konstruktivistischen Diskursen:
Begriffe wie Subjektorientierung, forschendes Lehren und Lernen, ganz-
heitliches Lernen, individuelle Leistungsbeurteilungen transportieren
immer auch Individualisierungsnormen, die sich auf subtile Weise in
Denken, Fühlen und Begehren der Beteiligten einschreiben.
Welche Möglichkeiten von Kritik ergeben sich aus den bisherigen Analysen
für Schulentwicklung? Zunächst ist festzuhalten: die beschriebenen Formen
von Normativität, Machbarkeitsannahmen, Identitätszuweisungen, Exklusio-
nen und Anerkennungsbedingungen sind keine akzidentellen oder vernach-
lässigbaren, sondern höchst wirksame Kennzeichen von Schulentwick-
lungspraktiken, die die jeweiligen Subjektivitäten formen. Aber die vorge-
nommenen Analysen als Einwand gegen ,schlechte Wirklichkeit' zu gebrau-
chen und die bestehenden Praktiken und Diskurse abzuwerten oder neue all-
gemeine Lösungen zu fordern, wäre nur ein weiterer beispielhafter Ausdruck
des normalisierenden Denkmusters.
Partizipation, Selbstreflexion und Rückmeldung 277
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Andrea Liesner
1.
Wer heute nach der Zukunft der Bildung fragt, sieht sich im Spektrum politi-
scher Antworten mit einem bemerkenswerten Phänomen konfrontiert: Im
überwiegenden Teil der politischen Programmatiken geht es weniger darum,
welche Fähigkeiten Menschen haben sollen, als darum, wie sie sein sollen.
Die bisherige Dominanz von Selbsttätigkeitsbeschreibungen im Diskurs über
das lebenslange Lernen (vgl. Liesner 2002: 131ff.; Masschelein 2001; Ruhl-
off 1997) scheint sich hin zu einer Konzentration auf den selbständigen ,gan-
zen Menschen' zu verschieben, die von den massiven Umbrüchen im Bereich
der Arbeit nicht zu trennen ist.
Denn gegenwärtig erodiert das, was in den westlichen Industriestaaten
noch bis zu Beginn der 1990er Jahre als Normalität abhängiger Beschäfti-
gungsverhältnisse galt und mit der Vorstellung erwerbsbiographischer Konti-
nuitäten verbunden war. Mit den IuK-Technologien beginnen die tradierten
Grenzen zu verschwimmen, die Arbeit an bestimmte zeitliche, räumliche und
soziale Strukturen banden (vgl. BröcklingIHorn 2002). Darüber hinaus sehen
sich abhängig Beschäftigte innerhalb postfordistisch konzipierter Betriebe in
immer stärkerem Maße mit der Anforderung konfrontiert, sich als "Arbeits-
kraftunternehmer" permanent selbst um "funktionale Verwendungen (d.h.
,Käufer')" der je eigenen Dienstleistung bemühen zu müssen (vgl. Pongratzl
Voß 199812002: 138; empirisch dazu: dies. 2003).
Inzwischen wird ein Bedarf an mehr Selbständigkeit auch dort angemel-
det, wo es um den Umgang mit Nicht-Arbeit geht. Gerhard Schröders plaka-
tives Diktum, es gebe in der Bundesrepublik ,,kein Recht auf Faulheit" (vgl.
Schröder 2001), pointiert in diesem Sinne einen Aktivierungsdiskurs, der die
versicherungsrechtlich obligatorischen Mitwirkungspflichten Erwerbsloser
programmatisch in die Forderung einbettet, sich analog zum marktorientier-
ten Leitbild für Erwerbstätige als Unternehmer seiner selbst zu begreifen: als
ein Subjekt, das an sich arbeitet, das die Suche nach einer entlohnten Be-
schäftigung individuell ,passgerecht' gestaltet und auch die Zeit bis zu einer
etwaigen (Wieder-)Einstellung tätig verbringt, nämlich mit Qualifizierungs-
maßnahmen, ehrenamtlichem Engagement oder bürgerschaftlicher Arbeit.
Beide Appelle, also der zur Mobilisierung von Beschäftigten und der zur
286 Andrea Liesner
Für den Hinweis auf diesen Arbeitsbereich und weiterführende Diskussionen zum
Thema Entrepreneurship danke ich Ulrich Bröckling.
2 Zu den curricularen Schwerpunkten dieser Seminare vgl. Ripsas 1998.
Von kleinen Herren und großen Knechten 287
2.
Die von Faltin und Zimmer vertretene Erziehung zum Unternehmertum lässt
sich zunächst dadurch charakterisieren, dass sie ihre Zielgruppe bevorzugt
mit Künstlern vergleicht: Beide antworteten "auf Wirklichkeit mit Phantasie"
und unterschieden sich neben der Verwendung anderer "Medien und Mate-
rialien" lediglich dadurch, dass Entrepreneure ihre Idee ökonomisch strin-
genter als Künstler kalkulieren (vgl. Faltin u.a. 1998: 79).3 Die zunächst um-
strittene Frage, ob Virtuosität, Phantasie und Kreativität tatsächlich pädago-
gisch herstellbar sind (vgl. Ripsas 1997: 232), scheint dabei recht schnell an
Gewicht verloren zu haben: "Mit der Entwicklung von pädagogischen Inno-
vationen im Bereich der Projektarbeit, des selbstorganisierten Lernens bzw.
3 Zu dem bereits in den 1980er Jahren in Wirtschaft und Politik erstarkten Interesse am
Ästhetischen vgl. Ruhloff 2000: 17f.
288 Andrea Liesner
Was sich wie ein Versuch liest, Hayeks Diktum von der Wohltätigkeit
des ungestörten Wettbewerbs ordoliberal abzusichern, soll nun im internatio-
nalen Kontext auf die Genese eines "Reichtum[s] von unten" zielen: Insbe-
sondere die Bürger so genannter Schwellen- und Drittweltländer haben nach
Faltin und Zimmer unter den skizzierten Bedingungen endlich die Möglich-
keit, ihre Produkte und Dienstleistungen zu gleichen Bedingungen anzubie-
ten, was für sie einen Weg aus der Armut bedeute und damit für die westli-
chen Industriestaaten die Notwendigkeit, sich auf eine "neue Bescheidenheit"
einstellen und Strategien "intelligenter Askese" entwickeln zu müssen (Faltin
u.a. 1998: 265; vgl. FaltiniZimmer 1995). Die Orientierung an diesem Modell
allerdings impliziert für alle potentiell Marktbeteiligten, dass sie neben dem
neuen Typ unternehmerischen Handeins auch eine veränderte Organisations-
form der Betriebe bejahen: Denn da es im Gegensatz zu denen des 19. und
20. Jahrhunderts heute als "praxisfremd" gilt, ,,rund um große und in sich ge-
schlossene traditionelle Funktionen wie Marketing, Finanzierungen, mensch-
liche Ressourcen und Gesetze gestalten und organisieren zu wollen", wird
dafür plädiert, die "neuen Bausteine der Organisation [... ] nach den Wirt-
schaftsprozessen" zu strukturieren, "als da sind Leadership, lebenslanges
Lernen, Krisenmanagement und ein wirklich globales Geschäftsumfeld"
(Grant 1998: 243). Denjenigen, die sich entsprechend dazu entschlossen ha-
ben, "lieber ,kleiner Herr als großer Knecht'" (Goebel 1998: 88) zu sein,
wird dabei geraten, den Aufbau ihres Unternehmens an einem Konzept zu
orientieren, das in der Bundesrepublik bislang "nur in wenigen, kleinen Be-
trieben Praxis geworden ist: Statt Arbeitgeber und Arbeitnehmer gibt es - so
das Modell-lediglich Unternehmer, die schon gestartet sind, und solche, die
noch starten wollen" (Faltin u.a. 1998: 81). Als Noch-nicht-Entrepreneure
sind Mitarbeiter in solchen Betrieben prinzipiell nur vorübergehend beschäf-
tigt, was hier allerdings nicht demotivierend oder restriktiv wirken soll, son-
dern im Gegenteil aktivierend, kompetenzerhöhend und loyalitätsfördernd:
Der abhängig und zeitlich befristet Beschäftigte "kann und soll sich selbst als
künftigen Unternehmer betrachten, der eine Art Gesellenzeit durchläuft und
alle Einschränkungen und disziplinierenden Regeln offen akzeptiert" - und
zwar "in der Erkenntnis, dass sie betrieblich notwendig sind und er selbst in
einer späteren Situation als Meister ebenfalls auf Loyalität und Kompetenz
seiner Mitarbeiter angewiesen sein wird" (ebd.).
Sollte sich ihm diese Einsicht allerdings verschließen und er trotz der in
Aussicht gestellten "Chance, sich später mit einem spin off-Unternehmen
vom Mutterschiff zu lösen und dabei im Vorfeld freundlich unterstützt zu
werden", schlechte Bedingungen oder untertarifliche Bezahlung wie in bishe-
rigen Lohnarbeitsverhältnissen auch als Zumutungen wahrnehmen, wird ihm
- zum Besten aller Beteiligten - gekündigt: "Diejenigen, die sich dem harten
Training zum künftigen Unternehmer mit genügender Ernsthaftigkeit nicht
unterziehen wollen oder können, werden in beiderseitigem Einverständnis
frühzeitig aus dieser Laufbahn verabschiedet, unter anderem, um zu verhin-
dern, dass sie später sich selbst und ganze Belegschaften mit in den Abgrund
Von kleinen Herren und großen Knechten 291
kindlichten ' Kindern überlegen sein dürften." An diese mit einem drohenden
Unterton versehene Vergleichsdiagnose wird die Frage angeschlossen, "ob -
bei aller Berücksichtigung auch der gravierenden und brutalen Aspekte einer
solchen Kindheit des Südens - jenes mitteleuropäische Konstrukt von Kind-
heit das Qualifikations- und unternehmerische Potential von Kindern nicht
deutlich unterschätzt" (ebd.).
Solange also pädagogische Theorie und Praxis gegenüber dem Unter-
nehmer im Kinde blind bleiben, geraten sie - so ließe sich aus dem Obigen
folgern - zur unterlassenen Hilfeleistung mit immerhin potentieller Todesfol-
ge. Auf dem Spiel scheint nichts Geringeres zu stehen als das Überleben der
jüngeren Generation im globalen Konkurrenzkampf: ein Szenario, in dem das
Subjekt ähnlich wie in der Theorie des Humankapitals zum "Objekt eigenen
wie fremden Handeins" gerät, das "auf den Status »nackten Lebens«" zu-
rückgeworfen ist und "dessen Existenz davon abhängt, dass sich jemand -
gleich ob ego oder alter - findet, der in es investiert" (Bröckling 2003: 22).
3.
Die Entschiedenheit, mit der die Entrepreneurship-Pädagogik, aber auch die
bildungspolitischen Selbständigkeitsprogramme unter Berufung auf den
Weltmarkt als ,Realitätsprinzip' ihre Alternativlosigkeit behaupten, erinnert
daran, dass Foucault den Neoliberalismus vom klassischen Liberalismus mit
dem Hinweis darauf unterschied, in diesem kehre sich das Marktprinzip als
,,»eine Art permanentes ökonomisches Tribunal«" gegen die Regierung (zi-
tiert nach: LernkelKrasmannlBröckling 2000: 17): Wer nicht selbst zu den
,Modernisierungsverlierern' zählen oder andere zu solchen erziehen will,
scheint heute an diesem Gericht nicht vorbeizukommen, wenn als überle-
bensfahig nur diejenigen gelten, deren Autonomie, Kreativität und Risiko-
freude Garanten ihrer Marktfähigkeit sind. 5 Die Ökonomie fungiert hier als
ein "Realitätsniveau" (Foucault 1978/2000a: 59) und der Markt als inneres
"Organisationsprinzip des Staates und der Gesellschaft" (Lernke/Krasmann/
Bröckling 2000: 15), wobei beides nicht nur die Historizität, Vorausset-
zungshaftigkeit und damit auch Fragilität dieser Bestimmungen aus dem
Blick drängt. Der Aufmerksamkeit entzogen werden zudem die Verhältnisse
zwischen Herrschaftstechnologien und Subjektivität: zwischen dem also, was
Subjekte von sich wissen, und dem, was sie von sich wissen sollen.
Um sich diesen Beziehungen zu nähern, könnte der die jüngeren "Studi-
en zur Ökonomisierung des Sozialen" (ebd.) einleitende Vorschlag hilfreich
sein, den inzwischen als Etikettierung höchst unterschiedlicher Phänomene
verwandten Begriff des Neoliberalismus mit Hilfe des Foucaultschen Regie-
6 Das Statistische Bundesamt meldete im Juni 2003 mehr als ,,24.000 Insolvenzen im 1.
Quartal 2003", davon ,,9747 von Unternehmen und 14631 von anderen Schuldnern":
Dies bedeute "gegeniiber dem 1. Quartal 2002 eine Zunahme der Gesamtzahl der In-
solvenzen um 27%, der Unternehmensinsolvenzen um 9,4% und der Insolvenzen der
iibrigen Schuldner um 42,2%" (Statistisches Bundesamt 2003).
294 Andrea Liesner
trachten oder mit ihren ,Kunden' Verträge über Erziehungs- und Bildungs-
ziele abschließen, ohne dabei die Abhängigkeit der Lernenden von institutio-
nellen Zertifizierungen anzusprechen oder Zweifel an der Überzeugung zu
hegen, bei ihren Adressaten handele es sich um sich selbst transparente Sub-
jekte, die stets souverän zwischen alternativen Lernmöglichkeiten entschei-
den können (vgl. Pongratz, in diesem Band).
Die Frage allerdings, wie mit den aktuellen Selbständigkeitsinitiativen
angemessen umgegangen werden kann, erweist sich aus mehreren Gründen
als schwierig: Pädagogische Kritik zum Beispiel, die auf ein Bewusstmachen
der Differenz zwischen dem unternehmerischen und dem ,eigentlichen'
Selbst setzt, ist hier nicht nur wegen ihrer identitätstheoretischen Prämissen
problematisch (vgl. Meyer-Drawe 2001). Sie droht vielmehr schlicht deshalb
ins Leere zu laufen, weil es "für den Unternehmer seiner selbst [... ] nichts
Anrüchiges [hat], ,sich gut zu verkaufen"': Der Intrepreneur weiß, dass
Kompetenzen und Qualifikationen allein nicht genügen, um besser, originel-
ler und selbständiger zu sein als die anderen, sondern dass er genau das "sein
[muss], was er darstellen will" (vgl. Bröckling 2002a: 171). Wenn es dement-
sprechend einigermaßen aussichtslos ist, in der Beförderung unternehmeri-
scher Subjektivierungsformen "Charaktermasken entlarven zu wollen und
das Selbstmanagement als Selbstentfremdung zu perhorreszieren", da nichts
existiert, "was hinter den vermeintlichen Masken verborgen wäre" (vgl.
ebd.), erscheint es notwendig, die Suche nach alternativen Möglichkeiten von
Kritik zu intensivieren.
Wen aus pädagogischer Perspektive stattdessen vor allem der Aspekt ir-
ritiert, dass die Angebote zur Förderung von Selbständigkeit diskursiv mal
als Einladung, mal als Imperativ formuliert werden, findet in Foucaults
Überlegungen zur Gouvernementalität zwar einen fruchtbaren und anregen-
den Ansatz, um unternehmerische Subjektivierungsformen innerhalb des be-
weglichen Geflechts der Macht zwischen Regierenden und Regierten zu
analysieren. Wie manche aktuellen govemementality studie/ jedoch zeigen,
besteht dabei die Gefahr, diese Form des Regierens ihrerseits totalisierend zu
lesen und neoliberale Subjektivität auf ein hermetisches falsches Bewusstsein
zu reduzieren, was in der Sackgasse zu münden droht, dass Kritik zwischen
Ohnmacht und Allmacht befangen bleibt. Einer solchen Paralyse von Kritik
wäre u.a. mit einer Erinnerung daran zu entgehen, dass Foucault trotz seines
oben bereits angesprochenen Hinweises auf die Gleichzeitigkeit von Indivi-
dualisierungs- und Totalisierungstendenzen struktureller Macht (vgl.
Foucault 1987/1994: 250) auch davor warnte, den Staat zu einem intangiblen,
funktionalistischen Mythos zu erheben: Die "Überbewertung des Problems
des Staates findet man meines Erachtens im Wesentlichen in zwei Formen. In
einer unmittelbaren, affektiven und tragischen Form: im Lied vom kalten
Ungeheuer, das uns gegenübersteht" (Foucault 197812000a: 65). Die zweite
7 Ein ,,kritischer Überblick über die governementality studies" findet sich bei Lemke
2000.
296 Andrea Liesner
Art der Überbewertung geschehe hingegen "in einer paradoxen, weil offen-
sichtlich den Staat reduzierenden Form -, nämlich in Gestalt einer Analyse,
die den Staat auf eine bestimmte Anzahl von Funktionen wie beispielsweise
die Entwicklung der Produktivkräfte und die Reproduktion der Produktions-
verhältnisse reduziert", wobei übersehen werde, dass "der Staat weder in der
Gegenwart noch im Verlauf seiner Geschichte je diese Einheit, diese Indivi-
dualität, diese strikte Funktionalität und [... ] diese Bedeutung" gehabt habe
(vgl. ebd.).
Kritische Einsätze, die in der Frage nach den pädagogischen Implikatio-
nen des gegenwärtigen Verhältnisses von Politik, Ökonomie und Bildung
entsprechend eher auf Analysen der ,,»Gouvernementalisierung« des Staates"
setzen denn auf solche der "Verstaatlichung der Gesellschaft" (vgl. ebd.),
müssten sich also von dem Glauben distanzieren, "dass die Politik beschlos-
sen habe, ,ihre Gesellschaft und insbesondere die Sozialausgaben wie eine
einzige Ressource [... ] zu nutzen'" (Lindenberg 2000: 99).8 Eine solche Per-
spektive verkennt nämlich, "dass konkrete Beziehungen - und nicht nur ab-
strakte Herrschaftsverhältnisse [... ] zwischen Staat und Organisationen von
Kapital und Arbeit bestehen", und sie übersieht, dass sowohl der Staat als
auch ",die Politiker'" aufgrund der "in erheblichem Maß immer noch korpo-
ratistisch" organisierten Sozial- (und Bildungs-)Politik "eine intermediäre
Stellung" einnehmen: ",Nicht Lenker, aber auch nicht Gelenkter'" (ebd.).
Gegenwärtig verändern sich allerdings die Rahmenbedingungen für
staatliche Politik in erheblichem Maße (v gl. Lohmann 2002), was auch das
Spektrum von Möglichkeiten tangiert, den ,,Agonismus" der Macht (Foucault
1987/1994: 256) auf der Ebene aller Akteure zu gestalten. Und während
"nach der Erschöpfung politischer Visionen" verbreitet "verbindliche Zu-
kunftsorientierungen" fehlten (Wimmer 2002: 45), findet nun mit dem Boom
unternehmerischer Subjektivierungsangebote eine Transformation politischer
Kategorien statt: Ehedem kapitalismuskritische Forderungen nach Umver-
teilung und klassenloser Gesellschaft werden unter anderem von pädagogi-
schen Protagonisten des freien Marktes erhoben, die den Machbarkeitscha-
rakter ihrer Gesellschaftsentwürfe damit unterstreichen, dass der Markt "an-
ders als der Sozialismus [... ] nicht den neuen Menschen" verlange (Faltin u.a.
1998: 13). Mit dieser Vorstellung einer künftigen unternehmerischen Ge-
samtkultur, die das Verhältnis von Herr und Knecht auf ihre Art vom Kopf
auf die Füße stellen will, scheint ein Bemühen um Alternativen geboten,
"ohne in normative Denkformen zurückzufallen oder den eigenen Anspruch
aufzugeben, die künftigen Aufgaben nach eigenen Kriterien zu bestimmen"
(Wimmer 2002: 46).
Jenseits der "Staatsphobie" (Foucault 1984/2000b: 70) bestünde deshalb
eine wichtige Aufgabe der Gegenwartspädagogik darin, an Möglichkeiten zur
Beurteilung von Gemeinsamkeiten, Überlappungen, Verschiebungen und
Differenzen zwischen ökonomischem und pädagogischem Wissen zu arbei-
8 Zur "Selektivität des pädagogischen Blicks auf Ökonomie" vgl. Bellmann 2001.
Von kleinen Herren und großen Knechten 297
durchaus von Bedeutung sei dürften. Zum anderen könnte übersehen werden,
dass - um im Vokabular des Selbständigkeitsdiskurses zu bleiben - das in
westlichen Industriestaaten zunehmende , Insourcen, von Ausbeutung trotz
der von den Entrepreneurship-Pädagogen proklamierten gerechteren Welt für
alle (vgl. FaltinlZimmer 1995) derzeit noch nicht auf seine ,klassische' Kehr-
seite verzichtet. "Das unternehmerische Selbst ist deshalb nicht nur Leitbild,
sondern auch Schreckbild. Was alle werden sollen, ist zugleich das, was allen
droht. In den informellen Ökonomien der Länder Afrikas, Südamerikas und
weiter Teile Asiens existiert bereits ein Millionenheer virtuoser Alltags-
Entrepreneure, die all ihre Kräfte darauf verwenden müssen, unternehmerisch
zu handeln, um im strikten Sinne des Wortes zu überleben. Nicht der Traum
eines Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär treibt sie an, sondern der
leere Magen. Will man nach Personen suchen, die dem Bild des enterprising
self nahekommen, dann tut man deshalb gut daran, nicht nur auf die Glücks-
ritter der New Economy zu starren, sondern sich auch die Plastikflaschen-
sammlerinnen auf den Müllbergen von Lagos oder die Windschutzscheiben
putzenden Jungen auf der Straßenkreuzung in Mexico City vorzustellen.
Oder, um in der Nähe zu bleiben, den Rosenverkäufer in der Kneipe am
Abend" (Bröckling 2002b: 26).
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http://www.suhrkamp.de/autorenlfoucault/foucaultbib.htm
Website des Suhrkamp-Verlags, die einen Editionsplan der Werke von und über Foucault
enthält, sowie weiterführende, internationale Links zu Foucault verzeichnet.
http://www.ruhr-uni-bochum.de/diskurstheorielBibliographie_Textelbibliographie_texte.
htm
Website des germanistischen Institutes an der Ruhr-Universität Bochum, die sich mit dem
Thema "Diskurstheorie" beschäftigt. Angeboten werden u.a. einführende Lexikonartikel,
Auszüge aus Grundlagenwerken zu den Themen "Diskursanalyse" und "Poststrukturalis-
mus" sowie Auszüge aus den Werken Foucaults im pdf-Format.
http://www.qut.edu.auledulcpoUfoucault/
Englische Website von Clare O'Farrell, die sich in besonderer Weise um Foucaults Werk
verdient gemacht hat. Ihre Website "foucault resources" bietet u.a. eine umfangreiche eng-
lische Bibliographie der Foucault-Texte, eine Linksammlung aus aller Welt zu Foucault, zu
Schriftsammlungen sowie vielfältige Informationen allgemeinerer Art.
http://www.csun.edul-hfspc002/foucault.home.html
Englische Website von Ben Attias (California State University), die eine kommentierte
Auflistung der Werke Foucaults, Essays von und über Foucault bietet sowie ein weitver-
zweigtes Diskussionsforum, an dem sich Forscher, Studenten und Interessierte beteiligen.
http://www.siu.edul-foucault/index.htm
http://foucaultinfo/
http://www.thefoucauldian.co.uk/index.htm
Englischsprachige Website mit ausführlicher Bibliographie (auch zur Rezeption) und Pri-
mär- wie Sekundärtexten in html- oder pdf-Format.
http://www.califomia.com/%7Erathbone/foucaul0.htm
http://www.hydra.umn.edu/foucaultlentry.html
Französische Website, die Informationen zum Centre Michel Foucault sowie eine (voll-
ständige) französische Bibliographie der ,Bibliotheque Saulchoir' bietet.
www.lib.berkeley.eduIMRC/audiofiles.html#foucault
Link der Universität Berkeley zu zwei Audiodateien eines Vortrags von Michel Foucault in
Berkeley (,The Culture of the Self', Vortrag und Diskussion vom 12. und 19. April 1983).
http://www.radiofrance.fr/chaines/france-culture2/speciale/speciale_foucaultlprog.php
Link von Radio France zu zwei Audiodateien zweier Vorlesungen von Michel Foucault im
College de France (, Il faut defendre la societe', Vorlesung vom Januar 1976; ,Naissance de
la biopolitique', Vorlesung vom Januar 1979) und verschiedenen Diskussionen zur Rezep-
tion Foucaults in Frankreich und Amerika.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Pongratz, Ludwig A., Dr. paed., Professor für Allgemeine Pädagogik und
Erwachsenenbildung an der Technischen Universität Darmstadt. Arbeits-
schwerpunkte: Allgemeine Pädagogik, pädagogische Methodologie und
Theoriegeschichte, Kritische Theorie bzw. Bildungstheorie, Erwachsenenbil-
dunglWeiterbildung. Ausgewählte Publikationen: Bildung und Subjektivität,
Weinheim: Beltz 1986; Pädagogik im Prozess der Modeme, Weinheim:
Deutscher Studien Verlag 1989; Kritische Bildungstheorie (hrsg. mit Peter
Euler), Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1995; Zeitgeistsurfer, Wein-
heim: Beltz 2003.
Rustemeyer, Dirk, Dr. phil., Professor für Allgemeine Pädagogik an der Uni-
versität Trier und Philosophie an der Universität WittenlHerdecke. Arbeits-
schwerpunkte: Theorie der Sinnbildung, Semiotik, Theorie der Erziehung.
Ausgewählte Publikationen: Historische Vernunft, politische Wahrheit,
Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1992; Erzählungen. Bildungsdiskurse
im Horizont von Theorien der Narration, Stuttgart: Steiner 1997; Sinnformen.
Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Moral, Hamburg: Meiner 2001.