Sie sind auf Seite 1von 302

Norbert Ricken· Markus Rieger-Ladich (Hrsg.

Michel Foucault: pädagogische Lektüren


Norbert Ricken
Markus Rieger-Ladich (Hrsg.)

Michel
Foucault:
Päd~.gogische
Lekturen

11
VS VERLAG FÜR SOZIALWISSENSCHAFTEN
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

1. Auflage 2004

Alle Rechte vorbehalten


© VS Verlag für sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2004

Der VS verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von springer Science+Business Media.
www.vs-verlag.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede
verwertung außerhalb der engen Grenzen des urheberrechtsgesetzes ist
ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere
für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-
cherung und verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem


Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche
Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten
wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg


Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier
ISBN-13: 978-3-8100-4137-1 e-ISBN-13: 978-3-322-85159-8
DO!: 10.1 007/978-3-322-85159-8
Inhalt

Norbert Ricken1Markus Rieger-Ladich


Michel Foucault: Pädagogische Lektüren.
Eine Einleitung ........................................................................................ 7

Nicole Balzer
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken.
Linien der Foucault-Rezeption in der deutschsprachigen
Erziehungswissenschaft ........................................................................... 15

Zwischen Wahrheit und Ideologie:


methodologische Herausforderungen

Christiane Thompson
Diesseits von Authentizität und Emanzipation.
Verschiebungen kritischer Erziehungswissenschaft zu einer
,kritischen Ontologie der Gegenwart' ..................................................... 39

Hans-Christoph Koller/fenny Lüders


Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse .... ......... 57

Dirk Rustemeyer
Unmöglich wirklich ................................................................................. 77

fan Masschelein
,Je viens de voir, je viens d' entendre'. Erfahrungen im Niemandsland.. 95

Zwischen Freiheit und Macht: grundbegriffliche Sondierungen

Norbert Ricken
Die Macht der Macht - Rückfragen an Michel Foucault .......... ........... .... 119
6 Inhalt

Alfred Schäfer
Macht - ein pädagogischer Grundbegriff? Überlegungen im Anschluss
an die genealogischen Betrachtungen Foucaults ..................................... 145

Maarten Simons
Lernen, Leben und Investieren: Anmerkungen zur Biopolitik ........ ........ 165

Roland Reichenbach
,La fatigue de soi': Bemerkungen zu einer Pädagogik der Selbstsorge ... 187

Zwischen Hervorbringung und Unterwerfung:


Subjektivierung und Gouvernementalität in pädagogischer
Perspektive

Markus Rieger-Ladich
Unterwerfung und Überschreitung:
Michel Foucaults Theorie der Subjektivierung ........................................ 203

Rita Casale
Genealogie des Geschmacks.
Ein Beitrag zur Geschichte der ästhetischen Erziehung .......... ................ 225

Ludwig A. Pongratz
Freiwillige Selbstkontrolle.
Schule zwischen Disziplinar- und Kontrollgesellschaft .......................... 243

Roswitha Lehmann-Rommel
Partizipation, Selbstreflexion und Rückmeldung:
gouvernementale Regierungspraktiken im Feld Schulentwicklung ......... 261

Andrea Liesner
Von kleinen Herren und großen Knechten.
Gouvernementalitätstheoretische Anmerkungen zum
Selbständigkeitskult in Politik und Pädagogik .......... ...................... ........ 285

Anhang

Gabriella Schmitz
Auswahlbibliographie zur Michel Foucault-Rezeption ........................... 303

Gabriella Schmitz
Link-Sammlung zur Michel Foucault-Rezeption 311

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .... ...... ................................ ...... 313
Norbert Ricken1Markus Rieger-Ladich

Michel Foucault: Pädagogische Lektüren.


Eine Einleitung

Als zu Beginn der 1990er Jahre eine beachtliche Anzahl philosophischer Mo-
nographien erscheint, die sich intensiv mit den Arbeiten Michel Foucaults
auseinandersetzen und dabei entweder einzelne Studien diskutieren, größere
Themenfelder zu identifizieren suchen oder eine verlässliche Einführung in
dessen unübersichtliches Gesamtwerk zu geben versprechen, werden diese in
zwei Aufsätzen vorgestellt, die sich - von heute aus betrachtet - als eine er-
ste, vorsichtige Zwischenbilanz der deutschsprachigen Foucault-Rezeption
lesen lassen. Und obwohl die thematisch und methodisch höchst disparaten
Studien keine einheitliche Foucault-Lektüre verraten, lassen sie in ihrer Ge-
samtheit doch eine eigentümliche Fixierung auf normative Fragestellungen
erkennen, deren problematische Folgen denn auch von den beiden Rezen-
senten eigens herausgestellt werden: So merkt Ulrich Johannes Schneider in
seinem Literaturbericht kritisch an, dass hierzulande die unvoreingenommene
Kenntnisnahme von Foucaults Schriften noch immer von hartnäckigen Vor-
behalten behindert werde, die insbesondere französischen Theoretikern ent-
gegengebracht würden (vgl. Schneider 1991). Burkhard Liebsch teilt diese
Einschätzung und rät in seiner Samme1rezension daher nicht nur zu einer
größeren "Gelassenheit" in der Auseinandersetzung mit den Arbeiten Fou-
caults, sondern plädiert auch dafür, dessen unbequemen Fragen endlich mit
jener "Aufgeschlossenheit" zu begegnen (Liebsch 1992: 186), die für die
wissenschaftliche Arbeit unerlässlich sei.
Nur zehn Jahre später, als sich Axel Honneth im Rahmen der internatio-
nalen Frankfurter Foucault-Konferenz um eine Bilanzierung der Foucault-
Rezeption in den Humanwissenschaften bemüht, hat sich die Situation bereits
grundlegend gewandelt (vgl. Honneth 2003). Auch wenn Foucault in den
einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen noch immer als anstößiger Autor
gelte, der mit seinen theoretischen und praktischen Interventionen kaum ge-
eignet sei, die etablierten wissenschaftlichen Praktiken und eingespielten
akademischen Rituale zu legitimieren und diese mit einer besonderen Aura
zu versehen, so habe sich mittlerweile doch zweifellos - so die Einschätzung
Honneths - eine neue, ungleich produktivere Form der Auseinandersetzung
mit dessen Arbeiten durchgesetzt: Die schrillen Polemiken und hysterischen
8 Narbert Ricken1Markus Rieger-Ladich

Reaktionen gehörten nun der Vergangenheit an (v gl. Eßbach 1991); längst sei
an ihre Stelle die sachliche und nüchterne Auseinandersetzung getreten.
Nachdem Foucaults Arbeiten, deren Übersetzungen ins Deutsche seit Mitte
der 1970er Jahre recht zügig erschienen, lange Zeit ignoriert oder gar unter
den Generalverdacht des ,Antihumanismus' gestellt worden seien, lasse sich
gegenwärtig deren Bedeutung für die kritische Reflexion des Verhältnisses
von Individuum und Gesellschaft, von Wissen, Macht und Subjektivität
kaum überschätzen: "Sein Werk hat [ ... ] ein Umdenken innerhalb der Hu-
manwissenschaften angestoßen, das sich auf weite Teile unserer herkömmli-
chen Vorstellungen des Sozialen bezieht." Honneths abschließender Bilanz
ist daher nur zuzustimmen: "Was sich unter dem Einfluss Foucaults innerhalb
der Humanwissenschaften mithin geändert hat, ist die Vorstellung von der
Tiefengrarnmatik, nach der sich unser aller Leben in der Gesellschaft voll-
zieht" (Honneth 2003: 26).
Obwohl nun manches dafür spricht, dass Foucault nicht nur die "affekti-
ven Apriori" der deutschen Geschichtswissenschaft berührt, wie Ulrich
Brieler treffend bemerkt (Brieler 2003: 332), sondern auch jene der Erzie-
hungswissenschaft, lässt sich doch feststellen, dass sich auch hier zwischen-
zeitlich neue Rezeptionsformen und Lektürepraktiken durchgesetzt haben.
Was lange Zeit vornehmlich als Affront wahrgenommen wurde, den es of-
fensichtlich mit aller gebotenen Entschlossenheit abzuwehren galt, wird nun
immer häufiger als ernsthafte Herausforderung begriffen, die geeignet ist, ei-
nen überfalligen Prozess der Selbstkritik auszulösen und neue Reflexions-
formen zu stimulieren (v gl. Balzer, in diesem Band). Die Gründe, die dazu
geführt haben mögen, dass Foucaults materialgesättigte Studien zu den Ver-
flechtungen von Wissensformen, Machttypen und Subjektivierungspraktiken
inzwischen auch innerhalb der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft re-
zipiert werden können, ohne mit dem Verdacht vermeintlicher normativer In-
differenzen oder der Preisgabe des ,humanistischen Erbes' rechnen zu müs-
sen, sind nicht leicht zu identifizieren und unterschiedlicher Art. Sicherlich
mitverantwortlich für die neuerliche Foucault-Rezeption ist die schlichte Tat-
sache, dass nun die ersten Übersetzungen der Bände Dits et Ecrits vorliegen,
die auch seine bislang an entlegenen Orten publizierten Schriften zugänglich
machen (v gl. Waldenfels 2003). Auf einer wissenschaftssoziologischen Ebe-
ne lässt sich beobachten, dass auch die Struktur des erziehungswissenschaft-
lichen Feldes stets umkämpft ist und Foucault jenen, meist jüngeren Vertre-
ter/innen der Disziplin, die deren Umschrift durch die Einführung neuer Be-
zugstheorien zu erzwingen versuchen, zweifellos als aussichtsreicher und ge-
eigneter Kandidat gilt (vgl. Bourdieu 1998). Vielleicht am wichtigsten ist je-
doch jene Entwicklung, die Foucaults begriffliche Interventionen - gerade
auch aus pädagogischer Perspektive - gleichsam nachträglich rechtfertigt:
Weil die schroffe Entgegensetzung von Autonomie und Heteronomie, von
Mündigkeit und Unmündigkeit ihre Überzeugungskraft eingebüßt und sich
die plakative Kontrastierung von Selbstbestimmung und Fremdbestimmung,
von Freiheit und Macht als begriffliche Strategie entpuppt hat, die einer un-
Einleitung 9

terkomplexen Problembeschreibung geschuldet ist (vgl. Deines 2003), meh-


ren sich auch innerhalb der Erziehungswissenschaft die Stimmen jener, die
sich dafür einsetzen, die bedenkliche Engführung der pädagogischen Refle-
xion zu überwinden (vgl. Meyer-Drawe 1990; Schäfer 1996). Die Arbeiten
Michel Foucaults werden folglich nicht zuletzt deshalb vermehrt von Vertre-
ter/innen der Erziehungswissenschaft auf ihr Anregungspotential hin kritisch
geprüft, weil sich gegenwärtig immer deutlicher abzeichnet, dass die Beob-
achtung und Reflexion etwa von Erziehungspraktiken, Bildungsprozessen
und Lernvorgängen immer dann oberflächlich bleibt, wenn vorschnell die
Zuflucht zu dichotomen Beschreibungsmustern gesucht wird - und die kom-
plizierten Verflechtungen von Machttechniken, Wissensformen und Subjek-
tivitätstypen, die pädagogische Handlungsfelder charakterisieren, tabuisiert
und ausgeblendet werden (vgl. etwa: Brinkmann 1999; Ricken 1999; Rieger-
Ladich 2002).
Dass es trotz dieses verstärkten pädagogischen Interesses an Foucault
noch nicht zur Ausprägung einer verbindlichen und damit kanonischen Lesart
von dessen Schriften gekommen ist und er auch innerhalb der Erziehungs-
wissenschaft zu den "immer wieder neu gelesenen, uminterpretierten und
umstrittenen" Autoren zählt, was Axel Honneth - mit Seitenblick auf Walter
Benjamin, dem er dasselbe "Schicksal" attestiert (Honneth 2003: 15) - zu
bedauern scheint, kann freilich mit guten Gründen auch als besondere Chan-
ce betrachtet werden: Eine pädagogische Foucault-Lektüre, die ihn seines an-
stößigen Charakters beraubt und seinen Anfragen die provozierende Kraft
nimmt, indem sie ihn zum neuen Klassiker stilisiert, zeichnet sich derzeit
(noch) nicht ab. Als Beleg für diese Einschätzung mögen die Beiträge des
vorliegenden Bandes dienen, die sehr unterschiedliche Lektüren vorstellen
und in ihrer Gesamtheit wohl kaum geeignet sind, ein einheitliches und beru-
higendes Bild Michel Foucaults zu entwerfen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie
das Anregungspotential der Arbeiten Foucaults für die pädagogische Reflexi-
on zu erproben suchen - und dies in einer Form, die frei ist von Gesten der
Verklärung und unempfanglich gegenüber der Versuchung der Hagiographie.
Vorangestellt ist den Beiträgen, die - jeweils thematisch gebündelt - die
komplizierten Beziehungen von Wahrheit und Ideologie, Freiheit und Macht
sowie Subjektivierung und Gouvernementalität zu erhellen suchen, ein ein-
führender Aufsatz, in dem Nicole Balzer die Foucault-Rezeption innerhalb
der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft rekonstruiert. Dabei identifi-
ziert sie nicht nur unterschiedliche Etappen der Auseinandersetzungen mit
dessen Arbeiten, vielmehr sensibilisiert sie darüber hinaus auch für die be-
sondere Herausforderung, die diese für den pädagogischen Diskurs darstel-
len: Foucault zwinge die erziehungs wissenschaftliche Reflexion gleichsam
dazu, ihre deutlich ausgeprägte Vorliebe für oppositionale Problembeschrei-
bungen und dichotome Argumentationsfiguren aufzugeben und statt dessen
Denkformen zu entwickeln, die sich diesen Zwängen gegenüber immun er-
weisen und sich bemühen, das Zwischen, die Übergänge und die Verflech-
tungen aufzuklären.
10 Norbert RickeniMarkus Rieger-Ladich

Unter der Überschrift Zwischen Wahrheit und Ideologie: methodologi-


sche Herausforderungen sind Beiträge versammelt, die sich insbesondere
von Foucaults frühen Studien, die um epistemische Ordnungen und Regime
des Wissens kreisen, provozieren lassen. Zu Beginn spürt Christiane Thomp-
son den Widersprüchen und Aporien nach, in denen sich eine kritische Erzie-
hungswissenschaft verfing, die noch in den 1980er Jahren auf einen emphati-
schen Begriff der Emanzipation vertraute und eine Rhetorik der Befreiung
bemühte. Mit Blick auf die argumentativen Nöte, die sich in der Folge dieser
Strategie einstellten, skizziert sie Foucaults Arbeiten als alternative und über-
aus reizvolle Bezugsgröße einer Erziehungswissenschaft, die ihre Grundlagen
neu befragt und dabei nicht nur dem Begriff der Kritik, sondern auch dem der
Erfahrung eine besondere Rolle zuweist. Im Anschluss daran stellen Hans-
Christoph Koller und fenny Lüders Foucaults Verfahren der Diskursanalyse
vor und arbeiten - nach einem kontrastierenden Blick auf andere diskurs-
analytische Ansätze - dessen Bedeutung für die erziehungswissenschaftliche
Forschung heraus. Dabei kommen sie zu einem bemerkenswerten Fazit: Ob-
wohl die diskursanalytische Perspektive zweifellos interessante Aufschlüsse
über historische und systematische Fragestellungen der Erziehungswissen-
schaft verspricht, liegen bislang doch kaum materialreiche, an der Methode
Foucaults geschulte Untersuchungen vor. Dirk Rustemeyer hingegen liest
Foucault als Theoretiker der Kontingenz, der in seinen späten Arbeiten Kon-
turen einer paradoxen Pädagogik erkennen lässt, welche die Einsicht in alter-
native Formen des Möglichen mit dem Plädoyer für ein Ethos der Selbster-
ziehung verknüpft. Da diese Wendung jedoch in der Gefahr stehe, die Vor-
aussetzungen jener subversiven Praktiken der Selbstsorge, die Foucault bei
antiken Autoren studiert, zu unterschätzen, skizziert er eine alternative,
machttheoretisch informierte Weiterführung der kontingenztheoretischen
Perspektive. fan Masschelein schließlich entwirft die Konturen einer Päda-
gogik, die e-dukative Praktiken als Möglichkeit begreift, die Gegenwart auf
Zukünftiges hin zu überschreiten und die Grenzen des Bestehenden zu über-
winden: Am Beispiel der ,Erfahrungsbücher' erläutert er, dass Erfahrungen
zwar nicht planbar sind und somit kaum zum Gegenstand eines Curriculums
werden können, dass sie aber gleichwohl eine der wirksamsten Praktiken der
Entunterwerfung darstellen.
Als Zwischen Freiheit und Macht: grundbegriffliche Sondierungen sind
jene Studien betitelt, die den Versuch unternehmen, sich von Foucaults
machttheoretischen Arbeiten anregen zu lassen und in der Folge pädagogi-
sche Praktiken auf neue Weise in den Blick zu nehmen. So sucht Norbert
Ricken in seinem einführenden Beitrag Eigenart und Gewinn der Foucault-
schen Machtjustierungen vor dem Hintergrund bisheriger machttheoretischer
Überlegungen aufzuweisen; zugleich führt seine Rekonstruktion der bei
Foucault nicht systematisch zusammengetragenen Theoreme der Macht zu
Rückfragen, die - am Leitfaden der Relationalität entwickelt - schließlich
auch eine Verschiebung eingewöhnter Verständnisse von Subjektivität nahe
legen und daher geeignet scheinen, die bohrende Frage nach Kritik verändert
Einleitung 11

stellen zu lernen. Im Anschluss daran problematisiert Alfred Schäfer mit sei-


nen Ausführungen eine zentrale BegfÜndungsfigur moderner pädagogischer
Theoriebildung. Da Foucaults Analysen historischer Subjektivierungsprozes-
se nachgewiesen hätten, dass die beliebte Opposition von Freiheit und Re-
pression kaum geeignet sei, jene Praktiken zu erhellen, denen sich ein Sub-
jekt verdanke, plädiert er dafür, sich von elementaren Annahmen der pädago-
gischen Handlungstheorie zu verabschieden: Statt noch länger mit der Fiktion
zu operieren, in verantwortlicher Weise ein souveränes Subjekt erzeugen zu
können, sei es ratsamer, sich an der Unterscheidung von Unterwerfung und
Entunterwerfung zu orientieren. Maarten Simons wendet sich jenen Arbeiten
Foucaults zu, die um die Frage der Biomacht kreisen, und skizziert am Bei-
spiel des europäischen Hochschulraumes die bedrohlichen Folgen, die eine
umfassende Ökonomisierung des Sozialen auslöst: Kommt es zur Durchset-
zung eines ökonomischen Tribunals, werden alle Akteure des wissenschaftli-
chen Feldes einem sich ständig steigernden Verwertungsdruck ausgesetzt, der
allein einer blinden Steigerungslogik verpflichtet scheint. Roland Reichen-
bach greift zum Schluss die Idee der Selbstsorge auf, die in den späten Ar-
beiten Foucaults eine prominente Rolle spielt. Skeptisch schätzt er die Versu-
che ein, aus diesen Überlegungen ein politisches Programm abzuleiten und
einen pädagogischen Entwurf zu entwickeln: Aufgrund normativer Unklar-
heiten und machttheoretischer Defizite warnt er vor der Versuchung, den Be-
griff der Selbstsorge zu einer neuen Leitformel der erziehungswissenschaftli-
chen Reflexion zu küren.
Der Titel der dritten thematischen Einheit lautet Zwischen Hervorbrin-
gung und Unterweifung: Subjektivierung und Gouvernementalität in päda-
gogischer Perspektive. Im Mittelpunkt der hier präsentierten Beiträge stehen
mit der Untersuchung von Subjektivierungspraktiken und der Analyse von
neuen Regierungsformen zwei theoretische Konzepte, die Foucault zwar erst
relativ spät entwickelt hat, die aber bereits sehr intensiv diskutiert und von
unterschiedlichen Perspektiven aus aufgegriffen und weitergeführt werden.
Zu Beginn erläutert Markus Rieger-Ladich Foucaults Rede von Subjektivie-
rung und rekonstruiert die allmähliche Verfeinerung der theoretischen Be-
schreibungsmittel, die es diesem schließlich erlaubte, jene Praktiken, Techni-
ken und Übungen immer genauer zu beobachten und zu problematisieren,
durch die ein Individuum dazu verführt wird, sich als Subjekt zu begreifen.
Mit Blick auf ausgewählte neuere Arbeiten, die diese Perspektive bereits er-
proben, skizziert er das beachtliche Anregungspotential, das Foucaults Unter-
suchungen historischer Subjektivierungspraktiken für die pädagogische Re-
flexion besitzen. Im Anschluss daran wendet sich Rita Casale - nach der
Problematisierung des Verhältnisses von Archäologie und Genealogie - der
Tradition der modemen Ästhetik zu und weist nach, dass sich die Bemühun-
gen um eine angemessene Geschmacksbildung und die Kultivierung der Ge-
wohnheiten auch als verdeckte Subjektivierungspraktiken interpretieren las-
sen: Der Traktat ,Illibro deI Cortegiano' des Baldassar Castiglione aus dem
Jahr 1528, der den vollkommenen Hofmann auf das Bildungsideal der grazia
12 Norbert Ricken1Markus Rieger-Ladich

verpflichtet, gilt ihr dabei als exemplarisches und besonders einflussreiches


Beispiel für die typisch neuzeitliche Verknüpfung von Ethik, Ästhetik und
Erziehung. Ludwig Pongratz ist der erste derer, die neue Regierungsformen
in den Blick nehmen. Zu diesem Zweck richtet er sein Augenmerk auf jene
Diskurse, die gegenwärtig eine grundlegende Reform des Bildungssystems
unausweichlich erscheinen lassen. Die Schule ist dabei von besonderem In-
teresse, weil es in ihr zur Überlagerung zweier unterschiedlicher Machttypen
kommt: Während sie aus der Perspektive der Disziplinarrnacht als repressive
Zwangseinrichtung erscheint, die die Schüler/innen zu beherrschen und zu
unterwerfen sucht, wirkt sie im Kontext der neoliberalen Diskurse um Schul-
entwicklung, die eine Rhetorik des Selbstlernens und der Autonomie bemü-
hen, eher als Instanz einer flexiblen Kontrollgesellschaft, die freilich kaum
weniger gefährlich ist, weil sie die Schülerinnen und Schüler einer unver-
söhnlichen Logik des Wettbewerbs und der Konkurrenz ausliefert. Roswitha
Lehmann-Rommel konzentriert sich ebenfalls auf die aktuellen Diskussionen
um die immer häufiger und dringlicher angemahnte Reform des Bildungssy-
stems. Im Rückgriff auf Foucaults Studien zur Gouvernementalität, die das
intrikate Zusammenspiel von Selbst- und Fremdführungen herausstellen,
identifiziert sie Partizipation, Selbstreflexion und Rückmeldung als gouver-
nementale Regierungspraktiken im Feld der Schulentwicklung, die nicht zu-
letzt deshalb so erfolgreich sind, weil sie ihres semantischen Gehaltes längst
entkleidet wurden. Andrea Liesner schließlich beobachtet das Eindringen
ökonomischer Denkfiguren in den Bildungsdiskurs und die Folgen, die diese
auslösen: Am Beispiel der Entrepreneurship Education, die langsam auch an
deutschen Hochschulen an Bedeutung gewinnt und den risikofreudigen Un-
ternehmer zum neuen Leitbild stilisiert, spürt sie der schleichenden Umschrift
des Bildungsdiskurses nach und sucht jene gesellschaftlichen Kräfte zu iden-
tifizieren, die das Bildungssystem auf eine ökonomische Logik zu verpflich-
ten suchen, die allein von Prinzipien der Konkurrenz und des Wettkampfs or-
ganisiert wird.
Beschlossen werden die einzelnen Beiträge durch eine Bibliographie zur
Foucault-Rezeption in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft, die
Gabriella Schmitz erstellt hat. Auch wenn manches dafür spricht, dass diese
schon bald um neue Titel ergänzt werden müsste, und keinerlei Anspruch auf
Vollständigkeit erhoben wird, liegt damit doch zum ersten Mal eine Biblio-
graphie vor, die die beachtliche Resonanz, die Foucault im pädagogischen
Diskurs in der jüngsten Zeit erzeugt hat, wenigstens ausschnitthaft dokumen-
tiert. Ergänzt wird sie durch eine Mediographie, die ebenfalls von Gabriella
Schmitz besorgt wurde und die wertvolle Hinweise auf Internetadressen ver-
zeichnet. Auch diese könnten sich für die weitere Auseinandersetzung mit
den Arbeiten Michel Foucaults als überaus hilfreich erweisen.
Unser Dank gilt neben den Autorinnen und Autoren der einzelnen Bei-
träge auch Herrn Edmund Budrich, der von der Idee zu diesem Band von Be-
ginn an überzeugt war und uns sehr schnell seiner Unterstützung versicherte.
Darüber hinaus sei an dieser Stelle auch Beate und Marion gedankt, die groß-
Einleitung 13

zügig unzählige Telefonate ertrugen, in denen thematische Feinjustierungen


diskutiert, Rücksprachen mit Autor/innen gehalten und organisatorische Fra-
gen geklärt wurden. Schließlich danken wir auch Bärbel Högner, die uns im
Herbst 2001 eine sehr angenehme Teilnahme an der Frankfurter Foucault-
Konferenz ermöglichte: Da die Idee zu diesem Projekt am Rande der Konfe-
renz entstand, ist sie - ohne es zu wissen - daran (mit)beteiligt.

Literatur

Bourdieu, Pierre (1998): Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie
des wissenschaftlichen Feldes. Konstanz: UVK Universitätsverlag.
Brieler, Ulrich (2003): Blind Date. Michel Foucault in der deutschen Geschichtswissen-
schaft. In: Axel HonnethIMartin Saar (Hrsg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer
Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 311-
334.
Brinkmann, Malte (1999): Das Verblassen des Subjekts bei Foucault. Anthropologische
und bildungstheoretische Studien. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.
Deines, Stefan (2003): Über die Grenzen des Verfügbaren. Zu den Bedingungen und Mög-
lichkeiten kritischer Handlungsfahigkeit. In: Stefan Deines!Stephan Jaeger!Ansgar
Nünning (Hrsg.): Historisierte Subjekte - Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit
und Unverfügbarkeit von Geschichte. Berlin und New York: de Gruyter, S. 63-76.
Eßbach, Wolfgang (1991): Deutsche Fragen an Foucault. In: Franc;:ois EwaldlBemhard
Waldenfels (Hrsg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. FrankfurtIMain:
Suhrkamp, S. 74-85.
Honneth, Axel (2003): Foucault und die Humanwissenschaften. Zwischenbilanz einer Re-
zeption. In: Ders.IMartin Saar (Hrsg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezep-
tion. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 15-26.
Liebsch, Burkhard (1992): Zwischen Epistemologie und Ethik. In: Philosophische Rund-
schau 39, S. 186-213.
Meyer-Drawe, Käte (1990): Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und All-
macht des Ich. München: Kirchheim.
Ricken, Norbert (1999): Subjektivität und Kontingenz. Markierungen im pädagogischen
Diskurs. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Rieger-Ladich, Markus (2002): Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur pädago-
gischen Semantik. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.
Schäfer, Alfred (1996): Das Bildungsproblem nach der humanistischen Illusion. Wein-
heim: Deutscher Studien Verlag.
Schneider, Ulrich Johannes (1991): Foucault in Deutschland. Ein Literaturbericht. In: All-
gemeine Zeitschrift für Philosophie 16, S. 71-86.
Waldenfels, Bemhard (2003): Kraftproben des Foucaultschen Denkens. In: Philosophische
Rundschau 50, S. 1-26.
Nicole Balzer

Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu


denken.
Linien der Foucault-Rezeption in der
deutschsprachigen Erziehungswissenschaft

"Warum sollte man Foucault lesen? Nicht, um die Wahrheit über ihn zu sagen. Viel
eher, um uns selbst zu denken und uns anders zu denken. Denn Foucault ist nur in
dem Maße interessant, als er anders ist. Man muß ihn daher auf eine Art und Weise
lesen, die ihn so verschieden wie nur irgend möglich macht. Dann erst ist er wirklich
erhellend, und dann erst erscheint das Charakteristische unserer Gegenwart."
Franr;ois Ewald
Blickt man auf die Rezeption der Arbeiten Michel Foucaults in der deutsch-
sprachigen Erziehungswissenschaft, so ist - weitgehend auch heute noch -
der Einschätzung nur zuzustimmen, die Ludwig A. Pongratz bereits 1989 no-
tierte: "Die Wucht seiner Analysen scheint in der deutschen pädagogischen
Diskussion bisher kaum Resonanz zu finden" (Pongratz 1989b: 57). So ließ
sich bis Ende der 1980er Jahre die erziehungswissenschaftliche Profession
nur selten von Foucault ,irritieren' und begegnete ihm überwiegend mit Igno-
ranz, Abwehr oder gar Denunziation. Erziehungswissenschaftler nahmen
Foucaults Analysen zumeist als Angriffe gegen Pädagogik wahr, die sie zu
widerlegen, in (tradierte) Ordnungsmuster einzuordnen oder - oft nur implizit
- für ein Plädoyer gegen Erziehung überhaupt aufzunehmen suchten. Erst seit
Anfang der 1990er Jahre und verstärkt seit einigen Jahren wird nun auch in
der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft immer häufiger an Foucault
angeschlossen. Während die wenigen Ausnahmen der 1980er Jahre, die
Foucaults Anregungspotential ausführlicher diskutierten wie auch für eigene
Analysen nutzten, überwiegend (bildungs-)historische Fragen an und mit
Foucault stellten, ist es nun vor allem die 'Frage nach dem Subjekt', die ins
Zentrum der Auseinandersetzung gerückt ist. Entlang dieser beiden Pole
,Bildungsgeschichte' (1) und ,Subjektkritik' (2) hat sich inzwischen die päda-
gogische Rezeption vielfältig erweitertl: zum einen dadurch, dass die päda-
gogischen Anschlüsse an Foucault sich zunehmend nicht mehr alleine für die
"deskriptiven Leistungen des Konzepts pädagogischer Disziplinarrnacht"
(Prondczynsky 1992: 242) interessieren, sondern den Facetten der Arbeiten
Foucaults sowie jenen seiner ,Analytik der Macht' nachgehen, zum anderen

Vgl. die Beobachtungen zur pädagogischen Rezeption Foucaults in Prondczynsky


(1992), Coelen (1996), Fromme (1997) und Ehrenspeck (2001).
16 Nicole Balzer

aber auch dadurch, dass sie die zentralen Begriffe Macht, Wissen und Sub-
jektivität nicht mehr (nur) als voneinander getrennte Kategorien diskutieren,
sondern deren Zusammenhang fokussieren, treiben sie die (Selbst-)Kritik der
Pädagogik voran und forcieren die Frage nach erziehungs- und bildungstheo-
retischen Konsequenzen der (Subjekt-) Kritik Foucaults (3).
Die pädagogische Rezeption Foucaults kann daher, so meine leitende
These, als eine Geschichte des zunehmenden Versuchs und der mit ihm ver-
bundenen Schwierigkeiten gekennzeichnet werden, oppositionale Bestim-
mungen wie u.a. Freiheit versus Macht, Autonomie versus Heteronomie oder
Selbst- versus Fremdbestimmung hinter sich zu lassen. Erst wenn aber
Foucaults Analysen als Überlegungen gelesen werden, ein ,Denken in Oppo-
sitionen' und die darin suggerierte Möglichkeit, sich auf eine der Seiten stel-
len zu können, als Effekt von Macht sichtbar zu machen und dieses Denken
zu verlassen, erst dann ließe sich auch eine Selbstkritik der Pädagogik radi-
kalisieren, in der die Arbeiten Foucaults als Anlass wie als Instrumentarium
einer veränderten pädagogischen Selbstverständigung fungieren könnten2 • So
ringen die pädagogischen Anschlüsse an Foucault immer wieder darum, der
"fatalen Neigung zum Denken in Dichotomien" (Rieger-Ladich 2002b: 171)
zu widerstehen: Während die einen Foucaults Arbeiten entlang traditioneller
oppositionaler Denkfiguren aufnehmen oder in diese zurückzwingen, sU(~hen
andere, pädagogisches Denken und Handeln gerade aufgrund der in ihnen
implizierten oppositionalen Bestimmungen zu problematisieren und jenseits
dieser zu reformulieren.

1. Bildungsgeschichtliche Perspektiven: Zur vermeintlichen


Oppositionalität von Macht und Freiheit
Eine erste Bedeutung haben die Arbeiten Foucaults insbesondere für die bil-
dungshistorische Reflexion innerhalb der Erziehungswissenschaft erlange: so
hat Ende der 1980er Jahre insbesondere Ludwig Pongratz immer wieder an-
gemahnt hat, "sich der denkerischen Herausforderung Foucaults zu stellen"
(Pongratz 1990: 290) und dessen Instrumentarium auch bildungshistorisch
für eine ,Dekonstruktion' der Pädagogikgeschichte (ders. 1989a) zu nutzen.
Erklärtes Ziel dabei war, die eingewöhnte Justierung der Pädagogikgeschich-
te als einer weitgehend unkritisch verfassten Fortschritts- und Humanisie-
rungsgeschichte zu problematisieren. Wendet man sich aber den bildungshis-
torischen Arbeiten genauer zu, die einen solchen Perspektivenwechsel mit

2 Nicht - dies sei ausdrücklich betont -, um Foucault zu einem auch pädagogischen


Klassiker zu stilisieren, sondern um sein , vagabundierendes Denken' (Ewald) päda-
gogisch fruchtbar zu machen.
3 Vgl. auch Zymeks frühe Betonung der Bedeutung Foucaults für die Bildungshistorie
(1983).
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken 17

Foucault versuchen, ist nicht zu übersehen, dass die "Sichtweise ,Schwarzer


Pädagogik' [ ... ] zur dominanten Orientierung für Erziehungs- und Pädago-
gikgeschichten" (Prondczynsky 1992: 242) gerät. Wenig überraschend ist
daher, dass in diesen (ersten) bildungshistorischen Arbeiten im Anschluss an
Foucault (nur) Die pädagogische Maschine (vgl. Dreßen 1982) in den Blick
genommen wird4 : zum einen, weil in ihnen Pädagogik und Schule nahezu
ausschließlich als Ausdruck wie "Instrument der Macht" (ebd. 8) gelten; zum
anderen aber, weil sie Erziehung vorwiegend als (bloßen) Prozess der "Anpas-
sung" (ebd. 7) kennzeichnen, der dem Zögling ,,keine Freiräume" (Glantschnig
1987: 127) lässt. Damit aber wird Macht entgegen den Intentionen Foucaults
zumeist repressiv verstanden und negativ beschrieben - so, als ob diese "nur
, ausschließen' , , unterdrücken' , , verdrängen' , , zensieren' , , abstrahieren' ,
,maskieren', ,verschleiern' würde" (Foucault 1976: 250). Diese, nicht unprob-
lematische bildungsgeschichtliche Perspektive sei exemplarisch an den Ar-
beiten von Pongratz (a), Plewig (b) und Glantschnig (c) verdeutlicht, die mit
jeweils unterschiedlicher inhaltlicher Schwerpunktsetzung versucht haben,
durch Rückgriff auf, Werkzeuge' Foucaults die verborgenen Effekte auch der
Pädagogik ans Licht zu bringen.
(a) So hat Ludwig A. Pongratz in seinen "Streifzüge[n] durch die Schulgeschichte" (pon-
gratz 1989b: 57) den Versuch unternommen, "die gängige Schulgeschichte ,gegen
den Strich' zu bürsten" (ebd. 73), indem er den Wandel der Schule im Prozess der ge-
sellschaftlichen Disziplinierung mithilfe der von Foucault beschriebenen ,Schwellen'
- dem Übergang von Renaissance zu Klassik zur Modeme - und den entsprechenden
Machttransformationen - von der Repressions- über die Integrations- zur Diszip-
linarrnacht - untersucht hat. Die Funktion der Schule in diesem Prozess komme erst
dann in den Blick, wenn man sie als ,Dispositiv der Macht' begreife und "als histori-
sche Antwort auf das Disziplinierungsproblem gelehriger Körper" (ders. 1990: 295)
zu lesen versuche. Pongratz' zentrale Prämisse lautet daher: "Was [... ] Schule ge-
nannt wird, gewinnt seinen unterscheidbaren Sinn aus dem jeweiligen Machttypus, in
dem sie analysiert wird" (ders. 1989b: 151). Die von Foucault unterschiedenen
Machtformationen spiegeln sich, so verdeutlicht Pongratz, in den Ausprägungen von
Erziehung, Bildung und Schule der jeweiligen Epochen: Während die Bildungsidee
im "Zeitalter der Repressionsmacht" auf den "Aufbau eines souveränen, körperlichen
Habitus" (ders. 1990: 296) zielte, sind die pädagogischen Maßnahmen der Integra-
tionsmacht auf einen ,Innenraum' gerichtet, den sie jedoch allererst hervorbringen,
indem sie den "Aufbau von integrativen Ordnungsschemata im Subjekt" (ebd. 298)
befördern. Gegenüber dieser Integrationsmacht hat die pädagogische Disziplinarrnacht
die Zugriffsformen weiterentwickelt: durch "architektonische und schulorganisatori-
sche Arrangements" mache sie die Subjekte "zum Koproduzenten ihrer eigenen Ef-
fekte" (ebd. 301). Die neue Machttechnik, die "auf eine differenzierte Behandlung
gelehriger Körper zur Steigerung ihrer nutzbringenden Kraft wie ihrer Fügsamkeit"
abstelle, spiegele sich in den Strategien der Schule als ,Dispositiv der Macht': ,,Zerle-

4 Wolfgang Dreßen (Dreßen 1982), der in seiner Arbeit Belege für Foucaults Untersu-
chungen für den deutschen Raum präsentiert, folgt als einer der ersten dieser Rezepti-
onslinie; Erziehung wird von ihm dabei als Instrument der Durchsetzung "allgemei-
neer) Selbstregulierung" (ebd. 8) in der bürgerlichen Gesellschaft gekennzeichnet und
ist daher direkt daran beteiligt, "den Eigenwillen der einzelnen zu brechen" (ebd. 9).
18 Nicole Balzer

gung, Arrangement und produktive [] Reorganisation" (ders. 1990: 299f.). Auf Seiten
der Lehrer erfordere sie neben der permanenten Überwachung, Kontrolle und Prüfung
eine Strafpraxis, die im strengen Blick des Lehrers sich bündeln lässt: in diesem Blick
ist "die Sanktionsgewalt des ganzen Systems in stummer Form enthalten" (ebd.). Je-
doch hat das Schuldispositiv der Disziplinarrnacht, nachdem es gegen Ende des 19.
Jahrhunderts allgemein wurde, eine ,sanfte Wende' vollzogen, denn die Reorganisation
der Lernsituation innerhalb der reformpädagogischen Bewegung - "von der alten
Lern- und Drillschule zu dynamischeren, innengeleiteten Arbeitsformen" - müsse als
eine neue Disziplinartechnik verstanden werden, die den Prinzipien des ,Panoptismus'
folgt: nach ,innen' gerichtet ziele sie in einer "sanften Disziplinierung" darauf, "mög-
lichst früh Fremd- in Selbstregulierung zu überführen" (ebd. 305). Für die nun propa-
gierte "Selbsterziehung" werde die "Fiktion von Autonomie" (ebd. 306) bedeutsam;
diese aber wird zugleich durch einen "Gemeinschaftsmythos" (ders. 1989b: 218) und
die Fixierung der Individuen in einer "doppelte[n] Position" (ders. 1990: 306) - sie er-
fahren sich "als Subjekte von Prozessen [... ], denen sie dennoch vollständig ausgelie-
fert bleiben" (ebd.) - eingeschränkt. Damit stehen die reformpädagogischen Überle-
gungen, die sich als "Befreiungsentwurf ins Spiel" (ders. 1989b: 218) bringen, in ih-
ren Effekten der "verflossenen Disziplinaranstalt" (ders. 1990: 306) in nichts nach.
Pongratz' Analysen der schulgeschichtlichen Quellen bestätigen Foucaults Analysen
"auf Schritt und Tritt") (ders. 1989b: 244) und erlauben, den oberflächlichen Ein-
druck, dass die gegenwärtige Schule mit der Drillanstalt des 19. Jahrhunderts" (ebd.
230) nicht mehr viel gemein habe, als ,Täuschung' zurückzuweisen: "Schule und
Schultheorie bilden in unserer Zeit mehr denn je einen Macht/Wissen-Komplex"
(ebd.). Damit ist aber nicht nur die historische Kontinuität offenkundig: "Auch weiter-
hin bleibt die Disziplinargesellschaft mit ihren Intentionen im Schulsystem voll wirk-
sam" (ders. 1990: 307). Vielmehr stellt Pongratz' bildungsgeschichtliche Dekonstruk-
tion darauf ab, die vermeintliche ,Humanität' der Pädagogik bzw. der ,Humanisie-
rung' durch Pädagogik selbst als "Effekt und Instrument komplexer Machtbeziehun-
gen" (Foucault 1976: 397) auszulegen (vgl. auch Helsper 1990).
(b) In ähnlicher Perspektive bilanziert auch Hans-Joachim Plewig seine Analyse der
Entwicklung der Jugendfürsorge als einen bloßen "Mythos von der zunehmenden
Humanisierung und Liberalisierung" (Plewig 1993: 326). Mithilfe dreier fiktiver Ge-
schichten ,vom Leiden des jungen Willy' in den Jahren 1789, 1925 und 1992 stellt
Plewig dar, wie der 17jährige, stramillig gewordene Willy von sich intensivierenden
Machtmechanismen erfasst und durchdrungen wird. Dabei muss die Geschichte der
Kinder- und Jugendfürsorge wie des Kindeswohl-Denkens und dessen Erziehungs-
konzepts als Geschichte des "Begehren[s] nach Wissen" gelesen und als eine der
"Ausgestaltung der Mikrophysik der Macht" (ebd. 327) verstanden werden; der
"Wille zum Wissen" ist aber nichts anderes als ein "Wille zur Macht" (ebd. 328). Die-
sem, Willen zur Macht' spürt Plewig in seinen folgenden Studien nach: während mit
dem Besuch des Armenpflegers Petersen (1789) bei der Familie Becker der Beginn
der Erfassung markiert werden kann, indem jener aus ökonomischen Interessen "ge-
naueste Erkundigungen" (ebd. 324) einholt, fungiert in Plewigs zweiter Geschichte
(1925) der Fürsorger Flug, der den Halbstarken Willy vor dem Jugendgericht als
"verwahrlost, haltlos, [... ], erzieherisch unzugänglich und [... ] antisozial" (ebd. 329)
vorstellt, nicht mehr nur im Dienste der Vermeidung von Armut und Devianz, sondern
als Repräsentant der "Hochzeit sozialdisziplinierender Initiative" (ebd. 335). Plewigs
dritte Geschichte (1992), in der Willy als Vielfachtäter registriert ist und "die Palette
aktueller JGG-Sanktionen" (ebd.) durchläuft, verdeutlicht anhand des Berichts des
Sozialarbeiters Sanft über die verschiedenen Stationen Willys vom Sondertagesheim
bis zur Untersuchungshaft, dass die "Vertreter der SozialparbeitiSozialpädagogik ei-
nen historisch noch nie dagewesenen Zugriff auf ,deviante' junge Menschen erhalten
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken 19

haben" (ebd. 336). Was zunächst in Fonn einfacher Berichterstattung auf einen klei-
nen Personenkreis beschränkt bleibt, wird in vielfliltigen Vorgängen der Diskursivie-
rung und Materialisierung mehr und mehr zu einer Fonn systematischer Aufzeich-
nung, die immer mehr Betroffene einschließt und die Fürsorger zunehmend zu ,Wis-
senssamrn\em' werden lässt, die den Humanwissenschaften als "Produzenten von
,Wahrheit' über Jugend, Familie, Abweichung, Ursachen und Maßnahmen" (ebd.
333) in die Hände spielen. Gegen den Blick der ,Kinderretter' will Plewig den Wan-
del hin zum Ausbau des Sozialstaats sowie gegenwärtige Entwicklungen anders lesen:
"Die damalige wie heutige Praxis [... ] muß als Geschichte der Wissens-Praktiken er-
forscht werden" (ebd. 339). Festzuhalten bleibt: Auch für Plewig war (und ist) die
(Sozial-)Pädagogik angesichts ihrer Funktion im Rahmen der Aufklärung eine lfagen-
de Disziplinarmacht - vor allem aufgrund ihrer "Schwarze[n] Seite" (ebd. 341).
(c) In der Linie der genannten Autoren markiert schließlich auch Helga Glantschnig die
Pädagogik "zugleich als Wissenschaft und Instrument der Macht" (1987: 14). Leitend
für ihren Versuch, die "Selbstaufklärung der Aufklärung" (ebd. 15) durch Analyse der
Theorie und Praxis der Philanthropen weiterzutreiben, ist - neben den Überlegungen
zur Disziplinannacht - die von Foucault als "Hauptritual der Wahrheitsproduktion"
(ebd. 142) beschriebene Geständnispraxis, welche als eine der vorherrschenden (Er-
ziehungs-)Techniken der Philanthropen die Klassifizierung des Kindes ennöglichte.
Anhand dieses "diffizile[n] Instrumentarium[s] der Wissenserzwingung" (ebd. 143),
das sich bevorzugt auf die kindliche Sexualität richtete, versuchten die Philanthropen,
den Zöglingen "noch die letzten Geheimnisse zu entreißen" (ebd. 13). Doch lieferten
diese der "technisch-positiven[n] Macht" (ebd.) nicht nur das Wissen um den Men-
schen; vielmehr galt ihnen die "Ausforschung des Kindes" (ebd. 139) zugleich als
"Voraussetzung jeder Besserung und Umerziehung" (ebd. 142) überhaupt. Erziehung
und pädagogischer Diskurs des 18. Jahrhunderts bauen auf die "Maschine als Meta-
pher für den Körper" (ebd. 37): Der kindliche Körper werde zerlegt bis ins kleinste
Detail, um ihn dann "zur funktionstüchtigen Maschine" (ebd. 13) zusammenfügen zu
können. Die genaue schriftliche Erfassung und Auflistung seitens der Erzieher, das
tagtägliche Messen des Verhaltens durch "Marken, Punkte und Billets" (ebd. 130)
ziele insbesondere darauf, ,,menschliche Bewegungen aufschreibbar, kontrollierbar
und reproduzierbar zu machen" (ebd. 49). Dabei reguliere der Erzieher, der unausge-
setzt den Körper des Zöglings fixiere, die Bearbeitung des Körpers zum Zwecke der
Einwirkung auf die moralische Gesinnung (vgl. Gaebe 1991). Das so entstehende
"Netz von Kontrollbeziehungen" und der philanthropische "Disziplinarraum" (ebd.
126f.) zielen, so Glantschnig in der Linie Pongratz', darauf ab, ,disziplinierte Subjek-
te' durch "Blicke statt [durch] Schläge" (ebd. 112) hervorzubringen (vgl. Gstettner
1981). Erst diese Justierung aber erlaubt einen veränderten Blick auf die Ambivalenz
der Pädagogik, indem sie die pädagogische Rhetorik, in der "sich das Kind als eigenes
Wesen abzuzeichnen beginnt" (ebd. 14), mit der machttheoretischen Kennzeichnung
der Pädagogik als "einer der vielfältigen ,Disziplinen', die [...] für die optimale Nut-
zung der menschlichen Kräfte sorgen, für ihre Kontrolle und Regulierung" (ebd. 12f.),
verknüpft.
So eröffnen die bildungshistorischen Analysen zunächst einen veränderten,
"gegen alle humanistischen Ideologien" (FoucauIt 1973: 291) gerichteten und
insofern durchaus ideologiekritischen Blick, indem sie die Dekonstruktion
der Pädagogikgeschichte als eines Fortschritts- und Emanzipationsprozesses

5 Zur Bedeutung Foucaults für die Sozialpädagogik vgl. auch die neueren Überlegun-
gen in Maurer 2001 wie Szemeredy 2001.
20 Nicole Balzer

erlauben und verdeutlichen, dass und wie Pädagogik an der Durchsetzung der
Disziplinarmacht beteiligt ist bzw. ihre Bedeutung dieser allererst verdankt.
Was so zwar als Perspektivengewinn aufgenommen werden kann, ist jedoch
auf mancherlei Weise auch problematisch: nicht nur, weil die jeweiligen
Kennzeichnungen von Erziehung als "totale[r] Kontrolle" (Glantschnig 1987:
13), als "Konditionierung" (ebd. 130), "Unterdrückung" oder "Manipulation"
(Gstettner 1981: 196) die produktiven Effekte der Machtmechanismen ver-
decken; auch nicht nur, weil dazu widerstreitende Momente schlicht ausge-
blendet bleiben; sondern vor allem, weil sie in eine bloß oppositionale Be-
stimmung von repressiver Macht und ermöglichender Freiheit zwingen, die
nur eine mehr oder weniger "aporetische Kritik pädagogischer Institutionen"
(Prondczynsky 1992: 242) erlaubt und schließlich dazu verführt, selbst auf
vermeintlich ,verschüttete' pädagogische (Humanitäts-)Ideale und bessere
Seiten und Intentionen von Pädagogik und Schule zu verweisen, ohne diese
ihrerseits machttheoretisch wieder einholen zu können. 6 Dadurch aber gerät
Pädagogik "gleichsam im Schlagschatten ihrer aufklärerischen Intentionen"
(Pongratz 1988: 165) zum ,Doppelgänger der Macht'. Angesichts dessen ist
dann kaum verwunderlich, wenn - auch mit Blick auf sozialwissenschaftliche
Rezeptionsmuster insgesamt (vgl. Breuer 1987) - zunehmend Widersprüche
und Inkonsistenzen die Wahrnehmung Foucaults bestimmen.
In diese Richtung argumentiert denn auch Suzanne Marchand, die in ih-
rer Analyse "der Geschichte des Bildungsbegriffs in der Ära nach Napoleon"
(Marchand 1997: 326) zwar das "Auftauchen der Bildung" als eine neue "Art
von ,Technologie des Subjekts'" (ebd. 337) zu rekonstruieren sucht und so
das "bürgerliche Ideal der freien Selbstverwirklichung" (ebd. 340) als eine
veränderte Machtfigur lesbar macht, doch aber dann die für sie mit Foucault
verbundenen Schwierigkeiten "konzeptueller", "empirischer" und "morali-
scher Art" (ebd. 341) schwerer gewichtet und daher ein insgesamt skepti-
sches Fazit der pädagogischen Fruchtbarkeit Foucaults zieht: Foucault laufe
nicht nur Gefahr, die "vormoderne Vergangenheit zu romantisieren", da er es
versäume, "auch die Vorteile der Diffusion und Diversifizierung von Macht
und Herrschaft zu würdigen" (ebd. 345f.); vielmehr führe dessen machttheo-
retische Perspektive zu einer letztlich "irreführenden Interpretation der Ver-
gangenheit", so dass Foucault weder zur Perfektion der "hohe(n) Kunst histo-
rischer Forschung und Interpretation" beitragen könne, noch uns "mit dem
intellektuellen Rüstzeug versorgen [kann], das wir brauchen, um verantwort-
lich mit dem Vermächtnis der Aufklärung umzugehen" (ebd.).
Zu prüfen aber wäre nun mancherlei, ist doch nicht ausgemacht, ob im
Anschluss an Foucault aus schul- und bildungshistorischer Sicht tatsächlich
"unversehens" (Prondczynsky 1992: 242) auf diese Weise argumentiert wer-

6 Exemplarisch sei hier die Arbeit von Rapp-Wagner genannt, die am Schluss ihrer -
m.E. die pädagogische Rezeption allzu verkürzenden - Arbeit zum Verhältnis von
"Postmoderne(m) Denken und Pädagogik" (Rapp-Wagner 1997) dazu aufruft, die
einstmals "hohen Ziele" (ebd. 433) von Bildung und Erziehung wieder zu erinnern
und zur Geltung zu bringen.
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken 21

den muss, ob also Pädagogik nur als repressives Machtinstrument "an der
Unterwerfung und produktiven Ausweidung ihrer Adressaten" (Pongratz
1988: 165) beteiligt erscheinen muss.? Vielleicht aber ist es weniger einem
"durch Foucaults Optik reduzierten Blick" (Prondczynsky 1992: 242; Her-
vorhebung N.B.) als vielmehr einem ,Foucaults Optik reduzierenden Blick'
geschuldet, dass die bildungshistorischen Arbeiten immer wieder in die Op-
position von Freiheit und Macht zurückfallen und so - mehr oder weniger -
an der Opposition von Pädagogik und Macht festhalten; die Vermutung, dass
manche Schwierigkeiten der Rezeption auch damit zusammenhängen, dass -
auch bildungshistorisch - eher einseitig auf Überwachen und Strafen (v gl.
Foucault 1976) zurückgegriffen worden ist, liegt durchaus nahe (vgl. Lemke
1997).

2. Subjektkritische Perspektiven: Zur vermeintlichen


Oppositionalität von Autonomie und Heteronomie
Die bisher wohl größte Aufmerksamkeit innerhalb der deutschsprachigen Er-
ziehungswissenschaft hat Foucaults Kritik des abendländischen Subjektden-
kens erhalten: riefen seine Thesen von der "junge[n] Erfindung" und des
"baldige[n] Ende[s]" (Foucault 1971: 462) des Menschen zunächst schnelle
Zurückweisungen hervor8 , so sind es seit Beginn der 1990er Jahre die viel-
fältigen Facetten der Foucaultschen Subjekt-Kritik, welche in der nun ver-
mehrt einsetzenden Rezeption im Mittelpunkt stehen. Doch während die ei-
nen durch Foucaults Subjektkritik das ,Ende der Bildung' eingeläutet sehen
und daher dessen Überlegungen weitgehend zurückzuweisen suchen (1), be-
tonen die anderen die angesichts der Krise der neuzeitlichen Subjektivität un-
ausweichliche Dringlichkeit der Neubestimmung von Bildung (und Erzie-
hung) gerade entlang der Foucaultschen Kritik (2). Beide Rezeptionslinien
aber verführen letztlich zu oppositionalen Argumentationsstrukturen, die in
alte Blockierungen zurückzwingen. Das Anregungspotential der Subjektkritik
Foucaults wird jedoch - und darauf verweist eine dritte Rezeptionslinie (3) -
für die Pädagogik um so größer, wenn seine Arbeiten als Versuche rekon-
struiert werden, oppositionale Denkfiguren zu verlassen und diese selbst nach
ihren Machteffekten zu befragen.

7 Garbes Überlegungen stellen wohl eher eine Ausnahme dar, nimmt sie doch Foucaults
Analysen zur Überprüfung der "feministische(n) Repressionshypothese" (1983: 69)
auf. Entlang des Foucaultschen Machtverständnisses spürt sie gegen die "bislang
praktizierte, ideologiekritisch orientierte Lektüre" (ebd. 66) und "gegen den in diesem
implizierten Machtbegriff' (68f.) der "Konzeption des Weiblichen" sowie der "heim-
liche(n) Macht der Frauen" (ebd. 66) in den Schriften Rousseaus nach.
8 Vgl. dazu exemplarisch die (zu) generalisierende Einschätzung der ,Postmoderne' als
einer neuen ,Antipädagogik' in Benner/Göstemeyer 1987 wie - differenzierter - auch
Müller 1990.
22 Nicole Balzer

(1) So ließe sich in einer ersten Rezeptionslinie die Ambivalenz der pädago-
gischen Rezeption verdeutlichen und als Versuch lesen, ,mit und gegen
Foucault' zugleich zu argumentieren: was zunächst durchaus als kritische
Anregung und Herausforderung durch die Subjektkritik Foucaults wahrge-
nommen wird, gerät schließlich mit Blick auf mögliche "bildungstheoretische
Konsequenzen" (Fomeck 1993: 155) zu einer Verteidigung des ,Bildungs-
denkens', lege doch die - archäologisch wie genealogisch betriebene - Be-
streitung der Autonomie des Subjekts sowie die (Über-)Betonung seiner He-
teronomie eine Verabschiedung von Bildung nahe, gegen deren Infragestel-
lung am klassischen Bildungsdenken festzuhalten sei.
(d) So stellt Malte Brinkmanns Studie Das Verblassen des Subjekts bei Foucault einen
weit ausgearbeiteten Versuch einer Foucault-Lektüre dar, der der "ungeheure[n] Her-
ausforderung" (1999: 14) der Subjektkritik Foucaults insgesamt nachzugehen versucht
und angesichts der Verabschiedung des "humanistische[n] und aufklärerische[n] Fun-
dament[s]" (ebd. 12) von Pädagogik, Bildungstheorie und Anthropologie diese neuer-
lich zu begründen sich vornimmt. Doch Foucaults Weichenstellungen - so Brink-
manns durchgängiger, sich an Schütz orientierender Befund9 - gewähren letztlich kei-
ne überzeugende pädagogische Perspektive: angesichts der genealogischen Demonta-
ge des ,autonomen Subjekts' wäre Bildung "nicht nur nicht mehr möglich" (ebd. 257),
sondern ihrerseits selbst bloß "verkappte Macht- und Wissensstrategie" (ebd. 307)
und daher nichts anderes als das "Gegenteil aller aufklärerischen und humanistischen
Ambitionen" (ebd. 257). Brinkmanns Einwände zielen daher auf zweierlei: erstens ist
überaus fraglich, ob "sich das pädagogische Handeln und Denken in der Überwa-
chungs- und Disziplinierungsfunktion" bereits erschöpfe, so dass nun umgekehrt
Foucaults "Reduktion der Pädagogik" (ebd. 262f.) kritisch in den Blick kommt 10 ;
zweitens setzt - und dies ist der Kern der Zurückweisung Foucaults durch Brinkmann
- Foucaults Kritik des Subjekts selbst eine "bestimmte Vorstellung des Menschen von
sich selbst" (ebd. 271) bereits voraus, so dass nun umgekehrt nach Foucaults "Denkfi-
gur der restituierten, aber verschwiegenen Anthropologie" (ebd. 53) gefragt werden
kann. Gerade weil sich in Foucaults Arbeiten eine anthropologische Vorstellung "der
erfahrenden, befreiten, zerrissenen und endlichen Existenz" (ebd. 64) nachzeichnen
lasse, gerate Foucault in einen (selbstwidersprüchlichen) ,Zirkel'; sein ,Antihuma-
nismus' sei daher als ,Gegenhumanismus' und ,Gegenanthropologie' zu lesen, der
dazu zwinge, Anthropologie und Humanismus zwar gänzlich anders zu denken (vgl.
ebd. 312), nicht aber diese zu verabschieden erlaube. Brinkmanns zentrales Argument
ist dabei die Prämisse einer ebenso nicht hintergehbaren wie nicht ursprünglichen
Selbstbezüglichkeit: "Mit der Frage nach sich selbst gerät der Fragende in einen
Kreis, in dem er sich selbst aus sich selbst nicht vor sich bringen kann und in dem er
nicht hinter sich kommt, ohne sich selbst in einer bestimmten Weise schon vorauszu-
setzen" (ebd. 271). Mit dieser Weichenstellung versucht Brinkmann nun, die, Verab-
schiedung des Subjekts' auch in bildungstheoretischer Absicht zu revidieren: denn
lassen sich eine, wenn auch "reduzierte" (ebd. 15) Anthropologie sowie eine Redukti-
on von Pädagogik nachweisen, dann kann Pädagogik nach wie vor auf "das Ziel oder
das ,Projekt' einer Bildung" (ebd. 307) verpflichtet werden. Insgesamt zeichnen sich

9 Vgl. dazu exemplarisch die eher methodologisch justierten Überlegungen von Schütz
1989, 1991 und 1992.
10 In ähnlicher Perspektive argumentiert auch Coelen (1996), der in seiner Problemati-
sierung der Pädagogik als einer "Geständniswissenschaft" (ebd. 28) diese "Sichtweise
auf Pädagogik" (ebd.) als verkürzt herauszustellen versucht.
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken 23
Brinkmanns Analysen durch eine durchaus umfassende, allerdings die Spätschriften
durchgängig ausklammernde Rezeption Foucaults aus; auch wenn sein Versuch,
Foucault in seinen Schriften eine ,revidierte' Anthropologie und insofern einen ,revi-
dierten' Humanismus nachzuweisen, überzeugend ist, so ist doch - neben manchen
Einschätzungen der Pädagogik als einer bloßen "Konditionierungs maschine" (ebd.
307) - insbesondere seine Schlussfolgerung daraus, von einer Revision auch der Bil-
dungstheorie gerade abzusehen, überaus problematisch. Diese aber verdankt sich auch
einer eigentümlichen Wahrnehmung der Problematik des ,assujettissement' (ebd. 305;
vgl. Butler 2001), die sich gerade nicht in den Gegensatz von "subjekttheoretischem
Idealismus" und "machttheoretischem Soziologismus" (Brinkmann 1999: 264) pres-
sen lässt, sondern strikt relational ausgelegt werden muss (vgl. Rieger-Ladich, in die-
sem Band).
(e) Schärfer als Brinkmann betont Hermann-Josej Fomeck in seinem "Nachweis der
Aporien" (Forneck 1993: 155) Foucaults die Unvereinbarkeit genealogischen und bil-
dungstheoretischen Denkens: auch wenn die klassische Bildungstheorie durchaus als
,,Entwicklungstheorie des modemen Epistemes" (ebd. 162) gelesen werden kann und
daher ihre Existenz allererst ,jener Archäologie der Modeme" (ebd. 155) verdanke, so
müsse mit dem ,Verschwinden des Menschen' unweigerlich auch die Bildung "im
Treibsand der Geschichte" (ebd. 172) verschwinden. Im Gegensatz zu Brinkmanns
Abwehrversuch sucht Forneck daher ein verändertes Verständnis von Bildung da-
durch zu entwickeln, dass er die These Foucaults von der "Selbstauflösung" (ebd.
171) der Humanwissenschaften bzw. vom "Verschwinden des Menschen" (ebd. 169)
zurückweist und darauf hinweist, dass sie "eine entscheidende logische Schwierigkeit
in sich" (ders. 1992: 70) berge, gelinge sie doch nur aufgrund der "strukturalistischen
Grundannahme, daß das episteme eine dem Menschen präexistente Struktur darstellt,
die die Diskurse festlegt, und es nicht das Erfahrung verarbeitende, erkennende Sub-
jekt ist, das diese Struktur hervorbringt" (ders. 1993: 171). Foucaults Kritik der tran-
szendentalen Verdoppelung des Subjekts sei daher sowohl zuzustimmen als auch
durch die Ablösung des bewusstseinsphilosophischen ,episteme' durch das "Verstän-
digungsparadigma" (ders. 1992: 22) zu entgehen. Mit dem "Begriff des Bildungsdis-
kurses" sei daher darauf hinzuweisen, dass es nicht mehr um die "Bestimmung des
Prozesses im Subjekt" gehe, sondern um "die Bestimmung des Prozesses in der Bil-
dungsgemeinschaft" (ebd. 193); Bildung sei denn auch als der Prozess zu verstehen,
"in dem qua Intersubjektivität Subjekte entstehen" (ebd. 196). Fraglich ist jedoch
nicht nur, ob es Forneck gelingt, "die Subjektzentrierung der abendländischen Bil-
dungstheorie zu verlassen" (ebd. 193) und den "Bildungsprozeß als Einheit von
selbst- und fremdbestimmten Momenten zu konzipieren" (ebd. 208), gilt ein Subjekt
doch dann als gebildet, "wenn es seine eigene, kommunikativ vermittelte Bildungsge-
schichte rekonstruieren kann" (ebd. 263); fraglich ist auch, warum Forneck, obwohl er
durchaus die "fundamentale Funktion" (ebd. 1993: 162) der modemen Subjektvor-
stellung im Prozess der Transformation der Machtmechanismen skizziert, deren Kon-
sequenzen zurückweist, indem er eine "ideale Kommunikationsgemeinschaft" (ders.
1992: 196) als möglich behauptet, ohne Foucaults Vorbehalten gegenüber der Mög-
lichkeit eines solchen "Zustand[s] der Kommunikation [...] worin die Wahrheitsspiele
ohne Hindernisse, Beschränkungen und Zwangseffekte zirkulieren können", wie sei-
ner Betonung, dass "es keine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen geben kann" (Fou-
cault 1985: 25), ausdrücklich nachzugehen.
(2) Die hier nur angedeuteten Schwierigkeiten lenken daher den Blick auf
eine zweite Rezeptionslinie, in der die Herausforderung der Foucaultschen
Subjektkritik nicht bloß defensiv, sondern ausdrücklich offensiv aufzuneh-
men versucht wird, indem eine Neubestimmung von Bildung und Erziehung
24 Nicole Balzer

gerade im Anschluss an Foucaults spätere Arbeiten zu einer ,Ästhetik der


Existenz' entwickelt werden soll. So ließen sich Foucaults Überlegungen zur
, Selbstsorge , ausdrücklich auch pädagogisch nutzen, so dass Bildung - so
der Tenor dieses Wahrnehmungsmusters - im Anschluss an Foucault als ein
Transformationsprozess des Subjekts reformuliert werden könne. Doch auch
hier birgt das - wenn auch kritische - Festhalten am , Bildungskonzept'
Schwierigkeiten, die aus der Betonung der ,Selbstbezüglichkeit' resultieren
und schließlich als machttheoretische Abblendungen gelesen werden können.
(f) So rekurriert Roland Reichenbach in seinen bildungstheoretischen Arbeiten immer
wieder auch auf Foucaults Konzept der Selbstsorge, um ein allzu eingewöhntes
Selbstmissverständnis der Pädagogik - Authentizität des Selbst als Kern vieler päda-
gogischen Leitformeln - scharf zurückzuweisen: nicht nur mache "die Rede vom
Subjekt ,an sich '" wie die "Rede vom, wahren' Selbst" (Reichenbach 2000: 178) ge-
rade in der pädagogischen Arbeit keinen Sinn; vielmehr verweise - so Reichenbach -
die Idee der Selbstsorge auf die ethische und bildungstheoretische Relevanz des ", un-
tiefen' Selbst" (ebd. 177). Die Modalitäten, mit denen Foucault die Selbstsorge be-
schrieben hat - nur stichwortartig: Selbstsorge als Bündel von konkreten Übungen, als
soziale und kommunikative Praxis, als Heilmittel, als Selbsterkenntnis, bzw. als
Selbstschau und -prüfung durch asketische Selbstpraktiken (vgl. ebd. 179f.) -, mün-
den in das gemeinsame Ziel aller Selbstpraktiken: die Modalität der "Umkehrung zu
einem selber" (ebd. 180). Ziel der Selbstsorge sei aber nicht "Vollkommenheit oder
Geschlossenheit", sondern "Transformation" (ebd.). Das Selbst besitze aus dieser
Sicht weder "Tiefe noch Wahrheit", wie die "christliche Überformung des Selbstsor-
gegedankens" (ebd. 181) suggeriere: daher sei zum einen die "Selbstsuche [... ] para-
doxerweise ein sicherer Weg zur Selbstverfehlung", zum anderen habe nach Foucault
"Selbstkonstituierung mit Selbslfindung nichts zu tun" (ebd. 183). So betont Reichen-
bach, dass das Selbst "exoterisch" betrachtet werden muss und nicht "esoterisch"
(ebd.) sein darf. Die Bedeutung der Selbstsorge liege daher nicht in der "Tiefe (des
Selbst)", sondern vielmehr in ihrer "Tiefenlosigkeit" (ders. 2001: 303): es ist gerade
das Nichtvorhandensein eines "eigentliche[n] Wesen[s] (des Selbst, der Ethik, der
Wahrheit)" (ders. 2000: 184), das die geforderte Gestaltung und Formung seiner
selbst allererst ermögliche. Damit aber verweise die von der Selbstsorge ausgehende
,Ästhetik der Existenz' nicht nur auf einen "postteleologischen bzw. ateleologischen
Bildungsgedanken" (ebd.); vielmehr sei sie selbst eine überaus angemessene Ausle-
gung und Reformulierung des klassischen Bildungsgedankens, zeige doch die Analyse
der Selbstsorge, dass das Subjekt bzw. das Selbst sich gerade "nicht als oder zur iden-
tischen Wesenheit" (ebd.) konstituiere, sondern nur "in der Differenz", nicht aber "in
der Identität" (ebd. 182) verortet werden kann. Letzteres aber würde bedeuten, dass
das Selbst (oder Subjekt) schlicht "entwicklungsunfähig" wäre; damit aber wäre auch
,Bildung' unmöglich: erst "die Abwesenheit des mit sich identischen Selbst" macht
Bildungsprozesse "möglich als auch prinzipiell nicht abschließbar" (ebd. 183). In die-
ser Offenheit und prinzipiellen Nichtabschließbarkeit liege daher ein "spezifisch ethi-
sches Anliegen begründet" (ebd.): Selbstsorge als Sorge darum, "keinen sklavischen
Geist zu haben" (ebd. 181) ziele darauf ab, "sich um die eigene Freiheit zu kümmern"
(ebd.). So zeigten Foucaults Untersuchungen der antiken Selbstsorge, dass die Tech-
niken bzw. Praktiken der Selbstsorge "mit dem Kultus der Innerlichkeit bzw. narzißti-
sehern Selbstkult" (ebd. 178) nichts zu tun haben; sie widmeten sich nicht der "indivi-
duellen Seele", sondern vielmehr einem "allgemeinen Guten" und verwiesen daher
auf die "kommunikative Struktur der Reflexion bzw. des Selbst" (ebd.). Selbstsorge
verweise daher nicht nur "immer auf den Anderen, weil sie ohne den Anderen kaum
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken 25

gelingen kann", sondern sie beinhalte "auch eine Weise, sich um den Anderen zu sor-
gen" (ebd. 181): es geht - so Reichenbach emphatisch - dem ethischen Subjekt als ei-
nem "Subjekt möglicher Veränderung um die Möglichkeit einer offenen [... ] Ge-
schichte" (ebd.) und um eine ,,freiheitliche Gesellschaft" (ebd. 184). Foucaults ,Ethik
des Selbst' ist daher für Reichenbach vor allem "wegen ihrer politischen Dimension
entscheidend" (ebd. 183). Sie führt zu einer "Auseinandersetzung mit Macht und [... ]
Normierung" und erhalte dadurch "aufklärerische Relevanz und Aktualität" (ebd.
184). Konsequent fordert Reichenbach, ,das Selbst' aus pädagogischer Sicht "lieber
im Hinblick auf seine konstituierenden und transformierenden Praktiken zu studie-
ren", sowie die Entwicklungsaufgabe nicht in der Selbstsuche oder Selbstfindung,
sondern vielmehr darin zu sehen, "die geistigen und affektiven Voraussetzungen zu
kultivieren" (ebd. 185), welche dem Selbst es ermöglichen, sich zu verändern. Bil-
dung hieße dann, "von der passiven und normierten zur aktiven und ethischen Form
der Selbstkonstituierung zu kommen"; bildungsrelevant wäre im Anschluss an
Foucault die Ermöglichung einer "individuelle(n) Ethik der Lebensführung" (ebd.
184).
(g) Auch Hans-Christoph Koller reformuliert Bildung als eine "Art der Lebenskunst"
(2001: 46), in deren Zentrum der "Gedanke einer Selbstformung bzw. -transformation
des Subjekts" (ebd. 45) steht. Er bestimmt den Bildungsprozess als Vorgang, in dem
sich "das Subjekt mithilfe bestimmter Praktiken Erfahrungen aussetzt" (ebd. 46) und
sich permanent selbst zu erschaffen sucht. Stärker noch als Reichenbach betont Koller
gegen die immer wieder gegen Foucault vorgebrachten Vorwürfe, dass in dessen spä-
teren Arbeiten gerade nicht "eine Rückkehr zur Vorstellung eines autonomen, einheit-
lichen Subjekts" (ebd.) stattfande; auch wenn der Transformationsprozeß vom Subjekt
gewollt ist, könne das Subjekt ihn und seine Resultate nicht planen oder steuern, wisse
es doch zu Beginn nicht, "was am Ende aus ihm und seinem Denken geworden sein
wird": ,,[D]ie Resultate [sind] zu Beginn nicht absehbar" (ebd.). Wird Bildung im An-
schluß an Foucault reformuliert, dann gelte folglich, dass sie weder "in der Verfü-
gungsgewalt des sich bildenden Subjekts" liegt, noch dass sie "pädagogisch herge-
stellt werden" (ebd.) kann (vgl. Koller 1999).

Die hier exemplarisch mit Reichenbach und Koller veranschaulichte Neube-


stimmung von Bildung im Anschluss an Foucaults Subjektkritik ist nicht nur
geeignet, bisherige Rezeptionsmuster zu korrigieren; sie bietet darüber hinaus
auch die Möglichkeit, den Bildungsgedanken selbst zu schärfen und gegen
weithin verbreitete Selbstrnissverständnisse in der Pädagogik zur Geltung zu
bringen. Problematisch ist allerdings, dass in ihren Überlegungen Machtfra-
gen zwar nicht zur Gänze ausgeblendet, zumindest aber doch erheblich ver-
nachlässigt werden: auch wenn Reichenbach die machttheoretische Bedeu-
tung einer ,Ethik des Selbst' betont und Koller ausdrücklich auf Foucaults
Analysen "subjektivierender Machttechniken" (ebd. 40) qua Autonomiefor-
derung verweist, so scheinen doch ihre Überlegungen zu einem anderen Bil-
dungsverständnis mit Foucaults machttheoretischen ,Entlarvungen' nicht aus-
reichend verbunden zu sein, so dass die Kritik von Bildung und ihre (ethi-
sche) Revidierung schließlich machttheoretisch weitgehend ,abgeblendet'
bleiben. Dies ist jedoch - subjekt- wie bildungstheoretisch - eher hinderlich
denn sinnvoll: nicht nur, weil die Gefahr einer Aufnahme der späteren Ar-
beiten Foucaults zu den Selbsttechniken ohne Bezug auf ihr zentrales Anlie-
gen - "Machtbeziehungen von den Selbsttechniken aus [zu] untersuchen"
26 Nicole Balzer

(Foucault 1984: 36) - in einer ,ästhetisierenden Lesart' liegt; sondern vor al-
lem, weil dies schließlich dazu führen kann, die Relationalität des Foucault-
schen Machtbegriffs zugunsten einer - u.a. dann auch bildungspolitisch be-
gründeten - ,Option für Freiheit' (und ,Bildung') aufzugeben. Damit aber
wären dann die zunächst eingestandenen Reflexionsgewinne der Foucault-
schen Subjektkritik wieder verspielt und die allmähliche Rückkehr in überaus
traditionelle Argumentationsmuster angebahnt.
(3) In einer dritten Rezeptionslinie lassen sich schließlich die verschiedenen
Versuche bündeln, die die Herausforderungen Foucaults gerade in dessen
machttheoretisch begründeter Betonung der Heteronomie des Subjekts sehen;
so betonen insbesondere Alfred Schäfer und Käte Meyer-Drawe in ihren viel-
faltigen Arbeiten immer wieder die "Illusionen von Autonomie" (Meyer-
Drawe 1990b), die sich im Anschluss an Foucaults provozierende Überle-
gungen als Kern pädagogischer Selbstreflexion erweisen: nicht nur, weil da-
mit immer auch die subjekttheoretische Unmöglichkeit mitgesagt ist, Auto-
nomie als Opposition zu Heteronomie zu behaupten bzw. zu fordern; sondern
auch, weil diese eingewöhnte pädagogische Selbstbeschreibung gerade in ih-
rer ,regulativen Funktion' alles andere als machttheoretisch harmlos ist.
Foucaults Infragestellung der "Souveränität des Subjekts" (dies. 1996a: 184)
ist daher als anhaltende Reflexionsanforderung und Irritation festzuha1ten,
die gerade in der paradoxen Verknüpfung von Freiheit und Repression,
Selbstbestimmung und Fremdbestimmung bzw. Autonomie und Heteronomie
ihren beunruhigenden , Kern' hat.
(h) Konsequent greift daher insbesondere Alfred Schäfer in seinen Überlegungen den Zu-
sammenhang von Autonomie und Heteronomie immer wieder auf: so verdeutlich er
einerseits, dass sich Foucaults Nachweis der "Unmöglichkeit eines vernunftautono-
men Subjekts" (1993: 52) gegen eine bestimmte "Illusion von Autonomie" richte, die
Autonomie bloß ,Jenseits sozialer Zumutung und Unterwerfung" (ders. 1996a: 185)
platzieren wolle. Mit dieser eher ,ideologiekritischen' Weichenstellung ist jedoch an-
dererseits die Behauptung verbunden, dass Autonomie "nur um den Preis der Selbst-
disziplinierung, der Unterwerfung" möglich ist: Das Individuum kann nur "genauso
souverän [sein], wie es sich den zum Gesetz verselbständigten Normalisierungser-
wartungen unterwirft" (ders. 1996a: 180). Es ist diese paradoxe Verknüpfung von
Autonomie und Heteronomie, von Befreiung. und Unterwerfung, die die oft konstitu-
tionstheoretischen Reflexionen Schäfers anhaltend prägt und auch in seinen ethnolo-
gischen Studien problematisiert wird (vgl. Schäfer 1999).
Wenn aber - so Schäfer mit Verweis auf Foucault - der Zusammenhang von "Auto-
nomisierung" und "Unterwerfungsprozeß" (ders. 1996b: 200) weder theoretisch noch
praktisch auflösbar ist, so geht es darum, den Effekt des Zusammenspiels von Auto-
nomie-Zumutung und -Illusion zu rekonstruieren und ,Autonomie' nicht undialektisch
zu verabschieden, sondern als "real wirksame Illusion" (ebd. 175) auslegen zu lernen.
Zweierlei Folgen benennt Schäfer ausdrücklich: zum einen produziert die "soziale
Zumutung der Autonomie [00'] die Legitimationsgrundlage der Kritik und des souve-
ränen Urteils", wie auch umgekehrt gerade "die Kritik den realen Schein der Autono-
mie [hervorbringe], der ihr [dann] als soziale Zumutung wiederum angetragen wer-
den" (ebd.) könne; zum anderen aber erzwingt die damit verbundene Einsicht, dass
auch die modeme Pädagogik unentrinnbar in die "Aporie von Disziplinierung und
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken 27
Autonomisierung" verstrickt ist, die "Selbstzurücknahme ihrer eigenen Intentionali-
tät", indem sie "die beabsichtigte Autonomie des Anderen zum Bezugspunkt und zur
Grenze ihrer eigenen Disziplinierungsbemühungen" (ders. 1997: 124) macht. Damit
werde zwar nicht die Verstrickung des erzieherischen Handeins in den Prozess der
Transformation von Fremd- in Selbstdisziplinierung aufgehoben, doch eine - prak-
tisch bedeutsame - Differenz eröffnet, "in der Disziplinierung gegen diese zu steueru"
(ebd.); denn erst die (andauerude) Durchkreuzung pädagogischer Intentionalität ge-
währt überhaupt die Möglichkeit ,fremder Autonomie', die sich den - auch besten-
Absichten anderer nicht bloß fügt. Vor diesem Hintergrund sind daher Erziehung und
Bildung keineswegs zu verabschieden, sonderu neu zu bestimmen. Wie Reichenbach
und Koller sieht auch Schäfer in Foucaults Konzeption einer "Ästhetik der Existenz
als der Subjektivierungsform des Ethos der Moderue" (ders. 1996b: 230) die Umrisse
einer revidierten Bildungstheorie. Ausdrücklicher jedoch als diese verdeutlicht er,
dass Foucault in seinen späteren Arbeiten auf systematische Weise das "Verhältnis
von Genealogie und Kritik" (ebd. 200) sowohl als theoretische als auch als praktische
Frage diskutiere. So betont Schäfer, dass Foucault nicht auf die "Befreiung des souve-
ränen Individuums" (ebd.) ziele, sondern vielmehr auf die Möglichkeit einer "Haltung
gegenüber der genealogisch aufgezeigten Situation der Autonomisierung als Unter-
werfung" (ebd. 210); Foucaults praktische Perspektive der Arbeit an sich selbst sei
daher als Einübung einer "Haltung der Kritik", als "Wille, nicht bzw. nicht so und auf
diese Weise regiert zu werden" (ebd. 224f.), zu verstehen. Weil aber ,Autonomie' ge-
rade nicht positiv, sondern nur als "endlose[r] Kampf um die eigene Würde", "als
Kampf um die Entunterwerfung" (ebd. 230) möglich ist, verlange die kritische Hal-
tung ein "Sich-Verhalten im Spiel von Wahrheit und Macht unter den Bedingungen
individualisierender Unterwerfung" (ebd. 225). Foucaults Überlegungen bieten daher
- so Schäfer - die Möglichkeit, den (pädagogischen) "Versuchen nicht zu unterliegen,
die Freiheit und die Möglichkeit zur Selbst-Bestimmung gerade gegen diese Unter-
werfung zu behaupten" (ebd. 229). In ihnen gehe es "gerade nicht um eine Alternative
von Herrschaft und Befreiung, zwischen der man wählen könnte, sondern um ein dis-
kursives Feld, in dem der Habitus eines ,Ethos der Modeme'" (ders. 1996a: 187) al-
lererst eingeübt werden könne. Nicht bloß resignativ bleibt der Pädagogik "wohl
kaum ein anderer Weg [... ], als sich der Verstrickung in das Verhältnis von Autono-
mie und Unterwerfung, dem Ethos der Modeme und der es markierenden Unver-
söhntheit, zu stellen" (ebd. 186); vielmehr ist ihre prinzipiell aporetische Struktur
überhaupt eine Möglichkeitsbedingung, ,Autonomie' praktisch werden zu lassen,
können doch "disziplinierende Normalisierung und [... ] autonomisierende Entunter-
werfungsstrategien" (ders. 1997: 131) nicht voneinander getrennt werden.
Schäfers Versuche, die späteren Überlegungen Foucaults im Zusammenhang der dis-
ziplinartheoretischen Arbeiten zu rekonstruieren, erweisen sich als überaus fruchtbar:
Weil sie durchgängig darum bemüht sind, Macht nicht repressiv zu verstehen, auch
weil sie betonen, dass das Verhältnis von ,Autonomie' und ,Unterwerfung' nicht als
oppositionales, sOl1dern als paradoxales zu kennzeichnen ist, vor allem aber, weil sie
darauf insistieren, Subjektivität nicht im Gegensatz zur Macht zu behaupten:
,,[K]einer der subjektiven Selbst-Bestimrnungsversuche (ist) der Macht, der Selbstver-
fehlung entzogen" (ebd. 290), kann Schäfer überzeugend sowohl dem gegen Foucault
gerichteten Vorwurf, er leugne in seinen frühen Arbeiten "jede Befreiungsmöglich-
keit" (ebd.), als auch dem Vorwurf widersprechen, Foucault betreibe in seinen späte-
ren Arbeiten eine ,Rückkehr zum autonomen Subjekt' (Fink-Eitel). Problematisch ist
jedoch, dass durch Schäfers - wenn auch desillusioniertes - Festhalten an ,Autono-
mie' als einer unweigerlich paradoxen Selbstverständigungsformel weitgehend unbe-
fragt bleibt, ob und inwiefern die Forderung von Autonomie nicht ihrerseits als über-
aus wirksamer Effekt von Machtausübung zu kennzeichnen und zu analysieren wäre.
28 Nicole Balzer

Anders ausgedrückt: vielleicht gibt es gute Gründe, Pädagogik ,diesseits der Illusion
von Autonomie' zu verorten.
(i) So hat insbesondere Käte Meyer-Drawe mit "einigen Anregungen" (1996a: 655) wie-
derholt versucht, die "Autonomieforderung im pädagogischen Zusammenhang" (dies.
1998: 36) zu problematisieren, indem sie entlang des "Zweifel[s] an der Autonomie"
(dies. 2000: 146) die pädagogische Rezeption Foucaults um dessen Untersuchungen
zu Pastoralmacht und, Techniken des Selbst' erweitert hat. Foucaults Bedenken gegen
"eine bestimmte, in der Neuzeit entstandene Redeweise vom Subjekt" (dies. 1993:
195) zeigten zunächst, dass ,,[r]eine Selbstbestimmung und bloße Fremdbestimmung
[... ] Chimären" (1996b: 57) seien; Pädagogik, so Meyer-Drawe durchaus in der Nähe
zu Schäfer, werde daher, da Selbstbestimmung als Aufgabe pädagogischen Handeins
und zugleich nur aufgrund der erzieherischen Fremdbestimmung für möglich erklärt
wird, von Anfang an "in die Alternative von Fremd- und Selbstbestimmung" (dies.
2000: 140) eingespannt. Ihre "Bevorzugung der Eigentümlichkeit, später der Indivi-
dualität und noch später der Identität" (ebd.), ihr Autonomie- wie ihr Bildungsbegriff
lassen, so Meyer-Drawes Kritik, immer mehr die "andere Seite des Subjekts, [... ] die,
die es als der Gesetzgebung unterliegend kennzeichnet" (dies. 1998: 45), in Verges-
senheit geraten. Sie trüben "den Blick für die auch konstitutive Bedeutung des Frem-
den" (dies. 2000: 140), suggerieren sie doch die Möglichkeit eines Zustands der Ver-
söhnung, in welchem das Subjekt "aller Zerrissenheit zum Trotz Einheit findet" (dies
1993: 197). Foucaults Arbeiten verweisen dagegen darauf, dass - auch aus pädagogi-
scher Sicht - die "knöcherne Alternative [... ], nämlich die von Individuum und Gesell-
schaft, von Autonomie und Heteronomie" (dies. 1996b: 49) zu verabschieden ist ll ;
die immer wieder propagierte Selbstauslegung des Subjekts als eines Souveräns sei
zwar auch eine spezifisch ,idealische' Selbstverkennung, diene jedoch überwiegend
dazu, sich die eigene Selbstrelativität und Begrenztheit, "immer Untertan und Souve-
rän zugleich" zu sein (ebd.), zu verbergen. Es ist diese Einsicht in die ,Gebrochenheit
der Subjektivität', die Meyer-Drawe immer wieder zur Geltung zu bringen versucht:
ein ,konstitutiver' Bruch, der "sich durch das Subjekt zieht, das in keiner Identität
Ruhe findet" (dies. 1991: 391), so dass das ,Ich' weder authentisch noch unmöglich
ist, sondern als eine "Differenz der Masken" (dies. 2000: 147) verstanden werden
muss - eine Kennzeichnung, die sowohl den dauernden Selbstverschiebungen als
auch der Nichtidentifizierbarkeit des Selbst Rechnung zu tragen versucht. Gerade weil
die "Differenz von souveränem Subjekt und dem Subjekt als Untertan" (dies. 1991:
397) durch das Subjekt selbst hindurch geht, eröffnen die Arbeiten Foucaults die
Möglichkeit, das Subjekt ,diesseits von Ohnmacht und Allmacht des Ich' zu verorten
und pädagogisch "von neuem über Problematisierungsformen von Subjektivität nach-
zudenken" (dies. 1993: 195).
Anhand der späteren Arbeiten Foucaults spitzt Meyer-Drawe ihre Kritik des (pädago-
gischen) "Begehren[s] nach Befreiung von jeglicher Fremdbestimmung" (dies. 2000:
146) zu. Ausgehend von Foucaults Präzisierung der Macht als einer ,Führung der
Führungen' verdeutlicht sie, dass die aus pädagogischer Sicht vorgenommenen dualis-
tischen Weichenstellungen - insbes. die "Alternative von Macht und Freiheit" bzw.
von Fremd- und Selbstbestimmung - aus machttheoretischer Sicht sich als "irrefüh-
rend" (Meyer-Drawe 1996a: 655) erweisen: "Macht ist [... ] auf Freiheit angewiesen.
Zur Freiheit kann man nicht gezwungen werden. Freiheit kann [... ] lediglich kultiviert
werden, und zwar angesichts der Zwänge, die aus einer menschlichen Welt nicht ver-
schwinden" (dies. 2001: 450). Daher muss sowohl der Instrumentalisierung der Ana-

11 Ohne damit den Autonomiebegriff gänzlich verabschieden zu wollen: "Auf dem Feld
des Politischen fungiert der Begriff der Autonomie als Chiffre für eine humane Ge-
sellschaft" (Meyer-Drawe 1991: 399).
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken 29
lysen Foucaults als einer generellen "Denunzierung erzieherischer Tätigkeiten im Sin-
ne von Gewaltakten" als auch der umgekehrten Hoffnung, Erziehung überhaupt ohne
Macht ausüben zu können, eine Absage erteilt werden: es steht nicht in Frage, "daß
Erziehung ein Machtverhältnis bedeutet" (dies. 1996a: 655). Fraglich ist jedoch, "ob
die Machtformation so sein muß, wie sie sich im Lichte der Foucaultschen Analyen
zeigt" (dies. 1996a: 655). Folgt man dieser Weichenstellung, geht es nicht mehr allein
darum, das Verhältnis von Freiheit und Macht zu problematisieren, sondern Erziehung
und Bildung selbst in ihrer Option für Autonomie machttheoretisch zu analysieren.
Entscheidend ist dafür, die Foucaultschen Untersuchungen der , Technologien des
Selbst' und der Lebenskunst nicht als einen Rückfall in die zuvor kritisierte Subjekt-
position auszulegen, sondern als eine "Radikalisierung seiner früheren Position" (ebd.
656) zu verstehen. Folgerichtig erweitert Meyer-Drawe denn auch nicht nur die diszi-
plinartheoretischen Erörterungen, sondern radikalisiert vielmehr die machttheoretische
These: "Erzieherische Praxis wird vor allem als Pastoraltechnik ausgeübt"; das päda-
gogisch dominante Machtverhältnis ist "das der Pastoralmacht" (ebd.). Kern ihrer
Kritik ist dabei die mit der Positivierung des Selbst - qua Geständniszwang - einher-
gehende "Verhüllung der Macht" (dies. 2001: 447): "Das nicht problematisierte pasto-
rale Machtverhältnis stattet das pädagogische Primat der Selbstbestimmung mit einem
Humanismusvorschuß und mit einer quasi transhistorischen Selbstverständlichkeit
aus, die eine durchgreifende Kritik der herrschenden Machtdispositive verhindern"
(dies. 1996a: 656f.). Es darf daher "keine Tabus des Fragens geben, auch nicht, was
Selbstbestimmung und Individualität, Subjektivität und Autonomie angeht" (ebd.
662). Vielmehr ist es an der Zeit, "die affirmierende Kraft scheinbar unschuldiger
Humanitätsideale für pädagogische Theorie und Praxis zu zersetzen, um Transforma-
tionen der Macht kenntlich zu machen und dadurch der Kritik zu öffnen" (ebd. 663).

Wenn aber, wie Meyer-Drawe pointiert fordert, auch nicht vor dem Verdacht
haltgemacht werden darf, "daß Individualität und Selbstbestimmung histo-
risch bedingte Technologien des Selbst sind" (Meyer-Drawe 1996a: 662), die
als spezifische, die jeweilige Gebrochenheit operationalisierende Machttech-
niken zu kritisieren sind, und wenn es auch gerade oppositionale Bestim-
mungen sind, die diese Machtausübung kulminieren lassen, dann wird es für
die Pädagogik nicht nur gänzlich unmöglich, sich auf die (vermeintlich)
,richtige Seite' zu stellen, sondern sie gerät ganz grundsätzlich in ein ,Di-
lemma der Kritik' (vgl. Ricken 2004): erstens ist es dann nicht mehr über-
zeugend, Selbstbestimmung und Freiheit bloß oppositional Fremdbestim-
mung und Macht gegenüberzustellen; und zweitens ist zunehmend fraglich,
was denn als Maßstab von Kritik überhaupt noch gelten kann.

3. Jenseits oppositionaler Bestimmungen:


Kritik neu denken und erproben
Die Schwierigkeit, wie angesichts dieser Verdachtsmomente ,Kritik' noch
angemessen gedacht und theoretisch begründet werden kann, berührt wohl
eine der zentralen und elementaren Fragen der Pädagogik: nicht nur, weil
insbesondere die modeme Pädagogik weitgehend durchgängig als ,kritische
Reflexion' jeweiliger gesellschaftlicher Kontexte konzipiert worden ist und
30 Nicole Balzer

insofern auf die Verbesserung der Verhältnisse verpflichtet ist, wie dies ins-
besondere in der ,kritischen Erziehungswissenschaft' und deren Leitformel
der ,Emanzipation' sich zum Ausdruck gebracht hat; sondern vor allem, weil
,Kritik' gerade nicht bloß eine Frage pädagogischer Positionen ist (und damit
zunehmend bloß eine Frage der ,Gesinnung', gar des ,Geschmacks' wäre),
sondern ein konstitutives Moment jeglichen pädagogischen Handeins über-
haupt markiert: selbst der ,autoritäre' Versuch noch, andere auf die eigene
Position - Überzeugung, Haltung oder Praktik - zu verpflichten, ist darauf
angewiesen, dass die solchermaßen disziplinierten Anderen das Gesollte von
sich her leisten, so dass es nie genügt, bloß in das jeweilig ,Gegebene' einzu-
führen, ohne nicht zugleich auch ,Freigabe' und ,Selbständigkeit' irgendwie
doch mit zu ermöglichen (vgL Blankertz 1982: 306f.). Damit aber rückt die
Frage der ,Kritik' als Frage nach jeweiliger ,Andersmöglichkeit' in den Mit-
telpunkt, ohne zugleich in den traditionellen Antworten - Selbstbestimmung
bzw. ,Emanzipation' - ihre erschöpfende Beantwortung bereits gefunden zu
haben (vgL Sünker/Krüger 1999; Benner u.a. 2003; Pongratz u.a. 2004).
(j) So stellt insbesondere Jan Massehelein ausdrücklich im Anschluss an Foucault die
Frage ins Zentrum, wie eine kritische Erziehungswissenschaft heute (nicht mehr) ge-
dacht werden kann. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist dabei die Beobachtung,
dass die traditionelle ,kritische Orientierung' am "selbstbewußten, selbstreflexiven,
autonomen und vernlinftigen Subjekt" (Masschelein 2003: 126) längst selbst Be-
standteil gegenwärtiger Machtstrategien ist: Gerade weil das System zunehmend "kri-
tische und freie Subjekte" rur seine Weiterentwicklung brauche, konstituiere es diese;
"kritische Stimmen" - so Massehelein - "sind [... ] notwendig und funktional" (ebd.
131), ist doch Kritik selbst Moment systernischer Reproduktion und Verbesserung.
Angesichts dessen aber ist der Versuch, an der traditionellen Orientierung von Kritik
- "Im Namen der Autonomie, der Emanzipation, der Unabhängigkeit, der Selbstbe-
stimmung, der Freiheit können Repression, Abhängigkeit, Fremdbestimmung, Macht
kritisiert werden" (ebd. 129) - festzuhalten, eher problematisch, verschweigt er doch
die Mitverantwortung auch der ,kritischen Erziehungswissenschaft' an gegenwärtigen
Machtfigurationen.
Das Foucaultsche Instrumentarium - so Massehelein - taugt in besonderer Weise da-
zu, diese spezifische Machtform auch analytisch einzuholen, indem es die Figur der
autonomen, selbstreflexiven Person als "eine historische Figur der Selbstflihrung"
(ebd. 135), als "eine spezifische Subjektivierungsform" (ebd. 125) zu rekonstruieren
erlaubt; die Individuen werden - innerhalb einer "pastoralen Beziehung von Regie-
rung" - dazu angehalten, "sich zu sich selbst als autonome, selbstreflexive ,Subjekte'"
(ebd. 136) zu verhalten und dazu stimuliert, ihr Selbst "unter der Perspektive von
Prinzipien zu problematisieren" (ebd. 138). Das autonome, selbstreflexive Subjekt ist
daher als "Durchgangspunkt von Machtbeziehungen" (ebd. 126) zu kennzeichnen, so
dass dessen Subjektivitätsform zugleich "Effekt und Instrument" von Macht sei:
"Produkt [... ] von pastoralen Beziehungen" (ebd. 135) ebenso wie Instrument in dem
Sinne, dass "das Selbstreflexivsein und das Evaluieren ihres Verhaltens und ihrer Ge-
danken es erlaubt, im Namen der, Vernunft' eine ,menschliche Gemeinschaft' zu eta-
blieren" (ebd.), die - in ihrer gegenwärtigen Form - v.a. durch wechselseitige Indiffe-
renz und wachsende Immunisierung gekennzeichnet ist (vgl. Masschelein/Simons
2002). Da Macht, so Masseheleins Folgerung, gerade durch die "Intensivierung von
Selbstreflexivität und Kritik" (ebd. 136) operiert, können Autonomie, Selbstreflexion
und Selbstbestimmung nicht mehr als "Antithese von Herrschaft" gegen Machtver-
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken 31

hältnisse behauptet werden, sondern müssen als wohl "avancierteste Form der Macht"
(ebd. 130) gedeutet werden. Dennoch aber würden Foucaults Überlegungen keines-
wegs Anlass dazu geben, in "Pessimismus oder Zynismus" (ebd. 132) zu verfallen;
vielmehr eröffneten sie veränderte Perspektiven einer kritischen Erziehungswissen-
schaft: so ginge es zum einen darum, "das Verwobensein von gesellschaftlichen
Macht- und Bildungsprozessen zu klären" (ebd. 137); zum anderen aber ist Kritik als
"Einspruch gegen das dermaßen ,Regiertwerden'" weniger eine theoretische Frage der
Begründung (von Maßstäben etc.), sondern vielmehr die ,,Frage nach einer anderen
Haltung" - einer "praktische[n] Haltung, in der man sich der Interpellation, sich auf
diese bestimmte Weise zu sich selbst und zu anderen zu verhalten, entzieht" (ebd.
139). Masschelein folgt damit der Forderung Foucaults, dass es darauf ankomme,
neue Formen der Subjektivität zustande zu bringen; Kern einer solchen ,kritischen'
Haltung wäre die Hihigkeit (und Bereitschaft), sich von sich selbst loszureißen und
den Wunsch, ",derselbe zu sein'" (Masschelein 2003: 139) und bleiben zu wollen,
aufzugeben. Kritik und kritische Distanz aber wären dann als "Unternehmen einer
,Ent-Subjektivierung''', als "praktische Verweigerung einer bestimmten Regierungs-
und Subjektivitätsform" (ebd.) neu zu kennzeichnen.
Mit seinen Überlegungen markiert Masschelein jedoch nicht nur die Aufga-
ben einer neuen kritischen Erziehungswissenschaft, sondern auch einen Neu-
anfang der pädagogischen Rezeption Foucaults. 12 Angesichts der auffälligen
Schwierigkeiten der Foucault-Rezeption, ein ,Denken in Oppositionen' zu
verlassen, wird auch vieles davon abhängen, inwieweit es - vielleicht gerade
mit Foucault - gelingt, die "Verflechtungen" und das ,,zugleich" (Rieger-
Ladich 2002b: 171) von Macht und Freiheit, Autonomie und Heteronomie,
Fremd- und Selbstbestimmung so zu denken, dass sowohl ,neue Formen der
Subjektivität' (Foucault) als auch der ,Sozialität' angedacht werden, um die-
auch pädagogisch zentrale - Frage danach, ,was wir sind und sein könnten'
(vgl. Foucault 1994: 250), wieder stellen zu lernen. Immer wieder wird es
daher darum gehen, "die Verschiebung zu ermessen, der er [Foucault; N.B.]
die Reflexion über die Wahrheit, über das Subjekt und über die Macht unter-
worfen hat, und den Raum, der sich von hier aus für das [ ... ] Denken eröff-
net" (Pasquino 1985: 52). Oder, um es mit Foucault zu sagen: Von neuem
wird es um die Bewegung gehen, "mit deren Hilfe man sich nicht ohne An-
strengung und Zögern, nicht ohne Träume und Illusionen von dem freimacht,
was für wahr gilt, und nach anderen Spielregeln sucht" - einzig "um anders
zu denken, um anderes zu machen und anders zu werden als man ist"
(Foucault 1984: 22).

12 Diese ,andere' Rezeption Foucaults ließe sich schließlich an den Arbeiten von Nor-
bert Ricken (vgl. z.B. Ricken 2000; 2004), Jan MasscheleinlMaarten Simons (vgl.
z.B. MasscheleinlSimons 2002) wie auch Markus Rieger-Ladich (vgl. z.B. Rieger-
Ladich 2002b) verdeutlichen, die historische und gegenwärtige Praktiken nach ihrer
"Pastoraltechnologie in der Menschenführung" (Meyer-Drawe 1996a: 661) zu befra-
gen, aber auch Erziehung ,jenseits oppositionaler Bestimmungen' - nicht "jenseits
von Macht" (ebd. 655) - neu zu bestimmen suchen.
32 Nicole Balzer

Literatur

Benner, Dietrich u.a. (Hrsg.) (2003): Kritik in der Pädagogik. Versuche über das Kritische
in Erziehung und Erziehungswissenschaft. In: Zeitschrift für Pädagogik, 46. Beiheft,
Weinheim u.a.: Beltz.
Breuer, Stefan (1987): Foucaults Theorie der Disziplinargesellschaft. Eine Zwischenbilanz.
In: Leviathan 15, S. 319-337.
Brinkmann, Malte (1999): Das Verblassen des Subjekts bei Foucault. Anthropologische
und bildungstheoretische Studien. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.
Coelen, Thomas (1996): Pädagogik als ,Geständniswissenschaft'? Zum Ort der Erziehung
bei Foucault, FrankfurtIMain: Lang.
Dreßen, Wolfgang (1982): Die pädagogische Maschine. Zur Geschichte des industriali-
sierten Bewußtseins in PreußenlDeutschland, FrankfurtlMain: Ullstein.
Ehrenspeck, Yvonne (2001): Strukturalismus und Poststrukturalismus in der Erziehungs-
wissenschaft~ Thematische, theoretische und methodische Implikationen einer Rezep-
tion. In: Bettina Fritzsche u.a. (Hrsg.): Dekonstruktive Pädagogik. Erziehungswissen-
schaftliche Debatten unter poststrukturalistischen Perspektiven. Opladen: Leske + Bu-
drich, S. 21-34.
Fink-Eitel, Hinrich (1989): Foucault zur Einführung. Hamburg: Junius.
Forneck, Hermann-Josef (1992): Modeme und Bildung. Modernitätstheoretische Studie zur
sozialwissenschaftlichen Reformulierung allgemeiner Bildung. Weinheim: Deutscher
Studien Verlag.
Forneck, Hermann-Josef (1993): Bildung - Die Archäologie der Selbsterschaffung. Das
Verschwinden des Subjekts von Bildung bei Foucault. In: Wienfried Marotzki/Heinz
Sünker (Hrsg.): Kritische Erziehungswissenschaft - Modeme - Postmoderne. Bd. 2.
Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 155-175.
Foucault, Michel (1971): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissen-
schaften. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frank-
furtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1977): Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Frank-
furtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1984): Von der Freundschaft. Michel Foucault im Gespräch. Berlin:
Merve. Foucault, Michel (1985): Freiheit und Selbstsorge. Ein Gespräch mit Michel
Foucault am 20. Januar 1984. In: Foucault, Michel: Freiheit und Selbstsorge. Inter-
view und Vorlesung. Hrsg. von Helmut Becker. FrankfurtlMain: Materialis, S. 7-28.
Foucault, Michel (1994): Das Subjekt und die Macht. In: Hubert L. DreyfuslPaul Rabinow:
Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Weinheim: Beltz, S.
243-261.
Fromme, Johannnes (1997): Pädagogik als Sprachspiel. Zur Pluralisierung der Wissens-
formen im Zeichen der Postmoderne. Neuwied u.a.: Luchterhand.
Gaebe, Barbara (1991): Methodisierung der Willenserziehung als Thema pädagogischer
Reflexion im 17. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Pädagogik 37, S. 827-843.
Garbe, Christine (1983): Sophie oder die heimliche Macht der Frauen. Zur Konzeption des
Weiblichen bei J.J. Rousseau. In: Ilse Brehmer u.a. (Hrsg.): Frauen in der Geschichte
Bd. IV: ,Wissen heißt leben .. .'. Beiträge zur Bildungsgeschichte von Frauen im 18.
und 19. Jahrhundert. Düsseldorf: Schwann, S. 65-87.
Glantschnig, Helga (1987): Liebe als Dressur. Kindererziehung in der Aufklärung. Frank-
furtlMain und New York: Campus.
Gstettner, Peter (1981): Die Eroberung des Kindes durch die Wissenschaft. Aus der Ge-
schichte der Disziplinierung, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken 33

Helsper, Werner (1990): Schule in den Aporien der Modeme. In: Heinz- Hermann Krüger
(Hrsg.): Abschied von der Aufklärung? Perspektiven der Erziehungswissenschaft.
Opladen: Leske + Budrich, S. 175-194.
Koller, Christoph (1999): Bildung und Widerstreit. Zur Struktur biographischer Bildungs-
prozesse in der (Post-)Moderne. München: Fink.
Koller, Hans-Christoph (2001): Bildung und die Dezentrierung des Subjekts. In: Bettina
Fritzsche u.a. (Hrsg.): Dekonstruktive Pädagogik. Erziehungswissenschaftliehe De-
batten unter poststrukturalistischen Perspektiven. Opladen: Leske + Budrich, S. 35-48.
Lemke, 1110mas (1997): Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modemen
Gouvernementalität. Hamburg: Argument.
Marchand, Suzanne (1997): Foucault, die modeme Individualität und die Geschichte der
humanistischen Bildung. In: Thomas Merge1/Thomas Welskopp (Hrsg.): Geschichte
zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. München: Beck, S.
323-348.
Massehelein, Jan (2003): Trivialisierung von Kritik. Kritische Erziehungswissenschaft
weiterdenken. In: Zeitschrift für Pädagogik, 46. Beiheft, S. 121-141.
Massehelein, JanIMaarten Simons (2002): An Adequate Education in a Globalised World?
A Note on Immunisation Against Being-Together. In: Journal of Philosophy of Edu-
cation 36, S. 589-608.
Maurer, Susanne (2001): Das Soziale und die Differenz. Zur (De-)Thematisierung von Dif-
ferenz in der Sozialpädagogik. In: Helma LutzINorbert Wenning (Hrsg.): Unter-
schiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske +
Budrich, S. 125-142.
Meyer-Drawe, Käte (1990a): Provokationen eingespielter Aufklärungsgewohnheiten durch
,postmodernes Denken'. In: Heinz-Hermann Krüger (Hrsg.): Abschied von der Auf-
klärung? Perspektiven der Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske + Budrich, S. 81-90.
Meyer-Drawe, Käte (1990b): Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und
Allmacht des Ich. München: Kirchheim.
Meyer-Drawe, Käte (1991): Das ,Ich als die Differenz der Masken'. Zur Problematik autono-
mer Subjektivität. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 67, S. 390-400.
Meyer-Drawe, Käte (1993): Das Ich im Spiegel des Nicht-Ich. In: Bildung und Erziehung
46, S. 195-205.
Meyer-Drawe, Käte (1996a): Versuch einer Archäologie des pädagogischen Blicks. In:
Zeitschrift für Pädagogik 42, S. 655-664.
Meyer-Drawe, Käte (1996b): Tod des Subjekts - Ende der Erziehung? Zur Bedeutung
,postmoderner' Kritik für Theorien der Erziehung. In: Pädagogik 1996, S. 48-57.
Meyer-Drawe, Käte (1998): Streitfall ,Autonomie'. Aktualität, Geschichte und Systematik
einer modemen Selbstbeschreibung des Menschen. In: Jahrbuch für Bildungs- und
Erziehungsphilosophie 1, Baltrnannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren, S. 31-49.
Meyer-Drawe, Käte (2000): Bildung und Identität, in: Wolfgang Eßbach (Hrsg.): wir/ihr/sie.
Identität und Alterität in Theorie und Methode. Würzburg: Ergon-Verlag, S. 139-150.
Meyer-Drawe, Käte (2001): Erziehung und Macht. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaft-
liche Pädagogik 77, S. 446-457.
Müller, Hans Rüdiger (1990): Vom ,Ende der Erziehung': Kritik der pädagogischen Re-
zeption ,postmodernen' Denkens. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Päda-
gogik 66, S. 309-333.
Pasquino, Pasquale (1985): Modeme, Subjekt und der Wille zum Wissen. In: Gesa Dane
u.a. (Hrsg.): Anschlüsse. Versuche nach Michel Foucault. Tübingen: edition diskord,
S.39-54.
Plewig, Hans- Joachim (1993): Erziehungs-Konzept im JGG. Berichterstattung als Sozial-
disziplinierung. In: Peter-Alexis Albrecht (Hrsg.): Festschrift für Horst Schüler-
Springorum. Köln u.a.: Heymann, S. 321-341.
34 Nicole Balzer

Pongratz, Ludwig A. (1988): Michel Foucault. Seine Bedeutung für die historische Bil-
dungsforschung. In: Informationen zur erziehungs- und bildungshistorischen For-
schung 32, S. 155-168.
Pongratz, Ludwig A. (1989a): Pädagogikgeschichte als Dekonstruktion - zur Entwicklung
der pädagogischen Historiographie. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Päda-
gogik 65, S.I-14.
Pongratz, Ludwig A. (1989b): Pädagogik im Prozeß der Modeme. Studien zur Sozial- und
Theoriegeschichte der Schule. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.
Pongratz, Ludwig A. (1990): Schule als Dispositiv der Macht - pädagogische Reflexionen
im Anschluß an Michel Foucault. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Päda-
gogik 66, S.289-308.
Pongratz, Ludwig A. u.a. (Hrsg.) (2004): Kritik der Pädagogik - Pädagogik als Kritik.
Opladen: Leske + Budrich.
Prondczynsky, Andreas von (1992): Macht oder Ohnmacht des pädagogischen Diskurses?
Zur Thematisierung disziplinärer Identitätsproblematiken in der Erziehungswissen-
schaft im Anschluß an Michel Foucault. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche
Pädagogik 68, S. 241-259.
Rapp-Wagner, Renata (1997): Postmodernes Denken und Pädagogik. Eine kritische Analy-
se aus philosophisch-anthropologischer Perspektive. Bern u.a.: Haupt.
Reichenbach, Roland (2000): Die Tiefe der Oberfläche: Michel Foucault zur Selbstsorge
und über die Ethik der Transformation. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche
Pädagogik 76, S. 177-189.
Reichenbach, Roland (2001): Demokratisches Selbst und dilettantisches Subjekt. Demo-
kratische Bildung und Erziehung in der Spätmodeme. Münster und New York:
Waxmann.
Ricken, Norbert (2000): In den Kulissen der Macht: Anthropologische Konzepte als figu-
rierende Kontexte pädagogischer Praktiken. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftli-
che Pädagogik 76, S. 425-454.
Ricken, Norbert (2004): Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bil-
dung. Münster u.a.: Waxmann (in Druck).
Rieger-Ladich, Markus (2002a): Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur päda-
gogischen Semantik. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.
Rieger-Ladich, Markus (2oo2b): Pathosformel Mündigkeit. Beobachtungen zur Form er-
ziehungswissenschaftlicher Reflexion. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche
Pädagogik 78, S. 153-182.
Schäfer, Alfred (1993): Selbstkritik und Autonomie? Überlegungen zu einem problema-
tisch gewordenen Selbstverständnis. In: Lutz KochlWinfried MarotzkilHelmut Peu-
kert (Hrsg.): Revision der Modeme? Beiträge zu einem Gespräch zwischen Pädagogik
und Philosophie. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 41- 56.
Schäfer, Alfred (1996a): Autonomie - zwischen Illusion und Zumutung. In: Vierteljahres-
schrift für wissenschaftliche Pädagogik 72, S. 175-189.
Schäfer, Alfred (1996b): Das Bildungsproblem nach der humanistischen Illusion. Wein-
heim: Deutscher Studien Verlag.
Schäfer, Alfred (1997): Erziehungsphilosophie. In: Armin BernhardlLutz Rothermel
(Hrsg.): Handbuch Kritische Pädagogik. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S.
120-131.
Schäfer, Alfred (1999): Unsagbare Identität. Das Andere als Grenze in der Selbstthemati-
sierung der Batemi (Sonjo). Berlin: Reimer.
Schütz, Egon (1989): Die These vom Ende des Menschen. Oder: WER spricht bei
Foucault? In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 65, S. 378-387.
Schütz, Egon (1991): Humanismus als ,Humanismuskritik'. In: Zeitschrift für Pädagogik
37, S. 1-11.
Von den Schwierigkeiten, nicht oppositional zu denken 35

Schlitz, Egon (1992): Humanismus als anthropologische Herausforderung. Eine Zwischen-


liberlegung. In: Ders.: Macht und Ohnmacht der Bildung. Weinheim: Deutscher Stu-
dien Verlag, S. 169-183.
Slinker, HeinzlHeinz-Hermann Kriiger (Hrsg.) (1999): Kritische Erziehungswissenschaft
am Neubeginn?!. FrankfurtJMain: Suhrkamp.
Szemerooy, Susanne (2001): Der/die spezifische Intellektuelle Foucaults. Leitfigur fiir ein
neues sozialarbeiterisches Ethos im Geiste der Dekonstruktion? In: Bettina Fritzsche
(Hrsg.): Dekonstruktive Pädagogik. Erziehungswissenschaftliche Debatten unter post-
strukturalistischen Perspektiven. Opladen: Leske + Budrich, S. 255-268.
Zymek, Bemd (1983): Evolutionistische und strukturale Ansätze zu einer Geschichte der
Erziehung. In: Dieter LenzenlKlaus Mollenhauer (Hrsg.): Enzyklopädie Erziehungs-
wissenschaft. Theorien und Grundbegriffe der Erziehung und Bildung. Band 1. Stutt-
gart: Klett-Cotta, S. 55-78.
Zwischen Wahrheit und Ideologie:
methodologische Herausforderungen
Christiane Thompson

Diesseits von Authentizität und Emanzipation.


Verschiebungen kritischer Erziehungswissenschaft zu
einer ,kritischen Ontologie der Gegenwart'

Ein Blick auf die Geschichte des pädagogischen Denkens zeigt, dass insbe-
sondere in der modemen Pädagogik Erziehung und Bildung auf eine kritische
Inblicknahme und Verbesserung der gegebenen menschlichen Verhältnisse
bezogen werden. So versteht beispielsweise Kant unter Erziehung ein herrli-
ches Ideal, welches einen Vorblick auf ein künftig glücklicheres Menschen-
geschlecht erlaube (vgl. Kant 1963). Dabei hat eine "echte" Erziehung "sehr
vieles zu tun", wenn sie sich vornimmt, den Menschen nicht bloß zu dressie-
ren oder abzurichten, sondern ihn "wirklich" aufzuklären (vgl. ebd.: 17). Mit
der Vorstellung, dass die Kinder das Denken lernen und also durch Erziehung
zum selbständigen Gebrauch des eigenen Verstandes befahigt werden, eignet
sich die modeme Pädagogik den aufklärerischen Rationalitätsanspruch an
und konfiguriert ,Mündigkeit' als pädagogisches Problem.
Eine besonders prominente Fassung dieses Problems findet sich bei
Rousseau, der den Fortschritts- und Aufklärungsoptimismus kritisiert und ra-
dikalisiert, indem er den von der Aufklärung geforderten Vernunftgebrauch
auf seine gesellschaftliche Vermitteltheit hin befragt (vgl. Rousseau 1988).
Auf diese Weise geraten die ,entfremdenden' Tendenzen der ,Wissenschaf-
ten und Künste' ebenso wie das Ungenügen der Vernunft, einen Maßstab für
Entfremdung und Wahrheit beibringen zu können, in das Blickfeld einer
scheinbar unmöglichen Untersuchung. Damit werden die Schwierigkeiten für
jene deutlich, die mit dem Anspruch auftreten, die Aufklärung über sich
selbst aufzuklären (für Rousseau vgl. Schäfer 1992). Auf welche Maßstäbe
soll sich eine Untersuchung, welche die diskursiven Fähigkeiten der Vernunft
in Frage stellt, noch beziehen?
Benannt ist damit der zugleich notwendige und problematische Ansatz-
punkt einer Pädagogik, die sich als ,kritisch' verstehen will. Anders gesagt
tritt hier der Anstoß und die Anstößigkeit einer kritischen Pädagogik oder Er-
ziehungswissenschaft zutage, die einerseits die anti-aufklärerischen Tenden-
zen der Aufklärung zum Thema machen will und muss (wenn es ihr denn
wirklich um Aufklärung geht), die aber andererseits feststellt, dass die eige-
nen diesbezüglichen Spielräume des Nachdenkens bedenklich eingeschränkt
sind.
40 Christiane Thompson

Mit dieser knappen Problemanzeige zeichnet sich zum einen die Konsti-
tutivität der Kritik für die Pädagogik ab, d.h. die Überlegung, dass Kritik ei-
nen programmatischen Charakter für die Pädagogik besitzt. Zum anderen
verweist die sich aufdrängende Frage, inwieweit der Kritiker nicht noch dem
Kritisierten unterliegt (dazu Schäfer 1991), auf die schwierige Platzierung
pädagogischer Kritik zwischen Zäsur und Rückfall.
Im Folgenden soll es um die Frage von ,Aufklärung und Selbstkritik' ge-
hen und um den Beitrag, den Michel Foucault mit seinen Überlegungen zu
einer ,kritischen Ontologie der Gegenwart' (vgl. Foucault 1990) diesbezüg-
lich liefern kann. Bevor allerdings auf Foucaults spätere Umschreibungen ei-
ner ,kritischen Ontologie' (2) eingegangen und entsprechend seine Selbstpo-
sitionierung durch den Erfahrungsbegriff (3) rekonstruiert wird, soll die bis-
lang nur holzschnittartige Problemanzeige von ,Pädagogik und Kritik' im
Zusammenhang der ,kritischen Erziehungswissenschaft' des 20. Jahrhunderts
weiter expliziert werden (1).

1. Das Problem der ,Emanzipation' als Schicksal der


,kritischen Erziehungswissenschaft'

Mit der Bezeichnung ,kritische Erziehungswissenschaft' wird jenes unein-


heitliche Forschungsprogramm zusammengefasst, welches sich in der Aus-
einandersetzung mit der geisteswissenschaftlichen Pädagogik Göttinger Pro-
venienz unter Bezugnahme auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule
herausbildete. Ein Blick auf die gegenwärtige Veröffentlichungslage deutet
bereits auf den Entwicklungsverlauf dieser prominenten Richtung hin, die
gegen Ende der 1960er Jahre ihren - zunehmend stürmischen - Anfang nahm
und Ende der 1980er Jahre erheblich an Bedeutung verlor, so dass bereits
1999 erneut von einer Kritischen Erziehungswissenschaft am Neubeginn?!
(vgl. Sünker/Krüger 1999) gesprochen werden konnte. Der Begriff des Neu-
beginns impliziert dabei, dass sich dieser Ansatz - warum auch immer -
nicht durchgehalten hat, dass jedoch die mit ihm verbundene Fragerichtung
der Kritik unaufgebbar ist und daher auf eine Erneuerung drängt. An dieser
Stelle möchte ich nicht den Entstehungsrahmen, den Aufschwung und Nie-
dergang der ,kritischen Erziehungswissenschaft', zu deren herausragenden
Vertretern der ersten Stunde insbesondere Klaus Mollenhauer (vgl. Mollen-
hauer 1964) und Herwig Blankertz (vgl. Blankertz 1969) zählen, im einzel-
nen nachzeichnen oder eine ausführliche kritische Prüfung dieser Richtung
vornehmen (vgl. dazu Ruhloff 1979, Keckeisen 1984, Tenorth 1999, Diet-
richlMüller 2000). Vielmehr geht es mir um eine konzise Darstellung ihres
, umstrittenen Terrains', nämlich des notwendigen, aber problematischen
Kritikanspruchs, wie er sich im ,Emanzipationspostulat' ausdrückt.
Die These, mit der sich die ,kritische Erziehungswissenschaft' von kon-
kurrierenden pädagogischen Ansätzen zu unterscheiden suchte, ist jene der
Diesseits von Authentizität und Emanzipation 41

Verändentngsbedüiftigkeit der gesellschaftlichen Zustände, auch und gerade


in Bezug auf Erziehungs- und Bildungsprozesse. Während empirisch-analy-
tische Ansätze versuchten, ihre Forschungen nach den Maßgaben der exakten
Naturwissenschaften zu betreiben, zielten die Ansätze geisteswissenschaftli-
cher Herkunft mit Verweis auf die Vorgängigkeit und Dignität der Praxis auf
die Analyse der Erziehungswirklichkeit, der Struktur ihrer Normen und Fak-
ten (vgl. dazu Blankertz 1979). Die ,kritische Erziehungswissenschaft' hin-
gegen begnügte sich, so die damalige Selbstcharakterisierung, weder mit ei-
ner bloß nachzeichnenden Sinnauslegung der Erziehungswirklichkeit noch
mit einer eher technologischen Orientierung, ihren wissenschaftlichen Ein-
satz als kausalanalytische Untersuchung von Erziehung und Lernen zu ver-
stehen. Gegen vermeintliche Wertfreiheit und affirmativen Praxisbezug setzte
sie die These, dass es um die Mündigkeit und Emanzipation der Subjekte zu
gehen habe (vgl. Mollenhauer 1973: 10). Sollte Pädagogik nicht bloß auf eine
Reproduktion oder Repetition der gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedin-
gungen angelegt sein, sollte sie nicht einfach in der Gegebenheit des Fakti-
schen aufgehen, so kam ihr theoretisch und praktisch die Aufgabe zu, die
Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderungen zu erhellen bzw. zu eröff-
nen. Mit dieser doppelten Frontstellung gegenüber Hermeneutik und Positi-
vismus ist daher der systematische Ort der ,kritischen Erziehungswissen-
schaft' angegeben - ein allerdings überaus prekärer Ort, wie sich an den Aus-
führungen zum Emanzipationspostulat zeigen lässt.
,Emanzipation' im Sinne ,kritischer Erziehungswissenschaft' erlaubt kei-
ne positive bzw. definitorische Bestimmung. Denker wie Mollenhauer oder
Blankertz machen an dieser Stelle vielmehr die Kategorien von ,,Negativität"
und "Möglichkeit" stark, die den kritischen Zug des Denkens anzeigen (vgl.
Mollenhauer 1973: 68f.; Blankertz 1979: 31). Das Festschreiben von ,Eman-
zipation' in einem normativen Programm unterläuft die Intention ,kritischer
Erziehungswissenschaft', die angesichts gefestigter Herrschaftsverhältnisse
und der entsprechenden Denkgewohnheiten gerade auf der Suche nach neuen
Reflexionsräumen ist. Die ,kritische Erziehungswissenschaft' steckt daher in
einem Spannungsverhältnis von Wirklichkeit und Möglichkeit, aus dem her-
aus sie gesellschaftliche Veränderung anvisieren muss: "Das bedeutet nicht,
daß es Aufgabe der Erziehungswissenschaft sei, inhaltlich detaillierte Ent-
würfe einer ,besseren Erziehung' vorzulegen, da diese, wollen sie nicht uto-
pisch sein, ihrerseits ein Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Interessen-
lagen sein müßten [ ... ]" (v gl. Mollenhauer 1973: 68f.). Wenn sich die anvi-
sierten Veränderungen nicht einfach aus einer Extrapolation des Vergange-
nen bzw. Gegenwärtigen ergeben können, d.h. aus einer Extrapolation, die
bei der bestehenden gesellschaftlichen Interessenlage ansetzt, dann muss
,Emanzipation' notwendig einen Bruch mit dem Gegebenen beinhalten.'

Vgl. für eine Ausarbeitung der "negativen Normativität emanzipatorischer Pädagogik"


Ruhloff 1979: ll1ff.
42 Christiane Thompson

In der positiven Ausdeutung von ,Emanzipation' liegt allerdings nicht


nur die Gefahr, zum Apologeten des Bestehenden zu werden. Überdeckt
würde durch eine solche Sinn bestimmung nicht nur die Auseinandersetzung
mit den je konkreten gesellschaftlichen Herrschaftssituationen, sondern auch
der Versuch, mit dem Begriff der ,Emanzipation' den Anspruch der Selbstre-
flexion auf die Spitze zu treiben: Das Emanzipationspostulat erhält wegen der
ideologischen Tendenzen, die der Wissenschaft selbst eigen sind (vgl. Ha-
bermas 1968), den Status einer Problemfonnel. An das Emanzipationspostu-
lat heftet sich demnach nicht bloß die Forderung nach Mündigkeit; in ihm
spiegelt sich auch das Bewusstsein der Unfähigkeit, ihm eine angemessene
Ausdeutung zu geben?
Die Problematisierungen des Emanzipationspostulats, die sowohl von
außerhalb wie auch innerhalb der ,kritischen Erziehungswissenschaft' erfolgt
sind, kreisen nun genau um diese Bestimmung und Verortung von ,Emanzi-
pation'. Einige Kritiker monieren die Unbestimmtheit des Emanzipationsbe-
griffs, die zu einem ,losen Ende' führe: Mit der nur abstrakten Negation des
Gegenwärtigen liefert das Emanzipationspostulat keine Ansatzpunkte, um der
Praxis eine Orientierung bieten zu können - so hat Dietrich Benner bereits
sehr früh eingewandt (vgl. Benner 1970/1994). Inhalt und Rahmen von
,Emanzipation' bleiben trotz Radikalität des Postulats folgenlos, weil der
bloße Verweis auf die Veränderungsbedürftigkeit des Wirklichen nicht aus-
reicht, um gegen die Realitätsmächte anzudenken. Unklar bleibe zugleich,
wonach sich angesichts der Negativität bemessen solle, was das "Bessere",
d.h. was als Fortschritt gegenüber dem Gegenwärtigen zu bezeichnen sei
(vgl. dazu Ruhloff 1979: 131ff.). Klaus Mollenhauer, der schon zu Beginn
grundsätzlich die Notwendigkeit einer Explikation von ,Emanzipation' her-
ausgestellt hat (vgl. Mollenhauer 1973: 11), bemerkt im Rückblick, dass der
Begriff kaum pädagogisch ausgearbeitet worden und eine unbestimmte Kate-
gorie geblieben sei (vgl. Mollenhauer 1982: 256). Vielmehr ist vor dem Hin-
tergrund einer fehlenden Verständigung über die pädagogisch-philoso-
phischen Konturen des Begriffs die inflationäre Rhetorik der ,Emanzipation'
nur verstärkt worden (vgl. Keckeisen 1984: 136ff.).
Die problematische Dimension von ,Emanzipation' ist zudem trotz oder
gerade wegen bestimmter Konturierungen und Verortungen des Begriffs ni-
velliert worden. Eine Sinnbestimmung von ,Emanzipation' erscheint aller-
dings ungeachtet ihres negativ-kritischen Charakters unumgänglich, wenn
man sich nicht gänzlich in dunklen Assoziationen verlieren möchte. Einen
entsprechenden Verständnisrahmen hat Jürgen Habermas mit seiner Antritts-
vorlesung Erkenntnis und Interesse (vgl. Habermas 1968) geliefert, in der er
das für eine kritische Sozialwissenschaft leitende Interesse als emanzipatori-
sches darlegt hat. Die kritische Sozialwissenschaft ist für eine Selbstausein-
andersetzung von Vernunft und Aufklärung verantwortlich, die, so Haber-

2 Diese Unruhe geht allerdings umso mehr verloren, als unter ,Emanzipation' eine ein-
hellige pädagogische Aufgabe verstanden wird.
Diesseits von Authentizität und Emanzipation 43

mas, apriori mit der Sprache gesetzt sei. An diese Stelle gehört der - inzwi-
schen wohl eher ,berüchtigte' - Satz: "Mit dem ersten Satz ist die Intention
eines allgemeinen und ungezwungenen Konsensus unmißverständlich ausge-
sprochen" (Habermas 1968: 163). Der Versuch, die Vernunft dialogisch in
Bewegung zu bringen und aus ihrem Monolog zu befreien, ruht auf dem Ver-
ständigungspotential der Sprache auf, für das der Geltungsanspruch einsteht.
Habermas entwickelt an dieser Stelle ein Verfahren, durch das - trotz kon-
trafaktischer Ausgangslage - die Erreichbarkeit von Emanzipation vorge-
zeichnet wird. Diese Rahmung verleiht der Emanzipation letztlich einen ob-
jektiven Sinn, mit dem die Geschichte der Menschheit auf Fortgang bzw.
Entwicklung hin orientiert werden kann. Diese Interpretationslinie aufgrei-
fend spricht Mollenhauer von der "intersubjektiv prüfbare[n] Analyse der
Bedingungen für Rationalität" (Mollenhauer 1973: 11, vgl. auch: 67f.). Die
kommunikative Auseinandersetzung und Diskussion bildet die einzige Mög-
lichkeit, die Verhinderung von Rationalität in der gegebenen Gesellschaft als
Ideologie zu entlarven und zu überwinden (vgl. ebd.: 68f.).
Eine unter systematischen Gesichtspunkten vergleichbare Rahmung des
Emanzipationsbegriffs nimmt Herwig Blankertz in seiner Geschichte der
Pädagogik vor. Die Erziehungswissenschaft rekonstruiere die Erziehung als
den Prozess der Emanzipation, d.h. als Befreiung des Menschen zu sich
selbst - darin liege ihr Sinn (Blankertz 1982: 307; vgl. dazu auch Rieger-
Ladich 2002: 167ff.). Die Frage, wonach sich der "progressiv-revolutionäre
Gehalt" der pädagogischen Tradition (vgl. Blankertz 1969: 51) eigentlich
bemisst, wird durch den Rekurs auf die Funktion der Emanzipation als einer
,regulativen Idee' des Bildungs- und Erziehungsdenkens der Tradition be-
antwortet: Insbesondere durch Immanuel Kant und Wilhelm von Humboldt
habe sich mit Blick auf eine ,mögliche Zukunft' ein kritisches Moment der
Pädagogik gegenüber den Zwängen und Instrumentalisierungen in der ge-
genwärtigen Gesellschaftslage herausgebildet und eine Sensibilität für die
Dialektik von Pädagogik und Gesellschaft entwickelt. Die Differenz zwi-
schen wünschbarer Möglichkeit und defizienter Wirklichkeit hat ihren Ur-
sprung in der Bildungstradition, in der wir stehen. ,Emanzipation' aber wird
auf diesem Wege, so hat Keckeisen kritisch angemerkt, mit der deutschen
Bildungstradition schlicht "kurzgeschlossen" (vgl. Keckeisen 1984: 203).
In der Selbstreflexion der ,kritischen Erziehungswissenschaft' hat sich
diese Auslegung des Emanzipationspostulats, die letztlich auf den Gegensatz
von kruder Gesellschaft und vernünftigem Menschen hinausläuft, schnell als
unzureichend erwiesen, da eine derartige Interpretation den Bezug zur eige-
nen Situativität der Problemlagen und Kritikoptionen einbüßt (vgl. Keckeisen
1984: 191ff.) und damit der (selbst-)kritische Anspruch in eine positive Dia-
lektik überführt wird (dazu auch Dammer 1990: 190). In der so erfolgten
Sinnzuschreibung verabsolutiert sich das Emanzipationspostulat, so dass nur
eine abgehobene Defizitzuschreibung gesellschaftlicher Realität möglich ist.
Damit aber wird die jeweilige konkrete Genese, Funktion und Wirkung von
Herrschaftsverhältnissen aus den Augen verloren (vgl. Keckeisen 1984: 193);
44 Christiane Thompson

andererseits wird einem blinden Vertrauen auf die Vernunft zugearbeitet, de-
ren Ideen sich nur gegen die Wirklichkeit durchzusetzen hätten.
Welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus dieser Problemlage für den
pädagogischen Kritikanspruch? Ist denn die Forderung nach Emanzipation
für die Möglichkeit von Kritik angesichts der gesellschaftlichen Präformation
wissenschaftlichen Denkens (einschließlich der oben genannten Problemati-
sierungen) nicht unverzichtbar? Diese Frage erinnert an die Forderung Hork-
heimers und Adornos nach der "Unnachgiebigkeit der Theorie gegen die Be-
wußtlosigkeit, mit der die Gesellschaft das Denken sich verhärten läßt"
(Horkheimer/Adorno 1987: 65). Wenn nun aber angesichts gegenwärtiger
gesellschaftlicher Interessenlagen eine unnachgiebige Theorie unerlässlich
ist, wie lassen sich in einem kritischen Sinn "Veränderungsbedürftigkeit" so-
wie "Veränderungsmöglichkeit" plausibel machen? Erliegt die kritische Päda-
gogik notwendig dem Schicksal, dass ,,[kleine Kritik, so sehr sie sich gegen
ideologische Projektionen zu schützen versucht, [ ... lohne jeden Vorgriff und
also auch ohne einen (wiewohl) abstrakten Vorbegriff dessen aus[kommt],
was den utopischen Zustand des richtigen Lebens und der wahrhaften Bil-
dung kennzeichnet" (Keckeisen 1984: 191)? Der Kern dieser Fragen kreist
nach wie vor um die schwierige Platzierung pädagogischer Kritik. Es geht
um die Frage nach den Kriterien, auf die sich eine pädagogische Kritik noch
meint, beziehen zu können. Im Folgenden möchte ich prüfen, ob in diesem
Zusammenhang eine Bezugnahme auf das Denken Michel Foucaults Anre-
gungen liefern kann.

2. Anregungen durch Foucaults ,kritische Ontologie der


Gegenwart'
Die Bezugnahme auf das Denken Michel Foucaults hat sich zunächst dem
Eindruck zu erwehren, einen Richterspruch bezüglich ,Kritik' oder bezüglich
der ,kritischen Erziehungswissenschaft' erwirken zu können. Es verhält sich
nicht so, wie die vorliegende Gliederung es nahe legen könnte: dass Michel
Foucault an dieser Stelle als Autorität auftritt, um über das Problem der
Mündigkeit und Emanzipation eine Entscheidung herbeizuführen. Das Be-
sondere des Foucaultschen Denkeinsatzes liegt gerade nicht darin, mit dem
Anspruch der Gewissheit oder Unwiderlegbarkeit aufzutreten und von ,bishe-
rigen' Illusionen und Konfusionen zu befreien. Foucault kann, in den Worten
Fran<;ois Ewalds, nicht auf Imperative hin gelesen werden, nicht im Sinne ei-
nes Positionsbezugs, von dem aus sich eine große Wahrheit eröffnet und
eine große Politik der Emanzipation abzeichnet (Ewald in Foucault 1978:
8ff.). Mit Foucault werden die Erwartungen auf ein Ende gesellschaftlicher
und kultureller Hegemonie enttäuscht und damit gleichfalls die Hoffnung
auf eine Wahrheit, für die man emphatisch eintreten kann (vgl. Foucault
1978: 53).
Diesseits von Authentizität und Emanzipation 45

Wenn sich Foucault Autoritätszuschreibungen verweigert und identifizie-


renden Kategorisierungen entzieht, so könnte der Eindruck entstehen, dass
Foucaults Stellung zur Kritik-Problematik flüchtig und beliebig ist. Das wür-
de bedeuten, dass sich die Zwangslagen, der sich die kritische Pädagogik ge-
genüber sieht, verstärken, weil der Anspruch, seine Kritik verankern zu kön-
nen, demontiert wird. Die Selbstbeschreibung Foucaults, kein "objektives
Wissen" zu produzieren (Foucault 1996: 53), kann einsichtig gemacht wer-
den, wenn man - grob gesagt - die gesellschaftlichen Funktionen und Um-
stände wissenschaftlicher Forschung und deren emphatische Forderungen
nach Emanzipation, Wahrheit und Gerechtigkeit untersucht. Diese Bemer-
kungen können als Vorverweis auf die ,kritische Ontologie der Gegenwart'
dienen, die im Folgenden zunächst dargestellt werden soll.
Michel Foucault versucht, seine Leser für die Implikationen zu sensibili-
sieren, die in einem transzendentalen Denkhorizont liegen, d.h. in einem an
(apriorischer) Legitimität orientierten Denkhorizont. Dieser geht auf die
Kantische Vernunftkritik und deren Scheidung von Wissenschaft und Meta-
physik zurück: Mit seinen de-iure-Umgrenzungen etabliert Kant die trans-
zendentale Fragerichtung, die es erlaubt, die universalen Möglichkeiten und
Grenzen der menschlichen Vernunft zu bestimmen. Ist der Vorblick einmal
auf diese Unterscheidung von Wissenschaft und Metaphysik ausgerichtet, so
stellt sich die Frage nach Erkenntnis bzw. nach ihrer problematischen Ge-
winnung folgendermaßen: ,,[W]elche falsche Idee hat die Erkenntnis von sich
selbst gemacht, welchem exzessiven Gebrauch sah sie sich ausgesetzt und an
welche Herrschaft fand sie sich folglich gebunden?" (Foucault 1992: 30,
Hervorhebungen C.T.). In dieser Frage ist die Existenz eines von Ideologie
und Machtansprüchen unbehelligten Wissens als Voraussetzung eingegan-
gen. Dieser Vorannahme hält Foucault entgegen, dass wissenschaftliche Dis-
kurse keineswegs ihren freien Lauf nehmen; ganz im Gegenteil erfahren sie
Begrenzungen in dem Sinne, dass "in jeder Gesellschaft die Produktion des
Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird"
(Foucault 1992a: 11). In seiner Antrittsvorlesung am College de France
(1970) unterscheidet Foucault entsprechend zwischen inneren und äußeren
Mechanismen der Ausschließung: Von innen erfahren Diskurse eine Rege-
lung im Sinne von Anordnung, Klassifikation und Verteilung der wissen-
schaftlichen Aussagen z.B. durch die in der Neuzeit an Wichtigkeit zuneh-
mende Autorschaft, d.h. durch einen Zusammenhang stiftenden personalen
Bezugspunkt, in Literatur, Philosophie und Wissenschaft. Rigider sind jene
Mechanismen, welche in einem gegebenen Diskurs die Wahrheit und Falsch-
heit von Aussagen festlegen. Durch solche Mechanismen lässt sich erklären,
warum sich manche wissenschaftlichen Arbeitsergebnisse erst mit Verzöge-
rung durchsetzen oder - umgekehrt - erst nach langer Zeit eingeschränkt
werden. Mit den äußeren Ausschließungsmechanismen weist Foucault insbe-
sondere auf gesellschaftliche Praktiken hin, welche die Erzeugung der Dis-
kurse lenken. Als Beispiel hierfür kann die Produktion und Verteilung von
Büchern (z.B. zur Zeit der Reformation) oder (wohl allgemein) die Rolle ge-
46 Christiane Thompson

lehrter bzw. fachbezogener Gesellschaften gelten; auf diese Weise wird auch
bestimmt, wer überhaupt Zugang zu einem Diskurs erhält (vgl. Foucault
1992a: 20ff.).
Bei der Reflexion dieser Beispiele mag die Frage aufkommen, ob von
den Hindernissen und Lenkungen, die der wissenschaftliche Diskurs von in-
nen und außen erfährt, nicht doch ein ,echtes' Wissen unterschieden werden
kann, das sich aber nach Umfang und Form nur entsprechend der Diskursver-
fassung zeigt. Foucault fragt nicht in der Linie solcher Idealisierungen und
deren unbeeinträchtigten Erkenntnisräumen: Das von ihm erarbeitete histo-
risch-philosophische Programm versucht gerade, diese Idealisierungsstrate-
gien, Strukturierungen und Durchsetzungsmechanismen im Bereich des
, Wissens' aufzudecken. Die Grundthese ist mithin, dass der Raum der Er-
kenntnis keineswegs eine neutrale und machtfreie Zone darstellt. Damit Wis-
sen als Wissen funktionieren kann, muss es positioniert werden, eingesetzt
werden, in Anschlag gebracht werden oder kurz: Es muss Macht ausüben:
,,[N]ichts kann als Wissenselement auftreten, wenn es nicht mit einem Sys-
tem spezifischer Regeln und Zwänge konform geht - etwa mit dem System
eines bestimmten wissenschaftlichen Diskurses in einer bestimmten Epoche,
und wenn es nicht andererseits, gerade weil es wissenschaftlich und rational
oder einfach plausibel ist, zu Nötigungen oder Anreizungen fähig ist. Umge-
kehrt kann nichts als Machtmechanismus funktionieren, wenn es sich nicht in
Prozeduren und Mittel-Zweck-Beziehungen entfaltet, welche in Wissenssyste-
men fundiert sind" (Foucault 1992: 33). Zwischen Wissen und Macht besteht
demnach ein inniges Wechselverhältnis. Anstatt einen objektiven Blick auf ,die
Wirklichkeit' zu gewährleisten, ist Wissen auf der einen Seite durch einen be-
stimmten Zugriff gekennzeichnet. Jedes Begreifen ist danach mit einem pro-
duktiven Machtanspruch verbunden, der die Beziehung von Bezeichnetem und
Bezeichnung reguliert. Auf der anderen Seite ist Wissen immer schon in Struk-
turen eingepasst und damit Lenkungen unterworfen, die seinen Einsatz und
seinen Fortgang bestimmen. Umgekehrt lässt sich sagen, dass sich Machtan-
sprüche gerade durch Wissens- und Wahrheitsproduktionen durchsetzen.
Wenn Wissen nicht jenseits von Macht lokalisiert ist, dann ist die Sehn-
sucht nach einem transparenten und machtfreien Wissen ebenso aufzugeben
wie der Ort der Wahrheit als idealer Jenseitigkeit: "Die Wahrheit ist von dieser
Welt; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie
über geregelte Machtwirkungen" (Foucault 1978: 51). Welche Funktionen und
Strategien stehen hinter ,der Wahrheit' als Befreiungsschlag gegen die Ideolo-
gie, oder als Belohnung für jene, die sich auf einen langwierigen Forschungs-
weg (inklusive Abirrungen und Entbehrungen) begeben haben? Die Wahrheit
steht in Verbindung mit Machtmechanismen, so dass eine Untersuchung der
"Politik der Wahrheit" (vgl. ebd.) erforderlich wird. Zu einer solchen Analyse
würde nach Foucault heute beispielsweise gehören, wie stark die Wahrheit auf
den wissenschaftlichen Diskurs und die Institutionen, die diesen erzeugen, be-
zogen ist. Anhand dieses Beispiels lässt sich zudem plausibel machen, dass es
Foucault keineswegs um ein ontologisch-metaphysisches Statement - ,Alles ist
Diesseits von Authentizität und Emanzipation 47

Macht!' - geht. Mit seinem archäologisch-genealogischen Denkeinsatz ver-


sucht Foucault, das Wissen für dessen geschichtliche bzw. gesellschaftliche
Bedingtheit zu öffnen. Der Begriff des Macht-Wissens hat eine methodologi-
sche Funktion: Er wird nicht in prinzipieller und erkenntnistheoretisch direkter
Absicht verwendet, sondern dient als Analyseinstrument einer konkreten ge-
schichtlich bestimmten Konstellation, z.B. der Erfahrung mit dem Wahnsinn in
der französischen Klassik. Damit verliert sich zugleich die vermeintliche Sin-
gularität, die dem Machtbegriff Foucaults fälschlich zugewiesen wird: Nach
wie vor handelt es sich nicht um die Macht, deren Fäden in einer bestimmten
Region des gesellschaftlichen Lebens zusammen laufen. Anvisiert sind verwo-
bene und variable Strukturen, in denen die Individuen integriert sind und mit
denen diese agieren (vgl. Schäfer 1995).
Anstatt mit dem Anspruch einer universellen Legitimitätsprüfung aufzu-
treten, beabsichtigt Foucault in seiner ,kritischen Ontologie der Gegenwart'
eine so genannte "Ereignishaftigkeitsprüfung" oder "Ereignishaftmachung"
(vgl. Foucault 1992: 30ff.). Ausgehend von empirisch festgehaltenen Ele-
menten wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Praxis werden die Verbin-
dungen und Verschränkungen zwischen Zwangsmechanismen und Erkennt-
niselementen untersucht: Aufgrund welcher Bedingungen schließen sich an
Zwangsverfahren gewisse Kalküle an? Oder umgekehrt: Wieso entfalten sich
gewisse Machtwirkungen im Anschluss an Erkenntnisse? Foucault fragt also
nach den Akzeptabilitätsbedingungen ausgesuchter Erkenntnisbeziehungen
und den jeweilig zugehörigen Machtwirkungen.
In welchem Sinne lässt sich nun dieses historisch-philosophische Unter-
fangen als ,kritisch' verstehen? Worauf rekurriert Kritik, wenn sie sich nicht
auf die Unterscheidung von Legitimität und Illegitimität bzw. von Wahrheit
und Ideologie zurück beziehen will? Um den jeweiligen Ansatzpunkt der
Kritik auffinden zu können, ist es nach Foucault notwendig, die entsprechen-
den "Bruchlinien" im Auftauchen eines akzeptierten Systems von Macht-
Wissen aufzufinden (vgl. Foucault 1992: 35). Es geht darum, hervortreten zu
lassen, dass keinerlei Apriori - im Sinne eines Gottesurteils, eines transzen-
dentalen Grundsatzes oder der Tradition - für dessen Bestehen angesetzt wer-
den kann. Der Kohärenz des Akzeptabilitätssystems korrespondiert Diskonti-
nuität: Es war nicht vorgegeben, dass "das Verlangen, die Begehrlichkeit, das
sexuelle Verhalten der Individuen sich in einem Sexualität genannten Wissens-
und Normalitätssystem ineinander fügen" (vgl. ebd.). Zu beachten ist demnach,
dass die genealogischen Untersuchungen sich nicht als ein Erklärungsverfahren
im Sinne letztbegründender, pyramidalisierender und notwendiger Kausalität
verstehen. Würde Foucault ein solches Verfahren beabsichtigen, hätte er die ei-
gene heuristische Macht-Wissen-Analytik überspannt und überschritten: in der
Annahme eines (historischen) Wissens diesseits von Macht? Ein solches Wis-

3 Einsichtig wird damit, warum Michel Foucault Nietzsches Begriff der ,Genealogie'
zur Charakterisierung seines Vorgehens aufgreift: Im Gegensatz zur Rückführung auf
einen bestimmbaren Ursprung, von dem aus sich Geschichte kontinuierlich und te-
48 Christiane Thompson

sen spräche aus der Sicherheit seiner eigenen Verortung unter der Annahme
eines unproblematischen Referenzpunktes.
Es ist eine systematisch schwierige und fast unmögliche Aufgabe, sich an
dieser Stelle nicht doch von jenem, Willen zur Wahrheit' einholen zu lassen
und also nicht mit einer machtvollen (historischen oder erklärenden) These
aufzutreten. Foucault folgt wohl seiner Intuition, wenn er sagt: "Es ist richtig,
daß wir die Hoffnung aufgeben müssen, jemals einen Standpunkt zu errei-
chen, der uns Zugang zu einer vollständigen und definitiven Erkenntnis dar-
über gewähren könnte, was unsere historischen Grenzen konstituiert. Und
von diesem Standpunkt aus ist die theoretische und praktische Erfahrung, die
wir von unseren Grenzen und ihrer Überschreitung machen, stets selbst be-
grenzt, bestimmt und von neuem zu beginnen" (Foucault 1990: 50). Foucault
zieht an dieser Stelle die Konsequenzen aus der methodologischen Anlage
seines Projekts. Ohne transzendentale Begründungsmechanismen, wie z.B.
die Sinn verbürgende Subjektivität, ist es unmöglich, die eigenen lokalen
Untersuchungen unter die Begriffe ,Wissenschaft' oder ,Erkenntnis' und ihre
Ansprüche von Nachprüfbarkeit und Standpunktfreiheit zu stellen. Foucault
bezeichnet die Genealogie in diesem Zusammenhang auch als ,Antiwissen-
schaften'; in der oben zitierten Textstelle wählt Foucault den Begriff "Erfah-
rung" (ebd.) für die Ergebnisse der archäologisch-genealogischen Untersu-
chung, durch den der radikal geschichtliche Hintergrund seines Projekts so-
wie dessen fiktiver Charakter deutlich wird. Der spannungsreiche Ausdruck
,kritische Ontologie der Gegenwart' bezeichnet folglich eine Untersuchung,
die einerseits im Bewusstsein von Endlichkeit und Begrenztheit stattfindet,
die andererseits im Rahmen dieser Grenzerfassung erst die Grenzen be-
stimmt. Die Bestimmung enthält ein kritisches Potential, da die in den En-
sembles von Macht-Wissen herausgestellten Brüche und Kontingenzen ein
Feld möglicher Umkehr oder Veränderung vorauszeichnen. Die Momente
von Relativität (Geschichtlichkeit) und Kritik drücken sich in der folgenden
auf das menschliche Selbstverständnis bzw. Selbstverhältnis bezogenen
Textstelle aus: ,,[D]ie Menschen [haben] im Laufe ihrer Geschichte niemals
aufgehört [ ... ], sich selbst zu konstruieren, das heißt ihre Subjektivität be-
ständig zu verschieben, sich in einer unendlichen und vielfältigen Serie un-
terschiedlicher Subjektivitäten zu konstituieren. Diese Serie von Subjektivi-
täten wird niemals zu einem Ende kommen und uns niemals vor etwas stel-
len, das ,der Mensch' wäre. Der Mensch ist ein Erfahrungstier: Er tritt stän-
dig in einen Prozeß ein, der ihn als Objekt konstituiert und ihn dabei gleich-
zeitig verschiebt, verformt, verwandelt - und der ihn als Subjekt umgestaltet"
(Foucault 1996: 85). Michel Foucault entsagt einer metaphysisch-anthro-
pologischen Seinsformel und richtet seine Aufmerksamkeit auf die Wandlun-
gen und Verschiebungen von Subjektivität in der Geschichte der abendländi-

leologisch entfaltet, steht die Genealogie mit ihren vielfaltigen Herkunftsgeschichten.


Die Vorgehensweise dabei ist experimentell, nicht beweisend oder widerlegend (vgl.
Foucault 1987).
Diesseits von Authentizität und Emanzipation 49

sehen Tradition, wobei vor allem die doppelte Perspektive von Subjektivie-
rung und Objektivierung für Foucault bedeutsam ist. Diese Dopplung4 als
Unterwerfung und Ermächtigung des Selbst angesichts von Macht-Wissen
lässt sich anhand der Idee neuzeitlicher Subjektivität verdeutlichen. Die
Selbstbestimmung des neuzeitlichen autonomen Vemunftsubjekts lässt sich
(in theoretischer wie praktischer Hinsicht) einerseits als Autonomisierung,
andererseits als Unterwerfung lesen, deren Effizienz äußere Formen der
Handlungsbeschränkung und -anleitung weit übertrifft: Der freisetzenden
Handlungsautonomie steht die die Individuen regelnde Zuschreibung von
Verantwortlichkeit für das eigene Tun zur Seite (vgl. zur Autonomieproble-
matik Meyer-Drawe 1990a und zum ,Täter hinter dem Tun' Schäfer 1996).
Eine Untersuchung ist nach Foucault gerade hinsichtlich dieser uns Jahrhun-
derte lang nahe gelegten Form von Individualität erforderlich, die es zu er-
schließen und zu hinterfragen gilt (vgl. Foucault 1996: 52).
Die dargestellte ,kritische Ontologie der Gegenwart' lässt sich nun in
analytischer Absicht auf die kritische Pädagogik, insbesondere auf das Eman-
zipationspostulat, beziehen. Nach Foucault erregt die im Hintergrund fungie-
rende Unterscheidung von ,Ideologie' versus ,Wahrheit' und damit die An-
nahme machtfreier Erkenntnis Verdacht (vgl. Foucault 1978: 33f.). Bei dieser
Konfiguration von Kritik wird ausgeblendet, was für ein machtvoller Diskurs
mit dem Emanzipationsbegriff selbst verbunden ist: Wer könnte oder wollte
jemals die These, dass es um die Überwindung von Unmündigkeit zu gehen
habe, verneinen? Eine am Emanzipationspostulat geübte Kritik kann sich an
den Bedingungen der ,Emanzipation' und ihrer Explikation stoßen, aber
kaum die Notwendigkeit oder Wünschbarkeit derselben in Frage stellen. Die
sich ausdrückende Polarität von Mündigkeit und Unmündigkeit, Wahrheit
und Ideologie beinhaltet eine ,denkerische Erpressung' (vgl. Foucault 1990:
45ff.). Bei den vorgestellten Wahlmöglichkeiten sind lediglich zwei Extreme
vorgesehen: entweder Mündigkeit, Rationalität, Selbst- und Mitbestim-
mungsfähigkeit oder Unmündigkeit, Irrationalität, Willkür und Fremdbestim-
mung. Der Wählende steht also unter dem moralischen Druck, sich entweder
der Aufklärung mit allen ihren Nebenwirkungen zu verschreiben oder prinzi-
piell auf die Möglichkeit einer auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
ausgerichteten Gesellschaft zu verzichten. Der Spielraum des Nachdenkens
wird durch diesen "Bekenntniszwang" (Meyer-Drawe 1990: 83) einge-
schränkt. Eine kritische Vorgehensweise muss sich an dieser Stelle der mo-

4 Die doppelte Perspektive von Ermächtigung und Unterwerfung folgt eigentlich schon
aus der Anlage von Foucaults Machtbegriff. Obwohl man sich niemals diesseits von
Machtstrukturen bewegt und die Mechanismen der Macht durch das Subjekt, durch
das Individuum und seinen Körper verlaufen, ist damit doch keinem Fatalismus oder
Determinismus das Wort geredet: Macht ist nach Foucault von Herrschaft zu unter-
scheiden, die dem Handelnden alle Spielräume nimmt. Macht in der von Foucault
vorgesehenen produktiven Bedeutung basiert auf einem bedingt ,freien' Handeln: Ihre
Produktivität lässt Wissen entstehen, ermöglicht neue Diskursmöglichkeiten etc. (vgl.
Foucault 1978: 35).
50 Christiane Thompson

ralischen Vereinnahmung entziehen und gerade den emphatischen Anteilen


des Emanzipationsdiskurses nachgehen (vgl. dazu besonders Rieger-Ladich
2002).
Dort etabliert sich die moralische Zwangslage durch die binäre Unter-
scheidung von ,Unmündigkeit' und ,Mündigkeit', die als zwei absolute Zu-
stände begriffen werden, denen die Prädikate ,schlecht' und ,gut' genau ent-
sprechen. Diese Polarität kann nicht durch den Begriff der ,regulativen Idee'
abgeschwächt werden, mit dem die reale Erreichbarkeit als eingeschränkt ge-
dacht wird. Es liegt nämlich gerade in der regulativen Idee, sich eines von
äußeren Umständen und Bedingungen unabhängigen und unbehelligten Be-
zugspunktes zu bedienen, der auf der besagten Unterscheidung von Mündig-
keit und Unmündigkeit beruht. Die Gefahr besteht darin, durch ein humanis-
tisches Pathos vereinnahmt und also blind zu werden für unser Verhältnis zur
Wahrheit. Diese Blindheit gegenüber Wissen und Wahrheit bezieht sich je-
doch nicht nur auf die verstellende Rhetorik der Extreme. Sie ist noch dort
aufzufinden, wo man meint, ausschließlich auf der Ebene der Legitimität zu
einer umfassenden Analyse bzw. Verortung von ,Emanzipation' gelangen zu
können. In der Linie der (oben skizzierten) transzendentalen Fragerichtung
kann hinter das Begriffspaar von Legitimität versus Illegitimität nicht zu-
rückgegangen und also die machtvolle Vereinnahmung durch die Vernunft
nicht eingesehen werden. Für das Emanzipationspostulat wird deutlich, wie
unverzichtbar der Wille zur Wahrhaftigkeit und der Wille zum Wissen ist.
Mit seinen Überlegungen ermöglicht Foucault eine andere Perspektive der
Kritik bzw. Selbstkritik, die den Blick auf die Wahrheitswünsche eines Dis-
kurses wirft, der den Kritik-Begriff für sich zu reklamieren wünscht. Die
vielfältigen Beziehungen von Rationalisierung und Macht werden sichtbar
gemacht.
Neben diesem Rückgang hinter den Legitimationsgedanken und der
Analyse der Bedeutung von Motivations- und Hoffnungsbezeugungen lässt
sich die Eindeutigkeit der Zuschreibung von Emanzipation als Bewegung
von Unmündigkeit zu Mündigkeit hinterfragen, wenn man Foucaults Aussa-
gen zum Problem von Subjektivierung und Unterwerfung aus Überwachen
und Strafen (vgl. Foucault 1976) einbezieht. Dort hat Foucault - wie schon
erwähnt - gegen eine Ontologisierung des Individuums plausibel gemacht,
wie das Individuum als Effekt von Machtwirkungen verstanden werden kann.
Die Individuen sind dann nicht vorgängige atomare Bausteine der Gesell-
schaft, sondern entstehen, damit Kräfte disziplinierend an ihren Körpern an-
setzen können (zur weiteren Erläuterung im Kontext der Pastoralmacht vgl.
Massehelein 2003: 134). Die Integration der Individuen oder der Subjekte in
heutige Produktions-, in Sinn- und Machtverhältnisse eröffnet gleichfalls die
Zweideutigkeit von ,Emanzipation', die mit der ,Befreiung aus Unterdrü-
ckungsverhältnissen' sowie dem ,Mündig-werden' nur ihre idealistische bzw.
idealisierte Seite zeigt. Der ,Emanzipation' gehören gleichermaßen Ermäch-
tigungs- und Selbstbemächtigungsstrategien zu, die mit den Umständen zu
tun haben, von denen es sich zu emanzipieren gilt. Die Selbsteinstellung der
Diesseits von Authentizität und Emanzipation 51

Eigenverantwortung bildet beispielsweise eine neue Möglichkeit der Men-


schenführung angesichts des Abbaus staatlicher Sozialleistungen und zuneh-
mender Verschärfung der Arbeitsmarktsituation (vgl. Liesner 2003; zum
,Regieren durch Individualisieren' vgl. Masschelein 2003: 135f.). Emanzipa-
tion bedeutet gleichermaßen Enthebung einer Begrenzung und Einverleibung
in Machtstrukturen - die in ihr liegende Selbstermächtigung ist zweideutig.
Es erscheint in diesem Zusammenhang nicht verwunderlich, dass Paulo Frei-
res Konzept von , Empowerment' im Qualitäts- und Selbstmanagement (im
wahrsten Sinne des Wortes) Karriere macht (vgl. Bröckling 2003). Dies im-
pliziert, dass sich innerhalb des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs
die Linien von Interessenzuordnungen nicht mehr klar ziehen lassen: Gesell-
schaftliche Gruppen stehen nicht mehr für ,objektiv gegebene' Interessenzu-
sammenhänge, sondern entwickeln solche als Strategien5 angesichts ihrer
Situation, Position und Zielsetzungen. Dies gilt nicht nur für den Begriff der
,Emanzipation', sondern analog für Begriffe wie ,Bildung', ,Solidarität' etc.
Mit dem letzten Gedanken verdeutlicht sich nochmals, dass jeglicher päda-
gogische Einsatz in kritischer Absicht, der auf eine Veränderung menschli-
cher Selbst- und Weltverhältnisse zielt, prekär ist, wenn man die Existenz ei-
nes machtfreien Vakuums aufgibt. Daraus folgt umgekehrt die Notwendig-
keit, den Machtbezügen in ,Bildung', ,Mündigkeit' oder ,Emanzipation'
nachzuspüren - sowohl im Begriff (Bereich der Wissenschaft) wie im Phä-
nomen (Bereich der Erziehungs- und Bildungsinstitutionen). Im Visier stehen
damit die Relationalität und die gesellschaftliche Verrnitteltheit dieser Begrif-
fe, die archäologisch-genealogisch untersucht und kritisch ausgewertet wer-
den müssen. Gleiches gilt für die Konstitutionsräume des (mächtigen) Päda-
gogen bzw. der pädagogischen Handlung, die kritisch auf ihre Machtstruktu-
ren hin zu befragen sind.
An dieser Stelle kommt wiederum die Frage auf, wonach sich die ,Kri-
tik', die sich an eine Macht-Wissen-Analyse von ,Emanzipation' anschließen
könnte, bemisst, wenn ,Kritik' und ,Macht' ebenfalls miteinander im Ver-
bund stehen. Dass Foucault an der Möglichkeit von Kritik festhält, ist bereits
aufgezeigt worden: Die Rede von Macht impliziert laut Foucault keinen De-
zisionismus. Ganz im Gegenteil strukturiert sich durch Macht ein Feld der
Auseinandersetzung: Gegen Machtstrukturen, die gefestigt oder aufrecht er-
halten werden sollen, richten sich Strategien wie Flucht, Umkehrung oder
Widerstand (vgl. Foucault in DreyfuslRabinow 1987: 259f.; für Akzentver-
schiebungen bei Foucault vgl. Ricken 1999: 167ff.). Auch Kritik wird damit
zu einer Strategie: Sie kann sich nicht mehr auf ,die Wahrheit' berufen, son-
dern hat ihre ,Stützpunkte'. Die Kritik wird sich ihrer selbst als Träger eines
bestimmten Interesses, einer bestimmten Position, inne und nimmt daher am
Spiel von Wahrheit und Macht teil. Auf dieses Charakteristikum der Kritik
hat schon die ,Genealogie' verwiesen, die nicht mehr zum wissenschaftlichen
Erkenntnisgewinn taugt, sondern andere mögliche Herkunftsgeschichten fa-

5 Vgl. zum Begriff "Strategie": Foucault in DreyfuslRabinow 1987: 259.


52 Christiane Thompson

briziert. Dementsprechend konturiert Foucault die heutige Aufgabe der ,In-


tellektuellen' folgendermaßen: "Das fundamentale politische Problem der
Intellektuellen ist nicht die Kritik möglicher ideologischer Inhalte der Wis-
senschaft, liegt nicht darin, seine wissenschaftliche Praxis mit der richtigen
Ideologie zu verbinden. Es besteht darin, herauszufinden, ob es möglich ist,
eine neue Politik der Wahrheit zu konstituieren" (Foucault 1978: 54). Die
politische Arbeit im Sinne einer strategischen hat als Ausgangspunkt nicht
die Gewissheit bzw. die ,Gewissheit,6 des Irrtums, der Illusion, des entfrem-
deten Bewusstseins oder kurz: des Verblendungszusammenhangs, von der
aus sich ein Einspruch für die Utopie des besseren Lebens formulieren lässt. 7
Die anspruchsvolle Arbeit besteht vielmehr darin, die Gegebenheiten der ge-
genwärtigen Wahrheits- und Wissensproduktion sichtbar zu machen und da-
durch möglicherweise eine Verschiebung einzuleiten. Mit dem Begriff der
,Erfahrung' versucht Foucault nun, diese Verschiebung zu explizieren und
dabei über die neuzeitliche Selbstbehauptung des Subjekts hinauszugehen.
Weil damit der Kritik-Gedanke ergänzt und zugleich eine ,Alternative' zum
Emanzipationsbegriff angedeutet wird, sei der Foucaultsche ,Erfahrungsbe-
griff' im abschließenden Teil kurz in den Blick genommen.

3. "Wir müssen nicht so bleiben, wie wir sind" - ,Aufbruch'


der Erfahrung bei Foucault
In seinem Interview mit Ducio Trombadori erörtert Foucault den (politi-
schen) Sinn seiner Arbeiten und den eigenen Bezug zu diesen. Dabei macht
Foucault deutlich, dass bei diesen Arbeiten das forschende Subjekt nicht un-
beteiligt bzw. unverändert (geblieben) sei. Nach Foucault kommt es darauf
an, "Erfahrungen" zu machen und zu ermöglichen. Ganz in diesem Sinn wird
später im Interview eine Unterscheidung zwischen "Wissen" und "Erkennt-
nis" eingezogen (vgl. Foucault 1996: 52): "Wissen" ziele auf den Prozess,
der das Subjekt bei der Wissensgewinnung verwandele, während bei der Er-
kenntnis der zu vermehrenden Erkenntnisobjekte das forschende Subjekt fest
und unverändert bleibe. Foucault weist sich und seiner Forschung entspre-

6 Zur Problematik der Anführungszeichen vgl. Visker 1991.


7 Dass Foucault nicht mehr von jenem totalen Verblendungszusammenhang ausgeht,
markiert eine wichtige Differenzlinie zur (älteren) Frankfurter Schule (vgl. Foucault
1996: 83). Den Differenzen und Kohärenzen zwischen Foucault und Horkheimerl
Adomo weiter nachzugehen, wäre aus systematischen Gesichtspunkten angebracht,
wenn nicht sogar erforderlich. Da dies den Rahmen des Beitrags sprengen würde, weil
dann angesichts der Thematik das Verhältnis von ,kritischer Erziehungswissenschaft'
zur Frankfurter Schule einbezogen werden müsste, sei hier einerseits auf den Beitrag
von Thomas Schäfer zum Verhältnis von Foucault und Horkheimer/Adorno (Schäfer
1990) und andererseits für die pädagogische (Nicht-)Rezeption Adornos auf dessen
pädagogisches Porträt von Alfred Schäfer verwiesen (Schäfer 2004).
Diesseits von Authentizität und Emanzipation 53

chend den Ort zu: "Ich denke niemals völlig das gleiche, weil meine Bücher
für mich Erfahrungen sind im vollsten Sinne, den man diesem Ausdruck bei-
legen kann. Eine Erfahrung ist etwas, aus dem man verändert hervorgeht"
(Foucault 1996: 24). Foucault inszeniert sich nicht als Urheber und Autor,
der seine Schriften als verändernde Strategie in der Gesellschaft einsetzt.
Foucault empfindet sich nicht als Theoretiker, sondern - wie er an anderer
Stelle bemerkt - als Experimentator, der weder eine (gesetzte) Position hin-
sichtlich des diskutierten Themas einbringt noch sich daran macht, unter Zu-
hilfenahme eines Systems "eine Erkenntnis zu gewinnen". Dem auf "Beweis"
hin angelegten Buch steht das auf Veränderung zielende "Erfahrungsbuch"
gegenüber: "Ich schreibe nur, weil ich noch nicht genau weiß, was ich von
dem halten soll, was mich so sehr beschäftigt. So daß das Buch ebenso mich
verändert wie das, was ich denke. Jedes Buch verändert das, was ich gedacht
habe, als ich das vorhergehende Buch abschloß" (vgl. ebd.). Und: "Mein
Problem bestand darin, selbst eine Erfahrung zu machen und die anderen auf-
zufordern, vermittelt über einen bestimmten historischen Inhalt an dieser Er-
fahrung teilzunehmen: nämlich an der Erfahrung dessen, was wir sind und
was nicht nur unsere Vergangenheit, sondern auch unsere Gegenwart aus-
macht; an einer Erfahrung unserer Modernität, derart, daß wir verwandelt
daraus hervorgehen" (ebd.: 28f). Aus Foucaults Äußerungen wird deutlich,
dass er an kritischen Veränderungen und Verschiebungen im menschlichen
Selbst- und Weltverhältnis festhält, wobei gleichzeitig eine Gegengeschichte
zur ,Emanzipation' erzählt wird. An die Stelle von Überwindung eingesehe-
ner Verblendung und Ideologie, von vernünftiger Selbstbestimmung tritt eine
"Grenzerfahrung, die das Subjekt von sich selbst losreißt [ ... ]" (vgl. ebd. 27).
Die Geschichte, die Foucault der befreienden Selbstbehauptung gegenüber-
stellt, ist die der Entsubjektivierung und des Anders-Werdens (vgl. den Vor-
blick von Waldenfels 1995: 223ff.). Es geht mithin um ein ,Aussetzen' (Mas-
schelein) der Selbstgestaltungen und Selbstkonstruktionen, um dadurch die
Grenzen unseres Seins ,zu verflüssigen'. In welchem theoretischen Kontext
steht die Einführung einer ,Erfahrung', bei der das Selbst nicht gewonnen
wird, sondern abhanden kommt? Verbindet man die ,kritische Ontologie' mit
dem Erfahrungsbegriff, so erscheint eine ,kritische (weil verändernde) Erfah-
rung' aus der archäologisch-genealogischen Betrachtung zu erwachsen. Diese
Richtung wäre unter einer bildungsphilosophischen Perspektive weiter zu
beleuchten (vgl. Masschelein, in diesem Band).
Die Politik der Wahrheit und unseres Seins drängt sich unvermeidbar als
Frage auf, wenn man mit Foucault akzeptiert, dass sich für den Menschen
keine ,Erzeugungsformel' (mehr) angeben lässt. Die ,kritische Ontologie der
Gegenwart' untersucht (lokal) unser heutiges ,Sein' und beabsichtigt, noch
unser Verhältnis zu Wahrheit und Wissen in den Blick zu bringen. Die Anre-
gungen für die Pädagogik bestehen insbesondere darin, die Beziehungen zwi-
schen Rationalität und Macht, wie sie z.B. im Begriff und Phänomen ,Eman-
zipation' bestehen, offen zu legen: Foucault stellt hinsichtlich der geforderten
, vernünftigen Selbstbestimmung' die Verengungen durch die Begrenzung auf
54 Christiane Thompson

den Legitimitätsgedanken wie auch die Ambivalenzen vermeintlich authenti-


scher Selbstbehauptung heraus.
Ein wissenschaftlicher Erkenntnisanspruch ist dabei nicht mehr möglich:
Die Foucaultsche Genealogie liegt zwischen Analyse und Zurichtung, zwi-
schen Feststellung und Fabrikation. Foucault spricht von Kritik folgerichtig
nicht mehr im Sinne eines Erkenntnismodells oder im Namen eines univer-
salen Erkenntnisinteresses. Kritik ist je kritische Haltung und eine Kunst,
nämlich jene, "nicht auf diese Weise und um diesen Preis regiert zu werden"
(Foucault 1992: 12). Dass Foucault die Kritik durch diese Begriffe charakte-
risiert, zeugt von ihrer Schwierigkeit und Situativität; ihre Plausibilität ergibt
sich aus ihrer Aktualität. Zuletzt liegt in Kritik auch etwas Strategisches, was
sie an die Grenze ihrer selbst bringt.

Literatur

Benner, Dietrich (1994): ,Erziehung und Emanzipation'. In: Ders.: Studien zur Theorie der
Erziehungswissenschaft. Pädagogik als Wissenschaft, Handlungstheorie und Reform-
praxis. Band 1. Weinheim und München: Juventa, S. 59-77.
Benner, Dietrich (2000): Reflexive versus affirmative Emanzipation. In: Comelie Diet-
richIHans-Rüdiger Müller (Hrsg.): Bildung und Emanzipation. Klaus Mollenhauer
weiterdenken. Weinheim und München: Juventa, S. 33-41.
Blankertz, Herwig (1969): Bildung im Zeitalter der großen Industrie. Pädagogik, Schule
und Berufsbildung im 19. Jahrhundert. Hannover: Schroedel.
Blankertz, Herwig (1979): Pädagogik unter wissenschaftstheoretischer Kritik. In: Gerd
Stein (Hrsg.): Kritische Pädagogik: Positionen und Kontroversen. Hamburg: Hoff-
mann und Campe, S. 31-44.
Blankertz, Herwig (1982): Die Geschichte der Pädagogik: Von der Aufklärung bis zur Ge-
genwart. Wetzlar: Büchse der Pandora.
Bröckling, Ulrich (2003): You are not responsible for being down, but you are responsible
for getting up. Über Empowerment. In: Leviathan 31, S. 323-344.
Dammer, Karl-Heinz (1999): Von der kritischen zur Kritischen Erziehungswissenschaft.
In: Heinz SünkerIHeinz-Hermann Krüger (Hrsg.): Kritische Erziehungswissenschaft
am Neubeginn?! FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 184-209.
Dreyfus, Hubert/Paul Rabinow (1987): Michel Foucault: jenseits von Strukturalismus und
Hermeneutik. Weinheim: Beltz Athenäum.
Ewald, Fran<;oislBemhard Waldenfels (Hrsg.) (1992): Spiele der Wahrheit. Michel
Foucaults Denken. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frank-
furtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen
und Wahrheit. Berlin: Merve.
Foucault, Michel (1981): Die Archäologie des Wissens. FrankfurtIMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1983): Der Wille zum Wissen. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1987): Nietzsehe, die Genealogie, die Historie. In: Ders.: Von der Sub-
version des Wissens. Hrsg. von Walter Seitter. FrankfurtlMain: Fischer, S. 69-90.
Foucault, Michel (1990): Was ist Aufklärung? In: Eva ErdmannIRainer ForstJAxel Hon-
neth (Hrsg.): Ethos der Modeme: Foucaults Kritik der Aufklärung. FrankfurtlMain
und New York: Campus, S. 33-54.
Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin: Merve.
Diesseits von Authentizität und Emanzipation 55

Foucault, Michel (1992a): Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung arn College de
France, 2. Dezember 1970. FrankfurtJMain: Fischer.
Foucault, Michel (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Tromba-
dori. FrankfurtJMain: Suhrkamp.
Habermas, Jürgen (1968): Technik und Wissenschaft als ,Ideologie'. FrankfurtJMain:
Suhrkamp.
Kant, Immanuel (1963): Ausgewählte Schriften zur Pädagogik und ihrer Begründung. Pa-
derborn: Schöningh.
Kant, Immanuel (1992): Kritik der reinen Vernunft. Hamburg: Meiner.
Keckeisen, Wolfgang (1984): Pädagogik zwischen Kritik und Praxis. Studien zur Ent-
wicklung und Aufgabe kritischer Erziehungswissenschaft. Weinheim und Basel:
Beltz.
Liesner, Andrea (2003): Die Bildung einer Ich-AG. Anmerkungen zum Lehren und Lernen
im Dienstleistungsbetrieb Universität. Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung Bildung
der Universität am 22.05.2003 an der Universität Hamburg.
Masschelein, Jan (2003): Trivialisierung von Kritik. Kritische Erziehungswissenschaft
weiterdenken. In: 46. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik, S. 124-141.
Meyer-Drawe, Käte (1990): Provokationen eingespielter Aufklärungsgewohnheiten durch
"postmodernes Denken". In: Heinz-Hermann Krüger (Hrsg.): Abschied von der Auf-
klärung? Perspektiven der Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske + Budrich, S. 81-
90.
Meyer-Drawe, Käte (1990a): Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohmmacht und
Allmacht des Ich. München: Kirchheim.
Mollenhauer, Klaus (1964): Pädagogik und Rationalität, in: Die Deutsche Schule 56, S.
665-676.
Mollenhauer, Klaus (1973): Erziehung und Emanzipation: polemische Skizzen. München:
Juventa.
Mollenhauer, Klaus (1982): Marginalien zur Lage der Erziehungswissenschaft. In: Eckard
KönigIPeter Zedler (Hrsg.): Erziehungswissenschaftliche Forschung: Positionen, Per-
spektiven, Probleme. Paderborn und München: Schöningh, S. 252-265.
Ricken, Norbert (1999): Subjektivität und Kontingenz. Markierungen im pädagogischen
Diskurs. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Rieger-Ladich, Markus (2002): Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur pädago-
gischen Semantik. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.
Rousseau, Jean-Jacques (1988): Schriften. 2 Bde. Hrsg. von Henning Ritter. Frank-
furtJMain: Fischer.
Ruhloff, Jörg (1979): Das ungelöste Normproblem in der Pädagogik. Heidelberg: Quelle &
Meyer.
Ruhloff, Jörg (1979a): Zur Kritik der emanzipatorischen Pädagogik-Konzeption. In: Gerd
Stein (Hrsg.): Kritische Pädagogik: Positionen und Kontroversen. Hamburg: Hoff-
mann und Campe, S. 181-194.
Ruhloff, Jörg (2003): Problematisierung von Kritik in der Pädagogik. In: 46. Beiheft der
Zeitschrift für Pädagogik, S. 111-123.
Schäfer, Alfred (1991): Kritische Pädagogik - Vom paradigmatischen Scheitern eines Pa-
radigmas. In: Dietrich Hoffmann (Hrsg.): Bilanz der Paradigmendiskussion in der Er-
ziehungswissenschaft: Leistungen, Defizite, Grenzen. Weinheim: Deutscher Studien-
verlag, S. 111-125.
Schäfer, AIfred (1992): Rousseau - Pädagogik und Kritik. Weinheim: Deutscher Studien-
verlag.
Schäfer, Alfred (1996): Autonomie - zwischen Illusion und Zumutung. In: Vierteljahrs-
schrift für wissenschaftliche Pädagogik 72, S. 175-189.
Schäfer, Alfred (2004): Theodor W. Adorno. Ein pädagogisches Porträt. Weinheim: Beltz.
56 Christiane Thompson

Schäfer, Thomas (1990): Aufklärung und Kritik. Foucaults Geschichte des Denkens als
Alternative zur ,Dialektik der Aufklärung'. In: Eva ErdmannIRainer ForstlAxel Hon-
neth (Hrsg.): Ethos der Modeme: Foucaults Kritik der Aufklärung. FrankfurtlMain
und New York: Campus, S. 70-86.
Schäfer, Thomas (1995): Reflektierte Vernunft. Michel Foucaults philosophisches Projekt
einer antitotalitären Macht- und Wahrheitskritik. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Sünker, HeinzlHeinz-Hermann Krüger (Hrsg.) (1999): Kritische Erziehungswissenschaft
am Neubeginn?! FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Tenorth, Heinz-Elmar (1999): Die zweite Chance oder: Über die Geltung von Kritikan-
sprüchen ,kritischer Erziehungswissenschaft'. In: Heinz SünkerlHeinz-Hermann Krü-
ger (Hrsg.): Kritische Erziehungswissenschaft am Neubeginn?! FrankfurtlMain: Suhr-
kamp, S. 135-16l.
Visker, Rudi (1991): Genealogie als Kritik. München: Fink.
Waldenfels, Bernhard (1995): Deutsch-Französische Gedankengänge. FrankfurtlMain:
Suhrkamp.
Waldenfels, Bernhard (2003): Kraftproben des Foucaultschen Denkens. In: Philosophische
Rundschau 50, S. 1-26.
Winkler, Michael (2002): Klaus Mollenhauer. Ein pädagogisches Porträt. Weinheim:
Beltz.
Hans-Christoph Koller/Jenny Lüders

Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen


Diskursanalyse

1. Einleitung

Einer der ersten deutschen Erziehungswissenschaftler, die sich mit den Ar-
beiten Foucaults auseinander gesetzt haben, war Klaus Mollenhauer. Gegen-
über der damals vorherrschenden Tendenz, Foucaults Schriften (wie Über-
wachen und Strafen) vor allem als antipädagogische Kritik an der disziplinie-
renden Wirkung der Schule und anderer Erziehungsinstitutionen zu verste-
hen, empfahl er 1979 in einem Beitrag für die Zeitschrift päd extra, Foucault
vielmehr "auf seine Methode hin zu lesen", die darauf abziele, die "Formie-
rung von Kognitionen und Antrieben nach den Regeln gesellschaftlichen
Wissens" herauszuarbeiten (Mollenhauer 1979: 64f.). Seltsamer Weise sind
dieser Empfehlung, Foucaults diskursanalytischem Zugriff auf die Regeln der
Wissensproduktion besondere Aufmerksamkeit zu schenken, nur wenige
Pädagogen gefolgt. Die Rezeption der Arbeiten Foucaults in der deutschspra-
chigen Erziehungswissenschaft ist vielmehr vor allem von dem Versuch ge-
prägt, Foucaults begriffliche Konzepte (nämlich insbesondere seine Theorie
der Macht sowie die in den späten Schriften entwickelte Konzeption eines
ethischen Selbstverhältnisses) als Anregung für die erziehungswissenschaftli-
che Theoriebildung zu nutzen - sei es im Blick auf das Verhältnis von Erzie-
hung und Macht (vgl. z.B. Meyer-Drawe 1996; 2001), sei es im Blick auf die
Konsequenzen aus Foucaults Subjektkritik für bildungstheoretische Frage-
stellungen (vgl. z.B. Forneck 1992; Schäfer 1996; Ricken 1999; Reichenbach
2000; Rieger-Ladich 2002).
Die methodischen Verfahren Foucaults im Zuge seiner materialreichen
Untersuchungen zur Geschichte des Wahnsinns, des ärztlichen Blicks, der
Humanwissenschaften, der Strafjustiz und der Diskursivierung der Sexualität
haben demgegenüber in der Erziehungswissenschaft erstaunlich wenig Auf-
merksamkeit und noch weniger Nachahmer gefunden. Soweit wir sehen, sind
lediglich im Bereich der pädagogischen Historiographie Arbeiten zu ver-
zeichnen, die sich in ihrer Vorgehensweise an Foucaults methodischen
Überlegungen orientieren und anband eigener Quellenstudien z.B. die "Er-
oberung des Kindes durch die Wissenschaft" (Gstettner 1981) oder die
"Schule als Dispositiv der Macht" (pongratz 1989; 1990) einer diskursanaly-
tischen Untersuchung unterziehen. Doch auch dort handelt es sich bei nähe-
58 Hans-Christoph Koller/Jenny Lüders

rem Hinsehen eher um die Illustration von Foucaults Forschungsergebnissen


am Beispiel entwicklungspsychologischer Theorien oder pädagogischer In-
stitutionen als um eigenständige Theoriebildung auf der Basis von Quellen-
studien nach dem methodischen Vorbild Foucaults.
Lenkt man allerdings den Blick über die Grenzen der Erziehungswissen-
schaft hinaus, so ergibt sich ein anderes Bild. In Disziplinen wie Literatur-
wissenschaft, Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft stößt die Dis-
kursanalyse als kultur- und sozial wissenschaftliche Forschungsmethode seit
einigen Jahren auf wachsendes Interesse, das sich u.a. in zahlreichen Publi-
kationen niedergeschlagen hat (vgl. z.B. FohrmannlMüller 1988; Bublitz u.a.
1999; Landwehr 2001; Schüring 1996; Keller u.a. 2001b; Angermüller/
BunzmannINonhoff 2001). Doch auch wenn viele Vertreter einer diskurs-
analytischen Vorgehensweise in diesen Disziplinen sich explizit auf Foucault
berufen, ist beim Umgang mit den verschiedenen methodischen Konzepten
Vorsicht geboten, da der Begriff Diskursanalyse oft wenig konturscharf ver-
wendet wird und ihm höchst unterschiedliche theoretische und methodologi-
sche Überzeugungen zugrunde liegen.
Dabei sind innerhalb der neueren Diskussion um diskursanalytische Ver-
fahrensweisen in den Sozial- und Kulturwissenschaften vor allem zwei
Hauptströmungen voneinander zu unterscheiden, die auf ein je verschiedenes
Verständnis des Begriffs Diskurs zurückzuführen sind. Während eine in der
angelsächsischen Sozio- bzw. Pragmalinguistik verwurzelte Strömung unter
Diskurs vor allem die mündliche Kommunikation in lebensweltlichen Kon-
texten versteht und den Begriff Diskursanalyse demzufolge weitgehend
gleichbedeutend mit Termini wie Gesprächs- oder Konversationsanalyse ver-
wendet, knüpft die andere Strömung an Konzepte des französischen
(Post-)Strukturalismus an und begreift Diskurse als gesellschaftlich bzw. in-
stitutionell geregelte Formen der Wissensproduktion im Rahmen allgemein-
öffentlicher oder spezialisierter (z.B. einzelwissenschaftlicher) Auseinander-
setzungen (vgl. Keller 1997; Keller u.a. 2001a; Angermüller 2001). Eine
Gemeinsamkeit beider Richtungen besteht darin, dass Diskurse übereinstim-
mend als "transphrastische Einheiten" gelten, d.h. als sprachliche Gebilde
jenseits bzw. oberhalb der Ebene von Sätzen, und dass das Erkenntnisinteres-
se sich vor allem auf die Regeln richtet, die solchen übergreifenden Einheiten
zugrunde liegen. Den entscheidenden Unterschied markiert jedoch der Um-
stand, dass die pragmalinguistische Diskursanalyse im Anschluss an interak-
tionistische und ethnomethodologische Konzepte nach formalen Strukturen
der sprachlichen Interaktion zwischen individuellen Subjekten fragt, während
das Interesse der "französischen Schule" der Diskursanalyse (vgl. Maingue-
neau 1994) den übersubjektiven Regeln der gesellschaftlichen Produktion
von Wissen, Wahrheits- und Wirklichkeitskonzeptionen gilt.
Doch selbst die zweite Richtung, deren Vertreter sich übereinstimmend
auf Foucaults Diskurstheorie als eine der wichtigsten Grundlagen diskurs-
analytischer Verfahren berufen, weist keineswegs eine durchgängig klare
theoretische Ausrichtung auf. So beruht z.B. die von Siegfried Jäger entwi-
Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse 59

ckelte Kritische Diskursanalyse, die als einer der einflussreichsten diskurs-


analytischen Ansätze im deutschen Sprachraum gelten kann (vgl. Jäger
2001), auf dem Versuch einer Verknüpfung von Foucaults Diskursbegriff mit
der marxistischen Tätigkeitstheorie Leontjews und Wygotskis, die der Fou-
caultschen Konzeption nachträglich eine handlungs- bzw. subjekttheoretische
Begründung unterschiebt und sie damit ihrer wichtigsten theoriestrategischen
Besonderheit beraubt.
Vor diesem Hintergrund zielt der vorliegende Beitrag darauf ab, in einem
ersten Schritt die Spezifik von Foucaults diskurs analytischer Vorgehensweise
herauszuarbeiten (2.-4.), um daran anknüpfend die Bedeutung dieses metho-
dischen Verfahrens für erziehungswissenschaftliche Fragestellungen zu dis-
kutieren (5.). Dabei konzentrieren wir uns auf diejenigen Schriften Foucaults,
die explizit der methodischen Reflexion des eigenen Verfahrens bei der
Analyse von Diskursen gewidmet sind. Dazu zählen insbesondere die 1969
erschienene Archäologie des Wissens, in der Foucault die Vorgehensweise
seiner früheren "archäologischen" Studien zur Geschichte des Wahnsinns,
zur "Geburt der Klinik" und zur Entstehung der modemen Humanwissen-
schaften unter methodischen Gesichtspunkten zu rekonstruieren versucht
(vgl. Foucault 1981), sowie zwei Schriften aus dem Jahr 1971, die seine fol-
genreiche Wendung zur "genealogischen" Analyse von Diskursen dokumen-
tieren, nämlich die Ordnung des Diskurses und Nietzsche, die Genealogie,
die Historie (vgl. Foucault 1991; 2002a). Mit dieser Konzentration auf ver-
gleichsweise ,frühe' Arbeiten Foucaults ist zugleich eine inhaltliche Beschrän-
kung verbunden: Im Mittelpunkt des folgenden Beitrags stehen Foucaults
Überlegungen zur diskursanalytischen Untersuchung von Wissensordnungen,
während die in den späteren Schriften enthaltene Erweiterung um die Analyse
von Machtdispositiven ebenso unberücksichtigt bleibt wie die methodische
Verfahrensweise von Foucaults Untersuchungen zu Formen der ,Subjektivie-
rung' bzw. des ethischen Selbstverhältnisses in der Antike. Diese Beschrän-
kung rechtfertigt sich zum einen daraus, dass es sich bei den genannten Arbei-
ten um die einzigen explizit methodischen Schriften Foucaults handelt, wäh-
rend seine späteren Vorgehensweisen nur rekonstruktiv aus den Materialstudi-
en selbst erschlossen werden können. Zum andem sind auch die methodischen
Verfahren in Foucaults späteren Arbeiten nur als Erweiterung und Ergänzung
der in diesen Schriften entwickelten Überlegungen zur Analyse von Diskursen
zu verstehen, so dass die dort beschriebene Untersuchung von Wissensordnun-
gen ein zentrales Element aller späteren Arbeiten Foucaults bleibt.

2. Der "archäologische" Einsatz


Möchte man die Möglichkeiten einer Diskursanalyse im Anschluss an
Foucault rekonstruieren, so ist es ratsam, zunächst den Diskursbegriff näher
zu bestimmen. In der Archäologie des Wissens meint "Diskurs" vor allem die
60 Hans-Christoph Koller/Jenny Lüders

"diskursive Praxis" als geregelte Produktion von Aussagen. Sie stellt spezifi-
sche, sich strukturell wiederholende Beziehungen zwischen Aussagen her
und konstituiert so, was zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt an ei-
nem bestimmten Ort gesagt werden kann. Gleichzeitig meint "Diskurs" aber
auch das durch die Regeln charakterisierte Ordnungssystem selbst (vgl. Ko-
nersmann 1991: 77). Lässt sich für eine bestimmbare Menge von Aussagen
eine Regelmäßigkeit in ihrer Anordnung, Verknüpfung und gegenseitigen
Modifikation angeben, so handelt es sich um einen bestimmten Diskurs bzw.
um eine so genannte "diskursive Formation" (vgl. Foucault 1981: 48-60).
Ziel der auf diesem Diskursbegriff aufbauenden archäologischen Dis-
kursanalyse ist es, die diskursive Praxis in ihrer jeweiligen Regelmäßigkeit
zu erfassen. Den Ausgangspunkt bilden die Aussagen: ,,[W]ie kommt es",
fragt Foucault, "daß eine bestimmte Aussage erschienen ist und keine andere
an ihrer Stelle?" (Foucault 1981: 42). Aussagen sind dadurch gekennzeich-
net, dass sie Diskursgegenstände, Subjektpositionen, begriffliche Ordnungen
und diskursive Strategien - kurz: das spezifische historische "Wissen" - her-
vorbringen. Dies vermag eine Aussage allerdings nur, indem sie Teil einer
regulierten diskursiven Praxis ist, die das Aussagenfeld ordnet und dabei cha-
rakteristische Beziehungen zwischen dessen Elementen herstellt. Die ge-
suchte Regelmäßigkeit einer diskursiven Praxis besteht demnach in der. Art
und Weise, wie eine Aussage - in ihrer spezifischen Funktion des Hervor-
bringens von Diskursgegenständen, Subjektpositionen, Begriffsbündeln und
strategischen Verwendungsmöglichkeiten - mit anderen Aussagen, Aussage-
gruppen und anderen Diskursen sowie nichtdiskursiven Praktiken, Institutio-
nen und gesellschaftlichen Gruppen in Beziehung gesetzt wird. Um dieses
regelhafte In-Beziehung-Setzen zu erfassen, schlägt Foucault eine Methode
vor, die er aus seinen eigenen materialreichen Analysen zum Wahnsinn, zur
Medizin und zu den Humanwissenschaften rekonstruiert und systematisch
ausbaut. Die diskursive Konstitution von "Wissen" wird dabei in vier Rich-
tungen verfolgt, die im Folgenden darstellt werden sollen.
Als erstes fragt Foucault nach den Diskursgegenständen. Foucaults
Grundannahme ist, dass ein Diskurs nicht auf Gegenstände referiert, sie er-
kennt oder bezeichnet, sondern diese nach bestimmten Regeln überhaupt erst
hervorbringt. Sein Hauptaugenmerk gilt also dem Phänomen, dass zu einer
bestimmten Zeit spezifische - eventuell sehr heterogene - Gegenstände auf
gleichmäßige Weise unterschieden, verändert und in Beziehung gesetzt wer-
den. Um diese "Formation der Gegenstände" genauer zu beschreiben, fragt
Foucault zunächst nach den gesellschaftlichen Feldern, in denen ein Gegen-
stand als solcher erscheint. Gemeint sind soziale Gruppen, Milieus oder In-
stitutionen wie Justiz, Kirche und Schule; d.h. "Oberflächen", die für spezifi-
sche Unterschiede empfindlich sind und diese diskursiv konstituieren. Inner-
halb von solchen Oberflächen und Feldern wird der Gegenstand in charakte-
ristischer Weise weiter differenziert. Dabei interessieren einerseits die In-
stanzen, die den Gegenstand diskursiv eingrenzen und ausarbeiten. Anderer-
seits fragt Foucault nach den Systemen und Rastern, mit deren Hilfe Gegen-
Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse 61

stände geordnet, klassifiziert, unterschieden und modifiziert werden (wie z.B.


statistische Verfahren, logische Muster, Beschreibungskategorien, Prinzipien
der Analogie und der Opposition). Die gesuchte Regelmäßigkeit einer diskur-
siven Praxis besteht nun in der Art und Weise, wie sie diese spezifischen Ras-
ter, Instanzen und Oberflächen miteinander in Beziehung setzt. Um die For-
mationsregeln der Gegenstände eines Diskurses zu bestimmen, muss also das
"Bündel von Beziehungen" definiert werden, kraft derer ein Gegenstand an
einem definierten Ort im Diskurs zur Existenz gekommen ist.
Im zweiten Schritt fragt Foucault nach den Formationsregeln für die Äu-
ßerungsmodalitäten eines Diskurses. Die "Modalität" einer Äußerung ist ge-
kennzeichnet durch die spezifische Subjektposition, von der aus die Äuße-
rung getätigt werden kann. Um zu beschreiben, wie die diskursive Praxis die-
se Positionen reguliert, betrachtet Foucault zunächst, wer spricht und welcher
Status dem Sprechenden zuerkannt bzw. zugewiesen wird. Als zweites inte-
ressiert, welches der Ausgangs- und "Anwendungspunkt" des Diskurses ist,
d.h. von welchen institutionellen Plätzen aus gesprochen wird. Darüber hin-
aus wird gefragt, wie die Sprechsituation, d.h. das Verhältnis zwischen Spre-
cher und Diskursgegenständen, bestimmt ist. Eine Annäherung an Diskurs-
gegenstände kann z.B. betrachtend, fragend oder urteilend erfolgen und von
bestimmten (technischen) Hilfsmitteln oder Klassifikationssystemen abhän-
gen. Damit ist die Subjektposition allerdings noch nicht endgültig bestimmt.
Sie ergibt sich wiederum erst aus den charakteristischen Beziehungen zwi-
schen Sprecherstatus, institutionellen Orten der Rede und Sprechsituationen.
Erst in diesem Beziehungsspiel stellt die diskursive Praxis nach bestimmten
Regeln Subjektpositionen her. Auch bei den Äußerungsmodalitäten steht am
Ende also die Beschreibung des in der diskursiven Praxis hergestellten Bün-
dels von Beziehungen, das jeder Äußerungsmodalität ihren spezifischen Platz
und damit auch ihr spezifisches Erscheinungsgesetz gibt. Es muss dabei be-
tont werden, dass Foucault nicht von einem autonomen, seiner selbst be-
wussten Subjekt als vorgängiger Instanz des Sprechens ausgeht. Gezeigt wird
vielmehr, wie Individuen diskursiv formierte und zerstreute Positionen ein-
nehmen müssen, um überhaupt als Subjekte auftreten zu können.
Als drittes geht Foucault davon aus, dass der Diskurs Begriffe hervor-
bringt. Dabei ist entscheidend, dass nicht etwa ein einheitliches Begriffsgefü-
ge die Besonderheit eines Diskurses ausmacht; vielmehr ist Foucault zufolge
die spezifische Organisation des Aussagenfeldes Bedingung für das Erschei-
nen von ("verstreuten", d.h. heterogenen) Begriffen. Demzufolge bedarf es
einer genauen Untersuchung der Ordnung des Aussagenfeldes, in dem ein
Begriff auftauchen und zirkulieren kann. Foucaults Beschreibung greift drei
Aspekte der Konfiguration eines solchen Feldes auf. Zunächst wird die für
eine diskursive Praxis typische Anordnung von Aussagen betrachtet: ihre
chronologische Reihung, ihre argumentativ-logische Gliederung und ihre
rhetorische Aufbereitung. Dann wird untersucht, wie die diskursive Praxis
Beziehungen zwischen dem aktuellen Äußerungsfeld und anderen, diskurs-
fremden Aussagefeldern herstellt: Ein Diskurs gewinnt seine spezifische
62 Hans-Christoph Koller/Jenny Lüders

Form dadurch, dass er Felder von zitierten und als wahr übernommenen Aus-
sagen bildet; dass er Nachbardiskurse als Modelle, Prämissen oder Analogien
geltend macht; und dass er aus nicht mehr ,zugelassenen' Aussagen Gebiete
historischer Ableitung, Abgrenzung oder Transformation etabliert. Des Wei-
teren interessieren die Prozeduren der charakteristischen Bearbeitung von
Aussagen: ihre Formalisierung, Umarbeitung oder Systematisierung sowie
Verfahren zur Steigerung bzw. Verringerung ihrer Gültigkeit. Auch hier liegt
nun die gesuchte Regelmäßigkeit nicht in den einzeln beschriebenen Ele-
menten, sondern in der Weise, wie die innere Konfiguration eines Aussagen-
feldes, seine Verbindungen zu anderen Feldern und seine Formen der Bear-
beitung von Aussagen durch die diskursive Praxis zueinander in Beziehung
gesetzt werden. Erst so findet man ein regelmäßiges System der Formation
von Begriffen, das einen Diskurs konstituiert.
Die vierte und letzte Untersuchungsrichtung zielt auf die Strategien eines
Diskurses. Die Frage gilt dabei den Regeln, nach denen eine diskursive Pra-
xis verschiedene thematische Optionen eröffnet und realisiert. Solche Optio-
nen ergeben sich aus der "strategischen" Ausarbeitung von Diskursobjekten,
Äußerungsformen und Begriffen, die sich einerseits diskursimmanent, ande-
rerseits durch Praktiken ergeben, die dem Diskurs äußerlich sind. Demzufol-
ge zielt die Analyse auf die innere und äußere Organisation einer diskursiven
Praxis. In einem ersten Schritt betrachtet Foucault die diskurs immanenten
"Bruchpunkte" und Verzweigungsstellen. Inkompatibilitäten im Diskurs
können strategische Ausgangspunkte für verschiedene Themen sein. Da je-
doch niemals alle thematischen Optionen tatsächlich realisiert werden, unter-
sucht Foucault in einem zweiten Schritt, welche Instanzen in die Realisierung
bzw. den Ausschluss bestimmter Themen involviert sind. Hierbei spielt ei-
nerseits die diskursive Gesamtkonstellation eine Rolle. Je nachdem, ob der
Diskurs zu anderen Diskursen im Verhältnis der Über- oder Unterordnung,
der Analogie, der Opposition, der Begrenzung oder der Komplementarität
steht, sind bestimmte Themen möglich oder werden ausgeschlossen. Ande-
rerseits hängt die Realisierung einer strategisch-thematischen Möglichkeit
auch von dem Feld der "nicht-diskursiven Praktiken" ab. Je nach ihren Ein-
satzmöglichkeiten in praktischen Zusammenhängen (z.B. zur Aneignung des
Diskurses durch bestimmte Gruppen oder zur Instrumentalisierung im Diens-
te von Bedürfnissen und Interessen) werden bestimmte Themen realisiert und
ausgebaut. l Auch hier muss nun die spezifische und konstante Weise gefun-
den werden, in der diese Differenzierungsebenen miteinander in Beziehung

Das Verhältnis von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken bleibt in der "Archä-
ologie des Wissens" insgesamt vage (vgl. Waldenfels 1991: 291). Die von Fink-Eitel
vorgeschlagene Trennung, wonach die archäologische Vorgehensweise die Praktiken
als vom Diskurs abhängig betrachte, während die Genealogie diesen Blick umkehre
und den Diskurs als abhängig von Praktiken sehe (vgl. Fink-Eitel 1997: 64), erscheint
zwar als überspitzt, ist aber immerhin insofern plausibel, als dass die nicht-
diskursiven Praktiken tatsächlich erst in der Genealogie ihren entscheidenden Stel-
lenwert gewinnen.
Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse 63

gesetzt werden. Erst darin bestimmt sich nämlich die Regelmäßigkeit einer
diskursiven Praxis in Bezug auf die von ihr realisierten bzw. ausgeschlosse-
nen Themen.
Natürlich stellen diese vier Schritte keine vollständige und beliebig
übertragbare Methode einer archäologischen Diskursanalyse dar. Sie zeigen
eher eine mögliche Annäherungsweise an die Quellen, die im konkreten Fall,
abhängig von Fragestellung und Untersuchungsgegenständen, modifiziert
und ausgebaut werden muss. Als entscheidendes Prinzip erscheint dabei der
archäologische Blick auf Diskurse: ein Blick, der seine Gegenstände als
"Monumente" und nicht als "Dokumente" begreift (vgl. Foucault 1981: 14f.),
d.h. nicht als Hervorbringungen intentional handelnder Subjekte, sondern als
Produkte eines anonymen, aber regelhaften Geschehens. Dieser Blick leistet
zunächst negative Arbeit, indem er traditionelle Prinzipien der Synthese -
wie Autorschaft, Werk, Bewusstsein, Teleologie, Identität, Sinn usw. - in
Frage stellt, und stattdessen die Diskontinuität in das Denken einführt. Es
geht ihm um tatsächliche sprachliche Ereignisse, die nicht auf ihre Bedeu-
tung, sondern auf ihre äußerlichen Erscheinungsbedingungen hin untersucht
werden. Und er stellt keine Einheiten her, sondern konstituiert Serien und
rückt dabei eine Regelhaftigkeit in den Mittelpunkt, die sich jedem Ur-
sprungsdenken entzieht. Die ganze Archäologie des Wissens kann in dieser
Hinsicht also als Exposition einer Problemstellung gelesen werden, die
Foucault auch in den folgenden Jahren beschäftigen wird.

3. Die "genealogische" Wende


Ende 1970, kaum zwei Jahre nach Erscheinen der Archäologie, erfolgt ein
Neueinsatz in der Bestimmung des Diskursbegriffs. In Die Ordnung des Dis-
kurses, Foucaults Antrittsvorlesung am College de France, erscheint der Dis-
kurs plötzlich als ein gefährliches Gut, das mit bestimmten Kräften begabt
ist. Als Praxis der Wissensproduktion und -formation stehe er nämlich in
Verbindung mit der Macht und dem Begehren: der Macht, "Gegenstandsbe-
reiche zu konstituieren, hinsichtlich deren wahre oder falsche Sätze behauptet
oder verneint werden können" (Foucault 1991: 44), und dem Begehren nach
Besitz des "wahren" - und damit machtbegabten - Diskurses. Zudem wohne
dem Diskurs eine gefahrliche Ereignishaftigkeit und Zufälligkeit inne. Kein
einigendes Bewusstsein, kein teleologisches Prinzip garantiere die Kontinui-
tät und Identität der diskursiven Praxis, die somit als diskontinuierliche Serie
von Ereignissen betrachtet werden muss. Jeder Diskurs ist in dieser Hinsicht
ein "Wagnis" (Foucault 1991: 20), da seine Offenheit sich der bewussten
Kontrolle entziehen und unerwünschte Wirkungen zeitigen kann.
Dieser bedrohlich-produktiven Seite des Diskurses steht eine kontrollie-
rend-begrenzende gegenüber. Gerade weil der Diskurs mit unheimlichen und
gefährlichen Kräften begabt ist, muss er Foucault zufolge kanalisiert und
64 Hans-Christoph Koller/Jenny Lüders

neutralisiert werden. Was in der Archäologie so seltsam schwerelos den Dis-


kurs voranzutreiben schien, erhält hier nun seine Funktion: Die Regulation
der diskursiven Praxis ist nichts anderes als ein ausgefeiltes und vielschichti-
ges Kontrollsystem, das das "Wuchern der Diskurse" einschränkt und bändigt
- und dabei in seine Produktion mit einfließt. Dieses Kontrollsystem umfasst
verschiedene Prozeduren wie z.B. Sprechverbote, die auf bestimmte Subjekte
oder tabuisierte Themen und Umstände zielen; Ordnungssysteme, die in den
unkontrollierten Wildwuchs der Diskurse ein Identitäts- und Wiederholungs-
spiel einführen, wie die wissenschaftlichen "Disziplinen", das Prinzip des
Kommentars und die Autorfunktion; oder aber bestimmte Rituale und "Dis-
kursgesellschaften", die die Aneignung der Diskurse durch Subjekte im Vor-
aus festlegen und begrenzen. Für am stärksten wirksam hält Foucault dabei
die Grenzziehung zwischen "wahr" und "falsch". Wie oben schon angedeu-
tet, ist der "Wille zur Wahrheit" keineswegs so neutral und moralisch ein-
wandfrei, wie er sich gibt. Stattdessen handelt es sich um eine "gewaltige
Ausschließungsmaschinerie" (Foucault 1991: 17), die zeigt, "wie stark das
Wissen mit der Macht verknüpft ist" (Foucault 2002c: 516).
Galt der Diskurs in der Archäologie noch als autonomes, "regulierend-
reguliertes Geschehen" (Waldenfels 1991: 279), so erscheint er jetzt als Ort
bedrohlicher Machtwirkungen. Und an die Stelle anonymer und neutraler
Formationsregeln treten interessiert-strategische Kontrollmechanismen, die
den wuchernden Diskurs in bestimmte Formen zwingen. Eines betont
Foucault dabei immer wieder: Die regulativen Mechanismen sind keine "au-
ßerdiskursiven" Gegenspieler der "innerdiskursiven" Kräfte. Die Existenz
von Verknappungssystemen bedeutet nicht, dass "unterhalb oder jenseits ih-
rer ein großer, unbegrenzter, kontinuierlicher und schweigsamer Diskurs
herrscht, der (... ) unterdrückt oder verdrängt wird" (Foucault 1991: 34). Dis-
kurse bilden sich immer durch die Regelsysteme hindurch - und das heißt mit
und gegen sie. Niemals erfolgt die Produktion von Wissen außerhalb von
Machtinteressen und Forrnierungsprinzipien; sie ist immer strategisch: "Wir
reden und diskutieren nicht, um zur Wahrheit zu gelangen, sondern um zu
gewinnen" (Foucault 2002d: 777). Damit umfasst der Diskursbegriff sowohl
die Perspektive von Regel, System und Gesetz (die "Repression") als auch
die Perspektive des Zufalls, der Diskontinuität und des Ereignisses (die "Pro-
duktion")? Doch was ergibt sich nun aus dieser veränderten Betrachtung der
Diskurse für das Vorgehen bei ihrer Analyse?

2 Bekanntlich kritisierte Foucault später die von ihm als "Repressionshypothese" be-
zeichnete Beschränkung auf den repressiven Aspekt der Macht und versuchte ihr ei-
nen Machtbegriff entgegenzusetzen, der vor allem den produktiven Aspekt betont
(vgl. z.B. Foucault 1978: l04f.). Auf die Frage, ob dieser weit gefasste Machtbegriff
tatsächlich der "katastrophale Endpunkt der Foucaultschen Theorie" (Waldenfels
1991: 280) ist, bzw. ob Foucault trotz seiner theoretischen Anstrengungen im Grunde
der Repressionstheorie bis mindestens 1976 verhaftet bleibt (vgl. Fink-Eitel 1997:
94f.), kann hier nicht eingegangen werden. Wichtig erscheint uns in diesem Zusam-
Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse 65

In seiner Vorlesung In Verteidigung der Gesellschaft sieht Foucault das


Ziel der genealogischen Beschreibung darin, "ein historisches Wissen der
Kämpfe zu erstellen und dieses Wissen in aktuelle Taktiken einzubringen"
(Foucault 2001a: 23). Die Analyse von Machtkämpfen beschäftigt Foucault
vor allem in seinem im selben Jahr wie die Ordnung des Diskurses erschie-
nenen Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie. Genealogie erscheint
dort als geduldige Quellenforschung, die "Invasionen, Kämpfe, Raubzüge,
Verstellungen und Listen" in der "Welt aus Gesagtem und Gewolltem"
(Foucault 2002a: 166) ausfindig macht. Im Mittelpunkt steht dabei wiederum
der Regelbegriff als Prinzip und Gesetz eines Hervortretens. Jedoch gelten
die Regeln jetzt grundsätzlich als Instrument und Produkt von Gewalt: als
"kalkulierte Lust am Gemetzel und die Hoffnung auf Blut", die es gestattet,
"das Herrschaftsspiel ständig von neuem zu beginnen" (Foucault 2002a:
177). Die Regel erscheint hier als das systematische Prinzip des andauernden
Kampfes, der einerseits zur Überwältigung im Sinne der Unterdrückung und
Formierung führt, andererseits gleichzeitig Gegengewalt als umgekehrte Be-
mächtigung auf den Plan ruft.
Wenn nun der Diskurs als regelgeleitete Praxis einerseits die repressive
"Regelförmigkeit und Determination des Sprechens, Handeins und Verhal-
tens" bezeichnet, aber andererseits auch jene produktive "Kraft, die sich der
Determination widersetzt" (Konersmann 1991: 82), so bieten sich zwei ent-
sprechende analytische Richtungen an: eine kritische und eine genealogische.
Die kritische Richtung verfolgt das Prinzip der "Umkehrung" (Foucault
1991: 38). Diskursfiguren, die gemeinhin als Quelle von Wahrheit und Kon-
tinuität gelten (wie Autor, Disziplin und Wille zur Wahrheit) werden nun als
Prinzipien der Verknappung und als kontingente Resultate historischer Pro-
zesse entlarvt (vgl. Foucault 2002a: 172). In dieser Hinsicht erscheint die
Kritik der Archäologie gar nicht so unähnlich: wie dort handelt es sich um
einen Blick des "renversement", welcher der Schöpfung das Ereignis, der
Einheit die Serie, der Ursprünglichkeit die Regelhaftigkeit und der Bedeu-
tung die Möglichkeits- bzw. Existenzbedingungen gegenüberstellt (vgl.
Foucault 1991: 34f).3 In analytischer Hinsicht meint "Kritik" also das Erfas-
sen von Kontrollprozeduren in ihrer Entstehung, Veränderung und Wirkung.
Dem steht die genealogische Richtung gegenüber, die das "Wuchern" der

menhang nur, dass die produktive Seite der Macht schon in der Ordnung des Diskur-
ses mitgedacht ist.
3 Dies ist wohl auch der Grund dafür, dass die Genealogie oft als Erweiterung bzw. Er-
gänzung der Archäologie gesehen wird (vgl. Z.B. Habermas 1986: 290; Marti 1988:
71; Waldenfels 1991: 292; Davidson 1986: 224). Der "kritische" Blick wird dabei
meist als modifizierte Archäologie aufgefasst, während die Analytik der Machtkämpfe
das eigentlich genealogische Forschungsprogramrn darstelle. Demgegenüber behaup-
ten Dreyfus und Rabinow, es gebe ,,keine vor- oder nacharchäologische oder -genea-
logische Phasen", sondern nur eine Verschiebung in "Gewichtung und Konzeption
dieser Ansätze" (DreyfuslRabinow 1987: 133).
66 Hans-Christoph Koller/Jenny Lüders

Diskurse untersucht und beschreibt, wie sich durch oder gegen die Zwangs-
systeme Wissen konstituiert hat. 4
An der oben zitierten Stelle beschreibt Foucault als Ziel der Genealogie
nun aber nicht nur ein "historisches Wissen der Kämpfe", sondern will dieses
Wissen auch "in aktuelle Taktiken" eingebracht sehen. Der Genealoge darf
also nicht nur gewissenhaft und geduldig Dokumente sichten, sondern sollte
sich auch mit einer "eifrigen Ungeniertheit" (Foucault 1991: 43) des histori-
schen Wissens bemächtigen und es gegen sich selbst wenden. Diese Forde-
rung geht über den oben beschriebenen "kritischen" Blick von Archäologen
und Genealogen noch hinaus. Genealogie betreiben wäre demnach nicht nur
methodische Zerstörung vermeintlicher Evidenzen, sondern selbst "strategi-
sches und polemisches Spiel" (Foucault 2002d: 671), das auf bestimmte Ge-
fahren reagiert: "Den Machtwirkungen, wie sie einem als wissenschaftlich
betrachteten Diskurs eigen sind, muß die Genealogie den Kampf ansagen"
(Foucault 200la: 24). In diesem Sinne ist die Genealogie nicht (nur) Analyse-
methode, sondern vor allem eine Praxis5, die um ihre eigene Perspektivität
(und die damit verbundene Ungerechtigkeit) weiß. Sie versucht, der - in Re-
geln gefassten - Gewalt ihrerseits Gewalt anzutun: sich ihrer zu bemächtigen
und sie gegen sich selbst zu kehren. Deshalb ist Genealogie ebenso gelehrtes
Graben in den Archiven wie parodistische Zerstörung. Sie ist ungeniert und
doch gelehrt - eine "Anti-Wissenschaft" (Foucault 2001a: 23), die analyti-
sche Wirksamkeit entfaltet.
Insgesamt wird bei der Beschreibung des genealogischen Verfahrens
noch deutlicher, was schon für die Archäologie galt: Sie ist keine festgelegte,
theoretisch abgesicherte "Methode" und sperrt sich gegen jede schematische
Anwendung. Jeder Gegenstand bedarf seiner eigenen Instrumente und verän-
dert insofern immer auch die Theorie. Nicht umsonst meint Foucault noch
1976 (also nach seinen genealogischen Studien zur "Geburt des Gefängnis-
ses" und zur Entstehung des Sexualitätsdispositivs), dass es auch in Zukunft
"keineswegs darum gehen [wird], den verstreuten Genealogien einen einheit-
lichen und soliden theoretischen Boden zu bereiten", um ihnen "eine Art
theoretische Krönung [zu] verleihen, die sie vereinheitlichen würde" (Fou-

4 Dass diese Trennung in "Kritik" und "Genealogie" problematisch ist, macht Foucault
schon in der Ordnung des Diskurses deutlich: Gerade die produktive Kraft von Dis-
kursen wirkt immer auch ausschließend (indem Gegenstandsbereiche als "Wissen"
konstituiert werden, erfolgt gleichzeitig der Ausschluss von "Nicht-Wissen"), und be-
stimmte Prinzipien des Ausschlusses ziehen meist eine Vielzahl von Diskursen nach
sich (man betrachte hierfür nur Foucaults spätere Untersuchungen zur "Diskursivie-
rung" der Sexualität). Repression und Produktion sind in Foucaults Konzeption kor-
relativ und können nicht voneinander getrennt werden.
5 Zur Frage, inwiefern Genealogie als (performative) Praxis betrachtet werden kann,
vgl. Honneth 2003: 120f. Saar unterscheidet drei Aspekte der Genealogie: die genea-
logische Geschichtsschreibung bzw. historische Methode, die genealogische Kritik
oder Wertungsweise und die genealogisch-textuelle Praxis. Dieser dritte Aspekt führt
Saar zur Frage des "Stils", d.h. der narrativen und rhetorischen Praxis der Genealogie
und ihrer performativen Wirkung (vgl. Saar 2003: 158 und 172-177).
Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse 67

cault 2001a: 28). Besonders problematisch für die Rekonstruktion einer dis-
kursanalytischen Vorgehensweise erscheint allerdings, dass die Genealogie
weit mehr als nur Diskurse betrachtet. Immer sind diskursanalytische Motive
und Fragen in einen größeren Rahmen der Analyse von Machtverhältnissen
einzustellen - auf die in diesem Beitrag nicht näher eingegangen werden
kann. Der Gewinn der Genealogie liegt also vor allem in einer Erweiterung
der Perspektive, die es nicht nur erlaubt, Diskurse als Ausgangspunkt für
nicht-diskursive Praktiken zu betrachten, sondern auch umgekehrt nicht-
diskursive Praktiken als (machtvoll-produktive) Anreize für Diskurse erfasst.

4. Prinzipien der Foucaultschen Diskursanalyse


In den beiden vorangehenden Abschnitten wurde gezeigt, dass Archäologie
und Genealogie in sich heterogene und nicht immer methodisch eindeutige
Betrachtungsweisen darstellen. Dennoch sollen im Folgenden einige allge-
meine Prinzipien einer Analyse von Diskursen zusammengetragen werden,
um dann vor diesem Hintergrund die Frage zu stellen, welche Möglichkeiten
von Foucault angeregte Diskursanalysen für erziehungswissenschaftliche
Fragestellungen bieten könnten.
Mögliche Untersuchungsgegenstände einer Diskursanalyse sind ausge-
sprochen vielfältig. Während Foucault zunächst vor allem die Diskurse der
"Wissenschaften vom Menschen" untersuchte (vgl. Foucault 1981: 46), er-
weiterte er ab 1970 das Feld beträchtlich. Diese Erweiterung bezieht sich
nicht nur auf nicht-diskursive Praktiken (wie z.B. die in Überwachen und
Strafen untersuchten Raumordnungen), sondern auch auf Diskurse, die quer
zu wissenschaftlichen Disziplinen stehen wie z.B. der Diskurs über Sexuali-
tät. Charakteristisch für Foucaults methodisches Vorgehen ist, dass der Ge-
genstand stets starken Einfluss auf Fragestellung und Methode nimmt. So
sieht Foucault Z.B. die vier Richtungen der archäologischen Analyse in sei-
nen früheren Untersuchungen unterschiedlich stark hervortreten (vgl. Fou-
cault 1981: 95), spricht meist von Genealogien im Plural (vgl. Foucault
2001a: passim) und propagiert eine interessengeleitete Aneignung der metho-
dischen Werkzeuge (vgl. Foucault 2002e: 887f.).
Demgegenüber sind die an die jeweilige diskursive Praxis gerichteten
Fragen in Foucaults Arbeiten relativ homogen. Gefragt wird nach den Re-
geln, die eine Aussage bzw. eine Diskursserie konstituieren. Der Regelbegriff
ist allerdings verschieden besetzt: Während die archäologische Regel das In-
Beziehung-Setzen von Aussagen beschreibt, erfasst die genealogische Regel
systematisch das Prinzip der kämpferisch-strategischen Bemächtigung von
Diskursen. Ziel ist also eine Beschreibung der regelgeleiteten diskursiven
Praxis, die immer auch den Blick kritisch auf damit einhergehenden Aus-
grenzungs- und Verknappungsprinzipien richtet. Die Frage, weshalb eine Re-
gel befolgt wird oder welche Ursachen ein Ereignis hervorrufen, interessiert
68 Hans-Christoph Koller/Jenny Lüders

dabei nicht. Sie würde bereits in das von Foucault geschmähte Gebiet des Ur-
sprungs und der Kausalität hineinführen.
Der Frage nach den Regeln einer diskursiven Praxis entsprechen be-
stimmte methodische Gnmdsätze einer Diskursanalyse, die sich einer strikten
Ablehnung der "Ideengeschichte" verdanken. Dem Prinzip der Schöpfung
wird das Ereignis, der Einheit die Serie, der Ursprünglichkeit die Regelhaf-
tigkeit und der Bedeutung die Möglichkeitsbedingungen gegenüber gestellt
(vgl. Foucault 1991: 35). Und auf diesem Grundprinzip der Diskontinuität,
der Spezifität und der Äußerlichkeit baut die konkrete Analyse auf, deren ar-
chäologische Verfahrensweise oben skizziert wurde. Was allerdings auf den
ersten Blick als Bemühung um eine streng wissenschaftlich-objektive Me-
thode erscheint, entpuppt sich auf den zweiten Blick als strategisches Unter-
nehmen. Sowohl Archäologie als auch Genealogie sind perspektivisch und
interessengeleitet - und wissen darum. Ihr Ziel ist es, als wahr geltende Aus-
sagensysteme durch den Nachweis deren letztlich kontingenter Entstehung in
Frage zu stellen und "Machtsysteme kurz zu schließen, zu disqualifizieren
oder zu zerschlagen" (Foucault 2002e: 888).6
Eng mit den methodischen Grundsätzen verknüpft ist zuletzt das, was
man vielleicht den methodologischen Rahmen der Foucaultschen Diskursana-
lyse nennen könnte. Es geht dabei vor allem um eine Abgrenzung zu Metho-
den der (hermeneutischen) Exegese und der (strukturalistischen) linguisti-
schen Formalisierung (vgl. Foucault 2001b: 869). Exegetische Ansätze wol-
len aufdecken, was als Intention bzw. Sinn dem jeweiligen Sprechen zugrun-
de liegt. Ihr Interesse gilt einem "Wiederfinden des stummen, murmelnden,
unerschöpflichen Sprechens, das von innen die Stimme belebt" (Foucault
1981: 43). Die formalistische Analyse zielt demgegenüber auf allgemeine
Konstruktionsgesetze der Sprache in ihrer syntaktischen Struktur. Beide He-
rangehensweisen lehnt Foucault ab: "Die Diskursanalyse, die der diskursiven
Verfertigung von Objektfeldem und Subjektpositionen nachgeht, bezieht sich
nicht auf Ungesagtes, das als verborgener Sinn dem Diskurs vorausläge, noch
bezieht sie sich auf allgemeine Formen der Sagbarkeit, die an die Materialität
und Spezifität der Diskurse nicht heranreichen. Ihre Domäne ist die Positivi-
tät des Gesagten, wo Regelndes und Geregeltes miteinander im Ereignis der
Regelung verklammert sind" (Waldenfels 1991: 287). Einerseits verzichtet
die Archäologie also auf jede Begründung durch Bewusstsein, Willen oder
Intentionen der sprechenden Subjekte. Andererseits verschiebt sich die Ana-
lyse von der (strukturalistischen) Frage nach Möglichkeitsbedingungen hin zu

6 Insofern kann man Foucault auch nicht vorwerfen, er reflektiere seinen eigenen Ana-
lysestandpunkt nicht. Die Befangenheit im eigenen Blick wird in der Archäologie des
Wissens nicht nur ausgiebig diskutiert (vgl. Foucault 1981: insbes. 189f.), sondern ist
geradezu Voraussetzung für eine Analyse, die archäologisch "die Unterschiede
macht" (ebd.: 293), von denen sie spricht, und genealogisch betrachtet eine strategi-
sche Praxis darstellt. Foucault geht davon aus, "daß die Vorstellung eines Blicks von
nirgendwo ein Fehler ist" (Owen 2003: 135).
Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse 69

der Beschreibung von Existenzbedingungen7 : Nicht das Zurückführen auf


interne Generationsregeln als formale Bedingungen aller möglichen Aussa-
gen innerhalb eines als Totalität konzipierten Systems, sondern das Erfassen
tatsächlicher Aussagen in ihren je spezifischen äußerlichen Existenzbedin-
gungen ist Ziel der Archäologie. Und ihre Ebene ist nicht die des Sinns oder
der Signifikanten, sondern die der faktisch konstituierten Diskursserien mit
ihren spezifischen Lücken und Diskontinuitäten.

5. Diskursanalyse und Erziehungswissenschaft


Wie in der Einleitung beschrieben, lässt sich die bisherige Aufnahme von
Foucaults Arbeiten in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft als
Versuch charakterisieren, eher deren theoretische Begrifflichkeit als ihre
methodische Vorgehensweise zum Ausgangspunkt eigener Theoriebildung zu
machen. Abschließend soll deshalb erörtert werden, inwiefern erziehungs-
wissenschaftliche Forschung auch methodisch von Foucaults diskursanalyti-
schem Ansatz profitieren könnte und wo Möglichkeiten bzw. Grenzen einer
diskursanalytischen Bearbeitung erziehungswissenschaftlicher Fragestellun-
gen liegen.
In Bezug auf die Möglichkeiten wäre vor allem zu wünschen, dass die er-
ziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Foucault dessen Beispiel
folgt und das theoretische und methodische Instrumentarium seiner Arbeiten
mehr als bisher für methodisch reflektierte, materialbezogene (Quellen-)Stu-
dien nutzt (vgl. Casale, in diesem Band). Geht man davon aus, dass das Inte-
resse der Diskursanalyse in erster Linie den Regeln gilt, die der Produktion,
der Zirkulation und der Verwendung von Wissen in spezifischen historischen
und gesellschaftlichen Kontexten zugrunde liegen, so ergibt sich als ein
wichtiges mögliches Untersuchungsgebiet solcher Studien im Rahmen der
Erziehungswissenschaft die Erforschung pädagogischen Wissens. Die empi-
rische Analyse und theoretische Erfassung unterschiedlicher Formen pädago-
gischen Wissens ist seit geraumer Zeit zu einem wichtigen Gebiet erziehungs-
wissenschaftlicher Forschung geworden (vgl. z.B. Oelkersffenorth 1991), oh-

7 Zur genaueren Erläuterung dieser Perspektivverschiebung vgl. DreyfuslRabinow


1987: 77-101. Obwohl Foucault meist die Unterschiede seines Vorgehens zu struktu-
ralistischen Verfahren betont, sieht er auch Überschneidungen: In beiden Fällen werde
"das Dokument im System seiner internen und externen Relationen" (Foucault 2002b:
346) befragt, womit erst die methodische Voraussetzung für eine exakte historische
Analyse geschaffen sei. Genauso zerstörten beide Ansätze, die "große biologische
Mythologie der Geschichte und der Dauer", um "sowohl das Erscheinen von Diskon-
tinuitäten in der Geschichte als auch das Erscheinen von geregelten und zusammen-
hängenden Transformationen" zu ermöglichen (ebd.: 347). Davon unberührt bleibt
Foucaults Vorwurf, dass die Strukturalisten versäumten, den vermeintlich "ruhigen
Ort" zu reflektieren, von dem aus sie fragen (vgl. Foucault 1981: 40).
70 Hans-Christoph Koller/Jenny Lüders

ne dass dabei bisher das theoretische und methodische Potential der Arbeiten
Foucaults genutzt worden wäre. Die Bedeutung diskursanalytischer Verfah-
ren läge dabei vor allem darin, für je spezifische Diskursformationen in ar-
chäologischer Perspektive die Regeln der Hervorbringung, Verbreitung und
Verwendung pädagogischen Wissens zu beschreiben und genealogisch deren
Entstehung im Kontext jeweiliger Machtverhältnisse herauszuarbeiten.
Dabei wäre nicht nur an Untersuchungen zum pädagogischen Wissen in
bestimmten historischen Konstellationen zu denken, sondern auch an päda-
gogische Diskurse der Gegenwart. Als Untersuchungsgegenstände bieten
sich hierfür sowohl die verschiedenen Formen des innerhalb der Institution
Wissenschaft produzierten pädagogischen Wissens an (wie z.B. empirisch-
analytisches, normativ-handlungsorientierendes oder kritisch-reflexives Wis-
sen) als auch das etwa in Zeitschriften und Ratgeberliteratur kursierende vor-
bzw. außerwissenschaftliche Wissen. Spezifische Themen, an denen die
Reichweite der methodischen Überlegungen Foucaults erprobt werden könn-
te, wären etwa die bildungspolitisch-erziehungswissenschaftliche Diskussion
um PISA und andere internationale Schulleistungsvergleiche, die anhaltende
Debatte über Zuwanderung und ihre Folgen für das deutsche Bildungssystem
sowie der Diskurs um die pädagogischen Implikationen von Gentechnik und
Reproduktionsmedizin (vgl. Meyer-Drawe 2001).
Der spezifische Beitrag der Foucaultschen Diskursanalyse zur Untersu-
chung solcher und weiterer Felder aktueller bildungspolitischer, erziehungs-
wissenschaftlicher und pädagogisch-praktischer Auseinandersetzungen läge
darin, jenseits der Aufmerksamkeit für subjektive Intentionen oder Interessen
der beteiligten Akteure nach den anonymen und weitgehend unbewussten
Regeln zu fragen, die den unterschiedlichen Äußerungen innerhalb eines Fel-
des zugrunde liegen und das konstitutive Merkmal einer diskursiven Forma-
tion ausmachen. Dabei stünde im Zentrum der Aufmerksamkeit nicht die
Frage, warum, aufgmnd welcher politischen Interessen oder persönlichen
Motive "ausländische" Kinder und Jugendliche im deutschen Bildungssystem
benachteiligt werden (um ein einziges der genannten Beispiele herauszugrei-
fen), sondern vielmehr, kraft welcher Unterscheidungen diese Gruppe über-
haupt als solche definiert wird (Formation der Gegenstände), von welchen
institutionellen Positionen aus solche Unterscheidungen getroffen und durch-
gesetzt werden (Formation der Äußerungsmodalitäten), wie Aussagen über
"Migrantenjugendliche" angeordnet, organisiert und bearbeitet werden (For-
mation der Begriffe) und in welchem Verhältnis dieser Diskurs zu anderen
Diskursen (wie z.B. dem ökonomischen Diskurs) und nicht-diskursiven
Praktiken (wie z.B. dem Ausländerrecht) steht (Formation der Strategien).
Ein zweites Forschungsfeld der Erziehungswissenschaft, in dem diskurs-
analytische Verfahren im Anschluss an Foucault zu einer Perspektiverweite-
rung beitragen könnten, stellt die qualitative bzw. interpretative Forschung
dar. Die Bedeutung der Foucaultschen Diskursanalyse bestünde in dieser
Hinsicht darin, ein Gegengewicht zur Konzentration qualitativer Forschung
auf Einzelfallstudien zu liefern, indem sie es erlaubt, den diskursiven Kontext
Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse 71

zu ermitteln, in dem solche (z.B. durch biographische Interviews oder Video-


aufzeichnungen von Unterrichtsstunden erfasste) Einzelfälle angesiedelt sind.
Auf diese Weise könnte die Beschränkung qualitativer Untersuchungen auf
subjekt- bzw. handlungstheoretische Betrachtungsweisen überwunden und
die Bedingtheit individueller Äußerun~en durch diskursiv-machtformierte
Zusammenhänge berücksichtigt werden.
Fragt man nach den Grenzen, die einer diskursanalytischen Bearbeitung
erziehungswissenschaftlicher Fragestellungen gesetzt sind, so wäre zunächst
zwischen zwei Arten von Begrenzungen zu unterscheiden: theoretischen
Grenzen, die sich daraus ergeben, dass Foucaults methodischer Ansatz für ei-
ne Reihe ,gängiger' erziehungswissenschaftlicher Fragestellungen nicht ge-
eignet ist, weil diese darin per definitionem keinen Platz finden, und methodi-
schen Grenzen, die mit unzureichend geklärten immanenten Problemen der
Diskursanalyse zu tun haben. Zur ersten Gruppe gehört z.B., dass diskurs-
analytische Verfahren im Anschluss an Foucault nicht angezeigt sind, wenn
es darum geht, Ursachen bestimmter pädagogischer Konfliktsituationen zu
untersuchen oder normative Orientierungen für pädagogisches Handeln zu
entwickeln (generell sind Foucaults methodische Konzepte nur in einer sehr
spezifischen Weise an die Bedürfnisse einer praktischen (Handlungs-)Wis-
sensehaft anschlussfähig, sofern sie die Vorstellung einer handlungsbegrün-
denden Subjektivität unterlaufen und auf normative Festlegungen weitgehend
verzichten). Zur zweiten Gruppe sind dagegen Grenzen der ,Anwendung'
oder des ,Einsatzes' der Foucaultschen Diskursanalyse zu rechnen, die mit
den Schwierigkeiten zu tun haben, auf die man stößt, wenn man sich auf
Foucaults Ansatz einlässt und nach Regeln fragt, die einer bestimmten dis-
kursiven Praxis zugrunde liegen.
Diese Probleme beginnen mit der Bestimmung des Gegenstandsbereichs
einer diskursanalytischen Studie: Wie lässt sich ein zu analysierender Diskurs
forschungspraktisch eingrenzen? Welche Quellen, Texte und Aussagen müs-
sen in die Untersuchung einbezogen werden, welche nicht? Welche themati-
schen, zeitlichen, regionalen, institutionellen und medialen Kriterien gibt es
für die Konstituierung eines Textkorpus, das den Grundstock der zu analysie-
renden Quellen bildet? Foucault betont zu Recht, dass solche Auswahlent-

8 Leider werden jedoch an Foucault orientierte diskursanalytische Verfahren in der ein-


schlägigen Literatur zu qualitativen Forschungsmethoden kaum erwähnt geschweige
denn angemessen dargestellt. So taucht das Stichwort Diskursanalyse z.B. bei Frie-
bertshäuserlPrengel 1997 - von zwei beiläufigen Erwähnungen im Kontext konstruk-
tivistischer Ansätze (195, 198) abgesehen - überhaupt nicht auf. Wo diskursanalyti-
sche Verfahren eigens thematisiert werden, stehen in der Regel interaktionistisch-
handlungstheoretische Modelle im Vordergrund (vgl. z.B. Flick 2002: 293f. und Flick
u.a. 2000: 546-556). Eine methodisch interessante Kombination von diskurs- und bio-
graphieanalytischen Verfahren findet sich Z.B. bei Reh 2001, die biographische Inter-
views mit ostdeutschen Lehrerinnen in den diskursiven Kontext der Nach-Wende-
Debatten über Schule in der DDR stellt, den sie anhand von ausgewählten Aufsätzen
und Leserbriefen einer Lehrerzeitschrift analysiert.
72 Hans-Christoph Koller/Jenny Lüders

scheidungen und die ihnen zugrunde liegenden Kriterien notwendiger Weise


provisorischen Charakter haben müssen, da die ,Einheit' und damit auch die
Grenzen eines Diskurses erst nach vollzogener Analyse bestimmt werden
können (vgl. Foucault 1981: 45f.).9 Dennoch erscheinen diese Ausführungen
Foucaults aus forschungspraktischer Perspektive unbefriedigend, weil sie
keine Hinweise darauf enthalten, wie solche gewissermaßen heuristischen
Kriterien zu entwickeln wären, die unverzichtbar sind, um Auswahlentschei-
dungen begründet treffen und transparent machen zu können.
Was für die Bestimmung des Gegenstandsbereichs und die zu Beginn ei-
ner Diskursanalyse zu treffenden Auswahlentscheidungen gilt, trifft auch für
das weitere Vorgehen zu: Wer es unternimmt, eine diskursive Formation im
Sinne Foucaults zu analysieren, ist forschungspraktisch weitgehend auf sich
allein gestellt. Zwar leuchtet Foucaults Plädoyer ein, die methodische Vorge-
hensweise nicht schematisch festzulegen, sondern erst in Auseinandersetzung
mit dem jeweiligen Gegenstand gewissermaßen experimentell zu entwickeln.
Andererseits aber erfordert die Durchführung einer Diskursanalyse konkrete
Verfahrens schritte, die von Foucault nur unzureichend geklärt werden. Das
betrifft z.B. den entscheidenden Schritt der Bestimmung von Formationsre-
geln eines Diskurses, für den es ja (wie oben ausgeführt) erforderlich ist,
nicht nur die jeweiligen Elemente einer Analyseebene, sondern auch ihre Be-
ziehungen zueinander zu bestimmen. Wie aber kommt man etwa auf der
Ebene der Formation der Gegenstände von der Beschreibung der einzelnen
Elemente (d.h. der Oberflächen des Auftauchens, der Instanzen der Abgren-
zung und der Raster der Spezifikation) zu Aussagen über deren Beziehungen
zueinander, aus denen sich ja erst die Formationsregeln des Diskurses erge-
ben? Oder, um weitere offene Fragen zu nennen: Wann kann eine diskursive
Formation als hinreichend bestimmt bzw. ihre Analyse als abgeschlossen
gelten? In welchem Sinne bzw. auf der Basis welcher Kriterien sind die auf
der Basis ausgewählter Quellen gefundenen Ergebnisse einer Diskursanalyse
verallgemeinerbar?
Dabei bedeutet die genealogische Perspektive Foucaults eine Verschie-
bung für diese vor allem mit Bezug auf die Archäologie des Wissens formu-
lierten Fragen. Denn die genealogische Betrachtungsweise legt es nahe, auch
das diskursanalytische Verfahren selbst als Teil der Kämpfe um die Bemäch-
tigung des Diskurses zu begreifen, bei denen es kein ,Außen' gibt - und d.h.
eben auch: keinen neutralen Standpunkt, von dem aus die ,Güte' bzw. die
Regelkonformität einer Diskursanalyse objektiv beurteilt werden könnte. In

9 Wenn Foucault einräumt, dass das provisorisch festgelegte Gebiet "im Lauf der Ana-
lyse umgestoßen und, wenn nötig, neu organisiert" werden müsse (Foucault 1981:
45), beschreibt er eine Bewegung, die dem hermeneutischen Zirkel nicht unähnlich
ist: Während einerseits die einzelnen Elemente oder Fragmente einer diskursiven
Formation nur im Blick auf die unterstellte ,Einheit' des Diskurses ausgewählt wer-
den können, dem sie vermutlicher Weise angehören, muss diese ,Einheit' umgekehrt
auf der Basis der Analyse ihrer Elemente modifiziert oder gänzlich neu bestimmt
werden.
Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse 73

diesem Sinne sind auch Methodenfragen Machtangelegenheiten. Auf der an-


deren Seite bedeutet dies aber keineswegs, dass solche Fragen nicht zum Ge-
genstand argumentativer Auseinandersetzung werden könnten oder sollten.
Gerade um der Foucaultschen Diskursanalyse innerhalb der Erziehungswis-
senschaft mehr Geltung zu verschaffen, käme es u.E. darauf an, Antworten
auf die genannten methodischen Fragen zu finden und so zur Weiterent-
wicklung des diskursanalytischen Verfahrens beizutragen.
Ein weiterer ungeklärter Aspekt der Diskursanalyse betrifft die Bedeu-
tung bzw. den Stellenwert von Kritik innerhalb der archäologischen und ge-
nealogischen Vorgehensweise Foucaults. In der Archäologie erscheint Kritik
vor allem als ein methodisches Prinzip, das sich gegen traditionelle Verfah-
ren der Ideengeschichte und ihre Konzentration auf einheitsstiftende Katego-
rien wie Autor, Werk und kontinuierliche Entwicklung richtet. Gegenstand
von Kritik sind dabei also bisherige theoretische und methodische Zugänge
zu Texten oder Aussagen, nicht aber die zu analysierenden Diskurse selbst.
Und noch in der Ordnung des Diskurses beschreibt Foucault (wie oben er-
läutert) "Kritik" als Analyserichtung, die vor allem das methodische Prinzip
der "Umkehrung" zur Geltung bringt, das die Aufmerksamkeit von "positi-
ven" Figuren wie Autor, Disziplin oder Wahrheitssuche abzieht und auf die
"negativen" Mechanismen der Beschneidung und Verknappung von Diskur-
sen lenkt (vgl. Foucault 1991: 34 und 38). Auch hier scheint die Kritik also
zunächst eher einer bestimmten Betrachtungsweise von Diskursen als diesen
Diskursen selbst zu gelten.
Auf der anderen Seite bringt Foucaults genealogische Wende einen Be-
griff von Kritik ins Spiel, der mehr umfasst als nur die Abkehr von her-
kömmlichen Verfahren der Geschichtsschreibung. Denn indem die genealo-
gische Analyse die Entstehung bestimmter Aussagesysteme aus kontingenten
historischen Kämpfen und Machtverhältnissen heraus zum Thema hat, stellt
sie zumindest implizit sowohl den Geltungs- oder Wahrheitsanspruch dieser
Aussagen als auch die Machtmechanismen, die ihn hervorgebracht haben, in
Frage. Damit wird auch der zu analysierende Diskurs selbst zum Gegenstand
einer Kritik, die letztlich den jeweiligen Machtwirkungen gilt, denen er seine
Entstehung verdankt. So schließt z.B. die kritische Dimension der For-
schungsvorhaben, die Foucault in der Ordnung des Diskurses entwirft, auch
eine Kritik der "Kontrollinstanzen" ein, die die Verknappung der Diskurse
und den Ausschluss bestimmter Aussagen oder Sprecher betreiben (vgl.
Foucault 1991: 38ff.). Das wirft die Frage nach dem normativen Bezugspunkt
einer solchen Kritik auf, der weder dem kritisierten Diskurs entnommen noch
einfach voluntaristisch an ihn herangetragen werden kann. Diese Frage lässt
sich im Rahmen dieses Beitrags allerdings nicht klären, da Foucault seinen
Begriff von Kritik in den hier untersuchten Schriften nicht näher ausführt,
sondern erst im Zuge seiner späteren Auseinandersetzung mit Kant genauer
entfaltet (vgl. Foucault 1992). Zu den Grenzen des diskursanalytischen Ver-
fahrens gehört daher auch, dass der Status bzw. die Begründung von Kritik
darin nicht hinreichend geklärt ist. Auch eine primär methodisch interessierte
74 Hans-Christoph Koller/Jenny Lüders

Auseinandersetzung mit Foucault kommt deshalb um eine Diskussion der


normativen bzw. ethischen Fragen nicht herum, die in seinen Arbeiten auf-
geworfen, aber erst in den ,späten' Schriften explizit thematisiert werden.

Literatur

Angermüller, Johannes (2001): Einleitung: Diskursanalyse: Strömungen, Tendenzen, Per-


spektiven. In: Johannes AngermüllerlKatharina BunzmannIMartin Nonhoff (Hrsg.):
Diskursanalyse: Theorien, Methoden, Anwendungen. Hamburg: Argument, S. 7-22.
Angermüller, Johannes/Katharina BunzmannIMartin Nonhoff (Hrsg.) (2001): Diskursana-
lyse: Theorien, Methoden, Anwendungen. Hamburg: Argument.
Bublitz, Hannelore u.a. (Hrsg.) (1999): Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Dis-
kursanalyse Foucaults. FrankfurtlMain und New York: Campus.
Davidson, Amold I. (1986): Archaeology, Genealogy, Ethics. In: David Couzens Hoy
(Hrsg.): Foucault. A Critical Reader. Oxford: Blackwell, S. 221-233.
Dreyfus, Hubert L.lPaul Rabinow (1987): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus
und Hermeneutik. FrankfurtlMain: Athenäum.
Fink-Eitel, Hinrich eI997): Michel Foucault zur Einführung. Hamburg: Junius.
Flick, Uwe (62002): Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. Reinbek b. Hamburg:
Rowohlt.
Flick, Uwe/Ernst von Kardorff/Ines Steinke (Hrsg.) (2000): Qualitative Forschung. Ein
Handbuch. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.
Fohrmann, JürgenlHarro Müller (Hrsg.) (1988): Diskurstheorie und Literaturwissenschaft.
Frankfurt!Main: Suhrkamp.
Forneck, Hermann J. (1992): Modeme und Bildung. Modernitätstheoretische Studien zur
sozialwissenschaftlichen Reformulierung allgemeiner Bildung. Weinheim: Deutscher
Studien Verlag.
Foucault, Michel (1978): Die Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere. In: Michel
Foucault: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Mer-
ve, S. 104-117.
Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1991): Die Ordnung des Diskurses. FrankfurtlMain: Fischer.
Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin: Merve.
Foucault, Michel (2001a): In Verteidigung der Gesellschaft. FrankfurtIMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (200lb): Michel Foucault erklärt sein jüngstes Buch. Gespräch mit J.-J.
Brochier. In: Michel Foucault: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Frankfurt!
Main: Suhrkamp, Bd. 1, S. 980-991.
Foucault, Michel (2002a): Nietzsehe, die Genealogie, die Historie. In: Michel Foucault:
Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. FrankfurtlMain: Suhrkamp, Bd. 2, S. 166-
191.
Foucault, Michel (2002b): Zur Geschichte zurückkehren. In: Michel Foucault: Schriften in
vier Bänden. Dits et Ecrits. FrankfurtlMain: Suhrkamp, Bd., 2, S. 331-347.
Foucault, Michel (2002c): Von der Archäologie zur Dynastik. In: Michel Foucault:
Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. FrankfurtlMain: Suhrkamp, Bd. 2, S. 504-518.
Foucault, Michel (2002d): Die Wahrheit und die juristischen Formen. In: Michel Foucault:
Schriften in vier Bänden. FrankfurtlMain: Suhrkamp, Bd. 2, S. 669-792.
Foucault, Michel (2ü02e): Von den Martern zu den Zellen. In: Michel Foucault: Schriften
in vier Bänden. FrankfurtlMain: Suhrkamp, Bd. 2, S. 882-888.
Friebertshäuser, BarbaralAnnedore Prengel (Hrsg.) (1997): Handbuch qualitativer For-
schungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim: Juventa.
Möglichkeiten und Grenzen der Foucaultschen Diskursanalyse 75
Gstettner, Peter (1981): Die Eroberung des Kindes durch die Wissenschaft. Aus der Ge-
schichte der Disziplinierung. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.
Habermas, Jürgen (1986): Der philosophische Diskurs der Modeme. Zwölf Vorlesungen.
FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Honneth, Axel (2003): Einleitung: Genealogie als Kritik. In: Axe1 HonnethIMartin Saar
(Hrsg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Kon-
ferenz 2001. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 117-121.
Jäger, Siegfried (2001): Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer
Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse. In: Reiner Keller u.a. (Hrsg.): Handbuch
Sozialwissenschaftliehe Diskursanalyse. Bd. 1: Theorien und Methoden. Opladen:
Leske + Budrich, S. 81-112.
Keller, Reiner (1997): Diskursanalyse, in: Ronald Hitzler/Anne Honer (Hrsg.): Sozialwis-
senschaftliehe Hermeneutik. Eine Einführung. Opladen: Leske + Budrich, S. 309-333.
Keller, Reiner u.a. (200Ia): Zur Aktualität sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse - Eine
Einführung. In: Reiner Keller u.a. (Hrsg.): Handbuch Sozial wissenschaftliche Dis-
kursanalyse. Bd. 1: Theorien und Methoden. Opladen: Leske + Budrich, S. 7-27.
Keller, Reiner u.a. (Hrsg.) (2oo1b): Handbuch Sozialwissenschaftliehe Diskursanalyse. Bd.
1: Theorien und Methoden. Opladen: Leske + Budrich.
Konersmann, Ralf (1991): Der Philosoph mit der Maske. Michel Foucaults L'ordre du dis-
cours. In: Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. FrankfurtlMain: Fischer, S.
51-94.
Landwehr, Achim (2001): Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Dis-
kursanalyse. Tübingen: edition diskord.
Maingueneau, Dominique (1994): Die "französische Schule" der Diskursanalyse. In: Kon-
rad Ehlich (Hrsg.): Diskursanalyse in Europa. FrankfurtlMain: Lang, S. 187-195.
Marti, Urs (1988): Michel Foucault. München: Beck.
Meyer-Drawe, Käte (1996): Versuch einer Archäologie des pädagogischen Blicks. In: Zeit-
schrift für Pädagogik 42, S. 655-664.
Meyer-Drawe, Käte (2001): Erziehung und Macht. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaft-
liche Pädagogik 77, S. 446-457.
Mollenhauer, Klaus (1979): "Dies ist keine Pfeife". Ein etwas irritierter Versuch, sich M.
Foucault zu nähern. In: päd extra H. 1, S. 63-65
Oelkers, lürgenlHeinz-Elmar Tenorth (Hrsg.) (1991): Pädagogisches Wissen. Weinheim:
Beltz (= 27. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik).
Owen, David (2003): Kritik und Gefangenschaft. Genealogie und Kritische Theorie. In:
Axe1 HonnethlMartin Saar (Hrsg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption.
Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 122-144.
Pongratz, Ludwig (1989): Pädagogik im Prozeß der Modeme. Studien zur Sozial- und
Theoriegeschichte der Schule. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.
Pongratz, Ludwig (1990): Schule als Dispositiv der Macht - pädagogische Reflexionen im
Anschluß an Michel Foucault. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik
66, S. 289-308.
Reh, Sabine (2001): Bilder über Schule und Unterricht. Berufsbiographische Texte ost-
deutscher Lehrerinnen und Lehrer als "Bekenntnisse". Habilitationsschrift am Fachbe-
reich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.
Reichenbach, Roland (2000): Die Tiefe der Oberfläche: Michel Foucault zur Se1bstsorge
und über die Ethik der Transformation. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche
Pädagogik 76, S. 177-189.
Ricken, Norbert (1999): Subjektivität und Kontingenz. Markierungen im pädagogischen
Diskurs. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Rieger-Ladich, Markus (2002): Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur pädago-
gischen Semantik. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.
76 Hans-Christoph Koller/Jenny Lüders

Saar, Martin (2003): Genealogie und Subjektivität. In: Axel HonnethIMartin Saar (Hrsg.):
Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz
2001. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 157-177.
Schäfer, Alfred (1996): Das Bildungsproblem nach der humanistischen Illusion. Wein-
heim: Deutscher Studien Verlag.
Schiiring, Reiner (1996): "Die Natur selbst ist das Konkrete". Von der diskursiven Verfer-
tigung des Wissens in der ökologischen Kommunikation. Konzeption einer politik-
wissenschaftlichen Diskursanalyse und ihre Anwendung. Diss. phi!. Hamburg.
Waldenfels, Bemhard (1991): Ordnung in Diskursen. In: Fran"ois Ewald/Bemhard Wal-
denfels (Hrsg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. FrankfurtlMain:.
Suhrkamp, S. 277-297.
Zymek, Bemd (1983): Evolutionistische und strukturalistische Ansätze einer Geschichte
der Erziehung. In: Dieter Lenzen (Hrsg.): Enzyklopädie Erziehungswissenschaft. Bd.
1, Stuttgart: Klett-Cotta, S. 55-78.
Dirk Rustemeyer

Unmöglich wirklich

1.
Die dominierende Figur der abendländischen Vernunft besitzt die Faszination
einer Tautologie, deren Form Wahrheit ist. In ihr bestimmt sich das Denken
als Bewegung der Selbstunterscheidung von einem Sein, mit dem es sich in
der Idealität seiner Inhalte kongruent weiß. Logik, Begriff und Zeit repräsen-
tieren Unterscheidungen des Denkens in bezug auf Seiendes, die zugleich als
Ordnungen der Differenz vom Sein unterschieden und in seinem Namen un-
terlaufen werden. Wahrheit erscheint als Unveränderlichkeit des immer
schon Gewesenen. In der Ruhe des Wissens fällt das Denken mit dem Ge-
wussten in reiner Gleichzeitigkeit zusammen. Seine eigene Bewegung ent-
faltet das Eine und Bleibende in der Zeit, die es in sich als Einheit von Zeit-
differenzen absorbiert. Lernen gewinnt die Signatur einer Erinnerung, in der
es sich aneignet, was es schon weiß. Anamnesis wiederholt die Form der
Ontologie: Denken, das Sein ist, erkennt in seinen eigenen Bestimmungen
sich als Reflex eines Unvordenklichen, das sich nur in ihm als ihm vorgängi-
ges und es begründendes Sein offenbart. Dieses Modell des Wissens und des
Lernens findet im Platonischen Mythos der sich erinnernden unsterblichen
Seele einen metaphorischen Ausdruck. Kritik und Selbstreflexion, in denen
das Denken sich erfasst und die Bestimmungen des Seienden prüft, begrün-
den das immer schon Wahre und Gewisse. Die Vertrautheit des Denkens mit
sich selbst in seinen eigenen Operationen ist gewisser als jeder Inhalt der
Vorstellung oder jede Bestimmung innerhalb der Welt. Von Platons Dialektik
über Augustinus' Gotteslehre bis zu Decartes' Zweifelsargument und Fichtes
absolutem Ich gehört diese Überzeugung zu den konstitutiven Merkmalen
abendländischer Vernunft und ihrer Idee von Wissen und Lernen.
Diese Signatur der abendländischen Vernunft dichtet sie gegen Kontin-
genz ab. Ihr Ideal ist das Notwendige, das, als Zeitloses, nicht anders möglich
ist. Hegels Bildungsphilosophie bündelt die antiken und christlichen Vor-
stellungen eines nichtkontingenten Seins noch einmal in einer Theorie des
absoluten Geistes, der seine eigene zeitliche Entfaltung als weltgeschichtliche
Tautologie durchschaut, in der die Logik der Differenzen als Explikation ei-
ner absoluten Identität erscheint. Das Wissen von der Welt, die Ordnung des
Begriffs gleicht eher einer Selbstinspektion als einem Lernen von den Kon-
78 Dirk Rustemeyer

tingenzen der Welt. Kontingent Seiendes ist letztlich nicht von Interesse. An-
dere Möglichkeiten des Wirklichen fallen ins Nichtsein. Die Ordnung der
Welt ist gut - als Kosmos, Schöpfung oder Vernunft. Wirkliches ist vernünf-
tig und Vernünftiges wirklich, weil Sein und Vernunft in einer Logik der
Identität koinzidieren. Selbst posthegelianische Vorstellungen einer inner-
weltlichen Emanzipation vom Wirklichen zugunsten besserer Möglichkeiten
nehmen für sich ein gewisses Wissen in Anspruch, das die Revolution ihrer
eigenen Notwendigkeit versichert. Noch in der Rebellion gegen die Ordnung
führt die Vernunft ihr beruhigendes Regiment. Was für die episternischen
Fragen einer Erkenntnis des Seienden als innerweltlich Vorhandenen gilt,
findet ein Äquivalent auf der Ebene der Moralphilosophie. Auch diese ver-
sucht, sich nach der Lösung von christlichen Verankerungen in einer Güte
der Schöpfung in notwendigen Strukturen selbst zu begründen. Der Notwen-
digkeit des Seins korrespondiert in der Figur der Vernunft eine Notwendig-
keit des Seinsollenden. Die Erkenntnis der Welt entspricht einer Selbster-
kenntnis des modemen Subjekts, die seiner eigenen Seinsmöglichkeit den
Charakter einer moralischen Nichtkontingenz aufprägt.
Gegenüber diesem Konzept der Vernunft sind die Versuche eines Den-
kens der Kontingenz entweder selbst als notwendige Formen der Vernunft
behandelt oder aber theoriegeschichtlich an den Rand gedrängt worden. Die
Arbeiten Michel Foucaults gewinnen ihre Bedeutung daraus, dass sie pro-
grammatisch und auf der Ebene historischer Rekonstruktionen das Denken
anderer Möglichkeiten des Wirklichen rehabilitieren. Sie greifen damit auf
Traditionen einer Moralistik von Montaigne bis Nietzsche zurück, die stets
skeptisch gegenüber den Ambitionen einer notwendigen Vernunft blieb.
Foucault hat diese Intention eines Denkens der Kontingenz sowohl wissen-
schaftlich als auch politisch entfaltet. Sein Konzept der Macht, des Wissens
und des Selbst bieten seiner "Genealogie" das begriffliche Instrumentarium,
um die Struktur des "Seienden" als eines kontingent Bestimmten zu be-
schreiben. An diese Signatur der Foucaultschen Arbeit kann eine Theorie der
Sinnbildung anknüpfen, auch wenn sie dem Fluchtpunkt seiner Genealogie
im Detail nicht folgt. Wissensformen strukturieren und erzeugen eine Wirk-
lichkeit ebenso wie sie eine Wirklichkeit repräsentieren. Erzeugung, Durch-
setzung und Bewahrung von Wissen gründen auf kognitiven Dispositionen
und symbolischen Ordnungen ebenso wie auf leiblichen Habitualisierungen
und institutionellen Voraussetzungen, auf kulturellen Alternativen und tem-
poralen Verweisungshorizonten. Theorie verwandelt sich von der Instanz der
Suche nach gewissem Wissen zur Instanz der Reflexion auf andere Möglich-
keiten des Bestimmten. Das Fehlen von theoretischer Gewissheit verlangt die
Suche nach praktischen Formen des Einbezugs anderer Möglichkeiten als be-
stimmter Unbestimmtheiten. Das Mögliche gewinnt so an Bedeutung gegen-
über dem Wirklichen und Notwendigen. Daraus ergeben sich empirisch ope-
rationalisierbare Beobachtungsprogramme, die Wirkliches als Variante des
Möglichen erfassen. - Nach einer theoriesystematischen Skizzierung des
Kontextes, in dem eine Theorie der Kontingenz ihren Stellenwert gewinnt
Unmöglich wirklich 79

(2.), wird die Bedeutung der Überlegungen Michel Foucaults zu einer Ge-
nealogie des Wissens für eine Theorie der modemen Kultur diskutiert (3.).
Dabei deutet sich die Möglichkeit an, das Projekt einer Genealogie zu einer
Theorie der Kultur weiterzuentwickeln. Dies gelingt allerdings nur um den
Preis einer Lösung von den pädagogisch-existentiellen Motiven des späten
Foucault (4.).

2.
Traditionell zielt die Frage nach dem Wissen auf das Sein. Nur das, was ist,
kann Korrelat wahren Wissens sein. Die Reflexion auf die Einheit und die
Differenz von Sein und Wissen führt jedoch auf die modale Unterscheidung
von Notwendigkeit, Wirklichkeit und Möglichkeit. Noch innerhalb der onto-
logischen Einheit von Sein und Wissen entfaltet sich so eine Differenz, deren
logische, epistemische und temporale Implikationen das abendländische
Konzept des Wissens langfristig unterminieren. Die aristotelische Unter-
scheidung zwischen realer und logischer Möglichkeit eröffnet einerseits dem
Wissen einen Zugang zur Zeit und Erfahrung, indem es Werden und Bewe-
gung anerkennt. Andererseits bereitet sie langfristig die Abkopplung eines
realen Möglichkeitsbegriffs von einem epistemischen vor, der das Problem
der Kontingenz in radikaler Weise aufwirft. Nun stellt sich nämlich das Not-
wendige und Wirkliche als Variante des Möglichen dar. Mögliches kennt
seinerseits keinen realen Gegenhalt mehr, sondern erweist sich als Resultat
temporaler Operationen und epistemischer Unterscheidungen.
Für Aristoteles gilt als möglich sowohl das Werden aufgrund eines Ver-
mögens der Veränderung als auch das Sein, das als Möglichkeit des Zu-
Werdenden Voraussetzung des Werdens selbst ist (vgl. Aristoteles 1989;
1987). Wirklich möglich heißt Aristoteles erstens dasjenige, das noch nicht
ist, zweitens das im Gegensatz zur Notwendigkeit stehende Mögliche oder
Kontingente sowie drittens das im Notwendigen liegende Mögliche als des-
sen Voraussetzung. Nicht notwendiges Wirkliches scheidet aus dem Bereich
der Wissenschaft aus, die auf Notwendiges und Allgemeines zielt (vgl. Aris-
toteies 1989: V 12f.). Denkmöglich wiederum ist einerseits die noch nicht
verwirklichte, andererseits die nur abstrakt allgemeine Vernunfterkenntnis
(vgl. ebd.: XIII 10). Logisch wird das Mögliche gegen das Unmögliche und
gegen das Notwendige abgegrenzt, wobei Aristoteles von der Widerspruchs-
freiheit des Seins selbst als ontologischer Prämisse ausgeht, die ihrerseits die
Möglichkeit wahren Wissens begründet (vgl. ebd.: IV 3ff.).
Diese ontologische Verklammerung einer modalen Differenz, wie sie
sich bei Aristoteles findet, hat die christliche Tradition von Augustinus über
Thomas von Aquin bis Nikolaus von Kues schöpfungstheoretisch transfor-
miert. In Gott als der Einheit der modalen Differenzen fallen reale und logi-
sche Möglichkeit so zusammen, dass sie bereits vor ihrer Welt-Wirklichkeit
80 Dirk Rustemeyer

in der Seinswirklichkeit Gottes und deren Einheit von Denkrnöglichkeit und


logischer Möglichkeit existieren. Möglichkeit gründet in einer absoluten
Wirklichkeit, für die Gott steht und die als Gleichzeitigkeit alles Möglichen
selbst zeitlos ist. Einheit aller Möglichkeiten, die jede Bestimmung allererst
aus sich entfaltet, ist dieses Sein eine unbezeichenbare, ursprüngliche und
notwendige Identität von Sein und Nichtsein (vgl. von Kues 1982).
Noch die rationalistische Tradition von Descartes bis Leibniz folgt der
Vorstellung, dass die Möglichkeit menschlichen Wissens in der Wirklichkeit
Gottes fundiert sein muss, dessen Notwendigkeit Bedingung der Möglichkeit
allen Wissens ist. Was sich menschlichem Denken als unmöglich darstellt,
kann für Gott möglich sein. Wissen von der Welt lässt sich demnach nur auf
dem Umweg eines Wissens von Gott erlangen (vgl. Descartes 1972). Die
Unterscheidung von Möglichkeit und Unmöglichkeit fallt zwar in das mensch-
liche Denken, verliert jedoch in bezug auf das göttliche Denken ihre Bedeu-
tung. In Gott sind, so Leibniz, Möglichkeiten wirklich, die in bezug auf die
geschaffene Welt und den menschlichen Verstand unmöglich bleiben. Wirk-
liche und logische Möglichkeit koinzidieren in Gott. Mögliches - als Wirk-
lichkeit werden Könnendes -, Kontingentes - als nicht notwendig Wirkliches
- und Notwendiges - als dem Regelzusammenhang der Wirklichkeit und
dem menschlichen Denken Unterliegendes - existieren in bezug auf die ge-
schaffene Welt und Zeit, besitzen aber in bezug auf Gott einen anderen Sinn.
In Gott sind alle Möglichkeiten wirklich, auch wenn sie dem Denken und in
der geschaffenen Welt unmöglich sind (vgl. Leibniz 1975; 1968: 100ff.,
129f.).
Für die wirkliche Welt hingegen existieren Determinationsverhältnisse,
die wirkliche andere Möglichkeiten ausschließen. Darin kommen Descartes
und Leibniz einerseits sowie Hobbes und Spinoza andererseits überein, die
ihrerseits die Identität von Wirklichkeit und Möglichkeit hervorheben. Was
wirklich ist, ist möglich, und was möglich ist, wird notwendig wirklich.
Kontingenz bleibt für die Unvollkommenheit menschlichen Wissens über den
Kausalzusammenhang der Welt reserviert (vgl. Hobbes 1997: Kap. X). Die
Differenz zwischen Sein und Gott verschwindet in der Vorstellung eines
Gottes, der nach seiner eigenen Notwendigkeit agiert und keinerlei andere
Möglichkeiten zulässt, wie sie noch Leibniz im Interesse einer Theorie der
Freiheit vorsieht (vgl. Spinoza 1980: I. L 29,33). Wirklichkeit und Möglich-
keit verschränken sich im Ordnungsrahmen der kausal strukturierten Welt
des Werdens zu einer Notwendigkeit. Hierin folgt auch Hegel Spinoza, in-
dem er Möglichkeit als Moment des Begriffs der Wirklichkeit fasst und die
mögliche Einheit von Gegensätzen im klassischen realen Möglichen nun dem
temporalisierten Sein selbst zuspricht (vgl. Hegel 1981: 186ff.). Die Wider-
spruchslosigkeit des Seins, von der Aristoteles als Prämisse seiner Ontologie
und Möglichkeitstheorie ausgeht, wird nun temporalisiert, so dass das Sche-
ma modaler Differenzen seine epistemische Funktion einer Scheidung von
Seins- und Wissenssphären verliert. Die Frage der Differenz zwischen Not-
wendigkeit und Möglichkeit der Welt verschiebt sich in den Begriff Gottes
Unmöglich wirklich 81

oder des Geistes als der Einheitsformel, die entweder als Einheit des wirklich
Möglichen oder als Einheit des Notwendigen unter Ausschluss anderer Mög-
lichkeiten bestimmt wird. Die Tradition eines ontologischen Wissensbegriffs
von Aristoteles bis Hegel konzipiert mithin die Möglichkeit als sekundär ge-
genüber der Wirklichkeit und Notwendigkeit. Für das Wissen von der empi-
rischen Welt des Werdens ist diese Differenz jedoch zunehmend folgenlos.
Dies hat Kant herausgearbeitet, indem er die notwendige Bedingung der
Einheit der Möglichkeit von der göttlichen Vernunft in die menschliche ver-
lagert. Möglichkeit gründet nicht länger in der Realstruktur des Seienden,
sondern in den formalen Erkenntnisvoraussetzungen des epistemischen Sub-
jekts, die das Sein der Dinge zu Erscheinungen depotenzieren. Die modale
Differenz im Schema der Ontologie, wie Aristoteles sie mit seiner Unter-
scheidung zwischen realer und logischer Möglichkeit einführt, gewinnt bei
Kant eine Schärfe, die das Schema der Ontologie und des mit ihr korrelieren-
den Wissensbegriffs sprengt. Demnach ist möglich, was mit den formalen Er-
fahrungsbedingungen, und wirklich das, was mit den materialen Bedingun-
gen der Erfahrung, den Empfindungen, zusammenstimmt (vgl. Kant 1956: A
218). Zwischen begrifflich-logischen Bestimmungen und Sein klafft nun ein
Abgrund, den keine Theorie der Einheit des Möglichen, Wirklichen und
Notwendigen mehr schließt.
Kant markiert einen theoriestrategischen Bruch, der die Kategorie des
Möglichen für eine Neubestimmung freigibt und sie erkenntnistheoretisch
aufwertet. Wenn die Einheit modaler Differenzen nicht länger in einem wi-
derspruchslosen Sein oder einer absoluten Gottesinstanz abgesichert wird,
erlangt das Mögliche tendenziell ein Übergewicht gegenüber dem Wirklichen
und Notwendigen. Wirkliches kann auf seine Möglichkeitsbedingungen be-
fragt werden, die ihrerseits nicht, wie noch die Transzendentalphilosophie
annimmt, notwendig sein müssen, sondern sich als wirkliche nur im Gegen-
licht anderer Möglichkeiten und Erfahrungen profilieren. Das Denken der
Möglichkeit geht deshalb mit einer Radikalisierung der Zeitlichkeit, aber
auch der Materialität der Erkenntnis einher. Einerseits bestimmt sich Seien-
des, wie Heidegger aufzeigt, in bezug auf ein Dasein, das selbst konstitutive
Möglichkeit ist (vgl. Heidegger 1979). Andererseits erscheint es, wie die
Phänomenologie Husserls demonstriert, vor dem Hintergrund eines simulta-
nen Horizontes anderer Möglichkeiten. Solche Möglichkeiten des Wirklichen
hängen aber, wie eine symboltheoretische Transformation der kantischen Ar-
gumentation von Vaihinger über Cassirer bis Goodman nahelegt, in ihrer
wirklichkeitskonstitutiven Möglichkeit nicht nur von Strukturen des Be-
wusstseins, sondern von Symbolordnungen ab, die, als kontingente, auf ande-
re Möglichkeiten des Wirklichen hinweisen (vgl. Vaihinger 1986; Cassirer
1987; 1994; Goodman 1990). Wirkliches ist ein Spezialfall des Möglichen,
und es bestimmt sich vor dem Hintergrund bestimmter Möglichkeiten nur im
Kontext semiotischer Ordnungen möglicher Referenzen, die ihrerseits zeitli-
che Operationen sind. Dies gilt folgerichtig auch für die Ordnungen des Wis-
sens. Korrelat des Wissens ist kein Sein und keine Notwendigkeit. Sein heißt
82 Dirk Rustemeyer

Bestimmtsein, und Bestimmtsein verweist auf kontingente Ordnungen des


Möglichen, die in ihrer temporalen Kontingenz wie in ihrer kulturellen Si-
multaneität, in ihrer sozialen Verwurzelung und symbolischen Kondensie-
rung hervortreten. Auf diese Weise wird der Begriff des Möglichen für kul-
turwissenschaftliche Fragestellungen anschlussfähig. Denn Mögliches profi-
liert sich gegenüber Wirklichem als Varianz nicht von Sein, sondern von
Sinn. Sinn liefert die Form eines Bestimmtseins, in der jedes Etwas sich in
Differenz zu anderem konturiert. Identität erscheint als Differenz. Differenz
wiederum verweist auf Operationen der Bestimmung, die Kontingenzen
sichtbar machen: Jede Bestimmung referiert auf andere Möglichkeiten der
Auswahl von etwas gegenüber anderem, der zeitlichen Varianz früherer oder
späterer Bestimmungen, der sozialen Varianz konkurrierender Perspektiven
und der Varianz der symbolischen Repräsentation von etwas. Derartige Ope-
rationen der Bestimmung sind zwar selbst kontingent, bleiben aber empirisch
beobachtbar. Ordnungen des Wissens, die sich mit ihrer Hilfe aufbauen, er-
scheinen in ihrer empirischen Wirklichkeit doch als bloß mögliche neben an-
deren. Diese Differenz lässt sich zu einem Beobachtungsprogramm ausbauen,
das sich mehr für mitlaufende Alternativen als für fixe Bestimmungen inte-
ressiert (vgl. Rustemeyer 2001).
Luhmanns Systemtheorie bietet neben Foucaults Genealogie das avan-
cierteste Konzept einer Aufwertung des Möglichen zu einer Theorie der Be-
obachtung von Bestimmtheiten als Selektion aus simultanen Alternativen.
Die Theorie sozialer Systeme schließt an phänomenologische Einsichten in
den Horizontcharakter jeder Bestimmung ebenso wie an wissenssoziologi-
sche Überlegungen zur sozialen Perspektivität und semantischen Kondensie-
rung von "Wissen" an (vgl. Luhmann 1996; 1984; 1997). Sein, als Sinn, prä-
sentiert sich als Ordnung evolutionärer Unwahrscheinlichkeit. Sie reprodu-
ziert sich über selektive Verkettungen sinnhafter Bestimmungen, die stets
auch anders möglich sein könnten. Nur einem Beobachter allerdings wird
diese Kontingenz als Kontingenz sichtbar, weil er den "blinden Fleck" jeder
Selektion erfasst, die für die operative Gegenwart einer selektiven Bestim-
mung unsichtbar bleibt. Vernunft verliert damit sowohl die Signatur einer
Notwendigkeit als auch diejenige einer Einheit. In einem polyzentrischen
Raum des Sinns und konkurrierenden Ordnungsbildungen im Kontext sozia-
ler und psychischer Systeme erscheint die Ordnung des Seins als momentane,
fragile Akkordierung eigenlogischer Kontingenzen, deren Stabilität jederzeit
vom Zerbrechen bedroht ist. Sein, als Sinn, wird Zeit, die ihrerseits eine
Funktion der Gegenwart ist: Der Raum sinnhafter Bestimmungen existiert in
seinen vergangenen und erwarteten Horizonten nur im Jetzt "blinder" Opera-
tionen. Diese bestimmen sich selbst als Entscheidung angesichts überkom-
plexer Möglichkeiten in Abhängigkeit von ihrer eigenen Selektivität (vgl.
Luhmann 2000). Keine Rationalität, sondern kontingente Selektionsge-
schichten dirigieren die selektive Bestimmung von etwas als etwas. Kausali-
tät verliert den Charakter einer naturalen Notwendigkeit und erweist sich als
simplifizierendes Schema im Umgang mit überkomplexen Möglichkeiten.
Unmöglich wirklich 83

Freiheit ist, komplementär dazu, eine operativ brauchbare Zurechnung von


Kontingenz. Kants "Als ob" der Freiheit reformuliert Luhmann als Funktion
sinnhaft operierender Systeme. Diese Fundierung der Seinsbestimmungen in
Möglichkeiten und Zeit bricht mit einer Hegeischen Temporalisierung der
Ontologie, die mundane Kontingenzen an eine Ordnung des Wandels koppelt
und einer Selbsttransparenz des Denkens freigibt. Dialektik, die Einheit in
der Differenz der Bestimmungen und Logizität des Wandels im Mechanis-
mus der bestimmten Negation vorsieht, wird von einer Theorie der Unter-
scheidung ersetzt, die in der Oszillation zwischen Bestimmungen keine Iden-
tität mehr findet. Noch die systemtheoretische Beschreibung ret1ektiert sich
als kontingente Option semantischer Kondensierungen von Möglichkeiten
des Bestimmens. Sie etabliert sich deshalb als ein Beobachtungsprogramm,
das andere Möglichkeiten sinnhafter Bestimmung in ihrem "Sein" sichtbar
macht und für Kommunikation zur Verfügung stellt. Ihre Beschreibungen
erweisen die Welt in ihrem Sosein als auch anders möglich, ohne doch auf
einen starken Begriff der Freiheit zu rekurrieren oder sich auf ein Modell der
Subjektivität zu stützen, das sich gegen die Gewordenheit der Welt entwirft.
Mit dem Theorieprogramm einer Beobachtung von Differenzen, die sich
kommunikativ zu "Gesellschaft" aufbauen, greift Luhmann Motive einer mo-
ralistischen Beschreibung menschlichen Verhaltens auf, an die auch Foucault
anknüpft. Während Luhmann dabei vorrangig die Logik wechselseitiger Be-
obachtungen im Modus der Kommunikation interessiert, fragt Foucault nach
Möglichkeiten der Formierung von Selbstverhältnissen. Deshalb führt er mo-
ralistische Topoi in einer Argumentationslinie weiter, die über Nietzsche und
Heidegger das Thema eines sich als Möglichkeit konstituierenden Selbst ver-
folgt. Demgegenüber wird das moralistische Programm der norrnfreien empi-
rischen Beschreibung menschlicher Verhaltensweisen als einer vergleichen-
den Beobachtung gesellschaftlicher Kommunikation eher abgeblendet. Be-
reits Montaigne hatte eine im Verhältnis zur abendländischen Figur der ihrer
selbst gewissen, zeitlosen Vernunft alternative Vorstellung von Reflexion
entwickelt, derzufolge die kontingente Genealogie der Vernunft selbst Thema
der Beobachtung geworden war. Im Unterschied zu einer logisch geschlosse-
nen, linear entfalteten und ihrer selbst transparenten Vernunft setzt Montaigne
das Projekt einer genealogischen Zeitlichkeit des reflektierenden Ich, das sich
in seinem symbolisch-narrativen Ausdruck als zeitliches Phänomen in der
Vielfalt seiner Möglichkeiten selbst begegnet (vgl. Montaigne 1988). Ziel
dieser Beobachtung eines kontextualisierten Ichs ist die Freilegung des Ex-
emplarischen im Besonderen. Bei Gracian, La Rochefoucauld oder Montes-
quieu wird dieser Blick auf Sozialität zu einer scharfen Beobachtung kom-
munikativer Logiken der Darstellung und Verbergung ausgearbeitet, die den
sozialen Zwang in der Kultivierung der Person und der sozialen Verhältnisse
aufdeckt. Hinter seinen Masken ist das "Ich" verschwunden. lllusionslos wird
die Konstitution der Person im Spiegel system sozialer Erwartungen und
komplementärer Täuschungen vorgeführt. Vernunft erscheint als Produkt von
Gewohnheiten, deren Kontingenz sich einem ethnologischen Blick auf die
84 Dirk Rustemeyer

eigene Gesellschaft enthüllt (vgl. Montesquieu 1991; 2000; vgl. zum Kon-
text: Rustemeyer 2001; 2003). Nietzsches Genealogie der Moral forciert mo-
ralistische Einsichten zu einer Theorie, in der das Ich und die Vernunft zum
Effekt eines anonymen, in Ressentiments und Leidenschaften wie in gram-
matischen Zwängen fundierten Denkgeschehens depotenziert werden (vgl.
Nietzsche 1988: 9-244). Die Welt der Vernunft entlarvt Nietzsche als eine
Zeichen-Welt, in der die Vernunft sich in ihre eigene Mythologie verstrickt.
Den Bedingungen der Möglichkeit eines nichtkontingenten Denkens kon-
frontiert er die Bedingungen der Nötigkeit eines Wesens, dessen Leben stets
ein Streben nach "Macht" ist. Die Beobachtung von Unterschieden, die Her-
ausarbeitung kontingenter Möglichkeiten des Seienden löst das Projekt einer
Metaphysik ab, die mit einem zeitlosen Denken und einer notwendigen Ver-
nunft rechnet.

3.
Vor diesem historisch-systematischen Hintergrund gewinnen die Arbeiten
von Michel Foucault ihr Profil. Sie nehmen verschiedene Motive einer ver-
nunftkritischen Reflexion auf und wenden sie zu einem wissenschaftlichen
Beobachtungsprogramm, das im "Sein" die Spielräume von Abweichungen
erkundet. Mit dieser philosophisch-empirischen Doppelstruktur haben sie
nachhaltig dazu beigetragen, die Immanenz eines Denkens der "Vernunft" zu
sprengen. Ein Denken der Kontingenz jenseits der Logik einer selbstbezügli-
chen Vernunft gewinnt die Kontur einer historischen Analyse von Wissens-
formen. Das treibende Motiv ist nicht eine reine Erkenntnis nach dem Modell
tautologischer Vernunft, sondern die Neugier auf eine Distanzierung des
scheinbar Notwendigen. Andere Möglichkeiten aber müssen in ihrer Wirk-
lichkeit erzeugt statt bloß erkannt werden. Anstatt das Denken auf Rechtfer-
tigung zu verpflichten, möchte Foucault erproben, "wie und wie weit es
möglich wäre, anders zu denken" (Foucault 1986: 18). Rationalität ist eine
Praktik, deren Form nicht abstrakter Logik, sondern sozialen Beziehungen
folgt. Einer Vernunftskepsis, die sich noch immer als Vernunft etabliert, kon-
frontiert Foucault eine empirische Rekonstruktion der Genealogie von "Ver-
nunft" selbst.
An die Stelle einer dialektischen Ordnung der Begriffe, die als Bestim-
mungen des Seienden fungieren und ihre Relationalität dem reflektierenden
Denken preisgeben, tritt ein methodisches Arrangement von "Aussageereig-
nissen", die zu Serien, Feldern und Dispersionsräumen gruppiert, ihrer ver-
meintlichen Homogenität entrissen, ihrer Linearität und Kontinuität beraubt
und schließlich in Praktiken der Macht fundiert werden. Diskurse verklam-
mern Worte und Dinge zu eigenlogischen Räumen, die weder zu einer Ord-
nung der Natur noch zu einer Ordnung des Denkens einfach homolog sind
(vgl. Foucault 1981). Die Tätigkeit des Bestimmens holt kein vorgängig Sei-
Unmöglich wirklich 85

endes in die Erkenntnis, sondern erzeugt als Praxis, was eine Mythologie der
Erkenntnis zu einem an sich Seienden hypostasiert. Das Denken oder das
Subjekt verlieren ihren zentralen Ort der Reflexion, um sich als Effekt dis-
kursiver Positionen, Regeln und Diskontinuitäten zu erweisen. Aber im Den-
ken der Kontingenz wird keineswegs die Notwendigkeit einer tautologischen
Vernunft durch ein Spiel des geschichtlichen Zufalls substituiert. In den Dis-
persionsfeldern der Diskurse regiert vielmehr ein System von Abhängigkei-
ten, Ein- und Ausschlussverhältnissen, semantischen Repertoirs, Klassifika-
tionen, sozialen Positionen, möglichen Strategien der Umkehrung oder Logi-
ken der Transformation (vgl. Foucault 1977). Diskurse erzeugen Referentiale
für Bestimmungen, die Seiendes historisch konstituieren (vgl. Foucault 1981:
133). Die Einheit der Vernunft pluralisiert sich in die Mehrheit ,,historischer
Aprioris". Sie stellen Koexistenztableaus für Bestimmungen dar, sind aber
weder transzendental noch anthropologisch fundiert. Epistemologische
Schwellen transformieren Sagbares zu formalisierten, in kohärenten Ver-
knüpfungssystemen fixierten Regeln des Sprechens, die dem Denken seine
historischen Möglichkeiten vorschreiben. Renaissance, Klassik und Modeme
repräsentieren in Foucaults Rekonstruktion solche historischen Aprioris, de-
ren Diskontinuität die lllusion einer linearen Entwicklung der Vernunft hin
zur modemen Wissenschaft vor Augen führt (vgl. Foucault 1974).
Ein Denken, das die empirischen Regeln des Denkens in kontingenten
historischen Konstellationen ansiedelt, ist für Foucault "kritisch" in einem
nachaufklärerischen Sinne. Hatte Kant die Vernunft als ein reflexives Verfah-
ren begründet, in dessen Vollzug sich das Denken einem "Gerichtshof' stellt,
der Regeln apriori zur Geltung bringt, versteht Foucault das Geschäft der
Kritik als eine "Haltung". Grenzen der Erkenntnis zu erkennen bedeutet
demnach nicht, die universellen Regeln eines Denkens freizulegen und einen
ersten Grund oder eine reine Form aller Bestimmungen aufzufinden, sondern
die kontingenten Zwänge zu identifizieren, die in bestimmten Situationen zu
bestimmten Zeiten für bestimmte Akteure Grenzen des Denkbaren und Sag-
baren aufrichten (vgl. Foucault 1992: 18). Hinter den vermeintlichen Positi-
vitäten verbergen sich Ausschlussbeziehungen, die nicht logisch, sondern hi-
storisch begründet sind. Ihre Kritik kann deshalb nicht darauf beschränkt
bleiben, logische Widersprüche zu identifizieren, um schließlich womöglich
der Versuchung zu erliegen, in der Einheit der Widersprüche eine tiefere
Wahrheit zu entziffern, die über Sinnlosigkeiten der historischen Kontingen-
zen evolutionär hinwegtröstet. Vielmehr muss sie veränderliche Regeln be-
schreiben, die in Form von Praktiken die Welt so serniotisieren, dass sie
Handlungen, Intentionen, Worte, Institutionen und Theorien aufeinander ab-
stimmen. Medizin, Justiz, Psychiatrie oder Sexualität bieten Beispiele dafür,
wie Macht-Wissens-Komplexe Ordnungen des Sprechens, Denkens und
Handeln konstituieren, die sich in Institutionen und Wissenschaften, in Pro-
zeduren der Subjektkonstitution, der Sozialisierung und der Selbstbeschrei-
bung niederschlagen (vgl. Foucault 1973a; 1973b; 1977; 1983). Der Blick
von außen, den Foucault von innen her auf den Diskurs der Gegenwart rich-
86 Dirk Rustemeyer

tet, um seine scheinbare Notwendigkeit aufzusprengen und Spielräume für


andere Bestimmungen zu gewinnen, entfaltet die Philosophie als eine "Eth-
nologie unserer Rationalität, unseres Diskurses" (Foucault 1978: 13). Diese
Philosophie verdächtigt die Metaphysik der Vernunft, die Kontingenzen der
Geschichte im Namen eines unbestimmbaren Wesens oder Ursprungs zu ba-
gatellisieren. Hingegen wendet Foucault Hegels Figur einer listigen Vernunft
genealogisch zu einem politischen Projekt, das mit der Vision einer reinen
Erkenntnis bricht. Die Regeln sind Regeln der Herrschaft, ihre Natur ist kon-
tingent. Ihre Beschreibung eröffnet deshalb Spielräume, die Mechanismen
der Herrschaft subversiv verschieben und die Regeln des Spiels modifizieren.
Darin ist die Genealogie ein politisches Projekt: "Das große Spiel der Ge-
schichte gehört dem, der sich der Regeln bemächtigt, der seinen Nutzen aus
ihnen zieht, der sich verkleidet, um sie in ihrem Widersinn zu verkehren und
sie gegen ihre Schöpfer zu wenden [... ]. Wenn [... ] Interpretieren heißt, sich
eines Systems von Regeln, das in sich keine wesenhafte Bedeutung besitzt,
gewaltsam oder listig zu bemächtigen, es in einem anderen Spiel auftreten zu
lassen und es anderen Regeln zu unterwerfen, dann ist das Werden der
Menschheit eine Reihe von Interpretationen" (ebd.: 95, 100f.). In diesem
Sinne ist die Genealogie ein perspektivisches Wissen. Ähnlich den moralisti-
schen Vorläufern von Gracian bis La Rochefoucault möchte Foucault die Ge-
sellschaft als Spiel von Macht und Täuschung beschreiben, um den Schein zu
durchschauen, dem Ich die Maske abzureißen und die kontingenten Zwänge
bloßzulegen, die "jede Identität untersagen" (ebd.: 107). Das Individuum ist
weder Instanz der Souveränität noch der Unterdrückung. Es ist Effekt von
Praktiken der Macht, die Körper, Gedanken oder Wünsche allererst hervor-
bringen (vgl. Foucault 1999: 39).
Bewegt sich dieses Forschungsprogramm auf der Ebene einer Archäolo-
gie des Wissens, die eine klassische Epistemologie des sich selbst reflektie-
renden Denkens ablöst, so erweitert der Genealoge Foucault das Wissen um
das kontingente Gewordensein der abendländischen Rationalität zu dem
komplementären Projekt einer Selbsterzeugung der Subjektivität aus der ge-
zielten Verfremdung der es selbst produzierenden Macht-Wissens-Ord-
nungen. Einer genealogischen Unterwanderung der Metaphysik, die Denken
und Sein in eins setzt, entspricht eine Unterwanderung der Moralphilosophie
in Richtung einer reflektierten "Selbstsorge", die epistemische, politische und
pädagogische Momente verbindet. Auf diese Weise wird die Figur einer tau-
tologischen Vernunft, die in ihre zeitlose Logizität eingesponnen und von ih-
rem unbestimmbaren Ursprung fasziniert bleibt, zu einem kontingenten Phä-
nomen verwandelt. Foucaults Kritik dieser Vernunft übernimmt strategisch
die epistemisch-praktische Doppelstruktur ihres Gegenstandes. Indem sie die
Einsicht in die empirische Kontingenz von Vernunft in das politische Projekt
einer Erweiterung praktischer Möglichkeiten des Lebens verlängern will,
mündet sie schließlich in eine ästhetisierte Ethik, die Nietzsches Überbietung
der Moralistik zu einer Ästhetik der Selbsterschaffung in Gestalt einer Ethik
der Sorge um sich weiterführt. In der Form einer Praktik der Endlichkeit er-
Unmöglich wirklich 87

scheint die politische Konsequenz eines Denkens der Kontingenz als Projekt
einer Selbsterziehung des seine kontingente Konstitution reflektierenden
"Selbst". Die Zumutung der Personenveränderung, durch deren systemati-
sche gesellschaftliche Installierung Pädagogik sich als Sinnform konstituiert
(vgl. Rustemeyer 2003), nimmt hier die Gestalt einer permanenten, kontrol-
lierten, aber ateleologischen Selbstveränderung an. Selbstbeobachtung geht
mit der Beobachtung kultureller Möglichkeiten, sozialer Institutionen, sym-
bolischer Ausdrucksformen und temporaler Veränderungsdynamiken einher.
Auch wenn Foucaults Vernunftkritik sich von einem Emanzipationsmo-
dell abwendet, das in der Geschichte hinter den kontingenten Ereignissen
oder dem Spiel der Macht eine Logik der Befreiung entdecken will, bleibt
sein Denken an eine Struktur der Negation gebunden, das ihn in die Nähe ei-
ner "kritischen Theorie der Gesellschaft" rückt. Nicht von ungefähr richtet
der späte Foucault sein Interesse von der Analyse epistemischer Aprioris und
einer Genealogie der Vernunft im Zusammenspiel mit Machtpraktiken auf
Prozesse der Konstitutierung von "Subjektivität". Die Formierung der Kör-
per, des Denkens, der Bedürfnisse und der Anerkennung steht nun im Zen-
trum eines Forschungsprogramms, das nach den anderen Möglichkeiten des
Wirklichen fragt. Auch wenn diese modeme Subjektivität Produkt von
Machtbeziehungen ist, will Foucault ihre Möglichkeiten erweitern, ohne sich
dem Traum einer Emanzipation oder einer rationalen Selbstbestimmung hin-
zugeben. An deren Stelle tritt die Vision einer "Kunst" der Existenz, die ei-
nen neugierig-kontrollierten Umgang mit den eigenen Möglichkeiten er-
schließt (Foucault 1986: 305). Die Theorie des Subjekts wird aus einer Philo-
sophie des Bewußtseins herausgelöst und einem Denken der "Sorge" um sich
zugeordnet. Diese Sorge beschreibt einen praktischen Umgang mit "sich",
der sich in bezug auf Andere und auf zukünftige Möglichkeiten seiner selbst
reflektiert verhält. Hierzu bedarf es nicht nur der Reflexion eines sich als
zeitlich begreifenden Daseins, sondern der Beherrschung von Praktiken und
Techniken der Selbsttransformation. Damit unterscheidet Foucaults "prakti-
sche" Philosophie der Selbstsorge sich von Heideggers Figur der Eigentlich-
keit, der es um die Durchbrechung der Verfallenheit des "Man" in der radi-
kalen Erfahrung einer Zeitlichkeit des Daseins im Modus der Angst und im
Vorlauf zum Tode geht (vgl. Heidegger 1979: §§ 39ff.). Heideggers Vor-
stellung eines sich zu sich verhaltenden und sich aus seinen Möglichkeiten
heraus verstehenden "Daseins" bleibt hinsichtlich einer Praktik der Selbst-
transformation abstrakt, obwohl es "Sein" in Möglichkeiten und damit in
Zeitlichkeit fundiert. Heideggers Gedanke, dass im ausgezeichneten Selbst-
verhältnis der "Eigentlichkeit" die Unterscheidung theoretischen und prakti-
schen Verhaltens hinfällig wird, findet jedoch bei Foucau1t sein Analogon in
der ausgezeichneten Struktur der Selbstsorge, wenngleich er die weitreichen-
den Konnotationen des Heideggerschen Terminus vermeidet. Es wird ein
Existenzmodus ins Auge gefasst, der in Reflexion und Praxis neuzeitliche
Differenzierungen der Vernunft unterläuft. In der Heideggerschen Eigent-
lichkeit vermag das Dasein sein kontingentes Geworfensein zu reflektieren,
88 Dirk Rustemeyer

ohne doch die Übernahme seiner kontingenten Notwendigkeiten mittels einer


Praxis der Selbstveränderung zu durchbrechen. Dasein übernimmt sein kon-
tingentes Gewesensein. Gegenüber der "Wiederholung" überkommener Mög-
lichkeiten und dem ,,sichüberliefern" an das Gewesene in der "Entschlossen-
heit" bleibt die vorauslaufende Erwiderung des Gewordenen im Entwurf ei-
gentümlich kraftlos (ebd.: 325f., 385f.). Dieser Passivität der Heideggerschen
Eigentlichkeit setzt Foucault den Willen zum Wissen und zur Erarbeitung
neuer Möglichkeiten des Seins-zur-Welt entgegen. In den gewordenen Mög-
lichkeiten sucht der Genealoge nach Spielräumen, "nicht länger das zu sein,
zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken" (Foucault 1990: 49).
Gezielte Selbsttransformation ist ein bescheidenerer und ein konkreterer
Maßstab eines normativ gehaltvollen kritischen "Ethos" als Heideggers Ei-
gentlichkeit (vgl. Forst 1990). Als Praktik der Verfremdung und Selbstdis-
tanzierung allerdings entzieht sich diese Form von "Kritik" einer rationalen
Explikation in Gestalt von Gründen, wie sie die "Kritische Theorie" im An-
schluss an Habermas verlangt (vgl. Habermas 1985: 279ff.). Sie läuft damit
zugleich Gefahr, jedwede Selbsttransformation als potentiellen Ausdruck ei-
ner kritischen Haltung zu sich selbst zu nobilitieren, weil sie konzeptionell
die Ebene einer sprachlich gebundenen Reflexion im Modus "kommunikati-
ver Rationalität" unterläuft. Wissen, Macht und Ethik repräsentieren die ge-
nealogischen Achsen, an denen Foucault seine Kritik der "Vernunft" orien-
tiert. Dinge, Andere und Selbst sind Gegenstände von Manipulationen, deren
Zusammenhang die abendländische Episteme in der Abfolge ihrer histori-
schen Aprioris prägt. Der späte Foucault fasst eine Vernunftkritik ins Auge,
die nach Möglichkeiten einer "moralischen" Selbstkonstitution diesseits von
universalen Regeln der Freiheit sucht. Freie Wesen bestimmen sich nicht als
abstrakt vernünftige Gesetzgeber ihrer selbst, sondern sie experimentieren
mit Möglichkeiten des Wirklichen, die erst in der praktischen Überschreitung
von vermeintlichen Grenzen als wirkliche Möglichkeiten sichtbar werden.
Kritik der "Vernunft" und Freiheit realisieren sich als "Ethos", das sich in
permanenten Bestrebungen der Abweichung und Überschreitung geltend
macht.
Mit dieser Perspektive einer "Ästhetik" der Existenz und dem Plädoyer
für eine experimentelle Selbstkonstitution eines sich von anonymen Machtef-
fekten konstituiert wissenden "Subjekts" schlägt Foucault ein Denken der
Kontingenz vor, das dem Bannkreis einer tautologischen, weil formalen Ver-
nunft entkommen will. Ein ästhetisches Selbstverhältnis unterscheidet sich
von einer epistemischen Selbstkonstitution, einer moralischen Selbstgesetz-
gebung, einer Durchstoßung gesellschaftlicher und kultureller Strukturen hin
auf eine Sphäre der Eigentlichkeit oder einer pädagogischen Konditionierung
von Veränderungszumutungen. An deren Stelle tritt das Motiv einer kontrol-
lierten, weil epistemisch an permanente Beobachtung gebundenen, aber stets
praktisch-experimentellen Variation eines in Gewohnheiten verstrickten
Selbst. Denken und Handeln erscheinen als Bewegungen der Erzeugung von
Unterscheidungen, die Grenzen verschieben, scheinbar Notwendiges in Frage
Unmöglich wirklich 89

stellen und neue Erfahrungen provozieren. Auch die theoretische Objektivie-


rung historischer Denkmöglichkeiten, wie der Genealoge und Archäologe sie
vornimmt, dient der Spiegelung der Gegenwart im Lichte anderer Möglich-
keiten. Eine Vernunft, die sich als kontingentes historisches Phänomen selbst
beschreibt, verfügt über keinen epistemischen oder moralischen Kompass,
der den Weg einer "vernünftigen" Selbstbestimmung weist. Sie wird zu ei-
nem probierenden Denken und einer experimentellen Praxis, die dadurch po-
litisch sein will, dass sie nicht, wie Montaigne, ihre ästhetische Selbsterzeu-
gung in einen privaten Raum symbolischen Ausdrucks einschließt und sich
als textuelles Projekt konstituiert (vgl. Rieger 1997). Andere Möglichkeiten
sollen nicht nur gedacht und symbolisch bezeichnet, sondern leiblich-prak-
tisch erzeugt werden. Die Genealogie der Rationalität weiß um die politische
Dimension der Machtstrukturen. Das Verhältnis zu "sich" ist nicht unabhän-
gig von dem Verhältnis zu Anderen und zu den Dingen zu modifizieren.
Aber theoretische Arbeit der Objektivierung und praktische Arbeit an der
Veränderung des Selbst münden schließlich in ein Ethos der Selbsterziehung
im Sinne eines Regimes der auf Selbsttransformation gerichteten Lebensfüh-
rung, das sich ästhetisch geriert: Denken und Praxis der anderen Möglich-
keiten des Wirklichen realisieren sich in Form der Kunst. Das Ethos der
Selbstsorge mündet in die Formierung des Lebens zum Kunstwerk (vgl.
Foucault o. J.: 80).

4.
Im Zentrum des Denkens der Kontingenz, wie Foucault es betreibt, steht die
Geste der Selbstdistanzierung. Nicht der Kontakt eines Denkens mit sich,
dem die Form der Beziehung der Reflexion gewisser und wichtiger ist als der
Inhalt, garantiert Erkenntnis, sondern die Bewegung der Unterscheidung, die
sich in kontingenten Bestimmungen ateleologisch weiterbewegt. Als Opera-
tion ist dieses Denken in einem habitualisierten, in Dispositiven der Macht
geformten Leib inkorporiert. Es ist damit an die Kontingenz seiner Inhalte
und die Situiertheit seiner Erfahrung gekoppelt. Als Praxis einer Verfrem-
dung, die nicht weiß, wohin sie führt, sondern sich von ihren eigenen Effek-
ten überraschen lässt, erfährt es sich selbst. Theorie wird zum Mittel der Re-
flexion auf Ereignisse, die einer beweglichen Arbeit der Negation von Be-
stimmtheiten entspringen. Solche "Kritik" weicht einer Logik des Wider-
spruchs aus. Eher zeigt sie die Signatur eines Differenzierungsgeschehens,
das die Elastizität von Grenzen und Regeln herausfordert. Methoden archäo-
logischer und genealogischer Konstruktionen von Tableaus des Sagbaren
unterstützen seine Bewegung einer Distanzierung von Seiendem als Be-
stimmtem. Freiheit als Selbstkonstitution bedeutet eine ateleologische Bewe-
gung der erprobenden Veränderung. Sie hat wenig mit einem Bildungspro-
zess gemeinsam, der das Modell einer vernünftigen Geschichte auf das Ein-
90 Dirk Rustemeyer

zelsubjekt zu übertragen geneigt ist. Theoretische und praktische Philosophie


konvergieren beim späten Foucault auf eine Weise, die sich die Antike zum
Vorbild nimmt (vgl. Detel 1998). Der Hiatus zwischen theoretischer und
praktischer Vernunft, wie er die sich aus sich begründende neuzeitliche Ver-
nunft prägt, soll in den Praktiken verfremdenden Denkens und Handeins un-
terlaufen werden, in denen die Vernunft selbst ein empirisches Gesicht an-
nimmt. Theorie lässt sich auf perspektivische Beobachtungen ein, anstatt
nach letzten Gründen und einer Logik der Reflexionsform zu fragen.
In der Intention, die Konstitution eines Raumes des Denk- und Sagbaren
als ateleologischen, von seiner eigenen Geschichte abhängigen Prozess zu
beschreiben, konvergiert Foucaults Gegenwartsarchäologie mit anderen Ver-
suchen, das Projekt der Vernunft kontingenztheoretisch zu reformulieren.
Luhmanns Systemtheorie oder Bourdieus Wissens soziologie fassen ihrerseits
"Systeme" oder "Felder" relativer Kontingenzen ins Auge, innerhalb derer
sich sozialer Sinn konstituiert (vgl. Rustemeyer 2001a: 258ff). Was Foucault
von diesen Beschreibungen unterscheidet, ist seine Aufwertung der Rolle ei-
nes sich auf ihre Möglichkeiten hin entwerfenden und bewusst als Abwei-
chungsgeschehen formierenden Selbst. Obwohl er damit kein Modell einer
Bildung verfolgt, gewinnt die "Sorge um sich" Züge einer paradoxen Päda-
gogik (vgl. Reichenbach, in diesem Band). Das eigene Ich wird zum Objekt
einer permanenten Anforderung der Selbsterziehung, die es befahigt, als In-
strument einer Kulturanalyse und einer politischen Veränderung der Kultur
zu fungieren. Es erkundet an sich die Möglichkeiten gesellschaftlicher Sinn-
bildungen und Selbstformungen, und es treibt eben dadurch den Prozess
kultureller Differenzierung praktisch voran. Paradox ist diese "Pädagogik",
weil sie die zugemutete Veränderung nicht als "Lernen" markiert, sie nicht an
andere, sondern an sich selbst adressiert, sie nicht an eine Vorstellung der
Perfektibilität bindet und sie auch nicht an von außen definierten oder allge-
mein begründungsfahigen Maßstäben evaluieren will. Stattdessen geht es um
das Projekt einer Erfahrung der Verfremdung durch die Einübung anderer
Betrachtungsmöglichkeiten (vgl. Foucault 2001: S. 15). Institutionen der
schulischen Bildung analysiert demgegenüber der Genealoge Foucault als
Kristallisationen einer Macht, die Subjekte durch Verfahren der Disziplinie-
rung, Messung, Dokumentation und kalkulierten Veränderung standardisiert
erzeugt (vgl. ebd.: 49).
Damit erhält die Theorie der Macht-Dispositive einen eigentümlich äs-
thetischen Akzent, der ihre Grenzen für eine Theorie der Kultur andeutet.
Foucaults Ethos-Konzept verleiht seinen Analysen der Wissens- und Macht-
formen ein anderes Gewicht. Nicht mehr die Anonymität der Diskurse, nicht
mehr ihre jede Reflexion übersteigende Gewalt, nicht mehr ihre determinie-
rende Kraft für Wahrnehmungen und Wünsche stehen nun im Vordergrund,
sondern die kreativen Potentiale des auf sich reflektierenden Selbst. Die Be-
wegung des Denkens wird zum produktiven Faktor für eine Praxis der Ver-
fremdung, die ihrer eigenen Kontingenz ansichtig wird und in dem Reichtum
ihrer Differenzierungsmöglichkeiten ein Substitut für die tautologische Ver-
Unmöglich wirklich 91

nunft erblickt. Aber die Kultivierung des Selbst in der Sorge um seine noch
unbekannten Möglichkeiten ist, wie der Genealoge Foucault weiß, eine Vor-
stellung, die an die Diskursformation der Gegenwart gebunden ist. Diese Ge-
genwart erzeugt in ihrer Wirklichkeit einen Raum des Möglichen, der sich in
jeder sinnhaften Bestimmung reproduziert und verformt. Für diesen Raum ist
es charakteristisch, die Figur des Subjekts nach dem Modell einer Selbstreali-
sierung zu konzipieren und ihm eine Autonomie für seine Lebensführung zu-
zusprechen. Diese Annahme liefert die Grundlage für sich "links" verstehen-
de Theorien einer Emanzipation aus gesellschaftlichen Verhältnissen, die den
Möglichkeitsreichtum der Einzelnen vermeintlich strangulieren, ebenso wie
für (neo-)konservative Modelle einer Selbstverantwortung des Einzelnen ge-
genüber den Kontingenzen seines Schicksals, die soziale Determinanten ge-
sellschaftlicher Unterschiede bagatellisiert. Foucaults Modell der Selbstsorge
deutet diese Figur ästhetisch und steigert sie zu einer individualistischen Pä-
dagogik der reflektierten Selbsttransformation. Verfremdung und Verände-
rung sind die entscheidenden Merkmale solcher ateleologischen "Bildungs-
prozesse". Der Rückgriff auf antike Vorbilder wirkt angestrengt, weil es dort,
etwa für Aristoteles, nicht darum geht, eine unermüdliche Arbeit der Selbst-
transformation zu verrichten, sondern die Fähigkeit zu erwerben, mit den
Kontingenzen des Lebens auf vernünftige Weise umzugehen (vgl. Aristoteles
1985). Die dazu erforderliche Klugheit hat etwas mit einer Vernunft zu tun,
aus deren Schatten Foucaults praktische Philosophie der Kontingenz sich lö-
sen möchte, weil sie auf einer sprachlich organisierten rationalen Begründung
alternativer Optionen des Denkens und Handeins beruht. Bloße Selbstverän-
derungen bleiben, auch in reflektierter Form, so unvermeidlich wie politisch
unspezifisch. Erst die Relationierung spezifischer Möglichkeitsprofile mit
dem konstruierten Raum alternativer Optionen eröffnet Vergleichsmöglich-
keiten, die sich politisch symbolisieren lassen.
Für eine Theorie der Kultur hingegen lässt sich ein Denken der Kontin-
genzen auch anders nutzen. Räume des historisch jeweils Denk- und Sagba-
ren, wie Foucault sie rekonstruiert, konstituieren Möglichkeiten der sinnhaf-
ten Bestimmung, die stets reichhaltiger sind als die von sozialen Akteuren
jeweils realisierten. Die Differenz zwischen dem Wirklichen und dem Mögli-
chen ist theoretisch zu beschreiben, indem Muster differentieller Selektivitä-
ten konstruiert werden. Für verschiedene soziale Akteure stehen unterschied-
liche Spektren des Denkens und Handeins zur Verfügung. Diese Spektren
korrelieren mit differentiellen zeitlichen Horizonten des Erfahrens und Er-
wartens, und sie hängen mit verschiedenen symbolischen Chancen der Arti-
kulation von Bedürfnissen oder des Zugangs zu symbolisch codierten kultu-
rellen Möglichkeiten zusammen. Prozesse der Subjektkonstitution profilieren
diese Dimensionen der Sinnbildung im Blick auf "Personen". Diese soziale
Fokussierung lässt Reliefs der Verschränkung symbolischer, sozialer, tempo-
raler und kultureller Differenzen in der theoretischen Beschreibung zutage
treten. Jeweilige Wirklichkeiten bilden dabei die andere Seite bestimmter
Möglichkeiten. Sozialisations- und Bildungskarrieren konstituieren ebenso
92 Dirk Rustemeyer

wie biographische Reflexionen spezifische Kontingenzprofile innerhalb die-


ser Machtfelder (vgl. Rustemeyer 2003c). Aber die Aufwertung sozialer
Adressen der Erwartung und Zurechnung sinnhafter Kontingenzen zu Instan-
zen der kreativen Selbsterzeugung führt weniger zu einer praktischen Trans-
zendierung bestehender Zwänge als dass sie vielmehr selbst Effekt eines
"Diskurses" ist, der "Subjekte" gegen die Formationskraft der Strukturen
ausspielt. Dies hat der Genealoge Foucault gezeigt. Eine Theorie der Kultur,
die das Denken der Möglichkeit gegenüber der Figur einer tautologischen
Vernunft kultiviert, hätte die Gleichzeitigkeit von Wirklichkeit und Möglich-
keiten so zu beschreiben, dass die Transformation der Möglichkeiten nicht
für alle Positionen innerhalb eines sozialen Feldes auf gleiche Weise möglich
ist. Diese Form der Beobachtung bleibt das Privileg einer theoretischen Ob-
jektivierung, die Formen der Differenz als operative Unterscheidungsprozes-
se in einer Ordnung der Gleichzeitigkeit beschreibt, deren Möglichkeitspro-
file eben nicht gleichzeitig und für alle sozialen Akteure gleichermaßen
wirklich möglich sind. Foucaults Verschränkung einer theoretischen und
praktischen Kritik der "reinen" Vernunft beruft sich auf eine Pädagogik der
Selbsterschaffung, deren Denkmöglichkeit eben der kulturellen Konstellation
zu verdanken ist, gegen die sein Projekt einer genealogischen Vernunftkritik
protestiert. Eine theoretisch instrumentierte Beobachtung der modemen Kul-
tur als eines dynamischen Raumes gleichzeitiger Möglichkeiten sinnhafter
Bestimmung lässt sich als Theorie der Sinnbildung anlegen, ohne auf ein
Denken der Subjektivität zu rekurrieren. Sie ermöglicht gerade durch diesen
Verzicht unter anderem eine Beobachtung des pädagogischen Dispositivs als
eines Feldes der Zumutung von Personenveränderungen, dem das Ethos der
Selbstsorge seinerseits noch zugehört (vgl. ManhartlRustemeyer 2004). Die
anderen Möglichkeiten des Wirklichen, die Foucault an die Einzelheit des
Individuums bindet und deren Realisierung er ihm als Programm der Selbst-
veränderung aufgibt, zeigen sich erst in der theoretischen Vermittlung einer
Konstruktion von Gleichzeitigkeiten, die jede Perspektive der Einzelheit und
Endlichkeit in ein Allgemeines des Vergleichs übersteigt. Diese Logik der
Vermittlung verlangt eine Selbstdistanzierung der Erfahrung, die theoretisch,
aber nicht existentiell ist. Sie ist insofern desillusionierend, als sie dem Beob-
achter vor Augen führt, dass die anderen Möglichkeiten als Möglichkeiten
unmöglich wirklich sein können. Der kulturelle Raum des sinnhaft Mögli-
chen existiert in der theoretischen Objektivierung als Feld des Gleichzeitigen.
Konkret Bestimmtes jedoch realisiert sich im Prozess temporaler Übergänge,
die an ihre kontingente Selektionsgeschichte gebunden bleiben. Unmöglich
ist alles Mögliche wirklich, auch wenn das Wirkliche nicht notwendig, son-
dern nur möglich ist.
Unmöglich wirklich 93

Literatur
Aristoteles (1985 4): Nikomachische Ethik. Hamburg: Meiner.
Aristoteles (1987): Physik. Hamburg: Meiner.
Aristoteles (1989\ Metaphysik. Hamburg: Meiner.
Cassirer, Ernst (1987 8, 1994 10): Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bände. Darm-
stadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Descartes, Rene (1972): Meditationen. Mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen.
Hamburg: Meiner.
Detel, Wolfgang (1998): Macht, Moral, Wissen. Foucault und die klassische Antike.
FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Forst, Rainer (1990): Endlichkeit Freiheit Individualität. Die Sorge um das Selbst bei Hei-
degger und Foucault. In: Eva ErdmannIRainer ForstlAxel Honneth (Hrsg.): Ethos der
Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. FrankfurtlMain und New York: Campus,
S. 146-186.
Foucault, Michel (1973a): Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks.
München: Hanser.
Foucault, Michel (1973b): Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im
Zeitalter der Vernunft. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1974): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissen-
schaften. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1977): Die Ordnung des Diskurses. FrankfurtlMain u.a.: Ullstein.
Foucault, Michel (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frank-
furtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1978): Von der Subversion des Wissens. FrankfurtlMain: Fischer.
Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. FrankfurtlMain:
Suhrkamp.
Foucault, Michel (1986): Der Gebrauch der Lüste. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1990): Was ist Aufklärung? In: Eva ErdmannIRainer ForstlAxel Honneth
(Hrsg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. FrankfurtlMain und
New York: Campus, S. 35-54.
Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin: Merve.
Foucault, Michel (1999): In Verteidigung der Gesellschaft. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (0. J.): Von der Freundschaft. Berlin: Merve.
Foucault, Michel (2001): Short Cuts. FrankfurtlMain: Zweitausendeins.
Goodman, Nelson (1990): Weisen der Welterzeugung. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Habermas, Jürgen (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne. FrankfurtIMain:
Suhrkamp.
Hegel, G.W.F. (1981): Wissenschaft der Logik. In: Theorie-Werkausgabe. Bd. 6. Frank-
furtlMain: SuhrkamE' S. 186ff.
Heidegger, Martin (1979 5): Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer.
Hobbes, Thomas (1997): Der Körper. Hamburg: Meiner.
Kant, Immanuel (1956): Kritik der reinen Vernunft. In: Ders.: Werke in sechs Bänden,
Bd. 2, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Kues, Nikolaus von (1982): Trialogus de possest. In: Ders.: Philosophisch-theologische
Schriften. Hrsg. v. L. Gabriel. Bd. 11. Wien: Herder, S. 267-360.
Leibniz, G.W. (1968 2): Die Theodizee. Hamburg: Meiner.
Leibniz, G.W. (1975): Metaphysische Abhandlung. Hamburg: Meiner.
Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (1996): Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phänomenologie.
Wien: Picus.
94 Dirk Rustemeyer

Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bände. FrankfurtlMain:


Suhrkamp.
Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Manhart, SebastianlDirk Rustemeyer (2004): Die Form der Pädagogik. In: Zeitschrift für
Pädagogik 50, S. 266-285.
Montaigne, Michel de (1988): Essais. FrankfurtlMain: Insel.
Montesquieu, Charles Louis de Secondat de (1991): Persische Briefe. Stuttgart: Reclam.
Montesquieu, Charles Louis de Secondat de (2000): Meine Gedanken: Aufzeichnungen.
München und Wien: Hanser.
Nietzsche, Friedrich (1988): Zur Genealogie der Moral. In: Ders.: Kritische Studienausga-
be. Bd. 5. München: dtv, S. 9-244.
Rieger, Markus (1997): Ästhetik der Existenz? Michel Foucaults Konzept der >Technolo-
gien des Selbst< anhand der >Essais< von Michel de Montaigne. Münster u.a.:
Waxmann.
Rustemeyer, Dirk (2001a): Sinnformen. Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Mo-
ral. Hamburg: Meiner.
Rustemeyer, Dirk (2oo1b): Enttäuschende Theorie. In: Zeitschrift für pädagogische Histo-
riographie 7, S. 106-115.
Rustemeyer, Dirk (2003a): Kontingenzen pädagogischen Wissens. In: Wemer Hels-
per/Rainhard Hörster/Jochen Kade (Hrsg.): Ungewissheit. Pädagogische Felder im
Modernisierungsprozess. Weilerswist: Velbrück, S. 73-91.
Rustemeyer, Dirk (2003b): Kritik als Gewohnheit. In: Ders. (Hrsg.): Erziehung in der Mo-
derne. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 289-323.
Rustemeyer, Dirk (2004): Machtfelder. In: S. Kadi u.a. (Hrsg.): Macht - Sinn - Unbewuß-
tes. Würzburg: Könighausen & Neumann (erscheint in Kürze).
Spinoza, Baruch de (1980): Ethica. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Vaihinger, Hans (1986): Die Philosophie des Als ob: System der theoretischen, praktischen
und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus.
Aalen: Scientia [Neudruck der Ausgabe Leipzig 1927].
Jan Massehelein

,Je viens de voir, je viens d' entendre'. Erfahrungen im


Niemandsland

"L'experience est la mise en question (a I'epreuve), dans la fievre et l'angoisse, de ce


qu'un homme sait du fait d'etre. "
Georges Bataille
Michel Foucault wollte Kritik bekanntlich nicht als eine Beurteilung der Le-
gitimität oder als eine Überprüfung unter dem Anspruch der Vernunft, son-
dern vor allem als eine praktische Verweigerung einer bestimmten Subjekti-
vitätsform verstehen. Kurz gesagt geht es darum, sich dem Anruf, auf eine
bestimmte Weise sich zu sich selbst (und zu anderen) zu verhalten, zu entzie-
hen. "Ein solches Unternehmen" - so Foucault in einem Interview mit Ducio
Trombadori - "ist das einer Ent-Subjektivierung" (Foucault 1996: 27), einer
Praxis der "Entunterwerfung [desassujettissement]" (Foucault 1992: 15). Ei-
ne solche Praktik ist - nach Mariapaola Fimiani - die Arbeit einer "lebenden
Negativität [une negativite vivante]" (Fimiani 2002: 92), eine Arbeit an und
mit sich selber, die darauf zielt, dass "wir [... ] zu dem, um das es geht, in
neue Beziehungen treten können" (Foucault 1996: 29). Es ist dieses Unter-
nehmen, das für Foucault den Kern der Philosophie als Aktivität und Ethos
ausmacht: nicht so sehr zu entdecken, was wir sind, sondern zu verweigern,
was wir sind. 1
Ein durchaus ähnliches Motiv findet sich in den oft zitierten Passagen,
mit denen Foucault - nach längerem Schweigen - die Fortsetzung und Ver-
schiebung seiner ,Histoire de la sexualite' einleitet: "Das Motiv, das mich
getrieben hat, ist sehr einfach. [... ] Es war Neugier - die einzige Art Neugier,
die die Mühe lohnt, mit einiger Hartnäckigkeit betrieben zu werden: nicht
diejenige, die sich anzueignen sucht, was zu erkennen ist, sondern die, die es
gestattet, sich von sich selber zu lösen" (Foucault 1986: 15). Foucaults fol-
gende Erläuterung ist aufschlussreich, beleuchtet sie doch die unternommene
Verschiebung in besonderer Weise: "Es gibt im Leben Augenblicke, da die

Ewald kommentiert ergänzend, dass es keinen Sinn habe, "sich zu fragen: Warum
sollte man sich verwandeln, sich ändern? Das nämlich ist die Frage des Sklaven, der
die Unterwerfung unter einen Vorteil sucht. Nicht für etwas sollte man sich verändern,
sondern gegen etwas, gegen was?" (Ewald 1990: 93).
96 fan Massehelein

Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und anders wahrnehmen
kann, als man sieht, zum Weiterschauen oder Weiterdenken unentbehrlich ist.
Man wird mir vielleicht sagen, dass diese Spiele mit sich selber hinter den
Kulissen zu bleiben haben; und dass sie bestenfalls zu den Vorarbeiten gehö-
ren, die von selbst zurücktreten, wenn sie ihre Wirkungen getan haben. Aber
was ist die Philosophie heute - ich meine die philosophische Aktivität -,
wenn nicht die kritische Arbeit des Denkens an sich selber? Und wenn sie
nicht, statt zu rechtfertigen, was man schon weiß, in der Anstrengung liegt,
zu wissen, wie und wie weit es möglich wäre, anders zu denken? Es ist im-
mer etwas Lächerliches im philosophischen Diskurs, wenn er von außen den
andern vorschreiben und vorsagen will, wo ihre Wahrheit liegt und wie sie zu
finden ist, oder wenn er ihnen in naiver Positivität vorschreiben will, wie sie
zu verfahren haben. Aber es ist sein Recht, zu erkunden, was in seinem eige-
nen Denken verändert werden kann, indem er sich in einem ihm fremden
Wissen versucht. Der , Versuch' - zu verstehen als eine verändernde Erpro-
bung seiner selber und nicht als vereinfachende Aneignung des andern zu
Zwecken der Kommunikation [une epreuve modificatrice de soi-meme] - ist
der lebende Körper der Philosophie, sofern diese jetzt noch das ist, was sie
einst war: eine Askese, eine Übung seiner selber, im Denken" (ebd.: 15-16).
Mit Blick auf die eigene Arbeit fahrt Foucault fort: "Es war eine philosophi-
sche Übung: es ging darum zu wissen, in welchem Maße die Arbeit, seine ei-
gene Geschichte zu denken, das Denken von dem lösen kann, was es im
Stillen denkt, und inwieweit sie es ihm ermöglichen kann, anders zu denken"
(ebd.: 16).
Verknüpft man nun beides miteinander, so zeigt sich, dass die Arbeit ei-
ner ,lebenden Negativität' heißt, sich ebenso von sich selber zu lösen, wie
zugleich auch das Denken von dem zu lösen, was es im Stillen denkt. Diese
doppelte ,Lösung' geschieht dadurch, sich in einem ,fremden Wissen', durch
eine , verändernde Erprobung seiner selber' zu versuchen; dabei ist - wie
Foucault an anderer Stelle ausführt - "die Kritik dessen, was wir sind, zu-
gleich die historische Analyse der uns gegebenen Grenzen [... ] und ein Expe-
riment der Möglichkeit ihrer Überschreitung" (Foucault 1990: 53), so dass -
wie Ricken schreibt - Kritik immer eine bestimmte "Grenzarbeit" (Ricken
2000: 28) ist. Ist aber die philosophische Aktivität als ,Arbeit an sich selbst'
immer eine experimentelle Aktivität, so ist sie zwangsläufig mit einer Erfah-
rung verbunden, in der die Subjektivität auf dem Spiel steht: eine Grenzerfah-
rung, "die das Subjekt von sich selbst losreißt" und daran hindert, "derselbe
zu sein" (Foucault 1996: 27). Diese ,negative' Aktivität kann - so möchte ich
versuchen anzudeuten - als eine ,e-dukative Praktik' beschrieben werden,
und zwar in einem Sinn, der von Foucault selbst benannt worden ist, nämlich:
nicht im Sinne von ,educare', sondern von ,educere': "tendre la main, sortir
de la, conduire hors de la [die Hand reichen, hinausbringen, hinausführen]"
(Foucault 2001: 129). Folgt man Foucault, so ist eine ,e-dukative Praktik'
nicht (oder nicht nur) der Erwerb von Wissen oder Können, die die Ignoranz
und Inkompetenz aufzuheben vermögen, sondern "une certaine action qui va
,Je viens de voir, je viens d' entendre' 97

etre operee sur l'individu, [... ] une sorte d'operation qui porte sur le mode
etre du sujet lui-meme [eine bestimmte Aktion, die am Individuum durchge-
führt wird, [...] eine Art Operation, die auf die Seinsweise, oder Seinsart des
Subjektes selbst ausgerichtet ist)" (Foucault 2001: 130). Eine ,e-dukative
Praktik' ist eine Praktik des Untergehens oder des Sterbens (des Subjekts),
die das Leben bis in den Tod akzeptiert.
Ich möchte in meinen Überlegungen nun versuchen, diesen Gedanken
einer ,Entsubjektivierung' als einer ,e-dukativen Praktik' zu verdeutlichen,
indem ich von einem Beispiel, das Foucault selbst von einer solchen negati-
ven ,e-dukativen Praktik' gibt - das Schreiben (und das Lesen) von ,Erfah-
rungsbüchern' -, ausgehe (1) und dieses kommentiere (2), bevor ich wenige
Schlussfolgerungen andeute (3). Voran gestellt seien jedoch vier kurze Vor-
bemerkungen:
Erste Vorbemerkung: Wenn Foucault die, verändernde Erprobung seiner
selber' als den lebenden Körper der Philosophie versteht, dann bezieht er sich
auf eine in der Antike vorherrschende Bewegung, in der Philosophie nicht
von Spiritualität (und Pädagogik/Psycho-agogik) getrennt werden kann - oh-
ne sich übrigens einfach und ohne weiteres dieser Bewegung zuzuordnen. In
der ersten seiner unter dem Titel ,L'hermeneutique du sujet' (Foucault 2001)
veröffentlichten Vorlesungen von 1982 behauptet Foucault, dass in der ganze
Antike - Aristoteles ausgenommen - das Thema der Philosophie (wie erlangt
man Zugang zur Wahrheit?) nie von dem Thema der Spiritualität (welche
Transformationen im Subjekt sind notwendig?) getrennt worden ist. Unter
Philosophie versteht er daher: "la forme de pensee qui s' interroge sur ce qui
permet au sujet d'avoir acces a la verite, la forme de pensee qui tente de de-
terrniner les conditions et les limites de l'acces du sujet a la verite [die Form
des Denkens, die sich fragt, wie das Subjekt zur Wahrheit gelangt, die ver-
sucht, die Bedingungen und Grenzen der Zugang zur Wahrheit zu bestim-
men)" (Foucault 2001: 16). Mit Spiritualität bezeichnet er: "la recherche, la
pratique, l'experience par lesquelles le sujet opere sur lui-meme les transfor-
mations necessaires pour avoir acces a la verite [die Forschung, die Praktik,
die Erfahrung - es geht um Purifikationen, Askese, Enthaltung, Umkehrun-
gen, Modifikationen der Existenz, etc. - über und durch die das Subjekt an
sich selbst die Transformationen durchführt, die notwendig sind, um die
Wahrheit zu erreichen]" (ebd.: 16). So ist die Wahrheit dem Subjekt nicht
durch einen einfachen Erkenntnisakt gegeben, einen Akt, der dadurch legiti-
miert und fundiert wäre (und werden könnte), dass der Erkennende Subjekt
ist und eine bestimmte Struktur hat; vielmehr ist - in antiker Perspektive -
die Wahrheit nur gegeben um einen Preis, die das Sein des Subjekts selbst
aufs Spiel setzt, weil das Subjekt so, wie es ist, nicht zur Wahrheit fahig ist
(vgl. Foucault 2001: 16-17). Es kann also keine Wahrheit geben ohne eine
Konversion ("une conversion,,2) oder Transformation des Subjekts, ein ,Keh-

2 Foucault verwendet immer wieder diesen Begriff der "conversion". Er könnte auf
Deutsch als Wende, Umwendung, Änderung, Übergang, Bekehrung, Umkehrung, Kehre
98 fan Massehelein

ren' (auch) gegen sich selbst. Zweierlei ist dabei bedeutsam (vgl. ebd.: 17):
erstens unterscheidet Foucault zwischen zwei Formen dieser Kehre, der Form
des Eros, einer Bewegung, die das Subjekt losreißt von seiner aktuellen Lage
und Bedingung ("condition"), und der Form einer Kehre, die das Ergebnis
einer Arbeit an sich selbst, einer Askese ("askesis") ist. Zweitens weist er
darauf hin, dass die Wahrheit - in dieser Auffassung - immer auf eine be-
stimmte Weise auf das Subjekt zurückwirkt ("effets de retour"), so dass die
Wahrheit weniger der bloße Vollzug (und die Vollendung) des Erkennt-
nisakts ist, sondern vielmehr das, was das Subjekt in seinem Subjektsein
transformiert: "La verite, c'est ce qui illumine le sujet; la verite, c'est ce qui
lui donne la beatitude; la verite, c'est ce qui lui donne la tranquillite de l'ame
[Die Wahrheit ist, was das Subjekt aufklärt, was ihm die Glückseligkeit gibt;
die Wahrheit ist, was ihm die Ruhe der Seele gibt (tranquillitas)]" (Foucault
2001: 18).3
Zweite Vorbemerkung: Wenn Foucault sich auf die ,Kehre' in der Antike
- als ,lebende Negativität' und vor allem als Askese - bezieht, dann ist es
ihm außerordentlich wichtig, von den beiden von Pierre Hadot unterschiede-
nen Formen der (christlichen) ,metanoia' und der (platonischen) ,epistrophe,4
eine dritte Form zu unterscheiden. Während die ,epistrophe' eine Erfahrung
des Kehrens bezeichnet, die als eine Rückkehr der Seele zu ihrem Ursprung
verstanden werden kann und daher eine Bewegung zurück zur Perfektion des
Seins und in die ewige Bewegung des Seins hinein markiert, der als funda-
mentaler Modus die ,anamnesis' zugrunde liegt, so folgt die ,metanoia' einer
gänzlich anderen Logik: in ihr geht es um eine radikale Erneuerung, eine Art
von, Wieder-Geburt' des Subjektes durch sich selbst, in deren Zentrum, Tod
und Auferstehung' als Erfahrung von sich selbst und als Erfahrung der Ent-
haltung des Selbst von sich selbst stehen. Nach Foucault aber gibt es noch ei-
ne dritte Form des ,Kehrens', die er in vielen seiner späteren Arbeiten anzu-
deuten versucht und die er das ,Kehren des Blicks' ("la conversion du re-
gard"), das ,Kehren des Blicks' auf sich selbst nennt (vgl. Foucault 2001:
207-210). Diese bedeutet jedoch einerseits nicht, sich selbst (und die Tiefe
des Selbst) zum Objekt des Wissens, der Analyse, Entzifferung und Refle-

oder Kehren übersetzt werden und all diese Bedeutungen könnten in der Tat mit ,con-
version' verbunden werden. Ich werde im folgenden hier ,Kehre' oder ,Kehren' ver-
wenden.
3 Foucault verweist auf die Ausnahme der Gnosis, die den Akt der Erkenntnis, der
selbst eine spirituelle Erfahrung wird, privilegiert, so dass das Sich-selbst-erkennen zu
einem göttlichen Element wird.
4 Diese Unterscheidung lauft auch parallel an die Unterscheidung zwischen zwei Mo-
delle der ,Epimeleia Reautou': das Platonische Model der Anamnese (das Erinnern
des Seins des Subjektes durch das Subjekt selbst) wo die Sorge um sich selbst und die
Selbsterkenntnis so wie die Selbsterkenntnis und die Erkenntnis des Seins identifiziert
werden; das christliche Model der Exegese (die Exegese des Subjektes durch das
Subjekt selbst) wo es darum geht die Art und Natur der innerliche Bewegungen der
Seele herausuzfinden und zu (er)lesen. (Foucault 2001: 245-246). Pierre Radot hat
später noch auf Foucaults Interpretation reagiert: Radot 1989; 1995.
,Je viens de voir, je viens d'entendre' 99

xion zu machen (wie in den christlichen ,arcana conscientiae') und so den


Anruf ,Sorge um Dich selbst' als Aufforderung ,Erkenne dich selbst' zu ver-
stehen. Vielmehr geht es eher darum, eine Selbstaufmerksamkeit, eine
,Selbstanwesenheit' zu erreichen und sich selbst auf eine bestimmte Weise
vorzubereiten, ohne dabei jedoch die Welt zu vergessen - ganz im Gegenteil:
im Rahmen dieser "Spiele mit sich selber" (Foucault 200 1: 207) zu sich
selbst zurückzukehren bedeutet nicht - wie Foucault u.a. unter Bezugnahme
auf Demetrios und Seneca erwähnt -, dass man sich von der Welt zur inneren
Welt abkehrt, um nun diese innere Welt, die Tiefe der Seele, zu erforschen.
Ausdrücklich geht es um die Erkenntnis der Welt, der Dinge und der Men-
schen und (darin) nur darum, diese anders zu (er)kennen: nicht als ein Wissen
,par les causes' ("le savoir par les causes"), sondern in einem relationalen
Wissen ("un savoir relationel") (vgl. Foucault 2001: 226), in dem es um die
Beziehung zwischen der Welt, den Dingen, den Menschen und ,mir' bzw.
,uns' geht. Dieses relationale Wissen unterscheidet sich von jenem ,Wissen
durch Ursachen' in dem Sinne, dass es ein etho-poietisches Wissen ist: ein
Wissen, das nicht die Seele zum Objekt hat, sondern sich auf die Welt, die
Dinge und die Menschen bezieht und den Effekt hat, das Subjekt zu trans-
formieren: "ce qui est ethopoios, c'est quelque chose qui a la qualite de trans-
former le mode d'etre d'un individu" (ebd.: 233). Für diese ,Kehre zu sich
selbst' sind, so ergänzt Foucault, nicht nur immer auch andere notwendig; es
ist ausdrücklich unverzichtbar, sich einem anderen Blick, dem Blick der An-
deren auszusetzen, so dass diese Selbstkehre nie isoliert möglich ist (vgl.
Foucault 1983a; 2001).
Dritte Vorbemerkung: Mit diesen Weichenstellungen eröffnet Foucault
die Möglichkeit, die Verbindung oder das Verhältnis zwischen Philosophie,
Spiritualität und Pädagogik anders zu verstehen und zu beschreiben, indem er
alle drei auf "la mutation du mode d'etre du sujet [die Veränderung des
Seinsmodus des Subjekts]" (Foucault 2001: 389) als einer ,lebenden Negati-
vität' bezieht und damit nicht (nur) auf den Erwerb von Fähigkeiten und Wis-
sen beschränkt.
Vierte Vorbemerkung: Insbesondere eine Schwierigkeit, die den Zusam-
menhang von Subjektivierungs- und Entsubjektivierungspraktik betrifft,
muss abschließend erwähnt werden. Wenn Foucault Entsubjektivierung und
den ,Versuch' - als verändernde Erprobung seiner selber - als eine Askese
versteht, wenn er zugleich Kritik - als ein Experiment der Möglichkeit der
Grenzüberschreitung - "als eine Haltung [... ], ein Ethos, ein philosophisches
Leben" darstellt (Foucault 1990: 53), und wenn schließlich Askese und Ethos
auf die Arbeit (Übung) an sich selber verweisen, durch die eine bestimmte
Form der Subjektivität produziert wird, dann könnten wir in der Tat - wie
Fimiani es getan hat - sagen, dass Foucault sich seit ,La volonte de savoir'
(vgl. Foucault 1976) damit beschäftigt hat, die (ethischen, pädagogischen und
politischen) Bedingungen einer ,neuen Subjektivität' zu umreißen: ein ,Sub-
jekt', das sich sowohl um die Welt kümmert als auch sich qua Erfahrung er-
probt, ein Subjekt, das sich selbst - wie sie schreibt (vgl. Fimiani 2002: 92) -
JOO Jan Massehelein

zu einer ,lebenden Negativität' macht. Aber, was ist dann mit (dem Subjekt)
dieser Entsubjektivierung? Was ist seine Negativität? Und wie ist es mit dem
Ethos als Grenzüberschreitung?

1.
Hier möchte ich nun den Faden wieder aufnehmen und mich auf ein Beispiel
konzentrieren, das Foucault selbst von einer solcher Ent-subjektivierungs-
praktik (oder negativen Übung) gegeben hat: das Schreiben und/oder Lesen
eines Erfahrungsbuches. Mir geht es darum anzudeuten, dass und wie das
Verweigern von Subjektivität erstens möglich ist, dass dieses zweitens ge-
fährlich (und unwiderruflich) ist, dass es drittens ein öffentliches und unkom-
fortables Unternehmen ist, und - schließlich viertens - dass diese Praktik
keine pastorale Sorge benötigt.
In einem bedeutsamen Interview mit Trombadori (1978i hat Foucault
die Bücher, die er geschrieben hat, im Unterschied zu Wahrheits- oder Be-
weisbüchern als ,Erfahrungsbücher' bezeichnet: "un livre-experience par op-
position aun livre-verite et a un livre-demonstration" (Foucault 1994 IV: 47;
vgl. Foucault 1996: 34). Ein Erfahrungsbuch ist selbstverständlich kein Buch
über Erfahrungen (und sicherlich nicht über individuelle Erlebnisse), sondern
ein Buch, dessen Schreiben und Lesen selbst eine Erfahrung ist: "Es ist also
ein Buch, das dem, der es schreibt, ebenso wie dem, der es liest, als eine Er-
fahrung dient, viel eher denn als Feststellung einer historischen Wahr-
heit [C'est donc un livre qui fonctionne comme une experience, pour celui
qui l' ecrit et pour celui qui le lit, beaucoup plus que comme constatation
d'une verite historique (45)]" (Foucault 1996: 30). Dabei geht es um Erfah-
rung "im vollsten Sinne, den man diesem Ausdruck beilegen kann. Eine Er-
fahrung ist etwas, aus dem man verändert hervorgeht [mes livres sont pour
moi des experiences, dans un sens que je voudrais le plus plein possible. Une
experience est quelque chose dont on sort soi-meme transfonne (41)] (Fou-
cault 1996: 24). In einem Erfahrungsbuch geht es nicht um die Kommunika-
tion dessen, was ich denke oder gedacht habe, bevor ich angefangen habe zu
schreiben, sondern darum, "dass das Buch ebenso mich verändert, wie das,
was ich denke [... ]. Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker [... ], der
ein allgemeines System errichtet, sei es ein deduktives oder ein analytisches
[... ]. Ich bin ein Experimentator in dem Sinne, dass ich schreibe [und lese],

5 Im folgenden zitiere ich - aufgrund der Zentralität der Weichenstellung überaus aus-
führlich - aus der erst 1996 erschienenen deutschen Übersetzung dieses Interviews,
die ich um die entsprechenden französischen Passagen bereichert und - falls notwen-
dig - in ihrer Übersetzung korrigiert habe. Die französische Fassung des Interviews
findet sich in Bd. 4 der Dits et ecrits (vgl. Foucault 1994 IV: 41-95); die jeweiligen
Seitenangaben im Anschluss an die französischen Passagen beziehen sich daher auf
diese Fassung.
,Je viens de voir, je viens d' entendre' 101

um mich selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor
[De sorte que le livre me transforme et transforme ce que je pense [... ]. Je
suis un experimentateur et non pas un theoricien [... ], qui battit un systeme
general soit de deduction, soit d ,analyse [... ]. Je suis un experimentateur en
ce sens que j' ecris pour me changer moi-meme et ne plus penser la meme
chose qu'auparavant (42)]" (ebd.: 24).
Der Hinweis Foucaults auf Georges Bataille, Friedrich Nietzsche, Mauri-
ce Blanchot und Pierre Klossowski, deren "Problem nicht darin bestand, ein
System zu konstruieren, sondern eine persönliche Erfahrung zu machen [que
leur probleme n'etait pas celui de la construction d'un systeme, mais d'une
experience personnelle (43)]" (ebd.: 26), mag zu einer Klärung beitragen. Er-
fahrung - so Foucault - ist hier nicht gemeint als die phänomenologische Er-
fahrung: "Die Erfahrung des Phänomenologen ist im Grunde eine bestimmte
Weise, einen reflektierenden Blick auf [... ] das Alltägliche in seiner vergäng-
lichen Gestalt zu richten, um dessen Bedeutungen zu erfassen. Für Nietzsche,
Bataille, Blanchot dagegen bestand Erfahrung in dem Versuch, an einen be-
stimmten Punkt des Lebens zu gelangen, der dem Nicht-Lebbaren so nahe
wie möglich kommt. Gefordert wird das Äußerste an Intensität und zugleich
an Unmöglichkeit. Die phänomenologische Arbeit liegt vielmehr darin, das
gesamte Feld von Möglichkeiten zu entfalten, die mit der alltäglichen Erfah-
rung verbunden sind [... ], um herauszufinden, inwiefern das Subjekt, das ich
bin, in seinen transzendentalen Funktionen tatsächlich grundlegend ist für die
Erfahrungen und diese Bedeutungen. Dagegen dient die Erfahrung bei Nietz-
sche, Blanchot, Bataille dazu, dass Subjekt von sich selbst loszureißen, der-
art, dass es nicht mehr es selbst ist, oder dass es zu seiner Vernichtung oder
zu seiner Auflösung getrieben wird. Ein solches Unternehmen ist das einer
Ent-Subjektivierung. Die Idee einer Grenzerfahrung [... ] - genau das war es,
was bei meiner Lektüre [... ] für mich wichtig war, und gen au diese Idee hat
mich dazu gebracht, meine Bücher [... ] stets als unmittelbare Erfahrungen zu
verstehen, die darauf zielen, mich von mir selbst loszureißen, mich daran zu
hindern, derselbe zu sein [L'experience du phenomenologue est [... ] une cer-
taine fa~on de poser un regard reflexif sur [... ] le quotidien dans sa forme
transitoire pour en saisir les significations. Pour Nietzsche Bataille, Blanchot,
au contraire, l'experience c'est essayer de parvenir 11 un certain point de la vie
qui soit le plus pres possible de l'invivable. Ce qui est requis est le maximum
d'intensite et, en meme temps, d'impossibilite. [... ] l'experience [... ] a pour
fonction d'arracher le sujet 11 lui-meme, de faire en sorte qu'il ne soit plus lui-
meme ou qu'il soit porte 11 son aneantissement ou 11 sa dissolution. C'est une
entreprise de de-subjectivation. L'idee d'une experience limite, [... ] voil11 ce
qui a ete important pour moi [... ] et qui a fait que [... ] mes livres, je les ai
toujours con~us comme des experiences directes visant 11 m'arracher 11 moi-
meme, 11 m'empecher d'etre le meme (43)]" (ebd.: 26f.). So sind Erfahrungs-
bücher Mittel, "zu einer Erfahrung zu gelangen, die eine Veränderung er-
laubt, einen Wandel in unserem Verhältnis zu uns selbst und zur Welt dort,
wo wir bisher keine Probleme sahen (mit einem Wort, in unserem Verhältnis
102 fan Massehelein

zu unserem Wissen) [une experience qui autorise une alteration, une trans-
formation du rapport que nous avons a nous-memes et au monde ou, jusque-
la, nous nous reconnaissions sans problemes (en un mot, avec notre savoir)
(45-46)]" (ebd.: 31). Es ist diese spezifische Erfahrungsperspektive, die
Foucault als das "Herz meines Unternehmens [c'est vraiment le creur de ce
que je fais (45)]" (ebd.: 32) bezeichnet hat.
Foucault weist selbst darauf hin, dass die Wahrheit dessen, was er sagt,
zugleich ein ebenso schwieriges wie zentrales Problem für ihn darstellt. Da-
bei geht es ihm aber weniger um eine epistemologische Frage, sondern mehr
um die ethische Frage des Wahr-Sprechens, das er immer wieder an der Pra-
xis der ,parrhesia' erläutert (vgl. Foucault 1996a). Einerseits verwendet er, so
sagt er, die klassischen (akademischen) Methoden, aber andererseits geht es
ihm um nichts anderes als Fiktionen (,science fiction': "dass es etwas anderes
wäre, davon kann gar keine Rede sein" (Foucault 1996: 28). Sein Problem ist
daher nicht, professionelle Historiker, Philosophen, Soziologen oder Pädago-
gen zufrieden zu stellen. "Mein Problem bestand darin, selbst eine Erfahrung
zu machen und die anderen aufzufordern [inviter], vermittelt über einen be-
stimmten [... ] Inhalt an dieser Erfahrung teilzunehmen: nämlich an der Erfah-
rung dessen, was wir sind und was nicht nur unsere Vergangenheit, sondern
auch unsere Gegenwart ausmacht, [... ], derart daß wir verwandelt daraus her-
vorgehen. Das bedeutet, daß wir am Ende des Buches zu dem, um das es
geht, in neue Beziehungen treten können: daß ich, der ich das Buch geschrie-
ben habe, und diejenigen, die es gelesen haben [... ] ein neues Verhältnis ein-
nehmen können [mon probleme est de faire moi-meme, et d'inviter les autres
a faire avec moi, a travers un contenu historique determine, une experience
de ce que nous sommes, de ce qui est non seulement notre passe mais aussi
notre present, une experience de notre modernite telle que nous en sortions
transformes. Ce qui signifie qu'au bout du livre nous puissions etablir des
rapports nouveaux avec ce qui est en question: que moi qui ai ecrit le livre et
ceux qui l'ont lu aient [... ] un autre rapport (44)]" (ebd.: 28f.). "Damit man,
vermittelt über dieses Buch, eine solche Erfahrung machen kann, muß das,
was darin gesagt wird, natürlich im Sinne akademischer Wahrheit wahr sein
[... ]. Es kann nicht ganz wie ein Roman sein [Pour qu'on puisse faire cette
experience a travers ce livre, il faut bien que ce qu'il dit soit vrai en termes de
verite academique, historiquement verifiable [... ]. Ce ne peut pas etre exac-
tement un roman (45)]" (ebd.: 30). Die Erfahrung selbst jedoch ist weder
wahr noch falsch: "Eine Erfahrung ist immer eine Fiktion, etwas Selbstfabri-
ziertes, das es vorher nicht gab und das es dann plötzlich gibt. Darin liegt das
schwierige Verhältnis zur Wahrheit, die Weise, in der sie in eine Erfahrung
eingeschlossen ist, die mit ihr nicht verbunden ist und sie bis zu einem gewis-
sen Punkt zerstört [Or cette experience n'est ni vraie ni fausse. Une expe-
rience est toujours une fiction; c'est quelque chose qu'on se fabrique a soi-
meme, qui n'existe pas avant et qui se trouvera exister apres. C'est cela le
rapport difficile a la verite, la fa<;on dont cette derniere se trouve engagee
dans une experience qui n'est pas liee a elle et qui, jusqu'a un certain point,
,Je viens de voir, je viens d' entendre' 103

la detruit (45)]" (ebd.: 30-31). Nur folgerichtig gibt es in diesen ,Büchern'


immer ein "Spiel zwischen Wahrheit und Fiktion [un jeu de la verite et de la
fiction (45)]" (ebd.: 31).6
Ein Erfahrungsbuch unterrichtet nicht, es rettet und erlöst auch niche:
"Ich lehne das Wort ,Lehre' ab. [... ] Meine Bücher haben diesen Wert gerade
nicht. Es sind eher Einladungen, öffentliche Gesten" (ebd.: 33). Auch diese
(Selbst-)Einschätzung verdankt sich dabei dem Charakter der Erfahrung
selbst: "Eine Erfahrung ist etwas, was man ganz allein macht und dennoch
nur in dem Maße uneingeschränkt machen kann, wie sie sich der reinen
Subjektivität entzieht und andere diese Erfahrung - ich will nicht sagen: ex-
akt übernehmen, aber sie dennoch kreuzen und schneiden können [Je refuse
le mot ,enseignement' [... ]. Mes livres n'ont pas exactement cette valeur-la.
Ce sont plutöt des invitations, des gestes faits en public. [... ] Une experience
est quelque chose que l'on fait tout a fait seul, mais que 1'0n ne peut faire
pleinement que dans la mesure Oll [... ] d'autres pourront, je ne dis pas la re-
prendre exactement, mais du moins la croiser et la retraverser (47)]" (ebd.:
33).8
Die präzise Erörterung der Bedeutung der Erfahrung durch Foucault lässt
sich nutzen, zeigt sie uns doch, wie wir heute die Kategorie der Erfahrung
(und sogar die der ,negativen' Erfahrung) für das kritische pädagogische
Denken wiedergewinnen können. So paradox es klingen mag, der Begriff der
Erfahrung gehört vielleicht in der Tat nicht nur "zu den unaufgeklärtesten
Begriffen [... ], die wir besitzen", wie Gadamer bereits 1960 notiert hat (Ga-

6 Das aber hat unter anderem zur Konsequenz, "daß es kein Buch gibt, das ich nicht,
wenigstens zum Teil, aus einer unmittelbaren persönlichen Erfahrung geschrieben
hätte. [...] Es handelt sich keinesfalls darum, persönliche Erfahrungen ins Wissen zu
übertragen. Das Verhältnis zur Erfahrung muß im Buch eine Transformation gestat-
ten, eine Metamorphose, die nicht einfach meine ist, sondern die einen gewissen Wert,
gewisse Eigenheiten hat, die anderen zugänglich sind [qu'il n'ya pas de livre que j'aie
ecrit sans, au moins en partie, une experience directe, personnelle [ ... ] 11 ne s' agit pas
du tout de transposer dans le savoir des experiences personnelles. Le rapport de
l'experience doit, dans le livre, permettre une transformation, une metamorphose, qui
ne soit pas simplement la mienne, mais qui puisse avoir une certaine valeur, un certain
caractere accessible pour les autres, que cette experience puisse etre faite par les au-
tres. Quatrieme chose, cette experience, enfin, doit pouvoir etre liee jusqu'a un certain
point a une pratique collective, a une fa«on de penser (46))" (Foucault 1996: 32).
7 Obwohl Foucault gerade Nietzsche als einen Autor von Erfahrungsbüchern in seinem
Sinne erwähnt und obwohl es in diesen Bücher darum geht, sich zur Aktualität zu
verhalten und sich selbst in diesen auf das Spiel zu setzen, indem man sagt, was wir
heute sind, warnt Foucault auch davor, dies - wie Nietzsche - zu dramatisieren: "il
faut avoir la modestie [... ] ne se donnant pas la facilite un peu dmmatique et theatrale
d'affirmer que ce moment OU nous somrnes est, au creux de la nuit, celui de la perditi-
on la plus grande, ou, au point du jour, celui, OU le solei! triomphe, etc. Non, c'est un
jour comme les autres, ou plutöt c'est un jour qui n'est jamais tout a fait comrne les
autres" (Foucault 1983b: 1267).
8 ,eroiser' und ,retraverser' sind mit ,kennenlernen' und ,nachvollziehen' übersetzt,
was mir nicht ganz angemessen erscheint.
104 fan Massehelein

damer 1960: 329); vielmehr erregt inzwischen jeder Bezug, jede Berufung
auf Erfahrung großen Argwohn. Dabei bezieht sich dieser Argwohn, der vor
allem durch einige poststrukturalistische Autoren wie Jean-Fran~ois Lyotard,
Jacques Derrida, Louis Althusser und auch FoucauIt selbst genährt ist, insbe-
sondere auf den selbst-evidenten Wert der Erfahrung und auf deren oft bean-
spruchte Unmittelbarkeit. Sich auf die Autorität von etwas, das man ,Erfah-
rung' oder sogar ,lebendige' oder ,prä-reflexive Erfahrung' nennt, zu beru-
fen, wird nicht nur als naiv, sondern auch als ideologisch disqualifiziert und
als Überrest längst vergangener Epistemologien verstanden. Im Gegenzug
wird daher immer wieder nicht nur auf die diskursive und konstruktive Natur
von ,Erfahrung' überhaupt hingewiesen, sondern auch darauf, dass eine Er-
fahrung immer zugleich selbst eine Interpretation ist, die ihrerseits interpre-
tiert werden muss. Nahezu uneingeschränkt gilt, dass Erfahrungen daher
nicht essentialisiert und verdinglicht werden dürfen (vgl. Jay 1998: 63). Ob-
wohl viel Kritiker durchaus zugestehen, dass wir das Wort ,Erfahrung' nicht
einfach aus unserem Vokabular streichen können, sind sie aber insgesamt
doch der Meinung, dass vielmehr der Diskurs, die Textualität, die Sprache
und die Machtsstrukturen eine Matrix bilden, aus der die Erfahrung hervor-
kommt (und in der die Erfahrung produziert wird) und nicht umgekehrt. Die
Kritik zielt daher immer auf jene Erfahrung, die als vermeintlich einheitlich,
holistisch, kohärent und anwesend oder präsent behauptet wird - und zwar in
zwei Formen: einerseits in der Form, die - in der Linie von Dilthey's Le-
bensphilosophie - Erfahrung mit der Unmittelbarkeit der gelebten, prärefle-
xiven Begegnungen zwischen Selbst und Welt verbindet (,Erlebnis'); ande-
rerseits in der Form, die - an eine bestimmte Bildungstradition anschließend
(Benjamin wie Buber) - Erfahrung als eine kumulative Weisheit betrachtet,
die durch die Zeit hindurch von der Interaktion zwischen Selbst und Welt
hervorgebracht wird und deren Einheit daher nur am Ende eines dialektisches
Prozesses projiziert werden kann. Beide Formen werden von den Kritikern
abgewiesen: so ist die Suche nach einer authentischen Erfahrung in ihren
Augen nur eine andere Version einer nostalgischen Sehnsucht nach einer
Anwesenheit und Unmittelbarkeit, die es nie gegeben hat und nie geben wird
(vgl. Jay 1998: 64).
Angesichts dessen ist es nicht unbedeutsam, dass Foucault - obwohl er
selbst durchaus auch zum genannten Kreis der Kritiker gehört - ,Erfahrung'
ganz anders zu bewerten scheint; seine vor allem von Bataille, Nietzsehe,
Blanchot und Klossowski inspirierten Überlegungen taugen daher vielleicht
dazu, einen Weg anzudenken, der uns an der inzwischen weitgehend steril
geworden Debatte zwischen denen, die an einer naiven Auffassung von Er-
fahrung festhalten wollen, und denen, die den Begriff derselben einfach ab-
weisen, vorbeiführen könnte und (sogar ,negative') Erfahrung zum Kern ei-
ner kritischen Pädagogik - vielleicht besser: einer ,e-dukativen Praktik' -
werden lassen könnte.
,Je viens de voir, je viens d'entendre' 105

2.
Ausgehend von und anschließend an die ausführlich zitierten Interviewpassa-
gen versuche ich, Foucaults eigenwillige ,Erfahrungsperspektive' in einigen
Schritten zu kommentieren:

(a) Ich beginne mit der Unterscheidung von ,Wahrheits-' und ,Beweisbü-
chern' von ,Erfahrungsbüchern'. Ein Wahrheitsbuch schreiben heißt ein
Buch zu schreiben, das informiert, feststellt, eine Wahrheit erkundigt; es ist
ein Buch, das versucht, über etwas zu informieren, etwas zu erklären, zu be-
weisen oder zu legitimieren. Ein Wahrheitsbuch schreiben impliziert insofern
eine bestimmte Haltung (ein ,Ethos') und ,schreibt' sie vor, nämlich eine
Haltung, in der man sich den (An-)Forderungen der Wahrheit unterwirft, d.h.
dem ,Logos' eines bestimmtes Regimes der Wahrheit. Man wendet sich da-
bei an den Leser im Namen dieses ,Logos', zu dem man Zugang hat oder zu
haben beansprucht, man wendet sich an den Leser vor dem Hintergrund oder
gar im Namen eines Tribunals, eines Tribunals der Wahrheit, der Vernunft,
der Humanität oder der Wissenschaft. Wenn man ein Wahrheitsbuch
schreibt, dann nimmt man daher in einem gewissen Sinn die Position eines
Lehrers ein, von der aus man spricht und die ich - eine Unterscheidung von
Jacques Ranciere aufnehmend - einen wissenden oder gelehrten Meister ("un
maltre savant") nennen möchte (vgl. Ranciere 1986): das, was man solcher-
maßen schreibt, wird eigentlich Unterricht oder ,Lehre' (Erklärung, Beweis,
Information usw.), so dass diejenigen, an die man sich wendet, in die Position
eines Lernenden (eines Lehrlings, eines nicht oder Noch-nicht-Wissenden,
der gerade aus dem Buch Wissen bekommt) versetzt werden. Wahrheitsbü-
cher sind daher Bücher, die von einem Wissenden/Gelehrten - und sogar
(aber in einem bestimmten Sinne) ,Erfahrenen' - geschrieben werden und
unweigerlich mit einer, wie wir mit Foucault sagen können, ,pastoralen'
Haltung verbunden sind. Diese Haltung beinhaltet, sich in den Dienst eines
Regimes und seines Logos (z.B. die kommunikative Vernunft) zu stellen und
in dessen Namen Fragen und Sorgen aufzunehmen: ohne Erklärung kein Ver-
stehen, ohne Beweis und Argument keine Wahrheit. In dieser Haltung orien-
tiert man sich schreibend an einem ,Regime' und einem ,Tribunal' und rich-
tet sich also an einen Leser, der bekannt ist in dem Sinn, dass der Leser, an
den man sich richtet, einer ist, der sich demselben Regime und Tribunal unter-
wirft (oder unterwerfen soll). Erst die Unterordnung beider unter ein Tribunal
erlaubt sowohl dem Leser als auch dem Autor, ,jemand' zu sein, so dass beide
im Horizont dieses Tribunals nicht nur immer dieselben bleiben, sondern ihre
Position, ja ihre Subjektivität allererst erlangen können. Zugleich befinden sich
beide, wie angedeutet, in einer, Unterrichtssituation " indem sie die Positionen
von Lehrenden und Lernenden einnehmen bzw. erhalten. Diese Positionen sind
Positionen in einem pastoral-pädagogischen Führungsregime, das einem be-
stimmten Logos folgt und entlang diesem regiert, indem es eine, Ungleichheit'
zwischen beiden installiert, die sich nur mit Blick auf den Logos dieses Tribu-
106 fan Massehelein

nals bestimmen und legitimieren lässt und sich entlang der Unterscheidungen
,wissendlnichtwissend', ,erwachsen! unerwachsen " ,mündig/unmündig', ,auf-
geklärt/unaufgeklärt' und ,menschlich/unmenschlich' bzw. ,human/nichthu-
man' organisiert (vgl. Masschelein 2004; Simons 2004).
Ein Wahrheitsbuch - als Lehrer - schreiben heißt daher, ausgehend von
einer bestimmten Position in einem Regime - einem ,Sicht-' und ,Sagbar-
keitsregime', einem bestimmten ,Wahrheitsregime' - zu schreiben, und im-
pliziert damit zugleich, auch die Position der Leser als diejenige zu definieren
und zu legitimieren, die der Sorge, der Erklärung, des Beweises, der Erzäh-
lung oder der Emanzipation bedarf. Dieses Schreiben ist ein ,komfortables'
Schreiben in dem Sinne, dass es ein geschütztes Schreiben ist, das seine Au-
torität erhält (oder verliert) von einem Kode (dem Gesetz, dem Logos des
Tribunals oder des Regimes) und dessen Inanspruchnahme. Sicherlich, man
kann besser oder schlechter schreiben, mehr oder weniger Wissen haben etc.,
aber die pastorale Position, d.h. das jeweilige Subjektsein innerhalb des Re-
gimes, ändert sich nicht.
Dies gilt - wie angedeutet - auch für den Leser eines Wahrheits- und
Beweisbuches: er nimmt nicht nur eine bestimmte Position innerhalb des pas-
toralen Regimes ein, sondern auch eine bestimmte Haltung, indem er das,
was er liest, als Ausdruck von Wahrheit (Vernunft, Wissenschaft, Humanität
etc.) betrachtet, auf ein bestimmtes Tribunal bezieht und es von dort beurteilt.
Wie der Autor selbst setzt sich auch ein solcher Leser nicht aufs Spiel; mit
Blanchot ließe sich dieser Leser daher kennzeichnen durch "son manque de
modestie, son achamement a vouloir continuer aetre le meme face a ce qu'il
lit, a vouloir etre un homme qui sait lire en general [seinen Mangel an Be-
scheidenheit, sein Festhalten am Willen, angesichts dessen, was er liest, der
Selbe (oder Gleiche) zu bleiben, [schließlich] am Willen, ein Mensch zu sein,
der - ganz allgemein -lesen kann]" (Blanchot 1955: 263).
Unmißverständlich weist Foucault diese Auslegung seiner Bücher zu-
rück: "Ich lehne das Wort ,Lehre' ab. [... ] Meine Bücher haben diesen Wert
gerade nicht" (Foucault 1996: 33). Seine Bücher sind gerade keine ,Wahr-
heitsbücher' , sondern ,Erfahrungsbücher' - was aber heißt das?

(b) Zunächst sei zugestanden, dass es Erfahrungsbücher gibt, die eigentlich


eine Art Wahrheitsbücher sind (vgl. Simons 2004): es sind Bücher, in denen
von einer persönlichen Erfahrung berichtet und die Tiefe der (eigenen) Seele
offen gelegt wird; solche Bücher sind ihrerseits oft Beweisbücher, sollen sie
doch eine bestimmte Position - die eigene Position -durch den Bezug auf ge-
gebene ,Erfahrung' legitimieren und andere in eine bestimmte Wahrheit ein-
führen bzw. sie auf diese verpflichten. Von ,Wahrheits-Lesern' werden sol-
che Bücher als Darstellung von persönlichen Erfahrungen eines Autors be-
trachtet, die etwas über den Autor aussagen und daher nur auf diesen Autor
bezogen verstanden und bewertet werden.
Auch wenn Foucault selbst einräumt, dass keines seiner Bücher nicht
auch aus einer unmittelbar persönlichen Erfahrung geschrieben sei, so han-
,Je viens de voir, je viens d'entendre' 107

delt es sich dennoch bei seinen Büchern nicht darum, persönliche Erfahrun-
gen zu repräsentieren und ins Wissen zu übertragen. Die Erfahrungsbücher,
die Foucault zu schreiben versucht hat, sind gerade nicht dieser Art, sie sind
keine - auch keine persönliche - Lehre ("enseignement"); vielmehr sind sie
von einer ganz anderen Haltung aus geschrieben, die nicht die komfortable
Haltung des Lehrers oder ,Pastors' ist. Es ist die Haltung einer ,exposition',
eines , Sich-Aussetzens " die erst erlaubt, etwas anderes zu vernehmen (und
zu erfahren) und so die Gedanken, den Blick zu , befreien', so dass der Autor
(und auch Leser dieser Bücher) nicht nur anderes, sondern insgesamt anders
sehen und denken und sich selbst ändern kann. Ein solches Schreiben ist für
Foucault eine philosophische Übung in dem anfangs genannten Sinne, eine
Art des ,Sich-Schreibens': "ecriture de soi" (Foucault 1983a). Es ist eine
Operation, die auf die Seinsweise des Subjekts selbst ausgeübt wird, eine
Übung, in welcher die Grenzen der Subjektivität (und der Objektivität) auf
dem Spiel stehen. Schreiben heißt, sich selbst auszusetzen, damit ein ,Wei-
terschauen', ,Weiterdenken' oder ,Andersdenken' überhaupt möglich wer-
den. Es erfordert als philosophische Übung eine Haltung, in der man sich
konfrontiert (und konfrontieren lässt) mit dem, was ich die eigene ,Kindheit'
nennen möchte: mit dem Nicht-Zusammenfallen mit sich selbst als einem
Subjekt innerhalb eines pädagogischen Führungs- und Wahrheitsregimes,
dem Nicht-Zusammenfallen von Lehrer und Lernender mit sich selbst (vgl.
Masschelein 2004; Simons 2004). ,Kindheit' - ,infans' - ist so der Name ei-
ner Potentialität, die nicht in Aktualität aufgeht und nie darin aufzugehen
vermag; sie stellt vielmehr die Grenze dieses pädagogischen Führungs- und
Wahrheitsregimes dar. In ihr als Potentialität gibt es keine Ungleichheit wie
im pädagogischen Regime, sondern eine bestimmte Gleichheit. Ein Erfah-
rungsbuch - als verändernde Erprobung seiner selber - schreiben (und lesen)
meint daher, sich in einem fremden Wissen - ,l'inconnu', wie Bataille (vgl.
Bataille 1954) sagt - zu versuchen; es ist ein ungeschütztes, ausgesetztes
Schreiben (und Lesen), insofern es einen Verzicht beinhaltet sowohl auf die
Führung durch Religion, Gesetz, Wissenschaft etc. als auch auf die Hingabe
zur Realisierung der tiefen Wahrheit des Selbst (vgl. Dreyfus 1990: 58). Bei
diesem Schreiben (und Lesen) fragt man sich weniger, ob es wahr oder falsch
ist; vielmehr setzt man sich einem fremden Wissen aus und begibt sich in die
"Bresche der Kommunikation", wie Bataille dies - mit Bezug auf die Ekstase
- nennt: ,,11 n'y a plus sujet-objet, mais ,breche Mante' entre l'un et l'autre
et, dans la breche, le sujet, l'objet sont dissous, il y a passage, communicati-
on, mais non de I'un a l' autre: l' un et l' autre ont perdu I' existence distincte
[Es gibt kein Subjekt-Objekt, sondern nur eine ,offene Bresche' zwischen
dem einen und dem anderen und in dieser Bresche gehen das Subjekt und das
Objekt unter, es gibt Übergang und Kommunikation, aber nicht vom Einen
zum Anderen: der Eine und der Andere haben ihre unterschiedene Existenz
verloren]" (Bataille 1954: 74).
Ein ,Erfahrungsbuch' schreibt man, weil man nicht weiß, was man denkt
und denken soll; es geht nicht darum, das vorher bereits Gedachte (wieder
J08 Jan Massehelein

und wieder) auszudrücken, sondern darum, sein ,Gesicht zu verlieren'. So


schreibt Foucault in der ,Archäologie des Wissens': "Plus d'un, comme moi
sans doute, ecrivent pour n'avoir plus de visage. Ne me demandez pas qui je
suis et ne me dites pas de rester le meme: c'est une morale d'etat-civil; elle
regit nos papiers. Qu'elle nous laisse libres quand il s'agit d'ecrire [Mehr als
einer schreibt wahrscheinlich wie ich und hat schließlich kein Gesicht mehr.
Man frage mich nicht, wer ich bin, man sage mir nicht, ich solle der gleiche
bleiben: das ist eine Moral des Personenstandes; sie beherrscht unsere Papie-
re. Sie soll uns frei lassen, wenn es sich darum handelt, zu schreiben]"
(Foucault 1969: 28). Dieses Schreiben, um kein Gesicht mehr zu haben, ist
einerseits ein ent-subjektivierendes Schreiben; es ist ein ,untergehendes'
Schreiben (in dem doppelten Sinn, den ,ondergaan' im Niederländischen hat:
,sterben' wie ,erleiden' oder ,erfahren'): ein Schreiben, in dem man erleidet
und untergeht, worin die Subjektivität (und Objektivität) untergeht, genauer:
in dem der Lehrer und die Lehre wie auch der Lernende untergehen, , wir'
ausgesetzt sind und einander gegenüber stehen als gleiche, nicht als Indivi-
duum gegenüber einem Individuum, als ältere Generation gegenüber der jün-
geren, sondern als ein bestimmtes, wir', das diese ,Aussetzung' teilt. 9 Ande-
rerseits aber macht man in diesem , untergehenden Schreiben' auch "eine
persönliche Erfahrung" (Foucault 1996: 26), die mit dem Einsatz der ganzen
Person zusammenhängt; sie impliziert die Möglichkeit, dass sich etwas neues
denken und sehen lässt, dass sich eine Objektivität über ein Wahrheitsregime
hinaus manifestieren und aufdrängen (oder eindrängen) kann. Dieses Schrei-
ben bietet keinen befreienden Blick, sondern befreit den Blick; es bietet die
Möglichkeit zu sehen, wie wir sehen, und zeigt so eine, Wahrheit' an der
Wahrheit innerhalb eines Regimes vorbei. In einem gewissen Sinn bietet es
die Möglichkeit, einen Blick auf die Welt zu werfen, ohne von Ideologien
beeinträchtigt zu sein.

(c) Ein Erfahrungsbuch zu schreiben ist eine e-dukative Praktik, die die
Möglichkeit eröffnet, den Wörtern ein neues Leben einzuhauchen und den
Blick zu befreien. Aufgrund dessen ermöglicht sie ein bestimmtes ,Wahr-
sprechen': "Je viens de voir, je viens d'entendre" (Foucault 1994 ll: 238).
Versteht man , viens' von , venir' und übersetzt es mit , kommen', dann ist in
,Erfahrung' - wie auch im Deutschen - dieses Moment der Bewegung, der
Verschiebung - ,ich bin dazu gekommen zu sehen und zu hören' - mitgesagt.
Wichtig scheint mir dabei zweierlei: zum einen bezeichnet das ,Sich-
Aussetzen' oder das ,Ausgesetzt-Sein' keine (universale) ,Struktur', sondern
eine Möglichkeit; zum anderen aber ist es unverzichtbar, dass wir eine be-
stimmte Arbeit ausführen müssen, damit wir ausgesetzt sein können, damit

9 Und wie schön ist übrigens Foucault's Beschreibung dieses Untergangs der ,Lehre'
und der Lehrer, am Beispiel der ,Lehre' von Magritte's ,Ceci n'est pas une pipe'. Dies
aber ist ein unkomfortables Moment, in dem ein pädagogisches Regime ausser Kraft
gesetzt wird.
,Je viens de voir, je viens d' entendre' 109

wir aufmerksam sein können und uns etwas , widerfahren' kann, so dass die
Wörter eine neues Leben bekommen und wir (anders) ,sehen' können. In der
Tat müssen wir uns selbst disziplinieren, aber nicht als Unterwerfung unter
ein Tribunal (oder als Objektivierung im Lichte eines Tribunals), sondern
durch bestimmte Übungen, die erlernt und ausgeübt werden müssen, damit
wir überhaupt erfahren können.
Erfahrungsbücher lenken die Aufmerksamkeit auf etwas, was sichtbar
ist, aber wofür wir bisher keine Augen hatten. Auch wenn diese Aufmerk-
samkeit mit abhängig ist von der Art und Weise, in der diese Bücher ge-
schrieben werden, so ist doch die Haltung gegenüber dem Buch entscheidend
- um sie geht es, an ihr muss gearbeitet werden: sie ist, wenn auch keine pas-
torale, so doch eine bestimmte Form der Askese. Die Askese ermöglicht und
produziert ein Erfahrungssubjekt, ein Subjekt, das sich um die Welt (be-)
kümmert und ihre Erprobung versucht; diese Befreiung des Blicks und der
Gedanken erfordern Übung und Akzeptanz des Lebens bis in den Tod hinein.
E-dukative Praktiken sind Praktiken des , Sich-Aussetzens , und dienen
der Vorbereitung auf eine Erfahrung. Das ,Subjekt' solcher Praktiken, sol-
cher Erfahrungen, das Erfahrungssubjekt, das kein Erkenntnissubjekt ist,
kann aber nur ein widersprüchliches, ein paradoxes Subjekt sein: es ist ers-
tens paradox, nicht weil es Subjekt und Objekt (von Erfahrung) zugleich ist,
sondern weil es sich aufhält zwischen zwei Logiken, der Logik der Ausset -
zung (,exposition') (Gleichheit) und der des ,Unterworfenseins' (Ungleich-
heit in einem Regime). Es ist aber auch zweitens ein paradoxes Subjekt, weil
es aktiv ist, um passiv zu werden.
Der e-dukativen Praktik des Schreibens geht keine Unterwerfung unter
ein Regime oder Tribunal voraus; vielmehr bildet diese genau den Einsatz
und nicht den Ausgangspunkt des Schreibens. Ein solches Schreiben bewegt
sich außerhalb oder an den Grenzen eines Führungs- und Wahrheitsregimes
mit seinen bestimmten Positionen; es ist selbst ausgesetzt, ,ex-positioniert'
und führt uns darin nach außen, d.h. in die ,Welt' als einem öffentlichen
Raum, der nicht jemandem bereits zugeeignet ist und keine (zu-)geeignete
Positionen kennt: ein Land für jeden und niemand, ein Niemandsland. Dieses
Land hat keinen Zugang, keine Eingangstür und ist auf keiner Karte zu fin-
den; es fordert jedoch eine Anstrengung, um erreicht zu werden: eine be-
stimmte Sorge um sich selbst.

(d) Das Schreiben eines Erfahrungsbuchs ist deshalb eine Praktik, in der man
sich um sich selbst sorgt und sich zu sich selbst und anderen in einer be-
stimmten Weise verhält. Diese Selbstsorge ist aber nicht eine Introspektion
oder Erforschung der eigenen Seele, sondern eine Untersuchung der, Welt' -
eine Untersuchung, in der man selbst auf eine solche Weise ,anwesend' ist,
dass man einerseits ausgesetzt ist und deshalb untergehen, sich verlieren
kann, andererseits aber in einer besonderen Weise ,aufmerksam' ist, so dass
man ,Wahrheit' sprechen kann, eine Wahrheit, die nicht die Unterwerfung
unter ein Tribunal erfordert und dennoch einen ,Effekt' beim bzw. im Leser
110 fan Massehelein

haben kann. So formuliert Blanchot, den Foucault zustimmend zitiert, "que la


critique commence par l'attention, la presence et la generosite [dass die Kri-
tik mit der Aufmerksamkeit, der Anwesenheit und der Generosität anfangt]"
(Foucault 1979: 762).
Aufmerksam sein aber heißt, sich in Übungen zu begeben, die den Wil-
len, sich einem Wahrheitsregime zu unterwerfen, sowie die Energie, mit der
sich das Subjekt (als Erkenntnissubjekt) in den Objekten spiegelt (projiziert),
zu neutralisieren oder auszuschalten verhelfen sollen. Diese besondere Auf-
merksamkeit und ,Achtsamkeit' impliziert und ermöglicht eine ,Anwesen-
heit', die das Subjekt-Sein ins Spiel bringt und die Erwartung eines, Vorteils'
(Ewald; vgl. Fn. 1) aufschiebt. Mit ihr ist ein Schreiben verbunden, das sich
auf solche Art und Weise zum Leser verhält, dass dieser nicht in eine abhän-
gige, unterworfene Position dem Schreiber gegenüber versetzt wird: es ist
zwar das Schreiben einer Wahrheit (einer Wahrheit außerhalb eines Regimes
und deshalb vielleicht auch bloß eine Fiktion), aber es ist keine Wahrheit im
Sinne eines Tribunals, sondern eine ,Exposition' des eigenen Denkens und
Sehens. Ein Schreiben, das Effekte hat - und Foucault weist darauf hin, dass
seine Bücher immer eigentümliche Effekte hatten -, aber nicht zum Vorteil
des Autors. Es geht also weniger darum, dass der Leser überzeugt, in eine be-
stimmte Richtung gelenkt wird oder eine bestimmte Meinung bekommt; in
diesem Sinn ist es ein ,generöses Schreiben', ein Schreiben ohne (eigenen)
Vorteil. Vielmehr ist es eine Grenzerfahrung, die immer zugleich ,mich' und
, uns' ins Spiel bringt.

(e) Wenn Foucault schließlich dieses Schreiben und Lesen als eine Grenzer-
fahrung, als eine ,negative' Erfahrung bezeichnet, dann hat das auch damit zu
tun, dass es ein gefährliches Unternehmen ist, insofern es - als ,Fahrt' - ohne
Garantie, wieder nach Hause zu kommen, auskommen muss; mehr noch: eine
Erfahrung ist immer etwas, aus dem man verändert hervorgeht, und das auf
eine unwiderrufliche Weise. Gerade hierin liegt die Negativität einer jeden
Erfahrung. Sicherlich, wir sollten uns davor hüten, diese Grenzerfahrungen
zu dramatisieren, aber wir sollten sie sicher auch nicht verharrnlosen. lO

10 Vgl. dazu auch Munier: "Il y a d'abord l'etymologie. Experience vient du latin experi-
ri, eprouver. Le radical est periri, que I' on retrouve dans perieulum, peril, danger. La
racine indo-euorpeenne est PER a laquelle se rattachent I' idee de traversee et, secon-
dairement, eelle d'epreuve. En gree, les derives sont nombreux qui marquent la traver-
see, le passage: peirö, traverser; pera, au-dela; peraö, passer a travers; perainö, aller
jusqu'au bout; peras, terme, limite. Pour les langues germaniques on a, en ancien haut
allemand, faran, d'ou sont issus fahren, transporter et führen, conduire. Faut-il y
ajouter justement Erfahrung, experience, ou le mot est-il a rapporter au second sens de
PER: epreuve, en ancien haut allemand, fara, danger qui a donne Gefahr, danger et ge-
fährden, meUre en danger ? Les eonfins entre un sens et l'autre sont imprecis. De
meme qu'en latin periri, tenter et periculum, qui veut d'abord dire epreuve, puis ris-
que, danger. L'idee experience comme traversee se separe mal, au niveau etymologi-
que et semantique, de eelle de risque. L'experienee est au depart, et fondamentalement
sans doute, une mise en danger" (Muruer, zit. nach Lacoue-Labarthe 1986: 30-31).
,Je viens de voir, je viens d' entendre' 111

Bündelt man die verschiedenen Momente, dann lässt sich vielleicht zeigen,
dass das Schreiben (und Lesen) eines Erfahrungsbuchs ein Denken ist, das
eher in der Stille arbeitet und ein ,Versuch' ist, sich selber in seinem Sein ei-
genhändig aus der Hand zu geben, sich selbst zur Frage zu machen; gerade
weil dieses Schreiben eine Tätigkeit verlangt (und nicht einfach mit Passivität
und Unterordnung gleichgesetzt werden darf), kann Foucault es eine nicht-
pastorale, allemal nicht-christliche Askese, eine Übung und ein Ethos nennen
und als ,Akzeptieren' (Akt-zeptieren) auslegen: dieses ,Akzeptieren' ist nicht
die Akzeptanz der Grundlosigkeit unserer Existenz als Struktur unseres
Seins, sondern ein Akzeptieren, das die Struktur unserer Subjektivität genau
aufs Spiel setzt. Was dabei passieren kann, ist nicht, dass wir um noch eine
Erfahrung reicher werden, dass wir etwas mehr wissen, sondern dass wir je-
mand anders werden und geworden sind, anders in der Welt und zur Welt
stehen und das, was vorher war, nicht mehr bewerten können, nicht mehr ein-
fach aufnehmen können. Erfahrung ist daher nicht etwas, was bloß passiert,
sondern immer etwas, was ,uns' passiert. Wir leben in einer Welt, wo un-
glaublich viel passiert, und auch unser Leben ist voll mit Ereignissen, aber
uns scheint wenig zu passieren: was wir wissen, was wir sehen, was für uns
zugänglich ist, scheint uns dennoch nicht zu ändern. Eine ,Grenzerfahrung'
ist aber genau jene Erfahrung, die uns (ver-)ändert, d.h. etwas und (in) uns
zum Sterben bringt. Wir können sterbend schreiben und schreibend sterben,
ohne dass uns ein Faden mit der Vergangenheit verbindet. Wir können uns
selbst, unserer Subjektivität etwas Unwiderrufliches antun. Damit eng ver-
bunden ist die Weigerung Foucaults anzunehmen, dass es etwas gäbe, was als
eine (von der Philosophie, Anthropologie etc. enthüllte) ,universale Struktur
der menschlichen Existenz' (wie die ,Grundlosigkeit', das ,Trauma des An-
deren' oder die Verantwortung und das ,Fatum des Daimon') gelten könne,
woran wir unwiderruflich oder ,wesentlich' hingen. Es ist dieser (universale)
Gedanke, der immer wieder neu dazu taugt, uns zu regieren und die pastorale
Sorge derer zu legitimieren, die um diese vermeintliche Struktur wissen und
sich dadurch zu immunisieren wissen. Die Möglichkeit von Grenzerfahrun-
gen zu behaupten heißt daher auch zu behaupten, dass es möglich ist, sich
dem ,Regiert-werden' (und dem ,Geführt-werden') zu entziehen, d.h. dass
Entunterwerfung durch Entsubjektivierung möglich ist. Es heisst zu behaup-
ten, dass die Erfahrung ihre eigene Autorität ist, aber zugleich auch anzuer-
kennen, dass die Erfahrung - auch wenn sie ihre eigene Autorität ist - auf
keinen externen Kriterien ,gründet' wie Vernunft, Wissenschaft oder gar
Theologie; sie ist eine paradoxe Autorität, die sich selber immer wieder un-
terminiert.
Anders formuliert: es geht grundsätzlich und radikal um eine negative
Erfahrung, die nicht einfach wieder positiv gewendet werden kann. Daher
verbietet es sich, das Experiment der Grenzüberschreitung (im Schreiben, im
Lesen, im Reisen etc.) als eine heroische Suche nach einer dionysischen Ein-
heit, einer Versöhnung mit seinem inneren ,Daimon', d.h. als das singuläre
Fatum, das uns zugeteilt wäre, zu betrachten. Zugleich verbietet es sich, die-
112 Jan Masschelein

ses Experiment oder diese Grenzarbeit einfach als singuläre Übung einer al-
lein ästhetischen Selbstformierung und Selbststilisierung zu verstehen; ein
solcher Versuch insistiert zu sehr auf ,Erfahrung' im Sinne einer ,post-facto-
Fiktion' und privilegiert die Selbstbildung, so dass die ,unmittelbar gelebte'
Erfahrung, die ,uns' und damit das Negative und ,Gemeinsame' ins Spiel
bringt ll , heruntergespielt und verharmlost wird und damit genau das Faszi-
nierende der Grenz-Erfahrung neutralisiert wird. Eine solche Perspektive wä-
re der Versuch, eine Art Bildungsgeschichte daraus zu machen; doch sowohl
Bataille als auch Foucault anerkennen die Unmöglichkeit, aus dem eigenen
Leben ein (abgeschlossenes) Werk, eine Bildungsgeschichte, eine ästhetisch
geformte Einheit oder bedeutungsvolle Identität zu ,machen'. Das Leben
kann nicht gemacht werden. Das ,Ich' zur Frage zu ,machen' heißt vielmehr,
eine Übung des ,Sich-Aussetzens', in der man sich verlieren kann, zu voll-
ziehen. Die Sorge um sich selbst ist also keine Sorge um die eigene Identität,
sondern eine Sorge, die bezogen auf das ist, was Foucault mit ,Gesichtsver-
lust' bezeichnet hatte.

3.
Ein Erfahrungsbuch bietet keinen Unterricht, keine Lehre; es ist eine ,öffent-
liche Geste', eine Einladung, sich selbst zu erforschen, ein Wort und eine Ges-
te, die in eine Erfahrung (und nicht in ein Reich der Wahrheit) einzuführen
und zu verhindern sucht, dass wir bleiben, wer wir sind; es ist ein Buch, das
nicht darauf gerichtet ist, zu erklären oder zu verstehen, wie es wirklich oder
wahrhaft ist und wie wir die Gegenwart richtig lesen und verstehen können.
Ein Erfahrungsbuch schreiben oder lesen meint daher, sich auszusetzen
als ,Infans', d.h. in einem gewissen Sinne als ein Wesen ohne Sprache, dem
die Sprache erst gegeben wird und gegeben werden muß. In e-dukativen
Praktiken wird die Sprache (neu) gegeben und empfangen. Aber das Geben
und Empfangen der Sprache als Wörter bedeutet, dass wir nicht wissen und
nicht wissen können, was wir geben und was wir bekommen - wie es Anto-
nio Porchia formuliert hat: "Was die Wörter sagen, bleibt nicht. Es sind die
Wörter, die bleiben, die dauern, weil die Wörter dieselben (identisch) blei-
ben, aber was sie sagen, ist nie dasselbe (identisch)" (Porchia 1989: Ill).
Das bedeutet auch, dass die geschriebenen und gelesenen Wörter uns aus
dem Selben hinausführen können, und wir herausfinden müssen, was sie
(uns) sagen oder fragen. Der Autor als ,E-ducator' gibt Wörter, er zeigt etwas
und ,macht' aufmerksam. Edukative Praktiken bieten keine Wahrheit, son-

11 Vgl. dazu auch Bataille: ,,,Soi-meme', ce n'est pas le sujet s'isolant du monde, mais
un lieu de communication, de fusion du sujet et de l'objet [Das Selbst, das ist nicht
das Subjekt, das sich von der Welt trennt, sondern ein Ort von Kommunikation, von
Verschmelzen von Subjekt und Objekt]" (Bataille 1954: 21).
,Je viens de voir, je viens d'entendre' 113

dem Wörter als pure Mittel, als Medium, wodurch uns etwas passieren kann.
In diesem Kontext erscheint der Meister (,E-ducator') nicht als eine pastorale
Figur, die im Namen von etwas spricht, sondern als jemand, der (ohne Ge-
sicht) im eigenen Namen spricht und schreibt, wobei sein Sprechen reines
Mittel ist und kein Mittel für einen Zweck. Der Leser verwendet das Buch in
einer Denkübung, um sich selbst zu transformieren, wobei diese Denkübung
nicht ein Spielen mit Gedanken ist, sondern eine Übung, in der Gedanken das
Individuum aufs Spiel setzen.
Wie wir gehört haben, ist das, was Foucault unter Erfahrung versteht, vor
allem eine negative Erfahrung, eine ,Grenzerfahrung', weil sie die Grenzen
der kohärenten Subjektivität, wie sie im alltäglichen Leben, im Führungsre-
gime funktionieren, überschreitet. Foucaults Darstellung von Erfahrung ist
aber paradox: einerseits verwendet er einen pro-aktiven Begriff (das Subjekt
von sich losreißen), andererseits benutzt einen reaktiven Begriff: Erfahrung
als eine post facto Rekonstruktion dieser Aktion. Eine Erfahrung, so schreibt
er, ist "immer eine Fiktion, etwas Selbstfabriziertes, das nur besteht, nachdem
es gemacht worden ist; es ist nicht das, was , wahr' ist, sondern was eine
Realität gewesen ist" (Foucault 1996: 30; vgl. Foucault 1994 IV: 864). Auch
wenn Foucault beansprucht, dass seine Bücher immer "aus einer unmittelba-
ren persönlichen Erfahrung heraus geschrieben" sind (Begegnung mit dem
Wahnsinn, den Kranken etc.) (Foucault 1996: 32), so zielen sie vorrangig
darauf, als intellektuelle Übungen auch neue Erfahrungen zu produzieren;
wenn es daher immer auch um Selbstklärung geht, so ist das Schreiben doch
kein Selbstzweck: ,,Eine Erfahrung ist etwas, was man ganz allein macht und
dennoch nur in dem Maße uneingeschränkt machen kann, wie sie sich der
reinen Subjektivität entzieht und andere diese Erfahrung - ich will nicht sa-
gen: exakt übernehmen, aber sie dennoch kreuzen und schneiden können"
(ebd.: 33). Es geht also um einen paradoxen Begriff von Erfahrung, der sich
nicht linear ausformulieren lässt. Aber eines scheint klar zu sein: Erfahrung
kann nicht auf Diskurs reduziert werden, das ist es, was Foucault (mit Ba-
taille und anderen) uns zeigt.
Sicherlich, die von Martin Jay aufgelisteten Fragen bleiben bedeutsam
(vgl. Jay 1998); doch stellen sie sich nun in einem veränderten Licht: Ist es
ein Widerspruch, eine subjekt-vernichtende Erfahrung zu privilegieren und
zugleich objektiv und unpersönlich über Erfahrung zu sprechen? Können wir
letztlich die Transformation einer negativen in eine positive Erfahrung ver-
meiden? Gibt es vielleicht gar einen Wert dieses Verlustes? Und kann
Foucault überhaupt verhindern, dass Erfahrungsbücher verdinglicht werden
und eine positive Form bekommen? Kann aber negative Erfahrung mit ihrer
Abweisung von Autorität, Struktur und Kohärenz einen Boden für Instituti-
onsbildung darstellen? Oder ist sie eine anti-institutionelle Ideologie, die
dann doch unerwartet nah kommt an die liberale Auffassungen der negativen
Freiheit? All diese Fragen dürfen uns aber nicht davon abhalten zu sehen,
dass Foucault uns dazu zwingt, an der überaus sterilen Wahl zwischen naiver
Unmittelbarkeit einerseits und ebenso naiver diskursiver Vermittlung ande-
114 fan Massehelein

rerseits vorbei zu gehen. Die Grenzen der Grenz-Erfahrung sind, wie Jay sagt
(Jay 1998: 78), die Grenzen der Kritik heute. Damit aber wird Kritik der
zentrale Gegenstand einer neu zu erfindenden Pädagogik, weil diese Grenz-
Erfahrungen eine Form der Aufmerksamkeit, Anwesenheit und Generosität
erfordern und insofern genau den Einsatzpunkt von e-dukativen Praktiken
bilden. Solche Praktiken sind , unkomfortable' Praktiken, die uns zur , Welt'
führen und in ihr halten, indem sie unsere immunisierenden und immunisier-
ten Beziehungen zu uns selbst und zu anderen zugleich beleuchten und zer-
stören.

Literatur

Bataille, Georges (1954): L'experience interieure. In: <Euvres Completes. V. Paris: Galli-
mard, S. 6-190.
Blanchot, Maurice (1955): L'espace litteraire. Paris: Gallimard.
Dreyfus, Hubert L.lPaul Rabinow (1990): Was ist Mündigkeit? Habermas und Foucault
über ,Was ist Aufklärung?'. In: Erdmann, EvaIRainer Forst/Axel Honneth (Hrsg.):
Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. FrankfurtIMain und New York:
Campus, S. 55-69.
Ewald, Fran<;ois (1990): Die Philosophie als Akt. Zum Begriff des philosophischen Akts.
In: Erdmann, EvaIRainer Forst/Axel Honneth (Hrsg.): Ethos der Moderne. Foucaults
Kritik der Aufklärung. FrankfurtlMain und New York: Campus, S. 87-100.
Fimiani, Mariapaola (2002): Le veritable amour et le souci commun du monde. In: Gros,
Frederic: Foucault. Le courage de la verite. Paris: PUF, S. 87-130.
Foucault, Michel (1969): L'archeologie du savoir. Paris: Gallimard.
Foucault, Michel (1976): Histoire de la sexualiteI: La volonte de savoir. Paris: Gallimard.
Foucault, Michel (1979): Michel Foucault et L'Iran. In: Defert, DanieUFran<;ois Ewald/
Jacques Lagrange (Hrsg.): Dits et ecrits. II: 1977-1988. Paris: Gallimard Quarto, S.
762.
Foucault, Michel (1980): Entretien avec Michel Focault. In: Defert, DanieUFran<;ois
Ewald/Jacques Lagrange (Hrsg.): Dits et ecrits. II: 1977-1988. Paris: Gallimard
Quarto, S. 860-914.
Foucault, Michel (1983a) L'ecriture de soi. In: Defert, DaniellFran<;ois Ewald/Jacques La-
grange (Hrsg.): Dits et ecrits. II: 1977-1988. Paris: Gallimard Quarto, S. 1243-1249.
Foucault, Michel (1983b): Structuralisme et poststructuralisme. In: Defert, DaniellFran<;ois
Ewald/Jacques Lagrange (Hrsg.): Dits et ecrits. II: 1977-1988. Paris: Gallimard
Quarto, S. 1250-1276.
Foucault, Michel (1986): Sexualität und Wahrheit. Bd. 2. Der Gebrauch der Lüste. Frank-
furtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1990): Was ist Aufklärung? In: Eva ErdmannlRainer Forst/Axel Hon-
neth (Hrsg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. FrankfurtlMain
und New York: Campus, S. 35-54.
Foucault, Michel (1994): Dits et ecrits (vier Bände). Hrsg. von Defert, DaniellFran<;ois
Ewald IJacques Lagrange. Paris: Gallimard.
Foucault, Michel (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Tromba-
dori. FrankfurtIMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1996a): Diskurs und Wahrheit. Berkeley-Vorlesungen 1983. Berlin:
Merve.
Foucault, Michel (2001): L'Hermeneutique du sujet. Paris: Gallimard.
,Je viens de voir, je viens d' entendre' 115

Gadamer, Hans Georg (1960): Wahrheit und Methode. Tübingen: J.C.B. Mohr.
Hadot, Pierre (1989): Reflexions sur la notion de culture de soi. In: Michel Foucault philo-
sophe. Rencontre internationale, Paris 9,10,11 janvier 1998. Paris: Seuil, S. 261-269.
Hadot, Pierre (1995): Qu'est-ce que la philosophie antique? Paris: Gallimard.
Heidegger, Martin (1975): Unterwegs zur Sprache. Pfullingen: Neske.
Jay, Martin (1998): Cultural Semantics. Keywords of our time. Arnherst: University of
Massachusetts Press.
Lacoues-Labarthe, Pbilippe (1986): La poesie comme experience. Paris: Christian Bour-
geois.
Masschelein, Jan (2003): Trivialisierung von Kritik. Kritische Erziehungswissenschaft
weiterdenken. In: 46. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik, S. 124-141.
Masschelein, Jan (2004): L'eleve et l'enfance: apropos du pedagogique. In: Le Telemaque
(in Druck).
Porchia, Antonio (1989): Voces. Buenos Aires: Edicial.
Ranciere, Jacques (1986): Le maltre ignorant. Paris: Minuit.
Ricken, Norbert (2000): ,Aber hier, wie überhaupt, kommt es anders, als man glaubt'.
Kontingenz als pädagogische Irritation. In: Masschelein, JanlJörg Ruhloff/Alfred
Schäfer (Hrsg.): Erziehungsphilosophie im Umbruch. Beiträge zur Neufassung des
Erziehungsbegriffs. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 25-46.
Simons, Maarten (2004): De school in de ban van het leven. Een cartografie van het mo-
deme en actuele onderwijsdispositief (unveröffentlichte Dissertation an der Katholie-
ke Universiteit Leuven).
Zwischen Freiheit und Macht:
grundbegriffliche Sondierungen
Narbert Ricken

Die Macht der Macht - Rückfragen an Michel Foucault

"Nothing appears more surprising to those who consider human affairs with a philo-
sophical eye than the easiness with which the many are governed be the few."
DavidHume
Macht provoziert - immer noch. Auch wenn ,Macht' lebensweltlich wie theo-
retisch zunehmend Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen vermag, so ist deren
Auseinandersetzung doch immer wieder von enormen Vereinfachungen und ir-
reführenden Kontrastierungen durchzogen, die Begriffsdurchsicht wie Pro-
blemdurchstieg empfindlich beschweren: nicht nur, weil Popularität und Diffu-
sität eines Begriffs sich auch hier gegenseitig bedingen, so dass die vermeintli-
che "Evidenz des Phänomens" die grassierende "Unklarheit des Begriffs"
(Luhmann 1969: 149) nur verstärkt; auch nicht nur, weil auch der Begriff der
Macht als alltäglich fest verankerter Begriff der Dominanz lebensweltlicher
Bedeutungszuschreibungen nur selten zu entkommen vermag, so dass Versu-
che einer begrifflichen Präzision und systematischen Neujustierung gegenüber
der enormen Beharrungskraft eingewöhnter Bedeutungen oft bloß vergeblich
sind und weitgehend folgenlos bleiben; sondern vor allem, weil die alt einge-
wöhnte Einschätzung, "dass die Macht an sich böse ist" (Burckhardt 1949: 61),
immer noch deren Thematisierung ,unterfüttert' und so in zwar längst über-
holte, aber umso wirksamere Blockierungen verführt. Luhmanns gewohnt spit-
ze wie treffsichere Kennzeichnung - "Die Macht der Macht scheint im wesent-
lichen auf dem Umstand zu beruhen, dass man nicht genau weiß, um was es
sich eigentlich handele" (Luhmann 1969: 149) - mag daher einleuchten, lässt
aber auch leicht übersehen, dass Macht sich auch deswegen einer einfachen be-
grifflichen Fassung und Festlegung entzieht, weil deren Bedeutung von weit-
reichenden Vorverständnissen abhängt und sich - schließlich - nicht unabhän-
gig von menschlichen Selbstdeutungen erläutern lässt. Wenn aber das, was un-
ter ,Macht' verstanden werden kann, oft als irgendwie bekannt vorausgesetzt
wird und werden muss, dann lässt Macht sich gerade nicht gegenständlich the-
matisieren, sondern jeweilig nur interpretativ umreißen. Was also phänomenal
in den Blick genommen wird, hängt daher ab von dem, was konzeptionell unter
,Macht' verstanden wird, so dass gerade begrifflich-systematische Zugänge zur
Macht ebenso eine bedeutsame Rolle spielen wie umgekehrt begriffliche Un-
klarheit und Diffusion schwerwiegende Folgen nach sich ziehen.
120 Norbert Ricken

Es sind jedoch nicht nur semantische Schwierigkeiten, die den Begriff


der Macht vermeintlich unnötig - weil als klärbar unterstellt - belasten; auch
sein Gebrauch selbst erzeugt Turbulenzen, indem praktiziert (und bean-
sprucht) wird, was scheinbar bloß gegenständlich thematisiert oder gar neu-
tral abgebildet werden soll: wer analytisch von Macht spricht und mit ihr et-
was zu bezeichnen sucht, tut dies (fast) immer mit dem Anspruch, etwas ge-
rade nicht Offenkundiges, sondern bisher Unerkanntes aufzuzeigen oder auf-
zudecken und Verborgenes so zu entlarven. Damit aber macht - allein im
Vollzug - bereits Gebrauch von ihr, wer von Macht redet, so dass Macht sich
nie gänzlich vergegenständlichen lässt, sondern immer ein auch ,unsichtba-
res' Moment "eben an dem Akt selbst bliebe", "der sich auf sie als Gegen-
stand bezieht" (Röttgers 1990: 28); unweigerlich ist daher ,Macht' ein immer
auch normativ aufgeladener Begriff. Gerade weil sich aber ,symbolische
Macht' nicht trennscharf von der anvisierten ,Realität der Macht' destillieren
lässt, so gehören Offensichtlichkeit und Verbergung ebenso wie Verdächti-
gung und Entlarvung unweigerlich zum ,Spiel der Macht'; jeder Versuch,
hinter diese hier nur angedeuteten - sowohl semantischen als auch performa-
tiven - Schwierigkeiten zurückzukehren und Macht als entweder für Einsicht
undurchdringlich oder durch Definitionen operational festlegbar zu behaup-
ten, droht daher zu "einem derart simplizistischen Macht-Konzept [zu] führen
[... ], dass Machtanalisen dann kaum mehr der investierten Mühe wert wären"
(Röttgers 1990: 29).
Diesen Verwicklungen der Bedeutung von Macht in menschliche Selbst-
auslegungen soll daher ausdrücklich nachgegangen werden; diesseits defini-
torischer Engführungen, die insgesamt nur dazu verführen, das Problem der
Interpretativität von Macht zu verdecken und als vermeidbare Ungenauigkeit
zu diskreditieren, will ich daher die Frage nach der Macht als Frage danach
stellen, worauf ,Macht' als Antwort gelten kann. Während die Frage ,Was ist
Macht?' Macht als Gegenstand focussiert und eher einfache Antworten sug-
geriert, geht es mir vielmehr um das Problem, auf das (mit) Macht (ge)ant-
wortet (wird). Mit dieser Umstellung der Frage rückt zugleich das, was als
,Macht der Macht' verstanden werden kann, in den Blick, lässt sich doch
auch das ,Wie' der Macht erst dann verstehen, wenn - wenigstens etwas ge-
nauer - angebbar ist, was die Frage ist, worauf ,Macht' antwortet; zugleich
könnte dies auch - so hoffe ich - Einblick in das geben, was uns ,regierbar'
macht wie ebenso ,regieren' lässt. Solchermaßen daher die ,Macht der
Macht' zu befragen impliziert aber nicht nur einige begrifflich-konzeptionelle
Erkundungen (1) und theoretische Justierungen (2), sondern auch eine expli-
zit anthropologische Problematisierung von Macht (3), hängt doch das, was

Wenig erstaunlich ist daher, dass Macht trotz aller Dauerpräsenz nur selten einer prä-
zisen begriffsgeschichtlichen wie systematischen Analyse unterzogen worden ist, so
dass bis heute die neuzeitlich-klassische Begriffsfassung der Macht - als ein Einwir-
kungs- und Durchsetzungshandeln - weitgehend unangetastet tradiert werden konnte;
vgl. dazu insbes. Röttgers 1990 und Kobusch u.a. 1982 wie auch Faber u.a. 1982,
Galbraith 1987, Popitz 1992 und Imbusch 1998.
Die Macht der Macht - Rüclifragen an Michel Foucault 121

und wie Macht jeweilig verstanden und ausgelegt wird, immer auch davon
ab, als wer und wie Menschen sich jeweilig selbst verstehen. Meine Überle-
gungen zielen daher auch darauf, eine strukturale Matrix menschlicher
Selbstverständnisse zu skizzieren, vor der Macht - und dann auch Kritik -
systematisch rekonstruiert werden können.
Ein solches Vorhaben einer anthropologischen Problematisierung von
Macht sieht sich aber - insbesondere im Rückgriff auf Überlegungen Fou-
caults - vor einen doppelten Einwand gestellt: zum einen scheint mit der Jus-
tierung der Frage nach der, Macht der Macht' nun doch die Frage nach dem
,Was der Macht' wiederaufgenommen zu sein, deren Beantwortung Foucault
für ebenso uneinlösbar wie irreführend hielt und die er in der oft zitierten Be-
schränkung auf das vermeintlich klügere "Wie der Macht" (Foucault 1994:
251) folgenreich diskreditierte (vgl. Foucault 1994: 243ff. wie 1999: 22f.);
zum anderen stößt aber der Versuch, die Frage nach der ,Macht der Macht'
ausdrücklich anthropologisch aufzunehmen, gegenwärtig auf zumeist ent-
schiedenen Widerspruch: nicht nur, weil ,Anthropologie' wider besseren
Wissens immer wieder als unzulässige substantielle Aus- und Festlegung von
Menschen gelesen wird, die den erreichten ,Stand' historischer Anthropolo-
gie und Anthropologiekritik zu unterbieten scheint; sondern auch, weil ein
solcher machttheoretischer Zugriff als unvereinbar mit wichtigen Weichen-
stellungen Foucaults gilt, der in seinen vielfältigen historischen Studien auf
den zeit- und machtgebundenen Charakter einer jeden Anthropologie hinge-
wiesen und diese selbst mit der Etikettierung des ,anthropologischen Schlafs'
(vgl. Foucault 1971: 410) als Inbegriff moderner Bemächtigung zurückgewie-
sen hat, so dass Foucaults These - "Seltsamerweise ist der Mensch, dessen Er-
kenntnis in naiven Augen als die älteste Frage seit Sokrates gilt, [...] eine junge
Erfindung [...], eine Gestalt, die noch nicht zwei Jahrhunderte zählt" (Foucault
1971: 26) - inzwischen als Verdikt einer jeden zukünftigen Anthropologie
überhaupt gelesen wird. Den Wamungen Foucaults zum Trotz wird sich diese
Fragejustierung aber - insbesondere im Durchgang durch Foucaultsche Theo-
reme - als ebenso unvermeidbar wie (hoffentlich) fruchtbar erweisen; sie sei
daher auch als Rückfrage an Foucault formuliert (vgl. Butler 2003).

1.
Nimmt man seinen ersten Einsatz einer begrifflichen Erkundung der Macht in
einem (mehr oder weniger verbreiteten) Alltagsverständnis und versteht man
unter ,Macht' sowohl Kraft und Möglichkeit als auch Recht und Befugnis,
Einfluss zu nehmen und über andere bestimmen zu können (vgl. Duden 1983:
804), so lassen sich in dieser alltagsweltlichen Bedeutungsfassung insgesamt
sechs Momente als kennzeichnend ausmachen (vgl. Luhmann 1969 wie Rött-
gers 1990), deren Explikation ebenso unverzichtbar wie bereits problema-
tisch ist und daher in erhebliche philosophische Problemlagen führt:
122 Norbert Ricken

Macht wird erstens zumeist als eine substantial bestimmbare Habe, als ein
Gut oder Vermögen vorgestellt, das personal zugeschrieben wird, asymme-
trisch verteilt ist und insofern in einem Zentrum seinen Sitz hat bzw. von dort
ausgeht (Substantialität und Zentralität). Zweitens gilt Macht als Kausalität
und wird als eine spezifische Kraft der Bewirkung, als aus sich selbst Wirkun-
gen freisetzende Ursache verstanden, so dass Macht über fremdes Verhalten
nur dann gegeben ist, wenn dieses bei Wegfall der als Ursache unterstellten
Einwirkung anders abliefe (vgl. Luhmann 1969: 150). Dieser Kausalitätsfas-
sung von Macht entspricht drittens eine intentionalistische Auslegung von
Macht: meint Macht alltäglich Beeinflussung oder gar Bestimmung und Be-
schränkung anderer, so ist die Absicht des vermeintlich Einflussnehmenden
bedeutsam, um Verhalten als mächtiges Handeln erkennen zu können - denn
fehlt diese Absicht, scheint auch der Begriff der Macht unpassend (vgl. Luh-
mann 2000: 25f.), ist doch zufälliges Bewirken weder machtvoll noch in seiner
Kausalität eindeutig bestimmbar. Nur folgerichtig gilt Macht gemeinhin daher
als ein Mittel zu anderen Zwecken, so dass, wer sie als Zweck an sich selbst
praktiziert, mit moralischer Verurteilung rechnen muss. Damit eng verknüpft
ist viertens eine durchgängige Dualität und Oppositionalität in der Begriffslo-
gik: Macht wird nahezu ausschließlich als "Freiheitsbegrenzung" (Popitz 1992:
17) und Beeinträchtigung in ausdrücklicher Opposition zu Freiheit konzipiert,
damit in ein Kontinuum mehr oder weniger großer Unfreiheit gestellt und mit
Herrschaft, Gewalt und Zwang in Verbindung gebracht oder bisweilen sogar
synonym verwandt: Gewalt - so die beanspruchte Logik - ist dann nichts ande-
res als "gesteigerte Macht" (Schwartländer 1973: 869) und "die Erscheinung
der Macht oder die Macht als Äußerliches" (Hegel, zit. Röttgers 1990: 524),
während - umgekehrt - ,,Macht nichts anderes ist als gemilderte, nämlich
durch Recht eingeschränkte Gewalt" (Schwartländer 1973: 869). Solchermaßen
zwischen Gewalt und Herrschaft eingespannt gerät der Begriff der Machtfiinf-
tens in einen weitgehend politischen Kontext, der seinerseits wiederum auf den
Begriff abfärbt und Macht überwiegend als ein politisches Phänomen im enge-
ren nahelegt. Schließlich ist Macht sechstens mit einer spezifischen normativen
Problematik verbunden, die sich als ambivalente Bewertung auch begriffssys-
tematisch niederschlägt: zwar gilt sie generell als ein kaum verzichtbares und
(inzwischen) durchaus auch positiv anzustrebendes Gut, doch wird Macht
weitgehend dann doch als negativ aufgeladener Begriff verstanden, der zumeist
pejorative Bedeutung hat. Ihre Thematisierung nimmt daher allzu leicht immer
wieder den Charakter der Entlarvung, der ,Macht-Decouvrierung' an, so dass
der Begriff in seinem Gebrauch einen vermeintlich kritischen Anstrich erhält,
den auf sich beziehen zu können meint, wer von Macht - wie auch immer offen
- schon spricht. In dieser Ambivalenz aber scheint allemal zu gelten: wer die
Macht ,hat', spricht nur selten von ihr, so dass der, der von ihr spricht, immer
im Geruch steht, sie selbst erlangen zu wollen. Dies gilt auch begriffstheore-
tisch, so dass auch jede Machtdefinition mindestens performativ in das, wor-
über sie spricht, selbst verwickelt ist. Summarisch ließe sich daher zunächst
formulieren, dass Macht alltagsweltlich bedeutet, andere zu seinen eigenen
Die Macht der Macht - Rückfragen an Michel Foucault 123

Gunsten oder Zwecken beeinflussen und den eigenen Willen auch gegen ande-
re und deren möglichem Widerstand durchsetzen zu können. Dabei wird die
Möglichkeit der Durchsetzung fÜckgebunden an eine spezifische Fähigkeit
oder Essentialität - Autorität zum Beispiel - dessen, der die Macht - letztlich
dann doch zumeist als eine Form der Übermacht und des Zwangs - (inne) hat,
so dass Macht alltags sprachlich - auch in ihrer produktiven Bedeutung, etwas
bewirken und hervorbringen zu können - schließlich doch an Repression und
Gewalt gebunden bleibt. Folge machtvoller Durchsetzung ist dabei die dauer-
hafte (und gerade nicht bloß einmalige) Etablierung von Über- und Unterord-
nungsverhältnissen, die so auch als soziale Ungleichheit thematisierbar werden
und immer eine ökonomische Bedeutung enthalten; ihre Nähe zu Formen in-
stitutionalisierter Herrschaft ist damit angebahnt. Wie aber Macht alltagswelt-
lich erklärt, worauf sie gegründet und wie sie auf Menschen und ihre Konstitu-
tion fÜckbezogen wird, bleibt ebenso umstritten wie oberflächlich; auffällig ist
aber, dass eher schlichte Modelle - wie etwa ,Macht als Trieb' oder ,Willen
zur Macht' - die Auseinandersetzung dominieren (vgl. Thomae 1962) und die
Explikation jeweiliger anthropologischer Annahmen beschweren (vgl. Gehlen
1961).
Wenig erstaunlich ist daher, dass gerade jene Definition von Macht im-
mer wieder rekapituliert und sogar als "in der Tat glücklich" eingeschätzt
wird (Dahrendorf 1963: 569), die diese Elemente einer alltagsweltlichen Be-
deutung auch theoretisch zu reformulieren scheint und ihnen so eine gewisse
Weihe gibt. So kann seit gut 80 Jahren insbesondere Max Webers Definition
von Macht als soziologische Kerndefinition gelten, die nicht nur immer wie-
der zustimmend aufgenommen worden ist, sondern auch ,dogmengeschicht-
lich' von außerordentlicher Bedeutung ist und inzwischen zu vielfachen ,Pla-
giaten' geführt hat (vgl. Hradil 1980: 22 wie Hejl 2001: 398): "Macht be-
deutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen
auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance be-
ruht" (Weber 1972: 28). Machttheoretisch beunruhigend ist jedoch2, dass
Webers Definition zwar als begrifflicher Prototyp gelten kann, von ihm selbst
jedoch nicht weiter verfolgt worden ist: da "alle denkbaren Qualitäten eines
Menschen und alle denkbaren Konstellationen" jemanden "in die Lage ver-
setzen" können, "seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen"
(ebd.: 28-29), ist der Begriff der Macht "soziologisch amorph" (ebd.: 28) und
aufgrund seiner Willkürlichkeit wie Instabilität und nicht näher eingrenzba-
ren Abstraktheit wie Allgemeinheit "keine wissenschaftlich brauchbare Ka-

2 Dass dieser Begriff der Macht auch alltäglich nicht mehr ,nur' überzeugt, lässt sich an
einer interessanten Verschiebung desselben verdeutlichen: in ihrer Dokumentation
,Mythos Macht' bestimmen Reine und Meißle ,Macht' - dabei sprachlich zunächst an
Weber anschließend - als jenes Vermögen oder jene "Chance, den Willen anderer für
die Durchsetzung der eigenen Interessen zu nutzen". Bedeutsam daran ist, dass in die-
ser Umakzentuierung Macht und Freiheit gerade nicht mehr opposition al justiert sind
(vgl. dazu ReinelMeißle 2002), so dass schließlich eine ums Ganze verschobene Per-
spektive auf Macht eröffnet wird.
124 Norbert Ricken

tegorie" (ebd.: 542) - und wird von Weber direkt nach Einführung der Macht
als einem soziologischen Grundbegriff zugunsten des für ihn präziseren Be-
griffs der Herrschaft bereits wieder fallengelassen. "Herrschaft soll heißen" -
so Webers präzisierender Neueinsatz - "die Chance, für einen Befehl be-
stimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden" (ebd.: 28),
und markiert ein ebenso konkret fassbares und eingrenzbares wie institutio-
nell verlässliches Sozialverhältnis, "für einen Befehl Fügsamkeit zu finden"
(ebd.: 29). Auch seine Unterscheidung und Analyse der verschiedenen "Typen
der Herrschaft" (vgl. Weber 1972: 122-176) belegt die eigentümliche Unbe-
stimmtheit des Machtbegriffs als bloßem "Einfluß" (Weber 1972: 122) und
verstärkt die Tendenz, Formen der Herrschaft und Macht weitgehend (nur) un-
ter Legitimitätsaspekten zu diskutieren: "Dass dieser und nicht irgendein ande-
rer Ausgangspunkt der Unterscheidung gewählt wird, kann nur der Erfolg
rechtfertigen. [... ] Die Legitimität einer Herrschaft hat - schon weil sie zur Le-
gitimität des Besitzes sehr bestimmte Beziehungen besitzt - eine durchaus
nicht nur ,ideelle' Tragweite" (ebd.: 123). In dieser Pointierung aber verengt
Weber nicht nur das Problem der Herrschaft auf die - legitimitätstragende -
Relation von Befehl und Gehorsam qua Disziplin (vgl. Weber 1972: 29 wie
123 u.ö.); er verbaut sich auch die Möglichkeit einer theoretischen ,Kritik der
Macht', indem er überwiegend die Legitimitätsproblematik von Herrschaft als
einer notwendigen sozialen, durch Zustimmung getragenen Ordnung reflek-
tiert. Auch Webers methodologischer Ausgangspunkt seiner verstehenden ,So-
ziologie der Herrschaft' - den Kern alles Sozialen im ,subjektiv sinnhaften
Handeln' des einzelnen Individuums zu verankern (vgl. Weber 1972: 1 wie
6ff.) und insofern Gesellschaft nur als "Vergesellschaftung" (Weber 1972:
21f.) denken zu können - trägt zu einer weiteren begrifflichen Verengung
bei, welche die Bahnen der folgenden machttheoretischen Diskurse maßgeb-
lich vorgezeichnet hat (vgl. Käsler 1995, Breuer 1991 wie Imbusch 1998).
Kontrastiert man aber diese alltagsweltliche Bedeutungsfassung samt ih-
rem wissenschaftlichen Analogon in Gestalt des Weberschen Aufrisses mit
begriffsgeschichtlichen Befunden (vgl. Röttgers 1990), so lässt sich nicht nur
zeigen, dass in ,Macht' immer auch mehr und anderes thematisiert worden
ist, so dass die neuzeitliche Bedeutungsfassung als überaus problematische
Verkürzung sichtbar wird; vielmehr erweist eine solche ,Spurenkunde der
Macht' (vgl. Röttgers 1990: 32) auch, dass ,Macht' ohne Berücksichtigung
ihrer (historischen) Vieldimensionalität nur verkürzt konzipiert werden kann
und insofern einer weitreichenden Rekontextualisierung bedarf. Folgt man
daher den begriffs geschichtlichen Problematisierungen, die ,Macht' nicht nur
in ihrem Verhältnis zu ,Freiheit' justieren, indem sie zwischen Recht und
Gewalt (potestas) unterscheiden, sondern diese vor allem als Verhältnisbe-
stimmung von Möglichkeit und Wirklichkeit (potentia bzw. ,öDvuf.Lt<;') ent-
falten (v gl. Röttgers 1990 wie auch Ricken 2003: 48-53)3, so zeigt sich, dass

3 Bereits etymologisch verweist Macht auf Möglichkeit, indem es gerade nicht auf ,ma-
chen', sondern als ,maht' (ahd. wie mhd.), ,mah-ti-f' (germ.) oder ,mahts' (got.) auf
Die Macht der Macht - Rückfragen an Michel Foucault 125

,Macht' einer (normativen) Vereindeutigung sich entzieht - mit dem Effekt,


dass jeder Versuch der Verrechtlichung und (ursächlichen) Vergegenständli-
chung derselben unweigerlich in modallogische (und damit kontingenztheo-
retische) Überlegungen zurückführt. Im Rückgriff auf Röttgers Bilanzierung
des begriffsgeschichtlichen Befunds (vgl. Röttgers 1990: 491-504) seien da-
her einige (veränderte) Markierungen des Machtbegriffs benannt und den
Implikationen des Alltagsbegriffs gegenüber gestellt.
Macht lässt sich erstens nicht triftig als Substanz bzw. Effekt von Sub-
stanzen charakterisieren, sondern muss vielmehr ausdrücklich als Relation
gefasst werden, bezeichnet sie doch ein Verhältnis, das sich nicht zureichend
auf nur eine Seite - als Ursprung - zurückführen lässt: weder Angeborenes
noch Erworbenes, weder Reichtum, Besitz oder andere Privilegien noch in-
nerlich zugeschriebene Vermögen und Fähigkeiten begründen aus sich selbst
heraus jeweilige Macht und lassen sich linear als deren Quellen verstehen.
"Macht ist mithin nicht etwas, was jemand ,hat', sondern etwas, das er aus-
übt: Wir haben Macht nur als Macht über andere, ohne sie ist der Machtbe-
griff sinnlos" (Paris 1998: 7) - denn wäre Macht ein ,,habbares Etwas, dann
hätte man sie auch, wenn es keine Anderen gäbe und auch dort (in der Ein-
samkeit), wo es keine Anderen gibt" (Röttgers 2002: 391). Insofern mit
Macht zweitens aber immer ein soziales Verhältnis markiert ist, ist sie weder
in einem Zentrum zu verorten noch schlicht linear - Z.B. als einfache Einwir-
kung - zu erläutern, sondern muss als Kräfteverhältnis, als Netzwerk auch
konkurrierender und gegeneinander gerichteter Kräfte und damit als Kampf
von Macht und Gegenrnacht bzw. Widerstand verstanden werden, in die

, magan' (got.) zurückgeführt werden muss und daher vielmehr, können' und , vermö-
gen' bedeutet (vgl. Kluge 1999: 530 wie auch Grimm 1885: VI, 1397). Doch zeigen
sich bereits in der Auslegung und Erklärung von ,Können' erste Weichenstellungen,
die in verschiedene Bedeutungsfelder führen: während ,Können' zunächst (nur) eine
bestehende Möglichkeit anzeigt und damit einen (auch logischen) Relationsbegriff
markiert, lässt es sich auch als "Fähigkeit oder Kraft eines Handlungssubjekts" (Rött-
gers 1990: 51) auslegen und ,substantialisch' interpretieren. Dabei zeigt sich das eine
als (wenn auch vermeidbare) Konsequenz des anderen: denn lässt sich Möglichkeit
weder als ,bloße Möglichkeit' noch als ,verwirklichte Möglichkeit' konsistent be-
stimmen, so dass der Begriff der ,Macht' sich bereits hier in erste logische Schwierig-
keiten verwickelt, so bietet es sich an, diesen - "freilich auf fragwürdige Weise"
(Röttgers 1990: 51) - zu entkommen mithilfe der Konstruktion eines subjektiven
,Vermögens' als einer Art ,innerer Kräfte', "die im Extremfall auch permanent im
Verborgenen der Innenwelt bleiben könnten, im Normalfall aber nach außen wirken"
(Röttgers 1990: 51). Weil aber beides allein für sich - Macht als bloße Möglichkeit
oder Macht als verwirklichte Fähigkeit - theoretisch nicht zu befriedigen vermag,
wird ,Macht' weitgehend - exemplarisch von Zedlers Bestimmung der Macht als
"Krafft oder Vermögen, das mögliche würcklich zu machen" (Zedler 1739: XIX,
86f.), bis hin zu Habermas' Begriff der Macht als "Potenz [... ], die sich in Handlungen
aktualisiert" (Habermas 1978: 103) - ,zwischen' Wirklichkeit und Möglichkeit jus-
tiert. Vgl. dazu ausführlicher Röttgers 1990, der die aus dieser Weichenstellung resul-
tierenden Folgen präzise rekonstruiert und als (dann auch rechtstheoretisch justierte)
Versuche, die modallogische Problematik stillzustellen, lesbar macht.
126 Norbert Ricken

Kausalitäts- und Intentionalitätsunterstellungen jeweilig eingebettet werden


müssen. Logisch gesehen ist Macht daher drittens eng mit dem Problem von
Möglichkeit und Wirklichkeit verknüpft und kennzeichnet diesseits von
Notwendigkeit und Unmöglichkeit - als zwei Weisen eines Nicht-anders-
sein-Könnens, in denen man gerade nicht von Macht spräche - jene schwie-
rige Problematik der ,Andersmöglichkeit' , die weder bloße Möglichkeit noch
schlichte Faktizität meint, sondern als , wirkliche Möglichkeit' wie ,mögliche
Wirklichkeit' ausschließlich relational anvisiert werden kann: "Macht verhält
sich zur Handlung wie Möglichkeit zur Wirklichkeit" (Röttgers 1990: 412).
Es scheint daher ratsam, Macht vom Begriff der Kontingenz als ,Anders-
möglichkeit' her zu erläutern (vgl. Ricken 1999 wie 2003): einerseits ver-
weist Macht als Möglichkeitsphänomen auf ihre jeweilige Nichtnotwendig-
keit, so "dass Macht ,gemacht' ist und [immer] anders als sie ist, gemacht
werden kann" (Popitz 1992: 15); andererseits aber legt ein kontingenztheore-
tischer Zugang auch nahe, Macht auf Unbestimmtheit zu beziehen, mit Unsi-
cherheit zu verknüpfen und in Endlichkeit zu situieren, so dass sie schließlich
als "Macht über Möglichkeiten, d.h. als Macht über Macht" (Röttgers 1990:
494) verstanden werden kann, die - unter Knappheitsbedingungen - die je-
weiligen Handlungsmöglichkeiten potentieller Akteure verschiebt, be-
schränkt und asymmetrisch figuriert, um so ,Ordnungssicherheit' und ,Kon-
tinuitätssicherung' angesichts immer möglicher Unsicherheit, Ungewissheit
und daraus resultierender Verletzbarkeit herzustellen. Entscheidend ist -
viertens - dabei, dass Macht und Freiheit gerade nicht bloß in ein Gegenver-
hältnis gesetzt werden dürfen, so dass Macht und Freiheit als voneinander
getrennte und zueinander konträre Phänomene Geltung beanspruchen kön-
nen; vielmehr gilt es, beide als aufeinander bezogene, ineinander ver-
schränkte (und doch deutlich zu unterscheidende) Aspekte eines sozialen Zu-
sammenhangs zu erläutern. Macht ist fünftens als Möglichkeitsbegriff unwei-
gerlich mit Interpretativität verknüpft, so dass "Symbolisierung [... ] daher ein
notwendiges Merkmal von Macht" (Röttgers 1990: 493) ist. Selbst die
Machtpraxis der bloßen Androhung (vermeintlich) ,nackter Gewalt' ist auf
Vorstellungen angewiesen und lässt sich ohne symbolische Akte des Erken-
nens und Anerkennens nicht erläutern (vgl. Bourdieu 2001: 220). Der Wech-
sel "von der Ebene des Messens körperlicher Kräfte auf die der Symbolisie-
rungen" (Röttgers 1990: 497) ist für Machtpraktiken daher unvermeidbar;
Modalisierung, nicht Realisierung ist daher ihr dominanter Modus. Daraus
resultiert auch, dass Macht gerade nicht - ursprungshaft - auf Gewalt zu-
rückgeführt und als deren ,Milderung' betrachtet werden kann; vielmehr sind
Macht und Gewalt strukturell unterschieden - schlimmer noch: Gewalt als
Grund von Machtkonstellationen lässt, wenn sie tatsächlich nötig wird,
Macht letztlich zusammenbrechen, verbraucht sie sich doch in ihrer Realisie-
rung und der nicht-symbolischen Sichtbarmachung ihrer Mittel (vgl. Röttgers
1997: 130). Macht agiert daher als Steuerungsmoment im Möglichkeitsraum
auf der Ebene der Vorstellungen, so dass "das Verfügenkönnen über die Vor-
stellungen über das Verfügenkönnen zukünftiger Handlungen [... ] bereits der
Die Macht der Macht - Rüclifragen an Michel Foucault 127

wahrscheinlich wichtigste Teil des Verfügenkönnens über zukünftige Hand-


lungen" (Röttgers 1990: 494) ist. Mit dieser symbolischen Struktur von
Macht ist zugleich impliziert, dass Macht sich als Macht - will sie effektiv
sein - zugleich präsentieren wie verbergen muss, so dass sie in ihren Reprä-
sentationen und Symbolisierungen immer auch ständig "auf der Rucht"
(Röttgers 1990: 501) ist. Das aber macht es schließlich sechstens schlicht un-
sinnig, Macht als normativen Begriff nutzen zu wollen. "Macht ist zu konzi-
pieren als strikt nicht-normativer Begriff; Macht-Decouvrierung wie [gene-
relle] Macht-Kritik machen wenig Sinn" (Röttgers 1990: 412): nicht nur, weil
es schlicht naiv wäre, Macht als solche abzulehnen; auch nicht nur, weil jede
Machtkritik sich einem performativen Dilemma aussetzt, indem sie ihrerseits
- durch die Aufdeckung von Mechanismen des Verfügens über mögliche
Handlungen anderer - über Vorstellungen des Handelnkönnens (wenn auch
unterschiedlich) zu verfügen sucht und insofern unweigerlich "in der glei-
chen Falle [sitzt], mit der sie andere fangen wollte" (Röttgers 1990: 494);
sondern vielmehr, weil Macht ubiquitär scheint und kein absolutes oder bloß
hinreichend generalisierbares Kriterium der Unterscheidung ,guter' und ,bö-
ser' Macht aufzufinden ist, mit dessen Hilfe sich der Ambivalenz des ,Dop-
pels der Macht' - Trennung anderer und Zusammenschluss mit anderen -
triftig entkommen ließe. Kritik der Macht - theoretisch wie praktisch - setzt
daher ihre "Entdämonisierung" (Paris 1998: 7) voraus und lässt sich (fast)
ausschließlich nur analytisch betreiben.
All das aber legt vor allem eines nahe: Macht ist kein gegenstandstheo-
retischer Begriff, mit dessen Hilfe ,etwas' bezeichnet und repräsentiert wer-
den könnte, sondern muss als beobachtungstheoretischer Begriff gefasst wer-
den. Mit ihr wird daher nicht auf etwas neben und getrennt von anderem
verwiesen, das sich unabhängig vom jeweiligen Zugriff geradezu gegen-
ständlich identifizieren ließe, sondern ein Moment an allem (sozialen) Han-
deln markiert, das von Interpretation und Reflexivität nicht losgelöst werden
kann. Was also als ,Macht' in den Blick kommt, hängt ausschließlich davon
ab, wie ,Macht' gedacht und auch begrifflich gefasst wird. Immer aber er-
laubt ,Macht', soziale Verhältnisse unter der Perspektive ihrer jeweiligen Be-
dingtheit durch andere wahrzunehmen; in ihrer jeweiligen ,Andersmöglich-
keit' aber ist sie gerade nicht Freiheit entgegengesetzt, sondern mit ihr ver-
schränkt, so dass beide konsequent nur als transzendentale Begriffe (mit emi-
nent praktisch bedeutsamen Folgen) justiert werden können, die jeweilig an-
dere Aspekte von Sozialität - Bedingtheit wie Unbedingtheit - beobachten
lassen4 •

4 Von hier wird nachvollziehbar, dass auch ,Macht' - auch und gerade pädagogisch -
kategorial bedeutsam wird und durchaus als ,Grundbegriff' zu diskutieren ist; vgl. da-
zu auch den Beitrag von Schäfer in diesem Band.
128 Norbert Ricken

2.
Die gegenwärtig beobachtbare Konjunktur Foucaultscher Machttheoreme
lässt sich vor dem hier skizzierten Panorama auch als Ausdruck einer theore-
tischen Unzufriedenheit mit tradierten Machtbegriffen lesen, die es zumeist-
trotz aller Betonung der Relationalität von Macht - doch nicht erlauben, ins-
besondere auch Steuerungs- und Regulierungsmechanismen als Machtstrate-
gien zu interpretieren, die sich Prozesse der Selbstbestimmung nutzbar zu
machen versuchen und daher nicht einfach als Repressionstaktiken entziffer-
bar sind. Zudem nährt deren Grundüberzeugung - Macht "erweitert die Frei-
heit des einen gegen den anderen, indem sie sein Nein bricht, seine Freiheit
negiert" (SofskylParis 1994: 9) - trotz aller Einsicht in die jeweilige Be-
dingtheit und Begrenztheit der Menschen die (zwar illusionäre, aber überaus
wirkungsvolle) Vorstellung, dass zwar Macht, nicht aber auch Freiheit ein
soziales Phänomen ist, das "beginnt, wenn Menschen aufeinander treffen"
(ebd.: 12). Symptomatisch: "Das Handeln des einen endet am Widerstand des
anderen, seiner unhintergehbaren Selbständigkeit und Freiheit, etwas anderes
zu tun, als von ihm erwartet wird. Dagegen geht die Macht vor" (ebd.: 9).
Ein nur kurzer Blick in die (nicht mehr ganz) jüngste Machttheorie be-
lehrt aber, dass die immer wieder reformulierte Oppositionalität und Hierar-
chisierung von Freiheit und Macht alles andere als überzeugend und frucht-
bar ist. Bereits Simmels erstaunlich früher Vorschlag (1908), Machtbezie-
hungen in "ihrer Korrelation zur Freiheit" (Simmel 1992: 246) zu betrachten
und als komplexe, Über- und Unterordnungsverhältnisse' (vgl.: ebd.) zu skiz-
zieren, die sich - so schmerzhaft es bisweilen sein kann - ohne die Berück-
sichtigung der "Mitwirksamkeit des untergeordneten Subjektes" (ebd.: 162)
nicht angemessen verstehen lassen, zielt gegen eine sichtlich verbreitete "po-
puläre Ausdrucksweise" (ebd.: 161), in der die "Ausschaltung jeglicher [ei-
gener] Spontaneität innerhalb eines Unterordnungsverhältnisses" (ebd.) sug-
geriert wird und in Redeweisen des ",Zwanges', des ,Keine-Wahl-habens'"
oder gar der ,,'unbedingten Notwendigkeit'" (ebd.) sich niederschlägt. Sim-
mels Schlussfolgerungen sind dabei wegweisend: Über- und Unterordnung
müssen erstens als "komplizierte Wechselwirkung" (ebd.: 165) begriffen
werden, in der es weder "absolute(s) Beeinflussen" noch "absolute(s) Beein-
flusstwerden" (ebd.) gibt, so dass auf beiden Seiten Aktivität und Passivität
sich ineinander verschränken - mit dem Effekt, dass auch "alle Führer [... ]
geführt" (ebd.: 164) werden. Diese enge ,Wechselwirksarnkeit' lässt sich
aber zweitens nicht nur auf Phänomene der Über- und Unterordnung bezie-
hen, sondern gilt auch für - analog strukturierte - Befreiungsprozesse, so
dass auch "Befreiung von Unterordnung" (ebd.: 252) nicht bloß auf "Nicht-
Beherrschtwerden" (ebd.: 254) zielt, sondern fast immer auch als neuer "Ge-
winn irgendeiner Herrschaft" (ebd.: 252) erläutert werden kann (und muss).
Diese Korrelation von Macht und Freiheit aber lässt sich drittens nur ange-
messen mit dem Begriff der ,Führung' (ebd.: 163f.) beschreiben, erlaubt
doch dieser, in der ,Führung' durch andere sowohl die eigene Aktivität mit-
Die Macht der Macht - Rückfragen an Michel Foucault 129

zudenken als auch die eigene (Lebens)Führung als ,geführt' einzusehen.


Simmels Problemjustierung focussiert dabei nicht nur Subjektivität als rela-
tional ,situierte Existenz' (Meyer-Drawe), die in der Dichotomie von ,Un-
terworfensein' und ,Unterwerfendsein' nur verzerrt wird, sondern nutzt diese
auch zu einer anthropologisch dimensionierten Überlegung, in der, Unter-
werfung' unter andere, ,Überordnung , wie ,Widerstand und Opposition' (vgl.
ebd.: 171) so miteinander kombiniert werden, dass sie als die "zwei Seiten
[... ] eines in sich ganz einheitlichen Verhaltens des Menschen" (ebd.) sichtbar
werden können und so gerade nicht als immer bloß nachträgliche Trübungen
vermeintlich ursprünglicher Freiheit gelesen werden müssen.
Mit Blick auf Arendts eindeutige Unterscheidung von ,Macht und Ge-
walt' (vgl.: Arendt 1970), die in ihrem Diktum - "Was niemals aus den Ge-
wehrläufen kommt, ist Macht" (Arendt 1970: 54) - plastisch formuliert ist,
lässt sich eine zweite, an die Beobachtungen Simmels zur Relationalität der
Macht anschließende Markierung vornehmen, die Macht als die "menschli-
che Fähigkeit" bestimmt, "nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern
sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu
handeln" (ebd.: 45). Ihr Befund - "Über Macht verfügt niemals ein Einzel-
ner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die
Gruppe zusammenhält. Wenn wir von jemandem sagen, er ,habe die Macht',
heißt das in Wirklichkeit, dass er von einer bestimmten Anzahl von Men-
schen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln" (ebd.) - zielt dabei aber
weniger auf die von Habermas daran angeschlossene Problematik von Nor-
mativität und Konsensualität (vgl. Habermas 1978), sondern weit mehr auf
die damit verbundene Frage der Sozialität und Pluralität der Menschen (vgl.
Arendt 1981). In dieser Perspektive aber wird Macht nicht nur als ,Figura-
tion' (Elias) deutlich, die in einem individualtheoretischen Aufriss [x ~ y]
nur verkürzt sichtbar gemacht werden kann; vielmehr gelingt es Arendt auch,
die Problematik wechselseitiger Bedingtheit und Angewiesenheit [x(y) ~
y(x)] (vgl. Ricken 2003: 62-65) in das Problem der Macht einzutragen und
dieses als ambivalentes ,Doppel' lesbar zu machen: sowohl Verknüpfungs-
handeln und Zusammenschluss als auch Trennungshandeln und Vereinzelung
zu sein.
Deren Ergänzung um systemische und strukturtheoretische Überlegun-
gen, die die jeweilige Bedingtheit der eigenen Handlungsmöglichkeiten nicht
bloß handlungstheoretisch justieren, ist dann nur folgerichtig und hat mit
Verweis auf das ,zweite Gesicht der Macht' (Bachrach/Barratz 1962) zu ei-
ner stärker modallogischen "Neukonzeption einer Theorie der Macht" (Luh-
mann 1969: 167) geführt. Weil längst offensichtlich ist - so Luhmann -,
"dass die [... ] vermutlich größere Macht in der Form von Kommunikationen
geübt wird, die sich nicht auf Zwangsmöglichkeiten stützen" (ebd.: 166), gilt
es, Macht aus ihrer Reduktion auf ,Durchsetzungs-' und ,Beschränkungshan-
deln' zu lösen und - erwartbar abstrakt - als strukturell-funktionalen "Selek-
tionsvorgang", nämlich als "Selektion von Verhaltensprämissen für einen an-
deren" (ebd.: 168) durch "eine bestimmte Konstellation von Alternativen"
130 Norbert Ricken

(ebd.: 151) zu fassen und damit als "Prozessieren von Kontingenz" (Luh-
mann 1975: 118) medial zu buchstabieren5: als "Chance, die Wahrschein-
lichkeit des Zustandekommens unwahrscheinlicher Selektionszusammenhän-
ge zu steigern" (Luhmann 1975: 12) und dadurch die aus ,doppelter Kontin-
genz' resultierende (auch existentiale) Unsicherheit zu absorbieren (vgl.
Luhmann 1975: 9 und 2000: 36 wie 41ff.).
Vor diesem Hintergrund kursorisch ausgewählter machttheoretischer
Stationen lassen sich nun die immer noch bisweilen heftig umstrittenen
Überlegungen Foucaults zum Problem der Macht als konsequente (wenn
auch nicht ausdrückliche) Fortführung und Konkretion bisheriger Markierun-
gen verstehen: zum einen erlaubt seine - insbesondere die Relationalität von
Macht pointierende - Kennzeichnung der Macht als einer "Führung der Füh-
rungen" (Foucault 1994: 255) die Bündelung und systematische Justierung
der bisher eingeschlagenen modallogischen Perspektive, so dass mit Macht
ein "Handeln auf Handeln" (ebd.: 254) markiert ist, das in einem "Möglich-
keitsfeid" (ebd.: 255) operiert und, indem es anstachelt, eingibt, ablenkt, er-
leichtert oder erschwert und begrenzt, "mögliche Handlungen" "mehr oder
weniger wahrscheinlich" (ebd.) zu machen sucht; "regieren heißt in diesem
Sinne" - so Foucaults Erläuterung der "Tätigkeit des Anführens" (ebd.) -,
"das Feld eventuellen Handeins anderer zu strukturieren" (ebd.), ohne jedoch
dabei das jeweilige ,Sich-Verhalten' und ,Sich-Führen' der solchermaßen
,Angeführten' zu übergehen und deren wie auch immer bedingte "Freiheit"
(ebd.) zu negieren. Unmissverständlich notiert er: "Macht wird nur auf ,freie
Subjekte' ausgeübt und nur sofern diese ,frei' sind. [... ] Dort, wo die Deter-
minierungen gesättigt sind, existiert kein Machtverhältnis" (ebd.). Zum ande-
ren aber illustrieren Foucaults genealogische Arbeiten eindrücklich die Viel-
falt historischer Machtformationen und belegen deren Wandel von der souve-
ränen Macht, die qua Normierung und Repression überwiegend verbietet und
ausschließt, über die Disziplinar- und Integrationsmacht, die qua Normalisie-
rung reguliert und einschließt, bis hin zu Bio- und Pastoralmacht, die unter
der Maßgabe einer produktiven Lebensermöglichung ebenso Bedingungen
wie Selbsttechnologien zu figurieren suchen.6 "Man könnte sagen", so ließe

5 Vgl. zu Luhmanns machttheoretischer Weichenstellung als ,Überbrückungsfunktion


doppelter Kontingenz' (vgl. Luhmann 1975: 9) dessen Überlegungen in Luhmann
1969, 1975 wie jüngst 2000; ausführlicher auch Ricken 2003: 67-72.
6 Foucaults historische Formationen der Macht sind oft rekonstruiert worden und lassen
sich insgesamt durchaus als eine Typologie der Macht lesen. Während aber in den
meisten Rekonstruktionen oft darauf abgehoben wird, (dass und) wie sich die Analyse
von einer eher traditionell gefassten Souveränitäts- und Repressionsmacht über die
(anfänglich vermeintlich bloß linear gedachte) Disziplinar- und Biomacht erst all-
mählich zu einer differentiell-relationalen Pastoralmacht und Gouvernementalität
entwickelt hat (vgl. ausführlich Lemke 1997), lässt sich Foucaults Typologie auch
,rückwärts' lesen und entlang der (späteren) systematischen Justierung der ,Führung
der Führungen' in jeder seiner Figurationen relational erläutern (vgl. Ricken 2003: 93-
112). Eine solche systematische Lesart erlaubt, dreierlei ,Führungsweisen • zu unter-
scheiden und als direkte ,Aktionsrnacht' qua Handeln durch Zwang, Gewalt bzw.
Die Macht der Macht - Rüclifragen an Michel Foucault 131

sich Foucaults historische Perspektive bündeln, "das alte Recht, sterben zu


machen und leben zu lassen wurde abgelöst von einer Macht, leben zu ma-
chen und sterben zu lassen" (Foucault 1977: 167), so dass der damit bloß an-
gedeutete Wandel der Machtformationen nicht nur als zunehmende Rück-
verlagerung und Tieferlegung einer direkten wie weitgehend negativ operie-
renden Handlungsmacht zugunsten unterschiedlicher Formen einer eher indi-
rekten und produktiven Kontroll-, Konditional- und Strukturmacht nachvoll-
zogen werden kann, die am ebenso leiblichen wie reflexiven Selbstverhältnis
ansetzen und insgesamt auf ,freiwilligen Gehorsam' zielen; vielmehr er-
zwingt diese Perspektivierung von Macht auch eine konsequente Verabschie-
dung bloß negativ argumentierender Modelle der Macht, die diese letztlich
dann doch nur entweder als ,Repression' und ,Verbotsinstanz' oder als
,Übermacht der Verhältnisse ' auslegen und allzu oft auf juridische oder öko-
nomische Figurationen verkürzen, ohne aber den "Mechanismus der Macht"
(Foucault 1978: 30) genauer analysieren zu können. 7 Nur folgerichtig wird
Macht bei Foucault daher gerade nicht auf (vorgängige) Subjekte "ange-
wandt" (Foucault 1999: 39), sondern diese sind selbst "eine der ersten Wir-
kungen der Macht", so dass das Subjekt "nicht das Gegenüber der Macht" ist,
sondern seinerseits selbst ein bloßer "Machteffekt" (ebd.). Foucaults
Machtanalysen sind daher insgesamt als Analysen derjenigen Mechanismen
zu lesen, "durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht wer-
den" (Foucault 1994: 243): Formung von Subjektivität ebenso wie "Unter-
werfung durch Subjektivität" (ebd.: 247).
Foucaults machttheoretischer Einsatz aber gilt - bis heute - als ambiva-
lent: was einerseits weitgehend zustimmend als fruchtbare Perspektivenver-
schiebung wahrgenommen wird, gilt andererseits immer wieder als insbeson-
dere normative Überanstrengung des Machtbegriffs selbst. Auch wenn es ge-
lingt, so die vielfache Einschätzung (vgl. Lemke 1997: 11-37), mit der Neu-
justierung des Machtbegriffs als eines ,Führens der Führungen' das reiche
begriffsgeschichtliche Erbe zurückzugewinnen und den analytischen Blick
auch auf gegenwärtig veränderte Formierungsmechanismen zu weiten8, in-
dem Macht als Möglichkeitstheorem erläutert wird, so stößt doch die damit
auch verbundene enorme Ausweitung des Machtbegriffs auf bisweilen ent-

Versprechung und Drohung, als indirekte ,Strukturmacht' qua Bedingungsarrange-


ment und Struktursetzung durch Formierung von Handlungs- und Existenzbedingun-
gen und schließlich als , Konditionalmacht' qua Beeinflussung und Ausnutzung
menschlicher Selbstverhältnisse - sei es leiblich (Disziplinarmacht), sei es ,seelisch'
(Pastoralmacht) - zu kennzeichnen.
7 Foucaults treffende Rückfrage beleuchtet das Problem einer solchen Verkürzung:
"Wenn sie [die Macht] nur repressiv wäre, wenn sie niemals etwas anderes täte als
Nein sagen, ja glauben Sie denn wirklich, dass man ihr gehorchen würde? Der Grund
dafür, dass die Macht herrscht, dass man sie akzeptiert, liegt ganz einfach darin, dass
sie nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Kör-
per durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse
produziert" (Foucault 1978: 35).
8 Vgl. dazu insbes. Deleuze 1992 wie jüngst Hardt/Negri 2002.
132 Norbert Ricken

schiedenen Widerspruch. Dabei sind es weniger die Weichen stellungen, die


es erlauben, Macht dezentral, relational und produktiv zu denken, sondern
vielmehr die vermeintliche Ubiquität und normative Zweideutigkeit der
Macht, die die Rezeption Foucaultscher Machttheoreme bis heute belasten
und sich insgesamt im Vorwurf einer ,,Metaphysik der Macht" (Breuer 1987:
324) bündeln lassen. Kern der Kritik ist die Behauptung, dass die Justierung
der Macht als eines "Universalschlüssel[s]" (ebd.) für alle gesellschaftlichen
und geistigen Phänomene letztlich in ein "relativistisches Selbstdementi"
(ebd.) führen müsse, weil die empirische Ausweitung - symptomatisch: "Das
Problem besteht darin, dass Foucault zu viele Dinge Macht nennt" (Fraser
1994: 52) - geradezu zwangsläufig eine normative Überanstrengung nach
sich ziehe. Wenn alles Macht sei, so der Vorwurf, so lasse sich vielleicht die-
se oder jene Macht analytisch voneinander unterscheiden, nicht aber mehr
begründet zurückweisen; der untergründige Gestus der Entlarvung bei
Foucault aber sei daher selbstwidersprüchlich und laufe letztlich schlicht ins
Leere.
So einJ5ängig dieser - von Habermas (1985) über Taylor (1988) bis Fra-
ser (1994) - immer wieder formulierte Einwand auch ist, so irreführend ist
er auch: nicht nur, weil durchgängig die von Foucault selbst vorgenommenen
machttheoretischen Korrekturen übersehen werden, so dass überwiegend des-
sen disziplinartheoretischer Zugriff wahrgenommen wird; sondern auch, weil
Eigenart und Status des Foucaultschen Machtbegriffs verkannt werden, in-
dem immer wieder ein objektivierendes und normativ eindeutiges Denken
eingefordert wird, um an eingewöhnten Konzepten der Kritik qua vernünfti-
ger Selbstbestimmung festhalten zu können. Das aber lässt die Hinweise
Foucaults, dass die Macht erstens nicht alles umfasse, sondern von überall
komme (vgl. Foucault 1977: 114) und insofern in allem sei, wie auch zwei-
tens, "dass die Macht nicht existiert" (Foucault 1994: 251), immer wieder
übersehen, so dass die - damit verbundene - quasi-transzendentale Justierung
des Machtbegriffs als eines "Analyseraster[s]" (Foucault 1992: 33) oft genug
unverstanden bleibt. Foucault aber - so dessen Selbsteinschätzung - geht es
weniger darum zu wissen, was und warum man was tut, sondern was das ei-
gene ,Tun tut' (Foucault, vgl. Dreyfus/Rabinow 1994: 219) - und wie sich
dieses beobachten lässt. Die vielfach monierte Ubiquität der Macht verdankt
sich daher weniger einer verhängnisvollen (und unangemessenen) Totalisie-
rung des Machtbegriffs (vgl. Breuer 1987: 331), sondern eher seiner katego-
rialen Verschiebung zu einem Beobachtungsbegriff, der in und an allen so-

9 Insbesondere die Anmerkungen von Fraser, Habermas wie Taylor können als exem-
plarische Kritikfiguren gelesen werden, die allesamt um die Ambivalenz "empirischer
Einsichten und normativer Unklarheiten" (Fraser 1994) kreisen und den vermeintli-
chen "Monismus der Macht" (Fink-Eitel 1980: 64) attackieren; vgl. auch die eher ver-
einfachenden Überlegungen von Wehler (1998) wie die wesentlich differenziertere
Argumentationen Honneths (1989 und 2003). Als erster Überblick vgl. Lemke (1997:
11-37) wie auch Ricken 2003: 82ff. und 99ff., als kritische Einschätzung der Kritik
vgl. insbes. DotzlerNillinger 1986, Kelly 1994 und insbes. Schäfer 1995.
Die Macht der Macht - Rückfragen an Michel Foucault 133

zialen Verhältnissen nachvollziehen lässt, wie Menschen sich gegenseitig be-


einflussen und ihr jeweiliges Handeln durch Handeln zu strukturieren versu-
chen. Bedeutsam ist daher die genaue Justierung dessen, was Foucault mit
Macht bezeichnet: "Tatsächlich ist das, was ein Machtverhältnis definiert, ei-
ne Handlungsweise, die nicht direkt oder unmittelbar auf die anderen ein-
wirkt, sondern eben auf deren Handeln" (Foucault 1994: 254). Als ein sol-
ches "Handeln auf Handeln" (ebd.) ist Macht auf "mögliche oder wirkliche,
künftige oder gegenwärtige Handlungen" bezogen, und zwar immer so, "dass
der andere als Subjekt des Handeins bis zuletzt anerkannt und erhalten
bleibt" und sich so "ein ganzes Feld von möglichen Antworten, Reaktionen,
Wirkungen, Erfindungen eröffnet" (ebd.). Das aber erlaubt eine doppelte Prä-
zisierung von Macht: nicht nur, weil sie so gegen Gewalt - "ein Gewaltver-
hältnis [... ] zwingt, beugt, bricht und zerstört: es schließt alle Möglichkeiten
aus" (ebd.: 254) - konturiert werden kann; sondern auch, weil sie auf die
Konditionalität der Menschen bezogen werden kann, die mit Konditionierung
gerade nicht verwechselt werden darf (vgl. Ricken 1999: 256-261). Nur fol-
gerichtig ist daher, dass Macht und Freiheit insofern gerade in keinem anta-
gonistischen, sondern in einem agonistischen Verhältnis zueinander stehen:
sie schließen sich nicht nur nicht aus (wie die Logik, "wo immer Macht aus-
geübt wird, verschwindet die Freiheit" (Foucault 1994: 256), suggeriert),
sondern bedingen sich gegenseitig: "Macht wird nur auf ,freie Subjekte' aus-
geübt und nur sofern diese ,frei' sind. [... ] Dort wo die Determinierungen ge-
sättigt sind, existiert kein Machtverhältnis" (ebd.: 255). Kein großer Schritt
ist es mehr, ,Freiheit' dann selbst als eine ,Form der Macht', d.h. als eine
,Führung der Führungen' (Foucault) zu begreifen; Foucaults Analysen mo-
derner Machtstrategien markieren deren zentralen Mechanismus als einer
gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung (vgl. Foucault 1994:
246f.) und belegen eindrücklich deren Charakter als eines "Regierens durch
Individualisieren" (ebd. 246). Es ist insbesondere diese ,produktive' Justie-
rung des Machtbegriffs, die - neben der reichhaltigen Machttypologie - die
Rezeption Foucaultscher Theoreme bestimmt, kann doch seine Einschätzung
- "auch wenn die Kämpfe gegen Herrschaft und Ausbeutung nicht ver-
schwunden sind", so wird "der Kampf gegen die Formen der Subjektivie-
rung, gegen die Unterwerfung durch Subjektivität zunehmend wichtiger"
(ebd.: 247) - bis heute nahezu unumstritten Geltung beanspruchen.
So überzeugend jedoch Foucaults machttheoretische Neujustierung auch
ist, so überraschend oberflächlich fällt deren weitere Erläuterung aus;
Foucaults Hinweis, "dass die Machtverhältnisse tief im gesellschaftlichen
Nexus wurzeln" (ebd.: 257), räumt zwar auf mit Vorstellungen, die Macht sei
eine Struktur ,über' der Gesellschaft, die sich zugunsten einer "Gesellschaft
ohne Machtverhältnisse" (ebd.) auch auflösen lasse, vermag aber dennoch -
insbesondere bei der Fragejustierung der Macht als einer Antwort - nicht zu
befriedigen. Denn nimmt man Foucaults Bemerkung - "In Gesellschaft leben
heißt jedenfalls so leben, dass man gegenseitig auf sein Handeln einwirken
kann" (ebd.) - ernst, so stellt sich nicht nur die Frage nach der Macht der
134 Narbert Ricken

Macht erst recht, sondern auch in der Weise, dass Macht an und in relationa-
ler ,Inter-Subjektivität' (vgl. Meyer-Drawe 1984) erläutert werden können
muss. Das aber verlangt, gerade nicht bei bloß allgemeiner sozialer Beein-
flussbarkeit stehen zu bleiben oder gar immer wieder eher plumpe Konstrukte
eines linearen Machtwillens oder Durchsetzungsstrebens zu bemühen, son-
dern diesseits individualtheoretischer Zugriffe der Ineinanderschachtelung
von Selbst- und Anderenführungen ausdrücklich nachzugehen.

3.
Folgt man den bisherigen Weichenstellungen, Macht als einen Beobach-
tungsbegriff für soziale Konditionalität zu justieren und produktiv auf jewei-
lige Selbstverhältnisse zu beziehen, so zeichnet sich eine erhebliche systema-
tische Schwierigkeit ab, die auch die Analysen Foucaults belastet lO : nicht nur,
weil Macht weder auf vermeintlich objektive Strukturen noch auf bloß sub-
jektive Intentionen reduziert werden kann, so dass nun umgekehrt jeder Ver-
such, Macht ohne Berücksichtigung jeweiliger Selbstverhältnisse konzipieren
zu wollen, als machttheoretisch ,naiv' gelten muss; sondern vor allem, weil
mit dieser ausdrücklich nicht-linearen Begriffsfassung Subjektivität als wi-
dersprüchliches Doppel erscheint und nun einerseits als (vorgängige) Bedin-
gung, auf die Macht angewandt wird, und andererseits als (nachgängige) Fol-
ge wie Produkt von Macht thematisiert wird. Beides aber zugleich denken zu
wollen (und zu müssen), stellt vor theoretische Aporien, die die eingewöhnte
Unterscheidung von ,Innen' (Freiheit) und ,Außen' (Macht) empfindlich ir-
ritieren und insofern einen systematischen Umbau erzwingen, Subjektivität
als ,relationale Relationalität' - als sowohl durch andere bedingtes und auf
andere angewiesenes Selbstverhältnis \Individualität) als auch als Anderen-
verhältnis (Sozialität) - zu konzipieren. I

10 Und in der Rezeption der genealogischen und ethisch-ästhetischen Arbeiten zu einer


folgenschweren Trennung beider geführt hat, die die Subjektivitätsproblematik in bei-
de Richtungen verkürzt: entweder bloß nachgängig zu sein und dann nur als Produkt
der Macht gelesen zu werden (vermeintliche Disziplinartheorie), oder dann doch (ir-
gendwie) vorgängig zu sein und als Möglichkeitsbedingung der ,Selbstsorge' verstan-
den zu werden (vermeintliche Ästhetik). Vgl. dazu exemplarisch die fatalen Justierun-
gen in Fink-Eitel 1989 wie auch Schmid 1991.
11 Der Versuch, Subjektivität als ,doppelte Relationalität' auszulegen, um der jeweiligen
Situiertheit auch begrifflich Rechnung zu tragen, lässt sich insbesondere mit Verweis
auf Kierkegaards Erläuterung des Selbst als eines, Verhältnisverhältnisses' stärken:
"Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Ver-
hältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Ver-
hältnis, sondern dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält" (Kierkegaard 1992, 8).
Was zunächst durchaus , verschroben' erscheinen mag, gewinnt - auch und insbeson-
dere phänomenologisch - zunehmend Plausibilität: erstens bin ich (auch körperlich)
nicht eine Entität, die erst dann zu anderen in Kontakt tritt, sondern immer (!) eine
Die Macht der Macht - Rückfragen an Michel Foucault 135

Hilfreich nun scheint eine Überlegung Judith Butlers, die diese in einer
subtilen Rekonstruktion des von Foucault eingeführten Begriffs des ,assujet-
tissement' (vgl. Foucault 1976: 42 u.ö.) - der gleichzeitigen (und insofern pa-
radoxen) Hervorbringung und Unterwerfung von Subjektivität - entwickelt
und mit ,theories in subjection' (dt.: Subjektivation) überschrieben hat (vgl.
Butler 2001 wie 2003). Ausgehend davon, dass die Macht weder auf das
Subjekt zurückgeführt werden kann noch diesem bloß äußerlich ist und ge-
genüber steht, sucht Butler die Problemkreise von Macht und Subjektivität in
einer anerkennungstheoretisch justierten Argumentation zu verknüpfen, die
es erlaubt, ,Selbstsein' und ,Mit-anderen-Sein' relational ineinander zu den-
ken, so dass Subjektivität als ebenso nicht-hintergehbar (,subiectum' als ,Zu-
grundeliegendes') wie nicht-ursprünglich (,subiectum' als ,Unterworfenes')
in den Blick kommen kann. Die (insofern) paradoxe Logik der Subjektivation
(vgl. Butler 2001: 7ff.) erläutert sie daher in zweierlei Richtung: einerseits
können wir, so Butler, unser "Verhaftetsein mit uns selbst" nur über "ver-
mittelnde Normen [entwickeln], die uns einen Sinn für das zurückgeben, was
wir sind" (Butler 2003: 62), ist doch das "Subjekt [... ] genötigt, nach Aner-
kennung seiner eigenen Existenz in Kategorien, Begriffen und Namen zu
trachten, die es selbst nicht hervorgebracht hat" (Butler 2001: 25) - mit dem
Effekt, dass die "Annahme von Machtbedingungen" nichts anderes ist als die
"nüchterne Grundlage der Subjektwerdung": "Unterordnung ist der Preis der
Existenz" (ebd.). Andererseits aber ist genau jener Bereich, der aus den (his-
torisch kontingenten und insofern immer partikularen) Normen herausfallt,
genau jener Bereich, den wir zwar "ohne Anerkennung leben" müssen (But-
ler 2003,63), der uns aber erlaubt, die auferlegte Beschränkung und Konfor-
mität zu durchbrechen, ohne jedoch damit den vorgängigen Normen der An-
erkennung entkommen zu können. Butlers zentraler Befund - "Nur indem
man in der Alterität beharrt, beharrt man im ,eigenen' Sein" (Butler 2001:
32) - spiegelt die eigentümlich paradoxe Logik und verlangt nach Erläute-
rung: "Um zu sein", so formuliert sie pointiert, "müssen wir [ebenso] aner-
kennbar sein" (Butler 2003: 64), wie zugleich "die Normen in Frage stellen,
durch die uns Anerkennung zuteil wird", so dass ,Selbstsein' immer auch
heißt, im "Ruf nach neuen Normen" der Anerkennung unser "eigenes Sein zu
gefährden" (ebd.), uns von uns selbst abzulösen und die mühsam erworbene
Selbstidentität immer wieder neu preisgeben zu müssen. Es ist diese Doppel-
bewegung von ,Unterwerfung' und ,Überschreitung' (vgl. Rieger-Ladich in
diesem Band), die Butlers subjektivitätstheoretische Konzeption kennzeich-
net l2 ; ihre Weigerung aber, dem Zusammenhang beider ein wie auch immer

Relation mit anderen und anderem (vgl. Anzieu 1991); zugleich ist mein - immer
auch leibliches - Verhältnis zu mir selbst nicht nachträgliche Konstatierung dessen,
was ich bin, sondern von Anfang an selbst die Weise, wie ich bin, ohne dass das eine
auf das andere zurückführbar wäre. Vgl. dazu ausführlicher auch Ricken 1999.
12 Sie erlaubt zugleich, die Foucaultschen Termini ,assujettissement' (vgl. Foucault
1976: 42) und ,desassujettissement' (vgl. Foucault 1992: 15) in einen systematischen
Zusammenhang zu setzen und weist damit ,Entunterwerfung' und ,Kritik' als ein
136 Norbert Ricken

verstandenes ,Ureigenes' zu unterlegen, das sich darin sukzessive zur Gel-


tung brächte, macht nicht nur verständlich, dass das Selbst sich immer nur
gebrochen zu konstituieren vermag und insofern nie , authentisch' oder gar
, souverän' sein kann, sondern verdeutlicht auch, dass Selbstbezug und
Selbstentzug einander bedingen: einerseits, weil Fremdwahrnehmungen nicht
bruchlos in Selbstwahmehmungen verwandelt werden können, so dass die
Genese des Selbst vom Anderen her immer von ,Rissen' durchzogen ist, die
nicht zu glätten sind und Momente wechselseitiger (aber ungleicher) Fremd-
heit enthalten; und andererseits, weil die Möglichkeit der Selbstverschiebung
und ,Überschreitung' (vgl. Butler 2003: 64) gerade nicht an die Bedingung
positiver Selbstkenntnis, sondern an jeweilige Entzogenheit gebunden ist, wie
auch das biographische Selbstbekenntnis illustriert, das Selbstfestlegung zu-
recht gegen Fremdfestlegung wendet, ohne diese aber an ein überprüfbares
Selbstwissen binden zu können.
Butlers Schlussfolgerung, dass wir uns nicht nur der Anerkennung ande-
rer, sondern auch der Fremdheit uns selbst und anderen gegenüber verdan-
ken, ist machttheoretisch nun in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: zunächst,
weil sie die elementare Verwiesenheit auf andere als den wohl zentralen Ort
der Macht zu identifizieren und im ,Zwischen der Menschen' (Arendt) zu lo-
kalisieren erlaubt. Denn "ohne Appetit", so Butler in ihrer Erläuterung, "wä-
ren wir frei von Zwang; weil wir aber von Anfang an dem ausgeliefert sind,
was außer uns ist und uns den Bedingungen unterwirft, die unserer Existenz
Form geben, sind wir in dieser Hinsicht unurnkehrbar anfällig für Ausbeu-
tung" (ebd.: 67). Weil jedes ,Selbstsein' immer schon durch andere und An-
dere bedingt und vermittelt ist, ist die ,Führung des eigenen Lebens' immer
nur unter und in ,Führungsbedingungen anderer' möglich: "Das Selbst formt
sich selbst, aber es formt sich selbst im Rahmen von Formierungspraktiken"
(Butler 2002: 264). Zweitens dann, weil sie in der anerkennungstheoretischen
Verknüpfung von Selbst- und Anderenbezug die Stntktur der Macht als ,Füh-
rung der Führungen' (Foucault) nicht nur bestätigt, sondern auch systema-
tisch begründet und phänomenal erheblich bereichert. Drittens aber, weil mit
ihr das - insbesondere gegenwärtige - Thema der Macht präzisiert werden
kann, verspricht doch ,Unterwerfung' um der Anerkennung willen, was
Subjektivität nicht zu halten vermag - ,Identität'. Butlers Erläuterung der
Unterwerfungsbereitschaft ist aufschlussreich: "Man darf nicht vergessen,
dass die Wendung zum Gesetz nicht durch den Ruf [der Anerkennung] er-
zwungen wird; sie ist zwingend weniger in einem logischen Sinn, denn sie
verspricht Identität" (Butler 2001: 103). Es ist gerade diese aus strikter Rela-
tionalität resultierende Unfähigkeit, "in einem selbstidentischen Sinne zu

konstitutives Moment jeder ,Identitätsbildung' nach. Konformität ist daher nicht nur
vielleicht nicht wünschenswert (und insofern ein eher normatives Problem), sondern
strukturell nicht möglich, so dass ,Eigensinn' sich (im Ungehorsam) dann immer ir-
gendwie Bahn brechen muss; es ist immer bereits demütigend, zu dem mit Nachdruck
aufgefordert zu werden, was man selbst schon zu tun beabsichtigt hat. Entscheidend
ist, dem Rechnung zu tragen - oder nicht.
Die Macht der Macht - Rüclifragen an Michel Foucault 137

,sein'" (Butler 2001: 123), die unsere "Anfälligkeit" (ebd.: 103) für "Identi-
tätsverlockungen" (ebd.: 122) und Vollständigkeitsversprechungen ausmacht
und uns gerade im Namen vermeintlich erreichbarer Unabhängigkeit derart
,regierbar' macht. Ihr Mechanismus - sie "macht uns glauben, dass es darin
um unsere ,Befreiung' geht" (Foucault 1977: 190) - ist insofern nicht nur ei-
ne "Ironie des Dispositivs" (ebd.), wie Foucault provozierend formulierte,
sondern deren Strategie selbst, die dessen Behauptung der "Unterwerfung
durch Subjektivität" (Foucault 1994: 247) nachvollziehbarer macht. Insofern
das ,Eigene' nur am ,Fremden' gewonnen und insofern nie gänzlich besessen
werden kann, verleitet dies dazu, in der Bestimmung und Aneignung anderer
sowohl der eigenen als auch fremden Entzogenheit und Andersheit entkom-
men zu wollen - sei es als Unterwerfung und Abwertung anderer zu Zwecken
zentrischer Selbststabilisierung und Selbstaufwertung, so dass die Negation
des anderen als Anderen die eigene Verwiesenheit, Bedingtheit und daraus
resultierende Verletzlichkeit vermeintlich zu minimieren erlaubt; oder sei es
als Unterwerfung unter andere zu Zwecken gesicherter Anerkennung und
Selbstvermeidung, so dass die Negation des eigenen Selbst vermeintlich auch
von dessen Bedrängtheit und Riskanz suspendiert. Zugespitzt formuliert:
nicht nur, weil wir auf die Anerkennung anderer angewiesen sind und blei-
ben, sind wir regierbar; sondern auch, weil Andere und wir uns selbst immer
auch entzogen sind, wollen wir regieren. Butlers Überlegungen aber eröffnen
schließlich viertens auch eine neue Perspektive, Kritik und Widerstand dies-
seits der schiefen Alternative von Selbst- und Fremdbestimmung zu refor-
mulieren und qua Entzogenheit und Fremdheit als praktische ,Tugend der
Entunterwerfung' (vgl. Butler 2002) auszulegen; deren zentraler Mechanis-
mus einer unweigerlichen, Überschreitung' resultiert dabei weniger aus theo-
retisch-generalisierenden Argumentationen als vielmehr aus der Einsicht in
die eigene Selbstbeschränktheit durch Konformität (vgl. Butler 2003: 64):
"Wir können vielleicht wirklich spekulieren, dass der Moment des Wider-
stands, der Opposition eben dann entsteht, wenn wir uns an unsere Beschrän-
kung verhaftet finden; wenn wir uns in unserem Verhaftetsein beschränkt
finden. [... ] Die Tatsache, dass die menschliche Leidenschaft der Selbster-
haltung uns anfällig und verletzlich gegenüber denen macht, die uns unser
Brot versprechen, bringt auch die Möglichkeit der Revolte mit sich" (ebd.: 64
und 67).
Auch wenn Butlers eigentümlich ,existential' anmutenden Reflexionen
der Foucaultschen Terminologie gegenüber zunächst fremd (und mit ihr un-
vereinbar) erscheinen mögen, so erlauben sie doch eine Präzisierung des
Foucaultschen Machtzugriffs: nicht nur, weil sie dessen Forderung - "Wir
müssen neue Formen der Subjektivität zustandebringen, indem wir die Art
von Individualität, die man uns jahrhundertelang auferlegt hat, zurückwei-
sen" (Foucault 1994: 250) - als genealogisch begründet zu lesen erlauben
und damit deren ,ästhetischer Verseichtigung' zu oberflächlicher ,Selbstsor-
ge' (vgl. insbes. Schmid 1991) zu widersprechen zwingen; sondern auch,
weil sie ,Macht' - insbesondere mit Blick auf die ,Macht der Macht' - als ein
138 Narbert Ricken

(unterschiedlich dimensionierbares) ,Prozessieren von Negativität' verstehen


lassen l3 : sei es, indem Macht als ,Aktionsrnacht' mit ,Negativität' droht und
in der Gewalt- und (letztlich) Todesdrohung als Verletzbarkeit strategisch
nutzt; oder sei es, indem Macht als ,Konditional-' und ,Strukturmacht' ,Ne-
gativität' als Bedürftigkeit wie Angewiesenheit focussiert und so über Nicht-
vollständigkeit, Entzogenheit und Fremdheit zu regieren versucht. Immer
aber gilt Negativität als ,menschlicher Makel' (Roth), der - nun als Einwand
gegen die Menschen gerichtet - erst dadurch enorme Eingriffs- und Zu-
griffsmöglichkeiten eröffnet, indem er die unauflösbare (Selbst- und Ande-
ren-)Differenz, die die Menschen (sich) sind (vgl. Ricken 1999 wie 2003), in
eine unheilvolle Hierarchie verwandelt, in der die vermeintlich erreichbare
, Vollform ' - gerade dann, indem sie als bloß regulativ gedacht wird - die
Wahrnehmung von Negativität als einer ,Schwundform' allererst ermöglicht
und deren Bearbeitung ebenso erzwingt wie auf Dauer stellt.
Systematisch gesehen legen die hier entwickelten Überlegungen zur
,Macht der Macht' nun abschließend eine kategoriale Um- und Neujustierung
nahe: gerade weil und indem Subjektivität relational gedacht werden muss,
kann deren weithin eingewöhnte (und kritisch gegen ,Eindimensionalität ,
(Marcuse) gerichtete) zweidimensionale Verfasstheit zwischen Gegebenheit
und Aufgegebenheit (vgl. Habermas 1973: 105) nicht mehr genügen; denn
diese erlaubt in ihrer binären Struktur nur, zwischen Gegebenem und Aufge-
gebenem zu unterscheiden, und verortet das Spezifikum menschlicher Sub-
jektivität als Fähigkeit, sich zu sich selbst (verändert) verhalten zu können

13 Durchmustert man die unterschiedlichen Figuren der Negativität (vgl. Ricken 2004b),
so stößt man zunächst auf vielfältige Phänomene, die vom Nein-Sagen und Nein-
Sagen-Können über Formen des Nicht-Wissens und Nicht-Könnens bis schließlich
hin zu Fragen der Fragilität, Endlichkeit und Nichtigkeit reichen (vgl. Rentsch 2000:
10 u.ö.). Wie auch immer man nun diese unterschiedlichen Facetten einander zuordnet
und sortiert, immer wird mit Negativität ein Phänomen der Nichtpassung, Nichter-
reichbarkeit und Nichtvollständigkeit markiert, das - bereits begrifflich - als proble-
matisch aus- und nahegelegt wird. Systematisch gesehen lassen sich dreierlei Dimen-
sionen der Negativität unterscheiden: was zunächst im konkreten Nichtwissen und
Nichtkönnen als ,bestimmte Negation' vorherigen Wissens und Könnens erfahren
wird, fuhrt im anhaltenden Prozess der Erfahrung unweigerlich zur Einsicht in eine
,prinzipielle Negativität', die sich im Nichtkönnen- und Nichtwissenkönnen nur als
dauernde Nichterreichbarkeit, Entzogenheit und unaufhebbare Fremdheit erläutern
lässt und wohl unweigerlich die ,Nachtseite' (Plessner) unserer immer bedingten
Weltoffenheit markiert; diese aber verweist als wiederholte ,,Erfahrung der Nichtig-
keit" (Gadamer 1999: 360) schließlich auf ein, weitreichendes Wissen' (ebd.: 359), in
dem wir - wie Gadamer formuliert hat - "unserer Endlichkeit und Begrenztheit im
ganzen inne sind" (ebd.: 368). Negativität, so ließe sich bündeln, ist daher weder ein-
fach Missgeschick oder Bagatelle noch bloß Phase oder Durchgangsstadium, sondern
qua Erfahrung und Anerkennung bedeutsames Strukturmoment menschlicher Existenz
überhaupt und betrifft - wie Rentsch jüngst formulierte - "als anthropologische Fra-
gilität und Endlichkeit, Bedürftigkeit, Mangelhaftigkeit [... ] und Fehlbarkeit [... ] jeden
Menschen" (Rentsch 2000: 10). Vgl. insgesamt Weinrich 1975 und Rentsch 2000 wie
aus pädagogischer Perspektive auch die verschiedenen Beiträge in Benner 2004.
Die Macht der Macht - Rückfragen an Michel Foucault 139

und sich allererst selbst hervorbringen zu müssen, damit eher einseitig auf der
,Aufgabenseite' - mit dem Effekt, dass die längst als problematisch eingese-
hene Oppositionalität von Selbst- und Fremdbestimmung nur zementiert wird
und zur latenten Abwertung des Gegebenen führt. Versteht man Subjektivität
hingegen als Relationalität, d.h. als ein , Verhältnis, das sich zu sich selbst
verhält' (Kierkegaard), so zeigt sich neben Gegebenheit und Aufgegebenheit
ein drittes Moment, das allein aus doppelter Relationalität [x(y) +-+ y(x)] re-
sultiert und mit Entzogenheit bzw. Fremdheit bezeichnet werden kann. Sub-
jektivitätstheoretisch kommt es daher darauf an, Subjektivität als Dreidirnen-
sionalität verständlich zu machen, in der Gegebenheit, Aufgegebenheit und
Entzogenheit sich als Konstitutionsmomente ineinander verschränken: Sub-
jektivität hieße dann nicht nur, sich zu sich selbst und zu anderen wie ande-
rem gar nicht, vollständig' und transparent verhalten zu können (weil es nicht
gelingen kann, sich gänzlich vor sich selbst zu bringen), sondern sich zu die-
ser Selbst- und Anderenentzogenheit selbst wiederum verhalten zu müssen,
so dass Subjektivität als ,Differenz' deutlich werden könnte, die sich gerade
nicht in ,Identität' auflösen lässt, sondern durch Brüche, Verwerfungen und
, blinde Flecken' gekennzeichnet ist. In ihr ist daher mit Entzogenheit ein
konstitutives Moment neben Gegebenheit und Aufgegebenheit bezeichnet,
das nicht mit Entfremdung (aus ursprünglicher Vertrautheit und Beheima-
tung) verwechselt werden darf und daher systematisch eigenständige Berück-
sichtigung finden muss. 14
Was subjektivitätstheoretisch als prinzipielle (und gerade nicht bloß zu-
fällige oder ,künstlich' erdachte) ,Unausdeutbarkeit des Selbst' (vgl. Gamm
2000) einleuchtet, ist auch macht- wie kritiktheoretisch bedeutsam und sei im
kurzen Rückgriff auf Unterscheidungen Foucaults nur angedeutet: während
souveräne Macht als eine ,Führungsführung' qua Gegebenem (Gesetz) bzw.
Entzogenem (Religion) gelesen werden kann, die Aufgegebenheit zu mini-
mieren sucht und - dadurch (!) - diese als Quelle der Kritik allererst einsetzt
und stärkt, so dass das widersprechende ,Für-mich-aber' zum Argument ge-
gen ein ,An-sich' wird, zielt pastorale Macht als ,Führungsführung' auf das
Aufgegebene, das sie - wenn auch historisch dann unterschiedlich dimensio-
niert - zu bearbeiten sucht, indem das Gegebene eher eingeklammert wird;
Bio-Macht (als Bio-Politik) hingegen ließe sich dann als Arrangement des
Gegebenen rekonstruieren, durch das die Spielräume des Aufgegebenen vor-
strukturiert und eingeschränkt werden sollen. Zweierlei Folgerungen seien
exemplarisch erwähnt: zum einen kann der Wandel von negativer zu positi-
ver Macht als systematische Berücksichtigung von Aufgegebenheit zu Zwe-

14 Vor der hier nur angedeuteten Dreidimensionalität wird auch deutlich, wie und warum
,anthropologische Relativismen' - die Menschen seien die (wenn auch sozialen) Kon-
struktionen ihrer seIbst - mindestens zu einfach, wenn nicht gar schlicht falsch sind,
ohne dass deswegen ,substantialen Anthropologien' zugeneigt werden muss. VgI. aus-
führlicher dazu meine Überlegungen in Ricken 2003 wie 2004a, in denen ich - im
Rückgriff auf die Arbeiten Plessners - versucht habe, diese Dreidimensionalität als
eine elementare anthropologische Struktur aufzuweisen.
140 Norbert Ricken

cken der Steigerung und Vertiefung von Macht verständlich gemacht werden,
der nicht nur allgemein der jeweiligen Widerspenstigkeit der Menschen
Rechnung zu tragen versucht (vgl. Foucault 1976), sondern sich sehr genau
der kalkulierenden Beobachtung, dass einerseits alles, was ist, sich jeweilig
zu eigen gemacht werden muss, dieses aber andererseits auch an (gegebene)
Bedingungen geknüpft ist, verdankt (vgl. Foucault 1995). Zum anderen aber
kann Kritik als jeweilige Pointierung einer der ,unterschlagenen' bzw. gar
, unterdrückten' Momente erläutert werden: wie Selbstbestimmung gegen
(diese ausschließen bzw. bestimmen wollende) Fremdbestimmung als Kritik
zu taugen scheint, so ist der Rekurs auf Selbstbestimmung dann weitgehend
ohnmächtig, wenn Aufgegebenheit selbst zentrales Feld der Macht geworden
ist. Angesichts der gegenwärtig beobachtbaren Dominanz pastoraler Macht-
figurationen, die sich im ,Für-mich' legitimieren und im Versprechen ,stabi-
ler Identitäten' andere als Experten meiner ,Selbstsorge' zu installieren su-
chen (vgl. insgesamt Bröckling u.a. 2004), scheint es dann eher ,kritisch',
statt dauernd auf Selbstbestimmung und Autonomie zu pochen, vor allem
Momente der ,Entzogenheit' und ,Gebrochenheit' so zur Geltung zu bringen,
dass sie als jeweilig, blinde Flecken' des aktuellen ,Regiments' deutlich wer-
den können - ohne zugleich damit als substantiale Universalien und überdau-
ernde Kategorien von Kritik überhaupt Geltung beanspruchen zu können.
(vgl. Ricken 2002).
Mit diesen wenigen Andeutungen sei ein kategorialer Horizont skizziert,
der es - ausgehend von (dreidimensional verfasster) Subjektivität - erlaubt,
Macht als ,Führungsführung' wie Kritik als ,Entunterwerfungspraxis' syste-
matisch so zu formulieren, dass diese zugleich in Eigengestalt wie (histori-
scher) Variabilität deutlich werden können und auf jeweilige menschliche
Selbstauslegungen beziehbar werden. Wäre dies überzeugend, wäre ein struk-
turaler Zugriff gewonnen, vor dessen (dreidimensionaler) anthropologischer
Matrix jeweilige Lebens-, Macht- und Kritikformen als unterschiedliche Ak-
zentuierungen und Verknüpfungen der jeweiligen Dimensionen lesbar wür-
den (vgl. Ricken 2004a). Foucaults pointierte Zurück- und Zurechtweisung,
dass Machtverhältnisse keine ,Sinnverhältnisse' seien (vgl. Foucault 1978:
29), wäre - wenn auch in ihrer Justierung gegen Intentionalität zunächst be-
rechtigt - dann aber eine problematische Verkürzung, die gerade das unter-
schlägt, was Macht allererst konstituiert: dass Menschen nicht einfach ,für
sich' oder gar bloß ,an sich' sind, sondern ihr Leben zwar ,für sich', aber
, von anderen her' allererst führen müssen - und allein deshalb ebenso regier-
bar sind wie selbst regieren wollen.
Die Macht der Macht - Rückfragen an Michel Foucault 141

Literatur
Anzieu, Didier (1996): Das Haut-Ich. FrankfurtJMain: Suhrkamp.
Arendt, Hannah (1970): Macht und Gewalt. München: Piper.
Arendt, Hannah (1981): Vita activa - oder: Vom tätigen Leben (1958). München: Piper.
Bachrach, PeterIMorton S. Baratz (1962): The Two Faces of Power. In: The American Po-
litical Science Review 56, S. 947-952.
Benner, Dietrich (Hrsg.) (2004): Erziehung - Bildung - Negativität. 50. Beiheft der Zeit-
schrift für Pädagogik. Weinheim und Basel: Beltz.
Bourdieu, Pierre (2001): Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frank-
furtJMain: Suhrkamp.
Breuer, Stefan (1987): Foucaults Theorie der Disziplinargesellschaft. Eine Zwischenbilanz.
In: Leviathan 15, S. 319-337.
Breuer, Stefan (1991): Max Webers Herrschaftssoziologie. FrankfurtJMain: Campus.
Bröckling, Ulrich/Susanne KrasmannlThomas Lernke (Hrsg.) (2004): Glossar der Gegen-
wart. FrankfurtJMain: Suhrkamp.
Burckhardt, Jacob (1949): Weltgeschichtliche Betrachtungen (1868/1873). Historisch-
kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Rudolf Stadelmann. Pfullingen: Neske.
Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. FrankfurtJMain:
Suhrkamp.
Butler, Judith (2002): Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend. In: Deutsche Zeit-
schrift für Philosophie 50, S. 249-265.
Butler, Judith (2003): Noch einmal: Körper und Macht. In: Axel Honneth/Martin Saar
(Hrsg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. FrankfurtJMain: Suhr-
kamp, S. 52-67.
Dahrendorf, Ralf (1963): Art. Macht und Herrschaft, soziologisch. In: Religion in Ge-
schichte und Gesellschaft. Bd. 4, S. 569-572.
Deleuze, Gilles/Felix Guattari (1992): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie
(1980). Berlin: Merve.
Dotzler, BernhardlIngeborg Villinger (1986): Zwei Kapitel für sich. Notizen zu Habermas'
Foucault-Kritik. In: kultuRRevolution 11 (1986), S. 67-69.
Dreyfus, Hubert L.lPaul Rabinow (1994): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus
und Hermeneutik. Weinheim und Basel: Beltz.
Duden (1983): Deutsches Universal wörterbuch. Mannheim u.a.: Dudenverlag.
Fink-Eitel, Hinrich (1980): Michel Foucaults Analytik der Macht. In: Friedrich A. Kittler
(Hrsg.) (1980): Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme
des Poststrukturalismus. Paderborn u.a.: Schöningh, S. 38-78.
Fink-Eitel, Hinrich (1989): Foucault zur Einführung. Hamburg: Junius.
Foucault, Michel (1971): Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissen-
schaften. FrankfurtIMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefangnisses. Frank-
furtJMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1977): Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Frank-
furtJMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit.
Berlin: Merve.
Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin: Merve.
Foucault, Michel (1994): Das Subjekt und die Macht. In: Hubert L. DreyfuslPaul Rabinow
(1994): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Weinheim:
Beltz, S. 243-261.
Foucault, Michel (1999): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de
France (1975-76). FrankfurtJMain: Suhrkamp.
142 Norbert Ricken

Fraser, Nancy (1994): Foucault über die modeme Macht: Empirische Einsichten und nor-
mative Unklarheiten. In: Nancy Fraser: Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs,
Geschlecht. FrankfurtIMain: Suhrkamp, S. 31-55.
Gadamer, Hans-Georg (1999): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen
Hermeneutik (1960). In: Ders.: Gesammelte Werke. Tübingen: Mohr (Siebeck), Bd. 1.
Galbraith, John Kenneth (1987): Anatomie der Macht. München: Bertelsmann.
Gamm, Gerhard (2000): Die Unausdeutbarkeit des Selbst (1997). In: Gerhard Gamm:
Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten. FrankfurtfMain: Suhr-
kamp, S. 207-227.
Gehlen, Arnold (1961): Art. Macht. In: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften. Hrsg.
von Erwin Beckerath u.a .. Stuttgart u.a.: Fischer. Band 7, S. 77-81.
Grimm, JacobfWilhelm Grimm (1854-1960): Deutsches Wörterbuch (Reprint). München:
dtv.
Habermas, Jürgen (1973): Philosophische Anthropologie (ein Lexikonartikel). In: Jürgen Ha-
bermas: Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze. FrankfurtJMain: Suhrkamp, S. 89-111.
Habermas, Jürgen (1978): Hannah Arendts Begriff der Macht. In: Jürgen Habermas: Poli-
tik, Kunst, Religion. Stuttgart: Reclam, S. 103-126.
Habermas, Jürgen (1985): Der philosophische Diskurs der Modeme. Zwölf Vorlesungen.
FrankfurtIMain: Suhrkamp.
Hardt, MichaellAntonio Negri (2002): Empire. Die neue Weltordnung (2000). Frankfurt
und New York: Campus.
Heine, MichaellRainer Meißle (2002): Mythos Macht. Auf der Suche nach dem Keim der
Herrschaft. Dokumentationssendung in 3sat (3. Juli 2002, 20.45-21.15 Uhr).
Hejl, Peter M. (2001): Art. Macht. In: Ansgar Nünning (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur-
und Kulturtheorie. Stuttgart: Metzler, S. 398-399.
Honneth, Axel (1989): Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschafts-
theorie (1986). FrankfurtfMain: Suhrkamp.
Honneth, Axel (2003): Foucault und die Humanwissenschaften. Zwischenbilanz einer Re-
zeption. In: Ders.lMartin Saar (Hrsg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezep-
tion. FrankfurtfMain: Suhrkamp, S. 15-26.
Hradil, Stefan (1980): Die Erforschung der Macht. Eine Übersicht über die empirische Ermitt-
lung von Machtverteilungen durch die Sozialwissenschaften. Stuttgart u.a.: Kohlharnmer.
Imbusch, Peter (Hrsg.) (1998): Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Konzeptio-
nen und Theorien. Opladen: Westdeutscher Verlag.
Käsler, Dirk (1995): Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung. Frank-
furtJMain und New York: Campus.
Kelly, Michael (Hrsg.) (1994): Critique and Power. Recasting the Foucault 1 Habermas de-
bate. Cambridge 1 Mass. u.a.: MIT Press.
Kierkegaard, Sl'lren (1992): Die Krankheit zum Tode. Gesammelte Werke Abt. 24/25.
Hrsg. von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes. Übersetzt von Emanuel Hirsch. Güters-
loh: Gütersloher Verlagshaus.
Kluge (1999): Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 23. erweiterte Auflage.
Berlin und New York: de Gruyter.
Kobusch, Theo/Ludger Oeing-Hanhoff/Kurt Röttgers/Kari Lichtblau u.a. (1982): Art.
Macht. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt: Wissenschaftliche
Buchgesellschaft. Bd. 5, S. 585-631.
Lemke, Thomas (1997): Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modemen
Gouvernementalität. Hamburg: Argument.
Luhmann, Niklas (1969): Klassische Theorie der Macht: Kritik ihrer Prämissen. In: Zeit-
schrift für Politik 16, S. 149-170.
Luhmann, Niklas (1975): Macht. Stuttgart: Enke.
Luhmann, Niklas (2000): Die Politik der Gesellschaft. FrankfurtJMain: Suhrkamp.
Die Macht der Macht - Rückfragen an Michel Foucault 143

Faber, Karl Georg/Christian MeierlKarl-Heinz Ilting (1982): Art. Macht, Gewalt. In: Ge-
schichtliche Grundbegriffe. Stuttgart: Klett-Cotta. Bd. 3. S. 817-935.
Meyer-Drawe, Käte (1984): Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu
einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität. München: Fink.
Paris, Rainer (1998): Stachel und Speer. Machtstudien. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Popitz, Heinrich (1992): Phänomene der Macht. Autorität - Herrschaft - Gewalt - Tech-
nik. Tübingen: Mohr.
Rentsch, Thomas (2000): Negativität und praktische Vernunft. FrankfurtlMain: Suhrkarnp.
Ricken, Norbert (1999): Subjektivität und Kontingenz. Markierungen im pädagogischen
Diskurs. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Ricken, Norbert (2002): Identitätsspiele und die Intransparenz der Macht. Anmerkungen
zur Struktur menschlicher Selbstverhältnisse. In: Jürgen Straub/Joachim Renn (Hrsg.):
Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modemen Selbst. FrankfurtIMain
und New York: Campus, S. 318-359.
Ricken, Norbert (2003): Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bil-
dung. bislang unveröffentlichte Habilitationsschrift, Münster 2003.
Ricken, Norbert (2004a): ,Menschen'. Zur Struktur anthropologischer Reflexionen als einer
unverzichtbaren kulturwissenschaftlichen Dimension. in: Friedrich JaegerlBurkhard
Liebsch/Jörn RüsenlJürgen Straub (Hrsg.) (2004): Sinn - Kultur - Wissenschaft. Eine
interdisziplinäre Bestandsaufnahme. Band 1: Die Kultur in der Lebenspraxis. Zur Idee
kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe. Stuttgart: Metzler, S. 152-172 [Kap. 3.2].
Ricken, Norbert (2004b): ,Freude aus Verunsicherung ziehn - wer hat uns das denn beige-
bracht!' (Christa Wolf). Über den Zusammenhang von Negativität und Macht. In:
Dietrich Benner (Hrsg.): Erziehung - Bildung - Negativität. 50. Beiheft der Zeit-
schrift für Pädagogik. Weinheim und Basel: Beltz [in Druck].
Röttgers, Kurt (1990): Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik. Freiburg und
München:A1ber.
Röttgers, Kurt (1997): Sozialphilosophie. Macht - Seele - Fremdheit. Essen: Blaue Eule.
Röttgers, Kurt (2002): Die Macht. In: Kurt Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie.
Magdeburg: Scriptum, S. 387-405.
Schäfer, Thomas (1995): Reflektierte Vernunft. Michel Foucaults philosophisches Projekt
einer antitotalitären Macht- und Wahrheitskritik. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Schmid, Wilhe1m (1991): Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem
Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault. FrankfurtlMain: Suhrkarnp.
Schwartländer, Johannes (1973): Art. Macht. In: Handbuch philosophischer Grundbegriffe.
Hrsg. von Hermann Krings u.a. München: Kösel, S. 868-877.
Simmel, Georg (1992): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaf-
tung. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Sofsky, WolfganglRainer Paris (1994): Figurationen sozialer Macht. Autorität, Stellver-
tretung, Koalition. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Taylor, Charles (1988): Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus.
FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Thomae, Hans (1962): Der, Wille zur Macht' als psychologisches Problem. In: Hansgeorg
Loebel (Hrsg.): Von der Macht. Hannoversche Beiträge zur politischen Bildung. Band
2. Hannover, S. 129-146.
Weber, Max (1972): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie.
Tübingen: Mohr (Siebeck).
Wehler, Hans-Ulrich (1998): Die Herausforderung der Kulturgeschichte. München: Beck.
Weinrich, Harald (Hrsg.) (1975): Positionen der Negativität. München: Fink.
Zedler, Johann Heinrich (1732ff.): Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissen-
schaften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfun-
den und verbessert worden. Halle 1732ff.
Alfred Schäfer

Macht - ein pädagogischer Grundbegriff?


Überlegungen im Anschluss an die genealogischen
Betrachtungen Foucaults

1. Macht als zu begrenzende Grundlage der modernen


Pädagogik
Die Thematisierung von Macht führt ins Zentrum des modemen Erziehungs-
verständnisses. Dass der Mensch nur Mensch werden könne durch Erzie-
hung, dass er ohne Erziehung nur ein bloßes Rädchen im undurchschauten
Getriebe der Welt bleiben müsse, bedeutet, dass der Mensch sein Schicksal
im positiven wie negativen Sinne selbst in der Hand hat. Es bedeutet die
Notwendigkeit, es in die Hand, d.h. aber gegenüber Kindern: es in die päda-
gogische Verantwortung zu nehmen. Die tiefe Ambivalenz menschlicher Da-
seinsmöglichkeiten sollte so hin auf eine Selbstbestimmung des Vernunftwe-
sens Mensch überwunden werden. Die Befreiung von gesellschaftlicher Be-
vormundung und vom Diktat der eigenen Leidenschaften sollte das Werk des
Pädagogen sein. Dazu aber bedurfte es der Macht über den erforschten und
zu kontrollierenden Lern- und Entwicklungsprozess des Kindes. Diese Macht
des Erziehers musste gegen Staat und Kirche, gegen ,gesellschaftliche
Mächte', sogar gegen die Unvernunft ,erziehungsunfahiger' Eltern durchge-
setzt werden. Eine Chance hatte diese Perspektive allerdings nur durch ihre
eigene Neutralisierung als Machtanspruch. Pädagogik musste sich legitimie-
ren über die Akzeptanz einer ,Natur des Kindes', seiner ,Selbstverwirkli-
chungsmöglichkeiten " als Anwalt einer ungestörten Entwicklung, der Rechte
des Kindes usw. Solche Legitimationen waren und sind jedoch nichts anderes
als Rechtfertigungen eines als ,pädagogisch vernünftig' qualifizierten Macht-
anspruches. Die pädagogische Macht ist die ,reine' Macht gegenüber jenen
,unreinen' Machtansprüchen, die das Kind ,fremden Einflüssen und Interes-
sen' unterwerfen wollen.
Nun bildet dies eine Legitimationsstrategie, die nicht einmal für den Le-
gitimierenden, also den pädagogischen Theoretiker, einsichtig sein sollte.
Das liegt daran, dass der Heranwachsende, dessen Anwalt man zu sein be-
hauptet, jederzeit den pädagogischen Einfluss als das empfinden kann, was er
nicht sein möchte: als Macht und Bevormundung. Diese Situation ist prekär,
wenn man den Ausgangspunkt modemen pädagogischen Nachdenkens be-
denkt: die Ermöglichung von Selbstbestimmung. Pädagogische Theorien
handeln daher immer auch vom Problem der Legitimation der beanspruchten
Macht angesichts der allgemein in Anspruch genommenen Selbstbestim-
146 Alfred Schäfer

mungo Sie können als Versuche der Grenzbestimmung eigener Machtansprü-


che gelesen werden: "Macht steckt in Erziehung wie ein Stachel oder Pfahl
im Fleisch. Sie ermöglicht Erziehung und kann sie zerstören" (Meyer-Drawe
2001: 447). Macht ist konstitutiv für pädagogische Ansprüche, aber sie muss
begrenzt werden, damit die Perspektive auf jene Selbstbestimmung, die in der
Moderne jede moralische Argumentation diszipliniert, aufrechterhalten wer-
den kann.
Die Umgangsformen der Pädagogik mit diesem Problem können nicht
aufgezählt werden. Sie reichen von der Paradoxierung pädagogischen Han-
delns, das jene Selbstbestimmung bewirken will, die es nicht bewirken darf,
über die einfache Negation des Machtproblems dadurch, dass es für den Un-
terworfenen keines ist (von Rousseau bis zum pädagogischen Verhältnis
Nohls), bis hin zur Auffassung, dass der Erzieher auf der Grundlage wissen-
schaftlicher Erkenntnisse wisse, was für das Kind in welchem Alter und unter
welchen Bedingungen das Optimale sei. Hier interessieren mich jedoch nicht
diese spezifischen Begründungsmuster, sondern der allen vorausliegende
,Grund': die Abbildung auf die Zeit. Pädagogische Macht ist nur als be-
grenzte legitim, sie darf nicht in Gewalt ausarten. Diese Begrenzung hat al-
lerdings einen zeitlichen Horizont. Erziehung als Machtphänomen muss sich
selbst überflüssig machen, und das wird sie dann, wenn ihr Adressat aus ei-
gener vernünftiger Einsicht sich selbst zu bestimmen in der Lage ist. Dann
wird jeder pädagogische Anspruch illegitim.
Diese Abbildung des Machtproblems der Erziehung auf die Zeit, die Le-
gitimation einer Macht dadurch, dass sie sich selbst überflüssig macht, ist
deshalb im vorliegenden Zusammenhang interessant, weil sie das Augenmerk
auf den Zusammenhang von Macht und Wissen lenkt. Vereinfachend könnte
man diesen, die pädagogische Perspektive legitimierenden Zusammenhang
von Wissen und Macht auf folgende Weise beschreiben. Zunächst ist die
pädagogische Macht als Fremdbestimmung von zu vermittelnden Inhalten
und Orientierungen im Interesse des Kindes erforderlich, da dieses weder
über ein Wissen um Sachverhalte in der Welt noch um ein Wissen um ad-
äquates Verhalten in der Welt verfügt. Dies setzt voraus, dass der Pädagoge
über dieses Wissen verfügt, und es ist dieses Wissen, das Machtausübung im
positiven wie negativen, im fördernden wie versagenden Sinne legitimiert.
Das überlegene Wissen des Pädagogen legitimiert seine Handlungsmacht, al-
so jene Macht, dem anderen Menschen sein Handeln und die Maßstäbe seines
Urteilens vorzuschreiben. Das tut ein solches Wissen solange, wie der Päda-
goge sich selber daran hält, seine verordneten Handlungs- und Urteilsregeln
also für sich selbst als verbindlich akzeptiert. Genau das wiederum soll beim
Adressaten der Erziehung bewirkt werden. Auch er soll sich auf der Basis
von (eingesehenem) Wissen kontrollieren. Er soll die pädagogische Macht
nun gegen sich selbst wenden, sich kontrollieren und an das als vernünftig
Eingesehene halten. Dann wird pädagogische Handlungsmacht überflüssig.
Und man kann nach aufklärerischer Diktion auch hinsichtlich des Erzogenen
dann nicht mehr von Macht sprechen: Selbstdisziplinierung im Sinne einge-
Macht - ein pädagogischer Grundbegriff? 147

sehener Vernünftigkeit ist nicht Machtanwendung gegenüber sich selbst,


sondern Selbstgesetzgebung - Autonomie im kantischen Sinne.
Auf beiden Seiten, derjenigen des Pädagogen wie derjenigen seines
Adressaten, ist es mithin der Verweis auf mögliches Wissen, auf Transparenz
und Selbsttransparenz, die eine vorübergehende Macht legitimiert und sie
schließlich als Phänomen überhaupt aufzuheben gestattet. Im Scheinwerfer
des aufgeklärten Individuums verdampft jene Opazität, in der allein Macht
ihren Ort zu haben scheint. Wo das Wissen über die Welt und sich selbst sich
nur an die vernünftige Einsicht und nicht an Vorurteile, Interessen, Leiden-
schaften usw. bindet, da hat Macht keinen Platz mehr. Ich möchte nun in ei-
nem ersten Schritt zeigen, dass Foucaults Analyse der Verbindung von Macht
und Wissen diese (nicht nur, aber auch) pädagogische Legitimationsstrategie
in Frage stellt (2). Anschließend möchte ich Implikationen seiner genealogi-
schen Betrachtung der Macht aufzeigen - also des methodischen Zugriffs,
mit dessen Hilfe Foucault die Ortlosigkeit und Produktivität jener Macht zu
beschreiben versucht, die nicht zuletzt die ,Seele' konstituiert, den Ort der
Selbstthematisierung, der in der Perspektive der Aufklärung eben der Macht
entzogen sein soll (3). Abschließend werde ich versuchen, einige Konse-
quenzen für den pädagogischen Diskurs anzudeuten (4).

2. Macht und Wissen: Zum Einsatzpunkt der Machttheorie


Foucaults
Dass Wissen Macht sei, dieser Satz Francis Bacons richtete sich programma-
tisch an eine frühbürgerliche Subjektivität, die sich gegenüber der Welt auf
möglichst effektive Weise behaupten sollte. Das Wissen über die Welt sollte
die souveräne Selbstbehauptung Wirklichkeit werden lassen. Wissen zielte in
diesem Verständnis auf die Verfügbarkeit der Welt, mehr Wissen auf die bes-
sere Verfügbarkeit angesichts möglicher Konkurrenz. , Wissen' deutet in die-
ser Perspektive auf die Berechenbarkeit natürlicher Vorgänge, auf eine Ma-
thematisierung einer entzauberten Welt. Dass Wissen Macht sei, heißt, dass
Wissen zur Selbstbehauptung genutzt werden kann. Es handelt sich um ein
Wissen, das die Menschen zur Erreichung ihrer Zwecke einsetzen können.
Zugleich konstituiert aber dieses Wissen auch ihre Souveränität. l

, Wissen' meint dabei nicht den Erkenntnisprozess als solchen, sondern die Bedeutung
von ,Erkenntnis' für das Selbstverständnis des Menschen. In den Worten Foucaults:
"Ich verwende das Wort ,Wissen' in Abgrenzung von ,Erkenntnis'. Mit ,Wissen'
ziele ich auf einen Prozess, der das Subjekt einer Veränderung unterwirft, gerade in-
dem es erkennt oder vielmehr bei der Arbeit des Erkennens. Es ist dieser Prozess, der
es gestattet, das Subjekt zu verändern und gleichzeitig das Objekt zu konstruieren. Er-
kenntnis ist die Arbeit, die es erlaubt, die erkennbaren Objekte zu vermehren, ihre Er-
kennbarkeit zu entwickeln, ihre Rationalität zu verstehen, bei der jedoch das for-
schende Subjekt fest und unverändert bleibt" (Foucault 1996: 52).
148 Alfred Schäfer

Dass Wissen Macht ist, ist daher so zu verstehen, dass Wissen Macht
verleiht, nicht aber so, dass Wissen per se schon Macht sei. Dies trifft auch
für die zweite, die reflexive Dimension der Aussage, dass Wissen Macht sei,
zu. Wissen verleiht nicht nur Macht über eine vermessene Welt, sondern gibt
dem Wissenden auch die Möglichkeit, sich selbst und seine sozialen Bezie-
hungen auf der Grundlage dieses Wissens zu ordnen. Solches Wissen macht
dem Menschen die eigene ,Natur' sowie die Logik sozialer Prozesse durch-
sichtig und rückt ihn - genau wie gegenüber der Natur - in die Position des
über sie Verfügenden. Auch solches Wissen verleiht Macht und auch hier
handelt es sich um eine Macht, die in der freien Verfügung des Wissenden
liegt: Er kann, muss sich aber nicht dieses Wissens bedienen. Wissen, so be-
trachtet, konstituiert die Freiheit des souveränen Subjekts gerade dadurch,
dass es diesem Möglichkeiten der Verfügung über sich selbst wie die Welt an
die Hand gibt. Solches Wissen ist Macht, sofern es befreit. Sich ihm zu un-
terwerfen, bedeutet Freiheit. 2
Dass diese Paradoxie des Wissens als solche nicht zum Problem wurde,
liegt an der cartesianischen Subjekt-Objekt-Trennung, jener Gegenüberstel-
lung von denkendem Verstand und dinglicher Welt, die noch durch das Indi-
viduum hindurchgeht. Nur wenn man davon ausgeht, dass die res cogitans
den Bezugspunkt der freien Verfügung über die res extensa bildet, die die
Welt wie auch die eigene Körperlichkeit umfasst, über die mit Hilfe des Wis-
sens (mächtig) verfügt werden kann, nur dann stellt die Einheit von Befrei-
ung und Unterwerfung auch hinsichtlich der eigenen Subjektivität kein Pro-
blem dar. Der Verstand als Ort des Wissens über die ausgedehnten Dinge im
Raum erscheint als das, was dem Wissen gegenübersteht und es auf die Welt
wie die eigene Körperlichkeit anwendet. Andererseits aber ist nicht zu über-
sehen, dass gerade der durch die Welt wie auch die eigene Leiblichkeit nicht
vermittelte Verstand nichts anderes ist als der Ort dieses Wissens, dass er oh-
ne dieses Wissen nichts ist. Dies impliziert zugleich, dass nur unter der Vor-
aussetzung der scharfen Subjekt-Objekt-Trennung das Wissen zwar einerseits
die (Verfügungs-)Macht des denkenden Verstandes konstituiert, dass aber
andererseits dieses Wissen als Wissen schon Macht über den denkenden Ver-
stand, der ohne es nicht vorstellbar wäre, bedeutet. Nimmt man dies ernst,
dann entfällt der Ort jenes souveränen Subjekts, das erst Wissen in Macht
verwandelt. Denn in einem solchen Fall, in dem Wissen selbst als Konstituti-
onsbedingung des der dinglichen Welt gegenüberstehenden Verstandes im-
mer schon Macht über diesen Verstand bedeutet, könnte das Subjekt nur noch
als Medium verstanden werden: als Effekt der Macht des Wissens.
Dies bildet nun genau den Einsatzpunkt der Perspektive Foucaults, in der
Wissen und Macht ebenfalls nicht unabhängig voneinander definiert werden:
Wissen wird auch hier nicht als das verstanden, was nur Verfügungs macht
konstituiert, sondern zugleich als das, was überhaupt die Vorstellung und

2 Diese Paradoxie steht an zentraler Stelle in der Dialektik der Aufklärung von Hork-
heimer und Adorno.
Macht - ein pädagogischer Grundbegriff? 149

Verkennung eines verfügenden Subjekts möglich macht, der sich die Indivi-
duen dann um ihrer Souveränität willen zu unterwerfen haben. Diese Per-
spektive muss also den Ort souveräner Selbstbestimmung aufgeben, weil die-
ser immer schon die Trennung des reinen (befreienden) Wissens von der
Macht des Wissenden voraussetzt. Von einer Befreiung des Subjekts durch
Wissen zu sprechen, wird dann ebenso problematisch wie die Rede von einer
Selbstbehauptung, die sich des Wissens nur bedient - und vielleicht mit mo-
ralischen Gründen im Zaum zu halten wäre. Ich möchte diesen Einsatzpunkt
Foucaults durch eine kurze Reformulierung der beiden Dimensionen der
Aussage, dass Wissen Macht bedeute, verdeutlichen.
Dass Wissen Möglichkeiten der Selbstbehauptung gegenüber der Welt
und damit Macht konstituiert - eine solche Sichtweise ist solange unproble-
matisch, wie man von einer Repräsentationsbeziehung ausgeht, in der Wissen
die Wirklichkeit, wiedergibt', solange man glaubt, dass die sprachlichen Zei-
chen eine verlässliche Beziehung zur von ihnen bezeichneten Wirklichkeit
beinhalten. Dies trifft für beide Machtimplikationen des Wissens zu, die oben
unterschieden wurden: sowohl für die technische Verfügung über die Welt
wie auch für die Möglichkeit der Befreiung von undurchschauten Abhängig-
keiten und der damit einhergehenden Verfügung über sich selbst. Sobald man
- wie Foucault (1971) im Anschluss an Nietzsche - jedoch davon ausgeht,
dass dem sprachlich Bezeichneten keine von der Bezeichnung unabhängige
Realität zuzusprechen ist, stellt sich die Frage nach dem Status des Wissens.
Man kann - auch in Anbetracht des schon von Kant konstatierten Sachver-
halts, dass die Welt ,an sich' dem menschlichen Erkennen unzugänglich ist-
dann trotzdem darauf beharren, dass das sprachlich Bezeichnete eine hinrei-
chend verlässliche Grundlage darstellt, auf der man der Welt gerecht wird,
auf der eine adäquate Verfügung über die Welt möglich ist. Dies würde be-
deuten, die angegebene doppelte Ermächtigungsfunktion des Wissens auch
unter Unsicherheit zu behaupten. Oder man kann demgegenüber davon aus-
gehen, dass jeder Versuch, die Welt zu objektivieren, einen Bemächtigungs-
versuch darstellt, der dem Bezeichneten nicht gerecht zu werden vermag.
Wenn es auch keine Alternative zur sprachlichen Identifikation der Welt ge-
ben mag, wenn das ,Begreifen' der Wirklichkeit auch notwendig ist, so än-
dert das nichts daran, dass eine solche begriffliche Identifikation der Welt
dieser nicht gerecht zu werden vermag: dass jedem Begreifen ein Machtan-
spruch innewohnt? Wissen selbst ist unter diesem Gesichtspunkt immer
schon und nicht erst in seiner Verwendung Macht, da seine Geltung letztlich
davon abhängig gemacht wird, dass das, was als etwas identifiziert wird, mit

3 Ich verwende hier ganz bewusst sowohl zeichentheoretisches wie auch ,begriffstheo-
retisches' Vokabular, um an dieser Stelle auf die (auch vom späten Foucault konsta-
tierte) Nähe zwischen dem Zugriff Foucaults und jener Kritik identifizierenden Den-
kens bei Adomo (1966) hinzuweisen. Andererseits ist auch nicht zu übersehen, dass
das Problem der Grenzen identifizierenden Denkens sich auch in phänomenologi-
schen Ansätzen und daran anschließenden Diskussionen des Problems der Alterität
findet (vgl. für die Pädagogik: Meyer-Drawe 1990).
150 Alfred Schäfer

dem Identifizierten konvergiert. Es ist gerade diese Konvergenz, von der die
Gewissheit jener Souveränität abzuhängen scheint, die sich auf nichts anderes
als auf Wissen stützen soll. Nur wenn Wissen die Wirklichkeit erfasst, kann
es dem Subjekt bei seiner Selbstbehauptung gegenüber der Wirklichkeit als
Machtmittel dienen. Die inhärente Ungerechtigkeit des Wissens gegenüber
dem Gewussten stellt sich von hier aus als Voraussetzung der beiden oben
unterschiedenen Machtkonzepte dar. Es ist unter diesem Gesichtspunkt dann
gerade ein Kennzeichen der Neuzeit, dass der ,genuine' Machtcharakter des
Wissens abgeblendet, verkannt wird. 4
Wenn man den Überlegungen zur Ungerechtigkeit identifizierenden
Denkens gegenüber dem Identifizierten, zur Unerreichbarkeit des realen Re-
ferenten des sprachlich Bezeichneten, zustimmt, dann ist die Einheit von
Wissen und Verkennen notwendig. Nur in der Verkennung der Grenzen des
Machtcharakters von Wissen, dem das Gewusste sich immer auch entzieht,
wird dann verständlich, dass in der Neuzeit Wissen zur Signatur der Hoff-
nung auf eine universelle Beherrschung der Natur und der Selbstverfügung
werden konnte. Ohne hier auf Versuche eingehen zu wollen, die Paradoxie
von Wissen und Verkennen dadurch zu transzendieren, dass man dem fremd-
bleibenden Anderen einen die eigenen Identifizierungsversuche sprengenden
Ort zuweist5, wird doch deutlich, dass eine Berücksichtigung dieser Para-
doxie den Ort des sich wissend selbstbehauptenden Subjekts affiziert.
Erfolgt die Subjektivierung des Individuums, die Konstitution des Indi-
viduums als souveränes Subjekt gegenüber der Welt, durch ein Wissen, das
sowohl Kontrolle der Welt wie Selbstkontrolle ermöglichen soll, dann gibt es
einen klar definierten Ort dieses Subjekts: Es bildet die Schaltstelle zwischen
Wissen und Macht, jenen Ort, der Wissen erst in Macht verwandelt. Geht
man demgegenüber von der Einheit von Wissen und Verkennung aus, dann
setzt sich diese Einheit auch in der Selbstkonstitution des Subjekts fort, die
schließlich über Wissen erfolgen soll. Da in der Verkennung nichts anderes
als die Verfehlung des Machtcharakters von Wissen gegenüber dem von ihm
Vermessenen benannt ist, so bedeutet dies zugleich, dass das Subjekt nicht
nur in seinem , Bewusstsein' von der Welt diese, sondern auch in seinem
,Selbstbewusstsein' sich selbst immer schon verfehlt, sich mithin ,Gewalt'
antut, indem es sich bestimmt. Das souveräne Erkenntnissubjekt ist für
Foucault selbst ein Effekt von Wissens- und damit von Machteffekten. Es
kann nicht mehr als Ort der Freiheit postuliert werden, die, sich auf Wissen
stützend, über die Kontrolle entscheidet, die es der Welt wie sich selbst ange-

4 Dieser taucht dann auf, wenn die ,Nebenfolgen' des wissenschaftlich-technischen


Fortschritts deutlich werden: Dann wird deutlich, dass mit der vermeintlich sicheren
Bestimmung von Sachverhalten zugleich deren Unbestimmtheit wächst (vgl. dazu
Gamm 1994).
5 In diesem Versuch, dem Anderen jenseits der Identifikation einen Ort zuzuweisen, der
die Identifikation unmöglich macht und den oder das Andere ,ankommen' lässt, kon-
vergieren ansonsten unterschiedliche Ansätze: vgl. Adorno 1966; Levinas 1983; 1998;
Derrida 1994; Waldenfels 1997.
Macht - ein pädagogischer Grundbegriff? 151

deihen lassen will. Dass Macht überhaupt als Kontrollfunktion in den Händen
eines souveränen Subjekts verstanden werden kann, ist selbst ein Effekt eines
Wissensverständnisses, das sich als gewaltfrei, weil ,wirklichkeitsadäquat'
definiert. Macht kann nicht mehr als Ergebnis einer freien Entscheidung ei-
nes souveränen Subjekts allein betrachtet werden, als etwas, das in seinen re-
pressiven Auswirkungen mit Hilfe moralischer (oder auch pädagogischer)
Überlegungen, vernünftig' begrenzt werden könnte; Macht ist in dieser Per-
spektive immer schon konstitutiv für jede Art von Selbst- und Weltvergewis-
serung (vgl. Ricken, in diesem Band).
Allerdings wird man davon ausgehen können, dass die aufgezeigte Al-
ternative hinsichtlich der Konzeption des Verhältnisses von Wissen und
Macht solange nicht drängend wird, wie man daran festhalten zu können
glaubt, dass sich die göttlich geordnete Welt offenbart, dass die unterschied-
lichen Perspektiven auf die Welt in der göttlichen Zentralperspektive auf
eben diese Welt ihre unproblematische Einheit finden. 6 Erst wenn Wissen als
Erkenntnis seine Gewissheit in jener Subjektivität findet, die dann auch zur
souveränen Instanz hinsichtlich der Anwendung dieses Wissens avanciert,
erst mit dieser Verschränkung von Wissen, denkender/freier/vernünftiger
Subjektivität und Macht entsteht jenes ,historische Apriori', innerhalb dessen
auch der ,Ermächtigungscharakter' des Wissens für eine vermeintlich souve-
räne Subjektivität diskutiert werden kann. Es entsteht der Horizont, in dem
die Frage Sinn macht, inwieweit jene Figur von konstitutivem Wissen, souve-
räner Subjektivität und Welt- bzw. Selbstkontrolle in freier Verfügung nicht
selbst einer Verkennung aufsitzt. Foucault diskutiert diese Frage nicht nur er-
kenntnistheoretisch7, sondern auch hinsichtlich ihrer sozialisatorischen Fun-
dierung. Er fragt nach den ,realen' Bedingungen jenes modemen Selbstver-
ständnisses, innerhalb dessen sich die Menschen als souveräne Subjekte zu
begreifen lernen. Und er versucht zu zeigen, dass dieses Selbstverständnis der
Effekt einer Verkennung ist: der Effekt jener Einheit von Macht und Wissen,
die im ,souveränen Subjekt' gerade getrennt handhabbar erscheint. Um dem
Vorwurf zu entgehen, er selbst unterliege dem Kritisierten insofern, als er
selbst ,Wissen' mit Objektivitätsanspruch, also Macht-Wissen, produziere,
wählt Foucault als Methode die genealogische Betrachtungsweise, die - seit
Nietzsehe ohne den Anspruch auf eine objektive Adäquanz dem Gegenstand
gegenüber, wohl aber mit dem Anspruch auf Plausibilität - ihr Ziel daran hat,
eine andere Perspektive als sinnvoll erscheinen zu lassen.

6 Das war die Perspektive, die Leibniz seiner Monadenlehre (1982) zugrundelegte und
die bildungstheoretisch noch bei Humboldt ihre Funktion erfüllt (vgl. Menze 1965;
Schäfer 1996).
7 Vgl. Foucaults Darstellung der Doppel des Menschen, die jeden ,letzten' Begrün-
dungsversuch menschlicher Erkenntnis problematisieren und nur noch auf praktische
Lebenshorizonte verweisen: 1971, Kap. 9.
152 Alfred Schäfer

3. Zur Genealogie einer ortlosen, produktiven und leiblich


verankerten Macht
Solange man davon ausgeht, dass Wissen ein souveränes, die Welt wie das
eigene Selbst begreifendes Subjekt konstituiert, solange wird man auch die
Annahme teilen, dass Wissen aus sonst undurchschauten Abhängigkeiten be-
freit. Wo solche Abhängigkeiten bestehen, soll Wissen die Grundlage für Be-
freiungsperspektiven abgeben. Umgekehrt kann man auch sagen, dass es in
Abhängigkeitsverhältnissen im Interesse der Herrschenden liegt, die Abhän-
gigen vom Wissen auszuschließen. Das sich über (scheinbar machtneutrales)
Wissen konstituierende Subjekt, dem Welt wie Selbst transparent erscheinen,
wird zum Maßstab einer Selbstwahrnehmung, die den eigenen Ort in der
Welt nach der Alternative von Freiheit und Repression bestimmt. Diese Al-
ternative von Freiheit und Repression bildet ein moralisch aufgeladenes
Wahmehmungsmuster, das sowohl auf die Abhängigkeiten von anderen wie
auch von eigenen undurchschauten Vorlieben oder , Bedürfnissen' angewen-
det werden kann. Insofern ist dieses Muster einerseits als vorwärts treibender
Motor jenes Subjektivierungskonzepts anzusehen, das sich auf (machtfreiem)
Wissen gründen will, jenes Verständnisses, in dem ein durch Macht selbst
nicht mehr konstituiertes Subjekt Wissen zur (mächtigen) Verfügung nutzt.
Der Prozess solcher Subjektivierung über das Wissen um eigene Abhängig-
keiten kann tendenziell als endlos betrachtet werden. Andererseits aber ist
damit zugleich angezeigt, dass jedes Wissen unter dem Verdacht steht, doch
noch Macht verschleiernde Aspekte zu enthalten. Das über Wissen konstitu-
ierte souveräne Subjekt muss ein ,kritisches', ein misstrauisches Subjekt
bleiben. Die Gegenwehr gegen die überall (sogar aus dem eigenen ,Inneren')
drohende Repression bildet eine Grenzbestimmung seines souveränen Macht-
anspruchs. Immer drohen unterdrückerische Gegner (von ,innen' und ,au-
ßen '), die als solche identifiziert werden müssen, damit man sich von ihnen
frei machen kann.
Foucault weist nun darauf hin, dass eine solche Form der endlosen
Selbstkonstitution über die Suche nach klarem (machtfreiem) Wissen als
Voraussetzung der Selbstbefreiung von undurchschauten Abhängigkeiten, ei-
ner Selbstbefreiung, die dann Macht über sich selbst wie die Welt bedeuten
soll, selbst ein repressives Modell darstellt: Gerade die Fixierung auf die Be-
freiung aus undurchschauten Abhängigkeiten macht fortschreitende Selbst-
und Welterkenntnis zu einer Notwendigkeit, zu einem Zwang, dem man sich
unterwerfen muss, will man ein souveränes Subjekt sein. Subjektivierung
konstituiert so ein souveränes Subjekt als sub-iectum, als Unterworfenes. Die
Suche nach Welt- und Selbsttransparenz folgt einem ,Geständniszwang': Um
die Welt und sich selbst zum ,Reden' zu bringen, bedarf es - sobald man die
Hoffnung auf menschliche Souveränität auf eine durch Wissen ermöglichte
absolute Befreiung setzt - zunehmend raffinierterer Verfahren, Welt und
Selbst im Sinne der Ermächtigung des Subjekts zum Reden zu bringen. Man
kann nicht mehr auf Offenbarung hoffen, sondern muss der Natur die eigenen
Macht - ein pädagogischer Grundbegliff? 153

Fragen stellen und sie mit entsprechenden Methoden zu einer verlässlichen


Preisgabe ihrer Geheimnisse zwingen. Hinsichtlich des Selbst zeichnet sich
für Foucault die Tradition einer christlichen Pastoralmacht ab, die von den
mit unbedingtem Anspruch auftretenden ,Gesetzen' des frühen Christentums
über die im Mittelalter eingeführte Beichtpraxis bis hin zu säkularisierten
Formen wie der Psychoanalyse reicht. 8 Das Gemeinsame solcher Bekenntnis-
formen besteht für Foucault darin, dass in ihnen von okkulten Kräften im
Menschen ausgegangen wird, die durch Offenlegung, durch Unterordnung
unter die Macht des Transparenz erzeugenden Wissens (sei dieses das göttli-
che Gesetz, das Eingeständnis der Sünden oder der Versuch, Verdrängungs-
prozesse aufzuspüren), unter das Regime der ,Wahrheit' aufgehoben werden
können, so dass der Mensch seiner selbst (zumindest in gewissen Grenzen)
mächtig werden kann.
Wenn Wissen selbst als Medium der Subjektivierung, als Medium, über
das das Individuum ein Verhältnis zu sich und zur Welt erhält, betrachtet
wird, und wenn das Wissen zudem unter den Imperativ der ,reinen Wahrheit'
gestellt wird, dem sich das Individuum zu unterwerfen hat, um seiner selbst
und der Welt mächtig zu werden, dann wird nicht nur die Befreiungsper-
spektive selbst repressiv. Repression und Freiheit können im Hinblick auf
Subjektivierungsprozesse nicht mehr als klare Alternative gedacht werden
(vgl. Rieger-Ladich, in diesem Band).
Eine solche Perspektive hat nun nicht nur Konsequenzen für die Vor-
stellung des Subjekts, die nun nur noch auf die Paradoxie einer Einheit von
Unterwerfung und Freiheit verweist, sondern auch für die Auffassung des
Verhältnisses von Wissen und Macht. Wissen als Medium der Subjektivie-
rung hat unter dem Anspruch ,reiner Erkenntnis', unter dem Anspruch der
Freisetzung von unerkannten Zwängen und Verfügungsmöglichkeiten immer
schon Machtcharakter; aber auch umgekehrt gilt dann: Macht kann nicht
mehr einfach nur als repressiv betrachtet werden, sondern sie hat zugleich
unter dem Anspruch eines auf ,reine Transparenz' verpflichteten Wissens be-
freienden - oder neutraler formuliert: produktiven Charakter. Die (auf be-
stimmte Weise qualifizierte) Macht des Wissens bringt eine Subjektivität
hervor, die in diesem Wissen ihre eigene Macht erfährt. Dies impliziert, dass
es keinen Ort der Subjektivität zwischen Wissen und Macht gibt, von dem
her das Verhältnis von Macht und Wissen souverän reflektiert werden könn-
te. Für Foucault gilt, "dass das erkennende Subjekt, das zu erkennende Ob-
jekt und die Erkenntnisweisen jeweils Effekte jener fundamentalen Macht!
Wissen-Komplexe und ihrer historischen Transformationen bilden" (Foucault
1976: 39).
Wenn die Produktivität des MachtlWissen-Komplexes betrachtet werden
soll, dann setzt dies voraus, dass sowohl für den Betrachter wie auch für das
betrachtete Subjekt kein Ort jenseits dieses Komplexes angegeben werden
kann. Foucault versucht, diesem Problem in der Darstellung der eigenen Per-

8 Vgl. Foucault 1977.


154 Alfred Schäfer

spektive Rechnung zu tragen, indem er auf die nietzscheanische Methode der


Genealogie zurückgreift. Die Genealogie untersucht in diesem Verständnis
nicht den Ursprung, sie entwirft keine Geschichte ihres Gegenstandes mit
Objektivitätsanspruch. Sie erzählt eine mögliche Herkunft - mit der Absicht,
die bestehende Form einer scheinbar objektiven Entstehungsgeschichte zu er-
schüttern. Sie widmet sich einem verfremdenden Blick auf Herkünfte und
Implikationen des Selbst- und Weltverständnisses. Dabei greift auch sie auf
, Quellen' zurück, versucht aber mit ihrer Hilfe eine subversive Lesart. Ihr
Anspruch ist nicht objektivistisch, sondern bezogen auf einen konkreten Ge-
genstand die plausible Vorführung einer alternativen, meist umkehrenden
Sichtweise. 9 Es geht um eine Subversion vermeintlich selbstverständlicher
theoretischer wie praktischer Sichtweisen: eine , Subversion des Wissens'.
Hinsichtlich der Subjektivierung im Kontext der Macht/Wissen-Komplexe
fasst Foucault das Programm der Genealogie auf folgende Weise zusammen:
"Die Genealogie erforscht den Boden, aus dem wir stammen, die Sprache,
die wir sprechen, und die Gesetze, die uns beherrschen, um die heterogenen
Systeme ans Licht zu bringen, welche uns unter der Maske des Ich jede Iden-
tität untersagen" (Foucault 1974: 87).
Drei Aspekte dieser identitätszerstörenden genealogischen Herange-
hensweise sollen im Folgenden angedeutet werden. Es handelt sich zu-
nächst um die Auflösung eines Spiels mit klar verteilten Rollen zugunsten
eines offenen Konfliktfeldes; zum zweiten um eine erste Dimension der
Produktivität der Macht: den konfliktabhängigen Wechsel in der Konstitu-
tion von ,Identitäten'; und drittens um die Betonung der leiblichen Dimen-
sion der Konstitution von Subjektivität, den Vorrang der ,großen Vernunft'
des Leibes vor der ,kleinen Vernunft' des Geistes, von der Nietzsche
spricht.
Die Vorstellung eines Gegensatzes von Wissen und Macht, nach der "es
Wissen nur dort geben kann, wo die Machtverhältnisse suspendiert sind"
(Foucault 1976: 39), lebt nicht zuletzt von der Möglichkeit einer ,klaren und
distinkten' Bestimmbarkeit der Gegenstände. Erst wenn Abhängigkeitsver-
hältnisse (,äußere' wie ,innere') klar identifizierbar sind, kann an eine Be-
freiung gedacht werden. Erst wenn klar ist, wer die Macht hat und wer ohn-
mächtig ist, wenn also Identitäten zugeschrieben worden sind, hat Wissen in
dieser Sicht seine subjektivierende Funktion erfüllt. Die Bühne des Befrei-
ungsdramas muss erarbeitet und die Rollen zugewiesen und wenn möglich
noch mit moralischen Konnotationen versehen werden. Foucault interpretiert
nun diese Macht/Ohnmacht-Wahrnehmung gerade nicht im Modus der Re-
pression, nicht als Unterdrückung, sondern - formal - als Weise der Erzeu-
gung von Distanz. Macht und Ohnmacht werden nicht als etwas aufgefasst,
das sich bestimmten Positionen (Herrscher und Unterdrückte) zuordnen ließe

9 Foucault hat seine Verwendung der Genealogie selbst auf Nietzsche zurückgeführt
(vgl. ders. 1974) und sie zugleich gegen das Verfahren der Kritik abgegrenzt (vgl.
ders. 1974a).
Macht - ein pädagogischer Grundbegriff? 155

oder das einen ,objektiven' Maßstab in der Freiheit der Subjekte von jeder
Vermittlung haben würde. Die Macht/Ohnmacht-Wahrnehmung ist ein Me-
chanismus, mit dessen Hilfe Beziehungen sortiert und strukturiert werden
können. Die Konsequenz besteht darin, dass nun nicht mehr von der Bühne
einer historischen Konfrontation von Kräften als einem Ort ausgegangen
werden muss, der als Ort seine Identität über feststehende Rollen gewinnt.
Die Bühne entsteht erst durch das Aufeinanderprallen von Kräften, deren Lo-
gik keiner vorab bestehenden Rollentrennung gehorcht. Konflikte, Distanzie-
rungen (auch diejenigen nach dem Muster Macht/Ohnmacht) entstehen aus
kontingenten Anlässen und die Beteiligten wundem sich, in welcher Position
sie sich auf einmal wiederfinden. Auch wenn Foucault später betont, dass
es neben Machtbeziehungen auch Herrschaftsverhältnisse gibt, also ein
strukturiertes Verhältnis von Macht und Ohnmacht, so bilden solche Ver-
hältnisse dennoch nur Grenzen der Machtspiele, deren Dramaturgie nicht
von vorne herein festzulegen ist. Auch wenn position al Weisungsverhält-
nisse festgelegt sein mögen, so besteht deren Durchsetzung doch in einem
Spiel, in dem jeder verlieren kann. Von Machtverhältnissen ist dann zu
sprechen, wenn der Einsatz mit dem Spiel entsteht und sich verändert. Der
Ort der Distanzierung, des Markierens von Unterschieden, des Kampfes ist
ein "Nicht-Ort" (Foucault 1974: 77) insofern, als die Fronten nicht die Vor-
aussetzung, sondern das immer wieder neu entstehende Ergebnis des Kamp-
fes sind.
Diese Perspektive verabschiedet das Repressionsmodell der Macht und
gestattet eine radikale Auffassung ihrer Produktivität. Macht wird nicht als
Reproduktion einer Struktur verstanden, in der die mächtigen und ohnmäch-
tigen Positionen immer schon verteilt sind, sondern als Prozess, in dem diese
Verteilungen in konkreten Auseinandersetzungen erst hervorgebracht wer-
den. In der immer wieder neuen, von kontingenten Bedingungen hervorgeru-
fenen Distanzierung, der Verteilung der Individuen im Raum von Macht und
Ohnmacht, konstituieren und verändern sich die Sichtweisen auf das eigene
Selbst wie die Welt, ohne dass es dafür einen festen , Grund', eine strukturell
oder substanziell definierte Identität geben würde. Man geht als vermeintlich
liberaler Pädagoge in die Schulklasse und erfährt sich anlässlich eines unvor-
hersehbaren Konflikts als autoritärer Unterdrücker. Die reuige Selbstrefle-
xion im Lehrerzimmer eröffnet ein neues Konfliktfeld, in dem man sich
wieder als liberaler Pädagoge fühlen kann oder in dem die Unterscheidung
von liberal und autoritär sich selbst als nicht trennscharf erweist usw.
,Identität', die relationale Positionsbestimmung des Eigenen im Verhältnis
zum Anderen wie zum Kontext, bildet also die immer vorläufige, kontin-
gente, unvorhersehbare, ständig zu revidierende Resultante von Konflikten.
Dass dies für Foucault auch für das Verhältnis von Macht und Ohnmacht
zutrifft, bedeutet nicht, dass Menschen von den Voraussetzungen der
Machtspiele her gleich wären, dass es also keine positionalen Unterschiede
geben würde, wohl aber, dass in jeder Situation ,oben' und ,unten' neu
ausgemacht werden, dass das Spiel von Unterwerfung und Entunterwerfung
156 Alfred Schäfer

immer wieder neu und an allen möglichen und unvorgesehenen Fronten neu
aufgemacht wird. \0
Auch wenn die Subjekte mediale Träger dieses Spiels sind, auch wenn
also im Spiel selbst erst die Subjektpositionen hervorgebracht werden, so be-
deutet das nicht, dass sie nur als ,Funktionsträger' in den Blick kommen, de-
nen keine Freiheit zuerkannt würde. Damit das Spiel der Macht gespielt wer-
den kann, ist immer schon vorausgesetzt, dass sich die Subjekte zum Spiel
selbst distanziert verhalten, dass sie also dem je aktuellen Spiel gegenüber
,frei' sind. Diese Freiheit ist aber nicht im Sinne eines Gegenprinzips zur
Macht zu verstehen!!, so als ob Freiheit nur jenseits der Machtspiele anzusie-
deln sei, sondern die Mittel der Distanzierung sind selbst nicht jenseits der
Macht anzusiedeln: Eben dies zeigt sich für Foucault am ,Willen zum Wis-
sen', also jener oben dargestellten subjektivierenden Strategie der Neuzeit,
die dem Subjekt Souveränität durch die Bemühung um ,reines Wissen' ver-
spricht.!2
Der dritte Aspekt der genealogischen Betrachtungsweise betont die Un-
hintergehbarkeit dieses Selbstverständnisses eines souveränen Subjekts, das
sich mit Hilfe von Wissen kontrolliert und von daher seine Freiheit gegen-
über der Macht und in der Anwendung von Macht gewinnt. Diese Unhinter-
gehbarkeit wird von Foucault als ,historisches Apriori' der Subjektivierung

10 Hinsichtlich einer Theorie der politischen Auseinandersetzung findet sich diese Per-
spektive bei LaclauIMouffe (2000). Dieser Ansatz geht davon aus, dass es keine zen-
trale gesellschaftliche Auseinandersetzung mit fest verteilten Fronten zwischen Kapi-
tal und Arbeit (mehr) gibt, sondern dass Konflikte, die nach dem Modus von Unter-
werfunglEntunterwerfung sich konstituieren, jederzeit an neuen Fronten ausbrechen
können, wobei sich ,Identitäten' nach je hegemonialen Konstellationen bilden.
11 Dass Macht Freiheit voraussetzt, wird von Foucault selbst betont (vgl. auch Meyer-
Drawe 2001: 450), aber damit ist eben kein kantisches Verständnis der Freiheit ge-
meint: Zur Freiheit, in deren Begriff sich nach Foucault immer ein historisch hervor-
gebrachtes Selbstverständnis ausdruckt, kann man sehr wohl gezwungen sein, wenn
einem erst einmal die historische Vorstellung eines souveränen Selbst, eines , Täters
hinter dem Tun', ,eingefleischt' worden ist. Solche 'Freiheit' fordert alleinige Verant-
wortungsübernahme für sich selbst. Eine abgründig-unbedingte Freiheit, die unter ge-
sellschaftlichen Bedingungen ,kultiviert' werden muss, mündet daher schließlich auch
bei Kant in eine Autonomievorstellung, die nur die paradoxe Einheit von Souveränität
und Unterwerfung lobt. Ein formaler Freiheitsbegriff aber, der auf die Unbedingtheit
des freien Willens abhebt, hat mit ,Vernunft' noch nicht viel zu tun. Und er liegt in
jedem Fall noch vor den Strategien von Unterwerfung und Entunterwerfung.
12 Foucault geht allerdings davon aus, dass die ,Freiheit' als Distanzierungs- und Bewe-
gungsmöglichkeit in sozialen Feldern durchaus unterschiedlich sein kann. So unter-
scheidet er im Spätwerk ,Herrschaft' und ,Macht' dadurch, dass in Herrschaftsver-
hältnissen die Bewegungsspielräume für Machtspiele äußerst begrenzt sind (vgl.
Foucault 1984). Im Rahmen von Herrschaftsverhältnissen und Machtspielen findet
nicht nur die Produktivität der Macht ihren Ort zwischen Unterwerfungs- und Entun-
terwerfungsstrategien, sondern damit werden zugleich Räume eröffnet für Selbstprak-
tiken, für Selbstforrnung. Jedoch ist dieser Bereich hier nicht Gegenstand der Überle-
gungen, da ich mich auf das Verhältnis des Machtkonzepts für Legitimationsüberle-
gungen im Rahmen einer intentional konzipierten pädagogischen Theorie beschränke.
Macht - ein pädagogischer Grundbegriff? 157

verstanden, das zugleich die Effektivität des MachtlWissen-Komplexes be-


zeugt. Diese Unhintergehbarkeit ergibt sich für Foucault aus dem Sachver-
halt, dass diese Form der Subjektivierung eben nicht nur über Kognition, d.h.
über Wissen erfolgt, sondern durch eine ,Einschreibung' in den Leib: Auf
diese Weise wird das Wissen 'mächtig' auch in dem Sinne, dass es eine ver-
meintlich freie Subjektivität, die res cogitans, hervorbringt. Die Subjektivie-
rung des souveränen Individuums erfolgt über eine Vielzahl unterschiedlicher
Zugriffe auf den menschlichen Körper, die sich schließlich zu einer scheinbar
unausweichlichen und konsistenten Konfiguration vereinigen, die keine ande-
re Perspektive als die eines einheitlichen, der Welt gegenüberstehenden und
selbstverantwortlichen Subjekts mehr möglich erscheinen lässt.
Foucault beschreibt die normalisierende Konstitution eines souveränen,
für sich selbst verantwortlichen Subjekts bekanntlich als System der Diszi-
plinen, als in unterschiedlichen sozialen Bereichen historisch auftretendes
System von Körperkontrollen. Diese Kontrollen, auf deren detaillierte Be-
schreibung hier nicht näher eingegangen werden muss \3, produzieren eine
"Individualität mit vier Merkmalen,,14: "diese Individualität ist zellenförmig
(aufgrund der räumlichen Parzellierung)", jedem Individuum wird ein ver-
einzelnder Platz im Raum zugeordnet, der es erlaubt, seine Tätigkeiten zu in-
dividualisieren, sie ihm als individuelle zuzuschreiben; sie ist "organisch
(dank der Codierung der Tätigkeiten)", Tätigkeiten, die in ihrem festgelegten
Ablauf geübt werden können; diese Individualität ist "evolutiv (aufgrund der
Zeithäufung)", aufgrund der wiederholten Übung codierter Tätigkeiten zu-
nehmend selbstkontrolliert und perfektioniert; sie ist "kombinatorisch (durch
Zusammensetzung der Kräfte)". Es handelt sich um eine Zusammensetzung,
die eine selbstdisziplinierte und verantwortliche Funktionsübernahrne im
Rahmen sozialer Pflichten ebenso enthalten mag wie die Erfüllung der Stan-
dards einer, vernünftigen Lebensführung'. Durch vier Techniken erreicht die
Disziplinierung ihr Ziel: "sie konstruiert Tableaus; sie schreibt Manöver vor;
sie setzt Übungen an; und um das Zusammenspiel der Kräfte zu gewährleis-
ten, ordnet sie ,Taktiken' an" (Foucault 1976: 216). Diese Techniken der
Körperkontrolle werden durch eine hierarchische Überwachung, normierende
Sanktionen und Prüfungen abgestützt. Ihren Fokus finden die Disziplinierun-
gen der ,gelehrigen Körper' sowie die ,Mittel der Abrichtung' in der ,Auto-
nomisierung' des Subjekts, in der Konstruktion eines allein verantwortlichen
,Täters hinter dem Tun', einer Subjektivität, die als (über Normalitätsmaß-
stäbe) identifizierbare ,Person' sich in all ihren Handlungen und Äußerungen
,ausdrückt'. Nicht die Handlung, ihre Hervorbringung, Korrektur oder Ver-
änderung bilden das Ziel der Disziplinen, sondern die hinter den Handlungen
liegende ,Seele'. Diese gilt es, formend hervorzubringen, wozu man Norma-

13 Vgl. Foucault 1976. Dieses Buch ist wohl das in der Pädagogik am breitesten rezi-
pierte Werk Foucaults, in dem gerade auch die Pädagogik selbst als System der Diszi-
plinen dargestellt wird.
14 Ebenda 216. Auch die folgenden Merkmalsangaben finden sich dort.
158 Alfred Schäfer

litätsmaßstäbe braucht, die von den (in diesem Horizont entstehenden) Hu-
manwissenschaften zunehmend produziert werden. Die ,Seele' als das hinter
allen Äußerungen Stehende bildet jenes Imaginäre, das durch die Disziplinie-
rung der Körper als Qualität hervorgebracht werden soll. "Die Seele: Ge-
fängnis des Körpers" (ebd.: 42). Dass die ,Seele' eine Vorstellung ist, be-
deutet nicht, dass sie nicht ,real' wäre. Foucault betont, dass ihre Wirklichkeit
in den Disziplinen liegt: ,,sie existiert, sie hat eine Wirklichkeit, sie wird stän-
dig produziert - um den Körper, am Körper, im Körper - durch Machtaus-
übung [... ] an jenen, die man überwacht, dressiert und korrigiert, an den Wahn-
sinnigen, den Kindern, den Schülern, den Kolonisierten, an denen, die man an
einen Produktionsapparat bindet und ein Leben lang kontrolliert" (ebd.: 41).
Die Vorstellung der ,Seele', jene normative Vorstellung eines hinter al-
len Äußerungen eines Individuums stehenden verantwortlichen, selbstkon-
trollierten und daher ,normalen', souveränen Subjekts, bildet den Bezugs-
punkt von Disziplinierungstechniken, die diese Vorstellung in den Körper
,einschreiben', sie zur ,zweiten Natur' werden lassen. Ein Moment jener
Subjektivierungspraxis im Zeichen der ,Seele' bilden jene Diskurse, die sich
um Souveränität, Befreiung und Autonomie dieser ,Seele' zentrieren, sich
von religiöser und sozialer Heteronomie distanzieren und um die Möglich-
keiten und Grenzen eines solchen Subjekts in erkenntnistheoretischer, mora-
lischer und politischer Hinsicht kreisen. Diese bilden in der Sicht Foucaults
als Diskurspraktiken Momente jenes Dispositivs der Subjektivierung, das
vernünftige Freiheit und Souveränität an disziplinierende Unterwerfung bin-
det.

4. Noch einmal: Pädagogik und Macht


Hält man die Perspektive Foucaults auf Macht, Wissen und Subjektivierung
für plausibel, wird man sich fragen müssen, was dies für das eingangs skiz-
zierte Verhältnis der Pädagogik zur Macht bedeutet. Immerhin wird jene Fi-
gur problematisch, nach der pädagogische Machtausübung nur in einer zeitli-
chen Begrenzung zu legitimieren ist, die letztlich über die zunehmende Ein-
sicht des Adressaten in ,Wissen' erfolgt, das diesen autonomisiert und in sei-
ner Transparenz Machtbeziehungen überflüssig macht - bis auf die, denen
man sich selbst und andere mit Vernunftanspruch unterwirft.
Was mit Foucaults Analytik der Macht, der Subversion ihres repressiven
Charakters in einen produktiven und damit endlosen Prozess, problematisch
wird, das ist die Abbildung der pädagogischen Legitimation auf die Zeit: der
Prozesscharakter von ,Erziehung', der es erlaubt, konkrete Machtausübung
im Hinblick auf die spätere Einsicht des Adressaten zu legitimieren, die dann
Macht überflüssig machen werde. Eine solche Vorstellung geht von einer re-
pressiven Machtvorstellung aus, die durch Wissen ermöglicht und begründet
zu werden vermag letztlich dadurch, dass dieses Wissen in die Regierung des
Macht - ein pädagogischer Grundbegriff? 159

eigenen Selbst und ein souveränes Verhältnis zur Welt transformiert wird.
Eben das macht Erziehung überflüssig. Was zum Problem wird, das ist damit
einerseits (wie schon in der pädagogischen Tradition) der Rahmen einer pä-
dagogischen Gewährleistung der ,freien' Selbstkonstitution, die Verfügungs-
und Verantwortungsansprüche gegenüber dem Prozess der Herausbildung der
,Seele'. In Frage gestellt wird dieser Rahmen durch die unterstellte Möglich-
keit einer linear und repressiv wirkenden Macht. Andererseits erscheint die-
ser Rahmen gerade auch deshalb fragwürdig, weil er mit der Vorstellung der
,Seele' operiert, also mit der Vorstellung eines souveränen Subjekts, das für
sich Wissen in Macht (über sich selbst wie die Welt) zu wandeln vermag.
Problematisch wird demnach die Qualifizierung von Handlungsweisen als
,pädagogisch', die immer über die Einordnung in einen zielintegrierten Pro-
zess erfolgt, der auf die Hervorbringung einer bestimmten Qualität von
,Seele' zielt. 15 Damit ist nicht der Sachverhalt gemeint, dass man Kinder von
sie gefährdenden Situationen fernhalten sollte, dass man darauf achten sollte,
dass sie die Rechte anderer Mitmenschen respektieren usw.; problematisch
wird nur eine Legitimationsstrategie, die dies nicht mit der einfachen Unter-
bindung und Förderung konkreter Handlungen begründet, sondern mit dem
Hinweis auf die Bedeutung des ,pädagogischen Eingriffs' für die künftige
,Persönlichkeitsbildung' , damit, dass das Kind später schon den Sinn des
Wissens einsehen werde, den der Pädagoge mit seinem Eingriff verbunden
habe.
Was in Frage steht, ist das Proprium neuzeitlicher Pädagogik: die Inten-
tionalisierung von Beziehungen und Kommunikationen im Rahmen einer
pädagogischen Handlungstheorie, die Wirkungsperspektiven und Verant-
wortungshorizonte aus der Perspektive des ,Erziehers' formuliert. Zur Kon-
zipierung solcher Handlungstheorien, zur Qualifizierung des pädagogischen
Charakters von Handlungen, wird in der Neuzeit auf die Vorstellung jener
,Seele' zurückgegriffen, jenes ,Täters hinter dem Tun', deren Hervorbrin-
gung eines langfristig angelegten Prozesses bedarf. Dieser Prozess wird dann
nach dem Muster konzipiert: Stellvertretendes Wissen legitimiert Macht, die
überflüssig wird, wenn der Adressat selbst über das Wissen verfügt. Die Er-
möglichung von souveräner und vernünftiger Selbstbestimmung, in der Wis-
sen und damit: Transparenz die Grundlage bilden, stellt den Bezugspunkt dar,
vor dem pädagogische Handlungen als solche einen Sinn gewinnen. Sie ge-
hören zum System der Disziplinen: Diese Ahnung macht den Stachel der
Macht im pädagogischen Nachdenken aus. Sie koppeln freie Selbstbestim-
mung mit Autonomie und Vernunft und hängen der Vorstellung an, dass eine
solche (disziplinierte) Selbstbestimmung nur durch pädagogisches Handeln
ermöglicht werden könne.
An dieser Möglichkeit der pädagogischen Intentionalisierung von Insti-
tutionen, Prozessen, Konflikten, Sichtweisen usw. wird festgehalten - gegen
alle Widerstände. Auch wenn selbst von empiristischer Seite zugestanden

15 Vgl. zu den Konstruktionsproblemen pädagogischer Wirklichkeiten: Schäfer 1989.


160 Alfred Schäfer

wird, dass Wirkungen von als pädagogisch interpretierten Handlungen im


Hinblick auf die ,Persönlichkeitsbildung' nicht feststellbar sind (vgl. Brezin-
ka 1978), auch wenn dies aus einer interpretativen Perspektive sofort ein-
sichtig ist, da ,Persönlichkeit' ebenso eine Interpretation darstellt wie ,päda-
gogische Handlungen', so dass von , Wirkungen' auch nur im Lichte solcher
Konstruktionen gesprochen werden kann - so haben diese Hinweise auf das
Phantastische der pädagogischen Wirkungsvorstellungen, an denen immerhin
der , Wirklichkeitscharakter' sowie der Verantwortungsdiskurs , pädagogi-
schen Handeins ' hängen, nicht zu einer Problematisierung der pädagogischen
Handlungstheorie geführt. Man könnte mit Foucault sagen, dass diese Form
der Intentionalisierung des Pädagogischen die Vorstellung der ,Seele' inso-
fern zur Wirklichkeit macht, als sich Praktiken und Diskurse um dieses Ima-
ginäre herum organisieren: Selbst- und Weltverständnisse durchgesetzt wer-
den, in denen die ,Seele' eine Rolle spielt, die sie nicht spielen kann.
Ebenso wie die Diskussion um die Wirkungsproblematik hat der main-
stream des pädagogischen Diskurses in den letzten dreißig Jahren zwei weite-
re Provokationen erfolgreich ausgesessen: Sozialisationstheorie und Interak-
tionismus. Die Sozialisationstheorie hatte darauf verwiesen, dass jene Wirk-
lichkeit, die von pädagogischen Handlungstheorien als steuerbar und verant-
wortbar durch den souveränen Pädagogen behauptet wurde, Regeln gehorcht,
in deren Licht auch pädagogische Intentionen nur funktionale Elemente dar-
stellen. Die Sozialisationsperspektive steht für Intransparenz, für latente Be-
deutungen und sozial-institutionelle Grenzen pädagogischer Absichten, für
deren Verstrickung in ,Machtspiele'. Die pädagogische Gegenstrategie be-
stand im Dank für zusätzliche Transparenz: Das hatte man bis jetzt noch
nicht so gesehen, aber mit Hilfe dieser Aufklärung könnte man jetzt auch
noch die Latenzen in den pädagogischen Griff und die pädagogische Verant-
wortung nehmen.
Ein ähnliches Schicksal widerfuhr dem Symbolischen Interaktionismus.
Dass Menschen in Perspektivenübernahmen verstrickt sind, die sich situativ
konstituieren und einer beständigen Veränderung und Unsicherheit unterlie-
gen, dass sie also in ihrer Bewältigung von Situationen wechselseitig aufein-
ander angewiesen sind, immer aus der je aktuellen und interpretierten Sicht
des Gegenübers den Sinn ihrer Handlungen bestimmen, passt nicht in das
Konzept pädagogischer Intentionalisierung. Eine Verstrickung des Pädago-
gen in Situationen lässt den notwendigen Überblick über einen langfristigen
Prozess der ,Persönlichkeitsbildung' und die interpretative Metaperspektive
vermissen, die die situationsabhängige Handlungsweise des Pädagogen in ih-
rer Bedeutung im Hinblick auf diese , Persönlichkeitsbildung , begreift. Der
Pädagoge muss unabhängig sein von der übernommenen Perspektive seiner
Adressaten - und das ist er durch eine bessere Fähigkeit zur ,Rollenüber-
nahme' sowie durch die Selbstverpflichtung auf das pädagogische Projekt.
Aus der verunsichernden Verstrickung in wechselseitige Perspektivenüber-
nahmen wird so eine souveräne Objektivierung des Adressaten. Pädagogi-
sche Macht legitimiert sich (wie üblich) durch überlegenes Wissen und macht
Macht - ein pädagogischer Grundbegriff? 161

sich dort überflüssig, wo das Wissen auch beim Adressaten vorhanden ist: in
wechselseitiger Vollendung innerhalb eines empathischen Paradieses.
Aus der Sicht Foucaults müssen solche Re-Intentionalisierungen von un-
durchschauten Verstrickungen und interaktiver Prozessualität als in der Logik
der Vorstellung einer disziplinierenden Konstitution des souveränen Subjekts
stehend betrachtet werden. Sie folgen dieser Logik gerade darin, dass sie ei-
nen Ort des (pädagogischen) Subjekts jenseits der ,Machtspiele' behaupten:
Der Pädagoge ist gleichsam die Inkarnation jenes souveränen Subjekts, das
auf der Grundlage von Wissen, von Transparenz, selbstkontrolliert Macht
ausübt, die deshalb keine illegitime Macht ist, weil ihr Ziel nur in jener Trans-
parenz beim Adressaten besteht, die jede Macht überflüssig macht. 16 Der
Pädagoge bildet im Rahmen der pädagogischen Handlungstheorie die vollen-
dete Verkörperung der, Seele', jenes Identitätszwangs, der es möglich macht,
dass jede seiner Ausdrucksformen unter dem Gesichtspunkt der entworfenen
,idealen Normalität eines Pädagogen' ihm zugerechnet werden kann.
Unter dem Gesichtspunkt einer nicht-repressiven, sondern produktiven
Vorstellung von Macht, die zudem ,unterhalb' der bewussten bzw. diskursi-
ven Thematisierung auf einer durch Normalisierungsprozeduren abgestützten
leiblichen und affektiven Bindung ansetzt, wäre ein alternativer Ansatzpunkt
eines pädagogischen Nachdenkens möglicherweise in der von Foucault be-
tonten Differenz von Unterwerfungs- und Entunterwerfungsstrategien zu se-
hen. 17 Diese Differenz, die die ,Freiheitsspielräume' der Individuen betont,
liegt nicht jenseits der, Wahrheitsspiele' der Macht. Es handelt sich bei dieser
Differenz von Unterwerfung und Entunterwerlung nicht um die idealistisch
verstandene Alternative von Unterdrückung und Freiheit, womit der Pädago-
ge wieder die einfache Möglichkeit hätte, sich auf die richtige Seite zu stel-
len. 18 , Entunterwerfung, hat ihren Bezugspunkt nicht in einer kantischen

16 Wie oben (Fußnote 12) schon betont: Mein Thema ist hier nicht die Hinwendung des
späten Foucault zu den Technologien des Selbst. Diese steht aber m.E. nicht in Ge-
gensatz zur genealogischen Betrachtung der Macht (vgl. auch Foucault 1993: 26). Die
Analytik als eine von Disziplinierung und Subjektivierung gibt den Raum von Unter-
werfungs- und Entunterwerfungspraktiken vor, innerhalb dessen auch die Technologi-
en des Selbst verortet werden können.
17 Foucault hat besonders in seiner Schrift Was ist Kritik? (1992) auf die alle Diszipli-
nierungs- und Normalisierungsversuche begleitenden Bestrebungen der Individuen
hingewiesen, sich in kritischer Haltung der Machtimplikationen von ,Wahrheiten' zu
vergewissern.
18 Von einer solchen Perspektive scheint mir selbst die bereits angeführte Interpretation
von Meyer-Drawe nicht ganz frei zu sein. Wenn die Autorin betont, dass es Aufgabe
der Pädagogik sei, "sich damit zu befassen, wie der Protest der Freiheit möglich
bleibt", dass sie jede Verschleierung von Macht zu kritisieren habe (Meyer-Drawe
2001: 450), dann wird der Ort der Pädagogik, an die solche Ansprüche gestellt wer-
den, ebensowenig deutlich wie die Bedeutung von Freiheit. Ob der ,Protest der Frei-
heit' nicht selbst ein Machtspiel ist, und inwieweit die ,Entschleierung der Macht', al-
so machtfreie Transparenz möglich sind, das sind ja gerade die von Foucault ins Zen-
trum gerückten Fragen.
162 Alfred Schäfer

Aufklärungsperspektive, die auf der Grundlage des Wissens Transparenz und


Selbsttransparenz herstellt als Bedingung für eine freie Selbstbestimmung.
Foucault spricht im Hinblick auf ,Entunterwerfung' zwar auch von ,Aufklä-
rung', aber von ,Aufklärung' als einer ,Haltung', einer ,Tugend', deren Äu-
ßerungsform die Kritik ist (vgl. Foucault 1992: 15). Kritik ist demnach "die
Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit
auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdis-
kurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der
reflektierten Unfügsamkeit" (ebd.). Im Gegensatz zu Kant betont Foucault,
dass es bei der Kritik nicht um eine "Legitimitäts prüfung" (ebd.: 30) gehe,
die einen ,transzendentalen Standpunkt' voraussetzen würde, sondern es geht
um das Auffinden der Verschränkungen "zwischen Zwangsmechanismen und
Erkenntniselementen" (ebd.: 31). Diese Suche gewinnt ihr kritisches Motiv
aus der Frage: "Wie ist es möglich, dass man nicht derartig, im Namen dieser
Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert wird -
und dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird?"
(ebd.: Ilf.). Es geht um Widerstand, für den aber keine Wissensperspektive
jenseits der Wahrheitsspiele der Macht in Anspruch genommen werden kann.
Es geht um Widerstand, der in der Logik der disziplinierenden Konstitution des
souveränen Subjekts selbst als historische Wahrscheinlichkeit organisiert wird.
Die Rolle des Pädagogen, der als Moment eines solchen Interaktionspro-
zesses zu begreifen wäre, der um diesen Macht/Wissen-Komplex kreist, der
sich wiederum als um die Differenz von Unterwerfung/Entunterwerfung her-
um organisiert zeigt, bleibt prekär (vgl. Masschelein, in diesem Band). Nicht
nur deshalb, weil jede Intentionalisierung eines pädagogischen Projekts von
hier aus unmöglich erscheint, sondern auch, weil er selbst Bezugspunkt von
Entunterwerfung durch ,seinen' Adressaten ist, weil sein pädagogischer
Machtanspruch insofern ,funktional' ist, dass er Kritik als Haltung provo-
ziert. Die Unmöglichkeit des Pädagogischen im traditionell-handlungs-
theoretischen Verständnis gewährleistet dann gerade nicht das kritische Sub-
jekt der Vernunftautonomie, wohl aber Kritik als Haltung, jene Attitüde, die
in den Spielen der Macht eine Entunterwerfung im Auge hat - sich nicht so
und nicht auf diese Weise regieren zu lassen. Kritik als Haltung bedarf keines
versichernden Rückgriffs auf eine unvermittelt gedachte 'reine' Subjektivität.
Ob dies aber bedeutet, dass man, um Kritik als Haltung zu ermöglichen,
weiterhin an Sinn und Legitimation pädagogischer Intentionalität basteln soll,
oder dass man sich auf die Möglichkeiten einer Pädagogik konzentrieren soll,
die auf handlungstheoretische Entwürfe der ,Seelen-Konstruktion' verzichtet
und sich stattdessen im Bewusstsein um die Unentscheidbarkeit moralischer
Optionen und in paradoxem Rückgriff auf das, was der Subjektivierungsform
sich entzieht, ihrer Grenzen zu vergewissern versucht - diese Frage soll hier
offen bleiben.
Macht - ein pädagogischer Grnndbegriff? 163

Literatur

Adomo, Theodor W. (1966): Negative Dialektik. FrankfurtlMain: Suhrkamp.


Brezinka, Wolfgang (1978): Metatheorie der Erziehung. München und Basel: Reinhardt.
Derrida, Jacques (1994): Den Tod geben. In: Anse1m Haverkamp (Hrsg.): Gewalt und Ge-
rechtigkeit. Derrida - Benjamin. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 331-445.
Foucault, Michel (1971): Die Ordnung der Dinge. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1974): Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Ders.: Von der Sub-
version des Wissens. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 69-90.
Foucault, Michel (1974a): Die Ordnung des Diskurses. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frank-
furtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1977): Sexualität und Wahrheit 1. Der Wille zum Wissen. Frank-
furtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1984): Freiheit und Selbstsorge. FrankfurtlMain: Materialis.
Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin: Merve.
Foucault, Michel (1993): Technologien des Selbst. In: Ders. u.a.: Technologien des Selbst.
FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 24-62.
Foucault, Michel (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Tromba-
dori FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Gamm, Gerhard (1994): Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als
Ausgang aus der Modeme. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Horkheimer, MaxfTheodor W. Adomo (1998): Dialektik der Aufklärung. FrankfurtIMain:
Fischer.
Laclau, Emesto/Chantal Mouffe (2000): Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekon-
struktion des Marxismus. Wien: Passagen.
Leibniz, G.W. (1982): Monadologie. Stuttgart: Reclam.
Levinas, Emmanuel (1983): Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie
und Sozialphilosophie. Freiburg und München: Alber.
Levinas, Emmanuel (1998): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg und
München: Alber.
Menze, Clemens (1965): Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen. Ratin-
gen: Henn.
Meyer-Drawe, Käte (1990): Illusionen von Autonomie. Diesseits von Allmacht und Ohn-
macht des Ich. München: Kirchheim.
Meyer-Drawe, Käte (2001): Erziehung und Macht. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaft-
liche Pädagogik 77, S. 446-457.
Schäfer, Alfred (1989): Zur Kritik pädagogischer Wirklichkeitsentwürfe. Möglichkeiten
und Grenzen pädagogischer Rationalitätsansprüche. Weinheim: Deutscher Studien
Verlag.
Schäfer, Alfred (1996): Das Bildungsproblem nach der humanistischen Illusion. Wein-
heim: Deutscher Studien Verlag.
Waldenfels, Bemhard (1997): Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des
Fremden 1. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Maarten Simons

Lernen, Leben und Investieren:


Anmerkungen zur Biopolitik*

"Human beings are unique among allliving organisms in


that their primary adaptive specialization lies not in some
particular physical form or skill or fit in an ecological niche,
but rather in identification with the process of adaption
itself - in the process of leaming.
We are thus the leaming species, and our survival
depends on our ability to adapt not only in the reactive
sense of fitting into the physical and social
worlds but in the proactive sense of creating
and shaping those worlds."
DavidKolb

1. Einleitung
In Europa mangelt es gegenwärtig an Raum. Das zeigt sich jedenfalls an ei-
ner Reihe von Initiativen. So ist in der Verlängerung der Lissabon-Strategie
und der europäischen Wissensgesellschaft die Rede vom ,Europäischen For-
schungsraum'. Ein anderes Projekt ist die Schaffung eines ,Europäischen
Raumes für lebenslanges Lernen'. Und in Kreisen, die sich mit Unterrichts-
forschung beschäftigen, ist der bekannteste Raum der ,Europäische Hoch-
schulraum '. Man erwartet von uns, dass wir die zukünftigen Bewohner des
,Europäischen Hochschulraumes' sind. Die Bologna-Erklärung von 1999 be-
trachtet ein ,Europa des Wissens' denn auch als eine "unerlässliche Voraus-
setzung für gesellschaftliche und menschliche Entwicklung sowie als unver-
zichtbare Komponente der Festigung und Bereicherung der europäischen
Bürgerschaft. "I

* Für die kompetente Übersetzung des Manuskripts aus dem Niederländischen sei
Mechthild Ragg und Berthold Tacke herzlich gedankt.
Vgl. hierzu: Der Europäische Hochschulraum. Gemeinsame Erklärung der Europäi-
schen Bildungsminister, 19. Juni 1999, Bologna.
166 Maarten Simons

Um eine solches Europa zustande zu bringen, ist der Erklärung zufolge


ein ,European Higher Education Area' unentbehrlich. Der europäische Hoch-
schulraum muss daher internationale Wettbewerbsfahigkeit, Mobilität und
,employability' anstreben. Dafür werden sechs Ziele formuliert: (1.) Der
Aufbau eines Systems leicht verständlicher und vergleichbarer Ausbildungen,
das (2.) auf zwei Zyklen basiert und (3.) ein Leistungspunktesystem beinhal-
tet; weiterhin (4.) die Förderung der Mobilität (von Studenten, Dozenten,
Forschern), (5.) die Förderung der Zusammenarbeit in der Qualitätssicherung
und schließlich (6.) die Förderung einer europäischen Dimension im Hoch-
schulbereich.
Aufgrund einer auf Michel Foucault basierenden Analyse, namentlich in-
spiriert durch dessen Konzept der Gouvernementalität, wurde gezeigt, wer
die Bewohner dieses vielbeschworenen Raums sind: Es sind die unternehme-
rischen Individuen und unternehmerischen Einrichtungen, die ein globales
Netzwerk oder eine globale Infrastruktur benötigen (vgl. MasscheleiniSimons
2002; 2003). Das unternehmerische Selbst bedarf einer Infrastruktur, um das
Humankapital einzusetzen, es muss, um wählen zu können, fortwährend
Sicht auf den Mehrwert oder die Qualität haben, und es muss mit Sachkennt-
nis in zusätzliches menschliches Kapital investieren und somit seine Lern-
Kraft produktiv einbringen können. Der europäische Hochschulraum bildet
daher eine Infrastruktur für unternehmerische Einrichtungen und unterneh-
merische Studenten, die der Zukunft auf eine investierende Art, d.h. berech-
nend und eigennützig, entgegensehen. Und soweit wir uns selbst (als Stu-
denten, Dozenten oder Vertreter einer Einrichtung) auf diese Weise verste-
hen, ist die europäische Struktur mehr als willkommen. Der europäische
Hochschulraum ist aus diesem Grunde eine konkrete und plastische Illustra-
tion dessen, was Ulrich Bröckling und andere als die "Ökonomisierung des
Sozialen" (Bröckling et al. 2000) charakterisiert haben. Diese Formel ver-
weist jedoch nicht in erster Linie auf die Kolonisierung des sozialen Bereichs
durch den ökonomischen Bereich, sondern auf die neoliberale Regierungs-
konfiguration, in der das Ökonomische selbst verändert ist: Das Ökonomi-
sche, genauer gesagt, das Unternehmertum, das sich durch ein ,permanentes
ökonomisches Tribunal' leiten lässt, ist kennzeichnend für alle Aktivitäten
und Umgangsformen. Kurzum: In der neoliberalen Regierungskonfiguration
hat der Unterschied zwischen der Ökonomie und dem Sozialen als bislang
zwei sauber voneinander getrennten Bereichen keine Bedeutung mehr.
Es ist diese Analyse der gegenwärtigen Zustände, die ich weiter ausar-
beiten möchte, indem ich erneut Foucaults Ausdruck der ,Biopolitik' in den
Vordergrund rücke. Foucault führt diesen Begriff in der Mitte der 1970er
Jahre ein, um auszudrücken, dass neben der Disziplinierung des Körpers die
Regulierung der Bevölkerung einen wichtigen Stützpfeiler der Machtaus-
übung in einem modemen Staat bildet. Obgleich kürzlich aus verschiedenen
Blickwinkeln auf die Biopolitik zurückgegriffen wurde, blieb dieser Begriff
im Rahmen der Studien zur Gouvernementalität dennoch bislang etwas unbe-
achtet. Dies ist vielleicht nicht ganz überraschend, da Foucault selbst in sei-
Lernen, Leben und Investieren 167

nen späteren Arbeiten bloß am Rande auf diesen Begriff zurückkommt. Ob-
wohl die Vorlesung des Jahres 1978-1979 explizit den Titel ,,Naissance de la
biopolitique" trägt, konzentriert er sich hier faktisch doch auf die Geburt der
liberalen und neoliberalen Form der Gouvernementalität. Er arbeitet die Bio-
politik in diesen ökonomischen Führungsregimen daher nicht detailliert aus.
Trotzdem erscheint es sinnvoll, sich mit dieser Beziehung zwischen der Bio-
politik und der politischen Ökonomie zu beschäftigen und sich in Anlehnung
an Bröckling mit dem "Schnittpunkt zwischen der Politisierung und der Öko-
nomisierung des menschlichen Lebens" auseinander zu setzen (Bröckling
2003: 6). Das kann meines Erachtens deutlich machen, dass in der Ökonomi-
sierung des Sozialen biopolitische Elemente enthalten sind und dass es
gleichsam um eine Bioökonomisierung geht. Obwohl sich dieser Beitrag
größtenteils auf eine Übersicht über die Idee der Biopolitik beschränkt, wie
diese von und in Anlehnung an Foucault ausgearbeitet wurde, werde ich im
letzten Teil einen Ansatz für eine Analyse der biopolitischen Dimensionen
des europäischen Hochschulraumes vorschlagen.

2. Die Mehrdeutigkeit der Biopolitik


Der Ausdruck Biopolitik, wie er mit dem Bezug auf Foucault verwendet
wird, ist weit davon entfernt, eindeutig definiert zu sein. Jean-Luc Nancy
spricht hier von einer gewissen Verwirrung, die u.a. durch einen Begriff wie
"Bio-Ethik" entsteht (Nancy 2002: 137). Bio-Ethik verweist gewöhnlich auf
die ethischen Probleme und moralischen Entscheidungen, die sich infolge der
neuen biotechnologischen Möglichkeiten aufdrängen. Es geht hier also nicht
um eine Ethik, die vollständig bestimmt wird durch den "Bios" (also eine Art
vitalistischer Ethik), sondern um ethische Reflexion in Bezug auf die neuen
Möglichkeiten der Biotechnologie. Der Begriff ,Biopolitik' - zumindest in
dem Sinne, in dem Foucault ihn verwendet - verweist in gewisser Weise auf
das genaue Gegenteil: Dort deutet er nicht auf eine politische Reflexion über
das Leben, sondern auf eine Politik, die bestimmt wird bzw. vollständig in
Beschlag genommen wird durch das Leben. 2 So drückt es auch Foucaults be-
kannter Ausspruch aus: "Jahrtausende hindurch ist der Mensch das geblieben,

2 Das sagt nicht, dass die Begrifflichkeit der "Biopolitik" nicht auch andere Themenbe-
reiche betreffen kann. So gibt es Z.B. die Zeitschrift für Biopolitik, in der (nach dem
Modell der Bioethik) der Nachdruck auf den sozialen und politischen Aspekten der
Biologie und der Bio-Technologie liegt. In den Vereinigten Staaten steht die Idee der
Biopolitik für eine relativ selbstständige Denkströmung innerhalb der politischen
Wissenschaften. Es geht dabei um eine Deutung (mit einem ersten Ansatz in den
1960er Jahren, und später auch vermengt mit der Soziobiologie) des politischen Ver-
haltens anhand von biologischen Konzepten (hauptsächlich aus der Evolutionstheorie)
und biologischen Forschungstechniken (SomitlPeterson 1998). Diese Strömungen ha-
ben nahezu nichts mehr mit Foucaults Verwendung des Begriffs zu tun.
168 Maarten Simons

was er für Aristoteles war; ein lebendes Tier, das auch einer politischen Exis-
tenz fähig ist. Der modeme Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben
als Lebewesen auf dem Spiel steht" (Foucault 1976: 188). Mit dem Term
Biopolitik verweist Foucault hier auf die Tatsache, dass sich die Politik seit
der Modeme, und insbesonders seit dem neunzehnten Jahrhundert, nicht län-
ger in Relation zu den Untertanen (in der juristischen Bedeutung) oder zu ei-
nem Territorium versteht, sondern sich im Bezug auf das Leben des Indivi-
duums und der Art definiert. Diese eher "epochale" These bezüglich der
"Schwelle der biologischen Modeme" und des biopolitischen Zeitalters im-
pliziert, dass sich die Politik und die politische Machtausübung grundlegend
verändert haben (vgl. Donelly 1992: 200). Im Folgenden werde ich zuerst
komprimiert angeben, wie Foucault diese umfassende politische Veränderung
sieht. Danach zeige ich, wie dieser Begriff von Giorgio Agamben und von
Michael Hardt und Antonio Negri wiederaufgenommen wurde. Ich werde
zudem jeweils darauf verweisen, an welchen Stellen deren Ausarbeitung sol-
che Aspekte der Sicht entzieht, die es zulassen würden, eine bessere Sicht auf
die biopolitische Dimension der Ökonomisierung des Sozialen zu erlangen.
Die beiden kurzen Übersichten dienen als Deutungshintergrund dafür, inwie-
fern der Begriff Biopolitik im Rahmen einer Gouvernementalitäts-Perspek-
tive zukünftig eine Rolle spielen kann.

a) "Die biologische Modernitätsschwelle"

Um die wesentlichen Charakteristika der Biomacht deutlich zu machen, stellt


Foucault sie den Merkmalen einer souveränen Macht gegenüber (vgl.
Foucault 1976; 1997). Der Souverän ist derjenige, der über Leben und Tod
entscheiden kann. Im Recht zu töten, kann auf eine indirekte Weise Macht
über das Leben ausgeübt werden. Vor diesem Hintergrund drückt Foucault
mit einer Formel aus, was durch das Erscheinen der Biomacht auf dem Spiel
steht: ,,( ... ) au vieux droit defaire mourir ou de laisser vivre s'est substitute
un pouvoir de faire vivre ou de rejeter dans la mort" (Foucault 1976: 181).
Die modeme Macht oder Biomacht übt hingegen einen direkten Einfluss auf
das Leben aus, und der Tod ist dagegen etwas, das außerhalb des Bereichs
der Machtausübung fallt. In dieser Macht über das Leben, nämlich das Leben
selbst als Bezugspunkt zu verwenden, liegt der Unterschied zwischen den
beiden Polen: Zunächst dem der "Anatomie-Politik" des menschlichen Kör-
pers (die im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts Gestalt annahm), in der der
Körper diszipliniert wird, und dem der "Biopolitik" der menschlichen Gat-
tung (die seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts aufkam), die ihre Auf-
merksamkeit auf die Bevölkerungsregulation richtet. Den Begriff Biopolitik
reserviert Foucault mit anderen Worten für den Pol der Biomacht, der sich
auf den kollektiven Körper und genauer gesagt auf die Regulierungen be-
zieht, die sich auf die Prozesse auf der Ebene der Population richten. Prob-
lemfelder wie die Geburtenanzahl und die Sterbeziffer, die Gesundheit und
Lernen, Leben und Investieren 169

die Aspekte der ökonomischen Produktion bekommen daher in der Folge ei-
ne eminent politische Dimension. Es geht darum, in das Leben, in die Art des
Lebens einzugreifen und beispielsweise Unfälle und Gefahren zu regulieren
und unter Kontrolle zu halten. Kurzum, es geht darum, Ordnung und Norma-
lität auf der Ebene der Bevölkerung sicherzustellen. Die Biopolitik kann
hierzu entweder zentrale Kontrollmechanismen entwickeln (etwa Kampagnen
zur öffentlichen Hygiene oder eine zentrale medizinische Versorgung) oder
durch Disziplinierungsmechanismen eine Beziehung zum Selbst seitens des
Individuums zuwege bringen (Sparsamkeit, Vorsorge, Hygiene), die die Ord-
nung auf der Ebene der Bevölkerung sicherzustellen helfen.
In dieser Konfiguration bekommt auch die Familie eine biopolitische
Dimension. Mit dem biopolitischen Umbruch gilt der Haushalt nicht länger
als ein Organisationsmodell, vielmehr wird er nun als ein wichtiges Segment
der Bevölkerung begriffen. Foucault spricht hier denn auch von einer "In-
strumentalisierung" der Familie im Dienste der Bevölkerungsregulierung
(Foucault 1978a: 651ff.). Eng verknüpft damit kann auch die Kindheit in
biopolitischen Begriffen als eine Lebensphase problematisiert werden, die ein
physisches und moralisches Milieu benötigt, das eine optimale, gesunde
Entwicklung ermöglicht (vgl. Foucault 1979a). Jacques Donzelot wird genau
zeigen, dass das familiäre Umfeld in zunehmendem Maße zum Objekt "mo-
ralisierender" (Sparsamkeit, Ordnung) und "normierender" (die Medikalisie-
rung der Familie) Eingriffe wird (vgl. Donzelot 1977: 58ff.). Diese Besorgnis
um ein optimales erzieherisches Umfeld kommt nicht nur dem einzelnen
Kind zugute, das später dann als Erwachsener optimal funktionieren kann,
sondern diese Besorgnis bildet auch eine Garantie für die Ordnung und das
Wohlergehen auf der Ebene der Bevölkerung. Die Familie funktioniert in
diesem Sinne als Schnittpunkt zwischen dem anatomiepolitischen und dem
biopolitischen Pol der Biomacht. Zugleich zeigt die biopolitische Würdigung
der Familie auch, wie die Biomacht mit dem Ökonomischen verbunden ist.
Später werde ich auf die Beziehung zwischen der Biopolitik und der Ökono-
mie zurückkommen. An dieser Stelle genügt es zunächst festzustellen, dass
die Investition in eine gesunde Bevölkerung durch disziplinierte Individuen,
die mit Hilfe der Familie unternommen wird, die Voraussetzung sowohl für
die gesellschaftliche Sicherheit und Ordnung als auch für ein starkes ökono-
misches System bildet.
Diese Darstellung macht deutlich, dass mit dem Entstehen der Biopolitik
oder der Regulierung von Prozessen auf der Ebene der Bevölkerung eine Art
von "Verstaatlichung des Biologischen" vorliegt (Foucault 1997: 213). Mit
diesem Verständnis und der Betrachtung eines Kollektivs von Menschen als
einer Bevölkerung, die der Regulierung bedarf, wird ein entscheidender
Schritt in der Geschichte der westlichen Politik vollzogen. Kurz gehe ich auf
eine wichtige Implikation dieses politischen Umbruchs ein.
Obwohl Foucault eine Unterscheidung zwischen der klassischen souve-
ränen Macht und der modemen Biomacht und Biopolitik macht, ist er nicht
der Meinung, dass die souveräne Macht verschwindet. Ganz im Gegenteil:
170 Maarten Simons

Was er zeigen will, ist, wie die souveräne Macht auf eine bestimmte Art in
die modeme Biomacht, insbesondere in der Form des "Staatsrassismus", ein-
gebracht wird (Foucault 1997: 227ff.). Der modeme Rassismus setzt Zäsuren
im biologischen Kontinuum, teilt die Bevölkerung in Untergruppen oder -
rassen ein und stellt auf diese Weise innerhalb der Bevölkerung bestimmte
Gruppen einander gegenüber. Innerhalb dieser Konfiguration kann dann aufs
Neue das ,sterben Machen' eingeführt werden - sei es auch nur gemäß einer
Bio-Logik: Das ,sterben Machen' unterlegener, gefährlicher oder lebensbe-
drohender Gruppen und Individuen garantiert das Leben der Bevölkerung.
Der Staatsrassismus lässt daher zu, dass ein Staat, der sich einer biopoliti-
schen Logik folgend definiert und daher der Optimierung des Lebens nach-
strebt, sich auch das Recht vorbehält, im Namen dieses Lebens andere zu
eliminieren. Nach dem biopolitischen Umbruch kann ein Staat folglich nur
noch im Falle von Rassismus souverän über den Tod entscheiden. Dieses
,sterben Machen' muss daher in einem weiteren Sinne verstanden werden: So
umfasst es neben dem direkten physischen Tod auch das dem Tode-ausge-
setzt-Sein, das Vergrößern des Todesrisikos und sogar den politischen Tod,
die Abweisung und den Ausschluss (v gl. ebd.: 228-229). Gemäß dem Prin-
zip, dass der Tod anderer die biologische Stärkung des Selbst darstellt, si-
chert der Rassismus somit die Funktion des Todes in der Ökonomie der Bio-
macht.
Diese Skizze der biopolitischen Modeme macht es möglich, tiefer auf die
Art und Weise einzugehen, in der der Begriff Biopolitik kürzlich in einem
philosophischen Kontext zum einen durch Giorgio Agamben und zum ande-
ren durch Antonio Negri und Michael Hardt ausgearbeitet wurde.

b) "Nacktes Leben" und "Imperium"

Giorgio Agamben versucht in seinen Arbeiten zu zeigen, dass die Politik als
solche von Anbeginn an biopolitische Wurzeln hat (vgl. Agamben 1998). Zu
diesem Zweck erinnert er uns daran, dass im griechischen Altertum zwei Be-
griffe existieren, um auf das Leben zu verweisen: Die Zoe als das nackte Le-
ben, das allen lebenden Wesen gemein ist - insbesondere Tieren, Menschen
und Göttern -, und der Bios als die Weise zu leben, der dem Individuum oder
einer Gruppe eigen ist. Die Gründung der Polis, und allgemeiner einer juristi-
schen und institutionellen Ordnung, beruht somit genau genommen auf einem
Ausschluss, einer Aus-nahme oder einer Verbannung des nackten Lebens:
Das nackte Leben wird jedoch durch den Ausschluss auf eigentümliche Wei-
se zugleich eingeschlossen: Homo sacer ist die Bezeichnung desjenigen, der
auf das nackte Leben reduziert wird. Es ist die Figur dessen, der nicht geopfert
werden kann, der aber gleichwohl getötet werden kann, ohne dass dadurch
ein Mord begangen würde. Kurzum, die souveräne Gründung einer politi-
schen und juristischen Ordnung geht stets mit einer Ausnahme und daher mit
der Produktion des nackten Lebens einher. Daher folgt nach Agamben die
Lernen, Leben und Investieren 171

Biomacht nicht auf die souveräne Macht, wie dies Foucault behauptet, viel-
mehr besitzt die souveräne Macht von Anfang an eine biopolitische Dimensi-
on. Vor diesem Hintergrund beschreibt Agamben, was in den Nationalstaaten
seit der Modeme auf dem Spiel steht: Eine Politisierung des nackten Lebens,
oder in der Terminologie, die er von Walter Benjamin entlehnt, eine Situati-
on, in der die Ausnahme zur Regel wird. Das bedeutet, dass das nackte Le-
ben, welches einer souveränen Macht ausgeliefert ist, potentiell allen Bürgern
inne wohnt, und dass es jeden in den Ausnahmezustand versetzen kann. Dass
wir seit der Modeme nur noch einen einzigen Begriff für Leben haben und
dass dieser Ausdruck häufig in biologischen Zusammenhängen verstanden
wird, zeugt von eben diesem Ausnahmezustand (vgl. Agamben 1995).
Diese provozierende und in unterschiedlicher Hinsicht ,fundamentale'
Deutung der Politik als souveräner Macht über das nackte Leben kann eine
ganze Reihe von , Ausnahme '-Phänomenen erklären: etwa die Flüchtlingssi-
tuation oder das nackte Leben in den Lagern totalitärer Regime (vgl. Mes-
nardiKahan 2001). Problematisch ist jedoch, dass er durch die Betonung der
Beziehung zwischen der Souveränität und dem nackten Leben keinerlei Platz
lässt, um neue, modernere Auffassungen des Lebens zu berücksichtigen (vgl.
Larsen 2003). Oder anders ausgedrückt: Giorgio Agamben scheint nicht nur
die souveräne Macht zu enthistorisieren sondern auch die Biopolitik. In die-
sem Sinne entgeht beispielsweise seiner Aufmerksamkeit, wie sich die mo-
deme Biopolitik in Relation zur Bevölkerung entwickelt hat. Dies hängt da-
mit zusammen, dass Agambens Analyse zu breit angelegt ist, um deutlich
machen zu können, dass das politische Interesse am Leben der Bevölkerung
in genealogischer Hinsicht in Beziehung zum politischen Interesse an der
Ökonomie steht (vgl. Lemke 2003). Es ist genau dieser Zusammenhang zwi-
schen Biopolitik und politischer Ökonomie, der - wie ich später zeigen werde
- mit verdeutlichen kann, was gegenwärtig auf dem Spiel steht (vgl. Bröckling
2003). Trotz dieser Einwände hat Agamben jedoch zurecht auf die ursprüngli-
che Beziehung zwischen Souveränität und nacktem Leben hingewiesen.
Während also in Agambens Analyse die modeme Beziehung zwischen
Biopolitik und Ökonomie zu kurz kommt, steht diese Beziehung in der Arbeit
von Michael Hardt und Antonio Negri gerade im Vordergrund (vgl.
HardtlNegri 2000). Die Autoren zeigen, dass der globale Markt und die glo-
balen Produktionskreisläufe eine neue Ordnung ins Leben gerufen haben.
Diese neue weltumspannende Ordnung, die mit einer neuen globalen Form
der Souveränität zusammenhängt, nennen sie ,Empire' - eine immanente
Ordnung ohne Grenzen, ohne Geschichte und mit transversalen sozialen Be-
ziehungen. Sie beschreiben diese neue globale Souveränität anhand der bei-
den Elemente Biomacht (Foucault) und Kontrollgesellschaft (FoucaultlDe-
leuze).3 Ich beschränke mich hier auf die Darstellung der Weise, wie sie den

3 Die Art und Weise, in der Negri und Hardt den Begriff Souveränität verwenden, un-
terscheidet sich von der Art, in der Agamben diesen Begriff ausgearbeitet hat. Wie
Nancy anmerkt, wäre es wohl richtiger im Rahmen von "Empire" von "Beherr-
172 Maarten Simons

Begriff Biomacht, insbesondere im Sinne von ,biopolitischer Produktion',


verwenden. Der Begriff biopolitische Produktion verweist auf die Produktion
und Reproduktion des Lebens in all seinen ökonomischen, sozialen und kul-
turellen Formen. Die globalen Netzwerke der biopolitischen Produktion läu-
ten die neue postmoderne Phase des Kapitalismus ein: Entscheidend ist da-
bei, dass dem Leben (und dem disziplinierten Körper) nicht nur Arbeitskraft
entzogen wird, die der ökonomischen Produktion zur Verfügung steht, son-
dern dass das Leben in seiner Gesamtheit einen Teil des Produktions- und des
Reproduktionsprozesses darstellt. Dieser Umstand bringt es mit sich, dass das
gesellschaftliche System, unser Körper, unsere Affekte und unsere Subjekti-
vität immer auch das Ergebnis dieser materiellen und immateriellen Produk-
tionsprozesse sind. Und genau diese globalen Netzwerke der biopolitischen
Produktion bewirken, dass das Leben in seiner Gesamtheit zu einem Objekt
(immanenter) Regulierung werden kann. Anders ausgedrückt: "Empire pres-
ents the paradigmatic form ofbiopower. [ ... ] Biopower thus refers to a situa-
tion in which what is directly at stake in power is the production and repro-
duction oflife itself' (ebd. xv: 24).
Diese Analyse hat den Verdienst, dass sie explizit die Beziehungen zwi-
schen der Biopolitik und dem ökonomischen und sozialen System in den
Vordergrund stellt und herausarbeitet, wie diese im globalen Maßstab ge-
genwärtig funktionieren. Problematisch ist jedoch, dass die Autoren aus ihrer
neomarxistischen Sicht keinen Unterschied zwischen ökonomischer Macht!
Ausbeutung und Biomacht machen: Die Macht über das Leben ist eine
Macht, die das Leben unmittelbar dem kapitalistischen Produktionsprozess
unterwirft (vgl. RabinowlRose 2003; Lemke 2003). Die Ausbreitung der
Macht über das Leben ist in dieser Sicht daher nur eine Funktion der Ent-
wicklung des Kapitalismus. Allerdings lässt diese Perspektive den genealogi-
schen Entstehungszusammenhang zwischen der biopolitischen und ökonomi-
schen Regulierung unberücksichtigt. Allgemeiner gesprochen entzieht uns
die epochale Position im Zusammenhang mit dem Verschwinden der Gren-
zen zwischen Leben, Politik und Ökonomie die Möglichkeit, einen genauen
Blick auf die konkreten Formen der Selbstführung zu werfen, die aktuell
verlangt werden. Negri misst dem allerdings Bedeutung bei, wenn er von ei-
nem ,biopolitischen Unternehmer' spricht. Er charakterisiert dies als eine ers-
te Form der Auflehnung innerhalb des Widerstandes gegen das Imperium:
Ein militanter Mensch, der die Macht über das Leben in eine vitale, lebens-
kräftige Kritik umformt. 4 Gemäß Foucault lässt sich nun genau zeigen, dass

schung" zu sprechen. Die Problematik der Souveränität bleibt hier ungedacht. So fragt
er sich: "Et si la revolte du peuple etait la souverainete?" (Nancy 2002: 170-173).
4 Das hängt mit einer gewissen Spannung in der Arbeit von Negri und Hardt zusam-
men: Einerseits zeigen sie, wie das Leben in seiner Gesamtheit in das Imperium auf-
genommen wird, während sie andererseits - zweifellos angeregt durch Deleuzes' Vi-
talismus - auch genau im Leben und der ungeordneten Vielzahl von (auto-affirma-
tiven) Lebenskräften (,multitude') die Grundlage für neue Formen politischer Subjek-
Lernen, Leben und Investieren 173

die Beziehung zwischen der Biopolitik und dem Unternehmertum und die
Art, in der wir gefordert sind, das (biologische) Leben zu objektivieren und
zu führen, Teil des gegenwärtigen Führungsregirnes sind. Weil Hardt und
Negri jedoch die von Foucault beschriebene Biopolitik weitgehend mit einer
ökonomischen Produktionsform gleichsetzen und diese dann als zugrundelie-
gendes Prinzip der aktuellen kapitalistischen Weltordnung behaupten, verliert
ihr eigenes theoretisches Konzept unübersehbar an analytischer Kraft.
Im Vorhergehenden habe ich mich mit zwei (fundamental-)philosophi-
sehen Ausarbeitungen von Foucaults Begriff der Biopolitik beschäftigt. Bei-
de Ausarbeitungen scheinen das Konzept in einen von Foucault abweichen-
den Rahmen einzuführen, auch wenn Foucault durch seine Aussagen über die
,Schwelle der biologischen Modeme' und durch die Umkehrung der aristote-
lischen Politikdefinition hierzu vielleicht selbst Anlass gegeben hat (v gl.
Ranciere 2000). Bei Agamben wird die Biopolitik auf ein "onto-theologisch-
politisches Feld" (Heidegger, Arendt, Bataille) geführt und die ursprüngliche
Beziehung zwischen der Souveränität und dem nackten Leben, das jeglicher
sozialen, kulturellen oder politischen Form entledigt ist, als das Ungedachte
in der westlichen Philosophie dargestellt. Hardt und Negri bringen das Kon-
zept in einen ökonomischen und auf dem Marxismus basierenden anthropo-
logischen Zusammenhang. Durch die ,Ontologisierung' des Lebens (bios),
berauben sie jedoch den Begriff Biopolitik jeglicher analytischen Kraft.
Anhand dieser vorangestellten Einordnungen zweier Adaptionen des Be-
griffs Biopolitik kann ich nun den Schritt zu einer anderen Denkrichtung ma-
chen, in der dem Begriff der Biopolitik neuerdings Beachtung geschenkt
wird. Diese Denkrichtung wird angeregt durch Foucaults Auffassungen über
Gouvernementalität. Als genealogische und analytisch orientierte Denkrich-
tung scheint sie für die erneute Einführung des Begriffes Biopolitik ungleich
vielversprechender zu sein.

c) Gouvernementalität und Biopolitik

Wie schon erwähnt, trägt die Vorlesung, in der Foucault umfassend auf die
liberalen und neoliberalen Formen der Gouvernementalität eingeht, den Titel
"Geburt der Biopolitik". In der Zusammenfassung dieser Vorlesung erläutert
er, weshalb er an dieser Stelle nicht explizit auf die "Regulierung der Bevöl-
kerung", sondern lediglich auf die liberalen und neoliberalen Regierungsfor-
men eingegangen ist (Foucault 1979b: 818). Die Frage, die sich seit der
zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhundert stellt, ist folgende: Wie kann eine
Politik, die gemäß den Rechten und ökonomischen Freiheiten der Bürger re-
gieren will, dem Phänomen der Bevölkerung und anderen Problemen, die
sich auf dieser kollektiven Ebene stellen, angemessen Rechnung tragen? Ob-

tivität sehen. Der Begriff ,Leben' hat in ihrer Analyse daher einen ontologischen Cha-
rakter (vgl. Ranciere 2000; Lemke 2003).
174 Maarten Simons

wohl er diese Frage als Ausgangspunkt formuliert, verlegt er sich zunächst


doch auf den (Neo-)Liberalismus als Regierungsform. Ich gehe hier kurz dar-
auf ein, um danach zeigen zu können, inwiefern eine Biopolitik für eine
,ökonomische Regierung' von Belang sein kann.
Unter der Regierung gemäß der ,Staatsraison' funktionierte die ,Polizey'
wie ein umfassender Apparat, dessen Gegenstand die Bevölkerung war und
der durch allerlei Reglementierungen und Regulierungen die Autorität des
Staates auszubauen versuchte (vgl. Foucault 1978a; 1978b; 1981). Die früh-
liberale Regierungsform ist dagegen gleich in doppelter Hinsicht eine ,öko-
nomische Regierung': Einerseits entdeckt sie die Ökonomie - und in einem
allgemeineren Sinne die bürgerliche Gesellschaft - als eine selbständige, na-
türliche Domäne, die sich selbst organisiert und nach angemessenen Eingrif-
fen verlangt, während sie andererseits jedoch auch eine permanente ,Kosten-
Nutzen-Rechnung' ihres Regierens anstellt.
Wichtig ist es an dieser Stelle zu unterstreichen, dass in dieser liberalen
Regierungskonfiguration ein bestimmter Freiheitstypus gefordert ist, da nur
ein spezifischer Typus der Freiheit bzw. die Selbstführung sowohl das indi-
viduelle als auch das kollektive Wohlergehen sichern kann (vgl. Gordon
1991: 19-20; Rose 1999: 63). Dies führt dazu, dass vielerlei Mechanismen
Gestalt annehmen, die diese Freiheit sichern sollen. Somit bekommt Ausbil-
dung - oder besser gesagt: das disziplinar-pädagogische Milieu in der Sicht
der Gouvernementalität - eine besondere strategische Bedeutung: Sie muss
die Selbstführung des Individuums bewirken, die die Voraussetzung für die
Bürgergesellschaft ist. Sie muss die richtige Freiheit sicherstellen (vgl. Hun-
ter 1994). Aber die liberale Regierung muss, vor allem als sie gegen Ende des
neunzehnten Jahrhunderts eine soziale Dimension bekommt, auch im Namen
der Freiheit Sicherheit auf der Ebene der Bevölkerung gewährleisten. Man
kann und muss solchen Risiken begegnen, die die Verantwortlichkeit des In-
dividuums übersteigen und die Ordnung und Wohlstand in Gefahr bringen. 5
Es ist eine, vitale' Politik, die sich auf die Lebensverhältnisse der Gesamtheit
der Bevölkerung oder von Teilgruppen wie Kinder, Arbeiter, Frauen und Ar-
beitslose richtet und sich mit der (Volks-)Gesundheit und Hygiene, mit Fort-
pflanzung und ökologischen Aspekten befasst (vgl. Osborne 1996). Zusam-
menfassend lässt sich feststellen, dass die liberale Regierungsform im Namen
der Sicherung der ökonomischen Freiheit, des Wohlstandes und später im
Namen der ,sozialen Sicherheit' eine Biopolitik betreibt.
Auf der Grundlage dieser Konfiguration kann zu Beginn des neunzehn-
ten Jahrhunderts die Bevölkerung in Begriffen wie ,Rassenhygiene' proble-
matisiert werden und eine aktive ,Eugenik' Gestalt annehmen. Und sofern
Erziehung und Unterricht in diese Sicherheitstechniken eingebracht werden,
haben wir es auch hier mit einer "biologischen Zuchtwahl" und "eugenischer
Selektion" zu tun (Meyer-Drawe 2001: 451). Im Kontext der Normierung,

5 Wie Ewald aufzeigt, kann die "versichernde Obrigkeit" in genealogischer Hinsicht auf
die Problematik der Arbeitsunfalle zurückgeführt werden (Ewald 1986: 185ff.).
Lenten, Leben und Investieren 175

der biologischen Optimierung der Bevölkerung und der Sicherheit auf der
Ebene der Gesellschaft erscheint das pädagogische Milieu daher als eine ent-
scheidende Domäne biopolitischer Eingriffe. Gleichwohl ist wichtig zu beto-
nen, dass in dieser Konfiguration auch die Beziehung zwischen dem Biologi-
schen und dem Ökonomischen auf eine spezifische Art problematisiert wer-
den kann: Das Leben kann in seiner Gesamtheit als eine Funktion der öko-
nomischen Entwicklung verstanden werden. 6 Bröckling bespricht in diesem
Zusammenhang die "Menschenökonomie" von Goldscheid: "Reduzierten die
Rassenhygieniker die Menschen biologisch auf ihr Erbgut, so reduzierte
Goldscheid sie ökonomisch auf ihren volkswirtschaftlichen Wert" (Bröckling
2003: 8-9). Das Leben erscheint hier als eine Form von Kapital (,organisches
Kapital') und muss in (entwicklungs-)ökonomischen Begriffen verstanden
und reguliert werden. Genau diese Charakterisierung des menschlichen Le-
bens als Kapital, als Quelle des Mehrwerts - entweder für sich selbst oder für
die Entwicklung und den Fortschritt der Art - führt dazu, dass auf das Leben
Sorge verwandt werden muss. Vor diesem Hintergrund plädiert Goldscheid
für eine umfassende biopolitische Administration und Planung. Investition in
Gesundheit und Bildung bedeutet an dieser Stelle Investition in ,organisches
Kapital', damit individuelle Bedürfnisse und gleichzeitig auch ,gesellschaft-
lich notwendige Bedürfnisse' befriedigt werden. Es liegt in dieser Konfigu-
ration begründet, obwohl sich Goldscheid diesbezüglich nicht explizit äußert,
dass auch vom Opfern ,lebensunwerten Lebens' die Rede sein kann: "Wer
dauerhaft auf Versorgung durch Dritte angewiesen war, ohne selbst durch
seine Arbeit wirtschaftliche Werte zu schaffen, der belastete das Budget und
hatte sein Existenzrecht verwirkt" (ebd.: 16). Die ökonomische Sorge um das
Leben und die Optimierung des organischen Kapitals kann daher in eine sou-
veräne Macht umschlagen, die ,sterben macht'. Anders ausgedrückt: Sobald
das Leben vollständig in ökonomischen Begriffen verstanden wird, kann eine
ökonomische Berechnung auch das Existenzrecht zur Diskussion stellen.
Diese Schilderung macht deutlich, dass sich eine Biopolitik legitimieren
lässt, sobald das Leben und die Lebensverhältnisse einen unmittelbaren öko-
nomischen Wert haben. Auch über diese auf die Lebensverhältnisse der Be-
völkerung gerichteten Regierungseingriffe hinaus sind Menschen aufgefor-
dert, ihre individuelle Freiheit, ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in "bio-
sozialen" und "bio-ökonomischen" Begriffen zu verstehen (vgl. Rose 1999:
78ff.). Die Menschen werden nun immer häufiger aufgefordert, sich als so-
ziale Individuen zu betrachten, sie müssen einsehen, dass ihre individuelle
Freiheit nur innerhalb der Gesellschaft garantiert und gesichert ist und dass

6 Die Problematisierung der Wechselwirkung zwischen Bevölkerung und Ökonomie


von der Seite der Regierung steht bereits bei Malthus im Vordergrund: "Population,
when unchecked, increases in a geometrical ratio. Subsistence increases only in an arith-
metical ratio" (Malthus 1798: 1.18). Dabei geht es um die Erlangung eines Gleichge-
wichtes (vermittels Moralvorstellungen) zwischen der Nahrungsversorgung und der
Größe der Bevölkerung. Erst am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wird das Le-
ben als solches in ökonomischen Begriffen problematisiert.
176 Maarten Simons

ihre Autonomie nicht nur eine juristische Frage ist, sondern hauptsächlich auf
der sozialen Normalität beruht. In diesem ,Regime des Sich-selbst-Regie-
rens' impliziert die Umsetzung von Freiheit von Anfang an ein Unterwerfen
unter das, was in der Gesellschaft als normal gilt - und mitunter auch unter
die biologischen Fundamente dieser Normalität. Erst im Kontext der sozialen
Unterwerfung, die Freiheit garantiert, und der unverbrüchlichen Beziehung
zwischen Individualität und Sozialität, kann die Beziehung zwischen der
,Bildun9' und der ,Gesellschaft' in den Mittelpunkt des Interesses gerückt
werden. Mit anderen Worten: Es gibt den Raum, Ausbildung als ein Mittel
zu betrachten, mit dessen Hilfe man eine soziale Form der Individualität zu-
standebringen kann, wie auch den Raum, ein Selbstverständnis zu entwi-
ckeln, in dem man sich als Teil eines größeren bio-sozialen oder bio-ökono-
mischen Ganzen sieht. Darüber hinaus ist dies auch der Zusammenhang, in
dem über die Reproduktion der Ordnung und Normen der Gesellschaft oder
über deren Optimierung durch biologische und/oder ökonomische Selektion
nachgedacht werden kann. Aus welcher Richtung man es auch betrachtet:
Ausbildung erscheint in dieser Regierungskonfiguration als das Scharnier
zwischen Freiheit und Sicherheit.
Diese Skizze der biopolitischen Regierung und der Selbstführung in der
liberalen Regierungsform zeigt, dass die ,Regulierung der Bevölkerung' eine
Geschichte hat. Ein interessantes Element in dieser Geschichte ist die beson-
dere Art, in der die Politisierung des Lebens mit einer Ökonomisierung dieses
Lebens verbunden wird: Die Aufrechterhaltung und Optimierung der Le-
bensumstände kann in eine politische Ökonomie eingebracht werden, wo-
durch das Leben zum Gegenstand einer Investition wird und im Sinne der
Rendite bewertet werden kann. Den Begriff Biopolitik auf diese Art in den
Rahmen der Gouvernementalität einzubringen, ermöglicht es, eine Sicht auf
das konkrete Funktionieren der biopolitischen Regulierung und den Zusam-
menhang mit einer ,ökonomischen Regierung' zu erlangen. Anstatt die zu-
nehmende ,Macht über Leben' als eine Phase in der ,Logik des Kapitals' zu
verstehen (und als die Vorgeschichte des "Imperiums", wie es Hardt und Ne-
gri offensichtlich tun), kann diese Sicht verdeutlichen, welche spezifischen
Formen der Steuerung und der Selbstführung diese ,Macht über Leben' im-
pliziert. Weiterhin kann die Einführung biopolitischer Elemente in die Analy-
se von Regierungsformen auch die Fragestellung der Souveränität wieder auf
die Tagesordnung bringen (vgl. Dean 2002; Bröckling 2003). Nach Foucault
beruht die Umkehrung des ,leben Machens' zum ,sterben Machen' (insbe-
sondere in totalitären Regimen) auf rassistischen Unterscheidungen im biolo-
gischen Kontinuum. Aber soweit in liberalen Regierungsformen das ,leben
Machen' eine ökonomische Funktion hat, kann hier eine ökonomische Be-

7 So beginnt Dewey sein "pädagogisches Credo" wie folgt: "Ich glaube, dass die ge-
samte Erziehung sich durch die Teilnahme des Individuums am sozialen Bewusstsein
der Rasse vollzieht [... ]. Ich glaube, dass die wahre Erziehung aus der Entfachung der
Fähigkeiten im Kinde und durch die sozialen Anforderungen der Umgebung, in der es
lebt, folgt" (Dewey 1897: 49).
Lernen, Leben und Investieren 177

rechnung die Umkehrung zum ,sterben Machen' einleiten. Im nun folgenden


Teil werde ich einen Anlauf unternehmen, die biopolitischen Elemente im
gegenwärtigen Führungsregime zu beschreiben und - anband des europäi-
schen Hochschulraumes - deutlich zu machen, wie die souveräne Macht über
Leben und Tod sich hier in ökonomischen Begriffen manifestiert.

3. Das permanente ökonomische Tribunal und die


Souveränität
Die ,Kapitalisierung des Lebens' und die Biopolitik nehmen im aktuellen
Regierungsregime eine konkrete Form an. Es geht hier jedoch nicht darum,
dieses gegenwärtige Regierungsregime detailliert zu beschreiben. 8 Ich kon-
zentriere mich statt dessen auf eine Beschreibung der Beziehung zwischen
Unterricht, Biopolitik und Ökonomie und vor allem auf die Analyse der Art,
in der Lernen, Leben und Investieren gegenwärtig an die Figur des unter-
nehmerischen Selbst geknüpft werden. Sich verhalten wie ein unternehmeri-
sches Selbst bedeutet, dass wer wir sind und werden, stets das Resultat ist
von informationsbasierten Entscheidungen wie auch der Güter, die wir pro-
duzieren, um unsere eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Diese unternehme-
rische Beziehung zu sich selbst steht im Mittelpunkt des gegenwärtigen ,Re-
gimes des Selbst'. Es ist dies ein Regime der Selbstführung, durch das wir
aufgefordert werden, unser Tun und Lassen aus einem , permanenten ökono-
mischen Tribunal' heraus zu beurteilen und in der Unterwerfung unter dieses
Tribunal eine Voraussetzung unserer Freiheit (als Selbstverwirklichung) zu
sehen. Eine kurze Skizze dieses Regimes mag dies verdeutlichen. 9
Aus einer unternehmerischen Sicht betrachtet, erscheinen allerlei Eigen-
schaften des Menschen als eine Form menschlichen Kapitals. Es ist etwas, in
das investiert werden muss, das einen bestimmten Wert verkörpert und das
die Einkommensquelle bildet. Angesichts der Tatsache, dass diese Form des
Kapitals durch Unterricht produziert wird, ist die Entscheidung für Bildung
eine wohlüberlegte, unternehmerische Wahl: Man erwartet, dass es etwas
einbringt, dass es eine wertvolle Investition ist. Aber diese Kapitalisierung
des Lebens hat auch Bezug auf soziale Beziehungen, oder auf das, was man
gegenwärtig soziales Kapital nennt. Aus einer unternehmerischen Haltung er-
scheinen Normen, Beziehungen und Netzwerke als wertvolles Kapital, wel-
ches zur Bildung von Humankapital oder zur Steigerung der Produktivität der
Kenntnisse und Fertigkeiten eingesetzt werden kann.

8 Für eine Übersicht von Studien (Aspekten) bzgl. des aktuellen Regierungsregimes
oder des sogenannten "fortgesetzten Liberalismus" siehe: Barry et al. 1996; Rose
1999; Lemke et al. 2000.
9 Für eine detailliertere, auf Bildung zugespitzte Beschreibung siehe: Masschelein/Si-
mons 2003.
178 Maarten Simons

Eng verbunden mit der investierenden, kapitalisierenden Haltung dem


Selbst gegenüber, ist das neue Verständnis von Zeit und Raum. Der Hinter-
grund hierfür ist nicht länger die modeme Organisation von Zeit und Raum in
einem geschlossenen Rahmen wie der Fabrik, der Schule oder etwa der Fa-
milie, zwischen denen feste Interaktionsmuster bestehen, in denen der
Mensch positioniert ist. Das unternehmerische Selbst ist nicht in diesem
Raum angesiedelt, es bewegt sich in ,Netzwerken'. Für das unternehmerische
Selbst ist das Netzwerk eine Umgebung, in der es operiert und sich bewegt,
d.h. in dem das menschliche Kapital eingesetzt werden, zirkulieren und etwas
erwirtschaften kann. Umgekehrt bedeutet dies, dass eine Netzwerkumgebung
verlangt bzw. dazu auffordert, Kenntnisse und Fertigkeiten zu mobilisieren.
Mobilisierung meint hier, dass Kenntnisse und Fertigkeiten in einen Zustand
gebracht werden, in dem sie zielgerichtet eingesetzt werden können. Es geht
um die Einsetzbarkeit der Reserve menschlichen Kapitals oder Potentials, ei-
ne Einsetzbarkeit, die das unternehmerische Selbst unablässig im Auge be-
halten muss.
Mit dieser Selbstmobilisation verknüpft, ist die positive Bewertung des
Risikos. Im Sozialstaat ist Risiko noch etwas, das es zu überwinden gilt. Für
das unternehmerische Selbst in einer Marktumgebung bedeutet Risiko hinge-
gen die Grundvoraussetzung für Gewinn. Risiko wird hier nicht länger mit
der Möglichkeit in Verbindung gebracht, dass sich Probleme auftun könnten,
sondern vielmehr als eine Chance aufgefasst: es ermöglicht Unternehmertum,
Innovation und persönliches Wohlergehen. Das heißt natürlich nicht, dass das
unternehmerische Selbst alle Risiken unmittelbar als Chancen begreift. Es
bleibt die Sorge um Prävention gegen spezifische Risiken, aber eben auch
hier ist eine unternehmerische Haltung gefordert. Ein unternehmerisches Le-
ben zu führen bedeutet, dass es wichtig ist, eigenverantwortlich in Gesund-
heit und Sicherheit zu investieren, da dies etwas einbringt. Das unternehmeri-
sche Selbst betreibt daher konsequentes Risiko-Management.
Die Figur des unternehmerischen Selbst, die das eigene, kapitalisierte
Leben in die Hand nimmt, beschreibt nicht nur eine Form der Selbstführung.
Sie ist gleichzeitig Gegenstand diverser externer Regierungsbeziehungen.
Während der Sozialstaat von einer ökonomischen Domäne einerseits und von
einer biosozialen Domäne andererseits ausgeht und im Namen der Letzteren
eine soziale Politik und Biopolitik führen kann, wird die aktuelle Regierungs-
form in erster Linie über ihre Beziehung zum Unternehmertum definiert.
Dieses Unternehmertum kann natürlich auch eine soziale Dimension besit-
zen, aber für diese sozialen Dimensionen bürgt eben nicht der Staat, sondern
das Unternehmertum selbst. Das heißt nun nicht, dass der Staat sich gänzlich
zurückzieht, sondern eher dass er seine Aufgabe auf eine neue Weise inter-
pretiert.
Am Beispiel des Unterrichts und der Bildung lässt sich das anschaulich
demonstrieren. Der zentralen Regierung erscheint die Schule nicht länger vor
dem gemeinsamen Horizont des Unterrichts und der Gesellschaft. Den Hori-
zont stellt nun die Netzwerkumgebung dar, in der die einzelnen Schulen au-
Lernen, Leben und Investieren 179

tonom, d.h. gemäß den Gesetzen des ökonomischen Tribunals, operieren.


Dieser neue Horizont lässt es zu, spezifische Problernfelder (Qualität und re-
lative Perfomance) zur Sprache zu bringen und neue Führungsinstrumente
(Audit) einzusetzen. Kurzum, die zentrale Regierung kann es als eine ihrer
genuinen Aufgabe betrachten, die geeignete Infrastruktur und (Markt-)Um-
gebung für das Unternehmertum und dessen investierende Haltung zu si-
chern.
Es sind die Eigenschaften dieses Regierungsregimes - vorausgesetzt, es
nimmt Gestalt an und unsere Beziehung zum Selbst ist tatsächlich unterneh-
merischer Art -, die uns eine Sicht darauf ermöglichen, auf welche Weise
,das Leben' und ,das Lernen' heutzutage eine Rolle spielen. Ich will kurz
darauf eingehen, dass das ,permanente ökonomische Tribunal' eine investie-
rende Haltung gegenüber dem ,Lernen' und dem ,Leben' verlangt. Aller-
dings impliziert dieses Tribunal eben auch eine Form der Souveränität, durch
die das Regierungsregime in eine Schreckensherrschaft münden kann.
Einer Reihe von Elementen, sowohl eines ,unternehmerischen ' Staates
als auch des unternehmerischen Selbst, kann man sich von deren ,Biowert'
her nähern. Dieser Begriff bezog sich anfanglich auf die Art, in der die Kör-
per und Organe der Toten wieder verwendet werden, um die Verfassung bzw.
Gesundheit der Lebenden zu verbessern und aufrechtzuerhalten. Der tote
Körper kann daher eine Quelle des Mehrwerts darstellen. Nikolas Rose und
Carlos Novas erweiterten diesen Begriff in ihrer Analyse der aktuellen "bio-
logischen Bürgerschaft" (RoselNovas 2003: 30). Mit der Einführung des
Unternehmertums, der Möglichkeiten und Erkenntnisse der Gentechnologie,
der Biomedizin und der Neurowissenschaften hat die ,biologische Bürger-
schaft' nicht mehr ohne Weiteres mit der Zugehörigkeit zu einer ,Rasse' zu
tun. Der Hintergrund der biologischen Bürgerschaft ist beispielsweise das
Wissen über die genetischen Eigenschaften einer Bevölkerung und darüber,
in welcher Beziehung diese Eigenschaften zur Produktion von Gesundheit
und Reichtum stehen. Für einen Staat bedeuten die Kenntnisse über diese ge-
netischen und vitalen Eigenschaften gleichzeitig, neue Quellen ökonomi-
schen Mehrwerts und eventuelle Risiken sehen zu können. In diesem Kontext
ist es interessant, auf Peter Corning und dessen Ideen zur ,Bioökonomie' und
zur ,biopolitische Ökonomie' zu verweisen (vgl.: Corning 1997: 247). Es
geht ihm dabei um wissenschaftliche Disziplinen, die gegenwärtig mehr denn
je nötig scheinen. Die Bioökonomie verlegt sich auf die Beziehung zwischen
ökonomischen Aktivitäten und der Befriedigung unserer Grundbedürfnisse.
Grundbedürfnisse sind ihm zufolge die ,basic survival needs'. Er geht von
der Gesellschaft als einem "collective survival enterprise" aus, und unter-
stellt, dass man "survival indicators" entwerfen könne. Genauer gesagt geht
es um den Entwurf und die Anwendung von Profilen zu "personal fitness"
und "population fitness". Corning behauptet hier, dass diese wissenschaftli-
che Disziplin nicht allein theoretische Möglichkeiten bietet, vielmehr ist er
auch der Meinung: ,,[ ... ] at this critical juncture in our evolution as a species,
it is also an increasingly urgent moral imperative" (Corning 2000: 77). Seine
180 Maarten Simons

biopolitische Ökonomie scheint nicht nur eine Biopolitik im Namen des


Ökonomischen zu implizieren, sondern auch eine ökonomische Politik im
Namen des Überlebens.
Im aktuellen Regierungsregime ist es nicht allein der unternehmerische
Staat, sondern vor allem das unternehmerische Selbst, das sich auf seinen
Biowert verlegen muss: Körperliche Kondition, körperliche und psychische
Gesundheit werden hier aus einer unternehmerischen Haltung heraus proble-
matisiert, d.h. sie stellen die Quelle für Mehrwert und Optimierung des un-
ternehmerischen Lebens dar. Lebensgewohnheiten, Diät und Lebensstil be-
kommen unweigerlich eine bioökonomische Dimension: Sie liegen im Ver-
antwortungsbereich des unternehmerischen Bürgers und müssen im Rahmen
ihres Mehrwertes beurteilt werden. Aber diese investierende Haltung kann
sich auch auf die biomedizinische (neurologische) Kondition oder die geneti-
sche Präkondition richten. Auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis-
se beispielsweise über den (risikovollen) genetischen Bauplan und ausge-
richtet auf biomedizinische Expertise können sich unternehmerische Bürger
organisieren und Gemeinschaften bilden. Es handelt sich dabei um neue
Formen der ,Biosozialität', die selbst in medizinische Pflege und Behandlun-
gen investieren und Staaten bitten, in sie zu investieren. Oder aber es gibt
diejenigen, die im Gegenteil sich ganz gezielt jeglicher Form von medizini-
schen Eingriffen verweigern (vgl. RabinowlRose 2003). Diese Beispiele ver-
deutlichen, wie sich die Kapitalisierung des Lebens auf diverse Gebiete aus-
breiten kann und das kapitalisierte Leben (Tod, Krankheit, genetische und
neurologische Anomalien... ) von Anfang an als Korrelat einer unternehmeri-
schen, investierenden Haltung herausbildet. Ein Element dessen ist die Ka-
pitalisierung der Fortpflanzung und die Weise, in der Kinder als das Korrelat
der investierenden Haltung erscheinen.
Die Theorie des menschlichen Kapitals hat bereits gelehrt, die Ehe und
die Entscheidung, in Kinder zu investieren, als eine Unternehmung anzuse-
hen (vgl. Becker 1976: 172ff; 1993). Für unternehmerische Eltern ist das
,Produzieren' von Kindern eine wohldurchdachte und berechnende Wahl.
Kinder fungieren dabei entweder als dauerhaftes Konsumgut - und produzie-
ren in diesem Sinne Befriedigung - oder aber als ein dauerhaftes Produk-
tionsgut, da sie bisweilen für zusätzliche Einkünfte sorgen. Ausgehend von
der Unterwerfung unter das ökonomische Tribunal muss über Kinder in Kos-
tenkategorien gedacht werden: Kinder haben einen (Schatten-)Preis. Knappe
Mittel wie Zeit und andere Bedürfnisse spielen daher bei der Familienpla-
nung eine beträchtliche Rolle. Was ebenfalls nicht unberücksichtigt bleiben
darf, so behauptet Becker, ist das Investieren in das Humankapital der Kin-
der. Für Betreuung, Unterricht, Kleidung und medizinische Versorgung wird
man Geld ausgeben müssen, und auch dies bestimmt den Preis der Kinder. In
das menschliche Kapital von Kindern zu investieren, bedeutet darüber hin-
aus, eigene Zeit zu investieren: Auf dieser Ebene stellt das unternehmerische
Selbst die Frage nach dem Mehrwert für sich selbst und auch für das Kind.
,Quality time' zu schenken bedeutet, so darf behauptet werden, die knappe
Lernen, Leben und Investieren 181

Zeit so zu nutzen, dass sie eine optimale Investition in das menschliche Ka-
pital des Kindes darstellt. Aber in ein Kind zu investieren, bleibt doch immer
ein risikoreiches Unterfangen. Kinder mit einer Behinderung sind besonders
kostenintensiv, aber auch das Geschlecht kann durchaus erheblichen Einfluss
auf die Kosten nehmen. Pränatale Untersuchungen können an dieser Stelle
das Risiko für das unternehmerische Selbst bereits deutlich verringern. In
Bezug auf Kinder muss das unternehmerische Selbst zu einer optimalen In-
vestition und Produktion gelangen, und auf dieser Ebene kann es einen gen-
technischen Einfluss ausüben (vgl. Meyer-Drawe 2000). Aber es spricht für
sich, dass die Entscheidung dafür das ökonomische Tribunal nicht überlebt,
solange noch gentechnische Eingriffe ein risikoreiches Unterfangen sind.
Das alles verdeutlicht, dass das Leben sogar bis auf die genetische Ebene
als Korrelat einer investierenden Haltung erscheint. Häufig führt dies zu einer
,genetischen Unruhe', und man versucht, die davon ausgehende Gefahr durch
die modeme ,Eugenik', den modemen Rassismus aufzuzeigen und die mo-
deme soziale Hygiene in Erinnerung zu bringen (vgl. Foucault, 14. März
1979). Dabei ist es von besonderer Bedeutung, die Gefahren richtig zu identi-
fizieren. Zumindest soweit die Biopolitik des ,unternehmerischen Selbst'
(und eventuell eines unternehmerischen Staates) vollständig durch das öko-
nomische Tribunal gesteuert wird, kann dieses Tribunal eine Schreckensherr-
schaft über das kapitalisierte Leben ausüben. Wenn das Leben eine ökonomi-
sche Funktion bekommt, dann ist das ,sterben Lassen', wie Ulrich Bröckling
treffend anmerkt, die Folge eines "desinvestments" (Bröckling 2003: 22).
Wenn das ,leben Machen' durch eine Investition garantiert wird, dann impli-
ziert nicht länger zu investieren folgerichtig das ,sterben Lassen'. Mehr noch:
Der Tod selbst wird zum Korrelat einer investierenden Haltung. So behauptet
Becker, dass die meisten Todesfälle - "if not all" - tatsächlich Selbstmorde
sind: Der Tod könnte schließlich aufgeschoben werden, wenn mehr in das
Leben und lebensverlängernde Aktivitäten investiert würde (Becker 1976:
11). Wenn das unternehmerische Selbst - und womöglich der unternehmeri-
sche Staat - alles dem permanenten ökonomischen Tribunal unterwirft, dann
ist es genau diese Form des Unternehmertums, welche die Rolle eines Souve-
räns ausfüllt. Ein Unternehmen investiert in dasjenige, von dem es erwartet,
dass es die Investitionen rechtfertigt und zu einem entsprechenden Gewinn
führt. Kinder, Wissen und Gene verdanken ihre Existenz daher eben auch der
Tatsache, dass in sie investiert wird. Falls jedoch die Erwartung möglicher
Erträge wegfällt, kommt das Fortbestehen ins Gedränge. Da das Unterneh-
mertum über das Investieren entscheiden kann, hat es also den Status eines
Souveräns - und dies nicht nur anderen gegenüber, sondern vielleicht zuerst
und in besonderer Weise bezüglich seiner selbst. Sofern es nicht mehr in das
eigene menschliche Kapital investieren will oder kann, können die Bedürf-
nisse nicht länger befriedigt werden und in der Folge steht die Fortbexistenz
auf dem Spiel. Wenn also die Kosten nicht länger die zu erwartende Befrie-
digung aufwiegen, dann betritt man das Terrain des ,sterben Lassens' und
eventuell sogar das des ,sterben Machens'. Gegenüber diesen Ausgeschlos-
182 Maarten Simons

senen oder gegenüber jenen Personen, die sich selbst ausschließen, kann ein
unternehmerischer Staat das Investieren und das ,leben Machen' überneh-
men. So kann der Staat beispielsweise einen Vertrag mit einem Langzeitar-
beitslosen, oder mit einer Person, deren Leben noch nicht hinreichend kapi-
talisiert ist, abschließen (vgl. Dean 2002: 133). Auf diese Art verlagert sich
jedoch die Souveränität auf die Ebene des Staates. Es geht in einem solchen
Vertrag nicht so sehr um eine juristische Einigung, sondern um Verpflichtun-
gen, die auf dem Hintergrund des ,leben Lassens' erzwungen werden.
Diese Machtdynamik kann durchaus auch im europäischen Hochschul-
raum entstehen. Es betrifft hier eine öffentliche Infrastruktur, in der sich
Hochschulen als Unternehmen profilieren können. In diesen Unternehmen
können sie - durch Forschung und auf Kompetenz basierendem Unterricht -
menschliches Kapital anbieten und der unternehmerische Student kann in
diese Unternehmen investieren. Der unternehmerische Student macht dabei
nicht länger einfach nur eine Ausbildung - er trifft nun eine Entscheidung für
eine bestimmte Ausbildung und investiert Zeit eine bestimmte Menge seiner
Lebenszeit, von der er erwartet, dass sie später eine entsprechende Rendite
abwirft. Die Hochschulen werden voraussichtlich alle Anstrengungen unter-
nehmen, menschliches Kapital mit einem entsprechenden Mehrwert anzu-
bieten. Sie werden nach ,Exzellenz' streben und sie werden dem Studenten
den Mehrwert (Qualität) ,publik' machen. Sie werden in jene Forschungsge-
biete und in jene Ausbildungen investieren, von denen man erwartet, dass sie
sich als besonders ertragreich erweisen. Forscher und Dozenten kommen auf
diese Art und Weise in eine Lage, in der ihr Fortbestand von dem Erfolg die-
ser Investitionen abhängig ist. Ein System vergleichbarer Abschlüsse und ein
übergreifendes Qualitätsmanagement - Elemente eines europäischen Hoch-
schulraumes - erleichtern dabei die Umkehrung in eine Schreckensherr-
schaft: Denn die unternehmerische universitäre Verwaltung wird nur in Stu-
diengänge, Disziplinen und Forschungsgebiete investieren, wenn diese auf
europäischer Ebene und gegenüber ähnlichen Ausbildungen und Forschungs-
abteilungen einen erkennbaren Mehrwert versprechen. Natürlich kann man
dafür sorgen, dass man selbst über ausreichende Mittel verfügt und dass man
den Kunden - den Studierenden oder die Wirtschaft - direkt bezahlen lässt.
Aber auch hier bleibt das Schreckensregime dasselbe. In den unternehmeri-
schen Universitäten des europäischen Hochschulraums ist es Sache der Stu-
diengänge und Forschungsabteilungen zu beweisen, dass es für den Studien-
gang und die Forschung Kunden gibt und dass sie einen Mehrwert haben.
Kurzum, es ist an ihnen, das Fortbestehen zu sichern. Es geht um ein Schre-
ckensregime, welches, um die Terminologie von Lyotard zu übernehmen,
von der Maxime regiert wird: "Sorge dafür, dass in dich investiert wird, oder
verschwinde!" (Lyotard 1979: 8).
Aber solange Lernen nur als der Erwerb von menschlichem Kapital, von
Kompetenzen und als Aufbau von Kenntnissen verstanden wird, die etwas
einbringen, kann auch auf dieser Ebene das ökonomische Tribunal in eine
Schreckensherrschaft umschlagen. Lernen, so wird immer häufiger behaup-
Lernen, Leben und Investieren 183

tet, müsse dafür sorgen, dass wir über vielfältig einsetzbare Kompetenzen
verfügen, die es ermöglichen, uns zu verwirklichen und unsere Bedürfnisse
zu befriedigen. Das ökonomische Tribunal ist an dieser Stelle unerbittlich:
Wir müssen das menschliche Kapital und die Kompetenzen fortwährend
überarbeiten. Es geht eben nicht allein darum, sich ,up-to-date' zu halten,
sondern sich mit anderen zu vergleichen und dafür zu sorgen, dass man im
Vergleich zu anderen über das bessere ,Portfolio' verfügt. Die Unterwerfung
unter das permanente ökonomische Tribunal verurteilt das unternehmerische
Selbst in dieser Betrachtung nicht nur zum Lernen, sondern zum lebenslan-
gen Lernen. Der Lernprozess sorgt für den notwendigen Mehrwert und Ler-
nen heißt Investieren in menschliches Kapital (vgL Masschelein 2001). Es
scheint offensichtlich darum zu gehen, vorausschauend und pro-aktiv mit
dem Lernprozess und dem Lernvermögen umzugehen. Man wird genötigt,
das Lernvermögen in den Dienst des Erwerbs von Kenntnissen und Fertig-
keiten stellen, von denen man erwartet, dass sie einen Mehrwert besitzen.
Ohne diese investierende Haltung sich selbst gegenüber und ohne produktive
und pro-aktive Anwendung des eigenen Lernvermögens steht der Fortbestand
auf dem SpieL In diesem Sinne lässt sich das Zitat von David Kolb, das ich
dem Text vorangestellt habe, auf folgende Art neu formulieren: Es ist der
unternehmerische Mensch, der sich mit dem Lernprozess identifiziert und der
auf diese Art den Anforderungen der Umwelt vorgreifen muss. Dem muss
man jedoch hinzufügen: Das unternehmerische Selbst ist gleichzeitig dasje-
nige, das über den Mehrwert des Lernprozesses bestimmt. Und wenn die Bi-
lanz negativ ist, kann das ,leben Machen' übergehen in ein ,sterben Lassen'
oder schließlich sogar in ein ,sterben Machen'. Dass Bildung ihre Funktion in
zunehmendem Maße mit Begrifflichkeiten wie ,Lernen lernen' oder der An-
wendung des Lernens und der Entwicklung des Lernvermögens sowie dem
Erwerb von, Kompetenzen' umschreibt, ist daher eng verknüpft mit einer ge-
fährlichen Form der Machtausübung.

Literatur

Agamben, Giorgio (1995): Moyens sans tins. Notes sur la politique. Paris: Payot et Rivages.
Agamben, Giorgio (1998): Homo Sacer. Le pouvoir souverain et la vie nue. Paris: Seuil.
Barry, AndrewfThomas OsbomelNikolas Rose (Hrsg.) (1996): Foucault and political rea-
son. Liberalism, neo-liberalism and rationalities of government. London: University
College of London Press.
Becker, Gary S. (1976): The economic approach to human behavior. Chicago: University
of Chicago Press.
Becker, Gary S. (1993): Human capital. A theoretical and empirical enalysis, with special
reference to education. Chicago: The University of Chicago Press.
Bröckling, Ulrich/Susanne KrasmannfThomas Lemke (Hrsg.) (2000): Gouvernementalität
der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. FrankfurtlMain: Suhr-
kamp.
Bröckling, Ulrich (2003): Menschenökonomie, Humankapital. Eine Kritik der biopoliti-
schen Ökonomie. In: Mittelweg 36, S. 3-23.
184 Maarten Simons

Corning, Peter A. (1997): Bio-political economy. A trial-guide for a inevitable discipline.


In: Research in Biopolitics 5, S. 247-277.
Corning, Peter A. (2000): Biological adaptation in human societies. A ,basic needs' ap-
proach. In: Journal of Bioeconomics 2, S. 41-86.
Dean, Mitchell (2002): Powers of life and death beyond governmentality. In: Cultural Val-
ues 6, S. 119-138.
Dewey, John (1897): Mijn pedagogisch credo. In: Marcel A. Nauwelaerts (Hrsg.):
Opvoeding en onderwijs in het verleden. Teksten en documenten (3 - hedendaagse
tijd). Leuven: Acco, S. 49-42.
Donnely, Michael (1992): On Foucault's uses of the notion of ,biopower'. In: Timothy J.
Armstrong (Hrsg.): Michel Foucault, philosopher. New York: Routledge, S. 199-203.
Donzelot, Jacques (1977): La police des familles. Paris: Les Editions de Minuit.
Ewald, Fran,<ois (1986): Histoire de l'etat providence. Paris: Grasset.
Foucault, Michel (1976): Histoire de la sexualite 1. La volonte de savoir. Paris: Gallimard.
Foucault, Michel (1978a): La ,gouvernementalite'. In: Daniel DefertlFran,<ois EwaldlJac-
ques Lagrange (Hrsg.): Dits et ecrits III 1976-1979. Paris: Gallimard, S. 635-657.
Foucault, Michel (1978b): Securite, territoire et population. In: Daniel DefertlFran,<ois
EwaldlJacques Lagrange (Hrsg.): Dits et ecrits III 1976-1979. Paris: Gallimard, S.
719-723.
Foucault, Michel (1979a): La politique de la sante au XVIIIe siecle. In: Daniel De-
fertlFran,<ois EwaldlJacques Lagrange (Hrsg.): Dits et ecrits III 1976-1979. Paris:
Gallimard, S. 725-742.
Foucault, Michel (1979b): Naissance de la biopolitique. In: Daniel DefertlFran,<ois
EwaldlJacques Lagrange (Hrsg.): Dits et ecrits III 1976-1979. Paris: Gallimard, S.
818-825.
Foucault, Michel (1981): ,Omnes et singulatim': vers une critique de la raison politique.
In: Daniel DefertIFran,<ois EwaldlJacques Lagrange (Hrsg.): Dits et ecrits IV 1980-
1988. Paris: Gallimard, S. 134-161.
Foucault, Michel (1997): «11 faut defendre la societe». Cours au College de France (1975-
1976). Paris: GallimardlLe Seuil.
Gordon, Colin (1991): Governmental rationality. An introduction. In: Graham Bur-
chelllColin GordonlPeter Miller (Hrsg.): The Foucault effect: studies in governmen-
tality. London: Harvester Wheatsheaf, S. 1-51.
Hardt, MichaellAntonio Negri (2000): Empire. Cambridge: Harvard University Press.
Hunter, Ian (1994): Rethinking the schoo!. Subjectivity, bureaucracy, criticism. St. Leo-
nards: Allen and Unwin.
Kolb, David (1984): Experientiallearning: experience as the source of learning and devel-
opment. Englewood Cliffs: Prentice-Hall.
Larsen, Lars Thorup (2003): Biopolitical technologies of community in Danish health pro-
motion. Paper presented at the conference , Vital politics: health, medicine and bioe-
conomics into the twenty-first century". September 5-7.2003, London School of Eco-
nomics.
Lernke, Thomas/Susanne KrasmannlUlrich Bröckling (2000): Gouvernementalität, Neoli-
beralismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In: Ulrich Bröckling/Susanne
KrasmannlThomas Lernke (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur
Ökonomisierung des Sozialen. FrankfurtIMain: Suhrkamp, S. 7-40.
Lemke, Thomas (2003): Biopolitik im Empire - Die Immanenz des Kapitalismus bei
Michel Hardt und Antonio Negri. In: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissen-
schaft 32, S. 619-629.
Lyotard, Jean-Frangois (1979): La condition postmoderne. Paris: Les Editions de Minuit.
Malthus, Thomas Robert (1798): An essay on the principle of population. London.
(http://www.faculty.rsu.edul-felwellJTheorists/Malthus/Index.htm)
Lernen, Leben und Investieren 185

Masschelein, Jan (2001): The discourse of the leaming society and the loss of childhood.
In: Journal ofPhilosophy ofEducation 35, S. 1-20.
Masschelein, JanJMaarten Simons (2002): An adequate education for a globalized world?
A note on the immunization of being-together. In: Journal of Philosophy of Education
36, S. 565-584.
Masschelein, JanIMaarten Simons (2003): Globale immuniteit. Een kleine cartografie van
de Europese mimte voor onderwijs. Leuven: Acco
Mesnard, Philippe/Claudine Kahan (2001): Giorgio Agamben a I'epreuve d' Auschwitz.
Paris: Editions Kirne.
Meyer-Drawe, Käte (2001): Erziehung und Macht. In: Vierteljahrsschrift für wissen-
schaftliche Pädagogik 77, S. 446-457.
Nancy, Jean-Luc (2002): La creation du monde ou la mondialisation. Paris: Galilee.
Osborne, Thornas (1996): Security and vitality: drains, Iiberalism and power in de nine-
teenth century. In: Barry AndrewlThomas OsbornelNikolas Rose (Hrsg.): Foucault
and political reason. Liberalism, neo-liberalism and rationalities of government. Lon-
don: UCL Press, S. 99-121.
Rabinow, PaulINikolas Rose (2003): Thoughts on the concept of biopower today. Paper
presented at the conference 'Vital politics: health, medicine and bioeconomics into the
twenty-frrst century', September 5-7,2003, London School ofEconomics.
Ranciere, Jacques (2000): Biopolitique ou politique? In: Multitudes 1, S. 88-93.
Rose, Nikolas (1999): The powers of freedom. Reframing political thought Cambridge:
Cambridge University Press.
Rose, Nikolas/Carlos Novas (2003): Biological citizenship. In: A. Ong/S. Collier (Hrsg.):
Blackwell compagnion to global anthropology. Oxford: Blackwell.
Somit, Albert/Steven A. Peterson (1998): Review articIe: Biopolitics after three decades -
Abalance sheet. In: British Journal of Political Science 28, S. 559-571.
The European Higher Education Area (1999): Joint decIaration of the European Ministers
ofEducation Convened in Bologna on the 191h June 1999.
Roland Reichenbach

,La fatigue de soi': Bemerkungen zu einer Pädagogik


der Selbstsorge

"Rien ne m'est plus etrange que \'idee


que la philosophie s'est devoyee a un moment donne
et qu' elle a oubliee quelque chose,
et qu'il existe quelque part dans son histoire
un principe, un fondement qu'il faudrait redecouvrir"
Michel Foucault (l994c: 723).

Vorbemerkungen
Der Selbstsorgegedanken und die Idee einer ,Ästhetik der Existenz' haben im
Anschluss an Foucault eine Renaissance erlebt. Diese für viele Rezipienten
offensichtlich attraktiven, aber im Grunde wenig komplexen Konzepte bein-
halten auch starke empirische Behauptungen zur Konstituierung des Selbst
und zur Entwicklung von Ich-Identität, die in der Psychologie, besonders
aber der Sozialpsychologie vielschichtig, differenziert und mit einer beachtli-
chen empirischen Validität erhellt, diskutiert und teilweise überprüft worden
sind. Zu erinnern sei beispielsweise (1) an die Diskussionen um das Konzept
der Entwicklungsaufgaben (vgl. Havighurst 1948), (2) an Konzepte und
Arbeiten aus der psychodynamischen und vor allem strukturgenetischen
Tradition und (3) an den heute sehr ausgefächerten Bereich der narrativen (So-
zial-)psychologie, aus welcher soziologisch und historisch anschlussfähige
Überlegungen - etwa zum Zusammenhang von Identität und Erinnerungskultur
- hervorgegangen sind. Doch offensichtlich gelingt es dem im Vergleich dazu
wenig differenzierten Selbstsorgegedanken in einer raumzeitkultürlichen Si-
tuation, die sich durch das Fehlen tragfähiger gesellschaftlicher Visionen aus-
zeichnet, das Versprechen einer Re-Politisierung des Subjektes und eines mo-
ralisch-emanzipativen Empowerments des spätmodern eher ermüdeten Selbst
glaubhaft zu machen, das sich vielleicht noch tapfer zu weigern versucht, sich
als untemehmerisches Selbst zu verstehen. Solche hoffnungsvollen Aussichten
auf starke Individualität scheinen mit dem Preis bezahlt werden zu müssen,
dass der Diskurs um die ,Selbstsorge', um die ,Ästhetik der Existenz' und die
188 Roland Reichenbach

,Lebenskunst' hinsichtlich seines wissenschaftlichen Status' unklar bleibt:


nonnative, deskriptive, empirische, konzeptionelle, historische, politische, mo-
ralische, psychologische, soziologische und philosophische Aspekte und Ebe-
nen scheinen sich unauflösbar zu vennengen, sollen offensichtlich auch nicht
mehr richtig unterschieden werden, wie denn wohl wahr ist, dass in der Diskus-
sion um das Selbst vieles miteinander zusammenhängt (auch wenn die ein-
schlägigen Autoren - wie Keupp, Shustennan, Schrnid oder Thomä - das
Selbst als ,fragmentiert', , dissoznert ,, ,desintegriert' oder als ,Patchworkpro-
dukt' oder sonst irgendwie amorph begreifen). Das gewisse Maß an Unklarheit
lässt Hoffnung zu. In diesem vielleicht trüben Licht seien die folgenden, im
Grunde überhaupt nicht betrüblichen Ausführungen verstanden.

1. ,Wenn man sich nur richtig um sich selbst kümmert... ':


Die Herrschaft des Selbstsorgegedankens
Foucaults Sicht auf den antiken Selbstsorgegedanken lässt sich in folgendem
Dreischritt wiedergeben (vgl. 1984/1994c: 712-16): Freiheit ist erstens die
ontologische Bedingung der Ethik; zweitens ist Ethik die reflektierte Fonn
der Freiheit; ihre positive Fonn heißt drittens ,Selbstsorge' und besteht in ei-
ner Konversion der Macht. Die Selbstsorge wird nicht nur als Begrenzung,
sondern auch als ,richtige' Ausübung der Macht vorgestellt, d.h. als Vennei-
dung von Machtmissbrauch bzw. der ,Überschreitung legitimer Macht'. Die
Ethik des Selbst wäre demzufolge die in Freiheit gegründete und aufgegebe-
ne Selbstbemeisterung ("maitrise de soi"; vgl. Foucault 1994c: 729).
Das moral theoretische Interesse Foucaults schien darin zu bestehen, die
Selbstsorge als ein zeitgenössisches ethisches Konzept - allerdings in adap-
tierter Fonn und nicht als nostalgische Verklärung - zu etablieren. Ausge-
hend von der antiken Kultur der Selbstsorge beschreibt Foucault im dritten
Band von Sexualität und Wahrheit (1989) fünf Modalitäten der Selbstsorge-
praxis. ,Selbstsorge' ist danach (1.) ein Thema philosophischer Reflexionen,
(2.) ein Bündel von konkreten Übungen der (bzw. in die) ,Lebenskunst', (3.)
ein , therapeutisches' bzw. ,medizinisches' Denken, in welchem die philoso-
phische Reflexion als ,Heilmittel' des Selbst fungiert, wobei sich der ,Schü-
ler' als ,krank', d.h. als unvollkommen, unwissend, bildungsbedürftig zu be-
greifen habe (v gl. dazu Ewald 1996: 23), insofern (4.) auch eine Fonn der
,Selbsterkenntnis' im Sinne eines Messens und Bewertens eigener Fähigkei-
ten, Möglichkeiten und Notwendigkeiten in bezug auf Tugend und Abhän-
gigkeit, das Gewissen und das Wissen um Nichtwissen wie schließlich (5.)
eine spezifische "Umkehrung zu einem selber", d.h. eine Veränderung des
Selbstverhältnisses (Foucault 1989: 89).
Die analysierten Texte befassen sich mit Praktiken der Selbst-Trans-
fonnation, mit Versuchen, aus dem Leben ein Werk zu machen, welches ei-
nen auch ästhetischen Wert besitzt und bestimmten Stilkriterien genügt. Die-
,Lafatigue de soi' 189

se ,Technologien des Selbst', die - nebst den Technologien der Produktion,


der Technologie von Zeichensystemen und den Technologien der Macht -
eine "Matrix" der praktischen Vernunft bilden würden (Foucault 1993: 26),
zielen auf Transformation, nicht auf Vollkommenheit oder Geschlossenheit.
Ein derart geformtes (ethisches) Selbstsorgeselbst - so die explizite und
dann doch eher romantisch erscheinende These, vergleicht man den Stand
des empirischen Wissens zum Urteil-Handlungs-Hiatus im moralischen Be-
reich schon zu Lebzeiten Foucaults - könne sich nicht "verabsolutieren",
denn wer sich "ontologisch" kenne ("si vous savez ontologiquement ce que
vous etes" (Foucault 1994c: 716)) - d.h. wer nicht mehr Sklave seiner Be-
gierden sei und insbesondere wer keine Angst vor dem Tode mehr habe -,
der könne seine Macht nicht missbrauchen ("vous ne pouvez pas a ce mo-
ment-la abuser de votre pouvoir sur les autres" (ebd.; Hervorhebung R.R.)).
Selbstsorge via Selbstaufklärung, Selbsterkenntnis, Selbstbeherrschung und
freie Selbstgestaltung gilt Foucault folglich als ein Weg zur Selbstbemächti-
gung und als ein Präventionsprogramm gegen Machtmissbrauch. Die Bot-
schaft, die im Selbstsorgegedanken anklingt, lautet, dass Selbstbeherrschung
möglich ist und dass - ganz klassisch - die Entwicklung zum guten und zu-
gleich moralisch richtigen Leben über Selbsterkenntnis und eben Selbstbe-
herrschung führe und selber als Freiheitspraxis zu verstehen sei.
Letztlich können in dieser Sicht nur freie Geister (und Körper) moralisch
gut sein; denn wer mit seinen Bedürfnissen nicht klar kommt, zeigt, dass er
(noch) über eine sklavische Seele verfügt. Sklavische Seelen sind nicht fähig,
sich um andere zu kümmern, und sollten zunächst lernen, sich um sich selbst
zu kümmern, müssten an ihrem Ethos arbeiten, an ihrer Art und Weise sich
zu geben und benehmen. Nur so erwerben sie vielleicht später sozial taugli-
che Formen, die sie allein zu gestalten und verwalten vermögen. Dies heißt
"Ethos": "L' ethos de quelqu'un se traduit pas son costume, par son allure, par
sa maniere de marcher, par le calme avec lequel il n!pond a tous les evene-
ment, etc." (Foucault 1994c: 714) - die konkrete Form der Freiheit sei für
Polisgriechen deren Erscheinung und Oberfläche. Käme es nun allein auf die
Fähigkeiten, Techniken und eitlen Ausgefeiltheiten des Erscheinens vor an-
deren an, so würde zwar auch unsere zeitgenössische Welt der vielfältigen
Moden der Darstellung und Ausstellung des bearbeiteten Körpers (Bodybuil-
ding, plastische Chirurgie etc.) den Kriterien antiker Selbstsorge zumindest
dem äußeren Anschein nach vollauf genügen. Und wir kennen auch heute die
Schönheit, Selbstsicherheit und Selbstverständlichkeit der Menschen, die sich
zu benehmen wissen, die sich selbst zu helfen wissen, die sich selbst zu ver-
stehen wissen, die mit ihren Trieben, Wünschen und Sorgen mit der nötigen
Souveränität umzugehen wissen. Was können wir also heute von der antiken
Ethik der Schönen, Reichen und Mächtigen noch lernen? Imitieren wir diese
Freiheitspraktiker zumindest in ihrer Erscheinungsethik nicht schon allemal?
Oder sollten wir der ermüdenden Arbeit im Erlangen der ,maitrise de soi'
nicht eine soviel gegenwärtiger erscheinende und lebens weltlich bedeutsame-
re, freilich kaum begrüßte ,fatigue de soi' entgegensetzen?
190 Roland Reichenbach

"La fatigue de soi" ist ein Ausdruck aus Alain Ehrenbergs Depressions-
studie Lafatigue d'etre soi (2000). Das an seinen Selbstverwirklichungs- und
Selbstbemächtigungsversuchen ,ermüdete' und ,ausgebrannte' Selbst ent-
spricht vielleicht der realen Seite jener Münze, auf deren idealen Seite das so
leicht ideologisierbare Modell der Selbstsorge eingraviert ist (vgl. von Thad-
den 2003). Allerdings sei zunächst nicht der Sicht Ehrenbergs gefolgt und ein
solches Selbst als primär depressiv oder überhaupt psychopathologisch ge-
deutet; vielmehr soll hier von einem Selbst die Rede sein, das nun mehr eine
gewisse Lauheit, eine Trägheit und Leidenschaftslosigkeit besitzt (vgl. Gar-
nier 2001): ein Selbst, das sich nicht darüber aufregen kann, dass sein Leben
nicht im geringsten den Charakter eines Kunstwerks aufweist; ein Selbst, das
sich vielleicht eher fragt, ob nicht gerade der Anspruch, aus dem eigenen Le-
ben ein Werk machen zu wollen, das bestimmten ästhetischen Kriterien ge-
recht wird, überaus eitel oder exklusiv ist. Sollte man sich pädagogisch daher
nicht eher mit ,normalen' Selbsten und deren ,normalen' Sorgen und Zielen
beschäftigen, mit Selbsten also, die lernen müssen, ihr gewöhnliches Leben
zu bejahen (vgl. Taylor 1996)? Dass aber die antike Selbstsorge ein Privileg
weniger dargestellt hat, ist freilich auch für Foucault evident gewesen:
"S'occuper de soi est un privilege; c'est la marque d'une superiorite sociale,
par opposition a ceux qui doivent s'occuper des autres pour les servir ou en-
core s'occuper d'un metier pour pouvoir vivre" (Foucault 1994a: 355). Wer
sich um andere und/oder um einen Beruf kümmern "musste", dem entfiel die
Möglichkeit einer Beschäftigung mit sich selbst in einem starken (und nicht
bloß trivialen) Sinne des Konzeptes.
In einem schwachen, m.E. trivialen Sinne kann Selbstsorge kaum ande-
res meinen als eben ,auf sich selbst achten', ,sich um sich selbst kümmern',
,Sorgfalt auf sich selbst verwenden' - doch anders scheinbar bei Foucault,
ohne wirklich anzugeben, was an der Selbstsorge als epimeleia heauton so
anders ist: "Cela ne veut pas seulement dire s'interesser a soi-meme, et cela
n'implique pas non plus une tendance a exclure toute forme d'interet ou
d'attention qui ne serait pas dirigee sur soL Epimeleia est un mot tres fort en
grec, qui designe le travail, l'application, le zeIe pour quelque chose (... ), un
mot qui se rapporte a une activite, a une attention, a une connaissance ... "
(Foucault 1994b: 622f.). Kann Selbstsorge in einem so verstandenen,
scheinbar stärkeren Sinne überhaupt mehr oder zumindest anderes meinen
als "Bildung" oder "Verbesserung" der Person, als ob dies nicht schon An-
spruch genug wäre? Wie ist die gewisse Euphorie zu erklären, die das Kon-
zept bei manchen Autoren erlebt hat (v gl. etwa Keupp 2000; Schmid
1998)? Was kann man auf dem Boden der Realität, die man vielleicht ver-
ändern will, von einer ,Wiederbelebung' des alten Selbstsorgegedankens
erwarten, von der Foucault an anderer Stelle behauptet, sie sei im völlig
fremd (vgl. 1994c: 724) - was man ihm vielleicht nur schwerlich glauben
will?
Doch im Unterschied zu euphorischen Interpretationen sind Foucaults
Texte zur Selbstsorge bemerkenswert nüchtern gehalten. So behauptet Didier
,Lafatigue de soi' 191

Eribon von der Schreibweise von Foucaults letzten Büchern, Der Gebrauch
der Lüste und Die Sorge um sich, sie sei "ruhig geworden, leidenschaftslos,
(... ) weit entfernt vom früheren Glanz", ja "gedämpft" und "nüchtern" (Eri-
bon 1999: 480). Dass sich Foucault nach seinem jahrzehntelangen anti-
aufklärerischen Aufklärungsspielen, nach seinen jeweils in aporetische Zu-
sammenhänge mündenden Analysen des Diskurs- und Machtgedankens, nach
seiner für ihn wohl auch lustvollen Demontierung des Subjekts in seiner
letzten Lebensphase ausgerechnet der Praxis der ,Aufrichtigkeit' (parrhesia)
und den Techniken der Selbstsorge gewidmet hat, könnte auch ironisch
kommentiert werden. l Die Beschäftigung Foucaults mit der (antiken) Selbst-
sorge führte wohl bei manchen seiner Interpreten zu einer Auffassung der
Selbstsorge als einer Jrohen Botschaft', die uns möglicherweise Mut machen
sollte, das Leben richtig zu leben, um es dann auch richtig beenden zu kön-
nen. Dies kommt zumindest den Wünschen nach Authentizität und Läute-
rung, nach Verpflichtung und Klarheit, nach Selbstvergewisserung, nach
Selbstentschluss und Freiheitspraxis in einer kulturellen Situation entgegen,
in welcher diffuse ldentitäten als normal und akzeptabel gelten. Das Selbst-
sorgemotiv erinnert in einer weniger sozialwissenschaftlichen Sprache - und
das macht zweifellos einen Teil seines Charmes aus - an die Möglichkeit und
Pflicht, ein eigenes Leben zu führen; zugleich ist es obskur genug, um Tiefe
zu suggerieren, während das Identitätsproblem in soziologischen und psy-
chologischen Diskursen mittlerweile viel von seiner Attraktivität eingebüßt
hat. In einer Weh, in der man sich verwundert fragt, wieso man sich nicht
mehr so richtig empören mag über die Dinge, die einem missfallen, über die
Tatsache der Kraftlosigkeit so mancher politischer und ethischer Ideale,
scheint der Selbstsorgegedanke bei jenen, die hier trotz alledem noch den
Skandal des banalen Lebens erleben, ein Sinnvakuum zu füllen.
Gegen solche Lauheit und gegen das Arrangement mit dem seichten Le-
ben soll die Selbstsorgeethik sinnigerweise wieder aufrufen, uns einerseits
der Einübung von Lebenskunst (sogenannte ,Askese') zu widmen und ande-
rerseits der Ausübung von Lebenskunst (sogenannte ,Stilistik'). Charakteri-
sieren sollen wir uns als ethische Subjekte im Gegensatz zum epistemischen
Subjekt durch ein "asketisches Selbstverhältnis" (Schrnid 1992: 382) - das
soll so viel heißen wie: leisten wir Arbeit an uns, bilden wir uns, so dass wir
zunehmend von der ,passiven' und ,normierten' zur ,aktiven' und ,ethischen'
Form der Selbstkonstituierung gelangen. Durch eben solchen Gebrauch unse-
rer selbst, d.h. unserer Freiheit, ,schaffen' wir gleichsam an den Vorausset-
zungen für eine ,freiheitliche Gesellschaft' mit; dies wäre nach Wilhelm
Schmid eine Gesellschaft, die das Individuum in den Mittelpunkt stellen
würde. Dies bezeichne ich als die ,frohe Botschaft' des Selbstsorgegedan-
kens: Das Re-Empowerment des ästhetischen und gerade deshalb wieder mo-
ralischen und politischen Subjekts, das sich mit Foucault, und vielleicht auch

Etwa im Sinne einer von Foucault vielleicht nicht immer heftig abgewehrten, arbeits-
biographischen mauvaise foi ("Unaufrichtigkeit", vgl. Sartre 1943/2000).
192 Roland Reichenbach

gegen ihn, wie Phoenix aus der Asche erhebt, geschieht durch "Akte der
Freiheit", die in Konfrontation mit Problemen und im Kontakt mit dem Into-
lerablen, d.h. in Auseinandersetzung mit Macht und gegen Normierung voll-
zogen werden (Schmid 1992: 384). Doch lässt sich dies konkretisieren?

2. Eine pädagogische Rezeptologie der Selbstsorge?


"Caring for self' sei "a huge topic", schreibt Nel Noddings, denn "everything
we care about is somehow caught up in concerns about self' (Noddings 1992:
74). Einigermaßen erstaunlich sind die Empfehlungen, die bei dem Versuch
entstehen können, den Selbstsorgegedanken pädagogisch zu konkretisieren.
Beispielhaft erwähnt sei hier Noddings: Sie bezieht die Selbstsorge zunächst
auf das körperliche Leben ("physical life"); der Körper und die Körperlich-
keit sei auch schulisch von herausragender, meist verkannter Bedeutung. Be-
denke man, wie wichtig der Körper und, wenn es geht, ein sich in guter Ver-
fassung befindender Körper im Grunde sei (!), so wirke um so unverständli-
cher, wie wenig dies in der (Schul-) Pädagogik zur Kenntnis genommen wer-
de. Noddings gibt uns in diesem Zusammenhang auch ein paar gute Tipps,
wie wir wieder "in shape" kommen und dabei auch die Kinder partizipieren
lassen können - pädagogisch wirksame Fitness, ganz im Gegensatz zu den
,,1980s (when) exercise (... ) took on a selfish and unproductive look" (Nod-
dings 1992: 75). Neben dem Fitnessaspekt der körperlichen Selbstsorge sieht
Noddings innerhalb des physischen Lebens allerdings durchaus auch weitge-
fasste Elemente, nicht nur bloßes "health management", sondern auch ein
Verständnis für "life stages, birth, and death". Die Behandlung dieser The-
men sei u.a. deshalb zur schulischen Aufgabe geworden, weil: "many of our
children today are isolated from human beings of different ages" (Noddings
1992: 80). Der Tod (und wie man sich vor ihm schützt) muss ins Curriculum;
schließlich sei auch nicht falsch zu behaupten: "Avoiding premature death is
properly part of leaming to care for oneself and should be considered in a
sound education for physicallife" (Noddings 1992: 81).
Was an den öffentlichen Schulen in den USA aber am meisten fehlen
würde und eben ein weiterer wesentlicher - auch pädagogischer - Teil der
Selbstsorge darstelle, sei das spirituelle Leben. 2 Spiritualität sei heute für
viele leider keine Alltagserfahrung mehr. Ein bisschen besser steht es diesbe-
züglich noch in der Familie Noddings. Davon zeugt folgender Bericht:
"Sometimes when we're driving across the country nonstop, on a Sunday
morning, the radio yields one old favorite after another. Our children have

2 Nicht dass Noddings für eine rigide Durchsetzung religiöser Praktiken in der Schule
oder dergleichen wäre. Ganz im Gegenteil: "My husband and I long ago gave up for-
mal religion ... ", aber dennoch: "but we still are moved by the hymns we leamed as
children" (ebd.).
,Lajatigue de soi' 193

been astonished. ,How do you know so many verses?' they have asked. They
might better have asked why we did not teach them these songs" (Noddings
1992: 82). Nach solcher Selbstkritik darf Noddings dann wiederum festhal-
ten: "Now, older and possibly wiser, we see that matters of the spirit are too
important to be confined to centers of indoctrination. They must be part of
everyday life and of the most strenuous intellectual efforts" (ebd.). So geht es
weiter auch für die Bereiche "occupational life" und "recreational life" und
immer wieder zeigt uns Noddings mit allseits bekannten Gründen, dass das
Selbst eine relationale Entität ist und die Selbstsorge deshalb nur als Praxis
mit anderen, im weitesten Sinne als kommunikative oder interaktive Praxis
verstanden werden könne.
Dass das verbreitete Buch von der im nordamerikanischen Erziehungs-
diskurs sehr bekannten Nel Noddings in großen Teilen der Sparte ,pädagogi-
scher Kitsch' zugerechnet werden muss, mag bestritten werden, sicher er-
scheint aber, dass der pädagogische Gebrauch des Konzeptes Selbstsorge zu
zwar praktisch vielleicht bedeutsamen, theoretisch aber trivialen Einsichten
und Ratschlägen führen mag. Doch es geht hier nicht darum, Noddings Buch
zu desavouieren, sondern vielmehr um die Frage, ob man denn inhaltlich
überhaupt anders - wenn möglich: besser - über die Selbstsorge in pädago-
gisch-praktischer Hinsicht sprechen könne. Es steht zu befürchten, dass dies
leider nicht so eindeutig der Fall zu sein scheint. Nicht nur das: Weiter muss
vermutet werden, dass das Selbstsorgekonzept gegen ideologischen Miss-
brauch kaum widerständig genug ist, gerade weil es sich so leicht mit eman-
zipativen Selbstüberhöhungsträumen verbindet und damit Selbsttäuschungs-
potentiale freisetzt.

3. Ist das Selbstsorgekonzept trivial?


Für den pädagogischen Diskurs bleibt sicher von Bedeutung, dass Foucault
die Sorge um das Selbst "als eine Sorge um die Aktivität, nicht die Sorge um
die Seele als Substanz" (Foucault 1993: 35) begreift, wiewohl die Selbstsorge
in Platons Dialogen Alkibiades und Apologie, die Foucault zufolge den Ur-
sprung der stoisch geprägten "Idee" der Selbstsorge als einer "Kultur seiner
selbst" darstellen, die "Sorge um die Seele" bezeichnet (vgl. Foucault 1989:
55-94). Allerdings ist "Seele" auf dem Hintergrund der altgriechischen An-
thropologie nicht als unsterblicher Besitz zu sehen (vgl. Arendt 1996), son-
dern vielmehr als das "einzige ,sich selbst Gebrauchende "', also besser als
,,reflexive Struktur" (Böhme 1988: 58). Nicht der individuellen Seele ist die
Selbstsorge der sokratischen Ethik gewidmet, sondern einem allgemeinen
Guten, welches mit Wissen, Weisheit und Vernunft gleichgesetzt wird (vgl.
Böhme 1988: 61).
Foucault interessiert sich bei seinen Analysen der Selbstsorgepraktiken
für den Wandel des Konzepts aus einem ursprünglich politisch-ethischen
194 Roland Reichenbach

Kontext (Platon) über einen religiösen (ab der späten Antike) in einen rein
psychologischen (Modeme). Es handele sich hierbei, wie Schmid bemerkte,
um eine Transformation der Selbstsorge in Seelsorge (vgl. Schmid 1992). So
könne die humanistisch-psychologisch inspirierte Selbstkultur der Gegenwart
durchaus als Reaktion auf eine ,christliche Ethik' verstanden werden, wel-
cher es darum gegangen sei, das Selbst zu entziffern, um ihm letztlich zu ent-
sagen. Der christlich geformten Selbstentsagungspraxis werde modem eine
romantische geprägte Form der Selbstsorge entgegengestellt, welche einer
Sakralisierung eines inneren, wahren und ,unberührbaren' Kerns des Men-
schen gleichkomme (vgl. Reichenbach 2002). Der Ursprung der Idee eines
"wahren" Selbst hat allerdings weniger mit Narzissmus zu tun (vgl. Lasch
1979) als vielmehr mit dem moralischen Ideal der Authentizität (vgl. Taylor
1995); man könnte auch sagen, mit einer psychologisch-naturalistisch moti-
vierten Ethik.
Dem ,Foucaultschen Subjekt der Erfahrung' gehe es - so etwa Wilhelm
Schmid - stets um ein spezifisch ethisches Anliegen, nämlich um die mögli-
che Veränderung und damit um die Möglichkeit einer offenen Geschichte,
man darf auch etwas pathetisch sagen, um die Freiheit des Menschen, aber
eben nicht um seine ,wahre' Natur (vgl. Schmid 1992: 227; Foucault 1996).
Diese Freiheit aber, weil sie jeweils konkrete Praxis ist, zeige sich an der Art
und Weise zu leben und sich zu geben, d.h. an einem besonderen Stil, der auf
Elemente der Selbstformung verweise. Die Frage des Lebens-Stils sei gerade
wegen ihrer politischen Dimension bedeutsam, da sie in Beziehung zu dem
steht, "was wir in unserer Welt willens sind zu akzeptieren, zurückzuweisen
und zu verändern, sowohl bei uns selbst als auch in unseren Verhältnissen"
(Foucault, zit. nach Schmid 1992: 236). "Nicht Untertan zu sein", dieser
Wunsch verlange nach "Formen der Gesellschaft (... ), die auf der Selbstkon-
stituierung der Subjekte beruhen und diese ermöglichen" (Schmid 1992:
375). Hier berühren sich nun ethische Fragen mit Machtfragen, denn die
Möglichkeit der "Regierung seiner selber" scheint primär in freiheitlichen
Gesellschaften gegeben. Damit erhalte die Ethik des Selbst - so die Unter-
stellung - aufklärerische Relevanz und Aktualität (vgl. Schmid 1992: 376).
Es ist denn auch diese "theoretischen Stelle", an welcher die Einwände
gegen Foucault, wie sie etwa von Jürgen Habermas, Nancy Fraser oder
Charles Taylor erhoben wurden, in dem Argument konvergieren, Foucault
habe nicht zeigen können, wie das Subjekt in der allumfassenden Macht
überhaupt zum Widerstand fahig sein könne und derselbe überhaupt noch zu
begründen sei (v gl. Lemke 1997). Unabhängig davon, ob Foucaults "spätes
Interesse an Subjektivität und Ethik" nun als theoretischer Bruch, als Ab-
wendung von der Machtproblematik und "Flucht aus einer theoretischen
Sackgasse" verstanden wird oder gerade umgekehrt als Konsequenz seiner
intensiven Beschäftigung mit Machtpraktiken (vgl. Schobert 1998), der Be-
griff der "Regierung seiner selbst" wird stets als "Bindeglied" und Vermitt-
lungsbegriff zwischen Macht und Subjektivität, Macht und Herrschaft be-
trachtet (vgl. dazu einschlägig Ricken 2003).
,Lafatigue de soi' 195

Doch Foucaults Analysen zum Selbstsorgebegriff in der Antike sind be-


schreibender Natur. Die beschriebenen, höchst exklusiven Praktiken bezeu-
gen ein offenbar großes Interesse an der Konstituierung eines ,autonomen'
Selbst im Zusammenleben mit den (exklusiven) Anderen. Foucault will an
manchen Stellen zeigen, dass das relationale und das autonome Selbst nicht
als Gegensätze begriffen werden müssen. Doch das eigentlich Interessante an
diesen Analysen ist die Kritik an der Transformation des Selbstsorgegedan-
kens vom politischen über den religiösen in einen psychologischen Kontext.
Obwohl die indirekt-politische Brisanz einer psychologisch motivierten Ethik
und insbesondere des Ideals der Authentizität nicht zu unterschätzen ist, blie-
be die vermeintliche Entpolitisierung und Entmoralisierung des Selbstsorge-
gedankens - wenn er denn für den politischen Bereich wirklich so bedeutsam
gewesen sein könnte, woran man zweifeln darf - politisch und pädagogisch
problematisch. Die ,autonome Selbstsorge' der Antike wird nämlich nicht,
wie etwa Schmid (1998) annimmt, in eine christlich überformte ,heteronome
Seelsorge' verkehrt und dann später fürsorglich-therapeutisch überlagert (vgl.
Keupp 2000), sondern hat vor dem so unterschiedlichen historischen, sozio-
ökonomischen und vor allem politisch-ethischen Hintergrund der Moderne
eine ganz andere Ausgangsbasis, Bedeutung und Funktion - und zwar kei-
neswegs einfach eine ,gegenteilige' oder ,verkehrte'. Die Inhalte einer philo-
sophischen und später auch religiösen Ethik sind im Altertum völlig andere
als in der Moderne, "zentrale Begriffe eines antiken Modells einer Lebens-
kunst wie Glück, Tugend, Askese oder höchstes Gut fristen im neuzeitlichen
Verständnis von Moralphilosophie nur eine Randexistenz" (Horn 1998: 14).
Im modernen Moral- und Politikverständnis hat die Idee der Freiheitssiche-
rung und der gleichen Rechte für alle den Vorrang vor der Sicherung der Pri-
vilegien gesellschaftlicher Eliten. Es wäre daher fatal, den Anteil der jüdisch-
christlichen Liebesethik an der Orientierung an dem Wert universaler
Gleichheit zu unterschätzen (vgl. Brunkhorst 2000). Kurz: Lebenspraxis ist
modern nicht das Thema des Gebotenen und Richtigen, sondern des Guten
und spielt auch so eine bedeutsame Rolle, nur eben unter den Bedingungen
und Lasten der Moral der gleichen Rechte. Die Lesart, die von Foucault be-
schriebene Transformation des Selbstsorgegedankens als eine reine ,Perver-
sionsgeschichte' zu begreifen, wird zwar von Foucault selbst m.E. an man-
chen Stellen nahegelegt, aber ihr kommt in theoretischer Hinsicht keine grö-
ßere Bedeutung zu. Foucault vertrat bezüglich des Selbstsorgegedankens die
,Entgleisungsthese' an dieser Stelle nicht: "Rien ne m'est plus etrange que
l'idee que la philosophie s'est devoyee a un moment donne et qu'elle a ou-
bliee quelque chose, et qu'il existe quelque part dans son histoire un principe,
un fondement qu'il faudrait redecouvrir" (Foucault 1994c: 723). Statt
Foucaults Analysen der antiken Selbstsorgepraktiken zum Gegensatz einer
vermeintlichen ,selbst-losen Moral' der Moderne zu stilisieren, erscheint es
als fruchtbarer, diese als frühe Hinweise auf ein praxeologisches Verständnis
der Selbstkonstitutierung zu betrachten. Allein darin verbirgt sich das päda-
gogische Interesse der Gegenwart am Thema.
196 Roland Reichenbach

Nur: Dafür braucht man keine Moraltheorie, keine Genealogie und kein
Ursprungsmythos, keine anti-modemen Suggestionen und keine Dichoto-
misierung zwischen vermeintlichen , Ego-Ethiken, (des guten eigenen Le-
bens) und ,Sozio-Moralen' (des richtigen Miteinanderlebens). Es reicht der
empirische Blick auf die Verse der jugendlichen Dichter in ihrem Liebes-
kummer, auf das adoleszente Herumtelefonieren und das Einholen von
Peers-Feedback, auf das ständige Korrigiertwerden, aber auch auf das Ge-
lobtwerden, auf das Messen, Bewerten und Vergleichen auf dem Sport-
platz, in der Turnhalle und in der Disco, das Diskutieren über Filme, Kon-
zerte etc. - alles mehr oder weniger angeleitete, mehr oder weniger frucht-
bare Techniken der Personwerdung; Techniken, deren Logiken natürlich
ausfindig zu machen sind und entwicklungs- und bildungstheoretisch inte-
ressieren müssen.

4. Selbstsorge als Ideologie und das ermüdete Selbst


Foucault habe den Begriff der Selbstsorge aktualisiert und das Konzept "für
eine modeme Gesellschaft ins Gespräch" gebracht, "in der die Subjekte
schon allzusehr ans Regiertwerden und damit an die Abgabe der Sorge ge-
wöhnt worden sind", meinte Schmid (1995: 534). Selbstsorge sei folglich
das Bemühen, "Macht über sich selbst zu gewinnen und diese Macht ins
Spiel bringen gegen die Bevormundung durch die herrschende Macht"
(ebd.). Das klingt zweifellos attraktiv, aber es fragt sich, wie diese Macht
näher bestimmt werden kann, wo die Kriterien ihrer Berechtigung gefunden
werden können?
,Empowerment' hieß nun über Jahre ein auch in den USA - insbeson-
dere in vielen ,Minority'- oder ,Disenfranchised'-Diskursen - pädagogisch
populärer Ausdruck: Wer ein positives oder zumindest neutrales Verhältnis
zum Begriff der Macht gewonnen hat, der kann, darf und soll nun scheinbar
anders reden. Doch das politische Bewusstsein war vom Selbstsorgebegriff
noch nie abhängig, die neue, wohl primär Foucaults Arbeiten verdankte
Attraktivität des Begriffes speist sich denn auch kaum aus politischer
Quelle, vielmehr ist es die sogenannte ,Lebenskunst', der (an sich keines-
wegs unpolitische) Gedanke der ,Ästhetik der Existenz', von der bzw. dem
sich wohl vor allem diejenigen angezogen fühlen können, die ihr Leben in
der einen oder anderen Form der Frage nach dem Sinn ihres Lebens wid-
men können, Mitstreiter des modemen Lebens und Zusammenlebens, die
sich mit den psychologisch delikaten Fragen auseinandersetzen können,
wie sie (eigentlich) wissen könnten, was sie (wirklich) aus ihrem Leben
machen wollen, wie sie (eigentlich) wissen könnten, was für sie (wirklich)
gut wäre, was sie (wirklich) brauchten, und wie sie (eigentlich) wissen
könnten, ob das, was sie (wirklich) möchten auch das ist, was sie (wirklich)
brauchen. Solche Beschäftigung sei nicht als ,Narzissmus' verunglimpft, es
,Lafatigue de soi' 197

genügt, von Selbstreflexivität in günstigen sozioökonomischen Individual-


lagen zu sprechen. 3
Dirk Rustemeyer ist daher nur zuzustimmen, wenn er anmerkt: "Bloße
Selbstveränderungen bleiben, auch in reflektierter Form, so unvermeidlich
wie politisch unspezifisch" (vgl. Rustemeyer, in diesem Band). Wer politisch
denkt, ist auf die Schmidsche, Keuppsche oder auch Thomäsche Sicht der
Selbstsorge nicht angewiesen. Es ist nicht so bedeutsam, dass es im Gespräch
zwischen Sokrates und Alkibiades um dessen politische Ambitionen gegan-
gen ist: junger "Heißsporn" (so Foucault) hin oder her, modeme Heißsporne
haben auch andere Ideen und Motive, d.h. man kann für viele Dinge nicht reif
genug sein, nicht reflektiert genug sein, sich nicht genügend kennen, und dies
ist der pädagogisch relevante Aspekt. Doch politisches Handeln erfolgt im-
mer unter den Bedingungen der Unsicherheit und dem Mangel an Souverä-
nität, wie man mit Rekurs auf Hannah Arendts Freiheits- bzw. Pluralitätsthe-
se (vgl. Arendt 1996; 1994) sagen könnte. Handeln als praktizierte Freiheit
zeigt in extremen Fällen ebenfalls an, dass man bereit ist, auf sein eigenes
Überleben zu verzichten, in weniger prekären und zum Glück so viel häufige-
ren Fällen, dass einen die Sorge um sich nicht schwach, sondern vielmehr so-
zial ,stark' gemacht hat, so dass man bereit ist, für die Expression eigener
Überzeugungen negative Konsequenzen zu tragen. Sich zu kennen heißt auch
hier nichts anderes als zu wissen, was man will, was man für gut und richtig
hält und was man ablehnt und verachtet. Nicht nur ist derartiges moralisches
und ethisches Wissen konstitutiv für die Entwicklung und Veränderung des
Selbst, es ist auch jenes Wissen, das in der Tat jeweils dann politisch bedeut-
sam wird, wenn genügend Empörungskapazität vorhanden ist, dass dieses
Selbst in der Situation der Missachtung moralisch legitimer Erwartungen den
(sozusagen ,politischen') Diskurs initiiert.
Ideologisch wird diese Sicht, wenn die Erwartungen an das Einzelselbst
im Hinblick auf die ,Empörungskapazität' - und dies ist m.E. die relevante
psychisch-moralische Ressource beim Kontakt mit dem Intolerablen - los-
gelöst vom sozialen Kontext und dem ethisch-moralischen Hintergrund for-
muliert werden: Dann landen wir wieder bei diesem womöglich supereroga-
tiven Selbstbemeisterungsselbst, das sein Leben in jeder Situation, größten-
teils unabhängig von den Anderen, unabhängig von den sozialen und emotio-
nalen, ökonomischen und moralischen Ressourcen zu einem (Kunst-) Werk
zu machen fähig ist. Diese groteske Idee war in den letzten Jahrzehnten vor
allem in psychologisierenden und psychologistischen Milieus verbreitet: dass
man sie nun als politisch bedeutsam und emanzipative Hoffnungsträgerin zu
etablieren suchte, zeigt m.E. nur, wie wenig hier überhaupt noch über die
Voraussetzungen eines politischen Lebens nachgedacht wird und wie funk-

3 Die hier anschließende Frage lautet, ob wir die Übergänge von Selbsterkenntnis zu
Selbsterzählung, von Selbstfindung zu Selbsterfindung, von Selbstbestimmung zu
Selbstmythos, von Selbstaufklärung zu Selbstverklärung, von Se1bstenttäuschung zu
Selbsttäuschung, und den Übergang von sorgloser Gleichgültigkeit zu sorgenvoller
Ängstlichkeit wirklich klar benennen können (vgl. Thomä 1998).
198 Roland Reichenbach

tional äquivalent bzw. sogar strukturell gleichartig ein so verstandener


Selbstsorgegedanke und das "unternehmerische Selbst" geworden sind. Die
Selbstsorgeethik scheint der deregulierten, globalisierten, privatisierten Welt
des Marktes zu entsprechen: Nach dem Ende positiver Sozialutopien und der
aufgebrauchten Kraft universalistischer Moral bleibt keine überzeugende
Alternative übrig. Das Selbstsorgeselbst als pures Lebenskunstselbst unter-
liegt einem analogen Erfolgszwang wie das untemehmerische Selbst: Beide
sind verwickelt in Aktivitäten des permanenten Sich-Messens, des Sich-
Behauptens, des Sich- Verbessems, Sich-Entfaltens und Sich-Verwaltens.
Das ,ermüdete Selbst' (Ehrenberg 2000) kennzeichnet daher die stille
Depression des und der am Leistungsdruck des ständigen Vergleichs mit sich
selbst und den Anderen Gescheiterten, die Reaktion auf eine letztlich spätka-
pitalistische Steigerungsethik, die nur noch mehr oder weniger spezifische
,Kompetenzen' und , Schlüsselkompetenzen , kennt, deren Entwicklung ein
flexibler Markt sowohl erfordert als auch ermöglicht und mit welchen sich
die mehrheitlich unfreiwilligen Teilnehmer zu identifizieren haben, wollen
sie darin Anerkennung finden. Das ,Drama des Ungenügens' ist der Preis für
die vermeintliche Freiheit, für seinen (Markt-) ,Wert' selber aufkommen zu
sollen oder zu wollen, zumindest ist dieses Drama eine mögliche Konsequenz
eines zu hohen Maßes an geforderter und/oder selbstoktroyierter Selbstkon-
trolle und Selbstdisziplin. Aus diesem Grund sei hier wenig erbaulich, son-
dern vielmehr mit einiger Skepsis gefragt, wer denn heute noch tatsächlich
anzugeben wagt, was der Selbstsorgegedanke unter diesen - und eben nicht
den spätantiken - Bedingungen pädagogisch noch leistet?

s. Schlussbemerkungen
Wilhelm Schmid mag recht haben: der Selbstsorgegedanken ist tatsächlich
vielschichtig thematisierbar und es gilt vielleicht wirklich einen selbstzepti-
ven Aspekt, einen selbstreflexiven Aspekt, einen selbstproduktiven Aspekt,
einen therapeutischen Aspekt, einen asketischen Aspekt, einen parrhesiasti-
schen Aspekt, einen mutativen Aspekt, einen prospektiven und präsentiven
Aspekt, einen politischen Aspekt und eben auch einen pädagogischen Aspekt
zu unterscheiden (vgl. Schmid 1995: 530). Und richtig mag auch sein, dass
die Analysen zur Selbstsorge für die Bildungstheorie von einigem heuristi-
schen Wert sind, insofern sich diese der kulturellen und psychischen Situati-
on des Selbst zu widmen hat. Richtig mag weiterhin sein, dass die spätmo-
derne Situation mit derjenigen der griechischen Antike einige wenige auffäl-
lige Gemeinsamkeiten aufweist, wie etwa jene, dass auch wir in der Regel
nicht länger glauben, dass die Religion als Fundament der Moral fungieren
könne und dass auch wir Probleme damit haben, wenn das Rechtssystem in
unser moralisches, persönliches und intimes Leben interveniert (vgl. Ewald
1996: 24; Schmid 1992: 249f.). Nur scheint das freilich nicht auszureichen,
,Lafatigue de soi' 199

um die Selbstsorge als zeitgenössisches Konzept einer politischen Ethik und


damit verbundenen auch als einer pädagogischen Programmatik mehr denn
als bloßes Komplement zu klassisch modemen Konzeptionen moralischer
Bildung und Erziehung zu etablieren und von den ohnehin weit verbreiteten
Vorstellungen individualistischer und psychologisch-motivierter Ethiken ab-
zugrenzen.
Trotzdem haben wir die Intuition, dass der Selbstsorgegedanke ein schö-
ner und wichtiger Gedanke bleibt. Nicht mehr und nicht weniger. Weiterhin
gilt ja praktisch immer, dass wir uns mehr um uns kümmern sollten. Doch
gut, da korrigierend, bleibt ebenfalls: dass wir im Lebensnetz der primär "un-
freiwilligen Assoziationen" (Michael Walzer) immer auch wieder davon ab-
gehalten werden. Dies ist vielleicht ein Widerspruch, aber wahrscheinlich ge-
rade auch das zentrale Motiv der Selbstsorge.

Literatur

Arendt, Hannah (1996): Vita Activa oder Vom tätigen Leben. München und Zürich: Piper.
Arendt, Hannah (1994): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen
Denken I. München und Zürich: Piper.
Böhme, Gemot (1988): Der Typ Sokrates. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Brunkhorst, Hauke (2000): Einführung in die Geschichte politischer Ideen. München: Fink,
UTB.
Eribon, Didier (1999): Michel Foucault. Biographie. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Ehrenberg, Alain (2000): La fatigue d'etre soi. Depression et societe. Paris: Editions Odile
Jacob.
Ewald, Fran<rois (1996): Foucault: ethique et souci de soi. Magazine litteraire. No 345, S.
22-25.
Foucault, Michel (1978): Von der Subversion des Wissens. FrankfurtlMain: Ullstein.
Foucault, Michel (1989): Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3. FrankfurtlMain:
Suhrkamp.
Foucault, Michel (1993): Technologien des Selbst. In: Luther H. MartinIHuck Gutmanl Pat-
rick H. Hutton (Hrsg.): Technologien des Selbst. FrankfurtlMain: Fischer, S. 24-62.
Foucault, Michel (1994): Dits et Ecrits. Vol. IV. 1980-1988, Paris: Gallimard.
Foucault, Michel (1994a): L'hermeneutique du sujet. In: Ders.: Dits et Ecrits. Vol. IV, S.
353-365.
Foucault, Michel (1994b): Apropos de la genealogie de l'ethique: un aper<ru du travail en
cours. Entretien avec H. Dreyfus et P. Rabinow. In: Ders.: Dits et Ecrits. Vol. IV, S.
609-631.
Foucault, Michel (1994c): L'ethique du souci de soi comme pratique de la liberte. Inter-
view mit H. Becker, R. Fornet-Brancourt und A. Gomez-Müller aus dem Jahre 1984.
In: Ders.: Dits et Ecrits. Vol. IV, S. 708-729.
Foucault, Michel (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Ein Gespräch mit Ducio
Trombadori. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1998): Politics, Philosophy, Culture. Interviews and other writings 1977-
1984. New York und London: Routledge.
Garnier, Philippe (2001): Über die Lauheit. Essay. München: Liebeskind.
Havighurst, R.J. (1948): Developmental task and education. New York: David McKay.
Horn, Christoph (1998): Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den
Neuplatonikern. München: Beck.
200 Roland Reichenbach

Keupp, Heiner (2000): Eigensinn und Selbstsorge: Subjektsein in der Zivilgesellschaft.


Manuskript des gleichnamigen Vortrages beim Kongress für Klinische Psychologie
und Psychotherapie "Psychotherapeutische und psychosoziale Zukunftsentwürfe".
25.2.-1.3.2000 in Berlin.
Laseh, Christopher (1979): The culture of narcissism. American life in an age of dimin-
ishing expectations. New York: Norton & Co.
Lemke, Thomas (1997): Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der mo-
demen Gouvernementalität. Berlin und Hamburg: Argument.
Noddings, Nel (1992): The challenge to care in schools. New York: Teachers College
Press.
Reichenbach, Roland (2002): Menschliche Untiefen: Ein Votum für exoterische Pädagogi-
ken. In: Roland ReichenbachlFritz Oser (Hrsg.): Die Psychologisierung der Pädago-
gik. Weinheim: Juventa, S. 173-188.
Ricken, Norbert (2003): Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bil-
dung. Universität Münster. Fachbereich 6 Erziehungs- und Sozialwissenschaften: Ha-
bilitationsschrift.
Sartre, Jean-Paul (1943/2000): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologi-
schen Ontologie. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.
Schmid, Wilhelm (1992): Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach
dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault. FrankfurtlMain: Suhr-
kamp.
Schmid, Wilhelm (1995): Selbstsorge. In: Joachim Ritter/Karlfried Gründer (Hrsg.): Histo-
risches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9. Basel: Schwabe, S. 528-535.
Schmid, Wilhelm (1998): Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Frank-
furtIMain: Suhrkamp.
Schobert, Alfred (1998): Foucaults Werkzeugkiste. Thomas Lemke hat sie sortiert. Welche
politischen Eingriffsmöglichkeiten bleiben im Liberalismus? In: www.nadir.org/nadir/
periodika/jungle_world/_98/05/23a.htm
Steffens, Andreas (1999): Philosophie des 20. Jahrhunderts oder Die Wiederentdeckung
des Menschen. Leipzig: Reclam.
Taylor, Charles (1995): Das Unbehagen an der Modeme. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Taylor, Charles (1996): Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität.
FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Thomä, Dieter (1998): Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem.
München: Beck.
von Thadden, Elisabeth (2003): "Ich schlug mich gegenseitig tot". Auch im Privatleben
herrscht Erfolgszwang. Wie soll ein Mensch bloß alles schaffen? Und: Warum ei-
gentlich? In: Die Zeit, 28.8.03, S. 32.
Zwischen Hervorbringung und
Unterwerfung:
Subjektivierung und Gouvemementalität
in pädagogischer Perspektive
Markus Rieger-Ladich

Unterwerfung und Überschreitung:


Michel Foucaults Theorie der Subjektivierung*

"Washed my face
in the rivers of Empire ... "
JoeyBums
Bemüht man sich um eine erste, noch recht grobe Eingrenzung des Zeit-
raums, innerhalb dessen sich Michel Foucault für die Untersuchung histori-
scher Subjektivierungsformen zu interessieren beginnt, ist es hilfreich, sich
jenen beiden Vorträgen zuzuwenden, die er vor der Socihe jram;;aise de phi-
losophie in Paris hält. Als er 1969 unter dem schlichten Titel Was ist ein Au-
tor? (vgl. Foucault 2001a) das Augenmerk auf die besonderen Voraussetzun-
gen lenkt, denen die Kategorien Autor und Werk ihre Geltung verdanken,
wird unweigerlich auch der Begriff des Subjekts auf neue, irritierende Weise
in den Blick genommen: Statt das Subjekt noch länger als vorgängige Größe
und als verlässliche Erkenntnisgrundlage zu betrachten, müsse es vielmehr -
so Foucault - als "variable und komplexe Funktion des Diskurses" begriffen
werden (Foucault 2001a: 1029), die auf historisch je spezifische Weise be-
stimmt werde. Die Kategorie des Autors, von der kaum behauptet werden
könne, dass sie sich als sonderlich stabile und resistente historische Größe
erwiesen habe, beschreibe lediglich eine charakteristische Weise, diese
Funktion auszufüllen. Ironischerweise war es dann der marxistische Litera-
tursoziologe Lucien Goldmann, der sich in der Diskussion, die sich an den
Vortrag anschloss, zum Anwalt des Subjekts erklärte und an Foucault die
Frage richtete, ob er dieses damit nicht unzulässigerweise auf den Status ei-
ner bloßen Funktion reduziere (vgl. Foucault 2001a: 1038). In der Antwort
Foucaults, die - wie Bernhard Waldenfels treffend bemerkt - etwas auswei-
chend ausfällt (vgl. Waldenfels 2003: 12), wird deutlich, dass er das Subjekt
zu diesem Zeitpunkt tatsächlich noch als bloß abgeleitete und wenig komple-
xe Größe betrachtet: Man müsse, so entgegnete er Goldmann, um die "Sub-
jekt-Funktion" genauer bestimmen zu können, eine "Analyse der Bedingun-

* Für die kritische Lektüre des Manuskripts und hilfreiche Rückfragen gilt mein Dank
Rita Casale, Karin Priem, Norbert Ricken und Gabriella Schmitz.
204 Markus Rieger-Ladich

gen" vornehmen, "unter denen es möglich ist, dass ein Individuum die Funk-
tion des Subjekts" erfüllt (Foucault 2001a: 1038).
Fast zehn Jahre später spricht Foucault erneut vor dem illustren Kreis
französischer Philosophen und hält einen Vortrag, der ebenfalls eine große
Resonanz erfährt - für den er allerdings keinen Titel nennt. Im Mittelpunkt
seiner Ausführungen, die von den Herausgebern nachträglich mit dem Titel
Was ist Kritik? versehen wurden (vgl. Foucault 1992b), steht die Kritik als
eine widerständige Bewegung, in der sich der Einzelne auf jenes komplizierte
Geflecht von Diskursen und Machtverhältnissen zurückwendet, das ihn als
Subjekt erzeugt hat. Das Subjekt, das ihm in der Kritik des Autor-Konzepts
noch als eigentümlich passives Element einer diskursiven Ordnung galt, er-
weist sich nun als ein ungleich komplexeres und widersprüchlicheres Phä-
nomen (vgl. Butler 2003b: 26). Hervorgegangen aus dem intrikaten Zusam-
menspiel von raffinierten Disziplinierungspraktiken und individualisierenden
Humanwissenschaften, die - so Alfred Schäfer - einen "Täter hinter dem
Tun" fingieren (Schäfer 1996: 176), wendet sich das Subjekt dieser Konstel-
lation zu und versucht dadurch zugleich, dieser besonderen Form der Unter-
werfung zu entkommen. Wie weit sich Foucault dabei von seiner früheren
Position entfernt, wird in der Diskussion des Vortrags besonders deutlich:
Hier führt er aus, dass die aktuelle Herausforderung darin bestünde, das
komplizierte Zugleich von Unterwerfung und Aufbegehren, das für das Sub-
jekt charakteristisch sei, zu denken, ohne dieses nachträglich doch noch mit
einer elementaren Freiheit auszustatten (vgl. Foucault 1992b: 53).
Damit ist der Rahmen skizziert und die Frage aufgeworfen, die ich in
meinen Ausführungen zu beantworten suche: Wie lässt sich Foucaults Denk-
bewegung beschreiben, die offensichtlich von dem Bemühen vorangetrieben
wird, jene Praktiken, Techniken und Übungen, die ein Individuum dazu füh-
ren, sich als Subjekt zu begreifen und sich als solches an-zu-erkennen, immer
genauer und differenzierter herauszuarbeiten? Wie gelingt es ihm, zu diesem
Zweck sein begriffliches Instrumentarium immer weiter zu verfeinern und
seine Beobachtungsperspektive immer wieder neu zu justieren? Nach der
Rekonstruktion der einzelnen Etappen, die sich bei diesem - mitunter etwas
verschlungenen - Weg identifizieren lassen, versuche ich abschließend we-
nigstens anzudeuten, worin die Bedeutung dieser Denkbewegung für die er-
ziehungswissenschaftliche Reflexion bestehen könnte und weshalb die Un-
tersuchung von Subjektivierungspraktiken auch innerhalb des pädagogischen
Diskurses (noch häufiger) betrieben werden sollte.

1. Disziplinierung und Subjektivierung

Auch wenn Foucault schon bald nach seinem ersten Auftritt vor dem philo-
sophischen Auditorium den Gegenstandsbereich seiner Forschungen deutlich
ausweitet und sich nun immer häufiger der Untersuchung jener Effekte zu-
Unterweifung und Überschreitung 205

wendet, die aus dem Zusammenspiel von Wissensdiskursen und sozialen


Praktiken hervorgehen - so stellt er in der Vorlesungsreihe Die Wahrheit und
die juristischen Normen, die er 1973 in Brasilien hält, gar eine "Neufassung
der Theorie des Subjekts" in Aussicht, die ihren Ausgang von der Untersu-
chung juristischer Praktiken nehme (Foucault 2003: 11) -, ist doch zweifellos
seine Studie Überwachen und Strafen, die nur zwei Jahre später erscheint,
der Text, der die Subjektivierung am gründlichsten analysiert und in ihrer
Bedeutung am nachdrücklichsten herausstellt (vgl. Foucault 1992a). Der Ein-
satzpunkt seiner materialreichen Untersuchung ist die Beobachtung, dass sich
zwischen 1750 und 1850 in Frankreich nicht nur das Strafrecht und der Straf-
vollzug, sondern auch die Gefangnisarchitektur und das Bild des Inhaftierten
grundlegend wandeln: Wurde zu Beginn dieser Zeitspanne der Täter noch in
einem öffentlichen Schauspiel vorgeführt, dessen kaum verhüllter Körper den
Blicken des Publikums präsentiert und schließlich einer kunstvoll inszenier-
ten, überaus gewaltsamen Marter zugeführt (vgl. Hahn 2003), so wird er in
der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur vor den voyeuristischen Blicken ge-
schützt und den unmittelbar auf den Körper abzielenden Strafpraktiken ent-
zogen, sondern auch einem besonderen architektonischen Arrangement an-
vertraut. Der Straftäter, der zu Beginn dieser Entwicklung noch auf seine ro-
he Körperlichkeit reduziert und als Demonstrationsobjekt der strafenden
Staatsgewalt ausgestellt wurde, gilt nun als zurechnungsfahiges Subjekt, des-
sen Beweggründe peinlich genau untersucht sowie Besserungsmöglichkeiten
vorsichtig abgeschätzt werden müssen und dessen Verhaltensmuster es nach
Möglichkeit positiv zu beeinflussen gilt. Aus dem Verbrecher, dessen Körper
einer qualvollen Folter ausgesetzt wurde, der weder Beweggründe noch
Handlungsmotive zu kennen schien und nur in seiner fleischlichen Materia-
lität in den Blick geriet, wurde - so Foucaults leitende These, die er aus der
Interpretation des historischen Materials gewinnt - schließlich ein Individu-
um, das als Subjekt seiner Handlungen betrachtet wird, das als zurechnungs-
fähig gilt und dem die Übernahme der moralischen Verantwortung für seine
Handlungen zugemutet werden kann. Als ein historisches Modell der Sub-
jektivierung gilt ihm daher das Gesamt jener Praktiken und Techniken, die in
ihrem komplizierten Zusammenspiel das "Disziplinarindividuum" (Foucault
1992a: 397) erzeugen.
Diese langsame, sich unkoordiniert und unkontrolliert vollziehende Um-
wälzung, die dazu führt, dass als Adressat der Strafpraktiken das Fleisch des
Gemarterten schließlich von einem disziplinierten, zurechnungsfahigen Indi-
viduum abgelöst wird, verläuft zwar über den Zugriff auf den Körper des In-
haftierten, aber sie beschränkt sich nicht darauf. Vielmehr zeigen die Ver-
schiebungen innerhalb des Strafrechts und des Strafvollzugs deutlich, dass
die Praktiken zwar unmittelbar am Körper ansetzen, dass sie aber letztlich
darauf abzielen, eine Instanz zu errichten, die die Handlungen des Inhaftier-
ten gleichsam von innen heraus organisiert. Untersucht man nun das histori-
sche Material - etwa die Hausordnungen, die Zeitpläne und die architektoni-
schen Grundrisse der Gefangnisse -, so zeigt sich, dass als Fluchtpunkt der
206 Markus Rieger-Ladich

organisatorischen Vorkehrungen, der wissenschaftlichen Erörterungen und


der disziplinierenden Maßnahmen die Seele des Gefangenen erscheint (vgl.
Schäfer 2003). In ihr kulminieren die unterschiedlichen Anstrengungen: "Der
Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist
bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine
>Seele< wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der
Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt. Die Seele: Effekt
und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis eines Kör-
pers" (Foucault 1992a: 42). In das Zentrum von Foucaults Untersuchung der
subjektivierenden Strafpraktiken rücken daher jene Technologien, die - am
Körper ansetzend - darauf abzielen, eine Seele zu erzeugen und auf diesem
Weg eine Disziplinierung des Häftlings zu erreichen, die sich dessen Wider-
stand wirksam entzieht.
Erzeugt werden diese Effekte von einem komplexen Arrangement unter-
schiedlicher Machtpraktiken, das sich permanent verändert, sich vielfach ver-
zweigt, das immer neue Diskurse anregt und doch kein Zentrum kennt. Ob-
wohl sich das Zusammenspiel von Humanwissenschaften, die nie ohne
Machteffekte auftreten, und von Machttechnologien, die nie ohne spezifi-
sches Wissen auskommen (vgl. Foucault 1980), kaum einmal vollständig
entwirren und restlos erhellen lässt, gelingt es Foucault doch, drei elementare
Formen der Disziplinierung zu identifizieren. Er unterscheidet dabei im Ein-
zelnen zwischen der Überwachung, der Normalisierung und der Prüfung.
Gemeinsam ist diesen Spielarten der Disziplinierung, dass sie erst dann ihre
größte Machtwirkung entfalten, wenn sie - ähnlich dem Modell eines dyna-
mischen Aufschaukeins - wechselseitig voneinander profitieren und sich ge-
genseitig immer weiter verstärken.
Als charakteristisches Merkmal des ersten Elementes, der Überwachung
des Inhaftierten, ließe sich die Entmaterialisierung physischer Gewalt nen-
nen: Der Schlüssel zu dem fortschreitenden Abbau brutaler Zwangsmaßnah-
men, die auf den Körper zugreifen, liegt hier in einer möglichst lückenlosen
Überwachung des Gefangenen, die so organisiert ist, dass sich dieser nicht
nur dem kontrollierenden Blick des Wärters ausgesetzt sieht, sondern diesen
bei seinem Verhalten in Rechnung stellt, ihn immer häufiger antizipiert und
schließlich dazu genötigt wird, sich selbst an dessen Stelle zu versetzen und
auf diese Weise zum Überwachungsorgan der eigenen Handlungen zu wer-
den. Mit Querverweisen auf Kasernen, Hospitäler, Klosteranlagen und Schul-
gebäude erläutert Foucault diese raffinierte Form der Unterwerfung, deren
Funktionieren nicht zuletzt darauf beruht, dass zwischen dem Wärter und
dem Gefangenen eine hierarchische Beziehung existiert, die es jenem ermög-
licht, zu sehen, ohne selbst gesehen zu werden, und zu kontrollieren, ohne
selbst kontrolliert zu werden. Auch wenn sich die physische Gewalt dabei zu
verflüchtigen scheint, so wird damit doch eine Form der Unterwerfung er-
zwungen, die ungleich tiefere Spuren hinterlässt. Anders als die körperliche
Züchtigung, die gleichsam an der Oberfläche bleibt, führt die Herstellung ei-
ner permanenten Sichtbarkeit, die keine Schatten kennt und die über die
Unterweifung und Überschreitung 207

Kombination von Fluren und Wänden, von Fenstern und Spiegeln erreicht
wird, zu ungleich einschneidenderen Folgen, weil die Trennung zwischen In-
nen und Außen, zwischen Eigenem und Fremdem eingezogen wird: Dies ist,
nach der Lesart Foucaults, die Folge einer "Architektur, die ein Instrument
zur Transformation der Individuen ist: die auf diejenigen, welche sie ver-
wahrt, einwirkt, ihr Verhalten beeinflußbar macht, die Wirkungen der Macht
bis zu ihnen vordringen läßt, sie einer Erkenntnis aussetzt und sie verändert"
(Foucault 1992a: 222).
Abgesichert und weiter verstärkt werden jene Effekte, die die perma-
nente Überwachung erzeugen, durch die Normalisierung, die Foucault als
zweites Element der Disziplinierung identifiziert. Diese entfaltet ihre formie-
rende Macht durch das Aufstellen minutiöser Verhaltenskodizes und das Er-
richten detaillierter Regelwerke, die es ermöglichen, sämtliche Handlungen
des Inhaftierten nicht nur zu messen und zu dokumentieren, sondern sie auch
zu qualifizieren und mit denen anderer zu vergleichen. Durch den Erlass von
Ordnungen, Vorschriften und Verboten, die etwa die zeitliche Organisation
des Strafvollzugs bis in die kleinsten Details hinein regeln, werden die all-
täglichen Praktiken der Häftlinge einem engen Korsett unterworfen, das es
erlaubt, jede einzelne Handlung auf ihre Regelkonformität hin zu überprüfen
- und bei Abweichung entsprechend zu sanktionieren. Das Ziel der Normali-
sierung besteht nach Foucault folglich darin, dass die Maschen dieses Netzes
so eng geknüpft werden, dass der Häftling die unterschiedlichen Normen
vollständig verinnerlicht und es schließlich fast spielerisch gelingt, das Diszi-
plinarindividuum auf ein "System von Normalitätsgraden" zu verpflichten
(Foucault 1992a: 237). Auch hier gilt demnach, dass diese Form der Diszi-
plinierung erst dann perfektioniert ist, wenn die Normen und Regularien von
dem Häftling inkorporiert und zu eigen gemacht werden: Denn erst wenn das
Wissen um die lückenlose Erfassung und die fortwährende Kontrolle sich so
weit in die Körper eingeschrieben hat, dass "jedes Subjekt in einem Univer-
sum von Stratbarkeiten und Strafmitteln heimisch wird" (Foucault 1992a:
230), ist die Normalisierung erfolgreich verlaufen.
Das letzte Element der Disziplinierungspraktiken - die Prüfung - geht
aus der Kombination der beiden erstgenannten hervor: In ihr verschränken
sich die hierarchische Überwachung und die disziplinierende Normalisierung
auf eine Weise, die zwar in den unterschiedlichen Feldern des Sozialen je
spezifische Ausprägungen erfährt, die gleichwohl eine charakteristische und
wiedererkennbare Form der Disziplinierung etabliert. So illustriert Foucault
am Beispiel der klinischen Visite, die im 18. Jahrhundert ihre Gestalt grund-
legend verändert und sich von unregelmäßigen Besuchen des Patienten zu ei-
ner systematischen, streng geregelten Beobachtungspraxis medizinischer
Phänomene wandelt (vgl. Foucault 1992a: 239f.), dass das Individuum aus
einem komplizierten Prozess hervorgeht, in dem immer genauere Methoden
der Beobachtung entwickelt, immer leistungsfahigere Verfahren zur Erfas-
sung isolierter Merkmale erprobt und immer fortgeschrittenere Techniken zur
lückenlosen Dokumentation der erhobenen Daten eingesetzt werden. Die
208 Markus Rieger-Ladich

"epistemologische Blockade der Wissenschaften vom Individuum" (Foucault


1992a: 246) wird folglich erst in jenem Moment überwunden, als die Perfek-
tionierung der Vermessung und der Rasterung betrieben wird und diese in
den unterschiedlichen Prüfungsverfahren - in den Armeen und Gefängnissen,
den Kliniken und Schulen - zum Einsatz kommen. Als symbolische Geburts-
helfer des Disziplinarindividuums gelten Foucault daher die individualisie-
renden Verfahren der Beobachtung, der Kontrolle und der Normierung, die in
der Prüfung zusammengeführt und intensiviert werden und die die "Überla-
gerung der Machtverhältnisse und der Wissensbeziehungen" eindrücklich il-
lustrieren (Foucault 1992a: 238).
Nimmt man nun die einzelnen Disziplinierungspraktiken in ihrem Zu-
sammenspiel in den Blick, so wird deutlich, dass sie ihre performative Kraft
in einem besonderen Bereich des Zwischen entfalten: Weder kaprizieren sie
sich ausschließlich auf den Körper und suchen diesen zu bearbeiten und zu
unterwerfen, um den Häftling auf diese Weise wirksam zu adressieren, noch
appellieren sie exklusiv an dessen Vernunft oder suchen ihn gar zu belehren,
um auf diesem Wege eine moralische Läuterung zu bewirken. Statt dessen
vertrauen sie offensichtlich auf die formierende Wirkung, die der Übung - als
einem Kreislauf von Wiederholung und Aneignung - zukommt (vgl. Menke
2003b). Die innere Instanz, die die Disziplinierung vollenden soll, indem sie
gleichsam aus freien Stücken die eigene Unterwerfung betreibt und zur
Komplizin der herrschenden Kräfte wird, geht vielmehr hervor aus der Ein-
verleibung etablierter Normen und dem Einüben sozialer Praktiken. Das Dis-
ziplinarindividuum entsteht daher weder aus der Unterwerfung des Körpers
noch aus dem Brechen des Willens, es verdankt sich vielmehr einer Übungs-
praxis, die keinen vorgängigen Akteur kennt, die statt dessen das Subjekt in
der Übung erst selbst erzeugt: Die pausenlosen Beobachtungen und Kontrol-
len, die permanenten Vermessungen und Prüfungen - kurz: die zahllosen
"Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten" - sind es folglich, die zur Geburt des
"Mensch[en] des modemen Humanismus" geführt haben (Foucault 1992a:
181). Sie hinterlassen ihre Spuren, prägen sich ein und stiften eine besondere
Form des Gedächtnisses, die sich dem binären Schema von Körper und Geist
entzieht und gleichwohl handlungsleitend wirkt. Das Gehorsamssubjekt ent-
steht somit im unübersichtlichen Gewimmel der alltäglichen Übungen, die
der modemen Disziplinargesellschaft ihr Gepräge geben.
Obwohl Foucault in seiner Untersuchung des Gefangnisses wiederholt
nahe legt, dass sich aus seiner Genealogie des Disziplinarindividuums ein
allgemeines Schema der Subjektivierung ableiten lasse (vgl. Foucault 1992a:
263ff.), gilt es doch zu berücksichtigen, dass die Studie Überwachen und
Strafen nur der Untersuchung einer spezifischen - wenngleich sehr einfluss-
reichen und wirkmächtigen - historischen Subjektivierungspraxis gewidmet
ist. Hier liegt auch der Grund dafür, dass der ambigue Charakter der Übungen
in Foucaults Ausführungen meist etwas unterbelichtet bleibt: Weil die ein-
zelnen Übungen stets rückbezogen werden auf eine hochentwickelte Diszip-
linargeseIlschaft, geraten deren subversiven Potentiale und ihre destabilisie-
Unterwerfung und Überschreitung 209

renden Wirkungen kaum einmal in den Blick. Und doch sind "Übungen" -
wie Christoph Menke überzeugend herausstreicht - nicht nur "Medien der
Sozialisierung", die im Dienst der Disziplinierung stehen, sie sind gleichzei-
tig eben auch "Medien der Herstellung und Erweiterung eines Selbstbezugs,
Medien der Subjektivierung" (Menke 2003b: 288) - und damit konstitutiv für
die individuelle Handlungsfähigkeit. Die in neueren Arbeiten wiederholt auf-
geworfene Frage, ob innerhalb einer Disziplinargesellschaft noch Widerstand
geleistet werden könne bzw. ob sich überhaupt noch Quellen der Handlungs-
fähigkeit identifizieren ließen (vgl. Butler 2003a; Schäfer 2003), kann daher
nur beantwortet werden, wenn den Übungen wieder ihre Uneindeutigkeit und
Ambiguität zurückerstattet und die Subjektivierung als stets wiederkehrende
Praxis begriffen wird, die keine endgültigen, unwiderruflichen Ergebnisse
kennt. Auch wenn in einer Disziplinargesellschaft die unterschiedlichen
Übungen zweifellos ungleich häufiger im Dienst jener Kräfte stehen, die die
Zurichtung der Subjekte betreiben, so geschieht dies doch nie ohne die
gleichzeitige Stärkung jener Impulse, die diesen Kräften entgegenarbeiten.
Es zeigt sich somit inmitten der Disziplinargesellschaft ein bemerkens-
wertes Paradox, das gleichsam als Platzhalter des individuellen Handlungs-
vermögens fungiert: Weil die fortgeschrittenste und raffinierteste Form der
Unterwerfung darauf abzielt, mit der Seele eine Instanz zu errichten, die nicht
nur als ,Gefängnis des Körpers' wirkt, sondern auch noch aktiv die eigene
Unterwerfung betreibt, kommen die Verfahren, die diese ins Leben rufen
sollen, nicht umhin, sie mit gewissen Spielräumen des Handeins auszustatten.
Doch genau jene Fähigkeit zur beschränkten Autonomie, die doch zweifellos
im Dienst der Heteronomie stehen soll (vgl. Menke 2003a: 116), ist es nun,
die als widerständiger Rest bezeichnet werden könnte. Verstärkt wird jener
Rest noch dadurch, dass die Subjektivierungspraktiken dazu gezwungen sind,
immer wieder neu anzusetzen. Iudith Butler hat diesen destabilisierenden Ef-
fekt der Wiederholung denn auch völlig zu Recht in unterschiedlichen
Foucault-Lektüren herausgestellt (vgl. Kögler 2003). Mit Blick auf dessen
Arbeiten zum komplizierten Verhältnis von Subjektivierung und Normalisie-
rung schreibt sie: "Das Foucaultsche Subjekt wird nie vollständig in der Un-
terwerfung konstituiert; es wird wiederholt in der Unterwerfung konstituiert,
und es ist diese Möglichkeit einer gegen ihren Ursprung gewendeten Wieder-
holung, aus der die Unterwerfung so verstanden ihre unbeabsichtigte Macht
bezieht" (Butler 2001: 90). Es kommt also bei dem perfiden Versuch, das
Disziplinarindividuum vollständig zu unterwerfen und es in seine eigene
Unterwerfung zu verstricken, zu einer unkontrollierten Streuung der Macht,
deren Partikel sich nun zu unterschiedlichen Zwecken einsetzen lassen - und
die daher auch gegen die Instanzen der Disziplinargesellschaft selbst gewen-
det werden können.
210 Markus Rieger-Ladich

2. Kunst der Regierung und Führung der Führungen


Hält man sich nun diesen Befund vor Augen - das Problem, die komplizierte
Beziehung zwischen dem Körper und den Machtverhältnissen hinreichend
komplex zu fassen (vgL Butler 2003a), die Schwierigkeit, jene subversive
Rückwendung des Subjekts genau nachzuzeichnen, die Gilles Deleuze später
als "Faltung" bezeichnen wird (vgL Deleuze 1997), und schließlich die Her-
ausforderung, das Verhältnis zwischen "Selbstkontrolle" und "Fremdkon-
trolle" noch besser zu erhellen (vgL Menke 2003a: 116) -, überrascht es
nicht, dass Foucault nach der Veröffentlichung von Überwachen und Strafen
seine Anstrengungen noch weiter intensiviert, das Geflecht aus Wissensord-
nungen, Machtverhältnissen und Subjektivierungspraktiken zu entwirren. Zu
diesem Zweck wendet er sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre dem
Begriff der Regierung zu und spürt den Veränderungen, denen die Regie-
rungspraktiken von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des 18.
Jahrhunderts unterworfen sind, in einer Vorlesung nach, die er 1977/78 unter
dem Titel SecuriM, territorite et population am College de France hält (vgL
Foucault 2000; Lemke 2002). In das Zentrum seiner Aufmerksamkeit tritt der
Begriff der Regierung dabei nicht zuletzt deshalb, weil sich Foucault über ihn
einen neuen begrifflichen Zugang zu einer bedeutsamen Transformation der
Machttechnologien erhofft und damit gleichzeitig das Instrumentarium zur
Analyse historischer Subjektivierungspraktiken noch weiter zu verfeinern
sucht.
Foucault entfaltet den Begriff der Regierung, indem er sich einem Text
von Guillaume de La Perriere aus dem Jahre 1555 zuwendet, der - wie viele
andere Texte auch, die auf Machiavellis Il principe reagieren - die Kunst des
Regierens aus der engen Verknüpfung von Fürst und Fürstentum bzw. von
Souverän und Territorium herauslöst und deren Pluralisierung betreibt. In-
dem La Perriere höchst unterschiedliche Kandidaten für jene privilegierte Po-
sition benennt, die bei Machiavelli noch dem Fürsten vorbehalten bleibt,
lenkt er das Augenmerk auf eine bemerkenswerte Veralltäglichung der Re-
gierungspraxis. So gibt Foucault - stets mit Blick auf La Perrieres Abhand-
lung Le Miroir politique, contenant diverses manieres de gouverner - einen
kleinen Einblick in die neue Gruppe der Regierenden: "Regieren tun [ ... ]
viele: der Familienvater, der Superior eines Klosters, der Erzieher und der
Lehrer im Verhältnis zum Kind oder Schüler, und daran sieht man, dass der
Regent und die Praktik des Regierens [ ... ] einem Feld mannigfaltiger Prakti-
ken angehören" (Foucault 2000: 47). Seine schärferen Konturen erhält der
Begriff der Regierung freilich erst durch eine Reihe weiterer Bestimmungen,
die schließlich die Gemeinsamkeiten herausarbeiten, welche den erwähnten
Personenkreis verbinden: Charakteristisch für das Regieren des Vaters, des
Erziehers oder etwa des Vorstehers eines Klosters ist nach La Perriere "das
richtige Verfügen über die Dinge, deren man sich annimmt, um sie dem an-
gemessenen Zweck zuzuführen" (zit. nach Foucault 2000: 50). Dieser knappe
Zusatz erweist sich in zweifacher Hinsicht als überaus bedeutsam: Zum einen
Unterweifung und Überschreitung 211

wird mit der Betonung der ,Dinge' insofern eine gezielte Entgrenzung betrie-
ben, als Machiavellis Regierungskünste sich lediglich auf das Territorium
und dessen Bewohner bezogen und ein Drittes offensichtlich nicht kannten.
Zum anderen signalisiert die Betonung des ,Zweckes', dass sich auch das
Selbstverständnis der neuen Regenten grundlegend gewandelt hat: Anders als
der Souverän, der von seinen Untertanen zwar bedingungslose Unterwerfung
verlangte, gleichwohl stets dem Gemeinwohl verpflichtet blieb, wird diese
normative Rahmung von den neuen Regenten nicht länger als bindend be-
trachtet. Der Entgrenzung des Gegenstandsbereichs korrespondiert daher eine
Entgrenzung der Zwecksetzung: Die einzelnen Regenten verfolgen die unter-
schiedlichsten Zwecke und sie setzen dabei die unterschiedlichsten Mittel
ein. Als Movens gilt ihnen offensichtlich - so Foucault im Rückgriff auf La
Perriere - lediglich die Steigerung ihrer Verfügungsgewalt und die Auswei-
tung ihres Geltungsbereichs: Den Zweck der Regierung "wird man in der
Vervollkommnung, Maximierung oder Intensivierung der von der Regierung
geleiteten Vorgänge zu suchen haben" (Foucault 2000: 54). Die besondere
Regierungskunst besteht folglich in der Fähigkeit, für einen selbstgesetzten
Zweck genau jene Mittel zu identifizieren, die dabei den größten Erfolg ver-
sprechen, über diese verfügen zu können und sie schließlich effizient und
zielgerichtet einzusetzen.
Der Ertrag, den die Rekonstruktion der Abfolge unterschiedlicher Mo-
delle der Regierung für Foucaults Theorie der Subjektivierung bedeutet, er-
schließt sich allerdings erst dann vollständig, wenn das Französische Verb
gouvemer nicht nur in seiner Bedeutung als regieren, sondern auch in sei-
ner Bedeutung als lenken in den Blick genommen wird. So erläutert
Foucault an unterschiedlichen Beispielen die Funktionsweise der Lenkung:
Weil der Regent - etwa bei der Lenkung eines Schiffes, eines Klosters oder
einer Familie - die Aufmerksamkeit auf das Gesamt jener Elemente richtet,
die den Erfolg seiner Unternehmung beeinträchtigen könnten, und die
Kräfte auf das Arrangement der relevanten ,Dinge' konzentriert, kommt er
mitunter ohne eine direkte Adressierung der Akteure aus. Statt den betei-
ligten Individuen mit der Androhung offener Gewalt oder dem Angebot ra-
tionaler Argumente zu begegnen, richtet er sein Interesse vielmehr darauf,
die komplexen Zusammenhänge so auszurichten, dass diese die Handlun-
gen jener, die sich in ihrem Kraftfeld bewegen, gleichsam ,eigenständig'
präfigurieren. Weil das Verhalten des Einzelnen auf verdeckte Weise mani-
puliert und nur indirekt angeleitet wird, lässt sich die offene Konfrontation -
die den Interessengegensatz dokumentieren und den Widerstreit öffentlich
machen würde - auf diese Weise nicht selten vermeiden. An die Stelle ge-
waltsamer Zwangshandlungen treten daher immer häufiger neue Formen der
Regierung, die als solche häufig kaum noch kenntlich sind. Thomas Lernke
hat diese neue Qualität präzise herausgearbeitet: "Jenseits einer exklusiven
politischen Bedeutung verweist Regierung also auf unterschiedliche Hand-
lungsformen und Praxisfelder, die in vielfältiger Weise auf die Lenkung,
Kontrolle, Leitung von Individuen und Kollektiven zielen und gleichermaßen
212 Markus Rieger-Ladich

Formen der Selbstführung wie Techniken der Fremdführung umfassen"


(Lernke 2002: 46).
Foucault gelingt folglich mit dem Freilegen dieses neuen Machttypus,
den er auf dem Wege einer semantischen Neuprägung als Gouvernementali-
tät - aus frz. gouvemer (regieren, lenken) und mentalite (Denkweise) - be-
zeichnet, zweierlei: Zum einen erschließt er durch sein Studium (früh-)neu-
zeitlicher Texte, die um die Frage des Regierens kreisen, den Zugang zu his-
torischen Phänomenen und Konstellationen, die schließlich zur Herausbil-
dung jener Regierungsformen und Machttechnologien führen, die auch den
zeitgenössischen Subjektivierungspraktiken ihr Gepräge verleihen. "Wir le-
ben" - so Foucault - noch immer "im Zeitalter der Gouvernementalität, die
im 18. Jahrhundert entdeckt wurde" (Foucault 2000: 65). Zum anderen ver-
mag er auf diese Weise, sein begriffliches Instrumentarium entscheidend zu
verfeinern: Statt sich noch länger den unterschiedlichen Spielarten der Diszip-
linarmacht zu widmen, richtet er seine Aufmerksamkeit nun auf die Untersu-
chung und die möglichst genaue Beschreibung jener raffinierten Praktiken,
welche die Subjektivierung betreiben, indem sie auf die Disziplinierung oder
die Unterwerfung verzichten und statt dessen mit einem Adressaten rechnen,
der sich von der Idee der Regierung seiner selbst leiten lässt. Dieses ver-
deckte Zusammenspiel von Subjektivierungspraktiken und Machttechniken
zweiter Ordnung, das ihm als die fortgeschrittenste Regierungstechnik gilt,
führt schließlich zu einem ",Führen der Führungen '" (Foucault 1994a: 255).1

3. Verschiebung, Umkehrung und Krise der Regierung


Obwohl Foucault mit seinen Vorlesungen am College de France, die um den
Begriff der Gouvernementalität kreisen, zweifellos ein ambitioniertes For-
schungsvorhaben skizziert, das die Notwendigkeit historisch angelegter Un-
tersuchungen der Verzahnung von Regierungstechnologien, Wissensformen
und Subjektivierungspraktiken eindrucksvoll demonstriert, verfolgt er diese
Perspektive nur noch in vereinzelten Studien weiter (vgl. Lernke 2002). Statt
dessen wendet er sich noch im selben Jahr in zwei wichtigen Beiträgen den
unterschiedlichen Reaktionen zu, die die Vervielfältigung und Intensivierung
der Regierung provozieren. Es handelt sich dabei um den bereits zu Beginn
erwähnten Vortrag Was ist Kritik? und um ein ausführliches Interview, das er
nur wenige Monate später dem italienischen Journalisten Ducio Trombadori
gibt und das unter dem Titel Der Mensch ist ein Eifahrungstier in deutscher
Übersetzung erschienen ist (vgl. Foucault 1996).

Da ich mich hier auf die Rekonstruktion von Foucaults Untersuchungen historischer
Subjektivierungspraktiken konzentriere und dessen unterschiedliche Machttypen nur
streifen kann, sei an dieser Stelle auf zwei Arbeiten Norbert Rickens hingewiesen, in
denen diese präzise bestimmt und kenntnisreich erläutert werden (vgl. Ricken, in die-
sem Band; ders.: 2000).
Unterwerfung und Überschreitung 213

Als Kritik bezeichnet Foucault nun die charakteristische Wendung eines


Subjekts gegen jene Form der Regierung, der es aktuell unterworfen ist. Pre-
kär und stets vom Scheitern bedroht ist diese Bewegung, weil ihr Akteur aus
Subjektivierungspraktiken hervorgeht, die eng verzahnt sind mit genau jenem
Regiment, das er in seiner Macht doch zu begrenzen versucht. Um diese pa-
radoxe Figur angemessen verstehen und in ihrer Bedeutung für die Proble-
matik der Subjektivierung richtig einschätzen zu können, ist es allerdings
notwendig, zwei eng miteinander verknüpfte Missverständnisse zu vermei-
den: Das widerständige Subjekt, so Foucault etwa mit Blick auf Reformation
und Aufklärung, reagiert nicht auf die abstrakte Tatsache der Unterwerfung
durch eine beliebige Regierung, sondern stets auf eine konkrete Form der
Unterwerfung und ein bestimmtes Regime (vgl. Meyer-Drawe 1996). Ent-
sprechend konkret und präzise ist auch die Leitfrage formuliert, die dem Wi-
derstand ihre Kraft verleiht: "Wie ist es möglich, dass man nicht derartig, im
Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren
regiert wird - dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da re-
giert wird?" (Foucault 1992b: llf.). Darüber hinaus gilt es ein zweites Miss-
verständnis zu vermeiden: Die Bewegung des widerständigen Subjekts darf
nicht als Ausdruck einer unveränderlichen Natur des Menschen betrachtet
werden, der zur Freiheit berufen ist und jede Form der Einschränkung und
Begrenzung überwinden muss. Unmissverständlich hält Foucault in der Dis-
kussion, die sich an den Vortrag anschließt, daher fest: "Ich bezog mich [bei
der Rede von Kritik; MRL] nicht auf eine Art fundamentalen Anarchismus,
nicht auf eine ursprüngliche Freiheit, die sich schlechterdings und grundle-
gend jeder Regierungsentfaltung widersetzt" (Foucault 1992b: 52f). Es han-
delt sich dabei vielmehr um ein Aufbegehren, das sich - ohne über einen sub-
stanziellen Rückhalt in der conditio humana zu verfügen - an konkreten Re-
gierungspraktiken entzündet und stets innerhalb des undurchsichtigen Gewe-
bes von Diskursordnungen und Machtstrukturen verbleibt. Diese Arbeit an
den Grenzen sucht die Verflechtung von Wissensdiskursen und Machtver-
hältnissen als kontingent zu erweisen und ihrer Legitimation zu berauben, um
sich in immer neuen Bewegungen von den herrschenden Regierungsprakti-
ken zu lösen (vgl. Deines 2003). Als Leitbild der experimentellen Praxis, die
um ihre Verstrickungen in die existierenden Machtverhältnisse ebenso weiß
wie um ihre Verletzlichkeit und die nie auf einen durchgreifenden, ,endgülti-
gen' Erfolg hoffen kann, weil sie stets im Modus der Vorläufigkeit operiert,
gilt Foucault die "Kunst der freiwilligen Unknechtschaft" (Foucault 1992:
15): Sie zeige sich in einer widerständigen Praxis, die als kritische Haltung
verinnerlicht ist und immer wieder neu den Versuch unternimmt, die Macht
der Regierungen zu begrenzen und sie schließlich zu überschreiten (vgl.
Butler 2002; Rieger-Ladich 2002: 396ff.).
Auch wenn Foucault in seinem Vortrag Was ist Kritik? die Bedeutung,
die diese Verschiebung für die Untersuchung von Subjektivierungspraktiken
besitzt, nicht eigens herausstellt, ist doch deutlich, dass er mit seiner unüber-
sehbaren Akzentuierung des Widerstands jene auf eine neue Weise in den
214 Markus Rieger-Ladich

Blick nimmt: Galten ihm die Praktiken der Subjektivierung bislang meist als
disziplinierende Übungen, die aus dem engen Zusammenspiel von Wissens-
ordnungen und Machtverhältnissen hervorgingen und die deshalb nicht un-
terlaufen werden konnten, weil sie doch erst das Subjekt erzeugten, so be-
ginnt er sich nun immer stärker für jene widerständigen Bewegungen zu in-
teressieren, die einer gänzlich anderen zeitlichen Logik folgen und das starre
Schema von Ursache und Wirkung zu unterlaufen scheinen. Indem er die
Subjektivierung nun als einen Prozess interpretiert, für den eine irritierende
Gegenläufigkeit charakteristisch ist, erschließt er sich das komplizierte Zu-
gleich von Unterwerfung und Überschreitung: Das Subjekt - so die Weiter-
führung seiner Überlegungen - verdankt sich zwar machtvollen Diskursord-
nungen und informierten Machtverhältnissen, aber parallel zu jenem Prozess,
der es gleichsam ins Leben ruft und als Akteur erzeugt, beginnt es diese auf
ihre Schwachstellen und Angriffspunkte hin zu mustern. Es ist daher die Un-
tersuchung genau jener Gleichzeitigkeit von unterwerfender und freisetzender
Subjektivierung, die Foucault am Ende seines Vortrags als Schwerpunkt sei-
ner künftigen Arbeit benennt und die er in Form einer Frage ankündigt: "Wie
kann die Unlöslichkeit des Wissens und der Macht im Spiel der vielfältigen
Interaktionen und Strategien zu Singularitäten führen, die sich aufgrund ihrer
Akzeptabilitätsbedingungen fixieren, und zugleich zu einem Feld von mögli-
chen Öffnungen und Unentschiedenheiten, von eventuellen Umwendungen
und Verschiebungen, welches sie fragil und unbeständig macht, welche aus
jenen Effekten Ereignisse machen, nicht mehr und nicht weniger als Ereig-
nisse?" (Foucault 1992b: 40)?
Den Bewegungen, in denen sich das Subjekt jenen Formen zu entziehen
versucht, die seiner Existenz Gestalt verleihen und durch die es auf unter-
schiedliche Normen verpflichtet wird, spürt Foucault auch in dem Interview
nach, das er Ducio Trombadori gibt. Im Rückgriff auf Friedrich Nietzsche,
Maurice Blanchot und Georges Bataille skizziert er hier einen emphatischen
Begriff der Erfahrung (vgl. Masschelein, in diesem Band; Keitel 2002), der
ihm nun als Gegenbegriff zur Subjektivierung dient: Weil die Erfahrung je-
nen Vorgang der elementaren Erschütterung beschreibt, aus dem der Einzelne
völlig verändert hervorgeht, steht sie stets im Dienst der "Ent-Subjektivie-
rung" (Foucault 1996: 27). Ohne schon über neue Existenzmodi oder mögli-
che Identitäten zu verfügen, die zweifellos selbst wieder eine einengende und
einschränkende Wirkung entfalten würden, löst sich das Subjekt dabei von
den Formen, die seinem bisherigen Leben eine charakteristische Gestalt ver-
liehen haben und die dessen Anerkennung als Subjekt erst sicherstellten. Es
verlässt somit durch die Erfahrung den normierenden Rahmen und existiert

2 Den Versuch, die beschriebene widerständige Praxis zum Ausgangspunkt einer neuen
Rede von Mündigkeit zu machen - und diese folglich als Haltung der Kritik zu inter-
pretieren -, habe ich unternommen in: Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen
zur pädagogischen Semantik (Rieger-Ladich 2002: 359-437).
Unterweifung und Überschreitung 215

gleichsam an den Rändern jener Räume, die von den etablierten "Normen der
Anerkennung" (Butler 2003a: 33) gestiftet werden.
Kaum weniger überraschend als das unverhohlene existentialistische
Pathos, das Foucault an einigen Stellen des Interviews bemüht, ist dessen
stark veränderte Zeitdiagnose, die er am Ende des Interviews andeutet: Wäh-
rend er noch in Überwachen und Strafen das Bild einer zeitgenössischen Dis-
ziplinargesellschaft entwarf, die von der Idee besessen schien, sich an Jeremy
Bentharns Entwurf des Panopticon zu orientieren und die unzähligen Über-
wachungs- und Kontrollinstanzen immer weiter zu perfektionieren, stellt er
nun, kaum drei Jahre später, fest, dass sich die Anzeichen vermehren, die für
eine Krise der unterschiedlichen Regierungen sprechen: "Mir scheint, dass
wir uns erneut in einer Krise der Regierung befinden. Sämtliche Prozeduren,
mit denen die Menschen einander führen, sind erneut in Frage gestellt wor-
den [ ... ]. Wir stehen vielleicht am Beginn einer großen krisenhaften Neuein-
schätzung des Problems der Regierung" (Foucault 1996: 119f.). Schon gegen
Ende der 1970er Jahre deutet sich daher nicht nur eine grundlegende Neube-
wertung der zeitgenössischen Regierungstechnologien an, sondern auch eine
veränderte Einschätzung der Möglichkeiten, sich den Zwängen der aktuellen
Subjektivierungspraktiken wenigstens punktuell und vorübergehend zu ent-
ziehen.

4. Distanzierung und Verfremdung


Als Foucault 1984 unter dem Titel Der Gebrauch der Lüste den zweiten
Band seiner Geschichte der Sexualität vorlegt, markiert er damit innerhalb
der Untersuchungen historischer Subjektivierungsformen einen bemerkens-
werten Neueinsatz, der sich auf unterschiedlichen Ebenen vollzieht: Er er-
schließt sich durch das Studium zahlloser Texte der griechischen Antike nicht
nur einen neuen Zeitraum und konzentriert sich dabei auf einen besonderen
Modus der Subjektivierung - er modifiziert in gewisser Hinsicht auch das
Ziel seiner historischen Studien und nimmt nun die Dokumente vergangener
Subjektivierungspraktiken auf eine neue Weise in den Blick.
Der klassischen griechischen Antike des 4. Jahrhunderts v. ehr. wendet
sich Foucault in erster Linie deshalb zu, weil er hier im weiten Feld dessen,
was wir gegenwärtig als Sexualität zu bezeichnen gewohnt sind, ein ,,histori-
sches Subjektivierungs-Angebot" (Gehring 2003: 377) aufspürt, das ihm in
besonderer Weise geeignet erscheint, den zeitgenössischen Praktiken der
Subjektivierung gegenüber als kontrastierender Spiegel zu wirken. Anders als
die aktuellen Subjektivierungspraktiken, die das Subjekt dadurch auf raffi-
nierte Weise in Abhängigkeiten verstricken, dass sie das Begehren zu einem
unendlichen Geheimnis stilisieren, das in streng organisierten Verfahren auf
seine versteckten Botschaften hin durchleuchtet, das fachkundig ausgehorcht
und permanent beobachtet werden muss, sind die antiken Praktiken offen-
216 Markus Rieger-Ladich

sichtlich von einer ungleich größeren Freiheit gekennzeichnet. Ohne der


Willkür und dem Zugriff eines Experten ausgesetzt zu sein, der - ob als Pries-
ter, als Therapeut oder etwa als Psychoanalytiker - allein in der Lage zu sein
scheint, die geheimen Zeichen auf dem Grund der Seele oder in den Tiefen
des Begehrens zu entziffern (vgl. Hahn 1987; Meyer-Drawe 2002), unter-
nimmt es in der Antike der männliche Polisbürger selbst, sich als verantwort-
liches Moralsubjekt auszuarbeiten: Er sucht dabei nicht nur jenen Bereich
seiner Selbst genau zu bestimmen, auf den er seine Anstrengungen konzen-
trieren will, und die Mittel, die er zu diesem Zweck einzusetzen beabsichtigt;
er wählt darüber hinaus auch noch einen bestimmten Stil der Ausarbeitung
und definiert schließlich das Telos der eigenen Bemühungen (vgl. Foucault
1993: 36-45).
Indem sich Foucault nun in das Studium antiker Askesetechniken, Kör-
perübungen und Sexualpraktiken vertieft, wendet er sich zugleich auch wie-
der jenen Übungen zu, für die eine besondere Dauer charakteristisch ist - und
beschreibt damit eine weitere Verschiebung seiner Arbeit: Während er sich in
den späten 1970er Jahren offensichtlich von Vorstellungen fasziniert zeigte,
die die Möglichkeit des blitzartigen Überschreitens der etablierten Herr-
schaftsformen behaupteten und das Aufsprengen des zeitlichen Kontinuums
versprachen - so beschwor er in Was ist Kritik? nachdrücklich das Ereignis
und in Der Mensch ist ein Erfahrungstier die Erfahrung -, wendet er sich in
seinen letzten Arbeiten erneut den sich regelmäßig wiederholenden Übungen
zu. Er konzentriert sich damit auf jene Subjektivierungspraktiken, die auf den
Effekt der Dauer vertrauen und mit der formativen Macht der Wiederholung
rechnen. Galten ihm die Übungen, zu denen das Individuum etwa in den un-
terschiedlichen Disziplinareinrichtungen verpflichtet wurde, lange als In-
strumente, die ohne ein Moment der Unterwerfung gar nicht gedacht werden
konnten, rechnet er nun offensichtlich damit, dass Übungen unter bestimmten
Voraussetzungen durchaus auch einen gegenteiligen Effekt erzeugen können.
Christoph Menke hat diese neue Bewertung der Übungen durch Foucault
überzeugend herausgearbeitet und in einer knappen Formel festgehalten. Mit
Blick auf die erheblichen Unterschiede, die sich zwischen den Übungen des
modemen Disziplinarindividuums und jenen des antiken Polisbürgers fest-
stellen lassen, wirft er eine Frage auf, die Der Gebrauch der Lüste unausge-
sprochen zu beantworten sucht: "Wann sind Übungen Medien eines Prozes-
ses der Disziplinierung und wann Medien einer freien Führung des eigenen
Lebens?" (Menke 2003b: 285).
Gerade weil Foucault bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, ein
bemerkenswert unkritisches Bild der Antike zeichnet, das nicht nur die Frage
nach den gesellschaftlichen Asymmetrien - und damit nach den sozialen
Merkmalen jener privilegierten Gruppe, die die erwähnten Übungen relativ
frei und selbstbestimmt praktizieren kann - völlig auszublenden scheint, son-
dern auch den Eindruck erweckt, dass das antike Moralsubjekt auf diese Wei-
se dem eigenen Leben gegenüber tatsächlich als Souverän auftritt, der sich
allein von dem Ideal einer ,Ästhetik der Existenz' leiten lässt (vgl. Rieger
Unterwerfung und Überschreitung 217

1997), gilt es daran zu erinnern, dass das mehrere Bände umfassende Projekt
einer Histoire de la sexualite als Genealogie angelegt ist: Auch wenn
Foucault zweifellos immer wieder den irreführenden Eindruck nahe legt, dass
durch das Studium antiker Subjektivierungspraktiken Antworten auf drän-
gende aktuelle Fragestellungen gefunden und diese gleichsam als Leitbild
neuer, künftig zu entwickelnder Formen der Subjektivierung betrachtet wer-
den könnten (vgl. Foucault 1994b), so zielt seine genealogische Untersu-
chung jener Übungen, durch die das antike Moralsubjekt seinen sexuellen
Praktiken eine bestimmte Form zu verleihen versucht, doch in erster Linie
darauf ab, den zeitgenössischen Subjektivierungspraktiken ihre Geltungskraft
zu nehmen. Indem er diese in eine lange, sich permanent verschiebende "Se-
rie" (Foucault 1996: 85) einreiht, versucht er die aktuellen Formen der Sub-
jektbildung als historisches - und damit: kontingentes - Phänomen zu erwei-
sen, das veränderbar ist und daher keine unüberwindbare Grenze der ethisch-
politischen Arbeit darstellt. Anders als etwa die Studien zu den Subjektivie-
rungspraktiken in der frühen Neuzeit, im Zeitalter der Aufklärung oder etwa
an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, die Foucault in erster Linie un-
ternimmt, um die Ausprägung der zeitgenössischen Subjektformen durch die
Rekonstruktion der Entstehung der Regierungstechnologien und die Heraus-
bildung der Disziplinargesellschaft zu verstehen, zielt er mit seinen späten
Arbeiten zur Antike darauf, innerhalb der Gegenwart neue Denkräume zu er-
öffnen und diese aus der Umklammerung durch das Vertraute zu führen (vgl.
Rustemeyer, in diesem Band). Auch wenn Foucault dies nicht eigens heraus-
stellt, praktiziert er in Der Gebrauch der Lüste doch genau jene Form einer
beunruhigenden und anstößigen Geschichtsschreibung, die er bereits in
Nietzsche, die Genealogie, die Historie als einzig zeitgemäße gefordert hatte:
"Die Erforschung der Herkunft schafft keine sichere Grundlage; sie erschüt-
tert, was man für unerschütterlich hielt; sie zerbricht, was man als eins emp-
fand; sie erweist als heterogen, was mit sich übereinzustimmen schien. Wel-
che Überzeugung könnte dem widerstehen?" (Foucault 2002: 173; vgl. Ca-
sale 2001).
Der Gewinn, den die erwähnte Verschiebung für die Untersuchung von
Subjektivierungsformen darstellt, besteht daher nicht im Aufspüren ver-
meintlich freier und kunstvoller Praktiken der Selbstschöpfung, die als kriti-
sches Korrektiv gelten können, wenn es um die Erprobung neuer, alternativer
Formen der Subjektivierung geht. Statt dessen könnte sich deren Studium als
ein Weg erweisen, den engen Horizont der Gegenwart zu überschreiten und
die Fragwürdigkeit des zeitgenössischen Subjektmodells zu demonstrieren.
Erst wenn die Auseinandersetzung mit den antiken Subjektivierungspraktiken
dazu führt, dass jene ihre Überzeugungskraft einbüßen, die der zeitgenössi-
schen Disziplinar- und Kontrollgesellschaft ihr Gepräge verleihen (vgl. De-
leuze 1993), wäre das ganze provokative Potential von Foucaults Studium
antiker Texte freigesetzt. Genau dieses Moment ist es, das auch Petra Geh-
rings erhellende Foucault-Lektüre organisiert. Mit Blick auf Der Gebrauch
der Lüste führt sie aus: "Bei Foucault [ ... ] finden wir einen distanzierenden
218 Markus Rieger-Ladich

Spiegel. Er verfremdet uns das Ideal des isolierten, mittels Identität be-
stimmten Individuums, so wie es als vorgängig auf sich selbst bezogene
Handlungs-, Leibkörper- und Reflexionseinheit heute fast unumschränkt
wirklichkeitsmächtig ist" (Gehring 2003: 376).

5. Reflexionsangebote
Die Rekonstruktion von Foucaults Denkbewegung, innerhalb derer er - in
weitgestreuten Themenfeldern und Epochen - sehr unterschiedliche Formen
der Subjektivierung untersucht hat, erschließt daher zwei deutlich unter-
scheidbare Strategien, die sich in der theoretischen Arbeit freilich keineswegs
gegenseitig ausschließen müssen: Lange Zeit sind Foucaults Untersuchungen
offensichtlich von dem Bemühen geprägt, die Entstehung der zeitgenössi-
schen Subjektivierungspraktiken in ihrer Verflechtung mit Wissensordnun-
gen und Machtverhältnissen skrupulös nachzuzeichnen und deren kompli-
zierte Vorgeschichte schrittweise zu erschließen. Erst relativ spät rückt
Foucault von dieser Verfahrensweise ab und erprobt einen neuen methodi-
schen Zugang: Statt noch länger in der Vergangenheit nach den Anfangen der
Gegenwart zu suchen, beginnt er sich nun in besonderer Weise für den Ver-
fremdungseffekt zu interessieren, der historischen Subjektivierungsformen -
konfrontiert man sie mit zeitgenössischen - zweifellos innewohnt und der in
der Folge womöglich auch alternative Formen des Selbstverhältnisses denk-
bar werden lässt (vgl. Rustemeyer 2001; 2004).
Für den Diskurs der Erziehungswissenschaft sind damit zwei vielverspre-
chende Möglichkeiten eröffnet, jene aporetische Engführung der Reflexion zu
vermeiden, die die neuzeitliche Pädagogik nicht selten betreibt, wenn sie die
Autonomie des Subjekts zu erweisen sucht (vgl. Meyer-Drawe 1990; Schäfer
1996; Ricken 1999; Rieger-Ladich 2004): Statt immer wieder neu den Versuch
zu unternehmen, die eigenen Bemühungen über einen heroischen Subjektbe-
griff abzusichern, erscheint es doch ungleich ratsamer, sowohl den Weg der
historischen Rekonstruktion als auch den der distanzierenden Verfremdung von
Subjektivierungspraktiken zu beschreiten. Wirft man einen kursorischen Blick
in neuere erziehungswissenschaftliche Arbeiten, so kann man den Eindruck
gewinnen, dass die Chancen für einen solchen Neueinsatz durchaus nicht als
ungünstig eingeschätzt werden müssen: Als ein Indiz, das diese Vermutung
stützen könnte, mag jenes von Käte Meyer-Drawe jüngst geäußerte "Erstau-
nen" gelten, "dass zentrische Selbstdeutungen des Menschen im Verlaufe der
westlichen Geschichte der Selbstthematisierungen gleichsam zur Normalität
wurden, selbst wenn wir nicht nur in der reflektierenden Konfrontation mit un-
serem Selbst, sondern auch und vor allem in seinen praktischen Gebungen
ständig mit seinem Entzug konfrontiert sind" (Meyer-Drawe 2002: 363).
Es überrascht denn auch nicht, dass sich bereits einzelne Arbeiten aus-
machen lassen, die Subjektivierungspraktiken problematisieren und dabei -
Unterweifung und Überschreitung 219

wenn auch nicht in jedem Falle ausdrücklich - eine der beiden Foucaultschen
Strategien verfolgen. Jene, die die zeitgenössischen Formen der Subjektivie-
rung in ihrer Entstehung zu begreifen sucht, ist offensichtlich für zwei Ar-
beiten leitend, die sich zu diesem Zweck insbesondere auf die räumliche Di-
mension von Disziplinierungspraktiken konzentrieren. So spürt Johannes Bil-
stein unter dem Titel Die Beichte und ihre Bedeutung im Sozialisationspro-
zess den Wirkungen nach, die sich im Beichtstuhl materialisieren und die ei-
ne bestimmte Subjektform ausprägen: Als exponiertes räumliches Element,
das nicht nur den Beichtenden und den sog. Beichtvater in einem streng re-
gulierten Verfahren auf engstem Raum zusammenführt, sondern auch die
Blicke der Gemeinde einfängt und auf die handelnden Akteure lenkt, führt
die Beichtpraxis zu einer Kontrolle und Steuerung, die sich - etwa über die
angeleitete Selbsterforschung - bis auf die innersten Motive und Empfindun-
gen erstreckt (vgl. Bilstein 2000). Ähnliche Prozesse der Einschreibung ste-
hen auch im Mittelpunkt von Sonja Hnilicas Arbeit Disziplinierte Körper, die
die Schulbank als Erziehungsapparat - so der Untertitel- zu erweisen sucht:
Ihr gilt die standardisierte und industriell gefertigte zweisitzige Schulbank,
deren Vorgeschichte sie über erbittert geführte Auseinandersetzungen in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und unterschiedliche Hygienediskurse
bis hin zur Entstehung des Chorgestühls im Spätmittelalter rekonstruiert, als
ein Instrument der Disziplinierung, das nicht nur auf die Unterwerfung des
Körpers, sondern auch auf die Regierung der Seele abzielt. Dies gelingt, in-
dem durch ihren Einsatz nicht nur die räumliche Separierung und die Regu-
lierung der Körperkontakte betrieben, sondern - unterstützt durch die Einfüh-
rung von korrigierenden Haltungsapparaten - auch die Lenkung der Gesten
und die permanente Kontrolle immer weiter perfektioniert wird (vgl. Hnilica
2003).3
Die zweite Strategie, die mit der distanzierenden Wirkung der Verfrem-
dung rechnet, verfolgt Alfred Schäfer. Im Unterschied zu Foucault wählt er
jedoch nicht historische Subjektivierungspraktiken als Referenz: In seinen
bildungsethnologischen Arbeiten richtet er den Blick auf die "Grenzen des
uns Selbstverständlichen" (Schäfer 1999: 104) und sensibilisiert für die kul-
turelle Relativität jener Subjektivierungspraktiken, die sich in den hochgradig
ausdifferenzierten Gesellschaften der westlichen Hemisphäre ausgeprägt ha-

3 Weitergeführt werden diese Untersuchungen durch eine jüngst von Käte Meyer-
Drawe vorgelegte Studie, in der sie den Effekten jener Maßnahmen nachspürt, die von
den Philantropen ergriffen wurden, um die ,Selbstbefleckung' zu unterbinden. Unter
dem Titel Hygienische Imaginationen weist sie nach, dass die Geständnisdiskurse,
durch die die Zöglinge dazu verpflichtet wurden, die eigenen Lüste zu identifizieren,
zu beobachten und schließlich wortreich zu gestehen, ein Subjekt erzeugen, das ei-
gentümlich gespalten ist. In der Folge steht dem autonomen Subjekt, das vemunftbe-
stimmt handelt und sich allein der eigenen Anstrengung zu verdanken scheint, das
"verwerfliche Subjekt" gegenüber, das aus der Unterwerfung unter seine Lust hervor-
geht: "Das eine ist Folge einer mutigen Entschließung, das andere Ergebnis einer lust-
vollen Kapitulation" (Meyer-Drawe 2004: 8).
220 Markus Rieger-Ladich

ben, indem er sie mit solchen konfrontiert, die zeitgleich in segmentär diffe-
renzierten Gesellschaften beobachtet werden können. An zwei Beispielen sei
dieses Verfahren, das auf das Einüben einer distanzierten Haltung zum Ver-
trauten zielt, kurz skizziert. In Subjektivierungseffekte des Wissens stellt er
der sich in der Neuzeit ausprägenden Relation von Subjekt und Wissen jene
gegenüber, die sich bei den Initiationsriten und Mythen der Ilahita Arapesh
beobachten lässt: Während sich in den westlichen Kulturen eine Subjektivie-
rungspraxis ausformt, die das Subjekt gegenüber dem kritisierbaren und
überprüfbaren Wissen eine relativ souveräne Position einnehmen lässt,
kommt es bei den Ilahita Arapesh in Guinea aufgrund einer engen Verschwis-
terung von Wissen und Geheimnis zu völlig anderen Effekten der Subjekti-
vierung: "Das Individuum gewinnt auf diese Weise keinen Stand gegenüber
etwas, das als Wissen ihm zugehören würde und zu dem es sich in eine von
ihm abhängige Beziehung setzen könnte. Vielmehr behält das Wissen den
Status von etwas, das das Individuum durchquert, es mediatisiert, zu einem
Ort macht, der durch dieses Wissen einerseits mitkonstituiert wird und ande-
rerseits keine Möglichkeit hat, diesem Wissen gegenüber in die Position des
Urteilenden zu gelangen" (Schäfer 1999: 95). Konzentriert Schäfer sich hier
auf die Beziehung zwischen Subjekt und Wissen, problematisiert er in Ritu-
elle Subjekiivierungen die Relation von Subjekt und Verantwortung, indem er
den in westlichen Gesellschaften zur Ausbildungsphase gehörenden Unter-
richtsbesuch durch Gutachter mit der Initiation bei den Batemi in Tansania
vergleicht: In beiden Fällen handelt es sich um Rituale, die zu einer charakte-
ristischen Form der Subjektivierung führen. Anders jedoch als bei der Unter-
richtsstunde, in der über die Inszenierung des Referendars als eines uneinge-
schränkt verantwortlichen, souverän steuernden und perfekt kontrollierenden
Akteurs die "selbstverantwortliche Subjekt-Figur" etabliert wird (Schäfer
1998: 171), kommt es bei den Initiationsriten unweigerlich zu einer Begeg-
nung mit dem Unverfügbaren, das sich den Bemühungen des Einzelnen ent-
zieht und seiner Handlungsrnacht enge Grenzen setzt. Der Initiierte zeichnet
sich daher gerade erst durch die "Konfrontation mit dem Anderen des sozia-
len Selbst" (Schäfer 1998: 176) aus: Er sieht sich folglich nicht dem Zwang
ausgesetzt, die "Möglichkeit des Unmöglichen" glaubhaft inszenieren zu
müssen und verdankt seinen Subjektstatus daher auch nicht einer fingierten
Autonomie - ohne die Verantwortung völlig von sich zu weisen, weiß er dar-
um, dass der "Riß im Subjekt" nicht geheilt werden kann und die souveräne,
uneingeschränkte Verantwortung eine Fiktion bleibt (Schäfer 1998: 180).
So unterschiedlich die einzelnen Arbeiten - in der Anlage und Durchfüh-
rung - zweifellos sind, ihnen ist doch gemeinsam, dass sie sich von dem ahis-
torischen und kulturübergreifenden Subjektbegriff, der nur den Singular zu
kennen scheint, längst gelöst haben. Und obwohl bereits die ersten Ergebnis-
se, zu denen diese Studien, die sich leicht etwa um jene ergänzen ließen, die
unter dem Etikett der govemementality studies firmieren, zu einem verän-
derten Blick auf jene Praktiken geführt haben, die innerhalb der Erziehungs-
wissenschaft etwa unter den Begriffen Erziehung, Bildung und Sozialisation
Unterweifung und Überschreitung 221
verhandelt werden, so scheint es doch, dass das Anregungspotential, das Mi-
chel Foucaults Untersuchungen historischer Subjektivierungspraktiken für
den pädagogischen Diskurs besitzen, noch längst nicht ausgeschöpft ist.

Literatur

Bilstein, Johannes (2000): Die Beichte und ihre Bedeutung im Sozialisationsprozess. In:
Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 3, S. 609-628.
Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. FrankfurtlMain:
Suhrkamp.
Butler, Judith (2002): Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend. In: Deutsche Zeit-
schrift für Philosophie 50, S. 249-265.
Butler, Judith (2003a): Kritik der ethischen Gewalt. Adomo-Vorlesungen 2002. Frank-
furtlMain: Suhrkamp.
Butler, Judith (2003b): Noch einmal: Körper und Macht. In: Axel Honneth/Martin Saar
(Hrsg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-
Konferenz 2001. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 52-67.
Casale, Rita (2001): Die Verwandlung der Philosophie in eine Diagnostik der Differenzen.
In: Helma LutzINorbert Wenning (Hrsg.): Unterschiedlich verschieden. Opladen:
Leske + Budrich, S. 25-46.
Deines, Stefan (2003): Über die Grenzen des Verfügbaren. Zu den Bedingungen und Mög-
lichkeiten kritischer Handlungsfähigkeit. In: Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar
Nünning (Hrsg.): Historisierte Subjekte - Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit
und Unverfügbarkeit von Geschichte. Berlin und New York: de Gruyter, S. 63-76.
Deleuze, Gilles (1993): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Ders.: Unter-
handlungen. 1972-1990. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 254-262.
Deleuze, Gilles (1997): Foucault. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1980): Macht-Wissen. In: Franco Basaglia/Franca Basaglia-Ongaro
(Hrsg.): Befriedungsverbrechen. Über die Dienstbarkeit der Intellektuellen. Frank-
furtlMain: Europäische Verlagsanstalt, S. 63-80.
Foucault, Michel (1992a): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefangnisses. Frank-
furtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1992b): Was ist Kritik? Berlin: Merve.
Foucault, Michel (1993): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2. Frank-
furtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (l994a): Das Subjekt und die Macht. In: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow:
Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Mit einem Nachwort
von und einem Interview mit Michel Foucault. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 243-261.
Foucault, Michel (1994b): Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über laufende Arbei-
ten. In: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalis-
mus und Hermeneutik. Mit einem Nachwort von und einem Interview mit Michel
Foucault. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 265-292.
Foucault, Michel (1996): Gespräch mit Ducio Trombadori. In: Ders.: Der Mensch ist ein Er-
fahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 23-122.
Foucault, Michel (2000): Die Gouvemementalität. In: Ulrich BröcklinglSusanne Kras-
mann/Thomas Lernke (Hrsg.): Gouvemementalität der Gegenwart. Studien zur Öko-
nomisierung des Sozialen. FrankfurtlMain, S. 41-67.
Foucault, Michel (2001): Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et
Ecrits. Band I. 1954-1969. Hrsg. von Danie1 Defert und Fran~ois Ewald unter Mitar-
beit von Jacques Lagrange. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 1003-1041.
222 Markus Rieger-Ladich

Foucault, Michel (2002): Nietzsehe, die Genealogie, die Historie. In: Ders.: Schriften in
vier Bänden. Dits et Ecrits. Band 11. 1970-1975. Hrsg. von Daniel Defert und
Fran'fois Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. FrankfurtlMain: Suhrkamp,
S. 166-191.
Foucault, Michel (2003): Die Wahrheit und die juristischen Formen. Mit einem Nachwort
von Martin Saar. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Gehring, Petra (2003): Spiel der Identitäten? Über Michel Foucaults "L'usage des plaisirs".
In: Jürgen Straub/Joachim Renn (Hrsg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharak-
ter des modemen Selbst. FrankfurtlMain und New York: Campus, S. 374-391.
Hahn, Alois (1987): Identität und Selbstthematisierung. In: Ders.Nolker Kapp (Hrsg.):
Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis. FrankfurtlMain:
Suhrkamp, S. 9-24.
Hahn, Alois (2003): Disziplin im Arsenal der Leidenschaften. Die Kunst des Strafens. In:
Gertrud Koch/Sylvia SasselLudger Schwarte (Hrsg.): Kunst als Strafe. Zur Ästhetik
der Disziplinierung. München: Fink, S. 91-107.
Hnilica, Sonja (2003): Disziplinierte Körper. Die Schulbank als Erziehungsapparat. Wien:
edition selene.
Keite\, Harvey (2002), "Onkel, was fehlt dir?" Harvey Keitel im Gespräch mit Tobias
Kniebe. In: Süddeutsche Zeitung vom 8. März, Nr. 57, S. 15.
Kögler, Hans-Herbert (2003): Situierte Autonomie. Zur Wiederkehr des Subjekts nach
Foucault. In: Stefan Deines/Stephan Jaeger/Ansgar Nünning (Hrsg.): Historisierte
Subjekte - Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfugbarkeit von Ge-
schichte. Berlin und New York: de Gruyter, S. 77-91.
Lemke, Thomas (2002): Gouvemementalität. In: Information Philosophie 30, S. 46-48.
Menke, Christoph (2oo3a): Die Disziplin der Ästhetik. Eine Lektüre von >Überwachen
und Strafen<. In: Gertrud Koch/Sylvia SasselLudger Schwarte (Hrsg.): Kunst als Stra-
fe. Zur Ästhetik der Disziplinierung. München: Fink, S. 109-121.
Menke, Christoph (2003b): Zweierlei Übungen. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinie-
rung und ästhetischer Existenz. In: Axel HonnethIMartin Saar (Hrsg.): Michel
Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001.
FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 283-299.
Meyer-Drawe, Käte (1990): Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und All-
macht des Ich. München: Kirchheim.
Meyer-Drawe, Käte (1996): Versuch einer Archäologie des pädagogischen Blicks. In: Zeit-
schrift fur Pädagogik 42, S. 655-664.
Meyer-Drawe, Käte (2002): Das exzentrische Selbst. In: Jürgen Straub/Joachim Renn
(Hrsg.): Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modemen Selbst. Frank-
furtlMain und New York: Campus, S. 360-373.
Meyer-Drawe, Käte (2004): Hygienische Imaginationen. Der Schrecken der Selbstbeflek-
kung im Philantropinismus. Unveröffentliches Manuskript. Bochum.
Ricken, Norbert (1999): Subjektivität und Kontingenz. Markierungen im pädagogischen
Diskurs. Würzburg: Königshausen & Neumann.
Ricken, Norbert (2000): In den Kulissen der Macht: Anthropologien als figurierende Kon-
texte pädagogischer Praktiken. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik
76, S. 425-454.
Rieger, Markus (1997): Ästhetik der Existenz? Eine Interpretation von Michel Foucaults
Konzept der >Technologien des Selbst< anhand der >Essais< von Michel de Mon-
taigne. Münster u.a.: Waxmann.
Rieger-Ladich, Markus (2002): Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur pädago-
gischen Semantik. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.
Rieger-Ladich, Markus (2004): Autonomie revisited: Kritik und Wiederaneignungsversuch
einer Leitkategorie des pädagogischen Diskurses. Erscheint in: Antonio AutierolSte-
Unterweifung und Überschreitung 223

phan GoertzlMagnus Striet (Hrsg.): Endliche Autonomie. Interdisziplinäre Perspekti-


ven auf ein theologisch-ethisches Programm, Münster: Lit.
Rustemeyer, Dirk (2001): Enttäuschende Theorie. In: Zeitschrift für pädagogische Histo-
riographie 7, S. 106-115.
Schäfer, Alfred (1996): Autonomie - zwischen Illusion und Zumutung. In: Vierteljahrs-
schrift für wissenschaftliche Pädagogik 72, S. 175-189.
Schäfer, Alfred (1998): Rituelle Subjektivierungen. In: Ders./Michael Wimmer (Hrsg.):
Rituale und Ritualisierungen. Opladen: Leske + Budrich, S. 165-181.
Schäfer, Alfred (1999): Subjektivierungseffekte des Wissens. In: Ders.: Unbestimmte
Transzendenz. Bildungsethnologische Betrachtungen zum Anderen des Selbst. Opla-
den: Leske + Budrich, S. 83-104.
Schäfer, Alfred (2003): "Die Seele: Gefangnis des Körpers". Überlegungen zur Säkulari-
sierungsproblematik bei Foucault. Unveröffentlichtes Manuskript. Halle.
Waldenfels, Bernhard (2003): Kraftproben des Foucaultschen Denkens. In: Philosophische
Rundschau 50, S. 1-26.
Rita Casale

Genealogie des Geschmacks. Ein Beitrag zur


Geschichte der ästhetischen Erziehung l

1. Zur Einführung: Über den Versuch, im Sinne Foucaults


über Foucault zu schreiben
Einen Aufsatz über Foucaults Bedeutung für die pädagogische Reflexion zu
schreiben, ist eine schwierige Aufgabe, weil Foucault selbst ein solches
Thema wohl kaum behandelt hätte. Er hat selten über Autoren geschrieben.
Eine Ausnahme stellen die Schriften dar, die er Raymond Roussel (vgl.
Foucault 1963), Maurice Blanchot (vgl. Foucault 1966) und Friedrich Nietz-
sehe (vgl. Foucault 1971) gewidmet hat. Aber auch in diesen Fällen stellen
die drei Autoren "Begriffspersonen" (Deleuze/Guattari 1991) dar. Sie stehen
für bestimmte Begriffe: Roussel für das "literarische Denken", Blanchot für
das "Draußen" und Nietzsehe für die "Genealogie". Erschwerend kommt
hinzu, dass Foucault weder eine Lehre noch eine Philosophie und erst recht
keine Bildungsphilosophie hinterlassen hat. Er hat ganz einfach einige Phä-
nomene untersucht, die von großer Brisanz für unsere Gegenwart sind.
Außer in der Entdeckung der Wissensfelder (hier ist insbesondere die
Untersuchung der Entstehung der sogenannten Humanwissenschaften und
der damit verbundenen Institutionen gemeint), die wir Foucault verdanken,
möchte ich seinen bedeutendsten Beitrag zum aktuellen wissenschaftlichen
Diskurs in der Haltung sehen, durch die er ihn prägte. Sie zeugte von der für
Philosophen von Beruf seltenen Besessenheit, nicht Philosoph sein zu wol-
len, und war Resultat einer akribischen Arbeit über die Form und die Art
philosophischer Untersuchung (vgl. Foucault 1984: 15-16)?
Im letzten Jahrhundert sind insbesondere ausgehend von der phänome-
nologischen Tradition große Anstrengungen unternommen worden, eine

Teile dieses Textes habe ich im Jahr 2002 sowohl auf dem Münchener Kongress der
DGfE beim Symposium der Kommission Frauen- und Geschlechteiforschung als
auch auf der Jahrestagung des Forum für Erziehungsphilosophie vorgetragen. Die
Anmerkungen und Kritiken, die von den Kollegen in beiden Kontexten gemacht wur-
den, sind mir bei der weiteren Bearbeitung des Themas sehr hilfreich gewesen. Bei
allen bedanke ich mich ganz herzlich. An dieser Stelle möchte ich mich auch bei Chris-
tian Oswald für das Interesse bedanken, mit dem er die verschiedenen Schritte meiner
Argumentation verfolgt hat.
2 Bei Zitaten, die aus jenen Schriften Foucaults stammen, die ins Deutsche übersetzt
worden sind, verweise ich hier und im folgenden auf die Seitenzahl der deutschen
Ausgabe.
226 Rita Casale

postmetaphysische Philosophie zu entwickeln. Will man auch seitens der Er-


ziehungsphilosophie diese Versuche ernstnehmen, wird man nicht umhin-
kommen, sich mit der Problematisierung der Philosophie als Gattung ausein-
anderzusetzen. Schon vor Jacques Derridas Dekonstruktion des Logozentris-
mus der abendländischen Philosophie (vgl. Derrida 1967a; 1967b; 1967c;
1972) hatte Martin Heidegger festgestellt, dass die Philosophie als eine be-
stimmte Form des Wissens vollendet sei (Heidegger 1941a; 1941b; 1941c).
Heidegger identifizierte Philosophie mit Metaphysik wegen der Art, in
der die Philosophie die Realität in Begriffe gefasst habe. Ein bestimmtes Ver-
ständnis der philosophischen Begriffe begründet die Identifikation. Sind sie
metaphysisch gedacht, stellen sie ideale Substanzen oder Normen dar, aus
denen die Realität abgeleitet oder an denen sie gemessen wird. Die Ableitung
oder Normierung der Realität mittels Begriffe transzendenter Natur hat De-
leuze als die platonische Krankheit der Philosophie (vgl. Deleuze 1969) diag-
nostiziert. Ob die Philosophie etwas anderes als Platonismus sein kann, ist
eine Frage, deren Antwort nur in der Zukunft der Philosophie, in der Form
ihrer Veränderung liegt.
Ein erster entscheidender Schritt in diese Richtung wurde in Heideggers
Überlegungen über das Verhältnis von Zeit und Sein vollzogen. Das Sein
wird nicht länger unter einen bestimmten Substanzbegriff subsumiert. Es
wird weder als Idee, noch als Subjekt, noch als Wille oder Energeia usw. be-
stimmt. Das Sein gebe sich zeitlich und somit sei es als singuläres Ereignis zu
fassen (vgl. Heidegger 1962). Was die Ereignisse sind und wie sie philoso-
phisch zu denken sind, sagt Heidegger nicht. Er beschränkt sich darauf, den
Weg phänomenologisch zu nennen, auf dem man die metaphysische Philoso-
phie überschreiten können soll. Zwar hat Heidegger das Sein als Zeit gedacht,
aber er hat es nicht in seinem historischen Geschehen erfasst. Der philosophi-
sche Begriff ist nicht mehr Substanz oder Norm, sondern Ausdruck des Ereig-
nisses, wenn er die Aktualität auf einer sprachlichen Ebene bzw. die Ordnung
des Diskurses der Aktualität sichtbar macht (vgl. Deleuze/Guattari 1991: 27).
Foucaults Aversion, als Philosoph betrachtet zu werden, sehe ich durch
den Verdacht motiviert, dass innerhalb der Philosophie in ihrer historischen
Form der qualitative Sprung von der Metaphysik zu einer Philosophie des
Ereignisses bzw. zu "historischem Philosophieren" nicht möglich ist (vgl.
Casale 2001). Darum entscheidet er sich für eine Form des Philosophierens,
die er mit Nietzsche Genealogie nennt. Sie dokumentiert Misstrauen gegen-
über den Historikern wegen ihres Glaubens an die Positivität der Fakten und
gegenüber Philosophen und Theoretikern jeder Art wegen ihres Festhaltens
am normativen Charakter der Ideen. Der Geneaologe "muß es verstehen, die
Ereignisse der Geschichte zu erkennen, ihre Erschütterungen, ihre Überra-
schungen, ihre glücklichen Siege und kaum verwundenen Niederlagen, die von
den Anfangen, Atavismen und Erbschaften zeugen" (Foucault 1971: 171).
Die Problematisierung der Philosophie und ihrer Begrifflichkeit muss die
Erziehungsphilosophie in prägnanter Weise tangieren, sobald sie mit dem
normativen Anspruch einer Wissenschaft auftritt, die formaler und nicht-
Genealogie des Geschmacks 227

formaler Erziehung Orientierung geben will. Angesichts des praxeologischen


Charakters der pädagogischen Reflexion ist für die Erziehungsphilosophie
die Klärung der Herkunft bzw. die Genealogie ihrer Begriffe von großer Be-
deutung.
Auch sollten sich die erziehungsphilosophischen Bemühungen nicht dar-
auf beschränken, die Entwicklungen des philosophischen Diskurses lediglich
zu rezipieren. Stattdessen sollte sie sich auch von sich aus von ihm insoweit
lösen, wie es die Entfaltung der spezifischen Problematik des pädagogischen
Wissens erfordert. Inwieweit dabei das genealogische Verfahren verfolgt
werden kann, werde ich versuchen, im Laufe der folgenden Analysen in ver-
schiedenen Schritten zu diskutieren. Zuerst werde ich die Bedeutung der Ge-
nealogie und ihrer Stellung innerhalb von Foucaults Schriften klären. Dann
werde ich mich mit Foucaults Abschied vom genealogischen Verfahren in
seinen letzten Schriften kritisch auseinandersetzen. Schließlich werde ich
versuchen, die theoretische Tragweite eines solchen Ansatzes für die erzie-
hungsphilosophische Reflexion und die historische Bildungsforschung zu
thematisieren.

2. Archäologische Genealogie statt Hermeneutik des Selbst


Foucault setzt Heideggers Kritik an der Philosophie als Metaphysik fort, in-
dem er die heideggersche Dekonstruktion der Seins geschichte selbst zum
Gegenstand der Betrachtung macht. Er stützt sich dabei auf Nietzsche, von
dem er lernt, wie auch die letzten Tricks des Phänomenologen zu demaskie-
ren sind: Es reicht nicht, die Verdinglingung des Seins zu denunzieren, wenn
sich dahinter die Suche nach einem ursprünglicheren Sinn versteckt. In An-
lehnung an Nietzsche sieht Foucault den Unterschied der Genealogie gegen-
über anderen Formen philosophischer Dekonstruktionen in der Ablehnung der
Ursprungsfrage. Statt des Ursprungs untersucht sie die Herkunft und Entste-
hung der Phänomene und diskreditiert jede Form von angeblicher Kontinuität.
In Nietzsche, la genealogie, l'histoire hebt Foucault präzise die drei Ele-
mente hervor, die das genealogische Verfahren zu demontieren hat, wenn es
die philosophische Voraussetzung eines Ursprungs radikal in Frage stellen
will: den Sinn als Tradition, das Subjekt als Einheit von Erkenntnisprozessen
und den Leib als vorprädikativen Horizont der Sinngebung. Ihre Auswahl er-
gibt sich nicht zufällig. Sie stellen die drei phänomenologischen Postulate
dar, die trotz der Mannigfaltigkeit menschlicher Erfahrung als letzte Garanten
von Identität fungieren. Tradition ist die Einheit der Geschichte als Konti-
nuität des Sinnes des historischen Geschehens gedacht. Stattdessen habe sich
die Genealogie mit der Erscheinung von historischen Phänomenen zu be-
schäftigen, die die etablierte Regelmäßigkeit in Unordnung bringen. Sie ent-
stehen nicht aus dem Nichts. Sie haben keinen richtigen Anfang. Sie treten
nur auf und damit ändern sich die Spielregeln der Geschichte.
228 Rita Casale

Die Genealogie darf sich aber mit der Dekonstruktion der Tradition nicht
zufrieden geben. Der Glaube an die Einheit der Anfänge sei mit der Über-
zeugung der Identität des Subjekts eng verbunden: "Genau dort, wo die Seele
den Anspruch auf Einheit erhebt, wo das Ich eine Identität oder Kohärenz er-
findet, dort macht der Geneaologe sich auf die Suche nach dem Anfang -
nach den unzähligen Anfängen, die eine unscheinbare Verfärbung oder ein
kaum noch zu erkennendes Zeichen hinterlassen, auf die ein historischer
Blick achten sollte. Die Analyse der Herkunft macht es möglich, das Ich auf-
zulösen und am Ort seiner leeren Synthese zahllose heute verlorene Ereignis-
se hervortreten zu lassen" (Foucault 1971: 172).
Circa zehn Jahren später sollte Foucault in dem unveröffentlichten Dos-
sier Gouvernement de soi et des autres zur Vorbereitung eines 1981 gehalten
Vortrags über seinen Versuch einer Genealogie der immanenten Subjektivie-
rungsprozesse und über seine Distanz sowohl vom Positivismus der Histori-
ker als auch von der metaphysischen Philosophie schreiben: ,,1' ai donc es-
saye d'explorer ce que pourrait etre une genealogie du sujet, tout en sachant
bien que les historiens preferent l'histoire des objets et que les philosophes
preferent le sujet qui n'a pas d'histoire. Ce qui n'empeche pas de me sentir
une parente empirique avec ce qu'on appelle les historiens des ,mentalites' et
une dette theorique a l'egard d'un philosophe comme Nietzsche qui a pose la
question de l'historicite du sujet. 11 s'agissait donc pour moi de se degager
des equivoques d'un humanisme si facile dans la theorie et si redoutable dans
la realite; ils s'agissait aussi de substituer au principe de la transcendance de
l'ego la recherche des formes de l'immanence du sujet".3
Gäbe es keine Einheit auf einer historischen Ebene und ließe sie sich
auch nicht erkenntnistheoretisch von der Identität des Subjekts ableiten, blie-
be immer noch übrig, sie als Möglichkeit des Leibes zu denken. Der Leib an
sich habe aber für den Genealogen keinen Sinn. Und noch weniger stelle er
den Ursinn dar, der unter Formalisierungen verschiedener Natur versteckt sei
und wieder zu entdecken wäre. Er enthalte keinen potentiellen Widerstand
gegen die Kräfte, die ihn beugen und gestalten. Er sei vielmehr als historische
Fläche zu betrachten, in die sich die historischen Ereignisse einprägen (vgl.
Foucault 1971: l74).
Mit der Kennzeichnung des Leibes als eines Trägers historischer Zeichen
vermindert Foucault einerseits die Gefahren eines nietzscheanischen Vitalis-
mus. Andererseits distanziert er sich damit ganz bewusst sowohl von der
phänomenologischen Tradition als auch von einem bestimmten psychoanaly-
tischen Ansatz. Gegen E. Husserl und M. Merleau-Ponty betont er die Ge-
schichtlichkeit des Leibes als eines vorprädikativen Horizontes der Sinnge-
bung. Gegen H. Marcuse, W. Reich aber auch im Gegensatz zu G. Deleuze
und F. Guattari historisiert er die Sexualität und ihre Praktiken. Wie er einige
Jahren später in seiner Geschichte der Sexualität weiterentwickeln sollte (vgl.
Foucault 1976-1984), sei die Sexualität nicht die körperliche Erfahrung der

3 Zitiert nach Frederic Gros: Situation du Cours. In: Foucault (1981-82) 487-526,506.
Genealogie des Geschmacks 229

Begierden, sondern das historische Feld der artes eroticae, auf dem sich Be-
gierde und Wahrheitsspiele kreuzen.
Unter Foucaults Schriften hat der Nietzsche-Aufsatz eine Übergangs-
funktion. Er skizziert einerseits das Programm der Untersuchungen, denen er
sich in den folgenden Jahren widmen sollte. Andererseits ist es die letzte
Schrift, in der noch die genealogische Fragestellung mit der archäologischen
Analyse der wissenschaftlichen Diskurse verbunden wird. Das archäologi-
sche Moment oder die Analyse der diskursiven Formationen findet sich in
der Schrift über Nietzsche in der Problematisierung des Sinnes als Tradition
wieder. In seinen späteren Studien wird dieser erste der drei Gegenstände ge-
nealogischer Dekonstruktion nur noch am Rande behandelt oder sogar ganz
außer Betracht bleiben. Foucault konzentriert sich dann ausschließlich auf die
Analyse der Entstehung des Subjekts und der Geschichtlichkeit des Leibes.
Diese Vernachlässigung ist als Symptom dafür zu werten, dass er vom
archäologischen Ansatz Abschied nimmt, den er in seinen Studien der 1960er
Jahre über die Entstehung der modemen Humanwissenschaften verfolgt hat-
te. Das bedeutet nicht, dass er kein Interesse mehr an der diskursiven Ebene
der körperlichen Praktiken des Subjekts hat. Sie werden aber nicht mehr ar-
chäologisch untersucht. Sie werden als Spielregeln des Wahren und des Fal-
schen thematisiert. Falsche und wahre Aussagen werden eher in Bezug auf
ihre Wirksamkeit - Peiforrnativität würde man heute sagen - als in Bezug
auf ihren wissenschaftlichen und historischen Kontext analysiert.
Tatsächlich will es Foucault nicht mehr gelingen, die Analyse des Dis-
kurses (Archäologie) und die Problematisierung der Praktiken der Subjekti-
vierung (Genealogie) zusammen zu halten. Der erste Band der Geschichte
der Sexualität, Der Wille zum Wissen (1976), stellt einen letzten Versuch da-
zu dar, der aber scheitert. Foucault präzisiert hier noch die intellektuelle und
politische Lage, in der die Fragestellung aufgetreten ist, aber er erörtert nicht
mehr den Entstehungskontext der zu untersuchenden Praktiken. Die Ge-
schichte der Sexualität will eine Antwort auf jene falschen Propheten sein,
die in den 1960er und 1970er Jahren versprochen hatten, dass das Glück
durch die sexuelle Befreiung zu gewinnen sei. Als Reaktion auf diese enttäu-
schende promesse du bonheur wird Foucault eine Ethik entwerfen, die statt
Befreiung Selbstregulierung verlangt, die statt der Exzesse Moderation und
Maß empfehlt. Im zweiten und dritten Band der Geschichte der Sexualität,
Der Gebrauch der Lüste (1984) und Die Sorge um sich (1984), löst sich die
Untersuchung der Selbstpraktiken von der ursprünglichen Fragestellung. Der
archäologische Ansatz wird ganz verlassen. Die Untersuchung wird immer
hermeneutischer, und damit tritt schließlich auch die Genealogie in den Hin-
tergrund.
1981-1982 hält Foucault am College de France eine Vorlesung mit dem
Titel L'herrneneutique du sujet, in der er sich mit den Themen beschäftigt,
die er in den letzten zwei Bänden seiner Geschichte der Sexualität behandeln
sollte. Dem ersten Eindruck zufolge bedient sich Foucault in dieser Vorle-
sung weiter des genealogischen Verfahrens Nietzsches, indem er die Bedeu-
230 Rita Casale

tung der Sprachspiele des Falschen und des Wahren für die Konstitution des
ethischen Subjekts analysiert. Nietzsche aber hatte Subjekt und Wahrheit in
Zusammenhang mit einer bestimmten diskursiven Formation und zwar mit
der christlichen Moral des Ressentiments als einer Sklavenmoral problemati-
siert. Indem Foucault sich auf die Hermeneutik der Sprachspiele konzentriert
und ihren epistemologischen Kontext vernachlässigt, entfernt er sich von
Nietzsches und seiner eigenen bisherigen Konzeption. Die Genealogie der
Moral hatte Foucault zuerst im Sinne des Willens zum Wissen (Archäologie)
und des Willens zur Macht gedacht. Aber in dieser Vorlesung gruppiert sich
das Dispositiv Wissen-Macht-Subjekt (vgl. Nigro 2003) um sein drittes Ele-
ment.4 Das Subjekt wird auf der Basis bestimmter Praktiken ethischer Natur
oder Technologien des Selbst hermeneutisch rekonstruiert.
Die ersten Formulierungen der Technologien des Selbst seien im Alki-
biades und in der Apologie des Sokrates von Platon zu finden (Foucault
1981182: 12 u.f.). Ihre Blütezeit sei das erste und zweite Jahrhundert und das
vierte und fünfte Jahrhundert n. ehr. gewesen, die Zeit des Übergangs von
der heidnischen Philosophie zur Philosophie der christlichen Askese. 5 Das
Merkmal dieser Praktiken sei die "Sorge um sich".
Mit der Hermeneutik dieser Praktiken will Foucault den Wendepunkt der
Geschichte der abendländischen Moral verschieben und damit die bisherige
Subjektivitätstheorie in Frage stellen. Die Geschichte der Subjektivität stehe
nicht unter dem Motto des delphischen Orakels "Erkenne dich selbst", son-
dern unter dem der "Sorge um sich". Im Unterschied zum delphischen Impe-
rativ setzte die Ethik der "Sorge um sich" nicht eine selbstbezogene reflexive
Ebene voraus, sondern bestehe in einer Reihe von Praktiken, die das Subjekt
immanent konstituieren. Das Subjekt, das sich zu kennen hat, benötige in der
abendländischen Tradition der Moralphilosophie vom delphischen Orakel
über Descartes bis zu Kant und Husserl eine transzendentale Struktur, die
ihm durch die transzendentale Apperzeption zugänglich werde (vgl. Foucault

4 Unter dieser Prämisse fällt es mir schwer, der Hypothese von Butler (2001) von der
Subjektivation als paradoxaler Form der Macht zu folgen (vgl. dazu Rieger-Ladich, in
diesem Band). Bei Butler implizieren die Subjektivierungsprozesse eine Herr-Knecht-
Dialektik zwischen Objektivation und Subjektivation, die sich psychoanalytisch deu-
ten lässt. Die theoretische Konstellation, in der Foucault seine Analyse der Subjekti-
vierungsprozesse in den 1980er Jahren entwickelt hat, ist m. E. eine gänzlich andere.
Bei Foucault stellt die Hermeneutik des Subjekts oder die Genealogie der Praktiken
des Selbst einen Versuch dar, die impasses seiner Theorie bzw. der Metaphysik der
Macht zu überwinden. Im Unterschied zu den Analysen der 1960er Jahre über den
Tod des Subjekts beabsichtigt die Genealogie der Praktiken des Selbst, für das Sub-
jekt einen neuen Handlungsspielraum zu gewinnen. Das sollte durch die Problemati-
sierung der ethischen Sphäre ermöglicht werden, die nicht als die Dimension interpre-
tiert werden sollte, die das menschliche Handeln zu normalisieren habe. Sie sei eher
die Sphäre, in dem sich das Subjekt immanent konstituiert: "L'idee aussi que la mo-
rale peut etre une trt!S fort structure d' existence sans etre liee a un systeme ni juridique
en soi, ni a une structure de discipline" (Foucault 1983: 390).
5 Hier sind insbesondere die Werke Gregor von Nizzas gemeint.
Genealogie des Geschmacks 231

1966b: 389 u.f.). Im Gegensatz zu dieser Tradition sei das Subjekt, das um
sich sorgen soll und muss, nicht gegeben. Es entstehe in den Praktiken, durch
die es sich um sich sorgt.
Wie ich schon angedeutet habe, ist das ethische Kriterium der "Sorge um
sich" nicht normativer oder disziplinierender Art. Im Unterschied zu seinen
Studien der 1960er Jahre über die normalisierenden Strategien der Institutio-
nen der transzendentalen Moral (Gefängnis, psychiatrisches Internat) erkennt
Foucault in seinen späteren Schriften eine positive Funktion der Moral als
Ethik der Selbstregulierung an. Die Differenz zwischen den zwei Arten von
Moral sei nicht zu unterschätzen. Im Gegensatz zur transzendentalen Moral
gebe es in der stoischen Moral und in der christlichen Askese keine Normen
transzendenter Natur, sondern eine ästhetische Regulierung des Selbst: "Il
s'agissait de faire de sa vie un objet de connaissance, de tekhne, un objet
d'art. Nous avons a peine le souvenir de cette idee dans notre sodete, idee
selon laquelle la principale oeuvre d'art dont il faut se souder, la zone ma-
jeure Oll 1'0n doit appliquer des valeurs esthetique, c'est soi-meme, sa proprie
vie, son existence. On trouve cela a la Renaissance, mais sous une forme le-
gerement academique - et encore dans le dandysme du XIXe siec1e, mais ce
n'ont ete que de brefs episodes" (Foucault 1983: 402).
In dieser Hermeneutik der stoischen und der frühen christlichen Prakti-
ken des Selbst gibt es m. E. weder Spuren vom archäologischen noch vom
genealogischen Ansatz. Der diskursive Kontext, in dem die Technologien des
Selbst formuliert worden sind, und die Gegenwart, in der sie problematisiert
werden, spielen keine Rolle. Ihre Exegese führt zu einer Idealisierung ästheti-
scher Selbstinszenierungen bei den Antiken, deren Ziel eine ziemlich offen-
sichtliche ethische Alternative zu der cartesianischen und kantianischen
Subjektivitätstheorie ist. In dieser sollte die Wahrheit und Geltung von Ur-
teilen von der Einheit des Selbstbewusstseins abhängen bzw. von dessen von
der Erfahrung unabhängigen Strukturen. Dagegen wendet Foucault ein, dass
das Subjekt nicht zu sich komme, ohne sich zu verändern. Ihm zufolge ge-
schehe dies durch eine Reihe von Praktiken. Das Selbst konstituiert sich
durch seine Praktiken (vgl. Foucault 1981182: 340 u.f.). Diese seien als
"Künste der Existenz" zu fassen: "Darunter sind gewußte und gewollte Prak-
tiken zu verstehen, mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres
Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem be-
sonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen su-
chen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien ent-
spricht" (Foucault 1984: 18).
Wie kann Foucault behaupten, dass die Selbsttechnologien, als "Künste
der Existenz" verstanden, sich auf keine transzendente Norm beziehen? In-
wiefern sind die Stilkriterien, nach denen sich das ethische Verhalten gestal-
tet, immanent? Ist es ein Zufall, dass die Selbsttechnologien ästhetisch ge-
kennzeichnet sind? Trotz des Versuches, eine ethische Alternative zur kanti-
schen Moral hermeneutisch rekonstruieren zu wollen, bleibt Foucault Kant
zumindest in zwei Hinsichten verpflichtet. Erstens durch die Kennzeichnung
232 Rita Casale

der Ethik als Feld, in dem der Mensch zum Subjekt des eigenen Selbst, zum
"mündigen" Individuum wird (vgl. dazu Rieger-Ladich 2002: 361 uJ.). Das
Individuum, das regieren will bzw. das politisch handeln will, solle nicht auf
erkenntnistheoretischem sondern auf ästhetischem Wege Herr seiner selbst
werden. Zweitens ist die ästhetische Immanenz der Selbsttechnologien nach
dem Modell der Autonomie des Geschmacksurteils bei Kant gedacht. Wie in
Kants Kritik der Urteilskraft ist auch bei Foucault die allgemeine Gültigkeit
der ästhetischen Urteile nicht durch den Rückgriff auf Ideen, Normen und
Begriffe zu begründen.
Aus dem Hauptpostulat der modemen Ästhetik, der Autonomie des äs-
thetischen Urteils, macht Foucault den Kern einer ethischen Aufklärung bei
den Stoikern und den flühen Christen. Im Hinterkopf hat er Kants Kritiken
und vor den Augen Burckhardts Renaissanceideal der Existenz als Kunst-
werk (vgl. Foucault 1984: 18; 1983: 410). Aber er setzt sich weder mit Kants
Texten noch mit den ästhetischen Schriften der Renaissance auseinander.
Weil diese Konfrontation fehlt, bleibt unklar, welche Bedeutung der Imma-
nenz in den sogenannten Künsten der Existenz zukommt. In welchem Sinn
sind die Stilkriterien immanent, nach denen das Subjekt sein Leben als
Kunstwerk zu gestalten hat? Sind sie rein subjektiv? Wenn ja, sollte man
dann erläutern, inwiefern sie eine ethische Bedeutung haben können. 6 Eine
weitere Folge der fehlenden Konfrontation mit den Texten des Zeitalters der
ästhetischen Moral par excellence ist eine Unterschätzung der historischen
Konjunkturen, in denen die Verkopplung von Ästhetik und Moral sowohl ei-
ne politische Bedeutung als auch eine epistemische Relevanz gehabt hat.
Im Gegensatz zu Foucaults Idealisierung einer ästhetischen Ethik bei den
Antiken werde ich im Folgenden versuchen, eine Genealogie des modemen
Geschmacks bzw. der ästhetischen Theorie zu skizzieren. Die Problematisie-
rung des neuzeitlichen Begriffs des Geschmacks stellt dabei eine Möglichkeit
dar, die Bedeutung der ästhetischen Immanenz zu fassen. Ich werde mich zu-
erst auf seine Thematisierung im Moment seiner höchsten Deutlichkeit, was
seine Begrifflichkeit angehe, konzentrieren. Dann werde ich auf einen Text
hinweisen, der eine entscheidende Rolle für die Entstehung der modemen
Geschmackstheorie gespielt hat. Dass es sich bei der Genealogie des Ge-
schmacks um Praktiken der Subjektivierung handelt, werde ich versuchen
klar zu stellen, indem ich sowohl die ethische als auch die erzieherische Be-
deutung der modemen Ästhetik zeige.

6 Solche Fragen müssen sich demjenigen aufdrängen, der sich nicht gleich von dem pu-
ren Klang des Wortes Immanenz beeindrucken lässt, das in den letzten Jahren in be-
stimmten intellektuellen und politischen Szenen eine ungeahnte Suggestivkraft ent-
wickelt hat (vgl. Agamben 1996; HardtINegri 2002: 84 u. f.).
7 Ich distanziere mich von den Analysen von Rudolph Lüthe und Martin Fontius ganz
entschieden, denen zufolge die modeme Bedeutung des Geschmacks ein Ergebnis der
ästhetischen Diskussion während der Aufklärung sei (vgl. LüthelFontius 2001 792).
Was Kant und Baumgarten begrifflich fixieren, ist etwas, dessen Entstehungsprozess
ab dem 16. Jahrhundert verfolgt werden kann (vgl. dazu auch Frackowiak 1994)
Genealogie des Geschmacks 233

3. Die Verbindlichkeit des Ästhetischen


In der ästhetischen Forschung wird die Entstehung der Geschmackstheorie
gerne in die Zeit der Aufklärung verlegt (vgl. u.a. LütheIFontius 2001). Diese
sachlich unhaltbar späte Datierung erklärt sich aus der Verwechslung des
Entstehungsprozesses frühneuzeitlicher ästhetischer Überlegungen mit ihrer
Formalisierung in einer Wissenschaft bei Baumgarten und Kant in der zwei-
ten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Sowohl Baumgarten als auch Kant defInieren
die Ästhetik als Wissenschaft der EmpfIndungen und der subjektiven Er-
kenntnis, deren Urteilsvermögen der Geschmack ist. In der Metaphysica
(1739) und in der Aesthetik (1750-1758) von Baumgarten gibt es eine dop-
pelte DefInition von Ästhetik. Die Ästhetik ist zugleich, gemäß der rhetori-
schen und poetischen Tradition, "Theorie der sinnlichen Darstellung" und, das
ist neu, "Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis" (Baumgarten 1983: 79).
Baumgartens DefInition der Ästhetik bestätigt zwar die frühneuzeitliche
Entdeckung der epistemologischen Bedeutung der Sinnlichkeit, aber sie er-
fasst noch nicht genau den Grund, weshalb die Sinnlichkeit erkenntnistheo-
retisch von Relevanz sein kann. Was in Baumgartens DefInition der Ästhetik
als Wissenschaft der sinnlichen Darstellung fehlt, ist die Problematisierung
ihrer Verbindlichkeit: Wie soll man aus den Empfmdungen, aus den mannig-
faltigen Eindrücken ein allgemein gültiges Urteil ableiten können?
Kants ästhetische Theorie sucht die Antwort auf genau diese Frage und
vollzieht den Übergang von der wissenschaftlichen Anerkennung der empiri-
schen Mannigfaltigkeit der sinnlichen Eindrücke als Ausgangspunkt der Er-
fahrung zu ihrer wissenschaftlichen Verallgemeinerung. Seine Überlegungen
über die Verbindlichkeit der Ästhetik formalisieren auf einer transzendenta-
len Ebene das frühneuzeitliche Verständnis des Geschmacks. Wie für Ludo-
vico Dolce, Baldassar Castiglione und Gracian ist Geschmack für Kant ein
subjektives Urteil, aber trotzdem verbindlich. Seine Verbindlichkeit ist von
besonderer Art. Sie entsteht aus der Verbindung von verschiedenen Vermö-
gen, Tätigkeiten und Formen der Erkenntnis (vgl. Kant 1790: 15; vgl. dazu:
de Man 1988: 206).
In der Kritik der Urteilskraft wird Kants Definition der Ästhetik auf die
zweite Bestimmung reduziert, die Baumgarten geliefert hatte (Ästhetik als
"Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis"). Kant versucht, eine sinnliche und
subjektive Erkenntnis zu begründen, deren Gültigkeit von der allgemeinen
Verbindlichkeit des ästhetischen Urteils und zwar des Geschmacks garantiert
sein soll. Unter "Geschmack" versteht Kant "das Beurteilungsvermögen ei-
nes Gegenstandes oder einer Vorstellungsart durch ein Wohlgefallen, oder
Mißfallen, ohne alles Interesse. Der Gegenstand eines solchen Wohlgefallens
heißt schön" (Kant 1790: 124). Der Geschmack drückt sein Urteil über das
Schöne aus, ohne auf einen Begriff des Schönen zu verweisen: das Schöne ist
das, was allgemein gefällt, ohne dass der Urteilende weiß warum. Man hat
keinen Begriff, der die allgemeine Gültigkeit des Schönen begründet: "Schön
ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt" (Kant 1790: 134). Es gibt keine
234 Rita Casale

allgemeinen Regeln, die wir heranziehen können, um festzustellen, was ge-


fällt: "Es kann keine objektive Geschmacksregel, welche durch Begriffe be-
stimmte, was schön sei, geben. Denn alles Urteil aus dieser Quelle ist ästhe-
tisch; d.i. das Gefühl des Subjekts, und kein Begriff eines Objekts, ist sein
Bestimmungsgrund. Ein Prinzip des Geschmacks, welches das allgemeine
Kriterium des Schönen durch bestimmte Begriffe angäbe, zu suchen, ist eine
fruchtlose Bemühung, weil, was gesucht wird, unmöglich und an sich selbst
widersprechend ist" (Kant 1790: 149). Das Allgemeine des Geschmacks tritt
immer an dem Urteil über ein Besonderes hervor. Der Geschmack formuliert
ein besonderes Urteil.
Es ist nicht das Urteil eines autonomen Erkenntnisvermögens. Im Unter-
schied zum Verstand besitzt die Einbildungskraft (das Vermögen des Ge-
schmacks) keine eigenen Begriffe. Im Unterschied zur Vernunft hat die Ein-
bildungskraft keine eigenen Ideen. Die Tatsache, dass das ästhetische Urteil
keine allgemeine Idee und keinen Begriff zur Voraussetzung hat, unterschei-
det es von den Urteilen der Vernunft und des Verstandes. Im Rahmen der
kantischen Systematik beurteilen Verstand und Vernunft auf eine autonome
Weise. Die Vernunft urteilt ausgehend von den eigenen Ideen. Der Verstand
urteilt mit seinen Begriffen. Trotz der Tatsache, dass die Einbildungskraft
keine eigenen Begriffe und keine eigenen Ideen besitzt, liefert sie uns durch
ihre Urteile (die Urteile des Geschmacks) Erkenntnis. Aber damit ein Urteil
über das Schöne formuliert werden kann, ist es notwendig, dass Einbildungs-
kraft und Verstand zusammenspielen: Die Einbildungskraft synthetisiert das
Mannigfaltige der Anschauung, der Verstand liefert in einem Begriff die
Einheit der Vorstellung. Der Begriff des Verstandes aber subsumiert nicht
das Mannigfaltige der Anschauung. Wenn wir den Eindruck haben, dass je-
mand oder etwas schön ist, sind die Bestimmungen, auf denen ein solches
Urteil beruht, nicht durch einen Begriff des Schönen vorgegeben. Die Syn-
these des mannigfaltigen Materials der Anschauung unter einen Begriff reali-
siert sich nach Kant in einem "freien Spiel". Vor dem Schönen sind Einbil-
dungskraft und Verstand einverstanden, ohne ein drittes Element zu brauchen.
In der "Analytik des Schönen" beabsichtigt Kant, die allgemeine Gültig-
keit des Geschmacks nach seiner Qualität, seiner Quantität, seiner Relation
und seiner Modalität zu begründen. Die Modalität des Schönen ist die Art, in
der sich die allgemeine Gültigkeit des Schönen zeigt. Diese allgemeine Gül-
tigkeit ist aufgrund eines "Gemeinsinns" möglich. Der Gemeinsinn wird zur
Bedingung der Verbindlichkeit des Geschmacks (Kant 1790: 157). Das Wort
"Gemeinsinn" impliziert etwas Kollektives. Die Interpretation des Gemein-
sinnes ist von Kant nicht seinen Lesern überlassen worden. Er spezifiziert
seine Natur: er ist nicht nur ein Gefühl, sondern ein "gemeinschaftliches" Ge-
fühl. 8 Das Allgemeine ist von der Gemeinschaft abgeleitet. Mit einer zwei-
deutigen Formulierung könnte man den kantischen Text dahingehend zuspit-

8 Für die Aporien dieser Formulierung innerhalb der kantischen Systematik vgl. Lyo-
tard (1994) und Scheer (1997).
Genealogie des Geschmacks 235

zen, dass der Gegenstand der Ästhetik ist, was allgemein (bzw. gemein-
schaftlich) gefallt.
Wenn man den Text von hinten liest und dem vierten Moment der Ana-
lytik des Schönen logische und historische Priorität zurechnet, erschließt sich
leichter, was Kant mit der Qualität, der Quantität und der Relation des Schö-
nen meint. Er versteht darunter die Tatsache, dass das Urteil über das Schöne
unabhängig von einem besonderen Interesse gefallt wird (Qualität: interes-
seloses Wohlgefallen); die Tatsache, dass die allgemeine Gültigkeit des
Schönen einem Begriff nicht subsumiert ist (Quantität: "Schön ist das, was
ohne Begriff [unmittelbar, R. C.] allgemein gefallt") und die Unabhängigkeit
des Schönen von einem bestimmten Zweck (Relation: zwecklose Zweckmä-
ßigkeit).
Die Betrachtung des Gemeinsinnes als Voraussetzung der Analytik des
Schönen impliziert eine Historisierung des Transzendentalen. Die allgemeine
Gültigkeit ist dann als historisches Produkt zu begreifen und die Analytik des
Schönen in eine historische Genealogie des Geschmacks zu verwandeln. De-
ren Ziel sollte die Analyse der politischen und historischen Bedingungen
sein, unter denen der Geschmack zu praktischer Vernunft, zum regulativen
Kriterium des Handeins geworden ist. Ihr Ausgangspunkt sollte die Untersu-
chung der spezifischen historischen und theoretischen Form sein, in der der
Geschmack für die ethische Sphäre entscheidend wird. Er funktioniert als die
unsichtbare und dennoch normative Ordnungskategorie der Praxis einer Ge-
sellschaft, die sich als "gute Gesellschaft" definiert. Der Geschmack fungiert
sowohl als Kriterium für Ausschließung als auch für Integration. Als Aus-
schließungskriterium entscheidet er darüber, ob ein Individuum dazugehören
kann oder nicht. Als Integrationsprogramm definiert er die Erziehungsrnaß-
nahmen, dank deren ein Individuum zum Mitglied der guten bzw. der Bil-
dungsgesellschaft wird. Insofern wird der Geschmack zum "politischen Ima-
ginären" (vgl. Schäfer 2002) der Erziehung. Als solches stellt er zugleich ih-
ren normativen Horizont und ihr Ziel dar. Die Normativität des Geschmacks
ist von besonderer Art. Wie schon in der Analyse des Geschmacksurteils bei
Kant festgestellt worden ist, hängt seine Verbindlichkeit von keiner Idee und
von keinem Begriff ab. Sie ist pragmatischer Natur bzw. ist immanent, aber
nichtsdestotrotz rein subjektiv oder individuell. Sie entsteht aus der Kreuzung
nicht nur verschiedener Vermögen, sondern auch unterschiedlicher Bereiche.
Wissenschaftliche Entwicklungen, politische Formen, religiöser Glaube und
moralische Vorstellungen einer Zeit finden ihr Echo im Geschmack einer
Epoche.
Wegen dieser Verbindung von Epistemologie, Moral und Politik eignet
sich die Genealogie des Geschmacks in besonderer Weise dazu, die histo-
risch immanente Normativität der Erziehung zu problematisieren. Als Pra-
xis, die das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft zu regulieren
beabsichtigt, hat die Erziehung mit den Formen der wissenschaftlichen, der
praktischen und der ästhetischen Vernunft implizit oder explizit immer zu
tun.
236 Rita Casale

Es lohnt sich, wie schon für die Analyse des Geschmacksurteil, so auch
für die Erziehung zum Geschmack, sich zuerst mit ihrer Formulierung im
Moment ihrer begrifflichen Codierung auseinander zu setzten. In Schillers
Überlegungen über die ästhetische Erziehung zeigt sich auf einer begriffli-
chen Ebene, inwiefern Kants ästhetische Theorie für die Erziehung program-
matisch wird.

4. Die ästhetische Erziehung und ihre Regel


Trotz der Unterschiede zu Kants Philosophie, die Schiller schon am Anfang
seiner Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) betont,
bewahrt er zwei Aspekte der kantischen Ästhetik: die Ästhetik handelt von
der Beurteilung des Schönen auf Basis des Geschmacks und das ästhetische
Urteil verbindet verschiedene Formen, Tätigkeiten und Vermögen der Er-
kenntnis. Auch bei Schiller besteht die Autonomie des Ästhetischen in seinen
Ergebnissen und nicht in seinen Voraussetzungen. Mit Schiller bekommt die
kantische Ästhetik einen programmatischen Aspekt: die Schönheit wird zur
Bedingung der menschlichen Glückseligkeit. Sie ist promesse du bonheur
und als solche Zweck der ästhetischen Erziehung. Um die Schönheit zu errei-
chen, ist es notwendig den Geschmack zu bilden, das Empfindungsvermögen
raffinierter zu machen: "Ausbildung des Empfindungsvermögens ist [ ... ] das
dringende Bedürfnis der Zeit, nicht bloß weil sie ein Mittel wird, die verbes-
serte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil
sie zu Verbesserung der Einsicht erweckt" (Schiller 1795: 31).
Die ästhetische Erziehung ermögliche, dass der Mensch zum Menschen
werde, dass der Mensch als sinnliches Wesen sich zur Menschheit erhebe. An
sich sei die Menschheit nicht gegeben, vielmehr müsse man zur Menschheit
erziehen. Die einzige Erziehung, die in der Lage ist, einen solchen Zweck zu
erreichen, ist die Erziehung des Geschmacks bzw. zur Schönheit: ,,[D]ie
Schönheit müßte sich [ ... ] als eine notwendige Bedingung der Menschheit
aufzeigen lassen" (Schiller 1795: 41).
Was versteht Schiller unter Erziehung zur Schönheit? Wie ist sie zu rea-
lisieren? Sie ist als eine "ästhetische Formalisierung" (vgl. de Man 1988) zu
verstehen, die nach der Erwerbung einer zweiten Natur strebt, die vollkom-
mener als die erste ist. 9 Bei Schiller reicht nicht die erste Natur, um glücklich
zu sein. In der Tat ist der Wilde ein Sklave. Der Mensch wird erst glücklich,
wenn er dank der Kunst des Scheins in der Nachahmung der Natur sie selbst
überwindet. Die Kunst des Scheins bzw. die "ästhetische Formalisierung"
wird durch eine Reihe von Übungen erworben. Solche Übungen sollen bis zu
dem Punkt wiederholt werden, an dem ihre Ausführung ein Spiel wird. Erst

9 Auf den Begriff der zweiten Natur hat sich Meyer-Drave (2001) bezogen, um den Zu-
sammenhang zwischen Macht und Erziehung zu erläutern.
Genealogie des Geschmacks 237

in diesem Spiel kann sich der Mensch für Schiller frei verhalten. Die zweite
Natur ist im Sinne Foucaults das Ergebnis bestimmter Praktiken bzw. Tech-
nologien, die eine sich am guten Geschmack ausrichtenden Erziehung aus-
machen.
Der gut erzogene Mensch bewegt sich mit Leichtigkeit und Eleganz.
Anmutig ist sein Auftreten. Würdig ist sein Verhalten. Seine Souveränität
kollidiert nicht mit dem Gemeinwohl. Vielmehr genießt er die allgemeine
Gunst, weil er deren Ideal verkörpert.
Ist dieses Bild des geschmackvollen Menschen als ein Ideal der Aufklä-
rung zu betrachten? Das hängt von der Perspektive ab, in der die Geschichte
der ästhetischen Erziehung bzw. die Geschichte der Praktiken der ästheti-
schen Inszenierungen betrachtet wird. Folgt man der Sichtweise der kanoni-
sierten Bildungsgeschichte, ist die Geschichte der ästhetischen Erziehung
durch den Dreischritt Kant-Schiller-Herbart charakterisiert (vgl. Benner
1997: 17-40). Kant habe die Prämissen für das Programm einer ästhetischen
Erziehung entworfen, deren Ziel die pädagogische Willens bildung sei. Aber
in den kantischen Schriften bleiben Moral und Ästhetik noch analytisch ge-
trennt. Erst Schiller habe in der ästhetischen Erziehung das moralische Po-
tential der Ästhetik Kants entdeckt und damit die praktische Vernunft von ih-
rem Pflicht- bzw. Normcharakter befreit. Schließlich habe Herbart den Be-
griff des Ästhetischen über denjenigen des Kunst-Schönen hinaus ausgedehnt
und die ästhetische Erziehung in den Dienst der transzendentalen Moralität
(vgl. Herbart 1804) gestellt.
Diese Interpretation scheint mir zu geistesgeschichtlich und zu wenig hi-
storisch. Herbart würde einen Prozess zur Vollendung bringen, der mit Kant
begonnen und von Anfang an auf die Identifikation des Ästhetischen mit der
transzendentalen Moralität gezielt habe. Aber woher kommt diese Verknüp-
fung zwischen Moral und Ästhetik? Worauf reagieren zuerst Kant und dann
Schiller?
Die Antwort auf diese Fragen wird man kaum in Kants systematischen
Schriften finden. Denn ihr Anliegen ist zweifelsohne nicht historischer Art.
Allerdings gibt er in seinen letzen Schriften über Anthropologie und Pädago-
gik einige interessante Hinweise bezüglich des diskursiven Kontextes, inner-
halb dessen er seine Geschmackstheorie formuliert. In diesen Werken setzt
sich Kant explizit mit jener höfischen Tradition der vorherigen Jahrhunderte
auseinander, die am Geschmack dessen soziale Verbindlichkeit hervorgeho-
ben hat. 10 Kant rezipiert sie, um sie zu negieren. Sie stelle eine Vorstufe einer
allgemein gültigen Moral dar. Ihr Ziel sei eine Kultivierung der Gesellschaft,
die in ihrer höchsten Phase zum Zivilisierungsprozess beigetragen habe.
Merkmale einer zivilisierten Gesellschaft seien eine gewisse Vertrautheit mit

10 Hier ist die häfische Literatur über Geschmack gemeint, die insbesondere im Italien
des 16. und im Frankreich des 17. Jahrhunderts eine moralische Wirkung sowohl in-
nerhalb als auch außerhalb des Hofes erzeugt (vgl. dazu: Casale 2003).
238 Rita Casale

der Kunst des Scheins und die Abhängigkeit des Geschmacks von den Ge-
bräuchen der Zeit und von den Umständen des Ortes (vgl. Kant 1803: 707).
Der disziplinierenden und der ästhetischen Kultivierung der Gewohn-
heiten solle eine Moralisierung der Sitten folgen, deren Kern die Unabhän-
gigkeit von Ständen und Umständen sei (vgl. Kant 1803: 707). In dieser Dar-
stellung des Übergangs von der höfischen Ethik des Ancien Regime zu der
Moral der Aufklärung skizziert Kant die neuzeitliche Entwicklung der Mo-
ralerziehung bzw. der Erziehung zum guten Geschmack. Was in dieser Ent-
wicklung konstant bleibt, ist die ethische Verbindlichkeit des Geschmacks
und die Anmut als Ziel der Erziehung zum guten Geschmack. Was sich än-
dert, ist die begriffliche Legitimation der allgemeinen Gültigkeit des Ge-
schmacks und das daraus folgende Verständnis der ästhetischen Erziehung.
Bei dem Versuch eine Genealogie der neuzeitlichen ethischen Funktion
des Geschmacks zu skizzieren, kommt man an Illibro deI Cortegiano (1528)
von Baldassar Castiglione nicht vorbei. Der Grund dafür ist systematischer,
nicht nur historischer Natur - das Buch erlangte außerordentliche Bekannt-
heit im Europa des 16. und des 17. Jahrhunderts. lI Das Buch von Castiglione
führt die "regula generalissima" der Erziehung zum guten Geschmack ein. Es
stellt eine Art Archetypus für die neuzeitliche Verknüpfung von Ethik, Äs-
thetik und Erziehung dar, weil es die ästhetische grazia (die Anmut) zum
ethischen Handlungsprinzip und zum Bildungsideal macht.
Das Ziel des Buches besteht darin, die Erziehung des vollkommenen
Hofmanns bzw. eines Hofmannes, der sich mit Geschmack verhält, zu be-
schreiben. An vier aufeinanderfolgenden Abenden des Jahres 1507 versam-
melt der Autor eine Hofgesellschaft am Hof von Urbino, in deren Gesprächen
sich seine Gedanken entfalten. Am ersten Abend (I. Buch) geht es vor allem
darum, die allgemeine Regel zu definieren, die das Benehmen des Hofmanns
zu bestimmen hat. Am zweiten Abend (11. Buch) soll untersucht werden, wie
sich der Hofmann in der Konversation verhalten sollte. Am dritten Abend
(Ill. Buch) ist die Rede vom Verhältnis zwischen dem perfekten Hofmann
und der perfekten Hofdame und von deren Unterschieden. Schließlich wird
am letzten Abend (IV. Buch) darüber gesprochen, was der Hofmann zu be-
rücksichtigen hat, wenn er ein guter Instrukteur des Prinzen sein will.
Auch Castiglione geht schon, wie später Kant und Schiller, von der Ver-
bindlichkeit des Geschmacksurteils aus. Aber im Unterschied zu ihnen ver-
steckt er nicht die Paradoxa, die eine solche Verbindlichkeit enthält, weil er
bei seinem Versuch, sie aufzulösen, nicht auf eine transzendentale Ebene re-
kurriert. Er denkt die allgemeine Gültigkeit des Geschmacks nur historisch:
Zum einen gilt sie allgemein nur in Bezug auf bestimmte Kontexte. Zum an-

11 Für die europäische Wirkung des Buchs Castigliones vgl. Peter Burke (1989 und
1995). Bis 1618 gab es 110 Ausgaben des 11 Libro dei Cortegiano (60 in Italien und
50 in anderen Länder). Unter dem Eindruck von Castigliones Werk wurden 1418
Traktate über den Hofmann in Europa bis zur zweiten Hälfte des 17. Jahrhundert ge-
schrieben.
Genealogie des Geschmacks 239

deren wird sie von einer sozialen Haltung abhängig gemacht, die nicht den
Anspruch hat, als moralische Tugend zu gelten.
Die theoretische Widersprüchlichkeit der Argumentation und des Vorha-
bens von Castiglione kommt schon in der Widmung an Messer Alfonso
Ariosto zum Ausdruck, in der explizit erklärt wird, dass ,,il perfetto cortegia-
no" nur derjenige genannt werden kann, der "la forma piu conveniente" (der
angemessensten Form) der Höflichkeit entspricht. Das Paradox besteht darin,
dass der vollendete Hofmann formiert werden soll, ohne ein normatives Kri-
terium (einen Begriff oder eine Idee würden wir mit Kant sagen) zu haben, an
dem das Gelingen des Unternehmens gemessen werden kann. Denn bei der
Defmition der Norm werde man mit zwei Problemen konfrontiert. Das erste
resultiere aus der Mannigfaltigkeit der Gebräuche oder dem Relativismus der
Sitten. Das zweite betreffe die Geltung der Norm, ob sie rationalen oder kon-
ventionellen Charakter hat: "Denn die Gewohnheit läßt uns oft dasselbe so-
wohl gefallen als auch mißfallen: Daher kommt es zuweilen vor, dass Sitten,
Gewohnheiten, Gebräuche und Manieren, die eine Zeitlang hoch geschätzt
wurden, für häßlich erachtet und die häßlichen im Gegenteil geschätzt wer-
den. Daraus wird klar ersichtlich, dass die Gewohnheit mehr als die Vernunft
die Kraft hat, Neues bei uns einzuführen und Altes abzuschaffen; wer die
Vollkommenheit solcher Dinge zu beurteilen sucht, täuscht sich oft" (Castig-
lione 1528: 14).
Castiglione weiss, dass er das Paradox von varietas und veritas (hier als
Norm verstanden) nicht systematisch bzw. nicht durch den Hinweis auf ra-
tionale Prinzipien lösen kann. Die Qualitäten, die einem vollkommenen Hof-
mann zukommen müssen, sind unterschiedlich und noch unterschiedlicher ist
ihre Interpretation.
Trotz der Anerkennung dieser Mannigfaltigkeit ist Castiglione, der die
Hofgesellschaft für sich sprechen lässt, überzeugt, dass es etwas gibt, das
dem Hofmann nie fehlen darf: der Adel. Jedoch kann die Hofgesellschaft sich
bei der Unterhaltung des ersten Abends über die Bedeutung des Adels, ob er
eher sozialer oder moralischer Natur sei, nicht einigen. Aber sie hat keine
Mühe, Übereinstimmung hinsichtlich seiner Kennzeichen zu erlangen. Die
Vornehmheit sei eine Haltung, die ermögliche, zugleich stolz und angenehm,
distanziert und bescheiden, scharfsinnig und leicht zu sein.
Offenbar lässt sich der vollkommene Hofmann nur durch ein Oberflä-
chenphänomen charakterisieren: Die grazia. Sie charakterisiert die Art, wie
der Hofmann die Waffen benutzen müsse, wie er tanzen dürfe, wie er spre-
chen und schreiben solle und sich mit den Frauen zu unterhalten habe.
Die "grazia" ist das Ergebnis einer gelungenen Dissimulation, der ver-
gessenen Mühe. Sie ist das Spiel der Leichtigkeit. Ihr gefährlichster Feind sei
die aJfettazione (Geziertheit, Künstelei): die Unfähigkeit, die Gewalt und die
Last der Leichtigkeit zu verstecken; die Unfähigkeit, lügend die Wahrheit zu
sagen. Bei ihrem Versuch, die grazia näher zu definieren, um ihre universelle
Regel (regula universalissima) zu formulieren, hatte die Hofgesellschaft sys-
tematisch keine andere Möglichkeit, als sie an ihrem Dissimulationscharakter
240 Rita Casale

festzumachen. Der Ausdruck dafür ist: "sprezzatura": "Da ich aber schon
häufig bei mir bedacht habe, woraus die Anmut entsteht, bin ich immer,
wenn ich diejenigen beiseite lasse, die sie von den Sternen haben, auf eine
allgemeine Regel gestoßen, die mir in dieser Hinsicht bei allen menschlichen
Angelegenheiten, die man tut oder sagt, mehr als irgendeine andere zu gelten
scheint: nämlich so sehr man es vermag, die Künstelei als eine rauhe und ge-
fährliche Klippe zu vermeiden und bei allem, um vielleicht ein neues Wort zu
gebrauchen, eine gewisse Art von Lässigkeit anzuwenden, die die Kunst ver-
birgt und bezeigt, dass das, was man tut oder sagt, anscheinend mühelos und
fast ohne Nachdenken zustanden gekommen ist" (Castiglione 1528: 53).
"Sprezzatura" bedeutet nonchalance, neglicence, Sorglosigkeit. Sie ist
die Dissimulation mittels der Kunst und als solche Ziel der ästhetischen Er-
ziehung. Die Künste des Hofmanns werden zum unverzichtbaren Instrument,
um die zum Leben nötige Anstrengung zu maskieren, um Leichtigkeit zu si-
mulieren und die Unvollkommenheit des Lebens als natürliches Phänomen
zu überlisten.

5. Schlussbemerkungen: Der coole Ästhet


Was maskiert Foucault, wenn er die Pose eines Stoikers annimmt und die
Kleider eines christlichen Asketen anzieht? Was versteckt sich unter dem
ästhetischen Minimalismus der Sorge um sich? Glaubt der Historiker des
Anderen der Vernunft wirklich, dass die Weisheit bzw. die Selbstregulierung
der Leidenschaften den Platz der Ethik einnehmen könnte?
Der Stoizismus drückt in seinen verschiedenen historischen Formen - es
sei hier nur exemplarisch an den römischen Stoizismus der Imperialzeit und
an den christlichen Stoizismus in der Zeit des Absolutismus von Ludwig
XIV. erinnert - den Versuch des Einzelnen aus, trotz der Übermacht des Im-
periums oder des Hofes seine geistige Autonomie zu behaupten; wenn es sein
musste, mit extremen Mitteln wie Selbstmord oder Askese. Aber schon die
französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts wussten, dass die stoische
Autonomie von den Leidenschaften nichts anders als eine Maske sei. Sie er-
laube dem Weisen, am Hof unverdächtig zu verkehren.
Foucault aber geht einen Schritt weiter als die Stoiker. Er negiert nicht
einfach die Leidenschaften, sondern plädiert für ihre Ästhetisierung nach dem
Modell eines Kunstwerks und zwar nach den Regeln des guten Geschmacks
- oder im Falle Foucaults genauer gesagt: mit StiL
Ist aber meine Skizzierung einer neuzeitlichen Genealogie des Ge-
schmacks auch nur teilweise gelungen, sollte deutlich geworden sein, dass
das Geschmacksurteil trotz seines subjektiven Charakters allgemein verbind-
lich ist. Seine Verbindlichkeit ist sicher nicht transzendenter Natur. Damit hat
Foucault zweifelsohne Recht. Aber ihre Immanenz ist nur durch eine Prag-
matik zu erläutern, die ihre politischen, epistemologischen und ethischen
Genealogie des Geschmacks 241

Komponenten entziffert und analysiert. Insofern lassen sich der Solipsismus


der stoischen Ethik und der christlichen Askese mit der sozialen Eitelkeit des
Ästheten, mit seinem Streben nach allgemeiner Gunst schlecht vereinbaren.
Es gäbe dennoch eine Möglichkeit für ihn: die coole Maskerade des zeitge-
nössischen Ästheten. Seine Askese ist sicher nicht der Ausdruck einer sub-
jektiv gewollten Selbstregulierung, sondern der einer sozialen Strategie, dank
deren er sich anonym, flexibel und sehr leicht in den großen Städten des 21.
Jahrhunderts, niemanden störend und allen gefallend, bewegen kann. Es wäre
in einem anderen Kontext sicher interessant, der coolness Gewicht zu verlei-
hen und ihre vermeintliche Schlichtheit zu demaskieren. Wäre das nicht ein
weiteres Kapitel der modemen Genealogie des Geschmacks - und damit auch
ein Beitrag zur Ontologie der Gegenwart?

Literatur

Agamben, Giorgio (1996): L'immanenza assoluta. In: aut aut, N. 276, S. 39-58.
Baumgarten, Alexander G. (1983): Texte zur Grundlegung der Ästhetik (Hrsg. von H. R.
Schweizer). Lateinisch-Deutsch. Hamburg: Meiner.
Benner, Dietrich (1997): Johann Friedrich Herbart. Systematische Pädagogik. Bd. 2: Inter-
pretation. Weinheim: Juventa.
Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. FrankfurtlMain:
Suhrkamp.
Casale, Rita (2001): Die Verwandlung der Philosophie in eine historische Diagnostik der
Differenzen. In: HeJma LutzlNorbert Wenning (Hrsg.): Unterschiedlich verschieden.
Differenzen in der Erziehungswissenschaft. Opladen: Leske + Budrich, S. 25-46.
Casale, Rita (2003): Anstand und Leidenschaften in der französischen Moralistik.In: Zeit-
schrift für pädagogische Historiographie. Nr. 2, S. 90-100.
Deleuze, Gilles (1969): Logique du sens. Paris: Minuit.
Deleuze, Gilles/FeJix Guattari (1991): Qu'est-ce que la philosophie? Paris. Deut. Übers.:
Was ist Philosophie? Aus dem Französischen von Bemd Schwibs und Joseph Vogl.
FrankfurtIMain: Suhrkamp 2000.
De Man, Paul (1988): Ästhetische Formalisierung: Kleists Über das Marionettentheater.
In: Ders.: Allegorien des Lesens. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 205-231.
Derrida, Jacques (1967a): La voix et le phenomene: introduction au probleme du signe dans la
phenomenologie de Husserl. Paris. Deutsche Übers.: Die Stimme und das Phänomen:
Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls. Aus dem
Französischen von Hans-Dieter Gondek. FrankfurtlMain: Suhrkamp 2003.
Derrida, Jacques (1967b): L' ecriture et la difference. Paris. Deut. Übers.: Die Schrift und die
Differenz. Aus dem Franz. von Rodolphe Gasche. FrankfurtlMain: Suhrkampl992.
Jacques Derrida (1967c): De la grammatologie. Paris. Deut. Über.: Grammatologie. Aus
dem Franz. von Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler. FrankfurtIMain: Suhrkamp
1994.
Derrida, Jacques (1972): La dissemination. Paris. Deut. Übers. Hrsg. von Peter Engelmann.
Übersetzung von Hans-Dieter Gondek. Wien: Passagen 1995.
Foucault, Michel (1963): Raymond Roussel. Paris: Gallimard.
Foucault, Michel (1966a): La Pensee du dehors. In: Ders.: Dits et ecrits. I. Paris: Gallimard
1994, S. 518-549.
Foucault, Michel (1966b): Les mots et les choses. Paris. Deut. Übers.: Die Ordnung der
Dinge. Aus dem Franz. v. U. Köppen. FrankfurtlMain: Suhrkamp 1974.
242 Rita Casale

Foucault, Michel (1971): "Nietzsche, la genealogie, l'histoire". In: Hommage a Jean Hyp-
polite. Paris. Deut. Übers. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Bd. H. FrankfurtIMain:
Suhrkamp 2002, S. 1003-1041.
Foucault, Michel (1981-1982): L'hermeneutique du sujet. Paris: Gallimard-SeuiI2001.
Foucault, Michel (1983): Apropos de la genealogie de l'ethique: un apercu du travail en
cours". In: Dits et ectrits. IV. Paris: Gallimard 1994, S. 383-411.
Foucault, Michel (1984): L'usage des plaisirs. Paris. Deut. Übers.: Der Gebrauch der Lüs-
te. Aus dem Französischen von Ulrich Raulff und Walter Seitter. FrankfurtlMain:
Suhrkamp 1986.
Frackowiak, Ute (1994): Der gute Geschmack. Studien zur Entwicklung des Geschmacks-
begriffs. München: Fink.
Hardt, MichaellAntonio Negri (2002): Empire. FrankfurtIMain und New York: Campus.
Heidegger, Martin (1941a): Die Metaphysik als Geschichte des Seins. In: Ders.: Nietzsche.
Bd. 2. Pfullingen: Neske 1961, S. 399-457.
Heidegger, Martin (1941b): Entwürfe zur Geschichte des Seins als Metaphysik. In: Ders.:
Nietzsche. Bd. 2. Pfullingen: Neske 1961, S. 458-480.
Heidegger, Martin (1941c): Die Erinnerung in die Metaphysik. In: Ders.: Nietzsche. Bd. 2.
Pfullingen: Neske 1961, S. 481-490.
Heidegger, Martin (1962): Zeit und Sein. In: Ders.: Zur Sache des Denkens. Tübingen:
Niemeyer 1969, 1-25.
Herbart, Johann Friedrich (1804): Über die ästhetische Darstellung der Welt als das Haupt-
geschäft der Erziehung. In: Dietrich Benner (Hrsg.): Johann Friedrich Herbart. Syste-
matische Pädagogik. Weinheim: Juventa 1997, S. 47-63.
Lyotard, Jean-Fran~ois (1994): Die Analytik des Erhabenen. München: Fink.
Lüthe, RudolphIMartin Fontius (2001): GeschmackiGeschmacksurteil. In: Karl Heinz
Barck et al. (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Band 2. Stuttgart und Weimar:
Metzler, S. 792-819.
Kant, Immanuel (1790): Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe. Hrsg. von W. Weischedel.
FrankfurtiMain: Suhrkamp 1968.
Meyer-Drave, Käte (2001): Erziehung und Macht. In: Vierteljahrschrift für wissenschaftli-
che Pädagogik 77, S. 446-457.
Nigro, Roberto (2003): Spiele der Wahrheit und des Selbst zwischen Macht und Wissen.
Unveröffentlichtes Manuskript. Berlin.
Rieger-Ladich, Markus (2002): Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur pädago-
gischen Semantik. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.
Schäfer Alfred (2002): Imaginary Horizons of Educational Theory. Unveröffentlichtes
Manuskript. Halle.
Scheer, Brigitte (1997): Einführung in die philosophische Ästhetik. Darmstadt: Wissen-
schaftliche Buchgesellschaft.
Schiller, Friedrich (1795): Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Stuttgart: Reclam
1965.
Ludwig A. Pongratz

Freiwillige Selbstkontrolle. Schule zwischen


Disziplinar- und Kontrollgesellschaft

1. PISA als gouvernementale Strategie


Wenn vor wenigen Jahren der Name ,Pisa' fiel, dann dachten die meisten
vermutlich an den ,schiefen Turm' als Attraktion für Italienurlauber. Wenn
heute von ,PISA' die Rede ist, dann kommt als erstes die Schieflage des
deutschen Bildungssystems in den Sinn. Die bislang vorliegenden Ergebnisse
der internationalen Langzeitstudie PISA (Programme for International Stu-
dent Assessment; vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001) irritieren die bil-
dungspolitische Landschaft in einem Ausmaß, das seinesgleichen sucht. Kei-
ne andere empirische Untersuchung zum deutschen Schulsystem konnte so
viel öffentliche Resonanz verbuchen. Die Flut von Diskussionen, Kontrover-
sen und Reformplänen, die PISA nach sich zieht, ruft Erinnerungen an frühe-
re Krisenszenarien wach: vor allem an die ,Bildungskatastrophe', mit der
Picht in den 1960er Jahren die deutsche Bildungspolitik wachrüttelte (vgl.
Picht 1964). Die ,Bildungskatastrophe' signalisierte den Beginn eines tief-
greifenden Wandels des deutschen Bildungssystems. Sie findet ihren legiti-
men Nachfolger im ,PISA-Schock' unserer Tage.
Worin aber besteht dieser Schock? Die erste, naheliegendste Antwort
nimmt Bezug auf die Untersuchungsergebnisse selbst: Das ,Volk der Dichter
und Denker' scheint aus seinem bildungspolitischen Halbschlaf aufge-
schreckt worden zu sein. Die trügerische lllusion, das ,Modell Deutschland'
könne sich im internationalen Vergleich als Klassenprimus etablieren, zer-
platzt wie eine Seifenblase, weil die Leistungen deutscher Schülerinnen und
Schüler in den Bereichen Lesen, mathematische Grundbildung und naturwis-
senschaftliche Grundbildung unterhalb des internationalen Durchschnitts lie-
gen. Darüber hinaus ist die Leistungsstreuung in Deutschland besonders groß
und der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Leistung überpro-
portional stark ausgeprägt.
Dieses Ergebnis gibt zweifellos Anlass zu kritischer Selbstprüfung, doch
lässt sich die Hektik und Radikalität der nun eingeleiteten Reformmaßnah-
men daraus allein nicht begründen. Offensichtlich sitzt den Reformstrategen
unterschiedlichster Couleur etwas im Nacken, das in der Lage ist, einen im-
mensen Druck aufzubauen. Dieser Druck fungiert als strategisches Element
innerhalb eines sich derzeit vollziehenden globalen Transformationsprozes-
244 Ludwig A. Pongratz

ses, dessen Schlüsselstellen von unterschiedlichen Organisationen und


Agenturen besetzt sind. Der Verdacht erhärtet sich, dass es nicht (oder zu-
mindest nicht nur) wissenschaftliche Interessen waren, die PISA aus der Tau-
fe hoben. Vielmehr setzten (auf nationaler Ebene) politische Instanzen und
(auf internationaler Ebene) Großorganisationen wie die OECD (Organisation
for Economic Cooperation and Development) die PISA-Studie im Rahmen
ihrer globalen politischen Agenda ins Werk; schon jetzt lässt sich absehen,
dass sie auch weiterhin "nachhaltigen Einfluss auf Fragestellungen und
Durchführung der Untersuchungen" (Lange 2002: 461) nehmen werden. Es
verwundert daher wenig, dass sich hinsichtlich der Privatisierungspolitik und
Sprachregelung bei globalen Institutionen (wie OECD, WTO, Weltbank oder
IWF) allenthalben die gleichen Zielvorgaben wiederfinden lassen. Sie lauten:
Durchsetzung privatwirtschaftlicher Steuerungsprinzipien im öffentlichen
Sektor, betriebswirtschaftliehe Umgestaltung von Bildungs- und Wissen-
schaftsinstitutionen, Einführung von Markt- und Management-Elementen auf
allen Prozessebenen. Die Konsequenzen dieses Transformationsprozesses
lassen sich bereits jetzt in anderen Ländern anschaulich studieren. "Auch
wenn die Resultate im einzelnen unterschiedlich ausfallen - diese drei Ef-
fekte hat die weltweite neoliberalistische Umstrukturierung der Bildung in
jedem Fall: Überall da, wo sie stattfindet, sinken, erstens, die Staatsausgapen
für den Bildungssektor, verschärft sich, zweitens, die soziale Ungleichheit im
Zugang zum Wissen noch einmal drastisch, stellen, drittens, Mittelschicht-
Eltern fest, dass es ihnen gefällt, wenn ihre Söhne und Töchter nicht mehr
zusammen mit Krethi und Plethi die Schulbank drücken müssen" (Lohmann
2002: 103).
Angesichts der problematischen Effekte der mit Macht durchgesetzten
Restrukturierung des Bildungswesens helfen politische Schaukämpfe zwi-
schen neoliberalen Modernisierern und wohlfahrtsstaatlichen Verteidigern öf-
fentlicher Bildung nicht weiter. Im Gegenteil: Die Streitigkeiten erwecken
den Eindruck, als erleide die PISA-Studie das bekannte Schicksal so vieler
Reformprojekte: nämlich von unterschiedlichen Interessen in Dienst genom-
men zu werden, die - je nach Blickwinkel- aus den Untersuchungsergebnis-
sen das herauslesen, was ihnen opportun erscheint. In Anbetracht der globa-
len Strategien aber, in denen bzw. durch die die PISA-Studie ihre Macht ent-
faltet, scheint es angeraten, diesen Blick umzukehren: Es ist die globale stra-
tegische Situation, die mit Hilfe der PISA-Brille unseren Blick kodiert. Denn
der aktuelle Formierungsprozess des Bildungswesens läuft über implizite
Standards, die jeder bereits akzeptiert haben muss, bevor er sich auf eine
kontroverse Diskussion über PISA einlässt. Alle Klagen über das schlechte
Abschneiden Deutschlands und alle gutgemeinten Reformvorschläge, die
Deutschland wieder ,nach vorne' bringen sollen, akzeptieren unter der Hand
die Disziplinarprozeduren, die das globale testing, ranking und controlling in
Szene setzt. Weit davon entfernt, als ,neutrales' Instrument wissenschaftli-
cher Objektivität zu fungieren, setzt PISA eigene Normalitätsstandards. Die
daraus abgeleiteten Reformmaßnahmen verbleiben im Koordinatensystem ei-
Freiwillige Selbstkontrolle 245

nes machtvollen Normalisierungsprozesses, durch den die Disziplinargesell-


schaft ihre Effekte bis in den letzten Winkel des Bildungssystems hinein
verlängert. Dies gilt mutatis mutandis für beide Varianten der Bildungsre-
form, die derzeit im Schwange sind: für die konservative, "die versucht, mit
verschärfter Selektion das dreigliedrige Schulwesen zu stärken, Eliten zu för-
dern und damit die Legitimität des Bildungswesens zu stärken", ebenso wie
für die progressive, "die mit Hilfe von Markt und Management versucht, kos-
teneffizientere Steuerungsformen durchzusetzen" (Klausenitzer 2002: 53).
So gesehen lässt sich PISA als ein ,trojanisches Pferd' der Disziplinarge-
sellschaft begreifen: Im Schutz einer Weltverbesserungs- und Freiheitsrheto-
rik - wie sie beispielsweise der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog
mit dem Schlagwort: "Entlassen wir Schulen und Hochschulen in die Frei-
heit" effektvoll zu bedienen verstand (Herzog 1997) - etabliert sich ein gan-
zes Netz teils altbekannter, teils innovativer Zugriffsweisen auf die individu-
en. Dabei reicht das Instrumentarium von einer neuen Verwaltungssteuerung
über Budgetierung, Sponsoring und Privatisierung bis hin zur Zertifizierung,
zentralisierten Leistungskontrolle und dem Credit-Point-System, Total Qua-
lity Management - und nicht zuletzt zu PISA. In gewissem Sinn bleibt es un-
erheblich, ob man sich den Scharfmachern der neuen Reform anschließt, die
mehr Selektion, mehr Eliteförderung, mehr Leistung, mehr Konkurrenz und
mehr Kontrolle einfordern, oder ihren philanthropischen Opponenten, die für
mehr Selbstorganisation, mehr individuelle Profllbildung, mehr (Schul-)Auto-
nomie, mehr (Selbst-)Verantwortung und mehr demokratische Teilhabe plä-
dieren. Die desillusionierende Erkenntnis, die Foucault für die aktuellen,
neoliberalen Regierungspraktiken bereithält, lautet: "Die Disziplin ist die
Kehrseite der Demokratie" (Foucault 1976: 126).
Das muss zumindest all diejenigen Pädagogen befremden, denen an der
freien Entfaltung von Kindern und Jugendlichen und an der Demokratisie-
rung pädagogischer Institutionen (vor allem der Schule) etwas gelegen ist.
Tatsächlich wäre Foucault gründlich missverstanden, wollte man ihn kurzer-
hand in die Riege der Antidemokraten einreihen. Doch bleiben die Demokra-
tisierungs- und Autonomiepostulate, auf die sich Reformer heute gerne beru-
fen, solange bloßes Wortgeklingel, wie die abgründige Widersprüchlichkeit
des Reformprozesses nicht wirklich durchschaut ist. Genau dies lässt sich aus
der ,Analytik der Macht', wie sie Foucault im Rahmen seiner historischen
Analysen eindrucksvoll entwickelt hat, lernen.

2. Zur Analytik der Disziplinarmacht


Dass die gegenwärtige Gesellschaftsformation sich der repräsentativen De-
mokratie verpflichtet weiß, dass sie die grobe, mit offenem Zwang operieren-
de Disziplinierung verabscheut, beweist zunächst noch nicht, dass der For-
mationstypus von Macht, der die modeme Welt im Innersten zusammenhält,
246 Ludwig A. Pongratz

der Disziplinierung enträt. Um diesem auf die Spur zu kommen, muss der
Begriff der ,Disziplinierung' jedoch neu gefasst werden. Denn die ,Diszipli-
nierung' in ihrer zeitgenössischen Gestalt versucht alle negativen Konnota-
tionen wie Sanktion, Drohung, Bestrafung etc. abzuschütteln. Sie bringt sich
stattdessen sublim und produktiv ins Spiel. Sie nimmt gesellschaftliche
Kräfte unter Kontrolle, indem sie sie steigert und potenziert. Wer diesen
Sachverhalt erfassen will, muss seinen Blick für das Netzwerk von Taktiken
und Strategien schärfen, mit denen sich - meist unterhalb des Niveaus politi-
scher Programme und pädagogischer Institutionen - die gesellschaftlichen
Integrations- und Disziplinierungsmechanismen einschleifen. Dies geschieht
vielleicht lautloser und bewusstloser als ehedem, gewiss aber nicht weniger
effektiv. Erst der mikrologische Blick, mit dem sich ein Historiker wie Mi-
chel Foucault Geschichts- und Gesellschaftsprozessen nähert, bringt die un-
terschwellig wirksame ,politische Ökonomie der Macht' ans Licht. Hervor
kommt ein ganzes Beziehungsnetz von subtilen Zwängen, die sich des Kör-
pers und der Seele der Menschen bemächtigen, sie durchkreuzen, unterwer-
fen und reintegrieren. Der Prozess der Aufklärung, "der die Freiheiten ent-
deckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden" (Foucault 1976: 286).
Natürlich fällt diese Einsicht nicht vom Himmel. Ihr geht ein langer Pro-
zess des Fragens und Suchens voraus, der - was Foucault betrifft - durchaus
nicht geradlinig verlaufen ist. Immer wieder musste er selbstkritisch innehal-
ten und sich fragen, ob er nicht in eine Sackgasse geraten sei. Und mehrfach
versuchte er, sein Denken neu zu orientieren. Folgt man der gängigen Perio-
disierung des Foucaultschen Gesamtwerks, lassen sich drei Forschungspha-
sen unterscheiden, die in Thematik, methodischem Zugriff und theoretischem
Bezugsrahmen differieren:
Was Foucaults frühe Untersuchungen in besonderer Weise kennzeichnet,
ja regelrecht vorantreibt, das ist der Zweifel an der sinnstiftenden Funktion
des historischen Subjekts. In Frage steht, ob die Menschen mit Bewusstheit
und Willen tatsächlich ihre eigene Geschichte machen. Unermüdlich proble-
matisiert Foucault in seiner ersten Forschungsphase das Prinzip der begrün-
denden Subjektivität, die Idee also, dass unser Erkennen auf den Erkenntnis-
leistungen eines Erkenntnissubjekts aufruht. Dass das, was - mit Kant ge-
sprochen - der Erkenntnis apriori vorausliegt und sie allererst ermöglicht, im
Erkenntnissubjekt selbst zu suchen sei, bestreitet Foucault ausdrücklich. Statt-
dessen möchte er im Rahmen von wissenschaftshistorischen Analysen gerade
zeigen, dass es die ,diskursive Formation' einer jeweiligen Epoche ist - also
ein Regelgeflecht historisch unterscheidbarer Aussagesysteme -, die die Mög-
lichkeitsbedingungen für ein Wissens-Subjekt abgibt. Es ist das ,historische
Apriori' einer spezifischen diskursiven Formation, das schließlich ,den Men-
schen' oder ,das Erkenntnissubjekt' ins Zentrum einer bestimmten Wissens-
ordnung bzw. Wissensepoche setzt. Entsprechend ist es Foucault zufolge
auch kein Erkenntnissubjekt, das die historisch auffindbaren Wissensgebiete
zur Einheit einer Ordnung zusammenhält. Vielmehr formieren sich die Aussa-
gesysteme um die Brennpunkte einer diffusen Macht und ihres Widerstands.
Freiwillige Selbstkontrolle 247

Diese Einsicht nötigt Foucault allerdings zu einer theoretischen Wende,


die in seiner zweiten Forschungsphase den Wechsel von der ,Archäologie
des Wissens' zur ,Genealogie der Macht' einleitet. Nun geht es darum, die
subtilen "Techniken der Überwältigung zu entdecken, um die sich jeweils ein
dominanter Machttyp zusammenzieht, zur Herrschaft gelangt und schließlich
vom nächsten Machtkomplex verdrängt wird" (Habermas 1985: 316). Dabei
entdeckt Foucault eine gleichsam geologische Schichtung von Machtforma-
tionen, also historisch unterscheidbare Typen: etwa den älteren Typ der Re-
pressionsmacht, die überwiegend mit Ausgrenzungsmechanismen operiert,
die historisch jüngere Integrationsmacht, die insbesondere Einschließungs-
mechanismen handhabt, und schließlich die Disziplinarmacht. Dieser Macht-
typ der gegenwärtigen Gesellschaftsformation beruht nicht wie noch seine
Vorgänger auf der Liquidierung oder Internierung des Abweichenden, viel-
mehr wirkt er stärker als alle anderen Machttypen präventiv. Er durchdringt
die Körper und die ,normalsten' Lebensvollzüge der Menschen innerlich -
gerade indem er das Leben ,normalisiert'. Ziel der Disziplinarmacht ist es,
die Kräfte, die sie unterwirft, zugleich größer werden zu lassen. Ihre Wir-
kungsweisen sind ebenso intentional wie nicht-subjektiv. D.h.: Ihre Absich-
ten können fraglos entschlüsselt werden - und doch trifft es zu, dass kein
Subjekt sie entworfen hat. Sie verläuft stets über die Subjekte und durch sie
hindurch. Und d.h. auch: Sie gehört auf Dauer niemandem. Sie kommt hervor
als , bebender Sockel' von Kräfteverhältnissen und initiiert einen unab-
schließbaren Kampf. Im Herzen der Macht herrscht ein kriegerisches Ver-
hältnis. Dies aber heißt zugleich: Wo es Macht gibt, gibt es auch Gegen-
Macht, die Möglichkeit zum Widerstand. Allerdings liegt dieser Widerstand
nicht in einem machtfreien Raum, gewissermaßen einem ,Jenseits' der
Macht, das es für Foucault - zumindest in dieser Schaffensperiode - nicht
gibt. Unter der Voraussetzung einer Macht, die alles Innergesellschaftliche
durchsetzt, gibt es daher letztlich keine Gewähr dafür, dass der subversive
Widerstand ,derer da unten' die Effekte der Disziplinierung nicht wider Wil-
len fortschreibt.
Ist es also unmöglich, die Seite zu wechseln, ohne der Macht zu entge-
hen? "Das sieht uns ähnlich ... ", wandte Foucault Ende der 1970er Jahre ge-
gen sich selbst ein, "stets dieselbe Wahl, auf der Seite der Macht, dessen, was
sie sagt oder zu sagen veranlasst ... " (zit. nach: Deleuze 1987: 131). Gibt es,
so lautet die zentrale Frage seiner dritten Forschungsphase, eine Dimension
der Subjektivität, die sich von der Macht herleitet, ohne völlig von ihr abzu-
hängen? Um darauf eine Antwort zu finden, musste Foucault weit zurückge-
hen. Erst die Analyse klassischer griechischer Wissens- und Machtformatio-
nen führte ihn zur Entdeckung einer Dimension im Subjekt, die sich in Diffe-
renz zur Macht konstituiert: An den dem Freien - dem Bürger der griechi-
schen Polis - auferlegten Übungen, mit denen er lernt, sich selbst zu regieren,
um an der Regierung anderer teilzuhaben, lässt sich zeigen, wie eine ,Ab-
kopplung' im Subjekt Raum greift. Die frühen griechischen ,Praktiken des
Selbst' implizieren einen Selbstbezug, der sich aus der Möglichkeit zur Dif-
248 Ludwig A. Pongratz

ferenz von der Macht als Kräfteverhältnis speist. Das Selbst erscheint so als
eigenständige Dimension. Gleichwohl ist es nichts Ursprüngliches; vielmehr
erscheint es als ,Hohlraum' der Macht, die sich auf sich selbst zurückbiegt.
Die ,Analytik der Macht' steht somit vor der Aufgabe, das Verhältnis von drei
Forschungsfeldern jeweils neu aufzuschlüsseln: von Wissen, Macht und
Selbst.
Gerade diese letzte Revision seines Forschungsansatzes führt Foucault -
ähnlich wie die Autoren der Dialektik der Aufklärung (vgl. Horkheimerl
Adorno 1969) - weit hinter jene historischen Ereignisse zurück, die im gän-
gigen Sinn als ,Aufklärungszeit' gefasst werden. "Auch wenn die ,Aufklä-
rung'" (im Original deutsch), so gibt Foucault zu bedenken, "eine sehr wich-
tige Phase unserer Geschichte und der Entwicklung der politischen Techno-
logie war, glaube ich, dass wir auf sehr viel entferntere Vorgänge zurückge-
hen müssen, wenn wir verstehen wollen, Kraft welcher Mechanismen wir zu
Gefangenen unserer eigenen Geschichte geworden sind" (Foucault 1987:
245). Der Tenor der ,selbstbereiteten Gefangenschaft in der Geschichte' ist
nicht neu; auch die Dialektik der Aufklärung weiß davon ein Lied zu singen.
Der Bezug zu konkreten Erfahrungen moderner ,Pathologien der Macht' -
Faschismus und Stalinismus - speist die theoretischen Analysen Foucaults
und HorkheimerslAdornos gleichermaßen. Foucault ist sich mit letzteren
darin einig, dass Faschismus und Stalinismus "trotz ihrer historischen Ein-
maligkeit nichts Ursprüngliches sind. Sie benutzten und erweiterten Mecha-
nismen, die in den meisten anderen Gesellschaften schon vorhanden waren.
Mehr als das: Trotz ihres inneren Wahnsinns haben sie in großem Ausmaße
die Ideen und Verfahrens weisen unserer politischen Rationalität benutzt"
(ebd.: 244). Sein von Beginn an lebendiges Interesse für historische Diskon-
tinuitäten führt Foucault dazu, spezifische ,Rationalitäten' in den Blick zu
nehmen, denen unterschiedliche Machtformationen korrespondieren. Die
Spielräume für Subjektivierungsprozesse variieren mit diesen historischen
Bedingungen: Zwar ermöglichen sie einen produktiven Selbstbezug - kon-
servieren, gar fixieren lässt er sich jedoch nicht.
Stets findet sich das Selbst, das den Differenzierungsprozessen im Ge-
webe der Macht entspringt, im historischen Prozess auch wieder, umcodiert'.
Es wird zum Einsatzort einer Macht, die mit spezifischen Disziplinarstrate-
gien und eigens ausgebildeten Wissensapparaten und ,Regierungsformen '
Individualitäten und Identitäten in Beschlag nimmt. Um diesen Über- und
Durchgriff auf die Individuen angemessen beschreiben zu können, justiert der
späte Foucault die Genealogie der Macht in neuer Weise: Er entwirft das
Konzept der ,Gouvernementalität' als Bindeglied zwischen strategischen
Machtbeziehungen und Subjektivierungsformen, um zu untersuchen, wie sich
politische Herrschaftstechniken mit den, Technologien des Selbst' verknüp-
fen. Da Foucault dieses ambitionierte Unternehmen in seinen Vorlesungen
nur ansatzweise ausführen konnte, wurde es lange von einer Foucault-Rezep-
tion, die sich vor allem auf den Übergang von genealogischen zu ethischen
Fragestellungen konzentrierte, nicht angemessen berücksichtigt. Zahlreiche
Freiwillige Selbstkontrolle 249

Kommentatoren vernachlässigten die strukturellen Veränderungen des ge-


nealogischen Ansatzes, wie sie vor allem in Foucaults Begriffsschöpfung der
,Gouvernementalität', die Regieren (gouverner) und Denkweise (mentalite)
miteinander verbindet, zum Ausdruck kommen.
Foucaults Gouvernementalitäts-Studien suchen nach einer analytischen
Verbindung von ,Regierungstechniken' und ,Regierungslogiken': "Während
Regierung heute einen ausschließlich politischen Sinn besitzt, kann Foucault
zeigen, dass sich das Problem der Regierung bis ins 18. Jahrhundert hinein in
einen allgemeineren Rahmen stellte. Von Regierung war nicht nur in politi-
schen Texten, sondern auch in philosophischen, religiösen, medizinischen,
pädagogischen etc. Arbeiten die Rede. Über die Lenkung des Staates oder der
Verwaltung hinaus meinte ,Regierung' auch Probleme der Selbstbeherr-
schung, der Leitung der Familie und der Kinder, der Steuerung des Haus-
halts, die Lenkung der Seele etc. Aus diesem Grund bestimmt Foucault Re-
gierung als Führung, genauer gesagt als ,Führung der Führungen', die ein
Kontinuum umfasst, das von der ,Regierung des Selbst' bis zur ,Regierung
der anderen' reicht" (Lemke 2002: 46). Foucaults historiographische Rekon-
struktion unterscheidet vor allem drei Führungsformen: die antike ,Führung
von Gemeinwesen', die christliche ,Führung der Seelen' und die seit dem 17.
Jahrhundert sich ausbildende , Führung von Menschen', der sich auch die
modeme Pädagogik verdankt. Diesen Führungsformen entsprechen je spezi-
fische Staatskonzeptionen: der ,Gerechtigkeitsstaat', der im 15. und 16. Jahr-
hundert in einen ,Verwaltungsstaat' überführt wird, um im 16. und 17. Jahr-
hundert von einem , Regierungsstaat' abgelöst zu werden, der nicht mehr
durch Territorialität, sondern durch eine Masse bestimmt wird: die Masse der
Bevölkerung.
Um diese Masse jedoch regieren zu können, bedarf es einer spezifischen
Regierungstechnologie, die das Ziel verfolgt, die Herrschaft abzusichern. Der
Liberalismus als Regierungsform moderner Staaten entwickelt diese Siche-
rungstechnologie, indem er die Bedingungen organisiert, unter denen die In-
dividuen ,frei' sein können; er ,fabriziert' oder ,produziert' die Freiheit (vgl.
Lemke/KrasmannJBröckling 2000: 14). Der Liberalismus garantiert also
nicht einfach die rechtliche Freiheit von Individuen, sondern er regiert über
sie. Diese Unterscheidung wird wichtig, um die aktuelle Transformation libe-
raler in neoliberale Strategien verstehen zu können: Während "liberale Ratio-
nalitäten durch die Überwachung und Organisation der ,Produktionsbedin-
gungen der Freiheit' und damit auch des Marktes gekennzeichnet waren,
wird dieser nun selbst zum organisierenden und regulierenden Prinzip des
Staates" (Kessl 2001: 6). Die neoliberale Restrukturierung von Staat und Ge-
sellschaft muss mehr denn je darauf abzwecken, Selbsttechnologien zu erfin-
den und zu fördern, die an Regierungsziele angekoppelt werden können. Im
Rahmen neoliberaler Gouvernementalität signalisieren Selbstbestimmung,
Verantwortung und Wahlfreiheit daher "nicht die Grenze des Regierungs-
handeins, sondern sind selbst ein Instrument und Vehikel, um das Verhältnis
der Subjekte zu sich selbst und zu den anderen zu verändern [ ... ]. Der Abbau
250 Ludwig A. Pongratz

wohlfahrtsstaatlicher Interventionsformen ist begleitet von einer Restruktu-


rierung der Regierungstechniken, welche die Führungskapazität von staatli-
chen Apparaten und Instanzen weg auf , verantwortliche', , umsichtige' und
,rationale' Individuen verlegt" (LernkelKrasmannlBröckling 2000: 30).
Im Zuge dieser Gewichtsverlagerung gewinnt Pädagogik eine immense
Bedeutung: Schule und Weiterbildung, Erziehungseinrichtungen und Sozial-
arbeit werden eingebunden in einen strategischen Komplex, der darauf zielt,
Herrschaftsverhältnisse auf der Grundlage einer neuen, neoliberalen Topo-
graphie des Sozialen zu recodieren. Die Frage nach der Funktion päda-
gogischer Institutionen führt daher geradewegs in das aktuelle Zentrum der
Analytik der Macht hinein.

3. Schule als Dispositiv der Macht


Foucault selbst ist dieser die Pädagogik zentral berührende Frage eher am
Rande nachgegangen (vgl. Foucault 1987: 253), doch bleibt sie in seiner Ge-
fängnisanalyse (vgl. Foucault 1976) oder seinen Untersuchungen des
,Sexualitätsdispositivs' (vgl. Foucault 1977) allenthalben präsent. Allerdings:
Was dabei Dispositiv heißt, versteht sich nicht von selbst. Foucault umreißt
den Begriff in Kürze so: "Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche,
ist [... ] ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen,
architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze,
administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische,
moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie
Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv
selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann"
(Foucault 1978: 119 f.). Seine Hauptfunktion besteht jeweils darin, auf einen
,strategischen Imperativ' in einer gegebenen historischen Situation zu ant-
worten. So entstand das Gefängnis-Dispositiv als historische Antwort auf das
Disziplinierungsproblem der Kriminalität; so entstand das Sexualitäts-
Dispositiv als historische Antwort auf das Disziplinierungsproblem von Fort-
pflanzung und körperlicher Lust; so entstand das Schul-Dispositiv als histori-
sche Antwort auf das Disziplinierungsproblem gelehriger Körper. Schule als
,Dispositiv' bezieht sich also stets auf den theoretischen Horizont der Diszi-
plinarmacht, wobei die deutsche Schulgeschichte zwei deutliche Zäsuren im
Formationsprozess des Schuldispositivs erkennbar werden lässt: eine An-
fangsphase (gewissermaßen als Initiation in die Disziplinargesellschaft), wie
sie etwa die preußische Gymnasialreform oder Pestalozzis Elementarmethode
repräsentieren, und eine Umbruchsphase (zu ,sanften', panoptischen Diszi-
plinartechniken), die die deutsche Reformpädagogik zu Beginn des letzten
Jahrhunderts kennzeichnet.
Mit Foucaults ,Analytik der Macht' wird es folglich möglich, Pädago-
gikgeschichte gegen den Strich zu bürsten. Der besondere Rang, der pädago-
Freiwillige Selbstkontrolle 251

gisehen Heroen wie Pestalozzi zukommt, resultiert in dieser Perspektive nicht


aus dessen unbestreitbarem Engagement für die Armen seiner Zeit, sondern
aus dem methodischen Repertoire an Disziplinartechniken, die seine Ele-
mentarmethode einfordert und gesellschaftlich etabliert (vgl. Pongratz 1989:
183ff.). Die Elementarmethode setzt nicht nur einen neuartigen und langan-
haltenden pädagogischen Diskurs in Szene, sondern fungiert - machtanaly-
tisch betrachtet - zugleich als frühe Einführung in die Disziplinargesellschaft.
So liegt ihre Faszination für Pestalozzis Zeitgenossen vermutlich nicht allein
im Versprechen einer effizienten und sicheren Fabrikation von Erkenntnis
durch systematische Lehrgänge, sondern in ihrer inneren Verwandtschaft mit
der Technik der Disziplinarmacht selbst, also mit: Zerlegung, Arrangement
und produktiver Reorganisation. Denn die Elementarmethode macht es nicht
nur möglich, sondern unumgänglich, den Unterrichtsgang inhaltlich und zeit-
lich zu untergliedern. Sie zieht die Ausarbeitung verbindlicher, gegliederter
Lektionspläne und eine bessere, gleichmäßigere Sequenzierung des Lernpro-
zesses notwendig nach sich. Die neue zeitliche Regelung des Unterrichts aber
bringt ein neues Bild vom Schüler in Umlauf: das "Bild des Normschülers"
(vgl. Kost 1985: 39). Denn die Elementarisierung des Unterrichts und die ihr
entsprechenden Techniken der Übung und Prüfung eröffnen die Möglichkeit,
die Schüler in Bezug auf das Ziel, die Mitschüler und eine bestimmte Metho-
de zu charakterisieren. Mit diesem Normalisierungseffekt nach Maßgabe des
fiktiven Normschülers wiederum geht die Aufteilung von Klassen nach Alter
bzw. Lern- und Leistungsfähigkeit Hand in Hand. Das alles macht die Ele-
mentarmethode zum integrativen Bestandteil einer neuen Machttechnik, die
auf eine differenzierte Behandlung gelehriger Körper zur Steigerung ihrer
nutzbringenden Kraft wie ihrer Fügsamkeit abgestellt ist (vgl. Foucault 1976:
220ff.). Und diese Technik greift mit architektonischen und schulorganisato-
rischen Arrangements lautlos ineinander: mit einer bestimmten Ordnung des
Schulraums, der nun innerhalb der Schule das installiert, was Foucault den
,zwingenden Blick' nennt; mit der Einführung eines geschlechtsspezifischen
Codes, mit einer ,Mikro-Justiz', die das anständige Betragen im Klassen-
zimmer reguliert; mit einer minutiösen Kontrolle des Körpers, die bei der
Festlegung des Sitzplatzes beginnt und noch Schreibhaltung und Federfüh-
rung überwacht.
Diese Techniken, mit denen körperliche Gewalt gleichsam in der Kulisse
des Schulalltags gespeichert wird, um den Schüler sublim zu durchdringen,
gehören zu den frühen Formen der Disziplinarmacht. In ihnen kündigt sich
eine neue Funktionsweise der gesellschaftlichen Machtausübung an: Die In-
tegration läuft nun in erster Linie nicht mehr über standardisierte Repräsenta-
tionen - also über (Vor-)Bilder des guten Lebens und inhaltlich umrissene
Vorstellungen von Tugend und Sittlichkeit -, sondern über einen abstrakten,
methodisch geleiteten Prozess der Synthetisierung von Verhaltenscodizes
und entsprechenden Anschauungen. Das setzt freilich voraus, dass die Leis-
tungen und Kenntnisse jedes einzelnen Schülers permanenter Kontrolle und
Prüfung unterzogen werden, dass eine strenge Stufung in Klassen und eine
252 Ludwig A. Pongratz

hinreichende Zergliederung der Lehrinhalte erfolgt, dass ein differenziertes


Arsenal von Medien für die Selbstbeschäftigung entwickelt wird, dass eine
strenge Disziplin im Klassenraum herrscht, die Störungen ausschließt, dass
eine genaue Zeit-Ökonomie sich durchsetzt und eine Art ,Kommandosystem'
etabliert wird. Allerdings: Die typische Dorfschule des 19. Jahrhunderts
bleibt von solchen Zielvorgaben weit entfernt. Und doch sind hier Wegmar-
ken gesetzt für einen langen Entwicklungsprozess, der die Schule im 19.
Jahrhundert als Dispositiv der Disziplinarmacht - zunächst für das privile-
gierte Bürgertum, später für alle Bevölkerungsschichten - etabliert.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist die Schule schließlich als zentrales
Dispositiv im Gesellschaftskörper fest verankert und - in einem ersten Schritt
- schon mit Anschlussmöglichkeiten zu weiteren ,Knotenpunkten' im Netz
der Disziplinierung (Jugendschutz und Jugendgerichtsbarkeit, Familie und
Sozialfürsorge) versehen. Und jetzt erst, nachdem das Schuldispositiv allge-
mein geworden ist und seine Exklusivität als ehedem wesentlich bürgerliche
Formationsinstanz eingebüßt hat, werden neue, schichtspezifische Differen-
zierungen ins Schuldispositiv eingeführt, die eine Neuinterpretation des ge-
samten Dispositivs notwendig machen.
Dies ist die eigentliche, innovative Leistung der ,reformpädagogischen
Bewegung' am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Neu-
formierung des Schuldispositivs, die sie in Szene setzt, lässt sich auf ver-
schiedenen Ebenen analysieren: Auf der Ebene des unterschwelligen, lokalen
Funktionierens der Disziplinarmacht zeichnet sich mit Beginn des 20. Jahr-
hunderts ein Übergang von der alten Lern- und Drillschule zu dynamische-
ren, innengeleiteten Arbeitsformen ab, die darauf hinzielen, möglichst früh
Fremd- in Selbstregulierung zu überführen. Der Zielpunkt pädagogischer
Diskurse wandert damit gewissermaßen nach innen: In den Blick fallen jetzt
weniger äußerlich ansetzende Arrangements zur Regulierung gelehriger Kör-
per (Schulbank, Schulhygiene, raumzeitliche Fixierung im Schulhaus etc.),
als vielmehr auf das ,Innen' abzielende Arrangements (Motivationsstruktu-
ren, psychische Dispositionen, ,Schulleben', panoptische Kontrollverfahren)
zur Sicherstellung der Aufmerksamkeit und Selbständigkeit des Lernerfolgs.
Dem entsprechen neue, flexible Organisationsstrukturen, die oftmals mit dem
Etikett ,frei' versehen werden, und zwar nicht nur auf der Ebene einzelner
Klassen (freie Bestuhlung, freies Schülergespräch), sondern ebenso auf dem
Niveau gesamtschulischer Institutionalisierung (freie Schulgemeinde, inno-
vative ,Schulpläne', freie Schulwahl).
Der Unterricht wird zum ,Gemeinschaftsunterricht' , die Klasse wird eine
,Lebens- und Arbeitsgemeinschaft', die Fremderziehung geht in ,Selbster-
ziehung' über. Der Schüler wird dabei in seiner Eigenständigkeit zwar mehr
als früher ernst genommen, aber nicht zuletzt deshalb, um ihn in den institu-
tionell vorgegebenen Rahmen der Schule mit geringeren Reibungsverlusten
integrieren zu können. Kost hat diesen Wandel von der alten Drill- zur Re-
formpädagogik am Verhältnis des Pädagogen zur Hosentasche des Schülers
beispielhaft illustriert: Kontrollierte die ,alte' Pädagogik die Hosentaschen
Freiwillige Selbstkontrolle 253

daraufhin, ob sie ein sauberes Taschentuch aufwiesen, so lässt die ,neue'


Pädagogik gerade umgekehrt das darin befindliche Sammelsurium auf den
Tisch kehren, um Einblicke ins Schülerleben zu gewinnen und sich die ju-
gendliche Sarnmelleidenschaft pädagogisch nutzbar zu machen (vgl. Kost
1985: 190f.). Das subjektive Interesse am Schüler wird so unmerklich ver-
koppelt mit dem objektiven Interesse des Schulsystems an individueller
Kraftentfaltung und ihrer Reintegration in einen Gesamtzusammenhang, des-
sen Funktionsprinzipien den Einzelnen verborgen bleiben - gerade weil alles
scheinbar offen zu Tage liegt. Die Lernsituation wird auf diese Weise reorga-
nisiert nach den Prinzipien des ,Panoptismus', wobei das disziplinierende
Netzwerk nun nicht mehr über administrative Verfügungen geknüpft wird,
sondern vielmehr über flexibel gehandhabte Steuerungsmechanismen des
,Schullebens'. Die Individuen rücken auf diese Weise in eine doppelte Positi-
on ein: Sie können sich als Subjekte von Prozessen erleben, denen sie den-
noch vollständig ausgeliefert bleiben (vgl. Pongratz 1995: 191). Diese Dop-
pelstruktur stabilisiert die Fiktion von Autonomie. Die Disziplinarmacht hin-
gegen wird anonym und unangreifbar.
Eine allgemeine Steuerung wird möglich, die in ihren lebensphilosophi-
schen Prämissen eher irrational, ihrem Instrumentarium nach aber rational ist.
Die Reformpädagogik selbst, als Freiheitspädagogik konzipiert und ausgeru-
fen, befördert noch das Moment von Fremdbestimmung nach Maßgabe einer
mobilisierten, flexiblen Gesellschaft. Der alte Widerspruch von Freiheit und
Herrschaft, den Horkheimerl Adorno als Kern des neuzeitlichen Aufklärungs-
prozesses dechiffrierten, wandert in eine neue Form der Vergesellschaftung
ein. In ihr wird - wie der deutsche Reformpädagoge Peter Petersen ohne je-
den Anflug von Selbstkritik formuliert - "intuitives Erleben und Gestalten
mit planvollem Steuern, Irrationales mit Rational-Technischem" (Petersen
1937: 25) derart verwoben, dass die sanfte Kontrolle die Gestalt einer allge-
meinen "politischen Technologie" (Foucault 1976: 264) annehmen kann.

4. Ökonomisierung der Bildung


In diesem Sinn lässt sich die Analyse der Schule als Dispositiv der Macht bis
in unsere Tage fortschreiben. Und dabei zeigt sich: Der oberflächliche Ein-
druck, die zeitgenössische Schule habe mit den vergangenen Disziplinaran-
stalten nicht mehr viel gemein, täuscht. Die "Tiefenstrukturen des Schuller-
nens", so urteilt der Schulpädagoge Horst Rumpf, "haben sich gehalten,
wenn nicht gar perfektioniert" (Rumpf 1981: 68). Weiterhin bleibt die Diszi-
plinargesellschaft mit ihren Intentionen im Schulsystem wirksam, auch wenn
die derzeit propagierten Reformmaßnahmen einen anderen Eindruck zu ver-
mitteln suchen. Gerade die Informalisierung der pädagogischen Verhältnisse
- die Auflösung der ehedem monolithisch verfassten Schule mit starrem
Selbstverständnis, die Abflachung von Hierarchien, ein neues Bürokratiever-
254 Ludwig A. Pongratz

ständnis, neue Steuerungsmodelle, die Autonomisierung von Teilbereichen,


die Einbindung von Betroffenen in Entscheidungsprozesse - führt zu einer
neuen ,Verhandlungskultur' , die nicht das Verschwinden, sondern eine grö-
ßere Diffusion von Machtwirkungen zur Folge hat.
Was derzeit unter den Stichworten ,Selbstorganisation' bzw. ,lernende
Organisation' zur Schulreform diskutiert wird, trägt auf den ersten Blick
zwar das Gesicht der Humanisierung, läuft letztendlich jedoch darauf hinaus,
die Zumutungen an die in der Institution lebenden und lehrenden Menschen
zu verstärken. Dafür sprechen eine Reihe von Indizien (vgl. Helsper 1990:
31, 85, 186f.): Partnerschaftliche Ideale und die größere Zuschreibung von
Eigenverantwortlichkeit an Schüler bedeuten, dass das, was ehemals unmit-
telbarer Fremdzwang oder internalisierte Autorität leisteten, jetzt durch
Selbstzwang erreicht werden muss. "Diese Zwangsverhältnisse tarnen sich
als egalitäre Kommunikation zwischen Schülern, Lehrern und Schulleitung,
wobei häufig verwischt wird, dass den tatsächlichen Entscheidungsspielräu-
men (durch bürokratische Vorgaben, administrative und ökonomische Struk-
turen) enge Grenzen gesetzt sind" (Boenicke 1998: 178). Zugleich wird da-
mit die Distanz gegenüber schulischen Prozessen und der Schutz des eigenen
Selbst erschwert. Es entsteht eine inkonsistente Nähe, die Schüler stärker in
die Schule einbindet, verletzbarer und schutzloser macht. Diese Sogwirkung
ist Teil des gouvernementalen Arrangements, durch das das Bildungssystem
insgesamt in das politische Projekt des Neoliberalismus eingebunden werden
soll. Das Paradigma der Selbstorganisation bildet dabei gleichsam das Herz-
stück des Macht-Wissens-Komplexes, der Neoliberalismus und die Ökono-
misierung der Bildung mit systemtheoretischen und konstruktivistischen
Theoriemodellen verknüpft, um das Bildungssystem umfassender als je zuvor
ins Netzwerk von Disziplinarprozeduren einzubinden. Die Verbindung von
Selbsttechnologien mit neuartigen gouvernementalen Kontrollstrategien, die
,freiwillige Selbstkontrolle' der Individuen, lässt sich auf allen Ebenen des
Bildungssystems nachzeichnen (vgl. Lehmann-Rommel, in diesem Band):
So wie aus Lohnempfängern , Arbeitskraftunternehmer' (vgl. VoßlPon-
gratz 1998), ,Ich-AGs' oder ,Intrapreneure' werden sollen, werden
Schüler umdefiniert zu Selbstmanagern des Wissens, zu autopoietischen
,lernenden Systemen', denen vor allem dann Erfolg in Aussicht gestellt
wird, wenn sie modeme Managementqualitäten an sich selbst entwi-
ckeln, also: sich die Produktionsmittel zur Wissensproduktion aneignen
(Lernen des Lernens), sich unter den Selbstzwang permanenter Quali-
tätskontrolle und -optimierung setzen (Motivationsmanagement), sich
gleichermaßen als Kunde wie als Privatanbieter auf dem Bildungsmarkt
begreifen lernen (Selbstmanagement), sich permanenten Kontrollen,
Prüfverfahren und Zertifizierungen aussetzen (Selbstoptimierung) usw.
Jeder Schüler und jeder Lehrer wird zu seinem eigenen Kompetenzzent-
rum; entsprechend rückt der Kompetenzbegriff ins Zentrum pädagogi-
scher Reflexion. Dabei wird Kompetenz verstanden als individuelle
Freiwillige Selbstkontrolle 255

Selbstorganisationsdisposition, als die Gesamtheit der "Voraussetzungen


eines Menschen, eines Teams, einer Organisation oder eines Unterneh-
mens, in Situationen mit garantiert unsicherem Ausgang einigermaßen
sicher zu handeln" (Erpenbeck 2001: 206). Kompetenzen sollen "im
Dschungel globalisierter Märkte" (ebd.) die Möglichkeiten zum selbstge-
steuerten Lernen sicherstellen. Selbstgesteuert aber sei das Lernen dann,
wenn "die Lernziele und die zu ihnen führenden Operationen und Strate-
gien vom lernenden System selbst bestimmt werden" (ebd.: 204). Die
subtile Transformation von Selbststeuerung in Selbstbestimmung ka-
schiert jedoch lediglich die sozio-technische Instrumentierung von Lern-
prozessen, die der Kompetenzdiskurs mittransportiert, weil Selbststeue-
rung nur auf ein Segment dessen zielt, was einmal mit Selbstbestimmung
gemeint war: auffunktionsgerechtes Verhalten (vgl. Boenicke 1998: 2f.).
Unter der Hand macht der Begriff der Selbststeuerung klar, dass es nichts
mehr gibt, woran das Selbst sich halten könnte - außer an sich. Ange-
sichts der unkontrollierbaren Verhältnisse ist das herzlich wenig. Dass im
Dschungel der Marktverhältnisse keine Sicherheiten mehr existieren, die
garantieren könnten, mit den eigenen Strategien hinreichend erfolgreich
zu sein, findet seinen Widerhall in der konstruktivistischen These von der
,Nichtplanbarkeit' und Kontingenz des Lerngeschehens. Dass dennoch
jeder sein Letztes geben muss, um den Anschluss nicht zu verlieren, fin-
det seinen Ausdruck schließlich in den Maximen der, Viabilität' und
,Anschlussfähigkeit' , an denen der Erfolg von Lernprozessen gemessen
wird. Auf der Ebene des Unterrichtsprozesses wird so ein neues Voka-
bular in Umlauf gesetzt, das Unterrichten als eine Art Lernmanagement
begreift, als Arrangement und Steuerung von Lernsituationen, in denen
es letztlich den Einzelnen überlassen bleibt, das Beste daraus zu machen
- oder aber zu scheitern. In unmittelbarer Übersetzung von Enabeling-
Strategien des betriebwirtschaftlichen Managements propagiert die sys-
temtheoretisch-konstruktivistische Pädagogik eine neuartige ,Ermögli-
chungsdidaktik' (vgl. Arnold/Siebert 1995). Sie sanktioniert auf didak-
tisch-methodischer Ebene den ökonomisch fälligen Übergang von fordis-
tischen Formen der Bildungsproduktion (mit operationalisierten Zielvor-
gaben, definierten Curriculumelementen und einem entsprechenden Me-
thodenset) zu postfordistischen Steuerungsmodellen. Der Modus der so-
zialen Steuerung wird umgestellt von einer expertenorientierten Regle-
mentierung hin zu einer kunden- und subjektorientierten mobilen Anpas-
sungsstrategie. Ungewissheit bzw. Kontingenz werden dabei subjektiv
umdefiniert: Sie sollen "nicht mehr ausschließlich als Bedrohung [ ... ],
sondern als Freiheitsspielraum und damit als Ressource, die es zu er-
schließen gilt" (Bröckling 2000: 133), wahrgenommen werden. Entspre-
chenden Lernarrangements fällt die Aufgabe zu, die erwünschten Sub-
jektivierungspraktiken ineins zu ermöglichen und funktional zu begren-
zen. Zurückgegriffen wird dabei auf ältere reformpädagogische Modelle,
deren untergründig-irrationales Strickmuster auch heute noch seine Wir-
256 Ludwig A. Pongratz

kung tut: "Alle pädagogischen Elemente, die einmal zur autonomen


Subjektbildung gedacht waren, Projektlernen, Situationslernen, komple-
xe Lernarrangements und vieles mehr tauchen als neue Mittel auf, mit
denen letztlich die betriebliche Zurichtung eines umfassender benötigten
Subjekts bewerkstelligt werden soll" (Röder 1989: 186). Eine allgemeine
Steuerung soll möglich werden, die in ihren Prämissen irrational, ihrem In-
strumentarium nach aber rational und ihrer Tendenz nach umfassend ist.
Dem dient auf institutioneller Ebene die Reorganisation von Schule als
marktorientiertem Service-Center. Ihr Zweck ist nicht mehr die ,Bil-
dung', sondern die Privatisierung und Kommerzialisierung von Wissen;
Bildungsprozesse werden umgewandelt in Eigentumsoperationen mit
Wissen als Ware. Was ehemals als genuin pädagogische Aufgabe der In-
stitution begriffen wurde (vom Unterrichten und Beurteilen bis hin zur
Drogenprävention oder zum Ausrichten von Schulfeiern), wird nun for-
mal nach dem Muster betrieblicher Projektabwicklung gehandhabt.
Schulehalten wird zur Projektmanagementaufgabe, mit dem Ziel, neue
Produkte einzuführen und betriebliche Umstrukturierungen anzuleiten.
"Der Absolvent als Markenartikel - so könnte man das heimliche Pro-
gramm der aktuellen Bemühungen zu einer Bildungsreform in eine
knappe Formel fassen" (Fischbach 2002: 11). Entsprechend verschwin-
det der Lehrer, um als Projektberater oder Evaluationsmanager wieder
aufzuerstehen. Die moderne Unternehmensführung im Unterricht soll ei-
ne ,corporate identity' - ein unverwechselbares Schulprofil- entwickeln,
dem auf der Handlungsebene ein ,coporate behavior' und auf strukturel-
ler Ebene ein ,coporate design' entsprechen. Die Effektivität und Effizi-
enz des gesamten Unternehmens lässt sich allerdings nicht mehr durch
partielle Maßnahmen sicherstellen, sondern erzeugt einen manifesten
Bedarf an Organisations- und Personalentwicklung. Es etabliert sich ein
,permanentes Qualitätstribunal' (vgl. Simons 2003: 617ff.), das die ge-
sellschaftlich fabrizierten Gesetze der Ökonomie mit dem Schleier der
Unvermeidlichkeit und Natürlichkeit umgibt. Zur Naturalisierung gou-
vernementaler Strategien gehört es freilich auch, die Mechanismen der
Disziplinierung schönzureden: "Es gibt ein ganzes Spiel mit den Konno-
tationen und Assoziationen von Wörtern wie Flexibilität, Anpassungsfa-
higkeit, Deregulierung, das Glauben macht, die neo liberale Botschaft sei
eine der allgemeinen Befreiung" (Bourdieu 1998: 50). Verschärfte Kon-
kurrenz unter Lehrenden und Lernenden wird als ,Leistungsgerech-
tigkeit' ausgegeben; die Einführung von Schul- und Studiengeldern wird
zur ,Kostenbeteiligung' und das Plädoyer für neue Führungsstrukturen
nimmt die Gestalt einer Werbung für ,kooperative Autonomie' an (vgl.
Bennhold 2002: 293). Dazu passt der zynische Unterton, mit dem die
Bertelsmann-AG - geistiger Vater und Promotor des CHE (Centrum für
Hochschulentwicklung) - 1999 ihr Jahresmotto präsentierte: "Jeder ist
unseres Glückes Schmied." Das Motto decouvriert auf unfreiwillige
Weise die raffinierte Kombination von Fremd- und Selbstunterwerfung,
Freiwillige Selbstkontrolle 257

der der aktuelle Umbau des Schulsystems zuarbeitet. Sein wesentlicher


Effekt besteht darin, das zu erzeugen, was Simons - in Anlehnung an
Foucault - den, Willen zur Qualität' nennt. In ihm schürzt sich der Kno-
ten von "advanced liberalism, the permanent economic tribunal and the
enterprising self' (Simons 2002: 619). So entsteht die fortgeschrittene
Form neoliberaler Gouvernementalität im Schulsystem aus der Verknüp-
fung des Schuldispositivs mit dem unaufhörlichen Anspruch zum
Selbstmanagement: "Referring to Foucault, we could define actual ,man-
agementality' as management of self-management, with the constitution
of an economic tribunal as the permanent point of reference" (ebd.: 622).
Das totale Qualitätsmanagement, das sich als treibender Motor der
Transformation von Unterricht und Schule etabliert, wird seinem totalitä-
ren Anspruch durchaus gerecht: Indem es unaufhörlich Individualisie-
rungsprozeduren (von einzelnen wie von Organisationen) einfordert, be-
fördert es zugleich die "Totalisierung durch modeme Machtmechanis-
men" (Foucault 1987: 250). Die Freiheit der Firma "Ich & Co." (vgl.:
Bridges 1996) besteht in der freiwilligen Selbstkontrolle und Selbstun-
terwerfung unter ein permanentes und umfassendes ökonomisches Tri-
bunal, als dessen Ausführungsorgane sich Unternehmensberatungen wir-
kungsvoll in Szene setzen. Dem korrespondiert eine beständige Selbst-
prüfung und Evaluation. Die zeitgenössische ,Mikrophysik der Macht'
lässt die alten Techniken des Überwachens und Strafens hinter sich;
stattdessen setzt sie auf Benchmarking, Qualitäts-Audits, Empowerment
und Tests (vgl.: Bröckling/Krasmann/Lernke 2000: 35).
Die PISA-Untersuchung zieht ihre Attraktion und ihren Schrecken aus einem
Gewaltzusammenhang, in dessen Netz PISA selbst als Schaltstelle fungiert.
PISA kann daher mit Fug und Recht als ,Machtverstärker' interpretiert wer-
den, der Disziplinarprozeduren in einen endlos erscheinenden Zeithorizont
verlängert. PISA etabliert nicht einfach eine normierende und normalisieren-
de Praktik, die Standards setzt, die erreicht oder verfehlt werden können.
Vielmehr handelt es sich um eine dynamische Form der Qualitätsmessung,
die im Rahmen von Benchmarking oder der Ausschreibung von Quali-
tätspreisen (Best-Practice-Einrichtungen) die Jagd nach immer neuen Rekor-
den auslöst. Weil die eigene Position im Qualitäts-Ranking immer nur rela-
tional zu jener der Mitbewerber bestimmt wird, hört der Zwang zur Leis-
tungssteigerung niemals auf. Jeder rückt gleichzeitig und gleichermaßen in
die Rolle des Preisrichters und Wettbewerbers, des Gewinners und Verlie-
rers' des Selbst-Unternehmers und Leibeigenen (vgl. Liesner, in diesem
Band). Wo die Diktatur des Komparativs herrscht, da wird - in einer Variati-
on Hegels - der Weltmarkt zum Weltgericht (v gl. Bröckling 2000: 162)
Vielleicht wird in dieser Perspektive verständlich, was den PISA-Schock
wirklich ausgelöst hat: Der Weltmarkt und sein reformpädagogisches Instru-
mentarium - international implementierte Testbatterien - etablieren sich als
Weltgericht. Die nächsten Tests sind bereits angekündigt und die OECD als
258 Ludwig A. Pongratz

ideeller Gesamtmanager wird alles daransetzen, den Prozess fortzuführen.


Vor uns liegt die leere Transzendenz des, Willens zur Qualität'.

Literatur

Amold, Rolf/Horst Siebert (1995): Konstruktivistische Erwachsenenbildung. Hohengeh-


ren: Schneider.
Bennhold, Martin (2002): Die Bertelsmann Stiftung, das CHE und die Hochschulreform:
Politik der ,Reformen' als Politik der Unterwerfung. In: Ingrid LohmannIRainer Ril-
ling (Hrsg.): Die verkaufte Bildung. Opladen: Leske + Budrich, S. 279-299.
Bridges, William (1996): Ich & Co. Wie man sich auf dem neuen Arbeitsmarkt behauptet.
Hamburg: Hoffmann u. Campe.
Boenicke, Rose (1998): Bildung, absoluter Durchgangspunkt. H.-J. Heydorns Begründung
einer kritischen Bildungstheorie. Habilitationsschrift TU Darmstadt, Darmstadt.
Bourdieu, Pierre (1998): Gegenfeuer. Konstanz: Universitätsverlag.
Bröckling, Ulrich (2000): Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und
Selbstmanagement. In: Ulrich Bröckling/Susanne KrasmannJThomas Lemke
(Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. FrankfurtJMain: Suhrkamp, S. 131-
165.
Deleuze, Gilles (1987): Foucault. FrankfurtJMain: Suhrkamp.
Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schüle-
rinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich.
Erpenbeck, John (2001): Selbstorganisiertes Lernen - Ausdruck des Zeitgeistes oder Aus-
druck der Zeit? In: Dietrich HoffmannJKatrin Maack-Rheinländer (Hrsg.): Ökonomi-
sierung der Bildung. Weinheim: Beltz, S. 199-214.
Fischbach, Rainer(2oo2): Die Wissensgesellschaft. Maßstab oder Phantom der Bildungs-
debatte? In: Widersprüche 22, S. 9-22.
Foucault, Michel (1987): Das Subjekt und die Macht. In: Hubert L. DreyfuslPaul Rabinow:
Michel Foucault - Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. FrankfurtJMain:
Suhrkamp S. 243-264.
Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit.
Berlin: Merve.
Foucault, Michel (1977): Sexualität und Wahrheit. Bd. 1: Der Wille zum Wissen. Frank-
furtJMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel(1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frank-
furtJMain: Suhrkamp.
Helsper, Werner (1990): Schule in den Aporien der Modeme. In: Heinz-Hermann Krüger
(Hrsg.): Abschied von der Aufklärung? Perspektiven der Erziehungswissenschaft.
Opladen: Leske + Budrich, S. 175-194.
Herzog, Roman (1997): Entlassen wir Schulen und Hochschulen in die Freiheit. In: Frank-
furter Rundschau, 6.11.
Horkheimer, Maxffheodor W. Adorno (1969): Dialektik der Aufklärung. Philosophische
Fragmente. FrankfurtJMain: Fischer.
Kessl, Fabian (2001): Von Fremd- und Selbsttechnologien - mögliche Perspektiven einer
Gouvernementalität der Gegenwart. In: Sozialwissenschaftliche Literaturrundschau H
43, S. 5-13.
Kost, Franz (1985): Volksschule und Disziplin. Zürich: Limmat.
Klausenitzer, Jürgen (2002): Altes und Neues. In: Widersprüche 22, S. 53-65.
Lange, Hermann (2002): PISA: Und was nun? Bildungspolitische Konsequenzen für
Deutschland. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 5, S. 455-471.
Freiwillige Selbstkontrolle 259

Lemke, Thomas/Susanne KrasmannlUlrich Bröckling (2000): Gouvernementalität, Neoli-


beralismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In: Ulrich BröcklinglSusanne
KrasmannlThomas Lemke (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Frankfurt!
Main: Suhrkamp, S. 7-40.
Lemke, Thomas (2002): Stichwort: Gouvernementalität. In: Information Philosophie 30, S.
46-48.
Lohmann, Ingrid (2002): After Neoliberalism. In: Ingrid LohmannlRainer Rilling (Hrsg.):
Die verkaufte Bildung. Opladen: Leske + Budrich, S. 89-108.
Petersen, Peter (1970): FUhrungslehre des Unterrichts. Weinheim: Beltz.
Picht, Georg (1964): Die deutsche Bildungskatastrophe. Freiburg: Walter.
Pongratz, Ludwig A. (1987): Bildungstheorie im Prozess der Moderne - Perspektiven einer
theoriegeschichtlichen Dekonstruktion. In: Bildungsforschung und Bildungspraxis 9,
S.244-262.
Pongratz, Ludwig A. (1995): Freiheit und Zwang - Schulische Strafformen im Wandel. In:
Die deutsche Schule 87, S. 183-195.
Röder, Rupert (1989): Funktionalisierung von Bildung im Bereich informations- und
kommunikationstechnischen Lernens. In: Wiltrud GiesekelErhard MeueierlEckhard
Nuissl (Hrsg.): Zentrifugale und zentripetale Kräfte in der Disziplin Erwachsenenbil-
dung. Heidelberg: Arbeitsgruppe für Empirische Bildungsforschung
Rumpf, Horst (1981): Die Ubergangene Sinnlichkeit. MUnchen: Juventa.
Simons, Maarten (2002): Governmentality, Education and Quality Management. In: Zeit-
schrift fUr Erziehungswissenschaft 5, S. 617-633.
Voß, GUnter G./Hans J. Pongratz (1998): Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grund-
form der Ware Arbeitskraft? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycho-
logie 50, S. 131-158.
Roswitha Lehmann-Rommel

Partizipation, Selbstreflexion und Rückmeldung:


gouvernementale Regierungspraktiken im Feld
Schulentwicklung

Der Glaube an das rationale, disziplinierte, eigenverantwortliche und partizi-


pierende Individuum ist ein ebenso zentraler wie unhinterfragter Topos in
den gegenwärtigen Diskursen der Bildungs- und Schulreform: so setzen bil-
dungspolitische Maßnahmen der Dezentralisierung und Leistungskontrolle es
voraus und appellieren an es; gleichzeitig stehen Individualisierungsnormen
im Zentrum der Bemühungen von Personal- und Unterrichtsentwicklung.
Was zunächst als ,neue Subjektorientierung' erscheinen mag, dient auch da-
zu, das Denken und Handeln der ,Betroffenen', die - so ein zentraler Grund-
satz der Rhetorik zur , Schulentwicklung , - ,Beteiligte' werden sollen, für
Supervision, Beobachtung und Administration verfügbar zu machen.
Mit Blick auf zweierlei Hintergrund lässt sich diese Ambivalenz kurz
verdeutlichen: so wird zum einen im Kontext ökonomischer Ressourcen-
knappheit und gesellschaftlicher Kritik am ,Modernisierungsdefizit' der
Schule seit den 1990er Jahren , (Teil-)Autonomisierung , von Einzelschulen
als ,Paradigmenwechsel ' apostrophiert und zum Allheilmittel der Bildungs-
politik erklärt. Doch sind verstärkte Selbstbestimmung der Einzelschulen und
Abbau hierarchischer Entscheidungswege im Schulwesen begleitet von der
Verordnung einer Fülle neuer Aufgaben der Planung (Schulprogrammarbeit)
und Kontrolle (interne und externe Evaluationen), so dass die vermeintliche
,Freisetzung' mit zunehmender Überwachung einhergeht. Dabei steht diese
Verschiebung staatlicher Einflussnahme - weg von der Anordnung von Ab-
läufen und ihrer Kontrolle hin zum Modell von Leistungsvorgabe und Eva-
luation - in einem engen Zusammenhang mit globalen Entwicklungen. Wäh-
rend Neave (1986) diesen Wandel als ,Aufstieg des evaluativen Staates' be-
schreibt, spricht Deleuze (1993) - im Anschluss an Foucault - von einer Ver-
schiebung der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft, die die einzelnen nun
nicht mehr qua Repression und Disziplinierung, sondern durch (Ergebnis-)
Kontrolle und Evaluation dem Selbstzwang zu kontinuierlicher Fortbildung
und permanenter Kommunikation unterwirft. Diesen bildungspolitischen
Veränderungen entspricht zum anderen auf Seiten des Individuums, dass dem
Einzelnen nicht mehr ein bestimmtes Set an Fertigkeiten und Wissen, son-
dern flexible, pragmatische Dispositionen abverlangt werden, in denen
262 Roswitha Lehmann-Rommel

Selbstkompetenz eng an Effektivität, Erfolg und ökonomisches Wachstum


gebunden sind. Neben Management-Konzepten greift man dabei zunehmend
auf konstruktivistische Theorien und auf Traditionen ,progressiver Erzie-
hung' aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - wie z.B. Dewey, Vygotsky
oder auch Piaget (vgl. Popkewitz 1998) - zurück. Dadurch aber hat das Pro-
jekt des sich selbst bestimmenden und regierenden Individuums, welches
Rationalisierungsprozesse auf immer weitere Bereiche seines Denkens, Füh-
lens und Verhaltens ausdehnt und so flexibel auf vielfältige Kontexte pro-
blemlösend zu antworten lernt, im neoliberalen Kontext zum Ende des 20.
Jahrhunderts eine gänzlich neue Funktionalität gewonnen: Autonomie, Parti-
zipation und (Selbst-)Reflexivität stellen sich nicht (mehr) als (kritische) An-
tithesen zu politischer Macht und als Hindernis ökonomischer Funktionalität
dar; vielmehr bilden sie als bedeutsame ökonomische Ressourcen und maß-
gebliche Produktionsfaktoren nun selbst den neuen Brennpunkt von Erzie-
hungs- und Fortbildungsmaßnahmen in pädagogischen Institutionen (vgl.
Pongratz, in diesem Band).
Angesichts dieser Verschiebungen herrscht in der Erziehungswissen-
schaft derzeit eine gewisse Ratlosigkeit, wie diese Tendenzen kritisch reflek-
tiert und Kriterien dafür theoretisch verortet werden können: während einer-
seits vielerorts das neoliberale ,Credo' bloß pädagogisch wiederholt wird,
findet man sich andererseits unter der Hand in alten ideologiekritischen
Fahrwassern wieder, die - entlang der traditionellen Opposition von Ökono-
misierung und Humanisierung - auf einen ,wahren Kern' oder das ,Eigentli-
che' der Bildung zurückzugreifen suchen und sich so in essentialistischen
und polarisierenden Diskursen bewegen wie verhaken, ohne dabei in wissen-
schaftlichen Theorieentwicklungen noch eine Basis zu haben. Im Folgenden
soll daher versucht werden, mithilfe Foucaults Konzept der Gouvernementa-
lität einen kritischen Zugang zu eröffnen: diesseits der Alternative, die be-
schriebenen Tendenzen neoliberaler Bildungspolitik bloß als - entweder er-
folgsversprechende oder unheilvolle - Wege der Ökonomisierung aufnehmen
zu können, geht es in einer ,gouvernementalen' Perspektive darum, die be-
nannten Strategien in ihren tiefgreifenden Wirkungen auf Subjektivierungs-
und Bildungsprozesse auszulegen und daher als spezifische ,Regierungsstra-
tegien' lesen zu lernen. Statt also die Unvereinbarkeit von Ökonomisierung
und Humanisierung bzw. Pädagogisierung zu behaupten oder deren erhoffte
Konvergenz idealisierend als ,Humanisierung des Ökonomischen' zu deuten,
untersuchen Gouvernementalitätsanalysen, wie die Etablierung von - insbe-
sondere auf Selbsttechnologien abstellenden - Machtbeziehungen funktio-
niert und welche weitreichenden Irnplikationen sich daraus für die Konstitu-
ierungsprozesse von Subjektivität ergeben. Ausgehend vom theoretischen
Rahmen Foucaults (1) erläutere ich daher Partizipation, Selbstreflexion und
Rückmeldung als Regierungstechniken im Feld Schulentwicklung (2), um
dann einige Vorüberlegungen für eine ,kritische' Perspektive - im Sinn
Foucaults - anzustellen (3).
Partizipation, Selbstreflexion und Rückmeldung 263

1. Der theoretische Rahmen: Macht und


Gouvernementalität

Macht - wie Foucault sie versteht - durchzieht alle Lebensbereiche und va-
riiert ständig im Wechsel und Zusammenspiel der Beziehungen. Wirksame
globale und lokale Machttechniken sind untrennbar miteinander verbunden.
Ihre vielfältigen Strategien durchziehen Diskurse und Praktiken. Damit
grenzt Foucault sich ab von Konzepten souveräner Macht, die von der Idee
eines steuernden und souveränen Zentrums ausgehen und die Ursprünge der
Macht identifizieren (wie legitimieren) sollen. Wenn Macht aber nicht im
Besitz eines Staates, von Gruppen oder einzelnen ist, sondern allein in Bezie-
hungen existiert, können Individuen beherrscht werden, ohne dass ihre for-
melle Autonomie gebrochen werden muss. Machtphänomene sind daher
nicht (strikt) an Hierarchien gebunden, sondern etablieren sich ebenso wir-
kungsvoll in Praktiken der Demokratisierung und Partizipation. Vorausset-
zung dafür aber ist, Macht gerade nicht bloß negativ als Repression und Ver-
bot zu denken und als Fremdbestimmung mit vermeintlicher freier Selbstbe-
stimmung zu kontrastieren; vielmehr geht es Foucault immer wieder darum,
Macht als eine produktive Strategie der Anreizung, Ermöglichung und Her-
vorbringung aufzunehmen. I
Nur folgerichtig denkt Foucault Macht dabei ohne Rekurs auf individu-
elle Intentionalität; nicht die Absicht, sondern die - oft nicht absehbaren -
Wirkungen machen Macht zu dem, was sie ist: "Die Leute wissen, was sie
tun; häufig wissen sie, warum sie das tun, was sie tun; was sie aber nicht wis-
sen, ist, was ihr Tun tut" (DreyfuslRabinow 1994: 219). Folgt man daher
Foucault, so lässt sich Macht nicht als lineare ,Einwirkung' auf andere ver-
stehen; vielmehr muss diese relational als ein "Führen der Führungen"
(Foucault 1994: 255) verstanden werden, so dass Macht und Freiheit, damit
auch Fremd- und Selbstbestimmung nicht konträr zueinander sind, sondern
einander bedingen. Dies aber wird nur verständlich, wenn Macht auch mit
den sozialen Bedingungen der eigenen Existenz verbunden werden kann, so
dass Selbsthervorbringung und Anderenunterwerfung nicht zwei strikt von-
einander getrennte Prozesse sind, wie Butler dies in ihrer anerkennungstheo-
retischen Lektüre aufzuzeigen versucht hat (vgl. Butler 2003). Macht eta-
bliert sich (auch), indem Individuen fortwährend Normen der Anerkennung
ausgesetzt sind, an die sie sich in ihrer Selbstführung gebunden fühlen und

Damit ist die wohl entscheidende (subjektivitätstheoretische) Differenz Foucaults ge-


genüber der Frankfurter Schule benannt: Auch wenn beiden das Anliegen gemeinsam
ist, Machteffekte aufzuzeigen, die an neuzeitliche Rationalität geknüpft sind, so rekur-
riert Foucault darin nicht auf eine verlorene Identität oder eine eingekerkerte Natur;
vielmehr versteht er auch Subjektivität als ,Effekt der Macht', so dass die Marx'sche
Formel ,der Mensch produziert den Menschen' nicht nur ökonomisch gelesen werden
darf: die Menschen, so Foucault, haben sich in ihrer Geschichte selbst als Subjekte
erst hervorgebracht (vgl. Foucault 1981; 1994 wie insgesamt auch Rieger-Ladich, in
diesem Band).
264 Roswitha Lehmann-Rommel

die ihre soziale Existenz allererst ermöglichen. "Das bedeutet, [... ] daß die
Nichtbefolgung dieser Normen die Fähigkeit gefährdet, sich einen Sinn für
den eigenen fortwährenden Status als Subjekt zu erhalten" (Butler 2003: 63).
Normen geben so den einzelnen nicht nur ein Verständnis für das, was sie
sind; vielmehr binden sie auch die eigene Lebensführung an soziale Erwar-
tungen, die als oft unbefragte und unbefragbare Bedingungen der Anerken-
nung fungieren (vgl. Ricken, in diesem Band).
Wenn Foucault daher im Begriff der Gouvernementalität schließlich
,Regieren' (gouverner) und ,Denkweise' (mentalite) miteinander verbunden
hat, so zielt er damit auf zweierlei: zunächst setzt sein Begriff des Regierens
unterhalb der Sphäre des Staates an und bezeichnet "die Gesamtheit von Pro-
zeduren, Techniken, Methoden, welche die Lenkung der Menschen unterein-
ander gewährleisten" (Foucault 1996: 118f.; vgl. 2000: 64); zum anderen
aber markiert er damit die wechselseitige Konstitution von Machttechniken
und Wissensformen (vgl. ebd.: 65). Sein Anliegen, Machttechnologien und
die sie leitende politische Rationalität zu untersuchen, impliziert daher auch,
einen "Nachweis für die Ko-Formierung von modernem souveränem Staat
und modernem autonomen Subjekt (zu) liefern" (Lernke 2000: 33). Gouver-
nementalität umfasst daher die ,Regierung des Selbst' ebenso wie die Regie-
rung anderer; dieses Kontinuum von Selbst- und Fremdführungen, von
selbsttechnologischer und politischer Regierung stellt insofern eine Alterna-
tive dar gegenüber den vereinfachenden Trennungen von Staat und Gesell-
schaft, Öffentlichkeit und Privatheit, Subjektivität und Macht. Foucaults
Konzept der Gouvernementalität ermöglicht es, Reformdiskurse und -prakti-
ken nicht von Idealen und Sollensvorstellungen her, sondern als funktionie-
rende Regierungspraktiken zu betrachten und die als selbstverständlich ange-
nommenen Heilmittel - u.a. ,Partizipation', ,Reflexivität' und Rückmel-
dung/Evaluation - in ihren Effekten und Machtwirkungen auf die Bildungs-
prozesse der ,Beteiligten' zu beschreiben.
Insgesamt basiert Foucaults genealogische Methode darauf, vertraute
Denkschemata in Frage zu stellen, um Prozesse der Subjektkonstituierung
thematisieren, Netze von Kräfteverhältnissen, Interessen und Strategien auf-
zeigen und Exklusionen beobachten zu können. Im Unterschied zur Kriti-
schen Theorie geht es ihm genealogisch darum, das ,Gefangensein' nicht in
einer Ideologie bzw. einer ,falschen' oder ,unwahren' Überzeugung, sondern
in für selbstverständlich genommenen Perspektiven (,Diskursen ') zu untersu-
chen, welche - als Inbegriff des Selbstverständlichen - auch die jeweiligen
Praktiken durchziehen. Als "Formen zur Konzeptualisierung des Realen"
(Owen 2003: 125) eröffnen sie Erfahrungsfelder, in denen sich Subjekte wie
Objekte allererst konstituieren, und bestimmen vorgängig, welche Behaup-
tungen als wahr oder falsch gelten können (, Wahrheitsspiele'). Zugleich sind
sie immer Teilansichten und enthalten immer Vorurteile (d.h. Urteile, die als
Urteilsprinzipien fungieren), die sich selbst aus den Interaktionen mit der
Welt herleiten (nicht von elementaren Urteilen). Anliegen einer jeden Ge-
nealogie ist es daher, Bilder und Perspektiven nachzuzeichnen, welche die
Partizipation, Selbstreflexion und Rückmeldung 265

Einzelnen gefangen halten und die spezifischen Weisen prägen, "wie sich
Subjekte oder Individuen selbst verstehen und auf sich beziehen, aber auch
wie sie für andere erkennbar und beschreibbar sind" (Saar 2003: 164). Ge-
nealogische Verfahren rekonstruieren und historisieren insofern epistemische
Rahmen, moralische Normen wie praktische Konventionen, die zuvor zeitlos
gültig schienen und als jeweilige Konstruktionen in ihrer Kontingenz und ih-
ren Machtwirkungen nicht erkennbar waren. Perspektiven relativer oder hy-
pothetischer Freiheit eröffnen sich in dem Maße, wie einzelne die eigene
Verstricktheit in Selbstverständlichkeiten aufdecken und damit die Illusion
aufheben, sie würden ,Realität' beschreiben, während sie doch nur den eige-
nen Denkbahnen entlang folgen. Foucaults Genealogie - so ließe sich bün-
deln - untersucht daher, auf welche konstitutive Weise Subjektivitäten
macht- und diskursabhängig sind und welche Techniken, Institutionen und
Normen Effekte von InklusionlExklusion, ErkennbarkeitlUnsichtbarkeit,
WertschätzungNerworfenheit produzieren. Identifizierungen (z.B. als ,Ho-
mosexueller' oder als ,Orientalin') werden im Kontext sozialtechnologischer
und geschichtlicher Normen und Machtgefüge gesehen, welche nur wenig
Spielräume lassen, die Zuschreibungen abzuwehren oder sie zumindest nicht
zum Hauptbezugspunkt des eigenen Selbstverstehens zu machen.
Es ist diese weitgehend nicht dualistische und lineare, sondern relationale
Konzeption von Macht, die Foucaults genealogische Überlegungen gegen-
wärtig so fruchtbar macht, hat doch am Ende des 20. Jahrhunderts eine Ver-
schiebung von disziplinarischen, direkten Regierungsformen zu eher indi-
rekten und neoliberalen Machtpraktiken stattgefunden, die nun - so die Gou-
vernementalitätsanalysen im Anschluss an Foucault (u.a. RoselMiller 1992;
Lemke 2000) - qua Selbstbestimmung und Kommunikation ,führen' und re-
gieren. So erlaubt insbesondere Foucaults Instrumentarium (und regt dazu
an), die Kennzeichen der neoliberalen Rationalitätsform wie die ,Generalisie-
rung der ökonomischen Form' und das neoliberale Programm des Rückzugs
des Staates aus sozialen Fragen als spezifische Regierungstechniken zu de-
chiffrieren. Die Dominanz des Marktes als politisches Programm wird als ei-
ne Transformation des Politischen in informelle, zivilgesellschaftliche For-
men von Autorität und Kontrolle gelesen. ,Freie Wahl' auf einem (Bildungs-)
Markt bedeutet dann keinesfalls Freiheit im Sinn einer Abwesenheit von
Herrschaft; im Gegenteil, die Verlagerung auf die Regierung des zivilen Le-
bens und die Ökonomisierung vormals außerökonomischer Bereiche durch
Kriterien wirtschaftlicher Effizienz beinhalten weitreichende Anforderungen
für die Individuen und bringen tiefgreifende Folgen für Subjektivierungspro-
zesse sowie neue strukturelle Zwänge mit sich. So impliziert der - oft als
Freiheitsgewinn apostrophierte - neoliberale Abbau direkter staatlicher Inter-
ventionen auch die Etablierung vermehrt indirekter Techniken der Führung
von Individuen; insbesondere die zunehmende Privatisierung gesellschaftli-
cher Risiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Armut zielt auf die Kon-
struktion verantwortlicher, ökonomisch-rationaler Subjekte, die die Wahl von
Handlungsoptionen als freie, selbstbestimmte Willensentscheidungen er-
266 Roswitha Lehmann-Rommel

scheinen lässt und dafür sorgt, dass deren Folgen allein dem Subjekt zuzu-
rechnen sind. Die strukturell bedeutsamen Effekte neoliberaler Ökonomisie-
rungspolitik zeigen sich daher nicht nur in der Schaffung von Bildungsmärk-
ten (und Märkten überhaupt), sondern vor allem darin, dass Menschen und
Organisationen sich selbst als ein Unternehmen betrachten, entsprechend
agieren und sich solchermaßen auf andere wie auf sich selbst beziehen (vgl.
Bröckling 2003). So hat ein ,unternehmerisches Selbst' die Bereitschaft, in
das eigene Leben und Lernen, in die eigene Gesundheit und Sicherheit zu in-
vestieren; und nur folgerichtig gilt umgekehrt: "Wer es an Initiative, Anpas-
sungsfähigkeit, Dynamik, Mobilität und Flexibilität fehlen lässt, zeigt objek-
tiv seine oder ihre Unfähigkeit, ein freies und rationales Subjekt zu sein. [... ]
Entscheidend ist die Durchsetzung einer ,autonomen' Subjektivität als gesell-
schaftliches Leitbild, wobei die eingeklagte Selbstverantwortung in der Aus-
richtung des eigenen Lebens an betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien
und unternehmerischen Kalkülen besteht" (Lernke u.a. 2000: 30). Analog da-
zu realisiert sich Ökonomisierung im schulischen Sektor primär durch das
Schaffen von Umgebungen, in denen Techniken, Arrangements und Taktiken
Subjekte als selbstregulierende und autonome Agenten positionieren und da-
für sorgen, dass zunehmend indirekt, d.h. ohne Vorschriften, regiert werden
kann. Im derzeitigen Umbau des Schulsystems werden entsprechende Indivi-
dualisierungsnormen auf unterschiedlichen Ebenen von Schülerlernen, Leh-
rerhandeln sowie Personal- und , Organisationsentwicklung , etabliert (vgl.
Liesner, in diesem Band).

2. Gouvernementale Regierungspraktiken im Feld


Schulentwicklung
Diskursen kommt im Kontext von Gouvernementalitätsanalysen eine beson-
dere Bedeutung zu. Macht operiert nach Foucault wesentlich durch Sprache
hindurch; in den verborgenen, selbstverständlich vorausgesetzten und geteil-
ten Metaphern und Mustern des Sprachgebrauchs manifestieren sich Kon-
stellationen von Macht und Wissen. Sie formen eine Vielfalt von Praktiken
und Strukturen in Erziehungsinstitutionen ebenso wie im Staat.
Foucault lädt dazu ein, ,nur' genau zu beobachten, was gesagt und getan
wird. Was aber gesagt und getan wird, gehorcht zwar eher zufälligen und im
Fluss befindlichen, aber doch zwingenden Regeln - aber nicht einem kohä-
renten System oder einer, Vernunft' -, die das Sagbare vom Unsagbaren
trennen: zum Gesagten gehören "Voreingenommenheiten, Auslassungen, un-
erwartete Ecken und Kanten, deren sich die Sprecher überhaupt nicht bewußt
sind" (Veyne 1992: 28). Das Unbewusste in den Diskursen ist bei Foucault
jedoch nicht das Unbewusste der sprechenden Subjekte. Diese spielen aus
seiner Perspektive für die Beschreibung von Diskursformationen keine ex-
planatorische Rolle. Diskurspraktiken nehmen vielmehr Gestalt an in institu-
Partizipation, Selbstreflexion und Rückmeldung 267

tionellen Praktiken, in Verarbeitungsformen und in pädagogischen Interak-


tionen, welche sie unmerkbar aufzwingen und aufrechterhalten. 2
Diese hier nur angedeutete theoretische Perspektive ermöglicht es, das
Funktionieren der Diskurse von Bildungspolitikern, Beratern, Praktikern und
Wissenschaftlern selbst als ein zentrales Element der Regierung zu untersu-
chen, welches die Interaktionen im Feld Schulentwicklung strukturiert und
verändert. Die derzeitigen Reformstrategien, die Einzelnen in eine Vielzahl
von Netzwerken der wechselseitigen Verpflichtung, Anteilnahme und Über-
prüfung einzubinden, erfolgen auf unterschiedlichen Ebenen, die miteinander
verflochten sind: strukturell-organisatorische Maßnahmen (z.B. Dezentrali-
sierung), die Konstruktion konstruktivistisch denkender, reflexiver und
selbstverantwortlicher Lehrer und Schüler als Fokus von ,Unterrichtsent-
wicklung' und ,Personalentwicklung' sowie die Etablierung von Kommuni-
kationen zum Zweck von Qualitätsmanagement, Beurteilung und Kontrolle.
Im Folgenden untersuche ich - exemplarisch - Diskurse und Praktiken zu (a)
Partizipation, (b) Selbstreflexion ,eigenverantwortlicher' Schüler und Lehrer
sowie (c) Rückmeldung - einige zentrale Stichworte der Schulentwicklungs-
konzepte.

(a) Partizipation
Die Ablösung des zentralistischen Steuerungsmodells durch dezentrale Ein-
bindung von LehrerInnen in schulrelevante Entscheidungsprozesse wird als
ein "steuerungsstrategischer Paradigmenwechsel" (Terhart/Weiß 2000: 2)
betrachtet und besitzt eine Schlüsselfunktion für derzeitige Schulreformen.
(Teil-)Autonornisierung der Einzelschulen funktioniert nur durch Partizipa-
tion der betroffenen Lehrer; deren Umwandlung in ,Beteiligte' bildet daher
einen Fokus der Reformprogramme. In Diskursen zu Partizipation, Demo-

2 Im gegenwärtigen Diskurs zu Schulentwicklung sind Begriffe wie Autonomie und


Partizipation, Verantwortung, Reflexion und Handlungsforschung, Planung, Rück-
meldung und Evaluation solch scheinbar evidente ,Diskursselbstverständlichkeiten'.
Sie etablieren nicht nur vielfach geteilte Theorien und Erklärungsmuster, sondern
stiften auch lose Gemeinsamkeiten zwischen unterschiedlichen Gruppen von Betei-
ligten (Praktikern, Bildungspolitikern, Beratern und Wissenschaftlern). Dass dabei
dieses gängige und unhinterfragte Vokabular häufig wenig kohärent und in sich wi-
dersprüchlich gedacht ist (vgl. z.B. den Autonomiebegrift), behindert diese Wirkung
kaum. So legt - bloß exemplarisch - der Begriff der ,Autonomie der Einzelschule' ei-
ne hohe Anschlussfähigkeit ökonomischer Argumentationen an die pädagogische
Tradition nahe. Autonomie wird dabei als ein selbstverständlicher Wert genommen,
der die Qualitätsverbesserung von Schulen garantiert und sowohl die "pädagogische
Freiheit in der Staatsschule als schulische Lebensform, völlig unabhängig von Rechts-
form, Organisation und Verfahren" als auch "die heutige unternehmerische Freiheit
zum Zwecke der Optimierung des betriebswirtschaftlichen Erfolges" (Richter 1994:
6) meint. Frappierend ist dabei, dass die Disparität der ökonomischen und pädagogi-
schen Argumentation nur selten thematisiert wird; es erscheint vielmehr als sekundär,
welche der Argumentationen der "Idee einer Autonomie der Schule zum Durchbruch
verhelfen" (Richter 1994: 16).
268 Roswitha Lehmann-Rommel

kratisierung und Dezentralisierung von Entscheidungsbefugnissen werden


verantwortliche Subjekte im Zusammenhang mit zurechenbaren Leistungen
und Normen der Qualitätsverbesserung konstruiert und zugleich in Gemein-
schaften als zentralem Bezugspunkt persönlicher beruflicher Identität posi-
tioniert. Im Folgenden untersuche ich Normativität (1), Machbarkeitsannah-
men (2) und Exklusion (3) als Merkmale dieser Diskurse.
(1) Eine durchgängige Nonnativität ist wesentliches Kennzeichen bildungs-
politischer sowie schulpädagogischer Schriften zur ,Schulentwicklung '.
Über deren Voraussetzungen und Implikationen gibt es keine Aufklä-
rung. Partizipation wird dem Diktat der Effektivität und einem Grundton
der Verpflichtung untergeordnet. Die Selbstverständlichkeit dieses Jar-
gons wird dabei durch sprachliche Formen quasi-empirischer Beschrei-
bung verfestigt.
So wird die Gewährung von Entscheidungs- und Gestaltungsfreiheiten
auf der lokalen Ebene - scheinbar selbstverständlich - gleichgesetzt mit
erhöhter Verantwortung und Zurechenbarkeit. ,,[D]en vor Ort Beteiligten
soll es möglich sein, Organisationsformen zu entwickeln, die den jewei-
ligen Anforderungen und den eigenverantwortlich gesetzten pädagogi-
schen Schwerpunkten entsprechen" (Bildungskommission NRW 1995:
155). Verstärkte lokale Entscheidungsbefugnis und erweiterte Verant-
wortlichkeit für die Folgen 3 bringen - so die Rhetorik - (qua ,Profilbil-
dung' und Wettbewerb) eine Verbesserung der Qualität von Schule mit
sich. Dabei scheinen Qualität und Effektivität, Partizipation und Eigen-
verantwortlichkeit als Ziele (bzw. Mittel) in ihrer wechselseitigen Be-
dingtheit unmittelbar einleuchtend zu sein.
Zugleich werden normative Implikationen sprachlich häufig nicht zu er-
kennen gegeben. "Schule als ,Haus des Lemens' - ist ein Ort, an dem
alle willkommen sind, ... ist ein Ort, an dem Zeit gegeben wird zum
Wachsen, gegenseitige Rücksichtnahme und Respekt vor einander ge-
pflegt werden, - ist ein Ort, an dem Umwege und Fehler erlaubt sind und
Bewertung als Feedback hilfreiche Orientierung geben" (Bildungskom-
mission NRW 1995: 86). Darin erscheinen utopische Zustände sprachlich
als Beschreibung einer Gegenwart; indem man die präskriptive gramma-
tikalische Form vermeidet, wird nahegelegt, es gäbe ein solches ,Haus
des Lemens'. So aber werden Präskriptivität und Verpflichtungscharak-
ter sprachlich unkenntlich gemacht, indem geradezu empirisch argumen-

3 Die Konstruktion von Verantwortlichkeit bezieht sich nicht nur auf Lehrer, sondern
auch auf Schüler und auf Eltern. So hat Ball gezeigt, wie im Zusammenhang mit zu-
nehmenden Marktelementen im Bildungssektor auch die Rolle von Eltern sich verän-
dert, indem diesen nun zunehmend die Verantwortung zugeschoben wird, die Ausbil-
dung ihrer Kinder zu sichern und die ",richtigen' Entscheidungen bezüglich der
Schulwahl" (Ball 2000: 39) zu treffen. "Wenn Eltern also schlechte Entscheidungen
treffen, dann sind sie eben schlechte Eltern. Deshalb propagiert die Labour-Regierung
auch die Verbesserung elterlicher Fähigkeiten. [... ] Einige Soziologen sind nicht davor
zurückgeschreckt, diese Entwicklung als ,responsibilitisation' zu bezeichnen" (ebd.: 40).
Partizipation, Selbstreflexion und Rückmeldung 269

tiert wird. Durch die Verschleierung des rein programmatischen Charak-


ters der Schriften wird die Denkgewohnheit zementiert, empirische Pro-
zesse unter dem Primat von Normen erfassen zu können4 und zugleich
Beschreibungen z.B. von bestehenden Praktiken, Wirkungen und Res-
sourcen systematisch auszublenden.
Wenn man daher nun die Diskurse zu Dezentralisierung und Partizipation in
tatsächlichen Praktiken verortet, so lässt sich nicht nur beobachten, dass "ein
klarer positiver Effekt (der Maßnahmen auf Qualitätsverbesserung, RLR)
nicht festgestellt werden kann" (Terhart 2000: 136). Als Ergebnis empiri-
scher Untersuchungen lässt sich zudem konstatieren, dass Entscheidungsge-
walt und Überprüfung durchgängig ,oben' bleiben. Entgegen der Partizipa-
tionssemantik werden weitgehend nur Umsetzung und Modus der Zielerrei-
chung ,nach unten' verlagert, so dass die Schulen nur insoweit einbezogen
werden, "so weit und so lange sie sich den administrativen Vorgaben beu-
gen" (Terhart 2001: 64); damit aber - so ließe sich zuspitzen - ist "die Schul-
verwaltung auf diese Weise der Inkorporation von Schulen in die Schulver-
waltung einen Schritt näher gekommen" (ebd.).
(2) Die durchgängig normative Denkform geht Hand in Hand mit einem di-
chotomen Theorie-Praxis-Verständnis, das Machbarkeitsannahmen in
sich birgt. Es wird nicht nur vorausgesetzt, dass es einfache richtige Lö-
sungen, selbstverständlich gültige Ideale und ein gesichertes Wissen um
Modelle und Rezepte gibt; vielmehr führt die Denkfigur des , Umsetzens '
wie andauernde sprachliche Gesten des Norrnierens, Appellierens und
Einforderns auch zu fatalen Vereinfachungen im Umgang mit Schwie-
rigkeiten, so dass diese allein als ,Umsetzungsschwierigkeiten' erschei-
nen und ausschließlich den Praktikern in Form von Schuldzuweisungen
zugeschrieben werden.
Wandel wird dabei als ein machbarer Prozess dargestellt, dessen Erfolg
garantiert werden kann, wenn bestimmte Vorgaben befolgt werden. So
suggerieren Phillip und Rolff in ihrem Buch über Schulprogrammarbeit,
dass Argumente und Einwände gegen Schulprogramme, die auf Proble-
me wie "Aufbau von Illusionen, Einführung von Konkurrenz und Markt,
Zunahme der Belastung, [... ] Unverbindlichkeit" hinweisen, "sich alle-
samt entkräften [lassen], wenn man die Schulprogrammarbeit sinnvoll
betreibt" (PhilipplRolff 1998: 12). Unter diesem Motto - "Davon han-
deln die folgenden Kapitel" (ebd.) - werden dann Rezepte geliefert, wie
das Auftreten von Schwierigkeiten, verhindert' werden kann.
Der Blick auf Diskrepanzen zwischen Bildungssemantik und empiri-
schen, institutionellen Bildungsprozessen wird enggeführt auf die effek-

4 Ich sehe hier einen Zusammenhang zur verbreiteten Tendenz, die Berichte der empiri-
schen Schulvergleichsforschung (TIMSS, PISA) immer wieder auch als normative
Texte zu lesen, d.h. ihnen direkt Veränderungsbedarf und Verbesserungsvorschläge zu
entnehmen.
270 Roswitha Lehmann-Rommel

tive ,Umsetzung' der ,richtigen' Modelle. Für das Gelingen sind letztlich
Engagement und Teilnahme der eigenverantwortlichen Individuen aus-
schlaggebend. Dabei legen die an die Kompetenz der einzelnen gerich-
teten Normen gleichzeitig nahe, wo die Schuldigen für ein Nichtgelingen
zu suchen sind: bei den ,eigenverantwortlichen' Lehrern. 5 Es werden
Anerkennungsbedingungen aufgestellt, deren polarisierend bewertender
Semantik die Beteiligten sich kaum entziehen können. Evaluationspro-
zesse - so wird z.B. betont - sind hoch voraussetzungsvoll; Echtheit,
Vertrauensbeziehungen und die Fähigkeit, Folgen aus den Beschreibun-
gen zu ziehen, gelten als unabdingbar. Man wünscht sich keine "Fassa-
denevaluation", sondern eine "authentische Evaluation" (KempfertlRolff
1999: 25, 24), um Misstrauen gegenüber bewertenden Übergriffen im
Vorfeld auszuschalten und die Fähigkeit der einzelnen zu stärken, die
notwendigerweise mit Evaluation einhergehenden persönlichen Destabi-
lisierungs- und Überlastungseffekte in den Griff zu bekommen. Die
Denkfiguren, mit denen dieser Komplexität begegnet wird, sind oft ein-
fach und werden in Form von Normen und rezeptartigen Hinweisen aus-
gesprochen: Wer ein Schulprogramme aufstellt oder eine Evaluation
durchführt (die Impulse für die weitere Entwicklung geben soll), "muß in
der Kommunikation gut sein" (Hameyer/Schratz 1998: 89). Empfohlen
werden: längere Phasen vertrauensbildender Maßnahmen, zunächst nur
,homöopathische Dosen' in Form von kleineren Erhebungen, das Befol-
gen ausführlicher Ethik-Kodices (Altrichter 1998: 285f., 302). Hinweise
auf Problemlagen und Widersprüche münden "meist direkt in Lösungs-
hilfen in Form von Leitfäden für die Schulleitung und Fortbildungspro-
grammen" (Knab 2000: 630).
So sorgen Machbarkeitsannahmen und Normativität im Diskurs zu Schul-
entwicklung einerseits systematisch dafür, dass kaum beschrieben werden
kann, was z.B, in Lehrerkollegien geschieht, die nicht ,gut in der Kommuni-
kation' sind, die kein Vertrauen in die Schulverwaltung haben oder wo mo-
ralische Regeln für Evaluationen verletzt werden. Es wird keine Sprache
entwickelt, um Aktivitäten und Ereignisse unter einem nicht durch Normati-
vität enggeführten Blick zu beschreiben. Andererseits führen diese Praktiken
dazu, dass selbstverständlich gesetzte Diskursregeln sich in Kommunikatio-
nen und Denkungsart der Beteiligten einschreiben. Unabhängig davon, ob
diese die Maßnahmen ablehnen oder sich engagieren, sind sie Anerken-
nungsbedingungen ausgesetzt, die einen stillschweigenden, weitreichenden
Einfluss auf Identitätsverständnis und die Bildung von Subjektivität haben.

5 Dem entspricht der ,double bind' in den gegenwärtigen öffentlichen Diskussionen zur
Schulreform: dem Bildungssystem wird zugemutet, die Heilmittel für die gesell-
schaftlichen Probleme und Missstände hervorzubringen, während man gleichzeitig
durch Schuldzuschreibungen und Abwertungen seine öffentliche Wertschätzung de-
montiert.
Partizipation, Selbstrejlexion und Rückmeldung 271

(3) Vertraut man aber darauf, dass das notwendige Wissen für Verände-
rungsprozesse als ein theoretisches Wissen formuliert werden kann, so
dass Schwierigkeiten immer nur Umsetzungsschwierigkeiten sind und
damit zur Abwertung der Handelnden führen, dann ist Exklusion eine nur
logische Folge dieser Vorstellung. Selbst die explizite Forderung, nicht
linear, sondern systemisch zu denken (vgl. Horster 2003: 19ff.), ist dann
Bestandteil eines Diskurses, der durch feststehende Ziele und Kategorien
von Effektivität und Erfolg strukturiert wird und insofern mechanisch-
linear operiert.
Insbesondere der ,Umgang mit Widerstand' wird zum bevorzugten The-
ma von schulpädagogischen Ratgebern und Schulleiterfortbildungen. Die
Ratschläge konzentrieren sich - unterschiedlich subtil - darauf, wie, wi-
derständige' Lehrer - u.a. in Form von paradoxen Interventionen - zu
manipulieren sind. Eine Metapher für ein ,konstruktives Umgehen mit
Widerstand' lautet: "Ein Kalb, das nicht in den Stall will, soll man nicht
am Kopf ziehen, sondern am Gegenteil - am Schwanz nämlich und zwar
in jene Richtung, die vom Stall wegführt. Das Kalb macht - widerständig
wie es ist - den Sprung nach vom" (Geißler, zit. nach Philipp 1998: 241).
Häufig betonen die Autoren die Notwendigkeit, differente Standpunkte
"zunächst" zuzulassen und auf Einwände einzugehen - andernfalls drohe
"innere Kündigung" und Misserfolg von Entwicklungsrnaßnahmen (Hor-
ster 2003: 20).
Insgesamt werden so in der bildungspolitischen Rhetorik von Partizipation
und Autonomie offensichtlich Komplexität und Ungewissheit drastisch redu-
ziert, was zugleich die Vielzahl von Aktivitäten überhaupt erst ermöglicht.
Zentral darin ist die Konstruktion ,eigenverantwortlicher Beteiligter' (vgl. b),
deren Aktivitäten systematisch auf ihre ,Qualität' hin kontrolliert und in
Kommunikationen Normen der Anerkennung unterworfen (vgl. c) werden.

(b) Eigenverantwortung und Selbstreflexion


Eigenverantwortung der Individuen gewinnt zentrale Bedeutung in einem
Zusammenhang, in dem der Einzelne mit seinen Wünschen und Gefühlen,
Erwartungen und Hoffnungen als Verbündeter von ,Qualitätsentwicklung'
und Ökonomisierung bzw. Effektivierung angesprochen wird. Die positive
Besetzung der humanistisch klingenden Leitbilder (Schule als menschliches
und vertrauenswürdiges ,Haus des Lernens') verbirgt, dass sie einem obers-
ten ,telos' der Effektivität und Effizienz unterworfen bleiben. Persönliche
Autonomie, Konkurrenzfähigkeit, Effizienz, aktiver Unternehmergeist des
Selbst erscheinen als Garantie für ökonomisches Wachstum und soziales
Wohlergehen.
Wenn der Lehrende ebenso wie der Lernende als ,Unternehmer seiner
selbst' angesprochen wird, erwartet man von ihm, dass er sein Leben "als
permanentes Assessment Center" (Bröckling 2000: 160) führt. Das bedeutet,
dass er eigene Wünsche exploriert, seine Ressourcen und individuellen Be-
272 Roswitha Lehmann-Rommel

sonderheiten kennt, nutzt und ausbaut, eigene Schwächen offenlegt und sie
überwindet und in jeder Hinsicht sein Leben in die eigene Hand nimmt.
"Selbstmanagement beruht in wesentlichen Teilen auf der Überzeugung, das
erreichen zu können, was man erreichen will. Dem entspricht der mehr oder
weniger radikale Konstruktivismus der impliziten Psychologien: ,Unser Le-
ben ist das, wozu unser Denken es macht' ... Erfolg wird zur Einstellungssa-
che im wörtlichen Sinn. [... ] Wer Erfolg hat, hat ihn verdient, wer keinen hat,
hat etwas falsch gemacht" (Bröckling 2000: 158f., 162). Aus dieser Logik
heraus entsteht die Tendenz, Probleme der Kinder (und Lehrer) nicht in ihren
sozialen oder institutionellen Kontexten zu untersuchen, sondern als persön-
liche Defizite der Selbstwertschätzung, Selbstdisziplin und Motivation the-
matisiert. Das eigene Leben als ein Unternehmen zu führen, lässt Investitio-
nen in Lernen, Gesundheit, Sicherheit und psychisches Wohlbefinden zum
Hauptbemühen werden. Dabei gehen Mobilisierung von Ehrgeiz und Exi-
stenzangst Hand in Hand. Zwei Aspekte der Konstruktion des ,neuen' selbst-
bewussten, unternehmerischen Bürgers in Bezug auf Schulentwicklungsprak-
tiken werden im folgenden beispielhaft herausgestellt: (1) die Objektivierung
und Problematisierung von Lernprozessen (z.B. unter dem Stichwort ,Lernen
lernen' oder ,lebenslanges Lernen', vgl. Rose 1999: 160ff.) sowie (2) die An-
forderung, Emotionen, Begehren und Konflikte managen zu können. 6
(1) Metakognitive Kompetenzen gelten als Schlüssel, der Schüler und Lehrer
befähigen soll, sich an Veränderungen von Arbeitsorganisationen und
Gesellschaft anzupassen und gleichzeitig die eigene ,Selbstverwirkli-
chung' voranzubringen. Man betrachtet Fertigkeiten, Wissen und Wohl-
ergehen als Kapital, in das die Einzelnen selbstverantwortlich investieren
sollen. Fortwährende Verbesserung von Qualität wird zur "Obsession"
für diejenigen, die ihr Leben bzw. ihre Organisation als Unternehmen
managen (vgl. Simons 2002: 617).
So wird vom Lehrer (z.B. als Handlungsforscher) ebenso wie vom
Schüler (mit metakognitiven Lernkompetenzen) Eigenverantwortung für
Selbstreflexion und Verhaltensänderungen auf der Basis von Selbsteva-
luation und Rückmeldungen als selbstverständlich erwartet. Der Lehrer
hat für das pädagogische Ziel der Formation des sich selbst regierenden
Bürgers, der frei ist von äußerlicher Überwachung, eine Mittlerposition.
Die Grundlage für die Rhetorik des selbstreflexiven Lernen und Lehrens
bildet die Orientierung an psychologisch-konstruktivistischen Diskursen:
Begriffe wie Subjektorientierung, forschendes Lehren und Lernen, ganz-
heitliches Lernen, individuelle Leistungsbeurteilungen transportieren
immer auch Individualisierungsnormen, die sich auf subtile Weise in
Denken, Fühlen und Begehren der Beteiligten einschreiben.

6 Weiterhin sind gängige Führungsinstrumente als Praktiken gegenüber SchülerInnen


und LehrerInnen zu nennen: Ziele zu vereinbaren, Programmplanungen zu verordnen,
Verträge abzuschließen, den Erfolg von Aktivitäten zu bewerten.
Partizipation, Selbstreflexion und Rückmeldung 273

Zugleich werden Bildung und Entwicklung am Kriterium der Motivation


und der Kompetenz, sich in Problemlösungen zu engagieren, gemessen:
"the educated subject of constructivism is a constructed leamer who does
not rely on authority for motivation to engage in scientific inquiry. The
constructed leamer [... ] embodies the desire to identify with the educa-
tional curriculum [... ] No longer is the educated subject one who has
leamed, or one who leams; now the educated subject is one who desires
to leam" (Fendler 1998: 58). Identität wird dabei definiert über produkti-
ve, flexible Aktivitäten, persönliche Kompetenzen wie Selbstvertrauen,
Selbstdisziplin, Problemlösefähigkeit und Lernbereitschaft. Diese Denk-
konstellation kennzeichnet u.a. Diskurse zu einer ,neuen Lemkultur' und
zu ,Unterrichtsentwicklung'. Lehrern, die entsprechende Lern-, Arbeits-
und Kommunikationstechniken einführen, werden Entlastung, erhöhte
Berufszufriedenheit und Effektivität des eigenen Arbeitens versprochen
(vgl. Klippert 2000: 36).
Die Verquickung der Qualität und Effizienz der Organisation mit individuel-
lem Wohlergehen führt konsequenterweise dazu, dass Individuen mit ihren
Gefühlen, Wünschen, individuellen Eigenarten, persönlichen Stärken und
Schwächen interessant werden. Berufliche Kommunikationen erstrecken sich
daher auch auf bislang private Bereiche; in Praktiken der Personalentwick-
lung im Feld Schule rücken zunehmend Persönlichkeitsmerkmale für Beur-
teilung und Fortbildung ins Zentrum (vgl. Buchen 1994).
Vom Schulleiter (vgl. Koch-Riotte 2000) bis zum Schüler wird ,emotio-
nale Kompetenz' erwartet. Bewusster Umgang mit Emotionen wird für
Lehrerhandeln als hoch wirksamer Faktor herausgestellt (vgl. Hargreaves
1998). Gefühle (Angst, Glück, Zufriedenheit aber auch Stress, Belastung,
Interesse), Wünsche und psychische Konstitution (Belastbarkeit, emotio-
nale Stabilität), aber auch Haltung zu Veränderung werden zu Gegen-
ständen beruflicher Diskurse und erhalten öffentliches Interesse.
Auch Gesundheitsförderung wird zunehmend als Aufgabe von Schullei-
tung und als wichtiger Teil von Personalentwicklung betrachtet. Man in-
teressiert sich für "Gesundheitsverhalten (z.B. richtige Haltung und Be-
wegung, Ernährung, Rauchen), Beanspruchungsverhalten (Umgang mit
Stress und Selbstmanagement), Sicherheits- und Risikoverhalten (z.B.
Risikokognition oder Schulden), Führungs- und Managementverhalten
(z.B. Auspowern von Lehrern oder Führen mittels Angst), Kommunika-
tions- und Rollenverhalten (z.B. Ärgerverhalten), Sozialverhalten gene-
rell" (KastnerlKastner 1999: 3). Um die Selbstverantwortung von Lehre-
rInnen für ihre Gesundheit und ihre Arbeitsfähigkeit zu fördern, werden
u.a. ,Gesundheitszirkel ' als Bestandteil des Qualitätsmanagements einer
Schule eingerichtet, in denen Kollegen sich über ihre Befindlichkeit, ihre
Bedürfnisse, Schwächen und Ängste (vgl. Rimmasch 1999: 8f.) austau-
schen (sollen). Konsequenterweise wird betont, dass die Sorge um die
Gesundheit gerade nicht allein in Händen der Einzelnen bleiben darf,
274 Roswitha Lehmann-Rommel

sondern im (ökonomischen) Interesse der Organisation institutionell ein-


gebunden werden muss (vgl. Rirnmasch 1999: 6) und daher der Fürsorge
durch die Leitung und der sozialen Unterstützung von Kollegen bedarf
(vgl. KastnerlKastner 1999: 7).
In den benannten Kommunikationsprozessen gelten klare Anerkennungsbe-
dingungen. Unabhängig davon, ob diese Verfahren von den Beteiligten als
hilfreich, zeitraubend oder unangenehm eingeschätzt werden, sind sie darin
Subjektivierungsprozeduren mit einer doppelten Normativität unterworfen:
einerseits wird der Einzelne mit Verweis auf seine Selbstverantwortung zu-
nehmend mit mehr oder weniger expliziten Normen - exemplarisch: eines
,förderlichen' Gesundheitsverhaltens (z.B. nicht mehr zu rauchen, Sport zu
treiben, Stress abzubauen, Belastungen besser auszuhalten etc.) - konfron-
tiert; andererseits werden in diesen Kommunikationen immer mehr Bereiche
einer Orientierung an Zielen und Ist-Soll-Vergleichen unterworfen. Mit dem
Versprechen erhöhten Wohlbefindens erwartet man von den Einzelnen, dass
sie zu verantwortlichen Planem, Buchhaltern und Verbesserungsagenten nun
auch in bislang persönlichen Angelegenheiten werden - mit dem Effekt, da-
für auch zur Rechenschaft gezogen werden zu können.
Dabei werden diese Normen weitgehend ahistorisch als universal wün-
schenswerte, natürliche oder unmittelbar mit Fortschritt verbundene Disposi-
tionen und Handlungskompetenzen dargestellt. Doch sie sind keineswegs für
alle gleichermaßen verfügbar. Pädagogiken, welche auf Lernen, Problemlö-
sen und Partizipation fokussieren, produzieren Prinzipien, mit denen Kinder
und Lehrer beurteilt, differenziert und getrennt werden. Damit sorgen sie für
(neue) Inklusionen und Exklusionen (z.B. die Regeln des Problemlösens tei-
len die Welt in eine rationale und eine nicht-rationale und grenzen nicht-
verständige Bürger aus). Die ,richtigen' Dispositionen und Sensitivitäten
werden im Reformsystem platziert, die ,anderen' in einem oppositionellen
oder marginalen Raum. Gleichzeitig haben sie maßgebliche Wirkung auf die
Einschätzung von persönlicher Kompetenz, Erfolg und Selbstwert. Diese
Normalisierung erfolgt nicht direkt, sondern über Regeln und ,selbstver-
ständliche Annahmen', welche auf alles anwendbar erscheinen. Persönliche
Haltungen, Ängste, Stärken und Schwächen, aber auch Träume und Visionen
(v gl. ,Zukunftswerkstätten' als Instrument von Schulentwicklung) werden
aus dem Kontext individueller Lebenszusammenhänge herausgenommen. Als
isolierte können sie dann normiert, allgemeinen operationalisierbaren ,Lö-
sungsvorschlägen' unterworfen und in Kommunikationen kontrolliert wer-
den.

(c) Subjektivierung und Kontrolle durch Rückmeldungen


Aus gouvemementalitätstheoretischer Perspektive wird Kontrolle wesentlich
durch (veränderte) Kommunikationen ausgeübt, in welche die ,eigenverant-
wortlichen' Subjekte als zentralem Bezugspunkt beruflicher Identität einge-
bunden werden. ,Demokratische' kommunikative Beurteilungsverfahren (ins-
Partizipation, Selbstrejlexion und Rückmeldung 275

besondere Rückmeldungen), die sich prinzipiell auf alle Verhaltensbereiche


richten können, lösen hierarchische Kontrollbeziehungen ab. "Die Beurteilten
stehen unter multiperspektivischer Aufsicht, wobei die Kontrollierten zu-
gleich die Kontrolleure derjenigen sind, von denen sie kontrolliert werden"
(Bröckling 2003: 85).
Feedback-Berichte und öffentliche Kommunikationen ordnen Selbstver-
stehen vorgängigen Normen unter und koppeln es automatisch an Entwick-
lungsmodelle und individuelle Entwicklungspläne. Sie befähigen Individuen
- so die Rhetorik -, Bedürfnisse und Schwächen zu identifizieren, welche
dann diagnostiziert und geheilt werden können. Fremdbeobachtungen gewin-
nen eine maßgebliche Steuerungsfunktion, indem sie zu Selbstreflexion und
verbessertem Verhalten nötigen.
So gewinnen ,Rückmeldungen' aus unterschiedlichen Perspektiven (Kol-
legen, Schüler, Eltern, Schuladministration, Supervisor oder Schulent-
wicklungsberater) derzeit zunehmend Bedeutung als Evaluationsverfah-
ren. Je umfassender Rückmeldungen erfolgen - desto objektiver und bes-
ser. Daher werden ,360°-Rückmeldungen' als Idealfall angestrebt. ,,zu-
sammenfassend läßt sich behaupten, dass in der Betrachtungsweise des
360-Grad-Kreises die Feedbacksituation für die Lehrkräfte dichter und
hochwertiger und damit ergiebiger würde. Dieses Modell sollte deshalb
für die formative Selbstevaluation an Schulen zum Standard werden"
(Strittmatter 1999: 23), in der Wirtschaft sind 360°-Beurteilungen als
komplexe Technologie entwickelt worden (Fragebögen mit 135 Items zu
24 Schlüsselfertigkeiten des Managements, vgl. Townley 1995). Sie gel-
ten als wertvollster und validester Weg, ,alle' Seiten von sich selbst zu
sehen, und sind Ausdruck einer umfassenden Kundenorientierung, die als
Grundlage von Qualitätsverbesserung gilt.
Im Sinn des ,lebenslangen Lernens' wird eine unabschließbare ,Dynamik
der Selbstoptimierung' der Kontrollierten in Gang gesetzt. Um Ver-
gleichbarkeit zu sichern, greift man auf quantifizierende Methoden zu-
rück. "In diesem Regime des ,flexiblen Normalismus' kommt der Quan-
tifizierung der Beurteilungsergebnisse die Funktion eines Wahrheits ge-
nerators zu. Die statistisch gemittelten, meist in Balkendiagrammen vi-
sualisierten Fremdbeobachtungen sollen das Wissen über sich selbst von
subjektiven Verzerrungen und Blindstellen befreien" (Bröckling 2003:
86). Auch der Qualitätsbegriff ist weitgehend an quantitative Messbarkeit
gebunden; Diskussionen zu einem qualitativen Leistungsverständnis ha-
ben in der Erziehungswissenschaft erst begonnen. Auf diesem Hinter-
grund deutet Ball die Nötigung von Lehrern, alles begründen und recht-
fertigen zu müssen, im wesentlichen als eine Deprofessionalisierung der
Lehrerrolle (vgl. Ball 2000).
Der selbstreflexive, eigenverantwortliche, kommunikationsfähige und vertrau-
ensvolle Lehrer wird einerseits als Voraussetzung für den Erfolg solcher Maß-
nahmen gefordert. Andererseits wirken diese selbst als Subjektivierungstech-
276 Roswitha Lehmann-Rommel

nologien, indem sie die Lehrenden neuen Individualisierungsnormen und An-


erkennungsbedingungen aussetzen. ,Selbstverantwortliche' Subjekte werden in
Gemeinschaften als zentralen Bezugspunkten von (beruflicher) Identität posi-
tioniert, welche auf neue Weise an die Einschätzungen von anderen gebunden
wird. Rose (2000: 81) spricht von einem ,Regieren durch community' (d.h.
durch den Aufbau verantwortlich handelnder Gemeinschaften, in denen jeder
bereit sein müsse, ,sich selbst' einzubringen). Diese Form von Gemeinsamkeit
wird wesentlich auf der Basis von Urteilsbeziehungen geschaffen. Menschen,
die ihre Identitäten in Diskursen von Leistung aufbauen, unterliegen einerseits
der Verführung, leidenschaftlich zu sein in Bezug auf Höchstleistung, anderer-
seits schaffen fortwährendes Beurteiltwerden und dauernd wechselnde Anfor-
derungen aus unterschiedlichen Perspektiven Unsicherheit und Instabilität. Ge-
rade die Kombination von verheißener persönlicher Entwicklung und immer
möglicher Demütigung bzw. der Androhung, im Ausscheidungskampf zu un-
terliegen, erschwert den Aufbau einer Distanz gegenüber kritischen Beurteilun-
gen (vgl. Townley 1995: 277). Studien aus angelsächsischen Ländern (vgl. Ball
2000) zeigen, wie die subjektive Belastung enorm wächst, wenn die einzelnen
in immer weitreichenderen Aspekten zu ,Gegenständen von Leistungsdiskur-
sen' werden - z.B. durch die aus Reformperspektive fortschrittlichen reflexiven
Lemdokumentationen wie Portfolio oder Lemtagebuch. In dem Maße, wie man
LehrerInnen zunehmend Aktivitäten zweiter Ordnung (management, monito-
ring, performance) abfordert, verkürzen sich deren personelle und zeitliche
Ressourcen für Lernen und Unterrichten. Inanspruchnahmen für öffentlich-
keitswirksame Profilierung und Imagebildung und die Vorherrschaft ökonomi-
scher Gesichtspunkte in der Beurteilung von Lehrerhandeln bergen zudem die
Gefahr, sich selbst als - mehr oder weniger - bedeutungslos zu erfahren, und
sorgen dafür, dass die ohnehin an Schulen vorhandene "Kontroll- und Täu-
schungskultur" (vgl. Thiemann 1985) sich tendenziell ausweitet.

3. Kritik als ,Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden'


(Foucault)

Welche Möglichkeiten von Kritik ergeben sich aus den bisherigen Analysen
für Schulentwicklung? Zunächst ist festzuhalten: die beschriebenen Formen
von Normativität, Machbarkeitsannahmen, Identitätszuweisungen, Exklusio-
nen und Anerkennungsbedingungen sind keine akzidentellen oder vernach-
lässigbaren, sondern höchst wirksame Kennzeichen von Schulentwick-
lungspraktiken, die die jeweiligen Subjektivitäten formen. Aber die vorge-
nommenen Analysen als Einwand gegen ,schlechte Wirklichkeit' zu gebrau-
chen und die bestehenden Praktiken und Diskurse abzuwerten oder neue all-
gemeine Lösungen zu fordern, wäre nur ein weiterer beispielhafter Ausdruck
des normalisierenden Denkmusters.
Partizipation, Selbstreflexion und Rückmeldung 277

Im genealogischen Denken werden Analyse und Kritik strikt getrennt von


einer Ablehnung des Analysierten bzw. Kritisierten. Kritik, wie Foucault sie
versteht, erfordert das Einlassen auf konkrete Ereignisse und den Verzicht auf
ideologische Diskussionen nach dem ,,Modell des Krieges" (vgL Foucault
1981). Probleme wirkungsvoll und ernsthaft aufzuwerfen, bedeutet flir Fou-
cault, "sie mit der größtmöglichen Rigidität, mit höchster Komplexität und
Schwierigkeit zu stellen, so daß eine Lösung nicht auf einen Schlag, dank der
Überlegung von ein paar Reformern oder gar im Hirn einer politischen Partei
auftaucht. [... ] Ich hüte mich wohl, Gesetze zu formulieren. Eher gedenke ich,
Probleme zu bestimmen, sie zu entfesseln und sie innerhalb eines Rahmens von
derartiger Komplexität zu zeigen, daß es mir gelingt, den Propheten und Ge-
setzgebern das Maul zu stopfen: all denjenigen, die flir andere und über andere
sprechen. Das ist der Augenblick, wo die Komplexität des Problems in seinem
Zusammenhang mit dem Leben der Leute auftauchen kann" (Foucault 1981:
10).
Foucaults Konzept der Kritik impliziert daher zweierlei Richtungen von
Subjektivation: die genealogische Analyse von Unterwerfungsweisen des
Subjekts (,assujetissement') und die Suche nach Möglichkeiten, Ereignisse
hervorzurufen, die der Kontrolle entgehen und das automatisierte Funktionie-
ren des Regiertwerdens durchbrechen (,desassujetissement'; vgL Foucault
1992: 15 wie Deleuze 1993). Beides aber ist keine Angelegenheit der Ent-
scheidung oder des freien Willens, sondern bedeutet eine Veränderung von
tief im neuzeitlichen Rationalitätsdispositiv verankerten Haltungen (mentali-
te) und erfordert daher einige Übung. Kritik als "Kunst, nicht dermaßen re-
giert zu werden" (Foucault 1992: 12), durchdringt Praktiken und ist daher
sowohl ein Können und eine Haltung als auch ein Wissen um deren jeweilige
Rationalitäten (vgL Butler 2002). ,Praktiken' aber - so Foucault - können
nicht ohne ein bestimmtes Regime der Rationalität existieren, das sich in die-
se Praktiken oder in Systeme von Praktiken unabhängig vom Bewusstsein der
Einzelnen einschreibt (Foucault 1981: 9).
So steht die im Schulentwicklungskontext wirksame Rationalitätsform
im Bann von rationalistischen, mechanischen Modellen: Zum einen wird
im neuzeitlichen Denken Rationalität verengt auf abstrakte Zweck-
Mittel-Relationen (historisch in Abkehr von einer umfassenden lebens-
praktischen, ethisch orientierten Vernunft in der Antike bzw. Renais-
sance); wenn es darum geht, Mittel auf effektive Weise mit Zielen in
Übereinstimmung zu bringen, wird es selbstverständlich, sich allgemei-
nen Sollensbestimmungen auf eine bestimmte Weise (z.B. in Ist-Soll-
Vergleichen) zu unterwerfen. Zum anderen führt die lineare Verknüpfung
von Ursache und Wirkung im Kausalitätsverständnis dazu, dass Ursachen
vom vollzogenen Prozess abgetrennt und mit Rationalität und Wahlfreiheit
verknüpft werden können; das Konstruieren vorausliegender Ursachen
wird als ein Verstehen wirksamer Ursachen gesehen (z.B. Führungsstil
verursacht Produktivität, Motivatoren steigern Zufriedenheit). So begünsti-
278 Roswitha Lehmann-Rommel

gen monokausale Zuschreibungen vereinfachende Schlussfolgerungen -


exemplarisch: ,gute' Schulen haben weitgehend Konsens über klare Ziel-
vorstellungen; also werden allen Schulen Maßnahmen zur Konsensbil-
dung über Ziele (Schulprogrammarbeit) verordnet. Schließlich wird
Handeln in der Neuzeit zunehmend unter dem Primat bewusster Über-
zeugungen und Intentionen gefasst, welche mechanistisch als Ursache für
(anzustrebende) Wirkungen gedacht werden; zugleich greift in dem Ma-
ße, wie Wandel als Produkt einer rational einwirkenden Kraft (,rational
agency') gesehen wird, die Vorstellung um sich, "dass ohne Anweisun-
gen und Überwachung wenig oder gar nichts produziert werden würde
und die Potenziale der Menschen unausgeschöpft blieben" (Townley
2003: 47). Kontrolle und Steuerung werden zum maßgeblichen Kriterium
für den Wert von Handeln, gleichzeitig werden Interaktionen auf identifi-
zierbare Subjekte enggeführt. Leistungsmessung und Rückmeldungen, wie
sie oben skizziert wurden, versprechen Kontrolle und setzen ein Denken
in leicht zu identifizierenden Kausalbeziehungen und linearem Fort-
schrittsdenken gemäß einer kausalen Kette voraus.
Kaum verwunderlich ist daher, dass sich in den letzten Jahren kyberneti-
sche Denkmodelle mit systemischen Managementkonzepten zunehmend
als eine neue Rationalitätsform verbreitet haben, die insgesamt komple-
xere Kontroll- und Steuerungspotentiale bereitstellen sollen, indem nun -
statt in linearen Zusammenhängen - in zirkulären Rückwirkungen ge-
dacht wird. Bedeutsam ist, dass Organisationen insgesamt nicht als be-
wusst geplante, rational gestaltete Systeme verstanden werden können, in
denen Effizienz und Ordnung einander proportional bedingen; vielmehr
ist es die Struktur selbst, die fortlaufend neue Steuerungsprobleme auf-
wirft und daher keineswegs primär Entlastung und Effizienzsicherung
bringt (vgl. Kornberger 2003: 115). Mit der Diagnose, dass Konformität
mit organisatorischen Regeln zunehmend zum Effektivitätsproblem ge-
worden ist, so dass - mehr oder weniger rigide - Bürokratie selbst zu ei-
ner ineffizienten Organisationsform gerät, geht die paradoxe Einsicht
einher, dass (freiwillige) Eigeninitiative immer auch die Unangepasstheit
selbstverantwortlicher Subjekte meint und das verbotene Abweichen von
der Regel als wünschenswert erscheinen lässt. Dies führt - mit Blick auf
Organisationen - nicht nur dazu, dass einst supplementäre Phänomene
wie Unternehmenskultur, Humanressourcen, Leadership und Mikropoli-
tik zentral werden; vielmehr werden Konzepte u.a. der Selbstorganisati-
on, Kreativität und Emotionalität genutzt, um Komplexität zu managen.
In ihnen sind Beobachtung und Kritik ausdrücklich erwünscht, weil Irri-
tation zum maßgeblichen Interventionsinstrument geworden ist, um In-
novation, Selbststeuerungspotentiale und unternehmerische Kompetenz
auf allen Ebenen anzuregen. Doch auch der systemische Management-
diskurs, der sich im Schul bereich erst langsam durchsetzt, steht pro-
grammatisch im Dienst von Effizienz- und Erfolgskriterien; auch wenn
dessen Kontrollverständnis sicherlich komplexer und subtiler geworden
Partizipation, Selbstreflexion und Rückmeldung 279

ist, so bleibt - paradox genug - wünschenswerte Eigeninitiative und


Selbstbestimmung eingebunden in Kontroll- und Bewertungsverfahren
eines systemischen Qualitätsmanagements. Das kybernetische Denkmo-
dell, welches Prozesse mit offenem Ausgang in Rechnung stellt und In-
strumente der Kontextsteuerung verfeinert, ist so längst zu einem tragen-
den Bestandteil des neoliberalen ,goveming at a distance' geworden.
Der Blick auf beide Rationalitätstypen belegt, dass Macht und Freiheit sich
nicht quasi gegenständlich voneinander trennen lassen; auch Regierungsprakti-
ken im Sinn disziplinierender Autoritätsverhältnisse oder kontrollierender
Kommunikationen, in denen eigenverantwortliche Subjekte konstruiert werden,
implizieren einen Zugewinn von subjektiven Fähigkeiten und Macht. Gelingt
es aber nicht, Fremd- und Selbstbestimmung voneinander zu scheiden und ein-
deutig normativ zu bewerten, so geht es vielmehr um die Funktion von Regie-
rungspraktiken; ihr Sinn besteht darin, normal zu sein, zu funktionieren, ,Er-
folg' zu haben, bestimmte Tätigkeiten ,gut', ,richtig' oder ,effektiv' durchzu-
führen - unabhängig davon, ob die Kriterien dafür eigenverantwortlich bzw.
partizipatorisch gesetzt werden. Bereits im Verständnis von Lebensführung als
Aufstellen und Ausführen eines Lebensplans und Selbstbestimmung als Ver-
wirklichen von Zielen und Zwecken, sieht Foucault einen Effekt neuzeitlicher
Normalisierung; deren Kennzeichen ist es u.a., Macht und Freiheit des Subjekts
zur Führung seines Lebens auf ,Selbstführung im Ausführen' oder ,Zielver-
wirklichen' zu reduzieren. Normalisierung und Disziplinierung sind selbstver-
ständlich und damit unsichtbar und total geworden, so "daß die darüber hinaus-
gehende Macht zur persönlichen Lebensführung verloren geht" (Menke 2003:
293). Foucaults zentrale und weitreichende These lautet nun, dass eine irredu-
zible Spannung besteht zwischen der (ethisch-ästhetischen) Macht persönlicher
Lebensführung und den geschichtlichen Bedingungen neuzeitlicher Diszipli-
nar- und Kontrollgesellschaften. Normalisierte Handlungsfahigkeit - gleich-
gültig, ob sie unter direkt disziplinierenden Regierungsformen oder unter indi-
rekten neoliberalen Machtpraktiken eingeübt wird - kann keinesfalls fließend
in persönliche Lebensführung überführt werden (vgl. Menke 2003). Im Ge-
genteil, jede Steigerung von subjektiver Macht im ersten Sinn verdrängt syste-
matisch Freiheitsgrade, sein Leben im Sinne einer eigenen Lebensgestaltung
,führen' zu können. Kritik meint daher immer ein Doppeltes: Analyse wie
praktische Umformung der vorhandenen normalisierten Form, die die Subjek-
tivität unter disziplinarischen und kontrollierenden Machtpraktiken angenom-
men hat. Die "ganze Armatur der ,Normativität' zu kritisieren" (Geuss 2003:
155) bedeutet, in alltäglichen Ereignissen Routinen des Normierens, Zielstre-
bens, Identifizierens, Bewertens und Ausgrenzens aufzusuchen und zu unter-
brechen. Dabei gefahrdet ein Nichtbefolgen von Selbstverständlichkeiten und
Normen in alltäglichen Situationen die Fähigkeit, sich einen Sinn für einen si-
cheren eigenen Subjektstatus zu erhalten. Es erfordert eine Gratwanderung, an
den Grenzen der Anerkennbarkeit leben zu lernen und darauf zu verzichten, die
Spannung von Affirmation und Kritik aufzulösen.
280 Roswitha Lehmann-Rommel

Der entscheidende Unterschied zwischen Praktiken der Unterwerfung und


der ,Kunst, nicht dennaßen regiert zu werden' liegt daher nicht in ihren jewei-
ligen Inhalten, die unabhängig von situativen Kontexten als ,Prinzipien der
Unterwerfung' oder der , Befreiung' gelten könnten; Partizipation, (Selbst-)Re-
flexion und Rückmeldung können in beiden Kontexten auftauchen. Vielmehr
geht es um eine Differenz im Blick auf Ereignisse, nicht um eine Kritik von
Konzepten; insofern erscheint der Unterschied zwischen beiden als minimal
und ist doch ein Gegensatz, wie er größer kaum denkbar ist (vgl. Menke 2003).
Wenn Foucault darauf insistiert, dass es im Wesentlichen um eine Ver-
änderung der Haltung (,mentalite') oder des Könnens geht, gibt es keine
Methoden oder Anleitungen, die sicherstellen, wie eine Tätigkeit unterwer-
fende oder befreiende (ästhetische) Qualität gewinnt. ,Den Gegebenheiten
nicht länger zu folgen', erfordert Übung und Experiment im Bewusstsein der
beschriebenen Zweideutigkeit. In einzelnen Situationen kann die Aufmerk-
samkeit auf Fragen - wie z.B.: Was bedeutet es in konkreten Situationen,
Anerkennung für sich und andere nicht an Kontrolle und Erfolg zu binden?
Wie kann das Konstruieren von Identitäten und Kausalitäten in Kommunika-
tionen unterbrochen werden? - gelenkt werden. Ein Bewusstsein der Funk-
tionalität und historischen Bedingtheit u.a. der Vorstellungen von Refonn
und Veränderung sowie eine geschärfte Aufmerksamkeit für langfristige
Veränderungen in den Regierungsprinzipien bilden hierfür den theoretischen
Bezugspunkt.

Literatur

Altrichter, Herbert (1998): Reflexion und Evaluation in Schulentwicklungsprozessen. In:


Herbert AltrichterIWilfried SchleylMichael Schratz (Hrsg.): Handbuch zur Schulent-
wicklung. Innsbruck und Wien: Studienverlag, S. 263-335.
Ball, Stephen J. (2002): Zunehmende Ungleichheit. Stephen J. Ball im Interview mit Jür-
gen Klausenitzer über Marktelemente im Bildungssektor. In: Forum Wissenschaft Nr.
2 April, S. 38-41.
Ball, Stephen J. (2000): Perforrnativities and Fabrications in the Education Economy: To-
wards the Performative Society? In: Australian Educational Researcher 27, Vol. 2, S.
1-24.
Bildungskommission NRW (1995): Schule der Zukunft. Denkschrift der Kommission ,Zu-
kunft der Bildung - Schule der Zukunft' beim Ministerpräsidenten des Landes Nor-
drhein-Westfalen. Neuwied und Berlin: Luchterhand.
Bröckling, Ulrich (2000): Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und
Selbstmanagement. In: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmannffhomas Lernke (Hrsg.):
Gouvemementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frank-
furtIMain: Suhrkamp, S. 131- 167.
Bröckling, Ulrich (2003): Das demokratisierte Panopticon. Subjektivierung und Kontrolle
im 360°-Feedback. In: Axel HonnethIMartin Saar (Hrsg.): Michel Foucault. Zwi-
schenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. FrankfurtlMain:
Suhrkamp, S. 77-93.
Buchen, Herbert (1994): Personalentwicklung in der Schule. Weiterentwicklung von
Schule durch Erstellung eines Leitbildes und Erarbeitung einer Schulstrategie. In:
Partizipation, Selbstreflexion und Rückmeldung 281

Herbert BuchenlLeonhard HorsterlHans-Günter Rolff (Hrsg.): Schulleitung und


Schulentwicklung. Berlin, C 2.1.
Butler, Judith (2002): Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend. In: Deutsche
Zeitschrift für Philosophie 50, S. 249-265.
Butler, Judith (2003): Noch einmal: Körper und Macht. In: Axel HonnethlMartin Saar
(Hrsg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-
Konferenz 2001. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 52-67.
Deleuze, Gilles (1993): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. In: Ders: Unter-
handlungen. 1972-1990. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 254-261.
Dreyfus, Hubert L.lPaul Rabinow (1994): Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus
und Hermeneutik (1982). Weinheim: Beltz.
Fendler, Lynn (1998): What is it impossible to think? A Genealogy of the educated Sub-
ject. In: Thomas PopkewitzlMarie Brennan (Hrsg.): Foucault's Challenge. Discourse,
Knowledge, and Power in Education. New York und London: Teachers College, Co-
lumbia University, S. 39-63.
Foucault, Michel (1981/1978): Kritische Theorie und die Krise des Regieren. Ein Interview
aus dem Jahre 1978. In: Tüte Sonderbeilage ,Wissen und Macht - Die Krise des Re-
gierens', S. 5-13.
Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik? Berlin: Merve.
Foucault, Michel (1994): Politik und Ethik. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42, S.
703-708.
Foucault, Michel (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Tromba-
dori. FrankfurtlMain: Suhrkamp.
Foucault, Michel (2000): Die Gouvernementalität. In: Ulrich Bröckling/Susanne Kras-
mannlThomas Lemke (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Öko-
nomisierung des Sozialen. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 41-67
Geuss, Raymond (2003): Kritik, Aufklärung, Genealogie. In: Axel HonnethIMartin Saar
(Hrsg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-
Konferenz 2001. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 145-156.
Hameyer, Uwe/Michael Schratz (1998): Schulprogramme: Wegweiser von der Vision zur
Gestaltung von Schule. In: Herbert AltrichterlWilfried Schley/Michael Schratz
(Hrsg.): Handbuch zur Schulentwicklung. Innsbruck und Wien: Studienverlag, S. 86-
110.
Hargreaves, Andy (1998): The Emotions of Teaching and Educational Change. In: Ders.
u.a. (Hrsg.): International Handbook of Educational Change. Dordrecht: Kluwer Aca-
demic Publishers, S. 558-575.
Horster, Leonhard (2003): Schulentwicklung als Prozess organisationalen Lernen. Organi-
sationales Lernen und der Umgang mit Widerständen. In: Herbert BuchenlLeonhard
HorsterlHans-Günter Rolff (Hrsg.): Schulleitung und Schulentwicklung. Berlin 1994ff
B 2.1.
Kastner, MichaellBea Kastner (1999): Gesundheitsmanagement in Schulen. Personalpflege
schafft die Rahmenbedingungen für die Gesundheit der Mitarbeiter. In: Herbert Bu-
chenILeonhard HorsterlHans-Günter Rolff (Hrsg.): Schulleitung und Schulentwick-
lung. Berlin 1994ffC 3.7,2.
Kempfert, GuyIHans-Günter Rolff (1999): Pädagogische Qualitätsentwicklung. Ein Ar-
beitsbuch für Schule und Unterricht. Weinheim und Basel: Beltz.
Klippert, Heinz (2000): Pädagogische Schulentwicklung. Planungs- und Arbeitshilfen zur
Förderung einer neuen Lernkultur. Weinheim und Basel: Beltz.
Koch-Riotte, Barbara (2000): Ängste wahrnehmen, bearbeiten - Führungskompetenz er-
weitern. Training für Schulleitungen muss den Umgang mit Gefühlen einschließen.
In: Herbert BuchenlLeonhard HorsterlHans-Günter Rolff (Hrsg.): Schulleitung und
Schulentwicklung. Berlin 1994ff, C 4.3.
282 Roswitha Lehmann-Rommel

Knab, Doris (2000): Sammelrezension zu Veröffentlichungen über Schulautonomie und


Schulqualität. In: Zeitschrift für Pädagogik 46, S. 625-630.
Kornberger, Martin (2003): Organisation, Ordnung und Chaos. Überlegungen zu einem
veränderten Organisationsbegriff. In: Richard Weiskopf (Hrsg.): Menschenregie-
rungskünste. Anwendungen poststrukturalistischer Analyse auf Management und Or-
ganisation. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 111-131.
Lemke, Thomas (2000): Neoliberalismus, Staat und Selbsttechnologien. Ein kritischer
Überblick über die ,governmentality studies'. In: Politische Vierteljahresschrift 41
H.1, S. 31-47.
Lemke, Thomas/Krasmann, SusannelBröckling, Ulrich (2000): Gouvernementaltiät, Neoli-
beralismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In: Ulrich Bröckling/Susanne
KrasmannIThomas Lemke (Hrsg.) Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur
Ökonomisierung des Sozialen. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 7-40.
Menke, Christoph (2003): Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung
und ästhetischer Existenz. In: Axel HonnethlMartin Saar (Hrsg.): Michel Foucault.
Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Frank-
furtlMain: Suhrkamp, S. 283-299.
Neave, Guy (1986): The All-Seeing Eye of the Prince in Western Europe. In: Graeme C.
Moodie (Hrsg.): Standards and Criteria in Higher Education. 22nd Annual conference.
Papers, Guildford: Society for Research into Higher Education & NFER-Nelson, S.
157-170.
Owen, David (2003): Kritik und Gefangenschaft. Genealogie und Kritische Theorie. In:
Axe\ HonnethIMartin Saar (Hrsg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption.
Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 122-144.
Philipp, Elmar (1998): Konstruktiv mit Widerstand umgehen. In: Erika Risse (Hrsg.):
Schul programm. Entwicklung und Evaluation. Neuwied: Luchterhand, S. 235-242.
Philipp, ElmarlHans-Günter Rolff (1998): Schulprogramme und Leitbilder entwickeln: ein
Arbeitsbuch. Weinheim und Basel: Beltz.
Popkewitz, Tom (1998): Dewey, Vygotsky, and the Social Administration of the Individu-
al: Constructivist Pedagogy as Systems of Ideas in Historical Space. In: American
Educational Research Journal, Vol. 35, S. 535-570.
Richter, Ingo (1994): Theorien der Schulautonomie. In: Recht der Jugend und der Bildung
H.1, S. 5-16.
Rimmasch, Thomas (1999): Schulische Gesundheitszirkel. Gesundheitsförderung durch
Aussprache über das Befinden am Arbeitsplatz. In: Herbert Buchen!Leonhard Hors-
ter/Hans-Günter Rolff (Hrsg.): Schulleitung und Schulentwicklung. Berlin 1994ff, C
2.4.
Rose, NikolaslPeter Miller (1992): Political power beyond the State: problematics of gov-
ernment. In: British Journal of Sociology 43 (2), S. 173-205.
Rose, Nikolas (1999): Powers of Freedom. Reframing Political Thought. Cambridge:
Cambridge University Press.
Rose, Nikolas (2000): Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens.
In: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.): Gouvernementalität
der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. FrankfurtlMain: Suhr-
kamp, S. 72-109.
Saar, Martin (2003): Genealogie und Subjektivität. In: Axel HonnethlMartin Saar (Hrsg.):
Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz
2001. FrankfurtIMain: Suhrkamp, S. 157-177.
Simons, Maarten (2002): Governmentality, Education and Quality Management. In: Zeit-
schrift für Erziehungswissenschaft 5, S. 617-633.
Strittmatter, Anton (1999): Konfliktlinien in der Ausgestaltung von LehrerInnenbeurtei-
lung. In: journal für schulentwicklung H 1, S. 17-26.
Partizipation, Selbstreflexion und Rückmeldung 283

Terhart, Ewald (2000): Zwischen Aufsicht und Autonomie. Geplanter und ungeplanter
Wandel im Bildungsbereich. In: Neue Sammlung 40, S. 123-140.
Terhart, Ewald (2001): Die Veränderung pädagogischer Institutionen. In: Eckart Lie-
bauIDoris Schuhmacher-Chilla/Christoph Wulf (Hrsg.): Anthropologie pädagogischer
Institutionen. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, S. 49-72.
Terhart, EwaldlManfred Weiß (2000): Bildungsfinanzierung. Eine Einführung in den
Thementeil. In: Zeitschrift für Pädagogik 46, S. 1-4.
Thiemann, Friedrich (1985): Schulszenen. Vom Herrschen und vom Leiden. Frank-
furt/Main: Suhrkamp
Townley, Barbara (2003): Epistemische Grundlagen des modemen Managements und ab-
strakte Managementsysteme. In: Richard Weiskopf (Hrsg.): Menschenregierungskünste.
Anwendungen poststrukturalistischer Analyse auf Management und Organisation,
Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, S. 37-64.
Townley, Barbara (1995): ,Know Thyself: Self-awareness, Self-formation and Managing.
In: Organization Vol. 2, S. 271-289.
Veyne, Paul (1992/1978): Die Revolutionierung der Geschichte. Frankfurt/Main: Suhr-
kamp.
Andrea Liesner

Von kleinen Herren und großen Knechten.


Gouvernementalitätstheoretische Anmerkungen zum
Selbständigkeitskult in Politik und Pädagogik

1.
Wer heute nach der Zukunft der Bildung fragt, sieht sich im Spektrum politi-
scher Antworten mit einem bemerkenswerten Phänomen konfrontiert: Im
überwiegenden Teil der politischen Programmatiken geht es weniger darum,
welche Fähigkeiten Menschen haben sollen, als darum, wie sie sein sollen.
Die bisherige Dominanz von Selbsttätigkeitsbeschreibungen im Diskurs über
das lebenslange Lernen (vgl. Liesner 2002: 131ff.; Masschelein 2001; Ruhl-
off 1997) scheint sich hin zu einer Konzentration auf den selbständigen ,gan-
zen Menschen' zu verschieben, die von den massiven Umbrüchen im Bereich
der Arbeit nicht zu trennen ist.
Denn gegenwärtig erodiert das, was in den westlichen Industriestaaten
noch bis zu Beginn der 1990er Jahre als Normalität abhängiger Beschäfti-
gungsverhältnisse galt und mit der Vorstellung erwerbsbiographischer Konti-
nuitäten verbunden war. Mit den IuK-Technologien beginnen die tradierten
Grenzen zu verschwimmen, die Arbeit an bestimmte zeitliche, räumliche und
soziale Strukturen banden (vgl. BröcklingIHorn 2002). Darüber hinaus sehen
sich abhängig Beschäftigte innerhalb postfordistisch konzipierter Betriebe in
immer stärkerem Maße mit der Anforderung konfrontiert, sich als "Arbeits-
kraftunternehmer" permanent selbst um "funktionale Verwendungen (d.h.
,Käufer')" der je eigenen Dienstleistung bemühen zu müssen (vgl. Pongratzl
Voß 199812002: 138; empirisch dazu: dies. 2003).
Inzwischen wird ein Bedarf an mehr Selbständigkeit auch dort angemel-
det, wo es um den Umgang mit Nicht-Arbeit geht. Gerhard Schröders plaka-
tives Diktum, es gebe in der Bundesrepublik ,,kein Recht auf Faulheit" (vgl.
Schröder 2001), pointiert in diesem Sinne einen Aktivierungsdiskurs, der die
versicherungsrechtlich obligatorischen Mitwirkungspflichten Erwerbsloser
programmatisch in die Forderung einbettet, sich analog zum marktorientier-
ten Leitbild für Erwerbstätige als Unternehmer seiner selbst zu begreifen: als
ein Subjekt, das an sich arbeitet, das die Suche nach einer entlohnten Be-
schäftigung individuell ,passgerecht' gestaltet und auch die Zeit bis zu einer
etwaigen (Wieder-)Einstellung tätig verbringt, nämlich mit Qualifizierungs-
maßnahmen, ehrenamtlichem Engagement oder bürgerschaftlicher Arbeit.
Beide Appelle, also der zur Mobilisierung von Beschäftigten und der zur
286 Andrea Liesner

"Verfleißigung" (Helmstetter 2003: 259) von Arbeitslosen, werden von poli-


tischen Maßnahmen flankiert, die Selbständigkeit als beruflichen Status för-
dern: Neben den Neuregelungen, die im Rahmen der am 01.01.2003 in Kraft
getretenen Gesetze zur Umsetzung der so genannten Hartz-Reformen Ar-
beitslose zur Gründung einer "Ich-AG" motivieren, dürften die einflußreichs-
ten Initiativen gegenwärtig die im Kontext einer so genannten Mittelstands-
offensive 1997 von der Bundesregierung gestarteten Gründungsförderungs-
programme "StartUp" und "maST - Existenzgründungen aus Hochschulen"
(vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit 2003; Exist 2003; Start-
up 2003) sein.
Zeitnah dazu hat sich in der Pädagogik ein Ansatz etabliert, der sich auf
die Unterstützung eines unternehmerischen Handlungstyps konzentriert: den
so genannten Entrepreneur (vgl. Brockhaus 2001; Faltin u.a. 1998; Kent
1990; Koch 2002).1 Dessen spezifische ökonomische Funktionen sollen ihn
von denen anderer unterscheiden, so zum Beispiel von denen des Managers
oder denen des Kapitalisten. Letzterer "hat Geld, kauft sich in einem [sic]
Unternehmen ein und versucht, die Verzinsung für sein Kapital zu verbes-
sern. Er rationalisiert und schließt unproduktive Teile des Unternehmens,
setzt damit tendenziell Beschäftigte frei"; der Entrepreneur hingegen "hat ei-
ne Idee, gründet ein Unternehmen, stellt Leute ein" (Faltin u.a. 1998: 4).
Entrepreneurship Education meint dementsprechend den Versuch, die Bedin-
gungen für ein solches Handeln zu verbessern und es pädagogisch zu beför-
dern. In der bundesrepublikanischen Hochschullehre findet sich der Ansatz
derzeit noch überwiegend in Form von Seminaren zum Thema Existenzgrün-
dung2 , doch seine Ansprüche gehen weit über diese Realisierungsformen hin-
aus: Da Bildung "in Zukunft zunehmend nur dann noch Aufstieg - oder zu-
mindest Existenzsicherung" bedeute, "wenn Menschen Marktzusammenhän-
ge und Entrepreneurship besser verstehen; wenn sie lernen, unternehmerische
Ideen zu entwickeln und sich selbst und andere unter den Bedingungen des
Weltmarktes Arbeitsplätze zu schaffen", sei eine Pädagogik, die sich auf die
"Förderung von Arbeitnehmerqualifikationen" beschränke und an der "Fikti-
on der Vollbeschäftigung" festhalte, nicht mehr zeitgemäß (Faltin u.a. 1998:
V). Für notwendig wird vielmehr eine "Erziehung zum unternehmerischen
Handeln" gehalten, "die früh einsetzt und Entrepreneurship nicht länger als
biographische Absonderlichkeit, sondern als Grundqualifikation versteht."
Für die Berliner Erziehungswissenschaftier Faltin und Zimmer impliziert die-
se Bestimmung u.a., dass die "bisher an einen nahezu lebenslangen Marsch
durch die pädagogischen Institutionen" gewöhnten Pädagogen künftig "eben-
falls ein Verständnis für Entrepreneurship entwickeln und unter Beweis stel-
len" müssten (ebd.). Von Fachkollegen wird bereits eine bildungspolitische
Großanstrengung zur Etablierung einer pädagogisch hergestellten "Kultur der

Für den Hinweis auf diesen Arbeitsbereich und weiterführende Diskussionen zum
Thema Entrepreneurship danke ich Ulrich Bröckling.
2 Zu den curricularen Schwerpunkten dieser Seminare vgl. Ripsas 1998.
Von kleinen Herren und großen Knechten 287

Selbständigkeit" angemahnt. "Vor dem Hintergrund des Leitbilds Lebensun-


ternehmertum und einer immer höheren Lebenserwartung" müsse "auch die
Bildungsplanung zu einer Lebensbildungsplanung erweitert werden, in der
sich außerschulische und nachberufliche Bildung als eine dritte Kraft neben
der schulischen und beruflichen Bildung" etabliere: ,,Eine Herausforderung
für die Bildungswissenschaft, sich als integrativer, nicht abtrennbarer Be-
standteil einer umfassenden Lebenswissenschaft zu positionieren" (Opa-
schowski 2002: 96; Hervorhebung i.O.).
Auch wenn solche Diagnosen und die aus ihnen abgeleiteten Ansprüche
innerhalb der wissenschaftlichen Gegenwartspädagogik derzeit noch keinen
prominenten Platz besetzen, deutet sich mit der politischen Beförderung des
Gründungsthemas und der am Autonomieprimat orientierten Richtung der
aktuellen Strukturreformen im europäischen Schul- und Hochschulbereich
doch immerhin an, dass die unternehmerische Denkfigur im Bildungsdiskurs
künftig eine größere Rolle als bisher spielen könnte. Welche Funktionen aber
haben die aktuellen politischen Selbständigkeitspostulate und ihre pädagogi-
schen Entsprechungen? Von welchen Voraussetzungen gehen sie aus, welche
Erwartungen sind an sie geknüpft?
Und was ist aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive in dem Postu-
lat impliziert, sich als Unternehmer seiner selbst zu begreifen? Was muss
man über sich wissen, um ein solches Selbstverständnis für vernünftig zu be-
finden, und was schließt dieses Wissen eventuell aus?
Im Anschluss an eine Skizze der Entrepreneurship Education, welche
anband eines für diesen Diskurs typischen Sammelbandes exemplarisch die
Ausweitung unternehmerischen Handeins zu einem allgemeinen Verhaltens-
modell konturiert (2), wird diesen Fragen aus einer Perspektive nachgegan-
gen, die an Foucaults Überlegungen zur Gouvernementalität anschließt (3).

2.
Die von Faltin und Zimmer vertretene Erziehung zum Unternehmertum lässt
sich zunächst dadurch charakterisieren, dass sie ihre Zielgruppe bevorzugt
mit Künstlern vergleicht: Beide antworteten "auf Wirklichkeit mit Phantasie"
und unterschieden sich neben der Verwendung anderer "Medien und Mate-
rialien" lediglich dadurch, dass Entrepreneure ihre Idee ökonomisch strin-
genter als Künstler kalkulieren (vgl. Faltin u.a. 1998: 79).3 Die zunächst um-
strittene Frage, ob Virtuosität, Phantasie und Kreativität tatsächlich pädago-
gisch herstellbar sind (vgl. Ripsas 1997: 232), scheint dabei recht schnell an
Gewicht verloren zu haben: "Mit der Entwicklung von pädagogischen Inno-
vationen im Bereich der Projektarbeit, des selbstorganisierten Lernens bzw.

3 Zu dem bereits in den 1980er Jahren in Wirtschaft und Politik erstarkten Interesse am
Ästhetischen vgl. Ruhloff 2000: 17f.
288 Andrea Liesner

der kooperativen Selbstqualiftkation" könnten immerhin sowohl die im Un-


ternehmertum "benötigten psychologischen Fähigkeiten wie z.B. Hingabe,
Risikotoleranz und Kreativität" gefördert werden als "auch eine Verbindung
der rationalen Merkmale des kreativen Prozesses mit der emotionalen Inno-
vationsfähigkeit des Künstlerischen" (Ripsas 1998: 217f.).
Dass der als unternehmerischen Idealtypus gedachten Person innerhalb
dieser Pädagogik ein solch enormer Stellenwert beigemessen wird, resultiert
dabei aus der Annahme, zwischen ihr und ihrer Geschäftsidee bestehe eine
"besondere Beziehung" (Faltin u.a. 1998: 4 unter Bezugnahme auf Hinterhu-
ber), wobei es vor allem in den aus den 1990er Jahren stammenden Beschrei-
bungen dieser ökonomischen Visionäre an Pathos nicht mangelt. Unterneh-
mer hätten das ",Gefühl einer Sendung"', und "erst dieses Bewußtsein" setze
"die notwendigen Energien frei", um mit einem Produkt am Markt Erfolg zu
haben (vgl. ebd.); sie hätten "Macken", seien "Besessene und Querdenker",
die "sich mit dem Status quo nicht zufrieden" geben und "aus vorgegebenen
Gestaltftgurationen aus[brechen]" (FaltiniZimmer 1998b: 77), und sie trügen
persönlich ein hohes Risiko: "Die Kosten, Unternehmer zu werden, können
hoch sein: Die Scheidungsrate in Silicon Valley lag nahe an 100 Prozent, die
Sinnierer und Tüftler geraten leicht in die Einsamkeit, werden - durchaus
diesseits der Legalität - asozial, opfern Freundschaften, verstärken skurrile
Züge, vergraben sich in Zahlenkolonnen und Finanzierungsprobleme, verlie-
ren sich wie Lern' sehe Figuren im Gestrüpp logischer Verknüpfungen" (vgl.:
ebd.: 80, Hervorhebung i.O.).
Erst in jüngster Zeit und mit neueren Untersuchungen zu unternehmeri-
schen Leitungsqualifikationen und , Führungsstilen , beginnt die charismati-
sche Fassung des Entrepreneurbegriffs ein wenig zu verblassen: Ins Zentrum
der Aufmerksamkeit rücken stattdessen die Art und Weise, wie erfolgreiche
Unternehmer ihre Firma organisieren (nicht ,managen'; vgl. Hjorth/Johan-
nisson 2001: 488; Faltin u.a. 1998: 81f.), sowie die Frage, wie die gesell-
schaftliche Akzeptanz des unternehmerischen Paradigmas zu vergrößern wä-
re: So plädieren etwa Hjorth und Johannisson in ihrer "Anfrage an das
schwedische Bildungssystem" dafür, Entrepreneurship als Sprachspiel zu
konstituieren und über die Etablierung eines neuen, den kreativen Tätigkeits-
charakter betonenden Vokabulars und einer entsprechenden Grammatik der
unternehmerischen Schule und damit einer gesamtgesellschaftlichen Unter-
nehmer-,Kultur' ein Stück näher zu kommen (Hjorth/Johannisson 2001:
489).4 "Resources will be generated and projects, also including business,

4 Als Neologismen, welche die Nähe eines solchen Unternehmertums zu kindlichem


Spiel markieren und damit für einen kreativen Brückenschlag zwischen Schule und
Lebenswelt geeignet sein sollen, schlagen die Autoren hier exemplarisch "Creactive",
"Reflaction", "Glocal" und "Polylogue" vor, wobei - abgesehen von dem u.a. von
Zirfas bereits in die allgemeinpädagogische Diskussion gebrachte ,glocal' (vgl. Zirfas
1999) - derzeit noch abzuwarten bleibt, ob, wann und in welchen Zusammenhängen
sich Kreativierungsvokabeln wie diese als erziehungswissenschaftliche Termini etab-
lieren.
Von kleinen Herren und großen Knechten 289

will spontaneously be organized across school borders. Such projecting will


thus encourage the establishing of an entrepreneurial school. A virtuous cir-
c1e emerges" (ebd.: 487) - und dieser virtuose Zirkel kann nur in einer Ge-
sellschaft entstehen, in der sich tradierte Ordnungskategorien umkehren.
",Wenn', so Goebel, ,es gelänge, in der öffentlichen Meinung den Unter-
nehmensgründer mehr als einen kreativ Tätigen und Arbeitsplätze Beschaf-
fenden statt als Ausbeuter und den Arbeitnehmer mehr als Arbeitsplatzweg-
nehmer darzustellen, dann würde noch mehr unternehmerische Kreativität
freigesetzt werden'" (Faltin u.a. 1998: 81). Eben damit ließe sich das lllusio-
näre an der heute noch gängigen Annahme entlarven, "wir [hätten] uns mit
einer großen Klasse von ,ewigen' Arbeitnehmern und einer kleinen Klasse
von ,geborenen' Unternehmern abzufinden" (vgl. ebd.).
Das Marktmodell, innerhalb dessen der Entrepreneur und seine kreativen
Fähigkeiten ein so großes Gewicht bekommen, steht in der Tradition natio-
nalökonomischer Theorien der Unternehmerfunktionen, die überwiegend in
den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden (vgl.
Bröckling 2002b). Hier wird das Prinzip des Marktes, also der uneinge-
schränkte Wettbewerb zwischen konkurrierenden Anbietern von Produkten,
nicht als Bedingung für das unternehmerische Erzielen von Profit betrachtet,
sondern als dessen Verunmöglichung: ,,Markt ist der natürliche Feind der
Unternehmer", denn je mehr Konkurrenz herrscht, desto weniger Gewinne
lassen sich erwirtschaften: "Im Modell führt eine vollständige Konkurrenz
und eine vollständige Transparenz zu Profitraten von Null" (Faltin u.a. 1998:
12). Unter Bezugnahme auf Schumpeter, der in der Zwischenkriegszeit "die
in der Realität zu beobachtenden Märkte als von Oligopolen dominiert" sah
und deshalb dafür plädierte, mit innovativen, "auf diese Märkte drängenden
neuen Unternehmen" das wettbewerbsverhindernde Gleichgewicht zu durch-
brechen, geht es auch den heutigen Entrepreneurship-Pädagogen um eine
",kreative Zerstörung'" des Bestehenden: "Markt gegen Macht. Wer ange-
häufte Gewinne umverteilen will, muß für mehr Markt eintreten. Mehr Markt
heißt, mehr Entrepreneurs, mehr Newcomer, mehr Transparenz und Wettbe-
werb" (ebd.: 4ff.). Allerdings, und dies wird "gegen die Vorstellung des
Laissez-faire und des Rechts des Stärkeren" betont, bedürfe Markt in dieser
wirtschaftswissenschaftlichen Tradition "der Wettkampfregeln" und eines
Schiedsrichters: Dieser Unparteiische, der heute "in der Regel der Staat" und
"in Zukunft vielleicht eine übernationale Institution" sei, müsse "so stark
sein, dass große mächtige Unternehmen und ihre Lobby in die Schranken
verwiesen werden können", was u.a. impliziere, dass die derzeitige "Politik
industriefreundlicher Parteien" in einer solchen globalen Marktkonzeption
keinen Platz hat und das Wort Deregulierung eine veränderte Bedeutung er-
hält: "Deregulierung ja, aber nur dort, wo der Staat oder andere die Marktre-
geln außer Kraft setzen. Deregulierung ist von Übel, wenn die Aufhebung der
Spielregeln des Marktes versucht wird, sie wirkt auch dort schädlich, wo
ökologische oder soziale Standards übergeordnete Maßstäbe sichern sollen"
(Faltin u.a. 1998: 13).
290 Andrea Liesner

Was sich wie ein Versuch liest, Hayeks Diktum von der Wohltätigkeit
des ungestörten Wettbewerbs ordoliberal abzusichern, soll nun im internatio-
nalen Kontext auf die Genese eines "Reichtum[s] von unten" zielen: Insbe-
sondere die Bürger so genannter Schwellen- und Drittweltländer haben nach
Faltin und Zimmer unter den skizzierten Bedingungen endlich die Möglich-
keit, ihre Produkte und Dienstleistungen zu gleichen Bedingungen anzubie-
ten, was für sie einen Weg aus der Armut bedeute und damit für die westli-
chen Industriestaaten die Notwendigkeit, sich auf eine "neue Bescheidenheit"
einstellen und Strategien "intelligenter Askese" entwickeln zu müssen (Faltin
u.a. 1998: 265; vgl. FaltiniZimmer 1995). Die Orientierung an diesem Modell
allerdings impliziert für alle potentiell Marktbeteiligten, dass sie neben dem
neuen Typ unternehmerischen Handeins auch eine veränderte Organisations-
form der Betriebe bejahen: Denn da es im Gegensatz zu denen des 19. und
20. Jahrhunderts heute als "praxisfremd" gilt, ,,rund um große und in sich ge-
schlossene traditionelle Funktionen wie Marketing, Finanzierungen, mensch-
liche Ressourcen und Gesetze gestalten und organisieren zu wollen", wird
dafür plädiert, die "neuen Bausteine der Organisation [... ] nach den Wirt-
schaftsprozessen" zu strukturieren, "als da sind Leadership, lebenslanges
Lernen, Krisenmanagement und ein wirklich globales Geschäftsumfeld"
(Grant 1998: 243). Denjenigen, die sich entsprechend dazu entschlossen ha-
ben, "lieber ,kleiner Herr als großer Knecht'" (Goebel 1998: 88) zu sein,
wird dabei geraten, den Aufbau ihres Unternehmens an einem Konzept zu
orientieren, das in der Bundesrepublik bislang "nur in wenigen, kleinen Be-
trieben Praxis geworden ist: Statt Arbeitgeber und Arbeitnehmer gibt es - so
das Modell-lediglich Unternehmer, die schon gestartet sind, und solche, die
noch starten wollen" (Faltin u.a. 1998: 81). Als Noch-nicht-Entrepreneure
sind Mitarbeiter in solchen Betrieben prinzipiell nur vorübergehend beschäf-
tigt, was hier allerdings nicht demotivierend oder restriktiv wirken soll, son-
dern im Gegenteil aktivierend, kompetenzerhöhend und loyalitätsfördernd:
Der abhängig und zeitlich befristet Beschäftigte "kann und soll sich selbst als
künftigen Unternehmer betrachten, der eine Art Gesellenzeit durchläuft und
alle Einschränkungen und disziplinierenden Regeln offen akzeptiert" - und
zwar "in der Erkenntnis, dass sie betrieblich notwendig sind und er selbst in
einer späteren Situation als Meister ebenfalls auf Loyalität und Kompetenz
seiner Mitarbeiter angewiesen sein wird" (ebd.).
Sollte sich ihm diese Einsicht allerdings verschließen und er trotz der in
Aussicht gestellten "Chance, sich später mit einem spin off-Unternehmen
vom Mutterschiff zu lösen und dabei im Vorfeld freundlich unterstützt zu
werden", schlechte Bedingungen oder untertarifliche Bezahlung wie in bishe-
rigen Lohnarbeitsverhältnissen auch als Zumutungen wahrnehmen, wird ihm
- zum Besten aller Beteiligten - gekündigt: "Diejenigen, die sich dem harten
Training zum künftigen Unternehmer mit genügender Ernsthaftigkeit nicht
unterziehen wollen oder können, werden in beiderseitigem Einverständnis
frühzeitig aus dieser Laufbahn verabschiedet, unter anderem, um zu verhin-
dern, dass sie später sich selbst und ganze Belegschaften mit in den Abgrund
Von kleinen Herren und großen Knechten 291

reißen" (ebd.: 82). Den Vorzug eines solchen Unternehmensmodells sehen


Faltin und Zimmer darin, dass es "der Spaltung in eine Zwei-Klassen-
Gesellschaft von Unternehmertum und Lohnarbeit" entgegenwirkt, wobei
sich dieses Bemühen um eine neue Version der Gleichheit für alle aus der
These nährt, "dass im Prinzip jeder Unternehmer werden kann und nur über
mittelfristige Strecken Arbeiter oder Angestellter ist" - und dann erhalte "das
Motto ,mit vierzig in die Selbständigkeit' noch eine zusätzliche Bedeutung:
Statt als älter werdender Mensch unter der zunehmenden Bedrohung einer
Kündigung zu leben, würde man rechtzeitig auf die eigenen Füße fallen"
(ebd.).
Aus dieser theoretischen Rahmung leiten die Autoren für die Pädagogik
die Forderung ab, ihre "antiökonomischen Affekte" aufzugeben und die Not-
wendigkeit anzuerkennen, dass sie einen Beitrag zur Einleitung einer "dem
Realitätsprinzip Weltmarkt" angemessenen "gesellschaftlichen Wende und
Anstrengung großen Stils" leisten muß: Das Ziel ist die Wiederbelebung ei-
ner "unternehmerische[n] Kultur [... ], wie sie Ende des neunzehnten Jahr-
hunderts und dann noch einmal Anfang der fünfziger Jahre in Deutschland zu
beobachten war" (Faltin u.a. 1998: 260f.). Die Rede von einer gesarntgesell-
schaftlichen Kultur lenkt hier den Blick darauf, dass die kreative Individua-
lität der neuen Unternehmer gedacht ist als ein Bündel von kollektiven, ge-
sellschaftlich gebundenen Eigenschaften: So gelten zwar Initiative und Risi-
kobereitschaft als die "sine qua non conditions for the creation of a business.
In addition a specific potential is required, of which the main elements are
energy and a capacity for work, the desire for personal accomplishment and
the desire for independence or even to exercise power over others rather than
the be subjected to someone else's power" (DucMneaut 2001: 144). Aber:
"The taste for enterprise, a synthesis of leadership, power of control and risk-
taking ability, is the sum of an individual's potential at the junction between
intrinsic personal attributes and entrepreneurial awareness, which is condi-
tioned principally by the environment" (ebd., Hervorh. A.L.).
Da das Entstehen von Unternehmergeist also entscheidend von Soziali-
sationsfaktoren abhängen soll, nämlich vom "degree of a nation's enterprise
culture", von den "types of model know in childhood" und den "pedagogical
methods encountered" (ebd.: 143), liegt es nahe, das pädagogische Ermögli-
chungsspektrum auszuweiten, und zwar ohne falsche Bescheidenheit: Entre-
preneurship Education zielt auf eine grundlegende Reform außerschulischer
und schulischer Erziehung, deren pädagogische Begründung keine inner-
fachlichen Kontroversen mehr lohne: ,,Eine Diskussion darüber, wann mit
der Erziehung zu Entrepreneurship begonnen werden kann", wird etwa für
Faltin und Zimmer dann "von der Realität eingeholt, wenn man die unter-
nehmerisch tätigen Kindern an den sozio-ökonomischen Peripherien dieser
Welt in den Blick nimmt" (Faltin u.a. 1998: 262). Zwar handele es sich hier
"um Ernstfälle anderer Qualität als bei uns, zugleich aber auch um Vorerfah-
rungen und Qualifikationsprofile von Kindern, die, was Überlebensfähigkeit,
Autonomie und lebenspraktische Kompetenz anbelangt, europäisch ,ver-
292 Andrea Liesner

kindlichten ' Kindern überlegen sein dürften." An diese mit einem drohenden
Unterton versehene Vergleichsdiagnose wird die Frage angeschlossen, "ob -
bei aller Berücksichtigung auch der gravierenden und brutalen Aspekte einer
solchen Kindheit des Südens - jenes mitteleuropäische Konstrukt von Kind-
heit das Qualifikations- und unternehmerische Potential von Kindern nicht
deutlich unterschätzt" (ebd.).
Solange also pädagogische Theorie und Praxis gegenüber dem Unter-
nehmer im Kinde blind bleiben, geraten sie - so ließe sich aus dem Obigen
folgern - zur unterlassenen Hilfeleistung mit immerhin potentieller Todesfol-
ge. Auf dem Spiel scheint nichts Geringeres zu stehen als das Überleben der
jüngeren Generation im globalen Konkurrenzkampf: ein Szenario, in dem das
Subjekt ähnlich wie in der Theorie des Humankapitals zum "Objekt eigenen
wie fremden Handeins" gerät, das "auf den Status »nackten Lebens«" zu-
rückgeworfen ist und "dessen Existenz davon abhängt, dass sich jemand -
gleich ob ego oder alter - findet, der in es investiert" (Bröckling 2003: 22).

3.
Die Entschiedenheit, mit der die Entrepreneurship-Pädagogik, aber auch die
bildungspolitischen Selbständigkeitsprogramme unter Berufung auf den
Weltmarkt als ,Realitätsprinzip' ihre Alternativlosigkeit behaupten, erinnert
daran, dass Foucault den Neoliberalismus vom klassischen Liberalismus mit
dem Hinweis darauf unterschied, in diesem kehre sich das Marktprinzip als
,,»eine Art permanentes ökonomisches Tribunal«" gegen die Regierung (zi-
tiert nach: LernkelKrasmannlBröckling 2000: 17): Wer nicht selbst zu den
,Modernisierungsverlierern' zählen oder andere zu solchen erziehen will,
scheint heute an diesem Gericht nicht vorbeizukommen, wenn als überle-
bensfahig nur diejenigen gelten, deren Autonomie, Kreativität und Risiko-
freude Garanten ihrer Marktfähigkeit sind. 5 Die Ökonomie fungiert hier als
ein "Realitätsniveau" (Foucault 1978/2000a: 59) und der Markt als inneres
"Organisationsprinzip des Staates und der Gesellschaft" (Lernke/Krasmann/
Bröckling 2000: 15), wobei beides nicht nur die Historizität, Vorausset-
zungshaftigkeit und damit auch Fragilität dieser Bestimmungen aus dem
Blick drängt. Der Aufmerksamkeit entzogen werden zudem die Verhältnisse
zwischen Herrschaftstechnologien und Subjektivität: zwischen dem also, was
Subjekte von sich wissen, und dem, was sie von sich wissen sollen.
Um sich diesen Beziehungen zu nähern, könnte der die jüngeren "Studi-
en zur Ökonomisierung des Sozialen" (ebd.) einleitende Vorschlag hilfreich
sein, den inzwischen als Etikettierung höchst unterschiedlicher Phänomene
verwandten Begriff des Neoliberalismus mit Hilfe des Foucaultschen Regie-

5 Zur neoliberalen Neubesetzung "ehemals kritische[r] Begriffe wie Autonomie,


Selbstbestimmung, Eigenverantwortlichkeit" vgl. May 2003: 77ff.
Von kleinen Herren und großen Knechten 293

rungsverständnisses weder allein als "ideologische Rhetorik und politökono-


mische Realität" zu begreifen, sondern in erster Linie als ein "politisches
Projekt, das darauf zielt, eine soziale Realität herzustellen, die es zugleich als
bereits existierend voraussetzt" (ebd.: 8f.). Gelesen als gouvernementales
,,»Führen der Führungen«" (Foucault 198711994: 255, vgl. auch Lemke
1997), erscheinen die oben beschriebenen Selbständigkeitsinitiativen zumin-
dest in zweierlei Hinsicht als Strategien zur Stabilisierung von Macht (vgl.
Lehmann-Rommel, in diesem Band):
Zum einen sollen sie es wahrscheinlicher werden lassen, dass sich die
Adressaten bereits als diejenigen marktgängigen Individuen verstehen, als die
sie angesprochen werden. Ähnlich wie die aktuell verbreiteten und von
Bröckling analysierten Selbstmanagement-Programme sind die politischen
und pädagogischen Forderungen nach mehr Selbständigkeit trotz ihrer Beto-
nung des Kreativen, Unverwechselbaren und Innovativen deshalb "nicht auf
ein genormtes Inventar von Persönlichkeitsmerkmalen [geeicht}, sondern auf
die Norm der Individualität selbst [... }. Distinktion von anderen, so die Bot-
schaft der Ratgeber, verschafft Marktvorteile" (Bröckling 2000: 157). Die
Anregungen, sein Leben selbständig zu führen, bleiben gebunden an den
ökonomischen Strukturwandel, so dass das gemeinsame und politisch ausge-
sprochen funktionale Ziel der beschworenen Differenzierung zwischen der
Subjektivität kleiner Herren und der großer Knechte in der Motivation zur
Selbstverknechtung liegen dürfte. Diejenigen nämlich, die ihren Glauben an
das eigene Selbst in einen beruflichen Status überführen, können im Falle des
Scheiterns ihres Unternehmens6 nur das eigene Unvermögen dafür verant-
wortlich machen. Gleiches gilt für diejenigen ,Noch-nicht-Entrepreneure',
die von ihren Arbeitgebern ,freigesetzt' oder gegen andere, ebenso selbstän-
dige Subjekte ausgetauscht werden: "Unternehmer seiner selbst bleibt das In-
dividuum auch, wenn es seine Anstellung verlieren sollte: Das Ich kann sich
nicht entlassen; die Geschäftsführung des eigenen Lebens erlischt erst mit
diesem selbst" (Bröckling 2002a: 167).
Zum anderen - und dies deutete sich mit Faltins und Zimmers These
vom unternehmerischen Potential jedes Menschen und ihrer Warnung vor der
im internationalen Vergleich mangelhaften Überlebenskompetenzen europäi-
scher Kinder bereits an - scheinen die neuen Technologien des Selbst (vgl.
Martin u.a. 1993; Becker u.a. 1985) in diesen individualisierenden Funktio-
nen nicht aufzugehen. Der ins Subjekt verlegte Übergang von einer formalen
zu einer realen Einpassung in die Herrschaftsverhältnisse (vgl. Charim 2003:
21) muss politisch vielmehr gleichzeitig auf vergemeinschaftende Effekte
setzen, da sich der Wettbewerb zwischen unternehmerischen Einzelakteuren
auf der Makroebene wiederholt: Dass neoliberale Politik nationalstaatlich ge-

6 Das Statistische Bundesamt meldete im Juni 2003 mehr als ,,24.000 Insolvenzen im 1.
Quartal 2003", davon ,,9747 von Unternehmen und 14631 von anderen Schuldnern":
Dies bedeute "gegeniiber dem 1. Quartal 2002 eine Zunahme der Gesamtzahl der In-
solvenzen um 27%, der Unternehmensinsolvenzen um 9,4% und der Insolvenzen der
iibrigen Schuldner um 42,2%" (Statistisches Bundesamt 2003).
294 Andrea Liesner

rahmt ist und Volkswirtschaften dementsprechend miteinander konkurrieren,


impliziert die Notwendigkeit, einen kollektiven Bezugspunkt der individuel-
len Unternehmungen zu sichern. Als Angela Merkel in der Hochphase der
politischen Diskussion über die Bedeutung der ,Ressource Humankapital' ih-
re rhetorische Frage, ob "wir in Deutschland besser sein und besser leben
[wollen] als andere", noch mit dem Hinweis darauf beantwortete, dass wir,
"wenn das so ist, [... ] gegenüber anderen Ländern einen Bildungsvorsprung"
brauchen (Merke I 2000: 6), bezeichnete das nationale , wir' die virtuelle
Schnittmenge von Regierung und Bevölkerung. Inzwischen aber scheint sich
das zu verändern, was als kollektivierendes Element die Trennung von Öf-
fentlichem und Privatem verbinden soll - und zwar, weil eben diese Grenze
erodiert. Dass "die Ich-AG [... ] für eine Verallgemeinerung des Privaten oder
des Individuellen [steht], das als Privates in der Öffentlichkeit auftritt", deutet
für Charim "eine völlige Transformation des Staates" an, die "sehr nachhalti-
ge Auswirkungen [... ] auf alles" erwarten lasse, "was repräsentative Demo-
kratie darstellt", weil ein solcher Staat keine "eigene öffentliche Sphäre be-
sitzt, sondern quasi eine Summe von Privatheiten ist" (Charim 2003: 6).
Liest man diese Verschiebung aus gouvernementaler Perspektive eher als
eine Modifizierung des Regierens denn als einen Rückzug des Staates, dann
könnten sich die aktuellen Bemühungen um eine Stärkung der ,Zivilgesell-
schaft' mitsamt ihrer Invisibilisierung von Herrschaft als zeitgemäße, weil
ökonomischere Formierung dessen erweisen, was sowohl die Gemeinschaft
der Regierten als auch das machtförmige Band zwischen ihr und den Regie-
renden zu bewahren vermag: also eben "diese Art von politischem »double-
bind« [... ], der in der gleichzeitigen Individualisierung und Totalisierung
durch modeme Machtstrukturen besteht" (Foucault 1987/1994: 250). Was
sich mit den aktuellen Motivierungen zur Selbständigkeit verändert, ist also
nicht nur das Verständnis von Subjektivität, die vom "point de resistance ge-
gen ,entfremdende' Arbeitsverhältnisse" zur sozialtechnologisch erschließba-
ren "Ressource" umgewidmet wird (vgl. Bröckling 2002a: 162), sondern
auch das von Freiheit: "Zwar bindet auch der Neoliberalismus die Rationali-
tät der Regierung an das rationale Handeln der Individuen; er sucht jedoch
das rationale Prinzip für die Regulierung des Regierungshandelns nicht mehr
in einer natürlichen Freiheit, die es zu respektieren gilt, sondern findet es in
einer künstlich arrangierten Freiheit: dem unternehmerischen Verhalten der
ökonomisch-rationalen Individuen" (Lernke/Krasmann/Bröckling 2000: 15).
Mit dieser Neudefinition ihrer zentralen Themen steht die Erziehungs-
wissenschaft vor Herausforderungen, gegenüber denen die gelassene Fest-
stellung nicht ausreichen dürfte, dass sich im gouvernementalen Regieren der
Gegenwart lediglich die alte und theoretisch wohlbekannte Frage nach der
,Kultivierung der Freiheit bei dem Zwange' wiederholt. Denn dass - wie sich
an der Figur des Unternehmers seiner selbst zeigte - die "Anrufung der
Selbstverantwortung [... ] ohne victim blaming nicht zu haben" ist (vgl.
Bröckling 2000: 168), spiegelt sich schon jetzt in den verbreiteten pädagogi-
schen Ansätzen, die Lernende als sich selbst organisierende Systeme be-
Von kleinen Herren und großen Knechten 295

trachten oder mit ihren ,Kunden' Verträge über Erziehungs- und Bildungs-
ziele abschließen, ohne dabei die Abhängigkeit der Lernenden von institutio-
nellen Zertifizierungen anzusprechen oder Zweifel an der Überzeugung zu
hegen, bei ihren Adressaten handele es sich um sich selbst transparente Sub-
jekte, die stets souverän zwischen alternativen Lernmöglichkeiten entschei-
den können (vgl. Pongratz, in diesem Band).
Die Frage allerdings, wie mit den aktuellen Selbständigkeitsinitiativen
angemessen umgegangen werden kann, erweist sich aus mehreren Gründen
als schwierig: Pädagogische Kritik zum Beispiel, die auf ein Bewusstmachen
der Differenz zwischen dem unternehmerischen und dem ,eigentlichen'
Selbst setzt, ist hier nicht nur wegen ihrer identitätstheoretischen Prämissen
problematisch (vgl. Meyer-Drawe 2001). Sie droht vielmehr schlicht deshalb
ins Leere zu laufen, weil es "für den Unternehmer seiner selbst [... ] nichts
Anrüchiges [hat], ,sich gut zu verkaufen"': Der Intrepreneur weiß, dass
Kompetenzen und Qualifikationen allein nicht genügen, um besser, originel-
ler und selbständiger zu sein als die anderen, sondern dass er genau das "sein
[muss], was er darstellen will" (vgl. Bröckling 2002a: 171). Wenn es dement-
sprechend einigermaßen aussichtslos ist, in der Beförderung unternehmeri-
scher Subjektivierungsformen "Charaktermasken entlarven zu wollen und
das Selbstmanagement als Selbstentfremdung zu perhorreszieren", da nichts
existiert, "was hinter den vermeintlichen Masken verborgen wäre" (vgl.
ebd.), erscheint es notwendig, die Suche nach alternativen Möglichkeiten von
Kritik zu intensivieren.
Wen aus pädagogischer Perspektive stattdessen vor allem der Aspekt ir-
ritiert, dass die Angebote zur Förderung von Selbständigkeit diskursiv mal
als Einladung, mal als Imperativ formuliert werden, findet in Foucaults
Überlegungen zur Gouvernementalität zwar einen fruchtbaren und anregen-
den Ansatz, um unternehmerische Subjektivierungsformen innerhalb des be-
weglichen Geflechts der Macht zwischen Regierenden und Regierten zu
analysieren. Wie manche aktuellen govemementality studie/ jedoch zeigen,
besteht dabei die Gefahr, diese Form des Regierens ihrerseits totalisierend zu
lesen und neoliberale Subjektivität auf ein hermetisches falsches Bewusstsein
zu reduzieren, was in der Sackgasse zu münden droht, dass Kritik zwischen
Ohnmacht und Allmacht befangen bleibt. Einer solchen Paralyse von Kritik
wäre u.a. mit einer Erinnerung daran zu entgehen, dass Foucault trotz seines
oben bereits angesprochenen Hinweises auf die Gleichzeitigkeit von Indivi-
dualisierungs- und Totalisierungstendenzen struktureller Macht (vgl.
Foucault 1987/1994: 250) auch davor warnte, den Staat zu einem intangiblen,
funktionalistischen Mythos zu erheben: Die "Überbewertung des Problems
des Staates findet man meines Erachtens im Wesentlichen in zwei Formen. In
einer unmittelbaren, affektiven und tragischen Form: im Lied vom kalten
Ungeheuer, das uns gegenübersteht" (Foucault 197812000a: 65). Die zweite

7 Ein ,,kritischer Überblick über die governementality studies" findet sich bei Lemke
2000.
296 Andrea Liesner

Art der Überbewertung geschehe hingegen "in einer paradoxen, weil offen-
sichtlich den Staat reduzierenden Form -, nämlich in Gestalt einer Analyse,
die den Staat auf eine bestimmte Anzahl von Funktionen wie beispielsweise
die Entwicklung der Produktivkräfte und die Reproduktion der Produktions-
verhältnisse reduziert", wobei übersehen werde, dass "der Staat weder in der
Gegenwart noch im Verlauf seiner Geschichte je diese Einheit, diese Indivi-
dualität, diese strikte Funktionalität und [... ] diese Bedeutung" gehabt habe
(vgl. ebd.).
Kritische Einsätze, die in der Frage nach den pädagogischen Implikatio-
nen des gegenwärtigen Verhältnisses von Politik, Ökonomie und Bildung
entsprechend eher auf Analysen der ,,»Gouvernementalisierung« des Staates"
setzen denn auf solche der "Verstaatlichung der Gesellschaft" (vgl. ebd.),
müssten sich also von dem Glauben distanzieren, "dass die Politik beschlos-
sen habe, ,ihre Gesellschaft und insbesondere die Sozialausgaben wie eine
einzige Ressource [... ] zu nutzen'" (Lindenberg 2000: 99).8 Eine solche Per-
spektive verkennt nämlich, "dass konkrete Beziehungen - und nicht nur ab-
strakte Herrschaftsverhältnisse [... ] zwischen Staat und Organisationen von
Kapital und Arbeit bestehen", und sie übersieht, dass sowohl der Staat als
auch ",die Politiker'" aufgrund der "in erheblichem Maß immer noch korpo-
ratistisch" organisierten Sozial- (und Bildungs-)Politik "eine intermediäre
Stellung" einnehmen: ",Nicht Lenker, aber auch nicht Gelenkter'" (ebd.).
Gegenwärtig verändern sich allerdings die Rahmenbedingungen für
staatliche Politik in erheblichem Maße (v gl. Lohmann 2002), was auch das
Spektrum von Möglichkeiten tangiert, den ,,Agonismus" der Macht (Foucault
1987/1994: 256) auf der Ebene aller Akteure zu gestalten. Und während
"nach der Erschöpfung politischer Visionen" verbreitet "verbindliche Zu-
kunftsorientierungen" fehlten (Wimmer 2002: 45), findet nun mit dem Boom
unternehmerischer Subjektivierungsangebote eine Transformation politischer
Kategorien statt: Ehedem kapitalismuskritische Forderungen nach Umver-
teilung und klassenloser Gesellschaft werden unter anderem von pädagogi-
schen Protagonisten des freien Marktes erhoben, die den Machbarkeitscha-
rakter ihrer Gesellschaftsentwürfe damit unterstreichen, dass der Markt "an-
ders als der Sozialismus [... ] nicht den neuen Menschen" verlange (Faltin u.a.
1998: 13). Mit dieser Vorstellung einer künftigen unternehmerischen Ge-
samtkultur, die das Verhältnis von Herr und Knecht auf ihre Art vom Kopf
auf die Füße stellen will, scheint ein Bemühen um Alternativen geboten,
"ohne in normative Denkformen zurückzufallen oder den eigenen Anspruch
aufzugeben, die künftigen Aufgaben nach eigenen Kriterien zu bestimmen"
(Wimmer 2002: 46).
Jenseits der "Staatsphobie" (Foucault 1984/2000b: 70) bestünde deshalb
eine wichtige Aufgabe der Gegenwartspädagogik darin, an Möglichkeiten zur
Beurteilung von Gemeinsamkeiten, Überlappungen, Verschiebungen und
Differenzen zwischen ökonomischem und pädagogischem Wissen zu arbei-

8 Zur "Selektivität des pädagogischen Blicks auf Ökonomie" vgl. Bellmann 2001.
Von kleinen Herren und großen Knechten 297

ten, um die eigenen Gestaltungsräume auszuloten und zu nutzen. Engagierte


theoretische Analysen und Neubestimmungen dieser Möglichkeiten, denen
die überzogene Angst vor ,dem' Staat fehlt, dürften allerdings nicht der Ver-
suchung erliegen, diese Leerstelle umgehend neuzubesetzen, indem sie aus
den von Foucault beschriebenen lustvollen Anteilen der Macht nun einen
Eros des gouvernementalen Regierens machen. Sobald nämlich das "zentrale
Problem der Macht", also ihre "fortwährende Provokation" durch die "Wi-
derspenstigkeit des Wollens und die Intransitivität der Freiheit" (Foucault
1987/1994: 256), zu einem Faszinosum wird, das Stabilitäten gegenüber
Kontingenzen theoretisch uninteressant erscheinen lässt, verwischen pädago-
gisch wichtige Differenzen. Am Beispiel des Einzugs der Entrepreneurship
Education in den pädagogischen Diskurs lässt sich zeigen, dass damit Erzie-
hungswissenschaft nicht nur in die Nähe einer Staatswissenschaft rückte,
sondern dass sie auch auf bedeutende Möglichkeiten verzichten würde, ihrer
im Namen der Praxis extern und intern betriebenen "Finalisierung" (Radtke
2003: 124) etwas entgegenzusetzen:
So könnte es zu kurz gegriffen sein, sich in kritischen Analysen des
machtförmigen Verhältnisses zwischen denen, die innerhalb der neuen ,auto-
nomen', gleichwohl staatlich organisierten Bildungsinstitutionen zum unter-
nehmerischen Denken erziehen wollen, und denen, die damit gleichzeitig be-
reits als unternehmerische Subjekte angesprochen sind, vor allem auf den
Aspekt zu konzentrieren, dass hier der theoretisch längst als unhaltbar er-
kannte Glaube an das intentionale Subjekt wiederauflebt. Es erscheint viel-
mehr notwendig, auch diese (berechtigte) Kritik selbst noch einmal skeptisch
auf ihre Prämissen hin zu prüfen: Ist in ihr die problematische Gewissheit
vorausgesetzt, aufgrund der gouvernementalitätstheoretisch beschriebenen
Fragilität und Wechselseitigkeit dieses intersubjektiven Gefüges würden sich
Gesinnungspädagogiken wie die Entrepreneurship Education schon irgend-
wann von selbst als illusionär erweisen? Beinhaltet das Wissen von der pro-
vokativen Sperrigkeit des Wollens also die Tendenz, stabileren Strukturen
der Macht wie etwa schulischen Allokations- und Zertifizierungsfunktionen
zu wenig Aufmerksamkeit zu widmen? Zu fragen ist auch, ob in systemati-
schen Analysen unternehmerischer Subjektivierungsangebote, die eine
staatsphobische Perspektive vermeiden und sich um ein gebührendes Beach-
ten der Kontingenz von Machtverhältnissen bemühen, ein historisches Ge-
dächtnis bewahrt bleibt, das es erlaubt, den Mangel eines solchen an der Er-
ziehung zum Unternehmertum zu kritisieren: Wenn vergessen würde, dass
sich die beiden von Faltin und Zimmer vorbildhaft bemühten Aufschwünge
der ,unternehmerischen Kultur' in den 1890er und 1950er Jahren keineswegs
nur dem Boom individuellen Gründergeistes verdankten, sondern auch so be-
achtenswerten Bedingungen wie dem Imperialismus oder dem Marshall-Plan,
dann droht der Kritik eine doppelte Sehschwäche. Was aus dem Blick geraten
könnte, wären zum einen diejenigen strukturellen Materialisierungen neolibe-
raler Gouvernementalität, welche im Zuge der gegenwärtigen Reformen des
Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereichs für die Intransitivität der Freiheit
298 Andrea Liesner

durchaus von Bedeutung sei dürften. Zum anderen könnte übersehen werden,
dass - um im Vokabular des Selbständigkeitsdiskurses zu bleiben - das in
westlichen Industriestaaten zunehmende , Insourcen, von Ausbeutung trotz
der von den Entrepreneurship-Pädagogen proklamierten gerechteren Welt für
alle (vgl. FaltinlZimmer 1995) derzeit noch nicht auf seine ,klassische' Kehr-
seite verzichtet. "Das unternehmerische Selbst ist deshalb nicht nur Leitbild,
sondern auch Schreckbild. Was alle werden sollen, ist zugleich das, was allen
droht. In den informellen Ökonomien der Länder Afrikas, Südamerikas und
weiter Teile Asiens existiert bereits ein Millionenheer virtuoser Alltags-
Entrepreneure, die all ihre Kräfte darauf verwenden müssen, unternehmerisch
zu handeln, um im strikten Sinne des Wortes zu überleben. Nicht der Traum
eines Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär treibt sie an, sondern der
leere Magen. Will man nach Personen suchen, die dem Bild des enterprising
self nahekommen, dann tut man deshalb gut daran, nicht nur auf die Glücks-
ritter der New Economy zu starren, sondern sich auch die Plastikflaschen-
sammlerinnen auf den Müllbergen von Lagos oder die Windschutzscheiben
putzenden Jungen auf der Straßenkreuzung in Mexico City vorzustellen.
Oder, um in der Nähe zu bleiben, den Rosenverkäufer in der Kneipe am
Abend" (Bröckling 2002b: 26).

Literatur

Becker, Helmut u.a. (Hrsg.) (1985): Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorle-
sung 1982. FrankfurtlMain: Materialis.
Bellmann, Johannes (2001): Zur Selektivität des pädagogischen Blicks auf Ökonomie. In:
Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 77, S. 386-408.
Brockhaus, Robert H. u.a. (Hrsg.) (2001): Entrepreneurship Education. AglobaI view. Al-
dershot (UK), Burlington (USA), Singapore, Sydney: Ashgate.
Bröckling, Ulrich (2000): Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und
Selbstmanagement. In: Ders.lSusanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.): Gouverne-
mentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. FrankfurtlMain:
Suhrkamp, S. 131-167.
Bröckling, Ulrich (2002a): Diktat des Komparativs. Zur Anthropologie des "unternehmeri-
schen Selbst". In: Ders.lEva Horn (Hrsg.): Anthropologie der Arbeit. Tübingen: Gun-
ter Narr, S. 157-174.
Bröckling, Ulrich (2002b): Jeder könnte, aber nicht alle können. In: Mittelweg 36, ll, S. 6-26.
Bröckling, UlrichlEva Horn (2002): Vorwort. In: Dies. (Hrsg.): Anthropologie der Arbeit.
Tübingen: Gunter Narr, S. 7-16.
Bröckling, Ulrich (2003): Menschenökonomie, Humankapital. Eine Kritik der biopoliti-
schen Ökonomie. In: Mittelweg 36, 12, S. 3-22.
Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (2003): Informationen zur "Ich-AG" als Lei-
stung der Arbeitsförderung (Existenzgründungszuschuss nach § 421 I SGB III), ak-
tualisierter Stand vom 14.07.03. In: http://www.bmwa.bund.delRedaktionllnhalte/
Downloads/ich-ag,property=pdf.pd.f
Charim, Isolde (2003): Das (selbst)angetriebene Ich. Interview in PROGRESS. Magazin
der österreichischen Hochschülerinnenschaft. Heft 13, Wien, S. 21.
Ducheneaut, Bertrand (2001): Entrepreneurship and Higher Education from Real-life
Context to Pedagogical Challenge. In: Robert H. Brockhaus u.a. (Hrsg.): Entrepre-
Von kleinen Herren und großen Knechten 299
neurship Education. Aglobai view. Aldershot (UK), Burlington (USA), Singapore,
Sydney: Ashgate, S. 128-146.
Exist (2003). In: http://www.exist.de
Faltin, Günter/Jürgen Zimmer (1995): Reichtum von unten. Die neuen Chancen der Klei-
nen. Berlin: Aufbau-Verlag.
Faltin, Günter/Sven Ripsas/Jürgen Zimmer (Hrsg.) (1998): Entrepreneurship. Wie aus Ide-
en Unternehmen werden. München: Beck.
Foucault, Michel (1978/20ooa): Die Gouvernementalität. In: Ulrich Bröckling/Susanne
Krasmannffhomas Lemke (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur
Ökonomisierung des Sozialen. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 41-67.
Foucault, Michel (1984/20oob): Staatsphobie. In: Ulrich Bröckling/Susanne Kras-
mannffhomas Lemke (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Öko-
nomisierung des Sozialen. FrankfurtlMain: Suhrkamp, S. 68-71.
Foucault, Michel (1987/1994): Das Subjekt und die Macht. Nachwort. In: Hubert L.
DreyfuslPaul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Herme-
neutik. Weinheim: Beltz, S. 243-264.
Goebel, Peter (1998): Die ökonomisch erfolgreichen Gründer. In: Günter FaltinlSven
Ripsas/Jürgen Zimmer (Hrsg.): Entrepreneurship. Wie aus Ideen Unternehmen wer-
den. München: Beck, S. 85-92.
Grant, Alan J. (1998): Entrepreneurship - die grundlegende wissenschaftliche Disziplin für
das Fach Wirtschaft des 21. Jahrhunderts. In: Günter FaltinlSven Ripsas/Jürgen Zim-
mer (Hrsg.): Entrepreneurship. Wie aus Ideen Unternehmen werden. München: Beck,
S.235-244.
Helmstetter, Rudolf (2002): Austreibung der Faulheit, Regulierung des Müßiggangs. Ar-
beit und Freizeit seit der Industrialisierung. In: Ulrich Bröckling/Eva Horn (Hrsg.):
Anthropologie der Arbeit. Tübingen: Gunter Narr, S. 259-279.
Hjorth, Daniel/Bengt Johannisson (2001): Training for Entrepreneurship: laying and Lan-
guage Games - an Inquiry into the Swedish Education System. In: Robert H. Brock-
haus u.a. (Hrsg.): Entrepreneurship Education. Aglobai view, Aldershot (UK), Bur-
lington (USA), Singapore, Sydney: Ashgate, S. 471-491.
Kent, Calvin A. (1990): Entrepreneurship Education. Current developments, future directi-
ons. New York, Westport (CT), London: Quorum Books.
Koch, Lambert T. (2002): Theory and Practice of Entrepreneurship Education: A German
View. Wuppertal: Bergische Universität Gesamthochschule Wuppertal, FB Wirt-
schafts- und Sozialwissenschaften [= Ders./Ulrich BraukmannIWinfried Matthes
(Hrsg.): Gründerseminar. Beiträge zur Unternehmensgründung und Wirtschaftsent-
wicklung Nr. 9].
Lemke, Thomas (1997): Eine Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der mo-
demen Gouvernementalität. Berlin und Harnburg: Argument.
Lemke, Thomas/Susanne KrasmannlUlrich Bröckling (2000): Gouvernementalität, Neoli-
beralismus und Selbsttechnologien. Eine Einführung. In: Dies. (Hrsg.): Gouverne-
mentalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. FrankfurtlMain:
Suhrkarnp, S. 7-40.
Lemke, Thomas (2000): Neoliberalismus, Staat und Selbsttechnologien. Ein kritischer Über-
blick über die govemementality studies. In: Politische Vierteljahresschrift 41, S. 31-47.
Liesner, Andrea (2002): Zwischen Weltflucht und Herstellungswahn. Bildungstheoretische
Studien zur Ambivalenz des Sicherheitsdenkens von der Antike bis zur Gegenwart.
Würzburg: Königshausen & Neumann.
Lindenberg, Michael (2000): "Ökonomisierung Sozialer Arbeit"? Gegen die These von der
ausschließlichen Bestimmung dieser Diskussion aus staatlicher Zwecksetzung. In:
Ders. (Hrsg.): Von der Sorge zur Härte: Kritische Beiträge zur Ökonomisierung So-
zialer Arbeit. Bielefeld: Kleine, S. 89-111.
300 Andrea Liesner

Lohmann, Ingrid (2002): Bildungspläne der Marktideologen. Ein Zwischenbericht. In:


Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 78, S. 267-279.
Martin, Luther H. u.a. (Hrsg.) (1993): Technologien des Selbst, FrankfurtlMain: Fischer.
Massehelein, Jan (2001): The Discourse of the Leaming Society and the Loss of Child-
hood. In: Journal of Philosophy of Education 35, S. 1-20.
May, Michael (2003): Unternehmer seiner selbst - Die neoliberale Variante von Selbstbil-
dung, Eigenverantwortung und Autonomie. In: Widersprüche 23, S. 75-92.
Merkei, Angela (2000): Rede im Rahmen des Kleinen Parteitages des CDU in Stuttgart am
20.11.2000, http://www.cdu.de/kongress/am_2011oo.htm.
Meyer-Drawe, Käte (2001): Bildung und Identität. In: Wolfgang Eßbach (Hrsg.):
wir/ihrlsie. Identität und Alterität in Theorie und Methode. Würzburg: Königshausen
& Neumann 2001, S. 139-150.
Opaschowski, Horst W. (2002): Start-up ins Leben. Wie selbständig sind die Deutschen?
Hrsg. B.A.T. Freizeit-Forschungsinstitut GmbH, Hamburg: Germa Press.
Pongratz, Hans J.lGÜnter G. Voß (1998/2002): Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue
Grundform der Ware Arbeitskraft? In: Ulrich Bröckling/Eva Horn (Hrsg.): Anthro-
pologie der Arbeit, Tübingen: Gunter Narr, S. 127-156.
Pongratz, Hans J.lGÜnter G. Voß (2003): Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen
in entgrenzten Arbeitsformen. Berlin: edition sigma.
Radtke, Frank-Olaf (2003): Die Erziehungswissenschaft der OECD - Aussichten auf die
neue Performanz-Kultur. In: DGfE (Hrsg.): Erziehungswissenschaft 14, S. 109-136.
Ripsas, Sven (1997): Entrepreneurship als ökonomischer Prozeß. Perspektiven zur Förde-
rung unternehmerischen Handeins. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag.
Ripsas, Sven (1998): Elemente der Entrepreneurship Education. In: Ders.lGÜnter Fal-
tinlJürgen Zimmer (Hrsg.): Entrepreneurship. Wie aus Ideen Unternehmen werden.
München: Beck,S. 217-234.
Ruhloff, Jörg (1998): Bildung heute. In: Pädagogische Korrespondenz, H. 21, S. 23-31.
Ruhloff, Jörg (2000): Kunst innerhalb der Bildungsaufgabe. Abweisung, Überforderung,
Versuch einer Neueinschätzung. In: Rektorat der Kunstakademie Düsse\dorf (Hrsg.):
Perspektiven einer Didaktik der bildenden Künste. Jahreshefte der Kunstakademie
Düsseldorf 5.1. Sonderband, Teil I, Düsseldorf: Kunstakademie Düsseldorf, S. 17-35.
Schröder, Gerhard (2001): Interview mit der BILD-Zeitung am 05.04.2001, in:
http://www.bundeskanzler.delInterviews-.7716.27642/a.htm?printView=y.
Start-up (2003): http://www.startup-initiative.de.
Statistisches Bundesamt (2003): Über 24.000 Insolvenzen im 1. Quartal 2003. Pressemit-
teilung vom 18. Juni 2003, in:
http://www.destatis.de/presse/deutschlpm2003/p2450132.htm.
Wimmer, Michael (2002): Bildungsruinen in der Wissensgesellschaft - Anmerkungen zum
Diskurs über die Zukunft der Bildung. In: Ingrid LohmannIRainer Rilling (Hrsg.): Die
verkaufte Bildung. Kritik und Kontroversen zur Kommerzialisierung von Schule,
Weiterbildung, Erziehung und Wissenschaft. Opladen: Leske + Budrich, S. 45-68.
Zirfas, Jörg (1999): Globale Ethik als glokale. In: Walter Bauer u.a. (Hrsg.): Globalisie-
rung. Perspektiven - Paradoxien - Verwerfungen. Jahrbuch für Bildungs- und Erzie-
hungsphilosophie 2. Hohengehren: Schneider, S. 143-176.
Anhang
Gabriella Schmitz

Auswahlbibliographie zur Michel Foucault-Rezeption

Althans, Birgit (2001): Transformationen des Individuums. Michel Foucault als Performer
seines Diskurses und die Pädagogik der Selbstsorge. In: Wulf, ChristophlMichael Göh-
lichlJörg Zirfas (Hrsg.): Grundlagen des Performativen. Eine Einfiihrung in die Zusam-
menhänge von Sprache, Macht und Handeln. Weinheim und MUnchen, S. 129-155.
Amery, Jean (1973): Wider den Strukturalismus. Das Beispiel des Michel Foucault. In:
Merkur 300, S. 468-482.
Amery, Jean (1977): Michel Foucaults Vision des Kerker-Universums. In: Merkur 347, S.
389-394.
Beck, Christian (1993): Ästhetisierung des Denkens. Zur Postmoderne-Rezeption der Pä-
dagogik. Amerikanische, deutsche, französische Aspekte. Bad Heilbrunn.
Bilstein, Johannes (2000): Die Beichte und ihre Bedeutung im Sozialisationsprozess. In:
Zeitschrift fUr Erziehungswissenschaft 3, S. 609-628.
Bollmann, Ulrike (2001): Wandlungen neuzeitlichen Wissens. Historisch-systematische
Analysen aus pädagogischer Sicht. WUrzburg.
Brinkrnann, Malte (1999): Das Verblassen des Subjekts bei Foucault. Anthropologische
und bildungstheoretische Studien. Weinheim.
Bröckling, Ulrich (2000): Totale Mobilmachung. Menschenführung im Qualitäts- und
Selbstmanagement. In: Bröckling, UlrichlSusanne KrasmannfThomas Lemke (Hrsg.):
Gouvemementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frank-
furtIMain. S. 131-167.
Bröckling, Ulrich (2003): You are not responsible for being down, but you are responsible
for getting up. Über Empowerment. In: Leviathan 31, S. 323-344.
Bröckling, UlrichlEva Horn (Hrsg.) (2002): Anthropologie der Arbeit. TUbingen.
Bröckling, UlrichlSusanne KrasmannfThomas Lemke (Hrsg.) (2000): Gouvernementalität
der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. FrankfurtlMain.
Bröckling, UlrichlSusanne KrasmannfThomas Lemke (2004): Glossar der Gegenwart.
FrankfurtlMain.
Bublitz, Hannelore/Andrea D. BUhrmannlChristine Hanke/Andrea Seier (Hrsg.) (1999): Das
Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults. FrankfurtlMain.
Caruso, Marcelo (2003): Biopolitik im Klassenzimmer. Zur Ordnung der FUhrungsprakti-
ken in Bayerischen Klassenzimmern (1869-1918). Weinheim u.a.
Casale, Rita (2001): Die Verwandlung der Philosophie in eine Diagnostik der Differenzen.
In: Lutz, HelmaINorbert Wenning (Hrsg.): Unterschiedlich verschieden. Differenz in
der Erziehungswissenschaft. Opladen, S. 25-46.
Casale, Rita (2004): The Educational Theorists, The Teachers, and their History of Educa-
tion. In: Tröhler, DaniellJUrgen Oelkers (Hrsg.): Historiography of Education: Philo-
sophical Questions and Case Studies. FrankfurtIMain u.a. (in Druck).
304 Gabriella Schmitz

Coelen, Thomas (1996): Pädagogik als ,Geständniswissenschaft'? Zum Ort der Erziehung
bei Foucault. FrankfurtlMain.
Corazza, Rupert Mario (1994): Michel Foucault - das Testament der Humanwissenschaf-
ten. Über die Möglichkeit der Pädagogik als Wissenschaft innerhalb der Kritik von
Michel Foucault an den Humanwissenschaften. Wien (Diplomarbeit).
Dane GesaIWolfgang EßbachlChrista Karpenstein-Eßbach/Michael Makropoulos (Hrsg.)
(1985): Anschlüsse. Versuche nach Michel Foucault. Tübingen.
Dauk, Elke (1989): Foucault. Denken als Ethos und Methode. Foucault lesen. Berlin.
Dreßen, Wolfgang (1982): Die pädagogische Maschine. Zur Geschichte des industriali-
sierten Bewußtseins in PreußenlDeutschland. FrankfurtlMain.
Dreyfus, Hubert L./Paul Rabinow (1987): Michel Foucault - Jenseits von Strukturalismus
und Hermeneutik. Mit einem Nachwort von und einem Interview mit Michel
Foucault. FrankfurtlMain.
Dreyfus, Hubert L./Paul Rabinow (1990): Was ist Mündigkeit? Habermas und Foucault
über "Was ist Aufklärung?". In: Erdmann, EvaIRainer ForstlAxel Honneth (Hrsg.):
Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. FrankfurtlMain und New York,
S.55-69.
Ehrenspeck, Yvonne (2001): Strukturalismus und Poststrukturalismus in der Erziehungs-
wissenschaft. Thematische, theoretische und methodische Implikationen einer Rezep-
tion. In: Fritzsche, Bettina u.a. (Hrsg.): Dekonstruktive Pädagogik. Erziehungswissen-
schaftliehe Debatten unter poststrukturalistischen Perspektiven. Opladen, S. 21-34.
Eßbach, Wolfgang (1988): Zum Eigensinn deutscher Foucault-Rezeption. In: Spuren in
Kunst und Gesellschaft. Sonderheft "Michel Foucault" - Materialien zum Hamburger
Kolloquium 2.-4. Dez. 1988. Hamburg, S. 40-44.
Eßbach, Wolfgang (1991): Deutsche Fragen an Foucault. In: Ewald, Fram;:oislBernhard
Waldenfels (Hrsg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. FrankfurtIMain,
S.74-85.
Ewald, Fran~ois/Bernhard Waldenfels (Hrsg.) (1991): Spiele der Wahrheit. Michel
Foucaults Denken. FrankfurtlMain.
Fink-Eitel, Hinrich (1980): Michel Foucaults Analytik der Macht. In: Kittler, Friedrich A.
(Hrsg.): Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Paderborn, S. 38-78.
Forneck, Hermann-Josef (1992): Moderne und Bildung. Modernitätstheoretische Studie zur
sozialwissenschaftlichen Reformulierung allgemeiner Bildung. Weinheim.
Forneck, Hermann-Josef (1993): Bildung - Die Archäologie der Selbsterschaffung. Das
Verschwinden des Subjekts von Bildung bei Foucault. In: Marotzki, WinfriedlHeinz
Sünker (Hrsg.): Kritische Erziehungswissenschaft - Moderne - Postmoderne. Bd. 2.
Weinheim, S. 155-175.
Forst, Rainer (1990): Endlichkeit Freiheit Individualität. Die Sorge um das Selbst bei Hei-
degger und Foucault. In: Erdmann, EvaIRainer ForstlAxel Honneth (Hrsg.): Ethos der
Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. FrankfurtlMain und New York, S. 146-
186.
Fritzsche, Bettina/Jutta Hartmann/Andrea SchmidtlAnja Tervooren (Hrsg.) (2001): Dekon-
struktive Pädagogik. Erziehungswissenschaftliche Debatten unter poststrukturalisti-
schen Perspektiven. Opladen.
Gaebe, Barbara (1991): Methodisierung der Willenserziehung als Thema pädagogischer
Reflexion im 17. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Pädagogik 37, S. 827-843.
Garbe, Christine (1983): Sophie oder die heimliche Macht der Frauen. Zur Konzeption des
Weiblichen bei Jean-Jacques Rousseau. In: Brehmer, I1se u.a. (Hrsg.): Frauen in der
Geschichte IV: "Wissen heißt leben ...... Beiträge zur Bildungsgeschichte von Frauen
im 18. und 19. Jahrhundert. Düsseldorf, S. 65-87.
Garbe, Christine (1992): Die, weibliche' List im ,männlichen' Text. Jean-Jacques Rousseau
in der feministischen Kritik. Stuttgart.
Auswahlbibliographie zur Michel Foucault-Rezeption 305

Gehring, Petra (1994): Innen des Außen - Außen des Innen. Foucault - Derrida - Lyotard.
München.
Gehring, Petra (2002): Spiel der Identitäten? Zu Michel Foucaults L'usage des plaisirs. In:
Renn, Joachim/Jürgen Straub (Hrsg.): Transitive Identität. Der Prozesscharakter des
modernen Selbst. FrankfurtlMain und New York, S. 374-391.
Glantschnig, Helga (1987): Liebe als Dressur. Kindererziehung in der Aufklärung. Frank-
furtIMain und New York.
Gößling, Hans J. (1993): Subjektwerden. Historisch-systematische Studien zu einer päda-
gogischen Paradoxie. Weinheim.
Gstettner, Peter (1981): Die Eroberung des Kindes durch die Wissenschaft. Aus der Ge-
schichte der Disziplinierung. Reinbek bei Hamburg.
Hamm, Robert (1999): Tanz nicht aus der Reihe - Die Zweierreihe in den Blick genom-
men mit Hilfe der Werkzeugkiste des Michel Foucault. Langen.
Hauskeller, Christine (2000): Das paradoxe Subjekt. Unterwerfung und Widerstand bei Ju-
dith Butler und Michel Foucault. Tübingen.
Hellerich, Gert (1993): Wider die Moderne: die Postmoderne und Abweichungen. Essen.
Helsper, Werner (1990): Schule in den Antinomien der Moderne. In: Krüger, Heinz-
Hennann (Hrsg.): Abschied von der Aufklärung? Perspektiven der Erziehungswissen-
schaft. Opladen, S. 175-194.
Herchenberger, Klaus (1997): Zurück zum Kopf. Fünf Beiträge zu einer Ästhetik der
Wahrnehmung im Dunstkreis der Neueren Französischen Philosophie und insbeson-
dere des Kopfes Michel Foucault. Innsbruck.
Hilgenheger, Norbert (2002): Disziplin als Herrschaftsverhältnis - Einige Überlegungen
zur erziehungstheoretischen Einordnung eines strittigen Begriffs. In: engagement.
Zeitschrift für Erziehung und Schule. Heft 1, S. 2-12.
Hnilica, Sonja (2003): Disziplinierte Körper. Die Schulbank als Erziehungsapparat. Wien.
Höhne, Thomas (2003): Pädagogik der Wissensgesellschaft. Bielefeld.
Hörster, Reinhard (1993): Nonnale Regulierung der Delinquenz und Sozialpädagogik.
Methodologische Überlegungen zur Analyse einer diskursiven Praxis in pädagogi-
scher Absicht. FrankfurtlMain.
Hornfeldt, Hans GünterlRoland Merten u.a. (Hrsg.) (1999): "Sozialer Brennpunkt" Körper:
körpertheoretische und -praktische Grundlagen für die soziale Arbeit. Baltmannsweiler.
Honneth, AxelJMartin Saar (Hrsg.) (2003): Michel Foucault - Zwischenbilanz einer Re-
zeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. FrankfurtlMain.
Hünersdorf, Bettina (2000): Reflexive Pädagogisierung. Ein phänomenologischer Entwurf.
Mit einem Geleitwort von Armin Nassehi. Wiesbaden.
Internationale Zeitschrift für Philosophie (2000) Jg. 9, Heft 1: Foucault.
Jäger, Christian (1994): Michel Foucault, das Ungedachte denken. Eine Untersuchung der
Entwicklung und Struktur des kategorischen Zusammenhangs in Foucaults Schriften.
München.
Johannes, Rolf (1999): Subjekt und Institution bei Foucault. In: Colla, Herbert E. u.a. (Hrsg.):
Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa. Neuwied, S. 379-384.
Kammler, Clemens (1986): Michel Foucault, eine kritische Analyse seines Werkes. Bonn.
Kamper, Dietmar (1980): Die Auflösung der Ich-Identität. Über einige Konsequenzen des
Strukturalismus für die Anthropologie. In: Kittler, Friedrich A. (Hrsg.): Austreibung
des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Paderborn, S. 79-86.
Kleiner, Marcus S. (Hrsg.) (2001): Michel Foucault. Eine Einführung in sein Denken.
FrankfurtlMain und New York.
Koller, Hans-Christoph (2001): Bildung und die Dezentrierung des Subjekts. In: Fritzsche,
Bettina/Jutta Hartmann/Andrea SchmidtlAnja Tervooren (Hrsg.): Dekonstruktive
Pädagogik. Erziehungswissenschaftliche Debatten unter poststrukturalistischen Per-
spektiven. Opladen, S. 35-48.
306 Gabriella Schmitz

Krol, Martin (2001): Michel Foucault. Zwischenbericht einer Rezeption. In: DISS-lournal
9 - elektronische Ausgabe unter: http://www.uni-duisburg.deIDISSID1_0L9/HTM-
Formatllnhalt.htm#Michel %20Foucault.
Lernke, Thomas (1997): Kritik der politischen Vernunft. Foucaults Analyse der modemen
Gouvemementalität. Hamburg.
Lernke, Thomas/Susanne KrasmannlUlrich Bröckling (2000): Gouvernementalität, Neoli-
beralismus und Selbsttechnologien. Eine Einleitung. In: BröckJing, Ulrich/Susanne
Krasmann/Thomas Lernke (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur
Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt/Main, S. 7-40.
Marchand, Suzanne (1997): Foucault, die modeme Individualität und die Geschichte der
humanistischen Bildung. In: Mergel, ThomasfThomas Welskopp (Hrsg.): Geschichte
zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte. München, S. 323-348.
Marotzki, WinfriediHeinz Sünker (Hrsg.) (1992/93): Kritische Erziehungswissenschaft -
Modeme - Postmoderne. 2 Bände. Weinheim.
Masschelein, lanlMichael Wimmer (1996): Alterität Pluralität Gerechtigkeit. Randgänge
der Pädagogik. Sankt Augustin und Leuven.
Massehelein, lan (2003): Trivialisierung von Kritik. Kritische Erziehungswissenschaft
weiterdenken. In: 46. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik, S. 121-141.
Massehelein, lanlNorbert Ricken (2002): Regulierung von Pluralität - Skizzen vom ,Au-
ßen'. Erziehungsphilosophische Anmerkungen zu Aufgabe und Funktion einer All-
gemeinen Erziehungswissenschaft. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 5, 1.
Beiheft, S. 93-108.
Masschelein, lanlNorbert Ricken (2003): Do we still need a conception of ,Bildung'? In:
Educational Theory and Philosophy 35, S. 139-154.
Massehelein, lanlMaarten Simons (2003): An Adequate Education in a Globalised World?
A Note on Immunisation Against Being-Together. In: lournal of Philosophy of Edu-
cation 36, S. 589-608.
Maurer, Susanne (1998): Organisationsentwicklung und Frauenförderung: Eine exemplari-
sche Untersuchung in drei Organisationstypen der privaten Wirtschaft. Königstein.
Maurer, Susanne (2000): "Fördern und Entwickeln". Institutionelle Veränderungsstrategien
und normalisierendes Wissen. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 3, S. 411-
428.
Maurer, Susanne (2001): Das Soziale und die Differenz. Zur (De-)Thematisierung von Diffe-
renz in der Sozialpädagogik. In: Lutz, HelmaINorbert Wenning (Hrsg.): Unterschiedlich
verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft. Opladen, S. 125-142.
Meyer-Drawe, Käte (1984): Leiblichkeit und Sozialität. Phänomenologische Beiträge zu
einer pädagogischen Theorie der Inter-Subjektivität. München.
Meyer-Drawe, Käte (1990): Illusionen von Autonomie. Diesseits von Ohnmacht und All-
macht des Ich. München.
Meyer-Drawe, Käte (1990): Provokationen eingespielter Aufklärungsgewohnheiten durch
"postmodernes Denken". In: Krüger, Heinz-Hermann (Hrsg.): Abschied von der Auf-
klärung? Perspektiven der Erziehungswissenschaft. Opladen, S. 81-90.
Meyer-Drawe, Käte (1991): Das ,Ich als die Differenz der Masken'. Zur Problematik auto-
nomer Subjektivität. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 67, S.
390-400.
Meyer-Drawe, Käte (1992): ,Projekt der Modeme' oder Antihumanismus. Reflexionen zu ei-
ner falsch gestellten Alternative. In: 29. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik, S. 93-103.
Meyer-Drawe, Käte (1993): Das Ich im Spiegel des Nicht-Ich. In: Bildung und Erziehung
46, S. 195-205.
Meyer-Drawe, Käte (1994): Der armierte Blick. Randbemerkungen zur ordnenden Tätig-
keit. In: Horn, Klaus-PeterlLothar Wigger (Hrsg.): Systematiken und Klassifikationen
in der Erziehungswissenschaft. Weinheim, S. 361-369.
Auswahlbibliographie zur Michel Foucault-Rezeption 307

Meyer-Drawe, Käte (1996): Versuch einer Archäologie des pädagogischen Blicks. In: Zeit-
schrift für Pädagogik 42, S. 655-664.
Meyer-Drawe, Käte (1996): Tod des Subjekts - Ende der Erziehung? Zur Bedeutung
,postmoderner' Kritik für Theorien der Erziehung. In: Pädagogik, S. 48-57.
Meyer-Drawe, Käte (1998): Streitfall "Autonomie". Aktualität, Geschichte und Systematik
einer modemen Selbstbeschreibung des Menschen. In: Braun, Walter u.a. (Hrsg.):
Fragen nach dem Menschen in der umstrittenen Modeme. Jahrbuch für Bildungs- und
Erziehungsphilosophie 1. Baltmannsweiler, S. 31-49.
Meyer-Drawe, Käte (1999): Die Not der Lebenskunst. Phänomenologische Überlegungen
zur Bildung als Gestaltung exzentrischer Lebensverhältnisse - Fünf Überlegungen. In:
Dietrich, Cornelie/Hans-Rüdiger Müller (Hrsg.): Bildung und Emanzipation. Klaus
Mollenhauer weiterdenken. Weinheim und München, S. 147-154.
Meyer-Drawe, Käte (2000): Bildung und Identität. In: Eßbach, Wolfgang (Hrsg.):
wir/ihr/sie. Identität und Alterität in Theorie und Methode. Würzburg, S. 139-150.
Meyer-Drawe, Käte (2001): Erziehung und Macht. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaft-
liche Pädagogik 77, S. 446-457.
Meyer-Drawe, Käte (2004): Subjektivität - Individuelle und kollektive Formen kultureller
Selbstverhältnisse und Selbstdeutungen. In: Jaeger, FriedrichlBurkhard Liebsch
(Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 1. Grundlagen und Schlüsselbe-
griffe. Stuttgart und Weimar, S. 304-315.
Mitteilungen des Institutes für Wissenschaft und Kunst (Wien) 56 (2001), Heft 2/3:
DEMOKRATIE. SELBST. ARBEIT. Analysen liberal-demokratischer Gesellschaften
im Anschluss an Michel Foucault.
Mollenhauer, Klaus (1979): "Dies ist keine Pfeife". Ein etwas irritierter Versuch, sich
Foucault zu nähern. In: PÄD extra. Magazin für Erziehung, Wissenschaft und Politik.
Heft 1, S. 63-65.
Musfeld, Tamara (2001): Das Wissen, die Macht und das Spiel. De(kon)struktion von
Identitäten am Beispiel Internet. In: Fritzsche, Bettina/Jutta HartmannlAndrea
Schmidt/Anja Tervooren (Hrsg.): Dekonstruktive Pädagogik. Erziehungswissen-
schaftliche Debatten unter poststrukturalistischen Perspektiven. Opladen, S. 149-
159.
Neuhold, Andreas (2002): Universalität versus Heterogenität. Postmoderne Splitter in der
deutschsprachigen Pädagogik. Wien.
Otto, Stefan (1992): Das Wissen des Ähnlichen. Michel Foucault und die Renaissance.
FrankfurtlMain u.a.
Paris, Heidi (1979): Die Brille von Foucault. In: Köhler, Alfons u.a. (Hrsg.): Kühltürme.
Geschichten. Bilder. Berlin.
Peukert, Helmut (1992): Die Erziehungswissenschaft der Modeme und die Herausforde-
rung der Gegenwart. In: 29. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik, S. 113-127.
Poltrum, Martin (1997): Zum Vorausliegenden und dem Gegenstehenden. Zur Auflösung
des Subjekts bei Nietzsehe, Heidegger und Foucault - Konsequenzen für die Erzie-
hungswissenschaft. Innsbruck.
Pongratz, Ludwig A. (1986): Bildung und Subjektivität. Historisch-systematische Studien
zur Theorie der Bildung. Weinheim.
Pongratz, Ludwig A. (1987): Bildungstheorie im Prozeß der Modeme. Perspektiven einer
theoriegeschichtlichen Dekonstruktion. In: Bildungsforschung und Bildungspraxis 9,
S.244-262.
Pongratz, Ludwig A. (1988): Michel Foucault. Seine Bedeutung für die historische Bil-
dungsforschung. In: Informationen zur erziehungs- und bildungstheoretischen For-
schung (IZEBF). Heft 32, S. 155-168.
Pongratz, Ludwig A. (1989): Pädagogik im Prozeß der Modeme: Studien zur Sozial- und
Theoriegeschichte der Schule. Weinheim.
308 Gabriella Schmitz

Pongratz, Ludwig A. (1989): Pädagogikgeschichte als Dekonstruktion. Zur Entwicklung


der pädagogischen Historiographie. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Päd-
agogik 65, S. 1-14.
Pongratz, Ludwig A. (1990): Schule als Dispositiv der Macht - pädagogische Reflexionen
im Anschluß an Michel Foucault. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Päd-
agogik 66, S. 289-308.
Pongratz, Ludwig A. (1995): Freiheit und Zwang - Schulische Strafformen im Wandel. In:
Die deutsche Schule 87, S. 183-195.
Pongratz, Ludwig A. (1995): Ohne Leitbild? Zur Theoriegeschichte und Aktualität von
Bildung. In: Universitas 50, S. 43-52.
Priem, Karin (2003): Innerer und äußerer Raum. Dimensionen des Raums in der religiösen
Erziehung. In: Jelich, Franz-JoseflHeidemarie Kemnitz (Hrsg.): Die pädagogische
Gestaltung des Raums. Geschichte und Modernität. Bad Heilbrunn, S. 415-429.
Priem, Karin (2004): Erziehung und Schule im kulturel1en Gedächtnis. Ambivalenz als Er-
folgsrezept? In: Max LiedtkelEva Matthes/Gisela Mil1er-Kipp (Hrsg.): Erfolg oder
Misserfolg? Urteile und Bilanzen in der Historiographie der Erziehung. Bad
Heilbrunn (in Druck).
Prondczynsky, Andreas von (1992): Macht oder Ohnmacht des pädagogischen Diskurses?
Zur Thematisierung disziplinärer Identitätsproblematiken in der Erziehungswissen-
schaft im Anschluß an Michel Foucault. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche
Pädagogik 68, S. 241-259.
Puder, Martin (1972): Der böse Blick des M. Foucault. In: Neue Rundschau 83, S. 315-324.
Rapp Wagner, Renata (1997): Postmodernes Denken und Pädagogik. Eine kritische Analy-
se aus philosophisch-anthropologischer Perspektive. Bern u.a.
Reichenbach, Roland (2000): Die Tiefe der Oberfläche. Michel Foucault zur Selbstsorge
und über die Ethik der Transformation. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche
Pädagogik 76, S. 177-189.
Reichenbach, Roland (2001): Demokratisches Selbst und dilettantisches Subjekt. Demo-
kratische Bildung und Erziehung in der Spätmodeme. Münster und New York.
Ricken, Norbert (1999): Subjektivität und Kontingenz. Markierungen im pädagogischen
Diskurs. Würzburg.
Ricken, Norbert (1999): Subjektivität und Kontingenz. Pädagogische Anmerkungen zum
Diskurs menschlicher Selbstbeschreibung. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche
Pädagogik 75, S. 208-237.
Ricken, Norbert (2000): ,Aber hier, wie überhaupt, kommt es anders, als man glaubt.'
Kontingenz als pädagogische Irritation. In: Massehelein, Jan/Jörg RuhlofflAlfred
Schäfer (Hrsg.): Erziehungsphilosophie im Umbruch. Beiträge zur Neufassung des
Erziehungsbegriffs. Weinheim, S. 25-45.
Ricken, Norbert (2002): Identitätsspiele und die Intransparenz der Macht. Anmerkungen
zur Struktur menschlicher Selbstverhältnisse. In: Straub, Jürgen/Joachim Renn
(Hrsg.): Transitorische Identität. Der Prozeßcharakter des modemen Selbst, Frank-
furt/Main und New York, S. 318-359.
Ricken, Norbert (2004): Menschen: Zur Struktur anthropologischer Reflexionen als einer
unverzichtbaren kulturwissenschaftlichen Dimension. In: Jaeger, FriedrichlBurkhard
Liebsch (Hrsg.): Handbuch der Kulturwissenschaften. Band l. Grundlagen und
Schlüsselbegriffe. Stuttgart und Weimar, S. 152-172.
Ricken, Norbert (2004): Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bil-
dung. Münster u.a. (in Druck).
Ricken, Norbert (2004): ,Freude aus Verunsicherung ziehn - wer hat uns das denn beige-
bracht!' (Christa Wolf). Über den Zusammenhang von Negativität und Macht. In:
Benner, Dietrich (Hrsg.): Erziehung - Bildung - Negativität. Beiheft der Zeitschrift
für Pädagogik (in Druck).
Auswahlbibliographie zur Michel Foucault-Rezeption 309

Rieger, Markus (1997): Ästhetik der Existenz? Eine Interpretation von Michel Foucaults
Konzept der >Technologien des Selbst< anhand der >Essais< von Michel de Mon-
taigne. Münster u.a.
Rieger-Ladich, Markus (2002): Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur pädago-
gischen Semantik. Konstanz.
Rieger-Ladich, Markus (2002): Pathosformel Mündigkeit. Beobachtungen zur Form erzie-
hungswissenschaftlicher Reflexion. In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Päda-
gogik 78, S. 153-182.
Rieger-Ladich, Markus (2004): Autonomie revisited: Kritik und Wiederaneignungsversuch
einer Leitkategorie des pädagogischen Diskurses. In: Autiero, Antonio/Stephan Go-
ertzlMagnus Striet (Hrsg.): Endliche Autonomie. Interdisziplinäre Perspektiven auf
ein theologisch-ethisches Programm. Münster (in Druck).
Rößer, Barbara (2001): Über die Qualität des Wollens - Erzieherische Ableitungen aus
Michel Foucaults Subjektbegriff. In: Angermüller, Johannes u.a. (Hrsg.): Diskursana-
lyse: Theorien, Methoden, Anwendungen. Hamburg, S. 179-191.
Rößer, Barbara (2004): Strategien der kritischen Analyse neuer Formen der Subjektori-
entierung im Kontext des Prozesses betrieblicher Veränderung. Über eine Voraus-
setzung professionellen pädagogischen Handeins. Dissertation Universität Regens-
burg.
Rüb, Matthias (1987): Suche nach den Wurzeln des Subjekts. Der erstaunliche Wandel im
Spätwerk des Michel Foucault. In: Spuren 18.
Rüb, Matthias (1988): Foucaults "Kehre". Neuere Literatur zum Werk Michel Foucaults.
In: Philosophischer Literaturanzeiger 41, S. 198-207.
Rüb, Matthias (1988): Von der Macht zur Lebenskunst - Foucaults letzte Werke und ihre
Interpretation in der Sekundärliteratur. In: Leviathan 16, S. 97-107.
Ruhloff, Jörg (1993); Traditionen der Postmoderne in Antike und Renaissance. Zur Theo-
rie und Geschichte des problematischen Vernunftgebrauchs in der Pädagogik. In:
Ruhloff, JörgIWolfgang Fischer: Skepsis und Widerstreit: neue Beiträge zur skep-
tisch-transzendentalkritischen Pädagogik. Sankt Augustin, S. 97-119.
Rustemeyer, Dirk (1992): Historische Vernunft, politische Wahrheit. Weinheim.
Rustemeyer, Dirk (1997): Erzählungen. Bildungsdiskurse im Horizont von Theorien der
Narration. Stuttgart.
Rustemeyer, Dirk (2001): Sinnformen. Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Moral.
Hamburg.
Sattler, Elisabeth (1996): Michel Foucaults Spuren in der Pädagogik. Über die Verzicht-
barkeit und Unverzichtbarkeit von Michel Foucault für erziehungswissenschaftliehe
Fragestellungen. Wien (Diplomarbeit).
Sattler, Elisabeth (2003): Bildung, die an der Zeit ist. Diverse, vielleicht diversifizierende
Bemerkungen zu bildungstheoretischen Entwürfen. Wien.
Schäfer, Alfred (1996): Autonomie - zwischen Illusion und Zumutung. In: Vierteljahrs-
schrift für wissenschaftliche Pädagogik 72, S. 175-189.
Schäfer, Alfred (1996): Das Bildungsproblem nach der humanistischen Illusion. Weinheim.
Schäfer, Alfred (1997): Erziehungsphilosophie. In: Bernhard, ArminILutz Rothermel
(Hrsg.): Handbuch Kritische Pädagogik. Weinheim, S. 120-131.
Schäfer, Thomas (1995): Reflektierte Vernunft. Michel Foucaults philosophisches Projekt
einer antitotalitären Macht- und Wahrheitskritik. FrankfurtlMain.
Schirlbauer, Alfred (1990): Konturen einer postmodernen Pädagogik. In: Vierteljahrs-
schrift für wissenschaftliche Pädagogik 66, S. 33-45.
Schmerfeld, Joachim (1991): Das unbestimmbare Subjekt in der Begründung pädagogi-
scher Wissenschaft. Münster.
Schmid, Wilhelm (1991): Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach
dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault. FrankfurtlMain.
310 Gabriella Schmitz

Schmotzer, Elisabeth (1991): Taktschläge. Zur Disziplinierungsfunktion der Instrumental-


pädagogik. Innsbruck.
Schütz, Egon (1988): Humanismus als anthropologische Herausforderung. Eine Zwischen-
überlegung. In: Schurr, JohanneslKarl Heinz BroeckenlRenate Broecken (Hrsg.):
Humanität und Bildung, Hildesheim u.a., S. 341-35l.
Schütz, Egon (1989): Die These vom Ende des Menschen - oder: WER spricht bei
Foucault? In: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 65, S. 378-387.
Schütz, Egon (1991): Humanismus als "Humanismuskritik". In: Zeitschrift für Pädagogik
37, S. 1-11.
Schütz, Egon (1992): Humanismuskritik und Modemitätskrise. Eine Exposition. In: 29.
Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik, S. 141-149.
Schütz, Egon (1992): Macht und Ohnmacht der Bildung. Weinheim.
Schurr, Johannes/Karl Heinz BroeckenlRenate Broecken (Hrsg.) (1988): Humanität und
Bildung. Hildesheim u.a.
Seitter, Walter (1980): Ein Denken im Forschen - Zum Unternehmen einer Analytik bei
Michel Foucault. In: Philosophisches Jahrbuch 87, S. 340-363.
Simons, Maarten (2002): Governementality, Education and Quality Management. In: Zeit-
schrift für Erziehungswissenschaft 5, S. 617-633.
Spuren in Kunst und Gesellschaft 26/27 (1989).
Szemeredy, Susanne (2001): Der/die spezifische Intellektuelle Foucaults. Leitfigur für ein
neues sozialarbeiterisches Ethos im Geiste der Dekonstruktion? In: Fritzsche, Betti-
nalJutta Hartmann/Andrea SchmidtiAnja Tervooren (Hrsg.): Dekonstruktive Pädago-
gik. Erziehungswissenschaftliche Debatten unter poststrukturalistischen Perspektiven.
Opladen, S. 255-268.
Visker, Rudi (1991): Michel Foucault. Genealogie als Kritik. München.
Visker, Rudi (1998): Von Foucault zu Levinas. Eine Zwischenbetrachtung. In: Marotzki,
WilfriedlJan MasscheleiniAlfred Schäfer (Hrsg.): Anthropologische Markierungen.
Herausforderungen pädagogischen Denkens. Weinheim, S. 131-152.
Visker, Rudi (1999): Truth and Singularity. Taking Foucault into Phenomenology,
Dordrecht.
Weinberger, Martin (1994): Diskurse der Humanität. Zur Kritik humanistischer Bildung
aus subjekttheoretischer Perspektive. Hamburg.
Wieser, Bernhard Michael (1995): Michel Foucaults Analyse der Macht aus pädagogischer
Perspektive. Graz (Diplomarbeit).
Wimmer, Klaus-Michael (1988): Der Andere und die Sprache. Vernunftkritik und Verant-
wortung. Berlin.
Wimmer, Klaus-Michael (1992): Von der Identität als Norm zur Ethik der Differenz. Das
Verhältnis zum Anderen als zentrales Problem einer pädagogischen Ethik. In: Meyer-
Drawe, KätelHelmut PeukertlJörg Ruhloff (Hrsg.): Pädagogik und Ethik. Beiträge zu
einer zweiten Reflexion. Weinheim, S. 151-180.
Wimmer, Michael (1996): Die Gabe der Bildung. Überlegungen zum Verhältnis von Sin-
gularität und Gerechtigkeit im Bildungsgedanken. In: Masschelein, JanlMichael
Wimmer: Alterität Pluralität Gerechtigkeit. Randgänge der Pädagogik. Sankt Augu-
stin und Leuven, S. 127-162.
Wimmer, Michael (1996): Zerfall des Allgemeinen - Wiederkehr des Singulären. Pädago-
gische Professionalität und der Wert des Wissens. In: Masschelein, JanlMichael
Wimmer: Alterität Pluralität Gerechtigkeit. Randgänge der Pädagogik. Sankt Augu-
stin und Leuven, S. 219-265.
Zymek, Bemd (1995): Evolutionalistische und strukturalistische Ansätze einer Geschichte
der Erziehung. In: Lenzen, Dieter/Klaus Mollenhauer (Hrsg.): Enzyklopädie Erzie-
hungswissenschaft. Band 1: Theorien und Grundbegriffe der Erziehung und Bildung.
Stuttgart und Dresden, S. 55-80.
Gabriella Schmitz

Link-Sammlung zur Michel Foucault-Rezeption

http://www.suhrkamp.de/autorenlfoucault/foucaultbib.htm

Website des Suhrkamp-Verlags, die einen Editionsplan der Werke von und über Foucault
enthält, sowie weiterführende, internationale Links zu Foucault verzeichnet.

http://www.ruhr-uni-bochum.de/diskurstheorielBibliographie_Textelbibliographie_texte.
htm

Website des germanistischen Institutes an der Ruhr-Universität Bochum, die sich mit dem
Thema "Diskurstheorie" beschäftigt. Angeboten werden u.a. einführende Lexikonartikel,
Auszüge aus Grundlagenwerken zu den Themen "Diskursanalyse" und "Poststrukturalis-
mus" sowie Auszüge aus den Werken Foucaults im pdf-Format.

http://www.qut.edu.auledulcpoUfoucault/

Englische Website von Clare O'Farrell, die sich in besonderer Weise um Foucaults Werk
verdient gemacht hat. Ihre Website "foucault resources" bietet u.a. eine umfangreiche eng-
lische Bibliographie der Foucault-Texte, eine Linksammlung aus aller Welt zu Foucault, zu
Schriftsammlungen sowie vielfältige Informationen allgemeinerer Art.

http://www.csun.edul-hfspc002/foucault.home.html

Englische Website von Ben Attias (California State University), die eine kommentierte
Auflistung der Werke Foucaults, Essays von und über Foucault bietet sowie ein weitver-
zweigtes Diskussionsforum, an dem sich Forscher, Studenten und Interessierte beteiligen.

http://www.siu.edul-foucault/index.htm

Offizielle Website des amerikanischen "Foucault-Zirkels": "The Foucault Circ\e is a regu-


lar gathering of scholars and educators who share a commitment to the articulation, critical
evaluation, development, and use of the thought and work of Michel Foucault".
312 Gabriella Schmitz

http://foucaultinfo/

Englischsprachige Website mit allgemeinen, einführenden Informationen über Foucault


und sein Werk, einigen Primärtexten (in verschiedenen Sprachen, z.B. englisch, franzö-
sisch, deutsch, russisch) und Sekundärliteratur. Eine Sammlung von Webtexten, die mit
Foucault und seinem Werk in Zusammenhang stehen, wird angeboten und stets aktuali-
siert.

http://www.thefoucauldian.co.uk/index.htm

Englischsprachige Website mit ausführlicher Bibliographie (auch zur Rezeption) und Pri-
mär- wie Sekundärtexten in html- oder pdf-Format.

http://www.califomia.com/%7Erathbone/foucaul0.htm

Englischsprachige Website mit einem ,dictionary' zu Foucaultschen Begriffen und ent-


sprechenden Verweisen.

http://www.hydra.umn.edu/foucaultlentry.html

Französische Website, die Informationen zum Centre Michel Foucault sowie eine (voll-
ständige) französische Bibliographie der ,Bibliotheque Saulchoir' bietet.

www.lib.berkeley.eduIMRC/audiofiles.html#foucault

Link der Universität Berkeley zu zwei Audiodateien eines Vortrags von Michel Foucault in
Berkeley (,The Culture of the Self', Vortrag und Diskussion vom 12. und 19. April 1983).

http://www.radiofrance.fr/chaines/france-culture2/speciale/speciale_foucaultlprog.php

Link von Radio France zu zwei Audiodateien zweier Vorlesungen von Michel Foucault im
College de France (, Il faut defendre la societe', Vorlesung vom Januar 1976; ,Naissance de
la biopolitique', Vorlesung vom Januar 1979) und verschiedenen Diskussionen zur Rezep-
tion Foucaults in Frankreich und Amerika.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Balzer, Nicole, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine


Erziehungswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Arbeitsschwerpunkte: Autonomie und Bindung (Promotionsvorhaben), Er-
ziehungs- und Bildungstheorie.

Casale, Rita, Dr. phi!., Wissenschaftliche Oberassistentin am Fachbereich


Allgemeine Pädagogik der Universität Zürich. Arbeitsschwerpunkte: Ver-
gleichende historische Bildungsforschung (Habilitationsvorhaben: Formen
moderner Subjektivation: Die Erziehung am Hof), Erziehungsphilosophie,
insbes. Phänomenologie und Poststrukturalismus. Ausgewählte Publikatio-
nen: L'esperienza Nietzsehe di Heidegger, Neapel: Bibliopolis 2004; An-
stand und Leidenschaften in der französischen Moralistik, in: Zeitschrift für
pädagogische Historiographie 3 (2003), S. 90-100; Erziehung vor Moraler-
ziehung: Konversation versus Kommunikation, in: Detlef Horster/Jürgen
Oelkers (Hrsg.): Pädagogik und Ethik. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissen-
schaften 2004 (in Druck).

Koller, Hans-Christoph, Dr. phi!., Professor für Allgemeine Erziehungswis-


senschaft an der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Bildungstheo-
rie, Qualitative Bildungsforschung. Ausgewählte Publikationen: Die Liebe
zum Kind und das Begehren des Erziehers. Erziehungskonzeption und
Schreibweise pädagogischer Texte von Pestalozzi und Jean Paul, Weinheim:
Deutscher Studien Verlag 1990; Bildung und Widerstreit. Zur Struktur bio-
graphischer Bildungsprozesse in der (Post-)Moderne, München: Fink 1999.

Lehmann-Rommel, Roswitha, Dr. paed., Dozentin für Allgemeine Pädagogik


an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Arbeitsschwerpunkte: Pragma-
tismus (Dewey), pädagogische/philosophische Ethik, Dialog und Beratung,
Organisationstheorie. Ausgewählte Publikationen: Ethik ohne Geländer: Mo-
ralisches Sollen im Kontext von Prozessoffenheit, Essen: Blaue Eule 1992;
The Renewal of Dewey - Trends in the Nineties, in: Studies in Philosophy
and Education 19 (2000), S. 187-218; Dekonstruktion habitueller Muster als
314 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Voraussetzung für Bildung und für Dialoge in Organisationen, in: Renate


Girrnes/Petra Korte (Hrsg.): Bildung und Bedingtheit. Pädagogische Kom-
munikation im Kontext individueller, institutioneller und gesellschaftlicher
Muster, Opladen: Leske + Budrich 2003.

Liesner, Andrea, Dr. phil., Wissenschaftliche Assistentin am Institut für All-


gemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Arbeits-
schwerpunkte: Bildung und Ökonomie, Gouvemementalität der Gegenwart.
Ausgewählte Publikationen: Zwischen Weltflucht und Herstellungswahn.
Bildungstheoretische Studien zur Ambivalenz des Sicherheitsdenkens von
der Antike bis zur Gegenwart, Würzburg: Königshausen & Neumann 2002;
Wie ein Problem zur Lösung wird: Kontingenzbearbeitungen und Sicher-
heitsbedürfnisse im Bildungsdiskurs der Gegenwart, in: Alfred Schäfer/Mi-
chael Wimmer (Hrsg.): Tradition und Kontingenz, Münster u.a.: Waxmann
2004, S. 59-88.

Lüders, Jenny, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine


Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte:
Diskurstheorie und -analyse, Qualitative Bildungsforschung, Bildungstheorie
(Promotionsvorhaben: Zur Reforrnulierung des Bildungsbegriffs im .An-
schluss an die Diskurstheorie Foucaults).

Masschelein, Jan, Dr., Professor für Bildungs- und Erziehungsphilosophie an


der Universität Leuven (Belgien). Arbeitsschwerpunkte: Kritische Erzie-
hungswissenschaft, Intersubjektivitäts- und Sozialphilosophie. Z.Zt. For-
schungsprojekt zur Universität als einer ,l'universite mondiale' (in Zusam-
menarbeit mit Maarten Simons). Ausgewählte Publikationen (in deutscher
Sprache): Pädagogisches Handeln und kommunikatives Handeln, Weinheim:
Deutscher Studien Verlag 1991; Alterität. Pluralität. Gerechtigkeit. Randgän-
ge der Pädagogik (mit Michael Wimmer), St. AugustinlLeuven: Academia
1996.

Pongratz, Ludwig A., Dr. paed., Professor für Allgemeine Pädagogik und
Erwachsenenbildung an der Technischen Universität Darmstadt. Arbeits-
schwerpunkte: Allgemeine Pädagogik, pädagogische Methodologie und
Theoriegeschichte, Kritische Theorie bzw. Bildungstheorie, Erwachsenenbil-
dunglWeiterbildung. Ausgewählte Publikationen: Bildung und Subjektivität,
Weinheim: Beltz 1986; Pädagogik im Prozess der Modeme, Weinheim:
Deutscher Studien Verlag 1989; Kritische Bildungstheorie (hrsg. mit Peter
Euler), Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1995; Zeitgeistsurfer, Wein-
heim: Beltz 2003.

Reichenbach, Roland, Dr. phil., Professor für Allgemeine und Systematische


Erziehungswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Arbeitsschwerpunkte: Erziehungs- und Bildungsphilosophie, Politische Bil-
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren 315

dung, Pädagogische Ethik, Verhandlungs- und Einigungsprozesse. Ausge-


wählte Publikationen: Moral, Diskurs und Einigung. Zur Bedeutung von
Diskurs und Konsens für das Ethos des Lehrberufs, FrankfurtJMain u.a.:
Lang 1994; Demokratisches Selbst und dilettantisches Subjekt. Demokrati-
sche Bildung und Erziehung in der Spätmoderne, Münster u.a.: Waxmann
2001; Zwischen Pathos und Ernüchterung. Zur Lage der politischen Bildung
in der Schweiz (hrsg. mit Fritz Oser), Fribourg: Academic Press 2000; Die
Psychologisierung der Pädagogik. Übel, Notwendigkeit oder Fehldiagnose?
(hrsg. mit Fritz Oser), Weinheim: Juventa 2002.

Ricken, Norbert, Dr. phil., Privatdozent am Institut für Allgemeine Erzie-


hungswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Ar-
beitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte von Erziehung und Erziehungs-
wissenschaft, Erziehungsphilosophie, insbes. Subjektivitätstheorie und Sozi-
alphilosophie. Ausgewählte Publikationen: Subjektivität und Kontingenz.
Markierungen im pädagogischen Diskurs, Würzburg: Königshausen & Neu-
mann 1999; Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bil-
dung, Münster u.a.: Waxmann 2004 (in Druck).

Rieger-Ladich, Markus, Dr. phil., Wissenschaftlicher Assistent am Institut


für Erziehungswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität
Bonn. Arbeitsschwerpunkte: Bildungs- und Erziehungsphilosophie, Pädago-
gische Semantik, Bildungssoziologie. Ausgewählte Publikationen: Ästhetik
der Existenz? Eine Interpretation von Michel Foucaults Konzept der>Tech-
nologien des Selbst< anband der >Essais< von Michel de Montaigne, Müns-
ter u.a.: Waxmann 1997; Mündigkeit als Pathosformel. Beobachtungen zur
pädagogischen Semantik, Konstanz: Universitätsverlag 2002; Soziale Räume
und kulturelle Praktiken. Über den strategischen Gebrauch von Medien (hrsg.
mit Georg Mein), Bielefeld: transcript 2004.

Rustemeyer, Dirk, Dr. phil., Professor für Allgemeine Pädagogik an der Uni-
versität Trier und Philosophie an der Universität WittenlHerdecke. Arbeits-
schwerpunkte: Theorie der Sinnbildung, Semiotik, Theorie der Erziehung.
Ausgewählte Publikationen: Historische Vernunft, politische Wahrheit,
Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1992; Erzählungen. Bildungsdiskurse
im Horizont von Theorien der Narration, Stuttgart: Steiner 1997; Sinnformen.
Konstellationen von Sinn, Subjekt, Zeit und Moral, Hamburg: Meiner 2001.

Schäfer, Alfred, Dr. phil., Professor für Systematische Erziehungswissen-


schaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Arbeitsschwer-
punkte: Konstitutionsprobleme von Erziehungstheorien, Bildungsphiloso-
phie, Subjektivierungsformen in anderen Kulturen. Ausgewählte Publikatio-
nen: Unsagbare Identität. Das Andere als Grenze in der Selbstthematisierung
der Batemi (Sonjo), Berlin: Reimer 1999; Jean-Jacques Rousseau. Ein päda-
gogisches Porträt, Weinheim: Beltz 2002; Theodor W. Adorno. Ein pädago-
316 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

gisches Porträt, Weinheim: Beltz 2004; Kierkegaard - Eine Grenzbestim-


mung des Pädagogischen, Opladen 2004 (in Druck); Einführung in die Bil-
dungsphilosophie, Weinheim 2004 (in Druck).

Schmitz, Gabriella, M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Er-


ziehungswissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.
Arbeitsschwerpunkte: Medienpädagogik und Medienwissenschaft (Promoti-
onsvorhaben), Bildungstheorie, Historische Erziehungswissenschaft.

Simons, Maarten, Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Erzie-


hungsphilosophie der Universität Leuven (Belgien). Arbeitsschwerpunkte:
Erziehungsphilosophie, Gouvernementalitätsstudien. Z.Zt. Forschungsprojekt
zum Verhältnis von Forschung und Lehre in der Universität. Ausgewählte
Publikationen: Governementality, Education and Quality Management, in:
Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 5 (2002), S. 617-633; De school in de
ban van hat leven. Een cartografie van het moderne en actuele onderwijs-
dispositief (Dissertation an der Universiteit Leuven 2003).

Thompson, Christiane, Dr. phil., Wissenschaftliche Assistentin an der Mar-


tin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Arbeitsschwerpunkte: Vernunft-
und Wahrheitskritik in der Pädagogik, Bildungs- und Erfahrungstheorie.
Ausgewählte Publikationen: Selbständigkeit im Denken. Der philosophische
Ort der Bildungslehre Theodor Ballauffs, Opladen: Leske + Budrich 2003.

Das könnte Ihnen auch gefallen