Sie sind auf Seite 1von 179

HELLMUTH MAYER

Strafrechtsreform für heute und morgen


KRIMINOLOGISCHE FORSCHUNGEN

Herausgegeben von Professor Dr. Hellmuth Mayer

Band 1
Strafrechtsreform
für heute und morgen

Von

Dr. Hellmuth Mayer


Ordentlicher Professor der Rechte an der Universität Kiel
Oberlandeacerichterat am Schleawlc-Holsteiniachen Oberlandesgericht

DUNCKER & HUMBLOT / BERLIN


Alle Redlte vorbehalten
@ 1962 Dwuker&Humblot, BerllD
Gedruckt 1962 bei Hans Winter Budldruckerei, Berlin SW 61
Prlnted ln German:r
Vorwort

Man kann daran zweifeln, ob unsere krisenschwangere Zeit für eine


neue Kodifikation des Strafrechts reif ist. Das Bundesjustizministe-
rium hätte den breiten und bequemen Weg der Novellengesetzgebung
wählen können, hat sich aber auf den steilen und dornigen Pfad der
Gesamtreform gewagt. Der so erarbeitete Entwurf verdient als tüch-
tige, begrifflich klare Leistung volle Anerkennung. Er beruht zwar
auf dem vor 50 Jahren erzielten Kompromiß im Streit der strafrecht-
lichen Schulen, hält aber mit der neueren wissenschaftlichen Entwick-
lung Schritt, bietet also eine Reform für heute. Wenn er mit neuer
Entschiedenheit am Gedanken sühnender Vergeltung und damit an
einem echten Schuldstrafrecht festhält, so ist dieser Entscheidung zu-
zustimmen. Sie entspricht gerade neu gewonnenen Einsichten und
praktischen Erfahrungen. Darüber hinaus bemerkt man mit Freude,
daß der Entwurf auch für kommende Entwicklungen offen ist, sofern
er die Möglichkeit schafft, Maßregeln zur Bewährung auszusetzen.
Auf diese Weise könnten das Recht der strafrechtlichen Maßregeln
und das neue Fürsorgerecht aufeinander abgestimmt werden.
Aber wir stehen an einem Wendepunkt der strafrechtlichen Ent-
wicklung. Es muß daher die Frage gestellt werden, ob der Entwurf
dieser Tatsache hinreichend Rechnung trägt und ob er die Weichen
in die Zukunft richtig stellt. Hier beginnen grundsätzliche rechtspoli-
tische Fragen, deren Lösung nicht allein in die Zuständigkeit des engen
Kreises strafrechtlicher Experten, sondern zugleich in die Verantwor-
tung der Politiker fällt. Eine Kritik aus dieser Sicht ist erst heute
möglich, denn es bedurfte einiger Zeit, um das wohldurchdachte Ge-
samtwerk zu überschauen.
Die vorliegende Kritik behandelt - gestützt auf eine grundsätzliche
kriminologische und rechtspolitische Besinnung - drei Hauptanliegen.
1. Die öffentliche Strafe ist nur erträglich und rechtspolitisch sinn-
voll, wenn das materielle Strafrecht entscheidend eingeschränkt wird.
Die menschenzerstörende Vielstraferei, wie sie heute geübt wird, muß
aufhören. Insbesondere geht es nicht an, neben die umfassende privat-
rechtliche Vermögensordnung eine zweite strafrechtliche Vermögens-
ordnung ebenso umfassender Natur zu setzen, welche praktisch die
Autonomie des Privatrechts untergräbt.
VI Vorwort

2. Der Entwurf bemüht sich in verdienstvoller Weise, die Tat-


bestände möglichst sorgfältig zu umschreiben und so dem Satz nulla
poena sine lege wirklich zur Geltung zu verhelfen. Es müßte aber in
dieser Beziehung noch mehr getan werden.
3. Das zweispurige System von Strafen und Maßregeln, also der vor
zwei Menschenaltern erzielte Kompromiß, hat sich in der Praxis
nur teilweise bewährt. Unsere Kritik wagt daher ein eigenes neues
System von Strafen und personenrechtlichen Fürsorgemaßnahmen vor-
zuschlagen, das als ein Ganzes gedacht ist und als Ganzes geprüft
werden muß. Besonders hervorzuheben ist aber, daß jede eliminie-
rende Verwahrung mit Menschlichkeit und christlicher Nächstenliebe
schlechthin unvereinbar ist. Daher muß die Sicherungsverwahrung,
die sich ohnehin als unpraktisch erwiesen hat, in ihrer jetzigen
Form fallen. Sie darf nicht noch durch die schreckliche Jungtäterver-
wahrung ergänzt werden. Das Problem ist vielmehr teils durch ent-
sprechende Ausgestaltung der gerechten Strafe, teils durch echte per-
sonenrechtliche Fürsorge zu lösen. Ohnedies ist das Maßnahmenrecht
des Entwurfs durch § 72 Bundessozialhilfegesetz unterlaufen.
Von der weiteren Entwicklung des Strafrechts hängt es zu einem
guten Teil ab, ob wir unsere freiheitliche Rechtsordnung behalten und
ausbauen können, oder ob wir alle mehr oder weniger einem kollekti-
vistischen Behandlungszwang unterworfen werden. Alle diese Fragen
sind so ernst, daß der Kritiker sich in der Durchführung seiner Ge-
danken manchmal zu sehr harten und scharfen Aussagen genötigt sieht.

Kiel, 14. Januar 1962


Hellmuth Mayer
Inhalt

Erster Teil

Grundlagen einer neuen Kriminalpolitik

Erster Abschnitt: Die werdende neue Kriminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1


§ 1. Methodische Voraussetzungen ........... . .... . ......... . . o • • • • • 1
§ 20 Das Programm einer neuen Kriminologie ... ...... · · · . · · · ... · . · 6
Zweiter Abschnitt: Freiheitliches oder kollektivistisches Strafrecht . . . . 25
§ 3. Der Rechtsbegriff der Freiheit und die strafrechtlichen Folgerun-
gen in der Ideengeschichte . ... . . .. .... . ............ . .. . . . 0 • • • • • • 25
§ 4o Die rechtspolitische Auseinandersetzung der Gegenwart . . . . . . . . . . 37
Dritter Abschnitt: Kritische Folgerungen ..... o ••••••••••••• o •••••••• 45
§ 5. Kritische Folgerungen 45

Zweiter Teil

Kriminalpolitische Aufgaben

Erster Abschnitt: Quantitative Einschränkung des Strafrechts . . . . . . . . 57


§ 6. Die Misere und die Möglichkeiten ......... . . ............. . . .. 0 • 57
§ 7. Strafbare Handlungen gegen das Vermögen . . . . . 0 • •••• ••• • • • • •• 68
§ 8. Verbrechen gegen die Person . . .. .. 0 .. .. ... ..... . . 0 0. . . . . . . . . . . 82
§ 9. Straftaten gegen Staat und öffentliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Zweiter Abschnitt: Die gesetzliche Bestimmung der Tatbestände . . . . . . 104
§ 100 Die grundsätzliche Bedeutung der Tatbestandsgarantie . .. . .. 0 . . . 104
§ 11. Die Tatbestandsgarantie als magna charta libertatis . . . . . . . 109
§ 12. Probleme der Gewaltenteilung . . . ..... . . . . . ... . ......... . . . . . . 116

Dritter Abschnitt: Strafensystem, Maßnahmen des Kriminalrechts, für-


sorgendes Personenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
§ 13. Ein neuer Plan . ....... .... ........ . ..... . o • • • • • • • • • • • • • • • • • • 119
§ 14. Die Geldstrafe ............ .. .............. . ...... 0 ••••••••• • •• 130
§ 15. Strafdienst und Freiheitsstrafe ........ . . 0 . . . . . 0 .. 0 .... . 0 . . . . . . 133
§ 16. Die Behandlung der Gefährdeten . . ....... . . . . .. . ......... ..... 144
§ 17. Einordnung der Vergesellungsschwierigen, (Schutzhilfe und Siche-
rungsaufsicht) . . . ..... ... . .... .. . . . ... .. . . . 0 • • • • • • • • •• •• • ••••• 153
Erster Teil

Grundlagen einer neuen Kriminalpolitik

Erster Abschnitt

Die werdende neue Kriminologie

§ 1. Methodische Voraussetzungen

Der Entwurf erscheint in einer Zeit, in der die ganze Kriminologie


neu geschrieben werden muß. Ohne sich dies in allen Folgerungen
klarzumachen, kann man z.um Entwurf nicht sachgemäß Stellung neh-
men. Diese Neubesinnung wird dadurch erzwungen, daß die natur-
wissenschaftliche Anthropologie z. B. in der zoologisch orientierten
Instinktlehre, aber auch sonst mit der rein naturkausalen Betrachtung
des menschlichen Handeins vollen 1Ernst macht, und gerade dadurch
die Grenzen der naturkausalen Betrachtung unübers•zhbar aufzeigt.
Damit verschafft die Naturwissenschaft selbst der Kriminologie die
Freiheit, sich ihres Charakters als Geisteswissenschaft bewußt zu wer-
den. Jetzt endlich können also die Früchte der entscheidenden wissen-
schaftstheoretischen >Erkenntnis der Jahrhundertwende gezogen wer-
den, nämlich daß die geisteswissenschaftlich·e Empirie als Realerkennt-
nis gleichberechtigt neben der Naturwissenschaft steht. Die daraus fol-
genden methodis·c hen Vorbemerkungen mögen manch·e n verstimmen,
dem die großen Namen der krimiDialogischen Wissenschaftsgeschichte
bedeutsam sind. Sie sollen aber nicht das Andenken etwa Franz v.
Liszts abwerten, sondern die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen
und Veränderung·en klären.
I. Der Methodenwiderspruch1 in den "modernen Grundgedanken".
Die Lehren doer seinerzeit modernen Schule entlehnten ihre verführe-
rische Zauberkraft den die Allgeme inheit beherrschenden Zwangsvor-
stellungen des populären Naturalismus. Alle führenden Köpfe der
scuola positiva oder der deutsch·en soziologischen Strafrechtsschule
waren viel weniger der eigentlichen positivistisch·en Philosophie2 ver-
1 Vgl. Hellmuth Mayer, Kriminalpolitik als Geisteswissenschaft Z. Bd. 57,
S. 1 ff., vgl. auch Lehrb. Allg. Tl. § 5.
2 Die geisteswissenschaftlichen Zusammenhänge sind von Wetzet, Natu-
ralismus und Wertphilosophie im Strafrecht, 1935 dargestellt. Auch Welzel

' Mayer. Strafrechtsreform


Die werdende neue Kriminologie

pflichtet, als vielmehr dem voreiligen Weltbild des frühen Naturalis-


mus verfallen. Es war ihr Schicksal, daß sie mit den unzulänglichen
Mitteln des "unaufgeklärten" Materialismus das Sozialleben natur-
kausal erklären mußten. Das ließ sich aber nur machen, indem man
eine Art "Soziale Physik" aus- als selbstverständlich unterstellten3 -
Axiomen deduzierte und in diesem pseudonaturwissenschaftlichen
Lehrgebäude geisteswissenschaftliche und naturwissenschaftliche Me-
thoden vermengte anstatt diese Methoden kritisch zu unterscheiden
und korrekt zu verbinden". Dieser methodische Ansatz nötigte dioe
kriminologische Forschung zu deduktiven Spekulationen, so leiden-
schaftlich man dem Gegner, nämlich der klassischen Schule, Spekula-
tion vorwarf.
1. Der Fehler im Grundansatz ist folgender: Sachverhalte, die un-
mittelbar oder mittelbar nur im Selbstbewußtsein ·oder Selbstver-
ständnis does Menschen .gegeben sind, wie die Sinneinheit des Indivi-
duums, oder der normative Gehalt von Recht und Sittlichkeit, oder
überhaupt der Sinngehalt menschlicher Ausdruckstätigkeit, werden als
empirisches Faktum im Sinn von Sach·verhalten gerade der Natur auf-
gefaßt und in Analogie zu Naturvorgängen behandelt.
Der ganze positivistische Naturalismus behandelt nämlich im Wider•
spruch zu seinen Ausgangsvorstellungen den Mensch'E!n keineswegs
schlicht und einfach als Naturwesen, als welches er einerseits ein bloßes
Exemplar der Gattung, andererseits ein höchst komplexes uneinheit-
liches Gebilde ist. Er nimmt ihn vielmehr zunächst durchaus als die
geistige Sinneinheit Individuum rod•er als "Ich", so wie sich dieses Ich
oder Individuum ausschließlich in seinem geistigen Selbstbewußtsein
vorfindet und erkennt. So gesehen ist aber der Mensch kein möglicher
Gegenstand kausaler Naturbetrachtung. Dennoch wird das Verhalten
dieses philosophisch oder geisteswissenschaftlich begriffenen Indivi-
duums analog dem Mechanismus der durch Schwerkraft bewegten
Körper gedacht. Der Mensch wird als ein von innen von dem - als
einheitlich vorgestellten - naturalen Trieb der Selbsterhaltung ge-
lenkter, im übrigen aber als von außen von den Anstößen der Umwelt
bewegter Mechanismus gesehen. Diesem mechanistisch konstruiertoen
Individuum wird zwar die Freiheit abgesprochen, dennoch aber Zweck-

stellt das "Weltbild" des Positivismus den "philosophischen" Grundlagen


voran. In der Tat ist ersteres für die Anhänger der seinerzeit modernen
Schule primär, die philosophische Begründung nur sekundär. Bei dem
"Weltbild" handelt es sich um das aus dem 18. Jahrhundert stammende
"scientistische" Vorurteil, das nur vorübergehend unter den Schlägen der
kritischen Philosophie zusammengebrochen war.
3 Vgl. z. B. den naiven Dogmatismus bei Ferri, Das Verbrechen als soziale
Erscheinung (deutsch von Kurella) 1896, S. 21.
4 Vgl. als Beispiel vorbildlicher Methodenunterscheidung und Kombina-
tion Jaspers, Allgemeine Psychopathologie (6) 1953; insbes. 1-41.
Methodische Voraussetzungen 3

bewußtsein und zweckbewußter Wille, also eine geistige Verfassung,


zuerkannt. Unbefangen werden ·geistig-psychologische Abläufe kausal
mit materiellen Gegebenheiten verknüpft5, als wenn nicht das Problem
einer psychologischen Kausalität wissenscllaftstheoretisch schlechthin
unlösbar wäre.
2. Ausgangspunkt der Konstruktton ist an sich das Einzelindivi-
duum. Dies erklärt sich nicht nur geschichtlich daraus, daß der Posi-
tivismus - im Widerspruch mit sich selbst- weithin den Rationalis-
mus des 18. Jahrhunderts weiterführt, sondern dies ist auch innerhalb
eines wesentlich naturalistischen Denkens bedingt legitim. Denn inner-
halb dres naturalistischen Denkens wird sowohl die übergeordnete
Gattung als auch die Gesellschaft nur im Individuum wirklich. Folge-
richtig muß denn auch das soziale Leben aus Trieben abgeleitet wer-
den, die in das Individuum als Anlage eingepflanzt sind. So erklärt
v. Liszt das soziale Leben durch eine ausdrücklich .als solche zugestan-
dene Hypothese6 , nämlich in der Weise, daß neben dem Selbst-
erhaltungstrieb ein Arterhaltungstrieb als unbewußt im Dienst der
Arterhaltung stehend zu denken sei. Diese seltsame Gleichrichtung
zweier an sich verschiedener und in ihren Zwecken sich widerspre-
chender Trü:!be bezeichnet v. Liszt als Koinzidenz der Zwecke, so daß
er also entgegen seinem naturalistischen Ausgangspunkt der kausalen
Natur eine doppelte harmonische Zweckhaftigkeit zuschreibt. Über
die Bedenken gegen eine solche Annahme beruhigt er sich schließlich
damit, daß er doch nichts anderes behaupte als die uralte philoso-
phische Aussage, der Mensch werde von Natur aus durch den appe-
titus societatis geleitet. Damit ist aber offen ausgesprochen, daß der
v . Lisztschen Kriminologie eine deduktive Konstruktion more geo-
metrico im Sinne des 18. Jahrhunderts zugrunde liegt, und daß die an-
gestrebte kausale Naturbeobachtung nicht ernstlich durchgeführt wird.
Die Gesellschaft erscheint auf diese Weise nur als Umwelt im äußer-
lichsten Sinn, als äußerer Anstoß oder Grenze für die Betätigung der
Triebanlagen, nicht als inhalterfüllte und selbstwirksame geistige
Kraft. Damit verschwinden die realen gesellschaftlichen Kräfte, Zu-
sammenhänge und Vorgänge aus dem Blickfeld dieser Kriminologie7 •
5 In Betracht kommt hier nur die naturwissenschaftlich verstandene ne-
zessitierende Kausalität, in deren Sinn die herkömmliche Kriminologie ganz
naiv Denkinhalte des Zweckbewußtseins mit real-körperlichen Vorgängen
verbindet. Vgl. als erste Einführung in das Problem der psychologischen
Kausalität Elsenhans, Lehrb. d. Psychologie, 3. Aufl. 1939, S. 49 ff, und Her-
mann Ebbinghaus, "Abriß der Psychologie", 9. Aufl. 1932, S. 45 ff., vgl. auch
mein Lehrb. Allgem. Tl. S. 230 und § 33 Anm. 47 ff., ferner Rittler-Fest-
schrift S. 256.
6 Vgl. v. Liszt "Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge" Bd. 1 1905, S. 135 f.
7 Sehr charakteristisch ist der Aufbau der Kriminologie Exners auch noch
in der 3. und reifsten Auflage. Was wirklich das Bewegende im gesell-
1.
4 Die werdend e neue Kriminologie

3. Hat sich v. Liszt noch um eine grundsä tzliche Rechtfe rtigung


seiner Konstru ktion sehr ernst bemüht, so wird später seine dogma-
tische Konstru ktion unkritis ch weiterg eführt. Die Konstru ktion wirkt
deshalb so verhäng nisvoll, weil sie nötigt, das Verbrec hen als eine
n
gegenüb er dem (biologis ch, psycholo gisch und soziologisch) normale
besonde rsartige Lebense rscheinu ng zu
Lebensv erlauf von vornher ein
betracht en. Damit wird also das Phänom en Verbrec hen isoliert. Leitet
man nämlich das normale Sozialv erhalten des Einz·elnen aus dem har-
monisie rten Selbst- und Arterha ltungstr ieb ab, so versteht sich das
normale Sozialle ben gewisse rmaßen von selbst. Zu erklären bleibt
dann nur noch das Verbrec hen, dessen Ursache n entwede r in einer
besonde rsarhg·e n angebor ·enen Schwäch e oder 1Erkrankun:g der Selbst-
und Arterha ltungsin stinkte oder in einer besonde ren, das Verbrec hen
begünst igenden Umwelt gesucht werden.
Damit tritt eine weitere Method enverwi rrung hinzu, indem der Be-
-
griff des Verbrec hens - der doch juristisc h normati ver Natur ist
unkritis ch als empirisc h-tatsäc hliche Gegeben heit hingeno mmen wird,
obgleich der juristisc he Verbrec hensbeg riff im Bereich der Tatsach en-
wissens chaften Soziolog ie, Psycholo gie, Biologie nur den Wert einer
willkürl ichen Etikette hat.
Es sollte dagegen selbstve rständli ch sein, daß man .zuerst das durch-
schnittli che soziale Verhalt en des durchsc hnittlich en Mensche n, den
im Sinn des durchsc hnittlich en Gescheh ens normale n Vergese llungs-
als
vorgang untersuc ht, bevor man irgendw elche Verhalte nsweise n
nicht nur juristisc h v·erboten, sondern auch als ein im empirisc hen
Sinn besonde res - d. h. abooits vom durchsc hnittlich en Ver·gese llungs-
vorgang liegende s - Phänom en biologis cher, soziolog ischer oder
psycholo gischer Art beschrei bt.
Seit den Anfäng en der vor hundert Jahren modern en Schule be-
dienen sich deren Wortfüh rer medizin ischer Vergleic he. Folgt man
diesem Sprachg ebrauch , so kann man sagen, daß eine das Phänom en
des Verbrec hens isolieren de Krimino logie eine Patholo gie ohne Phy-
siologie und Anatom ie darstell t.
II. Eine neue Krimino logie mit neuen krimina lpolitisc hen Konse-
quenzen muß daher an die Stelle der isolieren den, pseudon aturwiss en-
schaftlk hen, dedukti ven Krimino llogie treten, und dies ist im Grunde
weithin bewußt8 •

schaftliehen Leben ist, das erscheint auf 14 Seiten des Buches von S. 84-98
unter dem Titel "Kulture lle Umwelt" . o-
8 Eine Wendun g leitet ein Mezger in "Krimin alpolitik auf kriminol
gischer Grundlag e", 2. Aufl. 1942, vgl. namentli ch S. 164 ff. Auch die Aus-
führunge n Exners über die Wechselbeziehung von Anlage und Umwelt,
a.a.O. S. 27 ff und S. 272 ff., führen in der Konsequenz über Mezgerden natura-
listischen Ansatz hinaus; jedoch können weder Exner noch sich
Methodische Voraussetzungen 5

Allerdings erweist sich das Unternehmen einer solchen neuen Kri-


minologie .als ein ganz außerordentliches Wagnis. In einer Zeit fort-
schreitender Spezialisierun·g der Wissenschaft bedürfen wir für unsere
Zwecke einer höchst umfassenden Synthese, d. h. einer Koordination
höchst umfangreich·er Grunddisziplinen und damit der korrekten Un-
terscheidung und Zuordnung der verschiedensten wissenschaftlichen
Methoden.
Unentbehrliche Grundlage für den Krirnin10logen ist nicht nur die
Anthropologie, sei es im naturwiss•enschaftlichen oder im geisteswissen-
schaftlichen Verständnis, sondern auch die Psychologie und die Sozio-
logie, also zwei wesentlich geisteswissenschaftliche Disziplinen. Als
Ganzes ist die Wissenschaft der Kriminologie angewandte Sozial-
psychologie, welche die Vergesellungsvorgänge unter dem Gesichts-
punkt der möglichen Fehlleistungen untersucht. Sie hat insoweit ein
unabweisliches Anliegen, welches die gewagte Synthese und Koordi-
nation rechtfertigt. Sie hat auch einen einigermaßen eigenständigen
Erfahrungsbereich, so daß ihr nicht der Vorwurf des Dilettantismus
g·emacht werden darf. Die Kriminologie ist wesentlich empirische Gei-
steswissenschaft, we.lche aber zahlreiche Arbeitsergebnisse naturwis-
senschaftlich·er Disziplinen verarbeiten muß.
Die Art und Weise, in der das normale Sozialleben funktioniert,
zeigt sich der soziologischen Forschung iiiUlller wieder als ein erstaun-
liches Wunder. Es ist sehr auffällig, daß den allgemeimm Soziologen
europäischer Prägung die sorzi.al.e Fehlleistung, das Verbrech·e n ge-
wöhnlich kaum interessiert, weil bei der Art der Verg€5ellungsvor-
gänge massenhafte soziale Fehlleistungen zu erwarten sind. Aber auch
der TierpsychoLoge verfährt nicht anders. Er erforscht die Instinkt-
grundlagen der normalfunktionierenden Tiergesellschaften. Die bei
allen biologischen Vorgängen unvermeidlichen Fehlleistungen sind ihm
nur als Erkenntnismittel interessant, um die Tendenzen . und Grenzen
des die Tiergesellschaft bedingenden Instinktgefüges aufzuhellen.

entschieden vom naturalistischen Ausgangspunkt lösen. Auch die Einzel-


untersuchungen, die in großer Zahl auf Grund der naturalistischen Krimi-
nologie vorgenommen wurden, weisen unbewußt in die gleiche Richtung.
Daher kann Nagel in seinem schönen Aufsatz "Klassische und moderne Kri-
minologie" den Scientismus des 19. Jahrhunderts bereits als vergangen be-
zeichnen. Wenn er aber der klassischen Kriminologie eine "Entwicklungs-
kriminologie" gegenüberstellt. so ist damit der gesamte Umkreis der Ver-
änderungen noch nicht erschöpft. Vgl. Zeitschrift Bd. 71 S. 144 ff. Die ame-
rikanische Kriminologie mußte sich frühzeitig von dem Schema des Anlage-
Umweltdenkens lösen, da sie zwar positivistisch in der Grundhaltung war,
aber eben als Zweig der allgemeinen Soziologie betrieben wurde, vgl. am
best~n Sutherland, jetzt Sutherland-Cressey, Principles of Criminology, von
Edwm H. Sutherland und Donald R. Cressey, 6. Auf!., 1960. Sutherland als
Umwelttheoretiker zu verstehen heißt ihn mißverstehen. Kennzeichnend für
die heutige Situation der amerikanischen Kriminologie Reckless Mschr.
Krim. Bd. 44, S. 1 ff.
6 Die werdende neue Kriminologie

1Ebenso sollte der Kriminologe zunächst den Vergesellungsvorgang


als solchen untersuchen, um die soziale Fehlleistung überhaupt ver·
stehen zu können. Denn es ist gewiß - wioe noch näher zu z.ei.gen ist -,
daß die Vorbedingungen aller Fehlleistungen bereits im normalen Ver-
gesellungsvorgang mit enthalten sein müssen. Aber es ist noch völlig
ung.ewiß, inwieweit es überhaupt spezifische besondere Entwicklungs-
bedingungen für das verbrech-erische Verhalten gibt.
Der Kriminologe IIliUß aber auch zur Kenntnis nehmen, daß die
einschlägigen Grundwissenschaften seit der Zeit v. Liszt's außer-
ordentliche Fortschritte gemacht haben und daher die meisten der
kriminoll()gischen Einzeluntersuchungen auf veralteten Grundanschau-
ung>en aufbauen.

§ 2. Das Programm einer neuen Kriminologie

Es kann .auf doen folgenden Seiten natürlich nur eine sehr vor-
läufige Gesamtschau über dies·e Entwicklung geg.eben werden, die
aber auch heute schon zu sehr wesentlichen kriminalpolitischen Folge·
rungen berechtigt. Wir gliedern im folgenden diese Gesamtschau unter
den drei Gesichtspunkten A. der Anthropologie, B. der Soziologi-e und
C. der Persönlichkeitslehre. Die kriminalpolitischen Konsequenzen
werden in § 5 dargelegt.

A. Die anthropologische Grundlage

Die Anthropoliogie ist in diesem Sinn ebensowohl eine naturwissen-


schaftliche wie geisteswissenschaftliche Disziplin. Wir v-erstehen dar-
unter die Lehre von der allem Menschsein zugrundeliegenden allge-
meinen natürlichen und .geistigen Struktur, die sich dann .auch in der
Persönlichkeit, d. h. in der konkreten Lebensgestalt behauptet. Wir
nehmen die entscheidende Aussage vorweg: Diese Anthropologie zeigt
heute unwiderleglich, daß der Mensch in seinem Handeln eine offene
Struktur ist, die durch Anlagen oder Triebe inhaltlich überhaupt
nicht festgelegt ist.
I. Stellen wir uns zuerst auf den Standpunkt der naturwissen-
schaftlichen AnthropoLogie, so muß von dem oben geschilderten Zerr-
bild kausaler Naturbetrachtung Abschied genommen werden. Der
Mensch darf demnach, solange wir rein naturwissenschaftlich ver-
fahren wollen, nicht als das seiner selbst bewußte geistige Individuum
betrachtet werden. Er muß vielmehr, wie das die moderne Tier-
psychologie1 tut, folgerichtig zuerst einmal als bloßes Naturwese n,
1 Über die moderne Tierpsychologie vgl. zusammenfassend: Tinbergen
"Instinktlehre", übersetzt von Köhler (2) 1956; methodisch grundlegend
Das Programm einer neuen Kriminologie 7

d. h . .als Tier innerhalb der Tierreihe, als Exemplar und Komplex-


g.ebilde gedacht werden. Sein äußeres soziales Verhalten läßt sich dann
in seinen kausalen Bedingungen mit dem sozialen Verhalten der Tiere
vergleichen und in seiner Besondel1heit erkennen.
1. Diese - in ihrem Bereich - wohlberechtigte zoologische Be-
trachtung des Menschen erbringt einen äußerst wichtigen negativen
Ertrag, indem sie den Begriff des Instinktes entthront. Wir meinen
dabei den Begriff "Instinkt" im herkömmlichen Sinn, wie ihn nicht
nur v. Liszt, sondern auch Nietzsche und nach ihm die ganze natura-
listisch·e Psychologie gebraucht haben und noch gebrauchen. In deren
Sinne ist Instinkt nämlich ein unbewußt vernünftig wählendes
schöpferisches Vermögen, welches das Indiv1duum anleitet, in den
jeweils wechselnden Situationen das jeweils selbst- und arterhaltungs-
gemäß•e Verhalten zu wählen. Die Annahme eines derart schöpfe-
rischen Instinktes ist Mystik, aber nicht Naturwissenschaft. 1E s gibt
in Wahrheit nur eine große Anzahl relativ stereotyper Automatismen
oder Triebreaktionen, die im Effekt ganz bestimmte Zwrecke bzw.
Teilzwecke erreich·en, ohne sie jedoch final anzustreben. Diese Auto-
matismen werden ihrerseits bereitgestellt innerhalb eines bestimmten
Appetenzverhaltens, in das sie ·eingeordnet sind, das aber selber keine
bestimmten Handlungen vorschreibt. Diese Automatismen, d. h. dem
AppetellZ'Verhalten zugeordneten Endinstinkte sind festgelegte Sche-
mata, die durch bestimmte Signalreize ausgelöst werden, so daß be-
stimmt festgelegte Handlungen oder Handlungsketten ausgeführt
werden. Be7l0gen auf das soziale Lehen, in welchem die höheren
Säuger und Vögel sehr bedeutsame Leistungen aufzuweisen haben,
bedeutet das System festgelegter Triebe und Schemata, daß das Tier
einen festgelegten sozialen Handlungsplan mit zur Welt bringt. Dieser
Handlungsplan ist starr und von sich aus keiner anpassenden Wahl
fähig, er schreibt in bestimmten Reizsituationen auf bestimmte äußere
Signale hin ein inhaltlich bestimmtes Verhalten vor. Soweit also
dieser Automatismus den Bedürfnissen des Einzelfalles dann doch
wirklich angepaßt wird, geschieht dies gerade nicht durch Instinkt,
sondern durch willkürliches Handeln auf Grund von Erfahrung und
Gewöhnung. Diese Willkürfreiheit spielt beim höheren Tier eine viel
größere Rolle als bisher gewöhnlich angenommen wurde.
Mit dieser Instinktstruktur ist ein vielfach•es Fehlverhalten unver-
meidlich wrbunden. Die Signalsituation garantiert nämlich im Einzel-
fall nicht, daß die gemeinte reale Situation vorliegt. Nicht nur der
Mensch kann im Attrappenversuch den angeblich unfehlbaren Instinkt
Lorenz, ,.Die angeborenen Formen der Erfahrung"; Z. f. "Tierpsych." Bd. 5
1945, S . 240 ff.; Remane, "Die biologischen Grundlagen des Handelns", Mainz.
Ak. Abh. 1950.
8 Die werdende neue Kriminologie

des Tieres ohne weiteres betrügen. Auch in der Natur verfehlt das
Tier sehr häufig sowohl den Zweck der Selbsterhaltung als auch den
der Arterhaltung. Fehlleistungen sind ohnedies mit jedem biologischen
Prozeß unvermeidlich verbunden, weil jeder biologische Prozeß eine
Koovdination von vielen Bedingungen zur Voraussetzung hat, die
nach ·einfacher Wahrscheinlichkeitsrechnung häufig nicht koordiniert
sein werd-en. Die Art überlebt nur deshalb, weil die Instinktstruktur
auf die gewöhnliche ökologische Umwelt eingestellt ist, in welcher die
Signalsituationen hinreichend häufig mit der real intendierten Situation
übereinstimmen. In diese ökologische Umwelt ist das Tier gewisser-
maßen eingesperrt. Ist die Diskrepanz zwischen der Instinktstruktur
und d•er Variabilität der Umwelt .groß., so kann die Art nur durch eine
sehr große Fortpflanzungsrate erhalten werden.
2. Im Sinn der vergleichenden Verhaltenslehre besteht die beson-
dere biologische Situation des Menschen darin, daß Triebe und
Schemata bei ihm bis auf Restbestände abgebaut sind, daß er also
ohne einen festgelegten biologischen Handlungsplan zur Welt kommt.
Über die Gründe dieses Abbaues läßt sich beim heutigen Stande der
entwicklungsgeschichtlichen Forschun.g noch nichts Sicheres sagen. Der
Begriff der Selbstdomestikation beschreibt das Phänomen, erklärt es
aber nicht. Vielfach glaubt man die Ursache in der vorzeitigen Geburt
des Menschen zu finden, welche die Gehirnstruktur intrauterin noch
nicht zur Reife kommen läßt, so daß nach der Geburt Gewöhnungen
und Lernvorgänge die früher genetisch angelegte Instinktstruktur
überlagern können. An der Tatsache des Instinktabbaues selbst kann
heute kein Zweifel mehr sein.
Das Instinktgefüge des Menschen ist also biologisch eine offene
Struktur. Der Mensch ist damit off·en für jede denkbare Umwelt,
soweit er sie physiologisch meistern kann. Er ist befreit von der
Starrheit der Triebe und :Schemata. Garantier·en bereits beim Tier die
Auslösesignale der Schemata nur in oeiner hinreichenden Zahl von
Fällen, daß die real g·emeinte Situation .auch wirklich vorhanden ist,
so würde der Mechanismus der Triebe und Schemata den heutigen
Menschen unfähig machen, seine ständig wechselnden und höc..'1.st
komplizierten L ebensaufgaben zu erfüllen. Diesen Aufgaben V"ermag
er nur durch Lern- und Wahlhandlungen zu genügen.
3. Dennoch ist eine umfassende Inventur der beim Menschen vor-
handenen Triebe und Schemata kriminologisch unentbehrlich. Leider
läßt sich diese Inv·entur beim heutigen Stand des Wissens nur an-
näherungsweise aufstellen. Aber das Instinktgefüge erklärt immerhin
teilweise das normale und normwidrige Soz1alverhalten. In bezug auf
das abnorme Verhalten ist für die Situation des Menschen we sentlich,
daß er aus se inem phyloge netisch·e n Instinktgefüge, aus seiner Natur,
Das Programm einer neuen Kriminologie 9

herausgetreten ist, indem er sich durch die Erfindung künstlicher


\Vaffen aus einem Pflanzenfresser zu einem Raubtier umgeschaffen
hat. Es fehlt ihm also nach seiner Herkunft das für das Sozialverhalten
der Raubtiere wichtigste Schema, nämlich das ·zwingende Demut-
schema, welches die Raubtiere nötigt, die Tötung des Artgenossen zu
vermeiden. Nur die Raubtiere nämlich unterlassen die Tötung der
Artgenossen mit Sicherheit, aber nicht etwa vermöge eines wählenden
Instinktes, sondern kraft ein•es angeborenen Handlungsschemas,
welch·es durch das Signal der Demuthaltung ausgelöst wird. Nimmt
der unterlegene Wolf diese Haltung an, bietet er wehrlos den Hals
dem tödlichen Biß dar, so kann der Sieger nicht zubeißen, sondern
reagiert seine Wut durch Schüttelbewegungen in die Luft ab. Verläßt
aber das unterlegene Tier die 1Schutzhaltung zu früh, so wird es tot-
gebissen. Übrigens verhalten sich die Pflanzenfresser in der Frage der
Tötung der Artgenossen nicht völlig einheitlich. Stärker bewaffnete
Säugetiere führen untereinander im allgemeinen nur Kommentkämpfe
durch, bei manchen Pflanzenfressern ist aber die wechselseitige
Tötung der männlichen Tiere untereinander im Plan der Natur
vorgesehen, wobei denn nur das überlebende stärkste Tier zur
Fortpflanzung gelangt. Ein so bedeutender Anthropologe wie v. Eick-
stedt, spricht sogar von der "Mordlust" der Menschen. Dies ist m. E .
unr.ichtig2 • Aber es leuchtet ein, daß schwerlich etwas über die ver-
brech·erische Veranlagung des Mörders .ausgemacht werden kann, so-
lange man il151oweit über die normale Instinktausstattung des Menschen
nichts sicheres weiß. Hat also erst der technische Verstand des Men-
sch·en ihm die Tötung des Artgenossen praktisch ermöglicht, so fordert
andererseits die geistige Entwicklung die unbedingte Ehrfurcht vor
dem Leben jedes Nebenmensch·e n. Die in der ganzen zivilisierten
Menschheit heute anerkannte Moral der allgemeinen Humanität reicht
weit über alle natürlichen Möglichkeiten des Zusammenlebens einer
Tierart hinaus.
Es beruht also gerade die Möglichkeit des höheren menschlichen
Lebens darauf, daß d•er Abbau der Instinkte und Triebe ihn von einem
biologisch festgelegten sozialen Handlungsplan befreit. Mit dieseT
Erkenntnis ist die rein naturwissenschaftliche Anthroprologie am Ende
ihres Weges angelangt.
11. Erst das eigentlich Menschliche des Menschen3 , seine geistig-
psychische Struktur befähigt ihn zur Lösung der sozialen Aufgaben,

2 Freiherr v. Eickstedt, "Die Forschung am Menschen" (einschl. Rassen-


kunde und Rassengeschichte der Menschheit) 15. Lfg. 1956, S. 1951.
3 Dies ist nach Jaspers, a.a.O., S. 6 f, auch in allen Seelenkrankheiten noch
gegenwärtig, solange überhaupt noch von einem geistigen Leben des kran-
ken Menschen gesprochen werden kann.
10 Die werdende neue Kriminologie

die außer dem Menschen kein anderes Lebewesen sich stellt. Sicherlich
wurz·elt dieses Humanum in biologischen T.ief•enschichten, ohne daß es
aber aus diesen .abgeleitet werden könnte, da es etwas schlechthin
Neues darstellt. Dieses Neue ist das "kh", d ie sich selbst g-estaltende
bewiUßte Persönlichkeit, die ihre .geistigen Inhalt-e entnimmt aus den
im sozialen Leben vorhandenen objektiven geistigen Gehalten, oder
doch in Verbindung mit diesen schafft oder umgestaltet. Subjektiver
und objektiver Geist sind nur der "geschichtlichen" Betrachtung, nicht
dem naturwissenschaftlichen Denken erreichbar, sind aber nicht minder
real als die Gegenstände der Naturwissenschaft.
Will man dennoch von einer geistig-psychischen Triebstruktur des
Menschen sprechen, so ist Trieb in diesem Sinn eine erlebte Strebung,
während der Instinkt als außerbewußt gedacht wird 4 • Über den Auf-
bau unserer geistig-seelischen Strebungen gibt es ebensoviele Aussagen
als es Psychologen und Charakterologen gibt. Aber in einem Punkt
stimmen im Grunde heute alle diese höchstverschiedenen Systeme
übe r ein, nämlich darin, daß der Mensch auch als geistig-seelische
Struktur an sich allen Inhalten offen ist. Er ist zwar keiner Wachs-
tafel zu vergleichen, in w-elche man alles eintragen könnte, wie das
18. Jahrhundert gelegentlich wähnte. Das rätselhafte Lebenszentrum
der Persönlichkeit, das in einer lebendigen Struktur .angelegt ist, be-
mächtigt sich der t:mdierten Inhalte jeweils nur auf die ihm gemäße
Weise. Aber k-eine Persönlichkeitsstruktur weist an sich auf bestimmte
soziale Inhalte hin. Die allgemein verbreitete Vorstellung, daß das
Verbrech•en aus dem Zusammenwirken von Anlage und Umwelt zu-
stande komme, ist deshalb schief, weil sie den Irrtum nahelegt, als
sei der Mensch vermöge seiner Anlage überhaupt auf irgendeinen
bestimmten sozialen Weg gewiesen, der dann nachträglich und
von außen her von der Umwelt irgendwie beeinflußt oder ab-.
gelenkt werden könnte. In Wahrheit empfängt der Mensch alle seine
sozialen Handlungsantriebe, sozialen Handlungsvorstellungen und so-
zialen Wertvorstellungen erst aus dem verstehenden Zusammenleben
mit anderen. Hier gibt es schlechterdings keine Ausnahme. Der sub-
jektive Geist, das Ich, existiert überhaupt nur in der Atmosphäre des
objektiven Geist·es, er ist nichts für sich allein. Wer in einem See-
räuberstaat .aufwächst, wird notwendigerweise S eeräuber, wenn er
überhaupt die Kraft dazu hat. "Ununterrichtet e Taubstumme bleiben
auf der Stufe von Idioten", gelangen jedenfalls zu kein-em höheren
sozialen Verhalten5 •
4 Jaspers, a.a.O., S. 263 ff. bezeichnet den Trieb als erlebten Instinkt.
Damit wird aber der Instinkt bereits als zweckhaft gedacht.
5 Jaspers, a .a .O., S. 594. Klingh ammer, Mschr. Krim. Bd. 42, S. 68, wider-
sprich t dieser Aussa ge nur scheinbar, indem er mit Recht h ervorhebt, daß
de::- T::m:Jstu:~me nicht notwendigerweise nur verbal lernen muß.
Das Programm einer neuen Kriminologie 11

Auch die Beobachtung·en der Psychiatrie bestätigen, daß die Anlagte-


struktur des Mensch·en allen sozialen Inhalten offen ist. Weder die
Geisteskvanken noch die Psychopathen entwickeln aus ihrer Anlage
ein besondersartiges soziales Verhalten. Sie sind nur möglicherweise
unfähig, die dargebotenen sozialen Gehalte lernend aufzunehmen oder
im Leben anzuwenden.
Soweit die Geisteskranken im engeren Sinn in Betracht kommen,
ist dies evident. Es kommt zwar vor, daß Geisteskranke Taten begehen,
die, von Gesunden begangen, Verbrechen wären. Die kriminelle Wertig-
keit der eigentlichen Psychosen ist aber äußerst gering. Soweit der
Geisteskranke überhaupt antisozial oder asozial handelt, tut er dies
nicht, weil er sozial abnorm eingestellt wäre, sondern weil er des-
orientiert ist. Die Familienforschungen Strumpfls haben :z.ud•em un-
widerleglich erwiesen, daß. nicht einmal das Gewohnheitsverbrecher-
turn mit dem Erbkre.is der groß·en Psychosen etwas zu tun hat6 •
Auch mit den sogenannten Psychopathen steht es nicht anders, so-
fern man heute diesen überaus fragwürdigen Begriff noch gebrauchen
darf. Legen wir die kriminologisch so ·einflußreichen Aufstellungen
Kurt Schneiders und seiner Schüler zugrunde7 , .so fällt auf, daß die
beschriebenen Psychopathentypen - abgesehen von den Explosibeln
und vielleicht den Geltungssüchtigen - von sich aus nicht zu einem
inhaltlich bestirrunten asozialen oder antisozialen Verhalten neigen.
Die kriminologisch wichtigsten Typen der Willenlosen und Haltlosen
sind nur biologisch schwach und sozial hilflos. Asozial oder antisozial
werden sie erst dadurch, daß man ihnen Lebensaufgaben stellt, denen
sie nicht gewachsen sind. Auch der gefühlskalte Psychopath neigt an
sich nicht zu besonderen Handlungsinhalten oder besonderen sozialen
Wertvorstellungen. Er wäre nur unfähig, soziale Wertvorstellungen
anders als rein rational aufzunehmen. Auch darin läg·e eine g-ewisse
Lebensschwäche. Man darf dabei nicht übersehen, daß überdurch-
schnittliche Gefühlsbestimmtheit wahrscheinlich mehr Straftaten zu
verantworten hat als rati.lonale Gefühlskälte.
Aber inwieweit gibt ·es Gefühlsk.ältre überhaupt? Offensichtlich ver-
wechselt mancher beobachtende Psychiater allzuleicht die Fähigkeit,
überhaupt Sozialgefühle zu empfinden, mit den sozialen Möglichkeiten
ihrer Anwendung. 1Er übersieht möglicherweise die sozialpsychologische
Tatsache, daß das Verhältnis von Feindwelt und Freundwelt bei ein-
zelnen Menschen und bei sozialen Gruppen, .so bei der Pariaschicht,

6 Stumpfl, "Erbanlage und Verbrechen", Z. f. d. ges. Neurologie und


Psychiatrie Bd. 145, S. 283 ff.; ferner "Erbanlage und Verbrechen" 1935, da-
zu meinen Aufsatz, Z. Bd. 57, S. 18 f.
7 Kurt Schneider, Die psychopathischen Persönlichkeiten, 9. Aufl. 1950;
in Klinische Psychopathologie, 4. Auf!. 1955, S. 22 ff., insbes. S. 43 f., rela-
tiviert Schneider den Begriff der Psychopathie.
12 Die werdende neue Kriminologie

aus sozialen Gründen ein anderes S·ein muß als beim Durchschnitt.
Ein so guter Beobachter wie Max Kaufmann, der Verbrecher in Frei-
heit beobachtet hat, schildert gerade ihre außerordentliche Gefühls-
wärme8. Dasselbe l·ehr·en überwiegend die Selbstschilderungen aus der
Verbrecherwelt bei Jäger, Luz und Georg Fuchs9 .
Grundsätzlich muß zuletzt betont werden, daß beim Menschen alle
Tr~·ebe und Sch·emata, alle geistig-seelischen :Strebungen den Weg
durch das bildend·e Bewußtsein nehmen. Dieses bildende Bewußtsein
ist eingebettet in den objektiven Geist, d. h. in die verstehende Ge-
meinschaft der Menschen. Die Frage, wie das Wunder does normalen
soe;ialen Zusammenl·ebens zustande kommt, ist daher erst von der
Soziologie zu beantworten.

B. Die Vergesellung des Menschen und die soziale Fehlleistung10

Die Antwort auf die so g·estellt>e Frage lautet: Der Mensch kommt
zu planvollem Handeln dadurch, daß er als geistiges Sozialwesen dazu
veranlagt ist, das in einer historischen Gemeinschaft herrschende
Gemeinschaftsurteil sich anzueignen, welches in der normalen Reiz-
situation für den Einzelnen denkt und durch den Einzelnen hindurch
handelt. Kein Mensch produziert die Masse seiner Denk- und Hand-
lungsinhalte selbst, kein Einzelner vermöchte jemals den Weg von
der Einzelerfahrung bis zum sinnvollen Handeln für sich allein zu-
rückzulegen. Gewöhnlich wendet man nur di-e Sozialvorstellungen der
Allgemeinheit auf den Einzelfall an11•
I. Die jeweils gültigen Gemeinschaftsurteile unterHegen dem ge-
schichtlichen Wechsel. In dieser Historizität der Normvorstellungen

Max Kaufmann, "Die Psychologie des Verbrechens" 1912, S. 196 ff., 247 f.
8
9 Jaeger, "Hinter Kerkermauern" 1906, auch Arch. Bd. 21, S. 1 ff., S. 201 ff.,
Bd. 23, S.1 ff., S. 197 ff.; Walter Luz, "Das Verbrechen in der Darstellung des
Verbrechers" 1927; Georg Fuchs, "Wir Zuchthäusler", München 1931.
10 Die Vergesellung ist ein geistiger Vorgang, die Soziologie daher Gei-
steswissenschaft, und zwar verstehende Sozialpsychologie. Sie arbeitet mit
dem Tatsachenmaterial, welches gegenwärtige soziale Beobachtung (ein-
schließlich Experiment) und die ethnologische, rechts- und sozialgeschicht-
liche Forschung liefern. Soziologie ist also eine im allgemeineren Sinne
historische Wissenschaft, welche typische historische gesellschaftliche Vor-
gänge und Abläufe, insbesondere auf ihre Motivationszusammenhänge, un-
tersucht. Wegweiser durch das von der neueren pragmatischen Soziologie
gesammelte Tatsachenmaterial bleiben die alten Meister. Unter ihnen ver-
möge seines sozialpsychologischen Ansatzes für uns besonders lehrreich Al-
fred Vierkandt, Gesellschaftslehre, 2. Aufl.. 1928. Über die Möglichkeiten so-
ziologischen Denkens unterrichtet umfassend Maus in seiner Geschichte der
Soziologie, Hdb. d. Soziologie hrsg. v. Ziegenfuß 1956, S. 1-120, das ethno-
logische Material bei Richard Thurnwald, Die menschliche Gesellschaft,
5 Bände 1931-1934. Viel historisches Material findet sich in den soziologi-
schen Schriften von Max Weber.
11 Vgl. erstmalig Strafrecht des deutschen Volkes, 1936, S. 26 ff.
Das Programm einer neucn Kriminologie 13

und Sozialformen, ihrer Fülle und Verscllieden.artigkeit spielt der


menschliche Geist gewiss•ermaßen mit sich selbst. Die Variabilität ist
so groß, daß es kein Verbrechen gibt, das nicllt in irgendeiner Sozial·
ordnung in einem bestimmten Handlungszrusammenhang sittlicll,e oder
rechtliche Pflicht gewesen w.äre. Die vor der ziemlich monotonen mo-
dernen Zivilisation so ..buntfarbigen Sozialformen folgen nicllt etwa
entwicklungsgeschichtlich auseinander und aufeinander; dieser evoJu-
tionistische Irrtum einer deduktiven Ethnologie ist durch die Tat·
Sachenforschung in 1Ethnologie und Rechtsgescllicllte widerlegt. Alle
uns bekannten !Sozial· und Moralsysteme sind im biologischen Sinn
noch gleichzeitig und lassen sich auch nicht durcll Rassenverschieden-
heiten ·erklären. Sie sind historisch teilweise nebeneinander entstan-
den, teilweise stehen die einzelnen Kulturkreise in historischer Ab-
hängigkeit12. Inwieweit das rudimentäre Instinktgefüge des Menschen
die möglichen so~ialformen bedingt und beschränkt, ob di·e g·eistige
Verfassung des Menscllen doch auf eine erkennbal'e einheitliche Be-
stimmung des Menschengeschloecht-es hinweist (Frage eines Natur·
rechtes im biologiscllen Sinn), ist hi-er nicht zu -erörtern.
Um so erstaunlicller ist nun alleroings die naturhaft-e Sicherheit,
mit welcller die verschiedenen Sozialsysteme, dort wo sie gelten,
jeweils durchgeführt werden - allerdings nur aufs Ganze gesehen.
Diese Naturhaftigkeit ist so auffallend, daß immer wieder das Vor·
urteil auftaucht, der natürliclle Mensch v-ermeide die Tötung des
Nebenmenscllen •VIon Natur aus, der Mörder sei also irgendwie ab-
artig13. Gerade hier sollte sich aber ohne weiteres erkennen lassen, daß
nicht nur die meisten typiscllen modernen Tötungsfälle in kurz zu-
rückliegenden Zeiten als erlaubte oder gebotene Handlungen angesehen
wurden, sondern daß. sogar in der jüngst-en Gegenwart im Auftrage
des Staat-es mit vielfach g,utem Gewiss.en massenhafte Tötungen vor-
genomm-en wurden, di-e wir hetUte wieder als Verbr·echen verurteilen.

12 Dies ist die grundlegende und in der Ethnologie auch anerkannte Ent-
deckung der sogen. historischen Schule, vgl. Gräbner, Methode in der Eth-
nologie, 1909; gestritten wird nur über die Einzelheiten der Methode. Vgl.
Thurnwald, a.a.O., Bd. 1, S. 10 f.
13 Többen, Untersuchungsergebnisse an Totschlägern, 1932, S. 1, meint,
für den Normalen sei die Tötung eine so ungeheuerliche Tat, daß er vor
ihr zurückschrecke. Auch in "Neuere Beobachtungen über die Psychologie
der zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe verurteilten oder begnadigten Ver-
brecher", 1927, stellt er nicht ernstlich die Möglichkeit in Rechnung, daß ein
Großteil der "Lebenslänglichen" möglicherweise aus Durchschnittsmenschen
besteht, die gerade so gehandelt haben könnten, wie Durchschnittsmen-
schen in dieser Lebenssituation handeln. Auch Ohm, Haltungsstile Le-
benslänglicher, 1959, legt sich nicht die einfache Frage vor, ob nicht der
Durchschnittsmensch in Extremsituationen sich ebenso verhalten kann, wie
der Soldat im Krieg.
14 Die werdende neue Kriminologie

Die Historizität und naturhafte Kraft des Sozialurteils versöhnen


sich in der oben getr1offenen Feststellung, daß der Mensch eben dazu
veranlagt ist, die in der jeweiligen historischen Gemeinschaft geltende
Sozialoronung sich anzueignen.
Das Gemeinschaftsurteil ist ein Komplex historisch gegebener
Normvorstellungen1 \ welche also irgendwie gewußt und verstehend
aufgenommen werden müssen. Alleroings reden diese Normen nicht
abstrakt IZU uns, sondern in tausend Zungen durch Vorbilder, Gewöh-
nungen, aber auch Belehrungen. Der Mensch ahmt nicht etwa nur
soziale Muster {patterns) nach; die .sozialen Muster verhalten sich
zum Gemeinschaftsurteil nicht einmal wie Rechenbeispiele zu den
Regeln des Rechnens. Die sozialen Muster passen nämlich immer nur
teilweise auf die jeweils vorhandene Situation. Das Gemeinschafts-
urteil steht auch fordernd über dem wirklich g·elebten Leben, in
welchem es doch immer nur unvollkommen verwirklicht wird. Gelebt
wird im wirklichen ges·ellschaftlichen Leben nicht die volle, sondern
bestenfalls die 80 'll/oige Ehrlichkeit und außerdem die 50 °/oige Unzucht.
Jede Gesellschaft würde in Unordnung geraten, wenn der Einzelne
sich nur nach dem bloßen tatsächlichen Verhalten der Gesellschaft
und nicht auch nach den gültigen Normvorstellungen richten würde;
aus d•er 80 Ofoigen Ehrlichkeit würde die 50% Unehrlichkeit, aus der
50 °/oigen Unzucht die totale Unzucht. Die wirklich vorgelebten Muster
genügen weder als Leitstern, noch werden sie überhaupt allgemein
von den Einzelnen als Leitstern benützt. Dies läßt sich besonders
deutlich am Grenzfall der Sexualmoral aufzeig>en. Auch die heutige
Gesellschaft ist durchaus noch von den überlieferten Normvorstellun-
gen bestimmt, obgleich die Kontrolle des menschlichen Geschlechts-
lebens in der Tat auf Widerstände und Schwierigkeiten in der Trieb-
struktur des Menschen stößt. Würden die Mensch·en sich einfach nach
Verhaltensmustern richten, wäre die Unordnung grenzenlos. Wenn
auch heute noch ein Mindestmaß an Kontrolle über den Trieb garan-
tiert erscheint, so nur deshalb, weil eben der Durchschnittsmensch sich
prinzipiell doch an der Norm orientiert, auch wenn er sie nicht oder
nur höchst unvollkommen erfüllt.
Das Gemeinschaftsurteil ist eine Tat des freien menschlichen Geistes
und wendet sich an den Einzelnen als freie und verantwortliche
Person. Das Sozialleben kann nur dann funktionieren, wenn die An-
nahme des Gemeinschaftsurteils nicht zur Entfr·e mdung des Einzelnen
von seinem Selbst entartet. 1Es handelt sich also g·e rade nicht um bloße
Anpassung an die Verhaltensmuster der Gesellschaft. Die Freiheit des
M•enschen besteht allerdings nirht darin, daß. er als absolutes sinn-
14 Vgl. dazu Vierkandt, a.a.O., S. 386 ff., über die Aufnahme der Normen
insbes. S. 363.
Das Programm einer neuen Kriminologie 15

loses Individuum nach Art einer fehlgegangenen Rakete handelt


dies ist die irrige Meinung manch·er Existentialisten-, sondern daß et,
indem er das Gemeinschaftsurteil vollzieht, es auf die Fülle der so-
zialen Situationen frei anwend•et und in dieser Anwendung nachprüft
und läutert. Erst in der freien Annahme des Gemeinschaftsurteils ge-
winnen P.erson und Gesellschaft überhaupt Inhalt und Gestalt. Eigent-
lich neue Gestaltungen schaffen dann die Heiligen, Helden und Pro-
phetren als die neuen Gesetzgeber.
Die grundlegenden Sozialnormen pflegt bereits das Kind im Gemein-
schaftsverhältnis in der Weise aufzunehmen, daß es sich mit der
gültigen Norm identifiziert und sie in sein Selbst hereinnimmt. Dann
entsteht wirklich der Idealfall, daß das Gemeinschaftsurreil in und
durch den Einzelnen denkt und handelt. Aber auch soweit Normen
nur als gesellschaftliche Spielregeln im Gesellschaftsverhältnis aner-
kannt weroen, geht dies weit über die bloße Nachahmung sozialer
Mustrer hinaus.
Die Führungskraft des Gemeinschaftsurteils hängt also offenbar
davon ab, mit welcher Überzeugungskraft und in welchen Gesell-
schaftsformen das Gemeins<'.haftsurteil das Selbst des Einzelnen bildet
und mit seinem Gehalt erfüllt. Kein Mensch hat aus sich heraus
irgendwelche N ormvorstrellungen.
II. Die Strafe ist ein entscheidender und unentbehrlicher Inte-
grationsfaktor im Vergesellungsprozeß15• Das Strafrecht spricht durch
Verkündung der Norm und Handhabung der Strafe die wichtigsten
sittlich-rechtlichen Normen aus, die im Gemeinschaftsbewußtsein ent-
halten sind. Es richtet so Werttafeln auf, unterscheidet zwischen ".g ut"
und "böse" und ruft den Menschen in persönliche Verantwortung,
indem es die normwidrige Tat als Schuld richtet. Ob der Mensch gut
oder böse sei, ist reine theologische Frage. Im empirisch-anthropolo-
gischen Sinn ist der Mensch eine offene Struktur mit einem unvoll-
ständigen und weithin abgebauten Triebgefüge, das zu seiner geistigen
Aufgabe teilweise in Widerspruch steht. Es ist also die Aufgabe des
Menschen, als geistige Person ~ur Gestalt zu gelangen, und zwar in
der gemeinsamen Anstrengung des gesellschaftlichen Lebens mittels
der übergeordneten Norm. Das eigentliche Verdienst des Strafrechts
liegt daher in seiner sittenbildenden Kraft. Dies setzt voraus, daß die
Strafe auch praktisch als Leid empfunden wird. Insofern gehört zur
Generalprävention auch immer bis zu einem gewissen Grade die Ab-
schreckung. Jedoch ist die Abschreckung von geringer Bedeutung, wenn
nicht der 1Ernst der sittlichen Rüge in der .Strafe massenpsychologisch
wirksam wird.
15 Vgl. darüber ausführlicher Strafrecht des deutschen Volkes, S. 32 ff.
16 Die werdende neue Kriminologie

In der vielfach vertretenen Meinung, di·e ,moralischen Urteile würden


im außerstaatlichen gesellschaftlichen Raum gebildet, liegt eine roman-
tische Üb€rschätzung der bloß äußer·en Gewohnheit. Der Staat hat im
g·esellschaitlichen Leben die Funktion, daß er in dem das L>eb€n b€-
drohenden Wertw1derstreit den Rechtswillen und damit den sittlichen
Willen einer Rechtsgemeinschaft bewußt und autoritativ ausspricht.
Dies tut er vor allem im Strafrecht. Daher ist Z1U allen Zeiten die
Strafe das Mittel gewesen, mit welchem eine Rechtsgemeinschaft
überl1eferte Werte gefestigt und auch neue Werte aufgerichtet hat.
Denn welch anderes Mittel könnte es geb€n, welches so eindrucksvoll
die Wertung der Allgemeinheit aussprechen könnte. Pessimisten
mögen sagen, daß die Strafe nur deshalb so wirksam sei, weil sie
mit der Sprache r·edet, welche das niedrige Menschengeschlecht be-
sonders überzeuge, nämlich mit dem Mittel der Macht. Es darf aber
gesagt werd·en, daß g·erade die Strafrechtspflege auf die Dauer nur
wirksam ist, wenn sie gerechte Machtübung darstellt, denn nur dann
hat sie auf die Dauer üb€rzeugende und führende Kraft. Die Strafe muß
als-o auch ger·e cht zugemessen werden, um generalpräventiv im eigent-
lichen Sinn überhaupt wirken ·z u können.
Alle sonstigen erzieherischen Bemühungen können nur damn an-
knüpfen, daß eine b€stimmte Rechts- und Sozialordnung als gute Ord-
nung im .gesellschaftlich-en Leben gilt und anerkannt ist, alle etwa
sichernden Maßnahmen sind nur erträglich, wenn sie auf innerer Ge-
rechtigkeit beruhen.
III. Die soziale Fehlleistung, insbesondere die strafbare Handlung
ereignet sich - sozi,ologisch gesproch·en - dort, wo die Führungskraft
des Gem-einschaftsurteils versagt.
Kommt der Mensch ohne sozialen Handlungsplan zur Welt, so ist
die Vergesellung des Menschen eine immer wieder neu zu lösende
Aufgabe. Diese Aufgabe kann nur gelingen, wenn eine Fülle von
Bedingllln.gen in richtiger Zeitfolg·e koordiniert vorliegen. Die soziale
Fehlleistung des Menschen bedarf also im Grunde noch viel weniger
einer Erklärung als das Mißlingen irgendeines biologischen Prozesses.
Eine einfach·e Wahrscheinlichkeitsrechnung ergibt, daß es an dieser
Koordinati-on sehr oft fehlen muß. Man muß sich gewissermaßen
wund.ern, daß die Sach·e in d·er Regel so ·g ut geht, obgleich alle So-
zialsystem-e vom Menschen etwas verlangen, das in seinem Instinkt-
g-efüge nicht enthalten ist, diesem sogar teilweise widerspricht.
Die besondere Schwierigkeit für d-en Einzelnen liegt dabei darin,
daß j•ed.e ·einz·elne Lebenssituation -so gewiß sie typisch-e Situation-en
wie derholt - doch im Augenblick d-es Erlebnisses neu ist und eine
neue Anwendung des Gem-einschaftsurteils erheischt.
Das Programm einer neuen Kriminologie 17

Daher ist das Erstverbrechen prinzipiell Zufallsverbrechen, aber


ebenso zugleich prinzipiell möglicher Beginn einer verbrecherischen
Laufbahn. Es liegt ruuf der Hand, daß jede ernste Störung des Lebens-
verlaufes zu dauernder Entgleisung führen kann. Ursache des Ver-
brechens ist also ganz einfach der unberechenbare Zufall, d. h. die
mangelnde zeitliche Koordination der Bedingungen des Vergesellungs-
prozesses.
Dies schließt nicht aus, daß besondere typische16 seelische Konflikts-
situationen zrum Verbrechen führen. Da aber die Sozialordnungen
historisch wechseln, so wechseln auch die Konfliktssituationen. Auch
wenn die strafrechtlich bedeutsamen Handlungen in der G€schichte
teilweise äußerlich die gleichen bleiben, so verbergen sich hinter
diesen sogenannten natürlichen Verbrech-en jew-eils historisch verschie-
dene Sozialverhalte. Die typischen Konfliktsituatilonoen d-er antiken
Kulturen gerade auch d-er germanischen, gingen aus der noch unausge-
glichenen Überschichtung der Feldbauernkulturen durch Hirtenkrieger-
kulturen hervor. Im frühen Mittelalter ist das V-erbrechen wesentlich
Ausdruck der individuellen Auflehnung gegen eine nunmehr rational
werdende Ordnung. In der rationalen Neuz-eit liefern Not und Leiden-
schaft di-e typisch·en Konflikte, jedoch dauert der ursprüngliche
ethnische Konflikt immer noch fort. Der typische Konflikt der Gegen-
wart ist der Zivilisationskonflikt Die moderne Arbeitskultur verlangt
nämlich vom MelllSchen im G€g-ensatz zu seiner ursprünglich·en Ver-
anlagung ein übergroßes Maß rationaler Selbstdisziplin und mecha-
nischer Arbeitsgewöhnung. Lombroso war doch nicht so ganz auf
falscher Fährte, als er im Verbrechen "Atavismus" witterte. Nur führt
diese brauchbare Spur nicht zum "Wilden", sondern ganz einfach zum
früheuropäischen Menschen, der noch in der Zeit vor der strengen
Arbeitskultur lebte, der sich noch in den Bauernaufständen gegen
seine Zähmung und Umzüchtung zum disziplinierten Arbeitstier
wehrte. Erkennt man den Zivilisationskonflikt aber als den heute
massenpsychologisch ·entscheidenden kriminogenen Lebenskonflikt an,
so wird die spezialpräventive Bekämpfung des Verbrechers durch seine
Eliminierung im Wege der Sicherung oder gar rassenhygienischer
Maßnahmen zu einer sehr ernsten Sache. Wer sagt uns denn, daß die
Naturgaben, welche sich unter dem Druck der modernen Arbeitskultur
in der heute .gesteigerten Jugendkriminalität Luft machen, im see-
lischen Haushalt des Menschen überhaupt entbehrt w-erden können?
Sind wir doch heut-e nahe daran, daß es kaum noch Menschen gibt,
die zweckfrei spielen können. Das IZWeckfreie Spiel des Geistes mit
sich selbst ist aboer so sehr der eigentlich-e Sinn des menschlichen Da-
16 Insofern ist jede spezielle Kriminologie eine Typologie. Ein Versuch
in dieser Richtung bei Ernst Seelig, Lehrb. d. Kriminologie, 2. Aufi. 1951.

2 Mayor. Strofremlsroform
18 Die werdende neue Kriminologie

seins, daß Eltern unfähig sind, ihr·e Kinder zu erziehen, wenn sie
mit ihnen nicht mehr spielen können.
Diese Übersicht mag zeigen, daß die Konfliktssituationen nicht so
sehr infolge äußerer Nöte und Schwierigkeiten auftreten, als vielmehr
infolge der inneren Widersprüche des Gemeinschaftsurteils, der Grup-
penurteile und der Sozialformen. Über Bedeutung und Grenzen des
Einflusses äußerer wirtschaftlicher Verhältnisse haben wir in den letz-
ten Menschenaltern eine sehr eindrucksvolle Belehrung erfahren.
V. Liszt glaubte noch, daß das "Elend" die Hauptursache der Massen-
kriminalität sei17• In Wahrheit konnte man ·zur Zeit v. Liszts von
einem Massenelend in strengem Sinn schon nicht mehr reden, wohl
aber gab es ein solches zwei Menschenalter früher zu Beginn des
19. Jahrhunderts. Aber gerade damals war die Vermög·enskriminalität
relativ klein, wie dies die geringen Zahlen der Strafgefangenen dieser
Zeit beweisen. Nach Franz v. Liszts Anfängen nahm dann die Ver-
mögenskriminalität mit der steigenden Kaufkraft des Reallohnes er-
heblich ab, aber in diesen Zeitraum fällt nicht nur der wirtschaftliche
Aufstieg der Arbeiterschaft, sondern auch die seelische Verbürgoer-
lichung de.r arbeitenden Massen. Dagegen erleben wir heute einen
gefährlichen Anstieg der Vermögenskriminalität der Jugend und der
Halberwachsenen, obgleich in diesen Jahrgängen ein ganz ungewöhn-
licher Wohlstand herrs·cht. Die massenhafte Kriminalität der Nach-
kriegsjahre sowohl nach dem ersten, wie auch nach dem zweiten Welt-
krieg, weist nicht nur auf die wirtschaftliche Notlage, sondern vor
allem auf die seelisch·e Verwirrung dieser Zeit hin. Die Verbrechens-
bewegung läßt sich also nicht aus der äußeren Umwelt, sondern ent-
scheidend nur aus geistigen Vorgängen ableiten.

C. Das Werden der Persönlichkeit

Es gilt, sich immer bewußt :zu bleiben, daß die Persönlichkeit des
Menschen niemals abgeschlossen da ist, sondern immer nur wird. Die
Psychologie oder allgemeiner die Persönlichkeitslehre hat also für
uns eine dreifache Aufgabe zu leisten. Sie hat die Voraussetzungen
der werdenden geistig-seelischen Struktur des Menschen als solche dar-
zustellen (vgl. II.), sie hat das Werden der Persönlichkeit S·elbst Z1U
verfolgen (vgl. III.), sie hat als augewandte Wissenschaft die päd-
agogischen Möglichkeiten zu erörtern (vgl. IV.).

1 7 Über "Elend" als Ursache der Kriminalität vgl. v. Liszt, Strafrecht-


liche Aufsätze und Vorträge, namentlich Bd. 2, S. 6 ff., 244 ff. Mit seinen
sozialpolitischen Forderungen hat sich v. Liszt in die vordere Reihe der
Sozialpolitiker seiner Zeit gestellt. Dies ist sein unbestreitbares historisches
Verdienst.
Das Programm einer neuen Kriminologie 19

I. Methodische Vorbemerkungen. Bedrängt von der Fülle der Psycho-


logien und Charaktero1ogien .gleicht der Kriminologe zunächst einem
Schiffbrüchigen im wildbewegten Meer18 . Dennoch ist eine pra:gma-
tische Orientiei'Ullg sehr wohl möglich. Nach der "Psychologie ohne
Seele" des vorigen Jahrhunderts sind in den letzten Menschenaltern
nämlich nur zwei entscheidende neue Anstöße wirksam geworden.
An erster Stelle ist zu nennen die geisteswissenschaftliche Psycho-
logie19, welche ~unächst erfolgr·eich die Psychologie ohne Seele ab-
gelöst hatte, jetzt aber in einem Zeitalter oberflächlicher naturalisti-
scher Neuaufklärung in den Hintergrund getreten ist. Sie hat nur in
der J-ugendpsychologie :Spran.gers auf die Kriminologie stark gewirkt.
Der Kriminologe untersucht die geistige Führung des Einzelnen durch
das Gemeinschaftsurteil und die Möglichkeit·en einzelpädagogischer
Führung und Erziehung. Er muß also grundsätzlich - wie bereits
ausgeführt - im Sinne einer verstehenden geisteswissenschaftlichen
Psychologie verfahren. In diesem Zusammenhang hat er natürlich
auch die naturalistischen Daten ·einzuordnen .
Der andere große Anstoß kommt von der Tiefenpsychologie2(\ die
im Anschluß an die Lehren Fr·euds entstanden ist. Sie übt einen un-
geheuren Einfluß auf das Denken der heutigen Menschheit aus und
beherrscht es weithin mit religionsgleicher Überzeugungskraft Den-
noch kann .der Kriminologe nicht an der Tatsache vorbei, daß die
Schulpsychiatrie auch heute noch zwar viel e Einzelbeobachtungen der
Tiefenpsychologie, keineswegs aber deren prinzipieUe Aussagen an-
erkennt.
Aus diesen beiden ·Quellen nährt sich die ·ganze Vielfalt der moder-
nen Psychologien. Dies .gilt auch für die heute so ausgebreitete ange-
wandte Psychologie, soweit diese nicht lediglich unverstandene und
unverständlich·e T<atsachensammlung·en anhäuft.
Der Kriminologe muß sich in diesem Wide rstreit der Theorien Zlll-
nä-chst an die empirischen B eobachtungen .halten, wie sie von den
verschiedensten S-chulen gemacht werden. Die Forscher aller RiebtlUngen
haben den wirklich·en Menschen, seine Entwicklung, seine Verhaltens-
18 Wir müssen uns hier auf Literaturhinweise beschränken, welche für
den Kriminologen besonders nützlich sein können. Am besten unterrichtet
man sich heute noch bei Theodor Elsenhans, Lehrb. der Psychologie, 3. Aufl.,
bearb. von Giese, Gruhle und Dorsch, 1939. Die Mitarbeit Gruhles macht
dieses Buch für den Kriminologen so wertvoll.
• 19 Vgl. grundlegend Dilthey, Ideen über eine beschreibende und zerglie-
dernde Psychologie; Ges. Schriften Bd. 5; Spranger, Lebensformen (4) 1924;
Psychologie des Jugendalters (25) 1948; Gruhle, Verstehende Psychologie (2)
1956; Jaspers, Allgemeine Psychopathologie (6) 1953, S. 251 ff., S. 631 ff.
20 Robert Heiss, Allgemeine Tiefenpsychologie 1956. Das Buch bietet
neben der eigenen Theorie des Verfassers eine allgemeine Orientierung
über alle Richtungen und Forschungsergebnisse der verschiedenen tiefen-
psychologischen Schulen.
20 Die werdende neue Kriminologie

weisen beobachtet und beschrieben, wenn auch in Anwendung der


verschiedenartigsten Theorien. Durch diese Theorien gilt es zu den tat·
sächlichen Befunden durchzudringen, so daß sie miteinander verglichen
werden können. Beobachtbar in diesem Sinne ist selbstverständlich
alles, was anatomisch-physioLogischer Natur ist. Beobachthar und veri·
fizierbar sind aber auch alle Sachverhalte der v·erstehenden Bewußt-
seinspsychologie, einschließlich der nur nicht aktuell bewußten Vor-
gänge. Heide Tatsachenreihen, die leiblichen und die geistig-seelischen,
lassen sich verbinden, denn natürlich hat auch der extremste Idealist
niemals bestritten, daß Natur und Geist eine Einheit bilden. Aber es
ist nicht die Sache des Kriminologen, das Leib-Seele(Geist)-Problem
zu lösen.
Auch der Gegensatz zwisch•en geisteswissenschaftlich·er Psychologie
und naturalistisch·er Tiefenpsychologie läßt sich noch bis zu einem
gewissen Grade ausklammern. Die Beobachtungen der Tiefenpsycholo-
gie lassen sich zumindestens zu einem sehr großen Teil auch rein
naturalistisch erklären, indem man innerhalb d•er Gehirnstruktur deren
ursprüngliche Verfassung von dem erworbenen Schaltungszustand
unterscheidet. Es ist nicht notwendig zu dieser Erklärung die Hypo-
these einer Tiefenperson - 10der eines nach Analogie des Bewußtseins
verfahrenden Unbewußten - heranzuziehen. Damit zeigt sich, daß
auch die Tiefenpsych·ologie grundsätzlich das Leib-Seele-Problem nicht
verändert, sondern nur e inen ne uen Deutungsversuch darstellt.
So ergeben sich für den Kriminolog.en, der die richtige Anwendung
rechtlicher Maßnahmen vorzubePeiten hat, der also immer mit dem
verantwortlichen Menschen als solchem ;zu tun hat, keine grundsätz·
liehen m€thodischen Schwierigkeiten, wenn er sich auf dem ihm vor·
geschriebenen Boden der geisteswissenschaftlichen Psychologie be-
wegt21.
11. Den Kriminologen interessiert zunächst die gesunde Persönlich-
keitsstruktur in ihren sozialen Beziehungen. Eine auch heute noch
unübertroffene sozialpsychologische Darstellung in diesem Sinne finden
wir in der Gesellschaftslehre von Vierkandt. Eine Zusammenfassung
21 Der Verfasser ist sich natürlich bewußt, wie gefährlich obige Sätze
sind. Aber gerade die methodischen Ausführungen eines so maßvollen
Autors wie Robert Heiss zeigen, daß von der verantwortlichen Person
nichts mehr übrig bleibt, wenn man den Gedankengängen der Tiefen-
psychologie folgt. Nach Heiss, S. 23, bleibt vom "Ich" nichts mehr übrig "als
die Tatsache eines veränderlichen Kerns. der sich immer wieder neu bildet".
Die Tiefenpsychologie sieht "als Grundlage der Persönlichkeit tiefensee-
lische Vorgänge" an, das "seelische Geschehen (vollzieht sich) nicht nur als
Bewußtes". Es liegt auf der Hand, daß der Jurist die tiefenseelische Person
nicht verantwortlich machen kann, und daß die geistige Wertwelt für den
Tiefenpsychologen zur bloßen Umwelt wird; a.a.O. S. 321 ff. Es verschwindet
in der Tiefenpsychologie also nicht nur der subjektive, sondern auch der
objektive Geist.
Das Programm einer neuen Kriminologie 21

der tiefenpsychologischen Aspekte hiebet Heiss22 , eine Zusammenstel-


lung aller psychologischen und :psychiatrischen Betrachtungsweisen
Jaspers23 • Vergleicht man die Darstellungen Vierkandts einerseits
etwa mit der von Jaspers und Heiss andererseits, so zeigt sich, daß
alle von therapeutischen Anliegen und Beobachtungen ausgehenden
Persönlichkeitslehren notwendigerweise zu Einseitigkeiten und Über-
treibungen kommen. So haben nacheinander Freud den Sexualtrieb,
Adler das Machtstreben, Jung die Entmutigung in ihrer sozialen Be-
deutung übertrieben und damit den sozialpsychologischen Ablauf ver-
zerrt.
Dagegen lehren die sozialpsychologisch·en Analysen Vierkandts, wie
vielfältig die sozial bedeutsamen Triebe sind, und w1e problematisch
deren Koordinat1on ist. Die Triebrichtungen sind für die verschie-
densten Ziele offen und der richtigen Ausfüllung durch eine gesunde
Gesellschaftsstruktur bedürftig. Dies läßt sich besonders an dem zu-
gleich das Selbstgefühl und auch die Sozialperson bestimmenden An-
erkennungsbedürfnis zeigen. Ohne dies·es Anerkennungsbedürfnis24 des
Einzelnen, in welchem seine Person und seine persönliche Haltung
begründet sind, würde es kein soziales Zusammenwirken geben. Aber
gerade dieses unentbehrliche Verlangen kann leicht irregeleitet werden,
und ein großer Teil doer Verbrech·en ist davauf zurückzuführen, daß
mangelnde Anerkennung kompensiert, Anerkennung eriZWIUngen wer-
den soll.
III. Für die Lehre v.om Werden der Persönlichkeit hat d1e Tiefen-
psychologie gewiß entscheidende methodische Anstöße gegeben. Dieses
große historische Verdienst muß auch der zugeben, der die Einseitig-
keit des Pansexualismus ablehnt. Die Tiefenpsychologie stimmt
nämlich mit der neueren anthropologischen Einsicht überein, daß es
nicht eigentlich fixe Anlagen gibt, die bereits inhaltlich bestimmt sind.
Während beim Tier d1e Sozialinstinkte nur zu reifen brauchen, ist der
Mensch als offene Struktur ein Lernwesen. Er muß sein Sozialver-
halten erlernen, ebenso wie er das Lesen und Schreiben lernen muß.
Zur Erlernung des Sozialverhaltens geht er in ·eine größere Schule,
nämlich in die Schule des Mitlebens mit anderen.
Die 1Entwicklung des Menschen erfolgt immer wieder durch Krisen-
zustände hindurch, deren Erlebnisse, namentlich die frühkindlich·en,
auf den Menschen im höchsten Grade prägend wirken. Es ist hier
nicht möglich, auch nur im Abriß eine Lehre von dem Werden der
Persönlichkeit 2lU geben, jedoch müssen einige besonders wichtige
Sachverhalte hervorgehoben werden.
22 Vgl. oben Anm. 20.
23 Vgl. oben Anm. 19.
24 Vierkandt, a.a.O., S. 24 ff.
22 Die werdende neue Kriminologie

1. Die für den Charakter, das Gefühlsverhalten und das äußere


Sozialverhalten entscheidende Entwicklungsepoche ist die frühe Kind-
heit. Das Kind übernimmt niclü nur die grundlegenden Wertungen,
sondern auch die Richtung seines gefühlsmäßigen Verhaltens aus der
geistig-gefühlsmäßig·en Wertwelt, in der es erwächst und wus der es
sich gestaltet. Man kann hier außen und innen, Anlage und Umwelt
überhaupt nicht mehr unterscheiden, denn das Kind erlebt die vorge-
fundene geistig-seelisch·e Mitwelt nicht als etwas Fremdes, sondern
identifiziert sich mit derselben, so sehr bereits im frühkindlichen
Stadium auch die Auseinander&etrzung mit der Gesellschaft beginnt.
Normalerweise ist das Kind eingebettet 111nd geborgen in der Familie,
zugleich lebt es aber auch .au.Cerhalb der Familie in der freien spon-
tanen Spielgemeinschaft der Kinder.
2. Im Schulalter übernimmt d.as Kind die Überzeugungen und Wert-
inhalte mehr und mehr bewußt. Der Schulbeginn führt in eine soziale
Krise, in der die bisherige unbezweifelte Autorität der Eltern ent-
thront, das Kind also in einen Konflikt der Autoritäten gestellt wird.
Man darf außerdem nicht übersehen, daß im Schulalter, in welchem
sich zugleich die Spiel- und Jugendgemeinschaft gegenüber den Er-
wachsenen weitgehend verselbständigt, das Kind bereits in drei
Sozialbereichen lebt und aloo verwickelte soziale Aufgaben zu lös.en
hat.
3. Die Probleme des Pubertätsalters, der Lösung vom Elternhaus
und des ersten Weges zum Berufe werden heute so vielfach behandelt,
daß hirer eine gewisse Kenntnis der einschlägigen Fragen vorausgesetzt
werden kann.
4. Übersehen wird meist, daß auch die spätere Entwicklung krimino-
logisch bedeutsam ist, der Mensch stets ein Werdender bleibt. Der
junge Mann oder das junge Mädchen erlangen erst dann eine gewissoe
Sicherheit im Sozialverhalten, wenn sie in Beruf, !Ehe und Familie
eine sichere Lebensgrundlage gefunden haben. Erst das eigentliche
Mannesalter ist eine Zeit ruhig·er Entwicklung, wobei die Krisen aber
nicht ausbleiben. Leider wird der Krimino1oge hier von der Psycho-
logie 111nd Persönlichkeitslehre im Stich gelassen, weil die Pädagogen
sich eben nur für das Entwicklungsalter interessieren.
5. Das höhere Alter stellt den Menschen wieder vor gan·z anders-
artige Schwierigkeiten, die in einer nochmaligen Steigerung der
Kriminalität sichtbar werden.
6. Im Bereich der Kriminologie ist der Mensch in besonderem
Maße als ständig Werdender ZIU betrachten. Die Kriminologie bef,aßt
sich nämlich mit Persönlichkeitsentwicklungen, die durch überdurch-
schnittlich starke Erlebnisse bedingt werden. Auffälliger sozialer Miß-
Das Programm einer neuen Kriminologie

erfolg und daraus folgendes strafbares Verhalten, Verurteilung und


Freiheitsstrafe haben eine stark formende, überwiegend verbildende
,Kraft. Nimmt man die unheilvolle soziale Situation hinzu, in der ein
diffamierter Vorbestrafter sich befind-et, so müßte man an sich den
Rückfall erwarten und ~ann sich nur wundern, daß so viele Straf-
entlassene doch zu einem geordneten Leben zurückfinden.
IV. Eine für kriminologische .Zwecke brauchbare Pädagogik25 gibt
es nur in den ·ersten Anfängen. Die ausgebreitete Literatur über
schwererziehbare Kinder und jugendliche Kriminelle leidet daran, daß
sie nicht auf den späteren Lebensverlauf bezogen czru wevden pflegt.
Noch schlimmer sbeht es mit der Frage der Gefängnispädagogik.
Halten wir fest, daß der Mensch eine offene Struktur ist, welche
.sich erst aus der Sozialwelt mit Inhalt erfüllt, so ergibt sich der
grundsätzliche pädagogische Unterschied zwischen den verschiedenen
Lebensaltern von selbst. In drer Kindheit identifiziert sich der Mensch
mit den ihm gebotenen Inhalten, mit wachsender Reife empfindet er
.sie als etwas Äußeres ·und Fremdes. Darum ist der alte Erfahrungs-
.sa1lz., "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr", geradre auf
sittlichem Gebiet ·eine tragische Wahrheit. Es ist aber andererseits
doch nicht so, daß die gewordene Persönlichkeit schlechthin unver-
änderlich wäre. Nur bedeutet jede Veränderung dann einen Zugriff
in den inneren Kern der Person. Jeder Versuch ·einen Menschen von
,außen zu formen, sei es durch rationale Gewöhnung, sei es durch
Suggestion, muß fehlschlagen.
Der w-evdende Mensch wird sehr ·einfach dadurch erzogen, daß man
ihm die gemäfe sittliche Nahrung gibt. 1Er wivd sie aufnehmen. Der
gewovdene Mensch kann nur dadurch grundlegend geändert werden,
daß die gewordene Persönlichkeitsgestalt aufgelöst und neu aufgebaut
wiro. Dies ist zwar im Prinzip nicht unmöglich, aber sehr schwierig.
Es gilt daher, die ganze Große der gestellten Aufgabe zu erkennen, der
die mechanistischen Vorstellungen des Positivismus nicht gerecht wer-
den. Das Ziel der Resozialisierung ist pädagogisch nicht denkbar, w-enn
man darunter die "bürgerliche Besserung" oder eine Anpassung an
das faktische Verhalten der Gesellschaft versteht. Mit solchen Mittel-
chen läßt sich die durch Leben und Schicksal geprägte Form drer
Persönlichkeit nicht umprägen, eine neue Persönlichkeit nicht formen.
Das Vertrnuen, welches eine verg,angene Zeit in die umbildende Kraft
längerer Freiheitsstrafen setzte, ist uns ohnedies heute ziemlich un-
begreiflich geworden. Die Einsperrung ist ein an sich sehr ungeeig-
25 Vgl. Suse Schwarzenberger, Die Bedeutung der modernen Erziehungs-
wissenschaft für das juristische Strafproblem, 1933; Joachim Heltmer, Kri-
minalpädagogik, 1959; Gustav Nass, Kriminalpädagogik, 1959; Karl Peters,
Grundprobleme der Kriminalpädagogik 1960.
24 Die werdende neue Kriminologie

netes Mittel, um den Menschen darzu zu erziehen, daß er von seiner


Freiheit richtigen Gebrauch macht. Schwimmen lernt man im Wasser,
sich rechtschaffen benehmen in der Freiheit. Wäre die Freiheitsstrafe
nicht als generalpräventives Strafmittel schlechterdings unentbehrlich,
so würde kein Mensch auf den Gedanken kommen, jemanden einzu-
sperren, um ihn zu erziehen.
Zweiter Abschnitt

Freiheitliebes oder kollektivistisches Strafrecht

§ 3. Der Rechtsbegriff der Freiheit und die strafrechtlichen


Folgerungen in der Ideengeschichte

Franz v. Liszt wirkte in einer Zeit, als der Liberalismus noch alle
Fasern des gesellschaftlichen Lebens durchdrang. Ind•em er sich gegen
das überlieferte Vergeltungsstrafrecht wandte, beabsichtigte er, das
irdischen Zwecken dienende Recht von letzten Überresten metaphy-
sischer Zwangsherrschaft zu befreien. Er wollte die liberale Ordnung
mit sozialem Gehalt erfüllen, um den Liberalismus erst zu vollenden.
So ist es aus dem Zeitgeist heraus zu verstehen, wenn die seinerzeit
moderne Schule nicht bemerkte, daß sie sowohl mit ihren Grund-
g-edanken als mit ihren einzelnen Vorschlägen die bürgerliche Freiheit
in Frage stellte.
Heute aber sollte man wissen, was Franz v. Liszt und seine Zeit-
genossen noch kaum wissen konnten, daß der Kampf um Rechtsgrund
und Zweck der Strafe zu einem Kampf um Kollektivismus oder Frei-
heit ,geworden ist. Ja, es besteht die dringende Gefahr, daß im Zuge
der noch "modernen" Auffassung das Rechtsprinzip des kollektiven
Wohlfahrtsstaates auch den privatesten Lebensbereich ergreift. Die
Fronten in diesem Kampf sind verwirrt. Einerseits kann auch ein
totalitäres Gesellschaftssystem nicht existieren, ohne dem Einzelnen
ein gewisses Maß individueller Selbsttätigkeit zu belassen, denn nur
der lebendige Mensch bewegt die geschichtlichen Kräfte. Andererseits
~teckt die Versuchung zum Kollektivismus in der modernen Zivili-
sati-on überhaupt, daher auch in den Staaten des freien Westens. Das
Verlangen nach einem störungsfreien vatianalen Ablauf des gesell-
schaftlichen Lebens, der Wunsch, sich gegen Krankheit und Verbrechen
zu sichern, machen sich im Drang der modernen unüberschaubaren
gesellschaftlichen Vorgänge so übermächtig geltend, daß um der
Sicherung ·des Lebens willen immer wieder auf die Freiheit und
damit auf das Leben selbst verzichtet wird. In der Tat sind die
kriminalpolitischen Methoden totalitärer Staaten mitunter bis zu
einem gewissen Gmd erfolgreich, nur vernichten sie das freiheitliche
Leben, zu dessen Schutz doch allein die Strafr·echtspflege dienen soll,
26 Freiheitliches oder kollektivistisches Strafrecht

und damit zuletzt a'Uch die Sicherheit1 . Neuerdings versucht daher


der Kommunismus in die Bahnen des humanen Wohlfahrtsstaates ein-
zulenken, und das neue gr.o ßrussische StGB gibt sich sehr liberal.
I. Individualismus, Kollektivismus, Personalismus.
Freiheit in der Ideengeschichte kann verstanden werden als natur-
hafte individuelle Ungebundenheit oder als Freiheit zu sittlicher
Selbstverantwortung. Die gegensäizlichen Grundauffassungen sind im
13. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet
worden. Gemeinsam war damals noch die Überzeugung, daß der
Mensch existentiell Vernunftwesen sei2.
1. Der Individualismus der Aufklärung macht das natürliche Lebens-
recht, die "Glückseligkeit" des Einzelnen als eines individuellen Ver-
nunftwesenszur Grundlage von Ethik, Recht und Fr·eiheit. Die Freiheit
wird ganz urwüchsig als die von Natur mitgebmchte Ungebundenheit
des Einzelmenschen aufgefaßt. Recht und Staat sind Beschränkungen
dieser natungegebenen Ungebundenheit, das Opfer, das der Mensch an
Freiheit bringen muß, um dafür die Sicherheit einzutauschen3 • Das
1 Hellmuth v. Weber, "Kriminalpolitik und Strafrechtsreform" in Kri-
minalpolitische Gegenwartsfragen, hrsg vom Bundeskriminalamt 1959,
S. 17 ff., insbes. S. 18.
2 Die nachfolgenden Ausführungen beruhen auf der Rechtsphilosophie
des deutschen Idealismus. Als Gegenposition gegen den Idealismus kommt
aber ernstlich nur der Materialismus oder Positivismus in Frage, welche
konsequent zum Kollektivismus hinleiten, wie die reifste Gestalt des Ma-
terialismus, der dialektische Materialismus erweist. Anhänger der Existenz-
philosophie mögen bedenken, daß man weder von der "Existenz" des
schlechthin Einzelnen noch von einem personfremden Sein aus zum Recht
als dem überpersonal Allgemeinen gelangen kann. Die Philosophie von
Jaspers gehört ohnedies in den Zusammenhang des Idealismus. Es ist darum
berechtigt, von der historisch wirksamen Position des Idealismus auszu-
gehen.
Frühere Äußerungen des Verfassers dieser Kritik vgl. G.S. Bd. 104,
S. 303 ff., Strafrecht d. D. Volkes, S. 9 ff.
3 Dies ist nicht etwa die Auffassung Kants. Über diesen vgl. im Text und
Anm. 4.
Das Freiheitsverständnis der Aufklärung hat den rechtshistorisch maß-
gebenden Ausdruck gefunden in der französischen Declaration des Droits
de 1' Homme et du Citoyen vom 26. 8. 1789 Art. 4: "La liberte consiste a
pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas a autrui: ainsi, l'exercice des droits
naturels de chaque homme n'a de bornes que celles qui assurent aux autres
membres de la societe la jouissance de ces memes droits. Ces bornes ne
peuvent etre determinees que par la Loi."
Der Herrenchiemseer Entwurf unterscheidet sich von seinem Vorbild in-
sofern, als er die "Rechtsordnung" an die Stelle des positiven Gesetzes
stellt, während die positivistische Formulierung der Deklaration von 1789
alle natürlichen Rechte der Verfügung des Gesetzgebers unterwirft. Die
französische Erklärung kennt auch nur imprescriptibles natürliche Rechte,
wendet sich also nur gegen das historisch gewordene feudale System, das
Gesetz selbst kann alles verbieten, was dem Gesetzgeber als schädlich er-
scheint, vgl. Art. 5 der Deklaration. Demgegenüber kennt die Virginia-Er-
klärung Art. 1 "inherent rights, of which when they enter into a state of
Der Rechtsbegriff der Freiheit 27

Recht ist also der vernünftige Kompromiß, in welchem die tunliehst


weitr·eichende Ungebundenheit aller wechsels·e itig .garantiert wird.
Dieses Freiheitsverständnis hätte beinahe im Grundgesetz eine ver-
spät·ete Wiroemuferstehung erlebt, denn Art. 2 Abs. 1 des Herren-
chiemseer Entwurfes ·zum Grundgesetz lautete: "Jedermann hat die
Freiheit, innerhalb der Schranken der Rechtsordnung und der guten
Sitten alles zu tun., was anderen nicht schadet." In diesem Satz haben
wir die beiden Grundelemente der Freiheitsauffassung der Aufklä-
rungszeit, einerseits die Freiheit als Ungebundenheit, andererseits
Recht und Staat als ein notwendiges Übel. Dieser Individualismus
des Aufklärungsdenkens steht aus seiner inneren Dialektik heraus
ständig in d't!r Gefahr, in den Kollektivismus umzuschlagen. Ist näm-
lich Freiheit bloße Ungebundenheit, die soweit reicht, als andere nicht
betroffen werden, so hört die Freiheit dort auf, wo sich das Interesse
eines anderen zu Worte meldet. Leider ist aber keine so.zial bedeut-
same L•ebensäußerung irgendeines Menschen denkbar, welche nicht
einem anderen tatsächlich unerträglich werden könnte. Der bloEe In-
div1dualismus liefert also kein Prinzip, vermöge dessen man zwischen
den Rechten des -einen und des anderen Individuums unterscheiden
könnte. Dazu lwmmt, daß der großen Mrehrheit der Mensch-en j-ede
Ungleichheit ·unerträglich ist, sei es die wirtschaftliche, sei es die reli-
giöse, sei ·es die bildungsmäßig·e. Die Große Revolution schreibt auf
ihre Fahne die Gleichh-eit und ihr Prophet Rousseau, d-er mit der in-
div1dualistisch verstandenen Freih•eit anfängt, hört mit dem totali-
tären Zwang auf. Denn sein absoluter Gemeinwille entbehrt der be-
grifflichen Grenze, seine religwn civile unterdrückt mit absoluter In-
toleralliZ d1e historischen Religionsformen und das persönliche Ge-
wissen. Und darin erweist sich nur der inneve Zwang des folgerichtig
durchgeführten Grundgedankens, so draß die Freiheit in der Gl-eichheit
wieder runtergeht, daß die französische Nation aus d-er Revolution
erst in di-e totalitär-e Terrorherrschaft der Jakobin-er taumelt, dann
unter die Militärdiktatur des großen Führers, damals Napoleon ge-
nannt, gerät. Gegen diese Herrschaft erhob sich dann ganz Europa,
und d-er damals entfacllt-e innere geistige Streit ist auch heute in
Frankreich noch nicht zur Ruh-e gekommen.
2. Dies-es geschichtliche Erlebnis hat Deutschland ganz besonders be-
troffen, weil s·eit 1795 das linksrheinische Deutschland, seit -etwa 1800
das übrige West- und Süddeutschland, seit 1807 auch Norddeutschlra nd
eine lange und harte Zeit der Fremdherrschaft bis 1814 erleben mußte.

society, they cannot by any compact deprive or divest their posterity".


Nur die Virginiaerklärung ist konsequent liberal gedacht. Die französische
Erklärung enthält keine Sicherung gegen den Totalitarismus, was sich be-
reits in der Jakobinerherrschaft gerächt hat.
28 Freiheitliches oder kollektivistisches Strafrecht

So siegt im Bewußtsein der Nation die Grundauffassung der deutschen


klassischen Philosophie und Dichtung, die in Auseinandersetzung mit
und in Überwindung der Aufklärung -eine gänzlich andere Antwort
auf die Freiheitsfrage zu geben wußte4 • Freiheit ist mehr als das Recht,
die individuelle Lebendigkeit auszuleben, sie ist in ihrem Kern selbst-
verantwortlicher Dienst an dem überpersönlichen Humanum als
einem übergeordneten Wert, der zugleich die Person begründet. Die
Menschheit in der eigenen Person, also nicht das Individuum muß nach
Schiller dem Menschen heilig sein. Gerade dieser überpersönliche, den
Einzelnen verpflichtende Wert ist die unbezwingliche Bastion der Frei-
heit. Indem der Einzelne diesem Wert dient und nur, indem er ihm
dient, wird und ist er freie Person und kann zwar tatsächlich, aber
nicht prinzipiell durch die anderen in dieser Freiheit beschränkt wer~
den, da die übrigen zum gleichen Dienst berufen sind. In der Freiheit
wird damit immer die Gemeinschaft mitgedacht, Gemeinschaft und
frei•e Persönlichkeit sind sich wechselseitig Existenzvoraussetzun.g, da
sie beide die Verwirklichung freien Menschentums, der Menschen-
würde als sittliche Aufgabe zum Ziele haben. Erst in der freien sitt-

4 Die Gedankenentwicklung enthält drei Momente.


a) Am Anfang steht der Begriff der Freiheit als Autonomie, also als Selbst-
gesetzgebung der unter dem Sollen stehenden praktischen Vernunft.
Dieser Gedanke stammt von Kant. Das ist oft dargestellt, am besten
wohl von Richard Kroner, Von Kant bis Hegel, Bd.l, 1921, S.172 ff. Als
Quellenbeleg genügt hier Metaphsik der Sitten (Vorländer 3. Aufl.),
S. 214 f. Kant spricht dort deutlich aus, daß die Freiheit nicht als natür-
liche Willkür gedacht werden darf, sondern nur als die durch die reine
Vernunft bestimmte Willkür. Dies bedeutet nach Kant die Unterwerfung
der Maxime jeder Handlung unter die Bedingung der Tauglichkeit dieser
Maxime als allgemeines Gesetz. Kant denkt also die Freiheit von vorn-
herein nicht als gestaltlose Willkür, das Gesetz ist keine bloße Ein-
schränkung d er natürlichen Freiheit, sondern es ist die Voraussetzung
jeder denkbaren Freiheit. Das Recht ist also nicht etwa der Kompro-
miß zwischen Willkür und sozialer Notwendigkeit, sondern Gestalt-
werdung des sonst gestaltlosen sinnleeren Lebens. Diese Auffassung
entspricht vorzüglich den heutigen anthropologischen Einsichten von der
Unbestimmtheit der menschlichen Struktur.
b) Daß damit die Freiheit an der Anerkennung eines übergeordneten Wer-
tes hängt, kommt in der Fortbildung der Kautischen Gedankengänge
durch Schiller zum Ausdruck. Es ist die Menschheit in der Brust des
Menschen, die dem Einzelnen h eilig sein muß. Diesen Gedanken hat
Schiller so vielfältig ausgeführt und im deutschen Volk zu einer Art
Religion gemacht, d aß Belege w eder möglich noch erforderlich sind. Ein
Nachhall dieses Gedankens findet sich auch bei Fontane, wenn er sagt,
daß auch den freien Seelen das feste Gesetz das liebste sei.
c) In der Romantik entsteht notwendig die Problematik von Menschheit und
Nation. Die Nation ist in diesem Zusammenhang eine Individuation d es
Geistes der Menschheit, also ein historisches Gebilde. Der Nationalismus
bestand darin, die Nation zu verabsolutieren und ihre Historizität zu
leugnen. Über die Historizität der Nation vgl. Strafrecht d. D. Volkes
S. 5, Anm. 15.
Der Rechtsbegriff der Freiheit 29

liehen Selbstverantwortung gewinnt auch die naturhafte individuelle


Lebendigk<eit sicheren Halt.
An die Stelle des Naturrechts des Individuums als eines individu-
ellen Vernunftwesens tritt also das Naturrecht der transzendentalen
Person, an die Stelle des bloßen Individualismus tritt der Personalis-
mus. Dieser Zusammenhang läßt sich bereits in der Rechtsphilosophie
Immanucl Kants deutlich zeigen. Indem Kant "das moralische G€setz
in mir", den "kategorischen Imperativ" zum Gmndprinzip nicht nur
seiner Sitten-, sondern auch seiner Rechtslehre macht, gründet er
Freiheit und Gemeinschaft auf den gleichen Wert, eben auf das mora-
lische Gesetz. Kant räumt ausdrücklich ein, daß Behagen, Glückselig-
keit und Ungebundenheit im vorrechtliehen Rechtszustand besser ge-
deihen möchten als in der Rechtsgemeinschaft. Aber der Mensch muß
nach Ansicht Kants in der Rechtsordnung leben, um seine sittliche Be-
stimmung zu erfüllen. In der Tat gibt es sittliche und rechtliche Selbst-
verantwortung nur als Verantwortung zugleich vor anderen und für
andere. So ist Freiheit nur in der gesetzlichen Ordnung denkbar - das
Gesetz wird aus einer Beschränkung der Freiheit nicht nur zum
Garanten, sondern sogar zur Quelle der Freiheit, wenn anders Schiller
Kant richtig verstanden hat. Die Freiheit wird zur selbstverantwort-
lichen Teilhabe an dem alle bindenden Gesetz. Damit ist zugleich eine
Persönlichkeitssphäre dem Menschen unbedingt garantiert, eben jene,
w elche ihm diese Selbstverantwortung ermöglicht, allerdings nur diese,
aber diese unbedingt auch gegenüber dem Gemeinwillen, während die
volonte generale Rousseaus prinzipiell allmächtig und total ist. Die
Fortentwicklung vom subjektiven Idealismus Kants zur Staats- und
Rechtslehre Hegels erklärt sich dann einfach aus Hegels Erkenntnis,
daß der Mensch in der Wirklichkeit in der dialektischen Spannung
zwischen objektivem und subjektivem Geist lebt, so daß darum schon
auf dem Boden der Kantischen Rechtslehre Recht und Staat etwas
objektiv Heiliges sind5.
Die mit Kant begonnene Wendung des deutschen Geistes hat unser
Volk auf einen besonderen Weg geführt. Die anderen sind den Weg
des 18. Jahrhunderts weitergegangen oder haben doch dessen Ver-
lockungen vielfach wieder nachgegeben. Im Freiheitsbewußtsein na-
mentlich des französischen Geistes steckt immer etwas vom revolutio-
nären Pathos, vom Protest gegen die objektiven Ordnungen. In
Deutschland will nicht "links" s·ein, wer geistig auf sich hält, viel eher
5 Wer Hege! für die Entwicklung zum Kollektivismus verantwortlich
machen will, weil er den Grund des subjektiven Geistes in dem objektiven
Geist - d. h . zuletzt Gott - aufzeigt und andererseits die ungeht!ure Macht
des Allgemeinen und d es Kollektiven als erster gesehen hat, macht den
warnenden Propheten für das Unheil verantwortlich, in welches der Indi-
vidualismus blind hineinrennt.
30 Freiheitliches oder kollektivistisches Strafrecht

etabliert sich die politische Linksopposition als die wahre geistige


Rechte. Diese deutsche !Eigentümlichkeit hat oft Befremden hervor-
germf. Namentlich Hegel hat man der Staatsvergottung bezichtigt, was
nur mit Hilfe eines argen Mißverständnisses möglich ist. Aber g·erwiß
ist, daß der liberalkonservative deutsche Staat vor dem Zeitalter der
Weltkriege die Mensch·en allzu vorbehaltlos in den Dienst an den
überlieferten Ordnungen rief, daß er manchmal allzuviel reglemen-
tierte, gebot und verbot. Man sah Dienst und Freiheit zu schnell in
einem. Solche Fehlentwicklungen, die übrigens nur Teilbereiche des
Lebens betrafen, besagen aber nichts gegen die Wahrheit des Grund-
gedankens. Wer den liberalkonservativen Staat noch erlebt hat, weiß,
daß er trotz aller seiner Mängel eine bisher in aller Welt unvergleich-
liche Freiheit sittlicher Selbstverantwortung zugestanden und ermög-
licht hat. So sehr wir Deutscll.e uns vor Selbstüberhebung hüten müs-
sen, die nicht nur uns in so schPeckliches Unglück gestürzt hat, so ge-
wiß müssen wir die Wahrheit bekennen, die nun einmal im deutschen
klassischen Denken als der letzten großen Blüte des europäischen
Geistes bewuEt geworden ist. Hitler ist kein Nachfahre des deuts·chen
Idealismus, er bereichnet vielmehr den Umschlag aus dem späteren
naturalistiscll. verstandenen Individualismus in den Kollektivismus.
Mit der selbstverantwortlichen Freiheit gewährt der freiheitliche
Staat zugleich die Möglichkeit zur Willkür. Um es ganz pal'adox und
um so eindringlicher zu sagen: Freiheit als Freiheit der sittlichen
Selbstverantwortung g-ewährt nicht nur doer individuellen Lebendigkeit
Raum, sondern si-e ist ganz wesentlich auch Freiheit zum Mißbrauch
der Freih-eit, ja geraderu die Freiheit zum Bösen. Darin liegt nicht
etwa ein innerer Widerspruch. Zwar ist Freiheit als Autonomie, als
Selbstgesetzgebung etwas ganz anderes als Willkür, aber die Freiheit
der Selbstv-erantwortung schließt die Möglichkeit der Willkür ein. Ich
hätte nicht di-e Freiheit, das Rechtsgebot zu erfüllen und das Gute
zu tun, w-enn ich ohne weiteres gehindert werden könnte, das Böse zu
tun, oder jederzeit überwacht und gelenkt würde, um das Gute zu tun.
Nur das Gute, was frei getan ist, ist wahrhaft fruchtbar, nur aus dem
Guten, das frei getan ist, erwachsen Recht und Freiheit eines Volkes.
II. Der personalistische Freiheitsbegriff und das Strafrecht. Der pe r-
sonalistische Rechts- und Freiheitsbegriff wurde :zrur Grundlag·e des
klassischen Strafrechtssystems, das sich um 1800 in ganz Europa durch-
setzte. Kant hat eben doch nur den prinzipiellen Standpunkt des da-
maligen europäiscll.en Denkens am klarsten und tiefsten formuliert.
Diese ältere, im tiefePen Sinn klassische Theorie empfing aus den
Händen der Aufklärung ein Strafrecht, das bereits humanisiert und
rattonalisiert war, desse n polizeistaatliche Tendenz·en aber schon da-
mals zum Kollektivismus drängten. Gerade um der Freiheit willen
Der Rechtsbegriff der Freiheit 31

gründete die klassische Theorie das Strafrecht auf deru Gedanken der
sühnenden Vergeltung. Die philosophische Deduktion hat von Kant
bis Hege!., die Strafrechtstheorie der Strafrechtslehrer hat von Klein-
schrod über Feuerbach bis Köstlin mancherlei Wandlungen durchge-
macht, deren Einz·elheiten wir hioer nicht verfolgen können. Wir heben
an diesen Gedankengängen nur hervor, was für uns heute wesentlich
ist und verwenden Formulierungen, wie sie uns heute angehen.
1. Der Verbrechensbegriff: Ist Freiheit selbstverantwortliche T-eil-
habe am Gesetz, welches dem gestaltlosen Leben Gestalt und Form
gibt, so verpflichtet das Rechtsgebot die Person sittlich im Gewissen,
und ·es kann nicht Aufgabe des Einzelnen sein, seine subj-ektive Ethik
zu erfinden. So fordert gerade der Personalismus - im Gegensatz zum
bloßen Individualismus - vom staatlichen Gesetz autoritative Ent-
scheidung über Wert und Unwert sozialen Handelns, er erachtet es als
legitime Aufgabe des Strafrechtes, Werttafeln aufzurichten. Inwieweit
das Naturrecht ein etwa fehlsames positives Gesetz aufhebt, ist eine
besondere F:vage und ist hier nicht zu erörtern. Das strafrechtliche Un-
r·echt ist also wesentlich Entgegensetzung des 1E inzelwillens ·geg>en den
objektiv gültigen Allgemeinwillen. Mit dem Bruch der verpflichtenden
Ordnung zerstört der einzelne Mensch sich selbst als Person. Das Ver-
brechen geht also über eine bloße Inreressenbesch.ädigung weit hinaus.
Mag all dies auch erst bei Hege! ganz klar werden, nur diese Grund-
auffassung rechtfertigt den pathetischen Ernst, mit dem Kant die Be-
strafung des Verbrechens fordert: " ... denn wenn die Gerechtigkeit
untergeht, hat oes keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben."
2. Lehre von der Strafe: Gehorcht der Einzelne dem Ges·etrz als
freier Mann, so muß es auch ihm überlassen bleiben, den We.g zum
Rechten und Guten aus eigener Kraft zu gehen. Der Satz, es sei besser
Verbrechen zu verhüten als zu strafen, wird also falsch, wenn die
Verhütungsmittel die freie sittliche Selbstverantwortung ausschalten.
Die Freiheit besteht ganz wesentlich darin, nicht überwacht zu wer-
den, eine liberte surveillee ist ein hölzernes Eisen. Erst wenn der Täter
seine Freiheit mißbraucht hat, verfällt oer nachträglich der gerechten
Strafe. Natürlich haben weder Kant noch Hege! bestritten, daß die
praktische Strafrechtspflege zu allen Zeiten dem Zweck der Ver-
brechensverhütung gedient hat, nur sehen sie den Rechtsgrund oder
den Sinn oder das Wesen der Strafe allein in der gerechten sühnenden
Vergeltung. Der Täter "muß vorher strafbar befunden sein, ehe noch
daran gedacht wird, aus dieser Strafe einig-en Nutzen für ihn selbst
oder seine Mitbürger zu ziehen" (Kant). Rechtsgrund und Zweck der
Strafe sind also str·eng zu scheiden, ni-emals kann der erlaubte und
vernünftig>e Präventionszweck die Strafe rechtfertigen.
32 Freiheitliches oder kollektivistisches Strafrecht

Insoweit die klassische Theorie die relative Strafrechtstheorie ver·


wirft, ist ihre Argumentation auf dem Boden freiheitlichen Denkens
unwiderleglich. Denn es ist nahezu ein analytischer Satz, daß der
Mensch zum b1oßen Mittel erniedrigt wird, wenn man den PräVten-
tionsgedanken zum Rechtsgrund der Strafe macht.
Sehr viel problematischer ist die positive Begründung der klassi-
schen Vergeltungstheorie6 • Zwar halten die Deduktionen Kants und
Hegels einer immanenten Kritik durchaus stand. Aber alle philoso·
phischen Versuch·e, die Strafe rational oder auch im höheren Sinn ver-
nünftig zu begreifen, stoßen sich an der Tatsache, daß die Strafe
immer etwas Schreckliches ist und bleibt, und lassen daher einen Rest
übrig, in dem das eigentliche Wesen der Sache steckt. Der Gedanke
der Sühne weist eben auf die wesenhafte Entgegensetzung von Gut
und Böse und damit auf einen transzendenten Gesetzgeber, der schließ-
lich allein über Gut und Böse entscheidet. So hängt der Rechts· und
Freiheitsbegriff der deutschen klassischen PhiLosophie an einer trans-
zendenten Überwelt. Dies wäre viel deutlicher auch in der Zeit des
Klassizismus hervorgetreten, wenn damals schon die Frage gelautet
hätte: "Soll die Strafe abgeschafft und durch ein anderes Sanktions-
system ersetzt werden?" Anders ausgedrückt, auf die Einwände Tol-
stois gegen die staatliche Strafe haben die Klassiker noch keine Ant-
wort bereit.
3. Der rechtspolitische und kriminalpolitische Erfolg des klassischen
Strafrechts war außerordentlich groß. Endlich gelang es, die Willkür
der Justiz zu bändigen und sichere rechtsstaatliche Zustände zu schaf-
f•cn. Aber auch das generalpräventive Ergebnis war von überzeugender
Kraft. Das willkürlich·e polizeistaatliche Strafrecht des 18. Jahrhunderts
hatte sich vergebens bemüht, mit dem Gaunerunwesen und den Räu·
herbanden des 18. Jahrhunderts fertig zu werden. Man muß sich dar-
über klar sein, daß. Räuberbanden, wie sie Friedrich Schiller dar-
stellt, nicht etwa der erhitzten Phantasie eines begabten Gymna·
siasten entsprungen sind, Phantasie war nur die Idealisierung. Dem
neuen rechtsstaatliehen System gelang die Befriedung, trotz der durch
die napoleonischen Kriege aufgewühlten Leidens·c haften, nahezu spie-
lend. Diese Wohltaten ließen lange vergessen, daß die sozialen und
kriminalpolitisch·e n Probleme ungelöst blieben, welche die Speziai-
präventionstheorien der Aufklärung bereits einmal deutlich gesehen
hatten. Das liberale Strafrecht des· 19. Jahrhunderts lehnte jede Spe·
6 Es mag zweifelhaft erscheinen, ob der Vergeltungsgedanke als ein kate-
gorischer Imperativ von Kant wirklich korrekt aus seinem System abge-
leitet worden ist. Dafür neuerdings Naucke, Kant und die psychologische
Zwangstheorie Feuerbachs, Kieler Abh. H. 3. Gewiß ist aber, daß das trei-
bende Motiv der Straftheorie Kants der Freiheitsgedanke ist. Vgl. dazu
Strafr., Allgem. Teil, § 6 III-2.
Der Rechtsbegriff der Freiheit 33

zialprävention - abgesehen von dem als selbstverständlich unter-


stellten Gedanken des Besserungsvollzuges - überhaupt ab und
führte die im 18. Jahrhundert begonnenen Versuche, ein kriminelles
Präventionsrecht zu entwickeln, nicht weiter. Ist es nämlich das Wesen
der Freiheit, nicht überwacht oder gelenkt rrn werden, so wird jede
Form der Spezialprävention verdächtig. Grolmann, der v·ereinsamte
Verfechter der Spez1alpräventionstheorie, stellt um 1800 die resignierte
Frage: "Sollte es wirklich kein Zwangsrecht zur Prävention geben?"
Das klassische Strafrechtssystem begreift eben den Menschen ganz all-
gemein als Vernunftwesen und jeder Mensch - abgesehen vom Gei-
steskranken und vom Kind - gilt schlechthin gleichermaßen als sol-
ches. Kriminologisch gesprochen heißt das, daß das liberale Strafrecht
nur einen Tätertypus kennt, nämlich den Tätertypus des vollverant-
wortlichen Menschen. Die natürlichen Unterschied·e, die Hemmungen
und Beeinträchtigungen der Entsch·e idungsfreiheit, wie sie bei vielen
a-typischen Tätern aus allerlei Gründen auftreten, werden vernach-
lässigt. So hinterLäßt das klassische Strafrechtssystem ein ungelöstes
kriminalpolitisches Problem.
III. Der Naturalismus. In der naturalistischen Neuaufklärung seit der
Mitte des vorigen Jahrhunderts z.erbricht die Herrschaft der klassi-
schen Strafrechtstheorie, weil die tragende transzendente Grundlage
nicht mehr überzeugt und weil die zurückgelassenen spezialpräven-
tiven Probleme ungelöst geblieben waren.
1. In dieser Zeit will sich auch das deutsche Denken aus dem Himmel
der Transzendenz - wie man meint - auf die Erde der positiven
Tatsachen zurückziehen. So verliert die klassische deutsche Philosophie
ihre Macht über die führenden Geister. Die Menschheit will sich nun
von allen .metaphysischen Bürd<en befreien, welche sie im religiösen
Zeitalter so hart gedrückt haben. Nicht umsonst wivd in dieser Epoche
mit Emphase betont, daß das Recht nur um der Menschen willen da
sei, nur auf eine äußere Ordnung abziele. Freiheit wird als Freiheit
von der transzendenten Überwelt verstanden7 • Nur so läßt sich die
Leidenschaft erklären, mit der man sich zu dem trostlosen kausal-me-

7 Es kommen hier zwei sehr wirksame Motivreihen in Betracht. Einmal


besteht die geistige Leistung der Aufklärung gerade in der Unterscheidung
der einzelnen Kulturgebiete. Die unmittelbare Abhängigkeit der weltlichen
Wissenschaft von der Theologie hemmte das freie Erkenntnisstreben. Hand
in Hand mit dieser Verselbständigung des weltlichen Denkens geht aber
die Ablehnung des äußeren Religionszwanges, dessen Scheußlichkeit sich
in den Religionskriegen gezeigt hatte. Den Liberalen des 19. Jahrhun-
derts, wie Franz v. Liszt, ist der leidenschaftliche Haß eines Voltaire gegen
die Kirche fremd geworden. Den Druck einer metaphysischen Überwelt
empfinden sie aber noch mit einer leidenschaftlichen Sorge, welche sich
die gegenwärtige Generation kaum noch vorstellen kann. Der Mißbrauch
des Heiligen war eben zu arg gewesen.

3 May4:!r. Strafr~tsr~form
34 Freiheitliches oder kollektivistisches Strafrecht

chanischen Weltbild bekennt. Man ist folgerichtig genug, den Begriff


der Freiheit als "metaphysisch" zugleich mit der Unterscheidung von
Gut und Böse über Bord zu werfen. Die Freiheit wandelt sich z.ur nor-
malen Determinierbarkeit, der ethische Begriff des Guten wird durch
den der Zweckmäßigkeit ersetzt. Zugleich wendet sich die moderne
Strafrechtsbewegung mit Entschiedenheit spezialpräventiven Proble-
men zu. Wer allerdings sich mit den Arbeiten der modernen Schule,
insbesondere Franz v. Liszts, näher beschäftigt, kann kaum ernstlich
daran zweifeln, daß nicht etwa praktische kriminalpolitische Erfah-
rung, sondern die naturalistische Weltanschauung die eigentliche
Wurrel des seinerzeit modernen kriminalpolitischen Zweckdenkens ist.
Die Kriminologie stand noch in den allerersten Anfängen, die philo-
sophische Deduktion leuchtete auch in diesem Fall der empirischen
Forschung vor.an.
Die Abkehr vom Idealismus bedeutet aber nur scheinbar eine Rück-
kehr zum Individualismus der Aufklärungszeit. Denn inzwischen hatte
sich eine gewaltige Änderung vollzogen, welche sich freilich in der
Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts schon angekündigt hatte. Für den
Individualismus der Aufklärung war der Mensch immerhin "Vernunft-
wesen" und damit als Einzelner Träger eines absoluten Wertes, der
den Staatseingriffen Schranken setzte. Der Individualismus des natura-
listischen Zeitalters begreift den Menschen aber nur als Naturwesen 8 ,
als bloßes Exemplar der Gattung Mensch. Deshalb tritt an die Stelle
des Ideals der Freiheit das Ideal des Fortschrittes. "Impavidi pro-
grediamur" ist die Losung, in der sich die geistige Jugend, etwa Schü-
ler Häckels in Jena, darunter ein Gerhart Hauptmann, zusammen-
findet. An die StelZe des Naturrechts des individuellen Vernunftwesens
oder des Naturrechts der transzendentalen Person tritt das absolute
Naturrecht der Gattung. Denn wenn der Mensch nur Naturwesen, nur
Exemplar seiner Gattung ist, kann der Selbsterhaltungs- und Lebens-
und Betätj,gungstrieb des Einzelnen nur solange und insoweit Berech-
tigung haben, als er mit dem Selbsterhaltungsrecht und dem Entwick-
lungsrecht der Gattung :m1sammenfällt. Zu ·diesem absoluten Natur-
recht der Gattung hat Franz v. Liszt, als der maßgebende Strafrechts-
theoretiker seiner Zeit, sich unmißverständlich bekannt, indem er sich
Iherings Thes-e zu eige n machte: "Das Recht ist nichts anderes als der
vernünftige, seines Zweckes bewußt gewordene Trieb der Selbst- und
Arterhaltung." Das Recht ist somit die vernünftige, an Regeln ge.bun-

8 Methodisch sehr klar Ferri, a.a.O., S. 26: "Wenn die allgemeine Anthro-
pologie nach Quadre-Fages die Naturgeschichte des Menschen ist wie die
Zoologie die der Tiere, so ist die Kriminal-Anthropologie nichts anderes
als die Wissenschaft von einem einzelnen Typus oder einer Varietät des
Menschen, sie ist also die Naturgeschichte des Verbrechers, ..."
Der Rechtsbegriff der Freiheit 35

doene und insofern maßvolle Gewalt9 • Diese Gewalt dient dem Leben
der Gattung im iEinzelnen, aber auch notfalls gegen den Einzelnen.
Damit ist das Rechtsprinzip des totalitären Staates ausgesprochen.
Aus dieser Grundauffassung folgt, daß es Freiheit nur als Ungebun-
denheit, als bloßes Belieben geben kann, eben um der individuellen
Lebendigkeit willoen. Diese Freiheit tritt aber dann im Ernstfall vor
dem Interesse der Gattung rurück. Die Freiheit als sittliche Selbst-
verantwortung dagegen muß in das Wolkenkuckucksheim des Idealis-
mus verwiesen werden, denn so etwas kann das Exemplar der Gattung
Mensch nicht haben. Ebenso ist es begrifflich unmöglich, einen Men-
schen für seine Taten v·e rantwortlich .zu machen. Was für die Gattung
schädlich, was erhaltungs- oder entwicklungswidrig ist, muß entweder
geheilt oder beseitigt werden.
2. Die strafrechtlichen Folgerungen dieser Grundauffassung sind nur
selten in vollem Umfang gezogen worden.
Konsequent wäre es gewesen, auf den Begriff der Strafe überhaupt
zu verzichten. Jedoch hat die neuklassische Schule im Schulenstreit
erfolgreich nachgewiesen, daß die überlieferte Strafe für Staat und
Gesellschaft unentbehrlich sei, obgleich diese Schule selbst um 1900
weitgehend dem naturalistischen Ansturm erlegen, also der eigentlich
klassischen Theorie entfremdet war. Bezeichnend ist hier besonders
die Haltung Naglers, der in seinen Arbeiten über Strafe und Ver-
brechensprophylaxe die Unentbehrlichkeit der Strafe naturalistisch
oder aus der praktischen Rechtserfahrung begründet. So fand sich die
mod·erne Schule um 1910 damit ab, daß die Zeit für die Abschaffung
der Strafe noch nicht reif sei. Sie duldete die Strafe nur wegen ihrer
in der gegebenen historischen Situation noch zu bejahenden Zweck-
mäßigkeit.
Neben dieses Stmfrecht wird nun ein System krimineller Zweck-
maßnahmen g·estellt; es kommt zu dem von Stooß erfundenen Kom-
promiß der Zweispurigkeit. Zweispurigkeit bedeutet begrifflich, daß
derselbe Weg zum selben Ziel auf einer nebenher laufenden Spur ver-
folgt wiro. Auch die Fahrzeuge, die auf beiden Spuren fahren, pflegen
sich zu gleichen. In der Tat sehen die kriminellen sichernden und
bes&crnden Maßnahmen der Strafe so ähnlich, wie ein Ei dem anderen.
Das Prinzip der Zweispurigkeit proklamiert demnach schon in seinem
Namen den EtikettenschwindeL
Vom naturalistischen Standpunkt aus sind grundsätzlich alle frei-
heitsbeschränkenden Maßnahmen gegen den Kranken oder Schäd-
ling unproblematisch, welche durch die Zwecke der Gesellschaft ge-
fordert werden. Es bedarf keines weiteren Rechtsgrundes als der ge-
sellschaftlichen Notwendigkeit oder nur der Zweckmäßigkeit. Der
heutige Leser ist manchmal überrascht von der theoretischen Bru-

3.
36 Freiheitliches oder kollektivistisches Strafrecht

talität, mit der überwiegend nur vom Gesellschaftsschutz und so wenig


vom Eigenrecht des betroffenen Menschen die Rede ist. tEs ist richtig,
daß damals die theoretischen Kons·equenzen aus dem naturalistischen
Grundgedanken noch nicht gezogen wurdoen, weil die freiheitlichen
Überlieferungen noch standhielten. Aher dies ist nur der Erfolg einer
glücklichen Inkonsequenz. Zu diesen glücklichen Inkonsequenzen ge-
hört es, wenn v. Liszt den Satz nulla poena sine lege zur "magna
charta" des Verbrechers erklärt. Zwar schmeckt die Frucht der Frei-
heit immer süß, auch wenn sie am Baum der Inkonsequenz wächst.
Aber schließlich mußten sich einmal die Konsequenzen des natura-
listischen Grundgedankens drurchsetz·en. Dies geschah, als der National-
sozialismus den verhängnisvolloen Mut dazu aufbrachte.
Indem die klassische Schule überwiegend dem Kompromiß der
Zweispurigkeit von Strafrecht und Maßnahmenrecht zustimmt, gibt sie
den Grundgedanken preis, daß der Mensch nicht als bloßes Mittel ge-
braucht werden dürfe. Ein Denker wie Karl Beling10 trut es sogar aus-
drücklich. Nagloer11 macht in seinem "System der VerbrecheMprophy-
laxe" nicht immer die zaghaften Vorbehalte, die der "moderne"
Exner12 für nötig hält. Die Haltung Karl Bindings war bekanntlich zwie-
spältig. Während er sich in der berühmten Einleitung zu seinem
Grundriß für die Freiheit auch des Verbrechers einsetzt, ist er doch
Mitverfasser cf.er unglückseligen Schrift üher die Vernichtung lebens-
unwe rten Lebens1·3 . Erst mit der Gründung der deutsche n strafrecht-
lichen Gesellschaft im Jahre 1925 erfolgt im Bereich der klassischen
Sch1ule die entscheidende Wendung. Und es ist kein Zufall, daß jetzt
Oetker und Richard 'Schmidt besonders hervortreten. In den Grün-
dungsdokumenten dieser Gesellschaft ist die Gefahr, welche die Allein-
herrschaft kriminalpolitischen Zweckdenkens für die Freiheit bedeutet,
endlich klar erkannt14• Von diesem Zeitpunkt an ist der wissenschaft-

~ Vgl. v. L i szt, Der Zweckgedanke im Strafrecht, Aufs. u. Vortr., Bd. 1,


S. 126 ff., insbes. S. 150 = Marburg. Univ. Programm 1882, Z. Bd. 3, S. 1 ff.
10 Beling, Die Vergeltungsidee 1908, S. 75 ff., insbes. S. 78.
11 Nagler, Verbrechensprophylaxe und Strafr. 1911, S. 19.
12 Exner, Theorie der Sicherungsmittel 1911, S. 5.
13 Vgl. Karl Binding und Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung
lebensunwe rten L ebens ... 2.Aufl. 1922. Vgl. zu Binding Eberhard Schmidt,
Z. Strafr. 1961, S. 61 ff.
14 Vgl. Oetker, Gerichtssaal, Bd. 91, S. 321 f. Die Satzungen der Deutschen
Strafrechtlichen Gesellschaft sagen in § 1: "Die Deutsche Strafrechtliche Ge-
sellschaft steht auf dem Boden der geschichtlich bewährten und verfas-
sungsmäßig begründeten Rechtsstrafe und erachtet unter Ablehnung schran-
kenlosen richterlichen Ermessens zur Bekämpfung der Kriminalität neben
den Strafen und von ihnen geschieden vorbeugende Maßnahmen für ge-
boten."
Solche Satzungen entstehen im Wege eines Kompromisses. Viel deut-
licher sind die begründenden Ausführungen Oetkers. Seine Vorstellungen
über vorbeugende Maßnahmen werden an anderer Stelle zu erwähnen sein,
Die rechtspolitische Auseinandersetzung der Gegenwart 37

liehe Kampf um das Strafrecht ein Kampf um die Freiheit gew'orden,


der nur durch die nationalsorz;ialistische Gewaltherrschaft unterbrochen
wurde.

§ 4. Die rechtspolitische Auseinandersetzung der Gegenwart

Die gegenwärtige Situation ist folgendermaßen kurz zu charakteri-


sieren. Einerseits hat sich de facto das Präventionssystem neben der
Strafe im Kompromiß der Zweispurigkeit durchgesetzt, andererseits ist
die Freiheitsfrage zu der Menschheitsfrage schlechthin geworden, so
daß wir wiroer hellsichtig für die Gefahren jedes Präventionssystems
geworden sind1 •
I. Die Diskussion: Die zeitbedingte Versuchung zum Kollektivismus
ist im Staatsleben im allgemeinen und im strafrechtlichen Bereich im
besonderen so gefährlich, weil das moderne Recht soziale Aufgaben
lösen muß, die mit den Mitteln des alten Liberalismus tatsächlich
nicht bewältigt werden können. Daher erscheint vielen der im Schulen-
streit gefundene Kompromiß der Zweispurigkeit von Strafe und Maß-
nahme - also das Nebeneinander von personaler Verantwortung und
kollektivem Präventionszwang - als unvermeidlich. Ausgehend vom
Jugendstrafrecht und von den Maßnahmen g·e gen erwachsene Täter
engt dann das Pväventionsrecht das echte Strafrecht- und damit den
Bereich personaler Verantwortung - immer mehr ein. Dies betrifft
zunächst verwahrloste Jugendliche, dann die Jugend überhaupt, bis
schließlich die Lebensführung der Allgemeinheit in immer größerem
Umfange präventilver Überwachun·g unterworfen wurde. Die öffent-
liche Meii11Wlg ist sich nicht klar darüber, bis zu welchem Punkte
diese 1Entwicklung nkht nur im Strafrecht, sondern auch in der Sozial-
gesetzgebung bereits gediehen ist.

vgl. vor allem folgende Sätze Oetkers: "Zwei Welt- und Staatsanschau-
ungen liegen im Streit. Die eine erblickt in den Forderungen der Ethik
und den religiösen Vorstellungen, wie sie der suchende Menschengeist
im Laufe der geschichtlichen Entwicklung erfaßt, Grundpfeiler unserer
Kultur, hält fest an der individuellen Verantwortlichkeit nach dem Maße
der Einsicht des Menschen und seiner Widerstandskraft gegen Antriebe
zum Schlimmen, legt dem einzelnen nur bestimmt begrenzte Beschrän-
kungen im Interesse der Gesamtheit auf und sichert ihm einen breiten
Raum freier Betätigung, Die andere erklärt die überlieferte Ethik -
samt der Religion - die Ideen von Schuld, Zurechnungsfähigkeit, Sühne
für Vorurteile, die vor der modernen Wissenschaft in nichts zerflatter-
ten, rechnet nur mit den soziologisch erfaßten Begriffen des Schädlichen
und Nützlichen und beugt den einzelnen in seinem ganzen Tun und Lassen
unter die Zucht der allmächtigen Gemeinschaft."
1 Vgl. Jescheck, Das Menschenbild unser er Zeit und die Strafrechtsreform
1957, insbes. S. 15 ff.; Peters-Lang-Hinrichsen, Grundfragen der Strafrechts-
reform 1959, S. 96.
38 Freiheitliches oder kollektivistisches Strafrecht

J€doch ist auf strafrechtlichem Gebi€t €in w€sentlicher Fortschritt in-


sofern €rreicht, als das Problem in der wisS€nschaftlichen Diskussion
bewußt geworden ist und aus ihr nicht mehr verschwinden kann.
Zwar find€n sich noch harmlose Schriftsteller, W€lch!t! meinen, man
könn€ mit den kriminalpolitisch€n Zweckmäßigkeitserwägungen dort
W€iterfahr·en, wo die Sach€ stand, als di€ totalitär€ Drohung mani-
fest wurde. Das internationale kriminologische Colloquium in Frei-
burg i. Br.2 von 1958 legt aber ein unüberhörbares Zeugnis davon ab,
daß diese etwas harmlose Betrachtungsweise der Vergangenheit an-
gehört. Jedoch harrt die Frage noch ihrer gedanklichen Lösung.
Jean Grav€n3 hat in dem int€rnationalen Colloquium V€rwahrung
geg€n falsche Schlüsse eing€legt, die aus dem Gedanken einer sozialen
V€rteidigung g€zog€n werden könnten.
"Wenn man von den wissenschaftlichen Lehrmeinungen ausgeht, die
in der Zeit der Anfänge des Positivismus (Comte, Darwin und Spencer,
Ardigo u. a.) gegolten haben, so kann man kaum folgendem Syllogis-
mus €ntgeh€n: Jedes L€bew€sen, jeder soziale oder individuelle Orga-
nismus kämpft um seine eigene Existenz. Aus diesem Exisbenzkampf
folgt di€ Notwendigkeit, sich gegen jeden Angreifer zu verteidigen;
dabei ist, wie Spencer ~ezeigt hat, di€ ,Vert€idigungsreaktion' der Ge-
sellschaft gegenüber einem Angreifer, mag er von außen oder von
innen kommen, im Grunde immer die gleiche. ,D€r V€rbr€ch€r ist
nichts als €in Feind von inn€n'; der ,Krieg' geg€n ihn erw€ist sich
demnach als ebenso natürlich wi€ der Verteidigungskri€g gegen den
äußer>en F€ind und g€staltet sich zu €iner bewaffneten ,sozial€n Ver-
teidigung'; die ,Außerg€fechts€tzung' d€s Feindes, des Schuldigen, ,ist
das Ziel d€r Strafrechtspflege'."
Graven meint dann aber, dieser Schluß, wie ihn Spencer zieht, sei
falsch. Die terroristische Entartung des Strafrechts in D€utschland
unter d•em Nationalsozialismus und im Rußland Stalins foLge vielm€hr
aus der Logik des nationalsozialistisch·en od€r kommunistisch€n R€chts-
systems, das als Kampfrecht der kollektiven Abschreckung den poli-
tischen Zielen und Notwendigkeiten des Gewaltstaat€s dien€n soll€.
Daran ist sich€rlich wahr, daß jed€ Gewalth€rrschaft ihre Eigenges€tz-
lichk€it besitzt. Immerhin sollte der Verteidiger des Positivismus nicht
überseh€n, daß €rst der Positivismus di€ mod€rnen Form€n der Ge-
waltherrschaft in ihrer fürchterlich€n Totalität gedanklich und prak-
tisch möglich gemacht hat. Der totalitär€ Terror hat S€inen Ursprung
keineswegs in der älteren Anbetung d€s Staat>es als solch€n, denn
2 Internationales Colloquium über Kriminologie und Strafrechtsreform,
Freiburg 1958; vgl. auch Bettiol, Über den gegenwärtigen Stand der italie-
nischen Strafrechtswissenschaft, Z. B. 71, S. 483 ff.
3 Graven, a.a.O., S. 47 ff.
Die rechtspolitische Auseinandersetzung der Gegenwart 39

selbst die kurnlebige absolute Monarchie hat eine solche Gt!waltherr-


schaft nicht einmal angestrebt. Der Kommunismus erstrebt theoretisch
das Glück aller Menschen, d. h . die volle Befriedigung jedes Einzelnen
nach seinen Bedürfnissen. Nicht einmal der Nationalsozialismus, der
ein illegitimes, aber höchst natürliches Kind des positivistischen So-
zialdarwinismus war, gestand dem Staat den ·ersten Rang z.u, sondern
betrachtete ihn als bloßen Apparat im Dienst der Partei. Diese ihrer-
seits fühlte sich als Wortführerin der angeblich hochwertigen Men-
schenrasse, also zwar nicht aller Menschen, aber der angeblich lebens-
werten Menschen. Die Unmenschlichkeit beider Systeme entsbeht an
sich aus den Grundvoraussetzungen des Naturalismus, dessen absolutes
Naturrecht der Gattung konsequenterweise für erlaubt erklären
müßte, Menschen schlechthin nach den Zwecken anderer Menschen zu
-behandeln, also konsequenterweise auch soziale Parasiten - von den
Gt!isteskranken über die Gewohnheitsverbrecher, schwer erziehbare
Kinder, Asoziale (Zigeuner) - auszurotten. Die ·zusätzliche spezielle
Voraussetzung beider Gewaltherrschaften ist dann die wirklich durch-
geführte Unterscheidung zweier Menschengruppen, von denen die eine
lebensberechtigt, die andere durch die Zwecke der Natur oder des
Fortschrittes zum Untergang verurteilt ist. Vor dieser Unterscheidung
war das 18. Jahrhundert durch die Vorstellung von der Gleichheit der
Menschen als Vernunftwesen noch einigermaßen bewahrt4 • Der Gt!-
danlre der Ungleichheit der Menschen folgt aber .unvermeidlich aus
dem konsequenten Naturalismus. Denn die Vorstellung von der Gleich-
heit der Menschen widerspricht - nicht als ethischer Grundsatz, son-
dern als Seinsaussage genommen - eben jed·er empirischen natura-
listischen Erfahrung. Gerade der Kriminologe weiß, daß die Menschen
in ihrem sozialen Verhalten eben nicht gleich, sondern mindestens in-
folge ihrer Entwicklung höchst verschieden sind. Die Gleichheit alles
dess·e n, was Menschenantlitz trägt, gründet sich allein auf die Gleich-
heit der sittlichen Berufung aller Menschen, also auf ein letztlich meta-
physisches Prinzip. Wer in Deutschland mit klarem Bewußtsein die
Schrecken einer Gt!waltherrschaft miterlebt hat, ist verpflichtet, gegen
den verhängnisvollen Wahn anzukämpfen, als ob die modernen Ge-
waltsysteme ein Rückfall in urtümliche Barbarei seien, der in der
strahlenden Sonne naturwissenschaftlichen Denkens von selbst ver-
gehen müsse. Die Versuchung zur rationalen Zweckherrschaft über
Menschen mit allen schrecklichen Konsequenzen ist vielmehr in der
4 Insofern enthält der Gleichheitsgrundsatz der Menschenrechtserklärung
des 18. Jahrhunderts eine Garantie der Humanität, aber eben nur dann,
wenn die Gleichheit wesentlich als Berufung zu gleicher sittlicher Selbst-
verantwortung aufgefaßt wird. Faßt man dagegen den Gleichheitsgrundsatz
äußerlich, so vernichtet er die Freiheit, wie dies die geschichtliche Erfah-
rung wiederholt bewiesen hat.
40 Freiheitliches oder kollektivistisches Strafrecht

naturalistischen Wendung seit dem Rationalismus notwendig ent-


halten.
Um so mehr sind die Bemühungen der geistigen Bewegung, die sich
heute soziale VerteidigungS nennt, voll anzuerkennen. Denn sie hat im
Gegensatz zu mancllen harmlosen Gemütern die Gefahren des positi-
vistisch.en Staatsdenkens Wr die Freiheit der Menschen erkannt. Sie
hat immerhin herausgestellt, daß es sich niemals nur um die Verteidi-
gung der Gesellschaft handeln dürfe, sondern daß jede Maßnahme des
Staates, gerade auch jede kriminalpolitische Maßnahme vom betroffe-
nen Menscllen her gesehen werden müsse. Ob dieser Gedanke im Rah-
men der Defense Sociale philosophisch ausreichend begründet ist, steht
freilich dahin. Es reicht aber zunächst aus, daß der Mensch wenigstens
axiomatisch als Selbstzweck anerkannt wird. Dieses Postulat muß zum
Allgemeingut aller zivilisierten Völker, ihrer p ,a rl.amente und Regie-
rungen gemacht werden. Dazu bedarf es noch vieler Anstrengungen.
Der Kollektivegoismus des gesichert lebenden Bürgers ist nur allzu
bereit, die Sicherheit rücksichtslos mit dem Unglück abartiger, kranker
oder gescheiterter Menschen zu bezahlen, die angeblich sozial gefähr-
lich, in Wahrheit meist sozial hilflos sind. Tolstoi schießt mit seinem
g~merellen Verdammunggurteil übrer die Strafrechtspflege sicherlich
über das Ziel hinaus, aber daß das Gebot der Nächstenliebe in keinem
Bereich des S01ziallebens leichter vergessen wird als in dem der Kri-
minalpolitik, dies steht außer Frage.
Der von der sozialen Verteidigung vertretene Gedanke der Mensch-
lichkeit muß aber unterbaut werden durch den die Humanität erst
tragenden Gedanken der freien Verantwortung des Menschen. Ohne
Anerkennung der sittlich-rechtZiehen Freiheit der Person gibt es keine
Humanität. Die geistresgeschichtliche Situation der StJ:tafrechtstheorie
ist also gekennzeichnet durcll die Einsicht in die Gefährlicllkeit des
Zweckgedankens und die allgemein erhobene Forderung, daß im Straf-
recht oder Maßnahmenrecht die Person geachtet werde. In dieser Lage
hat der konsequente Verfechter des Freiheitsgedankens zwar noch
manche Vorurteile zu überwinden, aber sein Kampf hat Aussicht auf
Erfolg. Denn auf seiner Seite steht die geschichtliche Notwendigkeit.
II. Die rechtspolitische Entscheidung ergibt sich gewissermaßen von
selbst durch die geistesgeschichtliche Situation, sie ist außerdem po-
sitivrechtlich durch das Grundgesetz vorweg genommen. Zur perso-
nalen Freiheit als grundlegendem Axiom einer freiheitlichen Rechts-
ordnung muß sich heute jeder bekennen. Mag der Naturalist auch die
Freiheit nur als lebensnotwendige Fiktion begreifen, es genügt, daß er
5 Die fruchtbaren Gedanken der Defense sociale sind zu finden bei Mare
Ancel, La Defense Sociale Nouvelle, Edition Cujas 1954.
Die rechtspolitische Auseinandersetzung der Gegenwart 41

sie praktisch anerkennt. Allerdings darf die theoretische Schwäche


eines solchen axiomatischen Bekenntnisses nicht übersehen werden.
Theoretisch wird so das personale Selbstbewußtsein des Menschen in
das Versteck der gläubigen Innerlichkeit zurückgetrieben, obwohl es
doch am hellen Tage der harten staatlichen Realitäten wirken soll.
Aber es hieße Eulen nach Athen tragen, wollten wir zur Beweisfüh-
rung der großen idealistischen Rechtsphüosophi,e von Kant bis Regel
irgendetwas hinzufügen. Immerhin hat uns auch die neuere Entwick-
lung der empirischen Wissenschaften das volle Recht gegeben, den
Menschen als freie und verantwortliche Person zu betrachten, wie das
der Mensch immer von sich gewußt und d<urch sein praktisches Ver-
halten in Ethik, Recht und Staat bezeugt hat. Man kann die FI'eiheit
eben überhaupt nicht haben, wenn man das Reich des Geistes, das
dem Naturalismus als Metaphysik erscheint, leugnet. Wer die Freiheit
haben will, muß sie für möglich halten. Dies gilt gleichermaßen für
die politische Freiheit wie für die freie Persönlichkeitsgestaltung wie
für das freiheitliche Strafrecht. Alle ruhen auf dem Gedanken der
freien sittlichen Selbstverantwortung.
Beim Bonner Grundgesetz handelt es sich nicht lediglich um eine
Wiederholung der Weimarer Verfassung oder um eine Nachahmung
der westlichen Verfassungsentwicklung. Vielmehr steht das Grund-
ge&etz in der bewußten Tradition der Staatsvorstellungen des deut-
schen Idealismus und geht von hier aus wirklich einen verfassungs-:
rechtlich neuen Weg. Die Bundesrepublik ist namentlich nicht wert-
neutral, wie dies der Weimarer Staat gewesen ist, sondern erkennt
bestimmte, das Menschsein konstituierende, dem Staat vorgegebene
Grundwerte an. Das Grundgesetz ist keineswegs individualistisch, noch
weniger kollektivistisch, sondern es ist personalistisch. Die Person, d . h.
die zu sittlicher Freiheit beruf.ene Person, die durch überpersönliche
Werte konstituiert wird, ist der Ausgangspunkt des staatsrechtlichen
Denkens. Für das Strafrecht kommt namentlich in Betracht, daß als
Grundwert die Menschenwürde 6 bez.eichnet wii'd; d. h. also nicht etwa
6 Der Begriff der Menschenwürde läßt sich aus der Ideengeschichte her-
aus präzise umgrenzen. Auch dem Positivisten sollte einleuchten, daß die
Ersetzung des Herrenchiemseer Vorschlages durch Art.1 die Wendung vom
Individualismus zum Personalismus klarstellt. v. Mangoldt, der für diese
Entscheidung maßgebend war, war sich des Inhalts dieser Entscheidung klar
bewußt. Seine Erläuterungen zu Art. 1 in der 1. Auflage seines Kommentars
bringen nach seiner bescheidenen Art in sehr schlichter Form zum Aus-
druck, daß damit wirklich eine neue verfassungsgeschichtliche Stufe er-
reicht wird. Wenn Klein in seiner Überarbeitung die Grundsätzlichkeit der
Entscheidung bestreitet, weil auch das 18. Jahrhundert die Menschenwürde
im Auge habe, so ist das in dieser Form einfach falsch. Allerdings steht
das Grundgesetz hier nicht im "Gegensatz" zu den Erklärungen des
18. Jahrhunderts, sondern entwickelte diese Erklärungen fort. Geistesge-
schichtlich hat die klassische Philosophie die Erfahrungen der französischen
42 Freiheitliches oder kollektivistisches Strafrecht

das Belieben, das Glück des Menschen, sondern seine Berufung zur
Persönlichkeit. Wenn Worte einen Sinn haben, so ist Menschenwürde
eben das, was den Menschen von der Natur unterscheidet. Damit ist
aber der Kantische Satz aufgenommen, daß der Mensch "niemals bloß
als Mittel zu den Zwecken anderer gehandhabt werden darf, wowider
ihn seine .angeborene Persönlichkeit schützt". Setzen wir also die
Grundentscheidung für die Freiheit voraus, so haben wir an dieser
Stelle nur die wesentlichsten Konsequenzen zu nennen, die dann im
folg-enden 3. Abschnitt näher auszuführen sind.
1. Verboten ist, den Menschen für kollektive Zwecke zu gebrauchen;
jeder Eingriff in die substantiellen Rechte der Person, also in Leben,
Körper, Freiheit, Ehre bedarf daher eines diesen Eingriff rechtferti-
genden Grundes, der dann mehr und etwas anderes sein muß als der
Gedanke des kollektiven Nutzens. Dieser Satz gilt schlechthin für
jeden staatlich·en Eingriff, nicht nur für die Strafe. Er gilt insbeson-
dere .auch für ein etwaiges Recht krimineller Maßregeln. Die Frage,
inwieweit die Allgemeinheit echte Opfter vom einzelnen verlangen
kann, liegt auf einem ganz anderen Gebiet. In der Erfüllung des recht-
lich oder moralisch geschuldeten Opfers erweist und bewährt sich die
Persönlichkeit. Von einem solchen Opfer ist aber in dem Recht der
kriminellen Maßregeln offensichtlich nicht die Rede, sie werden viel-
mehr dem Betroffenen angetan. Ein Recht krimineller "Maßregeln",
mögen diese nun auf Sicherung oder Besserung abzielen, kann es also
überhaupt nicht geben, denn jedes solches Maßregelrecht mißbraucht
begrifflich den Menschen als Mittel für soziale Zwecke.
2. Die Strafe läßt sich - negativ gesprochen - nur auf den Ge-
danken der gerechten sühnenden Vergeltung gründen, will man die
Freiheit nicht antasten; die Strafe ist damit zugleich die einzig legi-
time Form unmittelbaren staatlichen Zwanges gegen den freien Mann.
Sollte die - positiv - von der klassischen Philosophie für das Ver-
geltungsrecht vorgebrachte Begründung nicht überzeugen, so könnten
wir uns scheinbar mit einer viel vertretenen Meinung auf die prak-
tische Unentbehrlichkeit der Strafe berufen. Aber die religiösen Gründe
Tolstois gegen jede Str:afe oder strafähnliche Maßnahmen sind sehr
ernst zu n•ehmen. Die Strafe ist nun einmal etwas Schreckliches, schein-
bar ein Böses, jede menschliche Gerechtigkeit ist fragwürdig. Nur ein
transzendenter Gesetzgeber kann der Obrigkeit das Strafamt ver-

Revolution verwertet, wie der heutige Gesetzgeber die Erfahrungen des to-
talitären Staates. Es ist hier nicht der Ort, auf die staatsrechtlichen Dis-
kussionen näher einzugehen. Sie leiden an dem Mißverständnis, als ob ein
Kompromiß zwischen Individualismus und staatlicher Notwendigkeit, d. h.
dem Kollektivismus, gefunden werden könne. Der Individualismus hat ge-
danklich und geschichtlich den Kollektivismus zur notwendigen Konsequenz.
:!'Tur der Personalismus entrinnt dem Dilemma.
Die rechtspolitische Auseinandersetzung der Gegenwart 43

leihen, wenn anders der Satz gültig sein soll: "Vergeltet nicht Böses
mit Bösem." Dieser Satz gilt aber nicht nur für den gläubigen Chris-
ten, sondern auch für die humane sittliche Vernunft. Der Vergeltungs-
gedanke kann also nicht als ein weltimmanent befriedigendes Prinzip
verstanden werden, das in abstrakter Reinheit durchzuexerzieren an
sich geboten wäre. Die Strafe bleibt immer eine Notmaßnahme. Sie
muß also alle wohltätigen spezialpräventiven Zwecke in sich aufneh-
men, soweit das mit der Gerechtigkeit der Strafe vereinbar ist. Es ist
daher von unserem Standpunkt aus unzulässiger Doktrinarismus, wenn
man unter der Flagge der Zweispurigkeit ein reinrassig gezüchtetes
Strafrecht ·einem irgendwie andersartigen Maßregelrecht gegenüber-
stellt, damit sich die beiden Spuren dogmatisch sauber trennen lassen.
Auch darin folg·en wir der richtig verstanden•en Vereinigungstheorie,
daß der Staat nur insoweit berechtigt ist, seine allzu menschliche und
fragwürdige Strafgerechtigkeit zu üben, als ihn die staatliche, d. h.
kriminalpolitische Notwendigkeit dazu zwingt. Gerade der Gedanke
sühnender Vergeltung drängt also zu äußerster Sparsamkeit im Ge-
brauch d•es schrecklichen Mittels der Strafe. Das gewissermaßen logi-
zistisch-ästhetische Bedürfnis nach einem architektonisch geschlossenen
umfassenden System strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes ist kein legi-
timer Grund, Menschen durch die Mühle der Strafrechtspflege zer-
mahlen zu lass·en. Den allgemeinen Güterschutz haben Privatrecht und
öffentliches Recht mit ihren Mitteln zu gewährleisten.
3. 1Es klingt weltfremd ·und doktrinär, wenn wir die Möglichkeit
eines Rechts krimim~ller Maßregeln überhaupt bestr·eiten, so weit diese
Maßregeln in die Substanz der Persönlichkeit eingr·eifen. Aber bereits
Kant hat sich gegen den Gemeinplatz des angeblich gesunden Men-
schenverstandes wehren müssen, daß in der Praxis richtig sein könne,
was in der Theorie falsch sei. In Wahrheit hat das bisherige Maßregel-
recht einen kaum noch wegzuleugnoenden Miß·erfolg erlitten. Wir
müssen aber das Problem nur richtig formulieren, um den Weg zur
Lösung :zru finden. Wenn es wirklich Menschen gibt, die zu freier
Lebensgestaltung im Sinne sittlicher Selbstverantwortung nicht fähig
sind, so heißt es, sie zur Freiheit zu verurteilen, nicht aber, ihve Frei-
heit rechtlich anzuerkennen, wenn man sie dem gleichen Personen-
recht unterwirft, das für den gesunden Durchschnitt gilt. Ebenso wie
der Unmündige unter fürsorgender Gewalt steht, ebenso darf man
grundsätzlich auch sozial hilflose Menschen unter wohltätige für-
sorgende Aufsicht stellen, damit sie nach dem Maße ihrer Fähigkeiten
ihr Leben unser dieser Aufsicht vernünftig gestalten können. In der
Tat ist dieser Gedanke in einer für den Str afrechtstheroretiker viel-
leicht überraschenden Weise im Sozialhilfgesetz § 72 anerkannt wor-
den. Es ist aber leichter, ein solches fürso rgendes Personenr echt als die
44 Freiheitliches oder kollektivistisches Strafrecht

Lösung der spezialpräventiven Probleme zu proklamieren, als es


denkerisch zu gestalten und gesetzgeberisch zu bewältigen. Dies zeigt
gerade das Sozialhilfegesetz. Zwar will § 72 nur "Hilfe" gewähren, auch
muß nach § 3 den Wünschen des Hilfsempfängers tunliehst entsprochen
werden. Es soll dem Hilfsbedürftigen zunächst daher nur "ge-
raten" werden, sich unter die Obhut eines Heimes ~u heg.eben. Befolgt
er diesen Rat nicht, so wird er eben doch praktisch verwahrt oder be-
wahrt, vgl. § 73. Wer vom Strafrecht herkommt, ist zudem überrascht
und erschreckt, welches Minimum an tatbestandliehen Voraussetzungen
für eine solche Maßnahme genügt. So können die Dinge also nicht
bleiben, daß die Strafrechtspflege nach immerhin justizi.ablen Tat-
bestandsvoraussetzungen durch Verwahrung eliminiert und die Für-
sorge ohne ausreichende Tatbestandsgarantien dem gleichen Personen-
kreis "hilft". Aber das Sozialhilfegesetz zeigt eben doch, daß der an
sich richtige Gedanke des fürsorgenden Personenrechts im Vor-
dringen ist.
Dritter Abschnitt

Kritische Folgerungen

§ 5. Kritische Folgerungen

Wir woll~n den ersten Teil dieser Schrift mit einer grundsätzlichen
Kritik des Entwurfs abschließen, dire im zweiten Teil in d~n Einzel-
heiten zu entfalten sein wird.
Der KriminoLoge muß zwar bei dem gegenwärtig·en Stande seiner
Wissenschaft mit Vorschlägen sehr vorsichtig sein. Einige grund-
legende Aussagen ergeb€n sich jedoch aus unseren Ausführung€n in
Abschnitt I. Dem Strafrechtsthreor€tiker ist jedenfalls äußerste Wach-
samkeit geboten, damit nicht kriminalpolitisch€ Vielgeschäftigkeit die
Freiheit in Gefahr bringt. Sowohl in kriminologischer wie in straf-
rechtstheoretisch€r !Sicht ·erscheint also eine neue Weichenstellung
geboten.
I. Grundhaltung des Entwurfs. Betrachtet man den Inhalt des Ent-
wurfs, so hat res zunächst d€n Anschein, als sei nur der Kompromiß
von 1909/13 €ndgültig V€rwirklicht und gleichz·eitig W€itergebildet. iEs
bleibt auf der ein€n S€ite das überlief€rte, auf die Tatsclwld bezog€ne
Recht der verg.eltenden und sühnenden Straf~ bestehen. Danehen wird
ein System bessernder und sichernder Maßnahmen errichtet. Und doch
bez·eichnet dies€r Entwurf eine neu€ Zeit mit neu~n Grundanschau-
ungen und lUDausgeglichenen Widersprüchen. Er will allerdings nicht
die Weichen neu stellen.
1. Wenn der Entwurf heute 1960 am Tatstrafrecht festhält, so gibt
dies dem Kompromiß von 1909/13 einen neuen Sinn. Für die seinerzeit
moderne Schule war das letzte Ziel der Strafrechtsreform die allmäh-
liche Abschaffung des Strafrechts. Vi•elleicht hat der alternde Franz
v. Liszt um 1910 an manch€n Thesen seiner Jugend gezweifelt, im
Ganzen hat sich aber die moderne Schule nur deshalb oof den Kom-
promiß eingelassen, weil die Zeit für ·ein folgerichtiges Zweckstrafrecht
oder besser Sanktionenrecht - etwa im Sinne des italienischen Ent-
wurfes von Ferri - noch nicht reif schien. Der vorliegende Entwurf
spricht dagegen ein unzweideutiges Bekenntnis aus zu einem auf die
Tatschuld bezogenen Strafrecht, welches in seinen Grundlagen als un-
erschütterlich angesehen wird.
46 Kritische Folgerungen

Das ist nun nicht so zu verstehen, als ob sich am Tatstrafrecht nichts


geändert hätte. Gegenüber der äußeren Tat wird die personale Seite
der Handlung stärker betont. Die Tat wird weniger als äußeres Er-
eignis angesehen, für das der Täter nur kraft seines Will-ens verant-
wortlich ist, sie wird mehr als Äußerung der Täterpersönlichkeit be-
griffen. Die Strafe wird nicht nur als repressive Vergeltung, sondern
als Sühne, d. h. auch als Leistung des Bestraften, aufgefaßt, durch
welche er sich selbst wi-eder in die Rechtsgemeinschaft einordnet. Allen
oft erhobenen Einwänden zum Trotz hält der !Entwurf es für möglich,
eine gerechte schuldangemessene Strafe für den Einzelfall zuzumessen.
Dabei ist es selbstverständlich, daß der Vollzug der Freiheitsstrafe der
Besserung di•enen soll. Alles dies würde allerdings auch in die Ideen-
welt der strafrechtlichen Hegelianer trefflich passen, ist also nicht
eigentlich neu.
Rechtstheoretisch sind dann auch die Mitarbeiter am Entwurf bei
allen Überlegungen von dem Grundgedanken ausgegangen, daß dem
Menschen die Freiheit zum rechtlichen Handeln eigen sei, so daß die
Tat des Verbrechers auch seine Schuld ist. Dieses Schuldprinzip dient
zugleich zur Legitimation und Begrenzung der sühnenden Strafe.
Dieser Grundentscheidung des Entwurfs kann der Verfasser nur bei-
treten, aber sie ist natürlich nicht unbestritten geblieben. Eberhard
Schmidt1 hat schon in den vorbereitenden Materialien seine Skepsis
gegen ein Sühnestrafrecht geäußert, in der Strafrechtskommission
selbst sich aber der Mehrheit angeschlossen. Bauer2 hat in einer grö-
ßeren Schrift "Das V-erbrechen und die Gesellschaft", die Tendenz des
Entwurfs scharf angegriffen. Dennoch wird man sagen dürfen, daß in-
soweit die überwiegende Mehrheit der Lehrer und Praktiker des
Rechts und auch die öffentliche Meinung die Auffassung des Entwurfs
billigt.
2. Der 'Entwurf stellt jedoch seine zugunsten des Sühnestrafrechts
und doer liberalen Freiheit getroffene Entscheidung dadurch in Frage,
daß er das "Recht der sichernden und bessernden Maßnahmen" nicht
nur beibehält, sondern überhaupt erst zu einem umfassenden System
ausbaut. Auch darin liegt eine gewisse Neuerung, wenn auch keine
neue Weichenstellung.
Immerhin ist es erfreulich, wenn der Entwurf den 5. Abschnitt des
allgemeinen Teils überschreibt: "Bessernde und sichernde Maßnah-
men", um damit die Rangordnung der Zwecke anzudeuten. Dennoch
sind der Sache nach alle vorgeschlagenen Maßregeln vom Gesellschafts-
interesse her, also kollektivistisch konstruiert. Das gestrebt die Be-
1 Eb. Schmidt in Materialien zur Strafrechtsreform Bd. 1, S. 9 ff., insbes.
S.ll f.
2 Fritz Bauer, Das Verbrechen und die Gesellschaft 1957, insbes. S. 127 ff.
Kritische Folgerungen 47

gründung selbst ein mit den Worten: "Das Strafensystem bedarf


der ErgänzJUng durch ein Maßregelnrecllt, das es ermöglicht, in rechts-
staatlichen Grenz.en unerläßliche kriminalpolitische Ziele ... zu ver-
folgen ... (nämlich) die Resozialisierung des gefährdeten oder gefähr-
lichen Täters, d. h. seine Wiedereingliederung in die Gemeinscllaft und
die Sicherung der Allgemeinheit vor dem gefährlichen Täter3 ." Vom
Eigenrecht und der Würde der Person ist in diesen Sätzen höchstens
als von einer Grel11Ze die Rede. Wir werden in der Einzelkritik noch
sehen, daß nicht einmal diese Grenze geachtet wird. Insbesondere wer-
den mit der Anerkennung des nackten Sicherungsgedankens zwei Men-
schenarten unterschieden, von denen nur der gesunde Durchschnitt
volles Lebensrecht genießt, während die angeblich irgendwie abnormen
Täter zu bloßen Objekten eliminierender Zweckmaßnahmen gemacht
werden dürren. Auch die Absicht der Resozialisierung betrachtet den
Menschen nur als Träger sozialer Funktionen und als Objekt formen-
den gesellschaftlichen Willens. Gewiß richtet sich diese Zweckbehand-
lung immer nur gegen straffällige Menschen, gegen Störenfriede. Wer
aber auch nur den letzten Verbrecher einem Regime bloßer Zweck-
maßnahmen unterwirft, öffnet der kollektivisten Zweckbehandlung
grundsätzlich Tor und Tür, sie ist dann allgemein erlaubt, wo sie
zweckmäßig ist.
II. Gegen das Tatstrafrecht des Entwurfs bestehen ernste Bedenken,
insofern der Entwurf weder die hauptsächlichen Schäden des gegen-
wärtigen Strafrechts beseitigt, noch die kriminalpolitischen Möglich-
keiten des Strafrechts voll ausscllöpft.
1. Unter den gegenwärtigen Schäden ist an erster Stelle zu nennen
die Auflösung der strengen rechtsstaatliehen Form. Der deutsche Ge·
setzgeber wird aber die Grundentscheidung des Entwurfs nur dann
durchhalten können, wenn der wesentliche Vorzug des Sühnestraf-
rechts, sein freiheitlicher und zugleich humaner Grundcharakter, in
allen Einzelbeziehungen deutlich wird.
Die strenge Gesetzlichkeit des Strafrechts muß im Sinne des alten
Liberalismus wieder hergestellt, namentlich mit dem Grundsatz nulla
poena sine lege voller Ernst gemacht werden. Mögen die Einbrüche in
die Gesetzlichkeit der Strafe auch scheinbar durch die moderne Staats-
entwicklung oder durch die Kriminalpolitik gefordert sein, sie müssen
dennoch anläßlich einer Strafrechtsreform mit peinlicher Sorgfalt wie-
der beseitigt werden. In diesem Punkt hat der Liberalismus Recht und
Wahrheit auf seiner Seite. Es ist dankbar anzuerkennen, daß der Ent-
wurf in dieser Hinsicht sich bemüht hat, es bleibt aber noch allerlei
zu tun übrig, vgl. dazu unten §§ 10-12.
3 Vgl. Begründung S.197.
48 Kritische Folgerungen

2. Der Entwurf bemüht sich zu wenig, di~ unerträgliche Inflation


des Strafrechts zu be€nden. Die Ausscheidung der Übertretungen be-
trifft nicht das Zentralproblem: die unerträgliche Inflation des Straf-
rechts.
Diese quantitative Aufblähung des Strafrechts ist aus Gründen der
Gerechtigkeit ·und Humanität zu verwerfen4 • Auch wenn man es
sehr ernst damit nimmt, daß die sühnende Strafe die "Ehre des Ver-
brechers" ist (Regel), daß sie auch menschlich den Bestraften wieder
zu recht bringen soll, so muß doch klar gesehen werden, daß die
Strafe schweres Leid zufügt und die schreckliche Möglichkeit in sich
enthält, daß der Bestrafte den Interessen der Allgemeinheit nur auf-
geopfert wird. !Es genügt also nicht als Strafgrund, daß die Tat irgend-
welche Interessen der Gesellschaft schädigt. Strafe ist nur erträglich,
wo sie unerläßlich ist, weil die Tat wirklich als ein unerträgliches Bei-
spiel einer VerletzJUng der Rechts- und Sittenordnung sühnende Ver-
geltung dringend erheischt. Auch ist der Staat - um dies immer und
immer wieder zu sagen - nur insoweit legitimiert, das Strafamt aus-
zuüben, als ihn die kriminalpolitische Notwendigkeit dazu zwingt5 •
Zu derselben Forderung gelangt eine gesunde Kriminalpolitik. Ist
Generalprävention aussichtsreich und erforderlich, weil das Strafrecht
ein unentbehrlicher Integrationsfaktor im Vergesellungsprozeß ist, so
kommt es offenbar darauf an, das Optimum an Oberzeugungskraft
des Gemeinschaftsurteils und damit an .s ozialer Sicherheit zu erzielen,
mit dem Minimum an persönlichem Leid und Zerstörung individueller
Lebensentwicklung6 • Kommt es wesentlich auf die Eindruckskraft des
Strafrechts an, mit der es das Gemeinschaftsurteil fördert, so erweist
sich das Ideal eines lückenlosen strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes als
ein Irrlicht. Generalprävention ist eben nicht rationale Abschreckung
von einzelnen vom Täter bestimmt vorgestellten HandLungen durch
bestimmt vorgestellte Strafdrohungen. Der Verfasser kann daher als
seine erste und hauptsächlichste kriminalpolitische Forderung immer
nur wiederholen, was er schon 1936 den damaligen Bestrebungen ent-
gegengehalten hat, nämlich, daß die erste Aufgabe der Strafrechtsform
in einer quantitativen Einschränkung des Strafrechts besteht.
3. In dem doktrinären Bemühen, Strafrecht und Maßnahmenrecht,
also die beiden "Spuren", säuberlich zu trennen, verzichtet der Ent-
wurf auf echte Möglichkeiten und Zuständigkeiten der Strafe. Er engt
im Ergebnis den Begriff der Tat auf den der Einz·eltat ein. Mag auch
der heutige § 20 a StGB recht mangelhaft formuliert sein, so erheischt
4 Vgl. dazu ausführlich meine Darlegungen im Strafrecht des deutschen
Volkes 1936, S. 53 ff., Materialien zur Strafrechtsreform Bd. 1, S. 259 ff.
5 Vgl. mein Strafrecht Allgem. Teil 1953, § 6 IV, insbes. 2.
6 a.a.O. § 5 a. E.
Kritische Folgerungen 49

doch die sogenannte Lebensführungschuld, richtiger das von dieser


Schuld getragene Dauerverhalten eine besondersartige, unter Um-
ständen verschärfte Strafe. Der Entwurf hat das nicht völlig über-
sehen, aber die §§ 237, 238, 254, 287 Entw. reichen nicht aus, um § 20 a
StGB .zu ·ersetzen. Auch die allgemeine Rückfallvorschrift des § 81 ver-
mag nicht v.oll tZU befriedtgen. Nur wenn man grundsätzlich mit dem
Vorurteil bricht, als sei die Tat immer wesentlich iEinzeltat, kann die
Strafe ihre vollen spezialpräventiven Wirkungen entfalten. Berück-
sichtigt man aber das Dauerverhalten in gebührender Weise, so er-
geben sich von selbst Strafmaße, die al1en billigen Sicherungsinteressen
genügen, zugleich bietet nur die gerechte Strafe, niemals die als un-
ger·echt empfundene Maßnahme die Möglichkeit erzieherischer Be-
einflussung.
4. Der noiwendige Ernst der Strafe muß wiederhergestellt werden.
Dieser Ernst ist nicht mit Härte und Strenge zu verwechseln, obgleich
auch Strenge in geeigneten Fällen nottut. Die Wirksamkeit der Strafe
liegt zuerst in der unabweislichen Eindringlichkeit der in ihr ent-
haltenen Rüg·e und in der sicheren Regelmäßigkeit ihr·er Anwendung,
wenn einmal der Strafrichter angerufen worden ist. Nur eine solche
ernste Rüge gibt der Strafe den Impuls zum entschiedenen Bes&erungs-
vollzug. Wir werden auf der Grundlage dieses Gedankens im 3. Ab-
schnitt des 2. Teiles versuchen, den Viorschlag eines neuen Strafen-
systems vorzulegen.
III. Unser grundsätzliches Nein zu einem Recht krimineller Maß-
regeln - soweit diese in die Substanz der Person eingreifen - mag
manchen Leser befremden, als ob es sich hier um l·ebensfremde Spe-
kulation handele. Aber dieses Nein läßt sich an den wesentlichen
praktisch-en Beispielen erhärten, so daß wir schon an dieser Stelle in-
soweit einige Einzelbestimmungen des Entwurfs grundsätzlich erörtern
müssen. Damit wird zugleich unser Gegenvorschlag eines fürsorgenden
Persommrechtes deutlicher, wenn er sich freilich auch erst in den
Einzelvorschlägen des dritten Abschnittes does zweiten Teiles bewähren
kann.
1. Als überwiegend dem Betroffenen gegenüber feindselig sind die
vom Entwurf bis zur letzten Konsequenz ausgedachten eliminierenden
Verwahrungsmaßnahmen anzusehen. Sie betrachten den gefährlichen
Hangtäter als einen Feind der Gesellschaft, der bekämpft werden
müßte7 • Das ist immer n.och genau der von Jean Graven kritisierte
Gedankengang Spencers. Ein solcher Feind oder Schädling wird "un-
tergebracht", vgl. §§ 82, 83, 84 Entw., er wiro zur Sicherung verwahrt,
§ 85 Entw., der Jungtäter wird "vorbeugend" bewahrt, § 86 Entw.
7 Vgl. Begründung zu § 85 S. 203.

4 Moyer. StrafrecMsr~~tform
50 Kritische Folgerungen

Immerhin soll· der gefährliche Geisteskranke oder Psychopath auch


"behandelt" werden, § 82 Entw. Auf den Jungtäter soll wenigstens
nach der Begründung "·e ingewirkt" werden. Alrer von der Person des
Eliminierten, von dem Eigenrecht und der Not desselben ist nirgends
die Rede.
Die Jungtäterverwahrung würde die Sicherungsverwahrung erst
praktisch machen, während sie heute nur die seltene iEndstation nach
vielfachem Rückfall - meist nach dem 40. Lebensjahr - darstellt. Die
Jungtäterverwahrung soll den zeitlichen Zwischenraum ausfüllen, der
zwischen dem Ende jeder möglichen Fürsorgeerziehung und dem mög-
lichen Beginn doer Sicherungsverwahrung besteht. Rechtsstaatliche Ga-
rantien sind kaum vorgesehen. Nach § 86 Entw. genügt es, daß jemand
eine dritte mit Freiheitsstrafe bedrohte Straftat begeht, daß wenigstens
eine freiheitsentziehende Maßnahme teilweise oder ganz vollzogen ist
und daß zu befürchten ist, daß der Täter sich zum Hangtäter ent-
wickelt. Nimmt man die vorgesehenen Bestimmungen wörtlich, so
könnten alle jungen Männer vorbeugend verwahrt werden, welche bis
zum 25. Lebensjahr wiederholt Straftaten beg·ehen. Deren Zahl ist be-
kanntlich sehr groß. Die meisten davon werden später vernünftig. Der
sicherste Weg, sie nicht zur Vernunft kommen zu lassen, wäre, wenn
man sie vor Err-eichung des 25. Lebensjahres langfristig einsperrt, ohne
daß sie diese Einsperrung als gerechte Strafe ertragen können. Der
Lebenslauf solcher Unglücklicher würde folgendermaßen aussehen:
Fürsorgeerziehung für schwierige Kinder und Jugendliche, eine kurze
Periode der Freiheit, einige Jahre Jungtäterverwahrung, dann wieder
eine kurze Freiheitsperiode und schließlich Sicherungsverwahrung,
welche theoretisch lebenslänglich dauert. Ein Kommentar zu diesem
Gedankengang ist überflüssig.
Nun wird niemand leugnen, daß bei ständiger Rückfälligkeit junger
oder alter Täter etwas geschehen muß. Es fragt sich nur, was ge-
schehen kann und soll. Will man auf dem Rechtsboden bleiben, der
alle Menschen einschließlich der sogenannten Asozialen oder Anti-
sozialen gleichmäßig wechselseitig verbindet, so sind jedenialls Maß-
r·e geln lediglich abwehrender Art, wie sie der Entwurf in der Nach-
folge des Sozialdarwinismus vorschlägt, untragbar. Vielmehr sind zwei
Möglichkeiten zu unterscheiden. Soweit die Rückfälligkeit erhöhte
Schuld begründet, hat der Rückfällige gerechterweise erhöhte Strafe
verwirkt. Man darf nur eben nicht mit dem Entwurf die Schuld aruf
die Einzeltatschuld einengen. Diese erhöhte Strafe bietet die Möglich-
keit verstärkter Einwirkung auf die Täter nmd schützt auch die All-
gemeinheit. Fehlt es aber an einer solchen erhöhten Schuld, ist also
der sogenannte Asoziale oder Antisoziale aus irgendwelchen Gründen
unfähig, die normalen sozialen Aufgaben zu erfüllen, so ist er hilfs-
Kritische Folgerungen 51

bedürftig, wie übrigens das Sozialhilfegesetz vom 30. Juni 1961 § 72


an sich richtig sieht. Wenn ein solcher sozial schwacher Mensch versagt,
so hat dies immer seine Ursache auch darin, daß die Gesellschaft ihm
eine soziale Aufgabe gestellt hat, die diesen Menschen nicht gestellt
werden durfte. Diese Schuld der Gesellschaft steigert sich, wenn man
vom sozial Hilflosen "Resozialisierung" verlangt. Denn er ist nach der
Haftentlassung im allgemeinen noch weniger fähig, sein Leben selbst
in die Hand zu nehmen, als vorher. Bei der großen Zahl der Geistes-
schwachen ist es ganz offensichtlich, daß sie zuerst schon als Kinder
von ihren Mitmenschen mißhandelt werden, bis sie dann sozial der-
maßen versagen, daß sie nun 2ru Feinden doer Gesellschaft erklärt wer-
den können. Derselbe Vorgang spielt sich aber bei allen sozial hilf-
losen Personen in ähnlicher Weise ab. In diesen Fällen kann nur
durch ein fürsorgendes Personenrecht geholfen werden, das aber anders
aussehen müßte als nach §§ 72 ff. des Sozialhilfegesetzes.
2. Auch die wohlmeinenden erzieherischen Maßnahmen begegnen
grundsätzlichen rechtlichoen Bedenken, wie sich am besten am Beispiel
der probation (Bewährungsaufsicht) erkennen läßt, die heute das
Schoßkind der öffentlichen Meinung ist.
Nach dem Entwurf wie nach dem seit 1953 geltenden Recht kann
die Lebensführung des "Probanden" einerseits durch Weisungen, an-
dererseits durch oeigentliche Bewährungsaufsicht sehr intensiv über-
wacht und gelenkt werden.
Weisungen könnten theoretisch nach der vom Entwurf aufrecht er-
haltenen •Generalklausel die Lebensführung des Probanden im ganzen
und im einzelnen lückenlos bestimmen, so daß von einer Selbstfüh-
rung rdes Loebens nicht mehr die Rede wär·e. Aber wir können von
der verfassungsrechtlich umstrittenen Generalklausel ganz absehen8 •
Nach § 75 Ziffer 1 Entw. (übereinstimmend § 24 StGB ähnlich § 10
JGG) können sich die Weisungen jedenfalls auf Aufenthaltsort, Aus-
bildung, Arbeit und Freizeit beziehen, ohne daß hier irgendwelche
Grenzen gezogen wären. Damit verliert der Proband nach dem Ge-
setzestext das Recht der Freizügigkeit, der freien Wahl des Arbeits-
platzes, der freien Berufswahl, ja sogar das Recht der freien selbst-
ständigen Freizeitgestaltung. Inwieweit verfassungsrechtliche Grenzen
im -einzelnen bestehen, ist h1er nicht zu erörtern. Diese Frage ist be-
kanntlich sehr umstritten, namentlich soweit die betreffenden Grund-
r·echte unter Gesetzesvorbehalt stehen. Bezüglich der Berufswahl
gelten negative Berufsverbote für zulässig. Es wäre also zwar nicht
ohne weiteres möglich, einen Industrioearbeiter in die Landwirtschaft
8 Vgl. zu diesen Fragen namentlich Bruns G.A. 59, S. 193 ff., NJW 59,
S. 1393 ff., Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz 1960, S. 137 ff.

4'
52 Kritische Folgerungen

zu versetzen, weil man ihn auf dem Dorf leichter überwachen kann,
aber durch Kombination von Aufenthaltsbeschränkung und bestimmte
Verbote könnte man praktisch ein solch·e s Ergebnis herbeiführen. !Es
läßt sich z. B. auch nicht leugnen, daß z. B. gewisse Bedi•enungsgewerbe
kriminell anfällig sind. Durch jedes Verbot wird aber der Strafrichter
mittelbar als •ungelernter Berufsberater tätig und kann den Proban-
den mittelbar in eine diesem verhaßte Berufslaufbahn rlwingen. Auch
die Auferlegung von Meldepflichten kann die Ausübung bestimmter
Berufe ganz unmöglich machen.
Neben diese Weisungen tritt möglicherweise - bei Jugendlichen
zwingend - Überwachung und Leitung des Probanden durch den
Bewährungshelfer. Diesem Bewährungshelfer steht eine in Voraus-
setzungen und Hilfsmitteln noch völlig ungeklärte Zwangsgewalt zu.
Jedenfalls hängt es von dem Bericht des Helfers ab, ob die Straf-
aussetzung widerrufen wird oder nicht. Ob der Helfer eine eigene
echte Anordnungsgewalt hat, ist bestritten. Sich·erlich kann er die-
jenigen bindenden Anordnungen treffen, welche ihm Leitung und
Aufsicht garantier·en, also z. B. den Probanden zu Sprechstunden be-
stellen. Manche Gerichte legen dem Probanden sogar auf, er habe
sich auch sonstigen Weisungen tdes Bewährungshelfers zu fügen. Aber
auch wenn man eine solche Praxis für unzulässig hält, so würde doch
auch der Rat d>es Helfers, die Freizeit in bestimmter Weise zuzubrin-
gen, den Arbeitsverdienst in bestimmter Weise ZJU verwerten, be-
stimmten Jugendorganisationen beizutreten, sich nur wenig von einer
bindenden Anmdnung unterscheiden. Denn hinter solchen Ratschlägen
steht die Macht des Bewährungshelfers, der durch seinen Bericht den
etwaigen Vollzug der Strafe beeinflußt.
Nun wird keine Suppe so heiß gegessen, wie sie gekocht wird, und
auf dem Gebiet der probation wird sogar mit besonders viel Wasser
gekocht. Rechnen wir, daß im Jahr 1957 rund 60 000 auf Freiheits-
strafe lauttmde Urteile gegen Heranwachsende und Vollerwachsene
zur Bewährung ausgesetzt wurden, so kann offenbar vorerst von
einer wirklichen Überwachung und Leitung solcher Menschenmass·en
gar keine Rede sein. In welchem Umfange heute wirklich Weisungen
g-egen Vollerwachsene oergehen, läßt sich nicht feststellen, Bewährungs-
hilfe wird sich·erlich nur selten angeordnet. Damit erhalten diese Mög-
lichkeiten aber erst recht den Charakter völliger Willkürlichkeit und
gelegentliche Weisungen dürften mehr schaden als nützen. Wir haben
an diesrer Stelle aber das Recht der Weisungen und der Bewährungs-
aufsicht so 'ZU betrachten, wie es geplant ist; und in der Planung sieht
es eben so aus, wie wir ·es dargestellt haben. Für derart weitgehende
Rechtsbeschränkungen eines Menschen lassen sich im modernen Recht
überhaupt keine Paralloelen finden. Der Proband g·eht wesentlicher
Kritische Folgerungen 53

Grundrechte, der Freizügigkeit, der freien Wahl der Ausbildung und


des Arbeitsplatzes, der freien Gestaltung der Persönlichkeit ganz oder
doch großen Teils verlustig. Er ist darüber hinaus der persönlichen
Erziehungsgewalt des Helfers untertan. Wir können also die Situation
des Probanden nur mit der des Leibeigenen des späteren mittelalter-
lichen Rechts v-ergleichen. Dieser stand insofern schlecl:lter als der
Proband, als eben die Leibeigenschaft nur schwer abzulöSten war. Aber
der Leibeigene des späteren deutschen Rechtes schnitt insofern wesent-
lich günstiger ab, als die Rechtsbeziehungen zwischen dem Leibeigenen
und seinem Herrn durch - meist aufgezeichnete - Gewohnheit genau
fixiert waren. Auch entbehrte der Leibeigene nur der Freizügigkeit
und damit der freien Berufs- und ArbeitswahL Im übrigen stand ihm
das Recht der freien Persönlichkeitsgestaltung in demselben Maße zu,
in dem es anderen Bauern zustand. Dieser Vergleich mag manchen
kriminalpolitischen Weltv·erbesserer ärgern, aber unsere Feststellung
ist leider kein schlechter Witz.. Das heißt also, die Unterstellung unter
Bewährungaufsicht bedeutet eine grundsätzZiehe Veränderung des
PersonaZstatus. Der Proband ist ein staatseigener Mann, über den der
Staat durch den Bewährungshelfer eine weitgehend willkürliche
Herrengewalt ausübt. Bei JugendZiehen verwandelt sich die Proble-
matik, weil sie ohnedies unter Erziehungsgewalt stehen. Aber das
Aufsichts- und Leitungsrecht des Jugendrichters und Bewährungs-
helfers verdrängt die Erziehungsgewalt der Eltern. Der Jugendrichter
kann, auch ohne daß die Gefahr der Verwahrlosung vorliegt, den
Jugendlichen anweisen, in einem bestimmten Heim, in einer be-
stimmten Familie zu wohnen, ihn also von seinen Eltern trennen.
!Er kann ihm wufgeben, bestimmte Lehr- und Arbeitsstellen anzuneh-
men. Er gestaltet also Entwicklungs- und Ausbildungsgang in den
entscheidenden Jahr·en Jugendz.eit.
Wir wollen hei der Frage des Elternrechts"' noch etwas verweilen,
weil die Bewährungsaufsicht über Jugendliche heute noch der eigent-
lich praktisch·e Fall der Bewährungsaufsicht ist. KLuge Leute glauben
vorhersagen zu können, daß die pädagogische Frage die politische
Grundfrage des .kommenden Menschenalters sein werde, wie es die
soziale in den vergangeneo Menschenaltern gewesen ist. Im Mittel-
punkt dieses Fragenkompl•exes steht das Problem des Elternrechtes.
Dies ist in unserem Grundgesetz als ein höchst liberales Freiheitsrecht
konstruiert und hat mit der Frage konfessioneller Gruppenbildung
nichts ~ tun. Der Einzelne hat seinen Lebensraum in der Familie,
denn es gibt nirgends den Einzelmensch·en als solchen, es gibt den
Menschen immer nur als Vater, Mutter oder Kind. Wird dem Menschen

9 Zur verfassungsrechtlichen Frage vgl. Stree, a.a.O., S. 189 ff.


54 Kritische Folgerungen

dieser freie Lebensraum genommen, so ist ein freies Individualleben


undenkbar, da es niemals begonnen werden kann. Die moderne Be-
währungsaufsicht unterwirft nicht sowohl den Jug·endlichen, als viel-
mehr seine Familie der Aufsichtsgewalt des Staates, ist also ein Bei-
spiel extremen Kollektivismus.
3. ~iehen wir die allgemeinen kritischren Folgerungen!
Der Entwurf verkennt, daß alle Maßregeln der Besserung und
Sicherung den personenrechtlichen Status des Verurteilten verändern,
soweit sie nicht etwa in Zweckstrafen umgedeutet werden können.
Bedenkt man, daß etwa 150 000 Heranwachsende und Erwachsene
jährlich zu Freiheitsstrafen verurteilt werden, so ist dieser gro:ß.en
Zahl von Mensch.en Freiheit rund Gleichheit nicht mehr garantiert.
Denn sire können nach Ermessen des Richters gegen ihr·en Willen einer
besonderen Aufsicht unterworfen werden, d . h. als Probanden zu
staatseigenen Leuten gemacht werden. Wird die Strafe vollstreckt,
so geraten sie durch die vorläufige Entlassung in ein analoges Regime.
Im übrigen kann niemand bestreiten, daß der Sicherungsver-
wahrte oder der vorläufig Verwahrte schlechthin seine Freiheit ein-
gebüßt hat. Gewiß. handelt es sich um Leute, die die soziale Ordnrung
gestört haben. Aber der freiheitliche Staat muß an der unteilbaren
Freiheit und Gleichheit aller Menschen grundsätzlich festhalten, oder
er wi11d im IStrudel des Kollektivismus versinken.
Allerdings muß ·etwas geschehen. Aber man muß eben erkennen,
daß die kriminalpolitischen Ziele, welche mit den bessernden und
sich·ernden Maßnahmen verfolgt werden, nur im Rahmen eines für-
sorgenden Personenrechts zu erreichen sind. Ein solches Personenrecht
ist aber begrifflich von der Person des Betroffenen aus zu konstru-
ieren, es dient in erster Linie der Hilfe für den Betroffenen, wie das
Sozialhilfegesetz richtig sieht, und es kann nur dort eingreifen, wo
ausreichende Gründe für eine Statusveränderung vorliegen, wie dieses
Gesetz leider nicht sieht. Eine einzelne Tat mag vielleicht den Anlaß
für eine Statusveränderung liefern, aber sie genügt als solche niemals
als G.rund. Vielmehr können die Voraussetzungen für eine Status-
veränderung immer nur in der besonderen Verfassung der Person
gesehen werden, sie müssen mit einer rechtsstaatliehen Erfordernissen
genügenden !Sicherheit umschrieben werden, und sie müssen wirklich
einen dringenden Grund für eine so einschneidende Rechtsbeschrän-
kung darstellen.
Die wohltätige und wohlwollende Absicht, dem Gefährdeten zu
helfen oder ihn in Bew:ährungsaufsicht Zlll erziehen, verändern den
Charakter . der Rechtseinschränkung an sich nicht, sie sind für sich
allein auch kein rechtlicher Grund, die Freiheit des Befürsorgten oder
Überwachten anzutasten. Was die obje ktive Wohltätigkeit anlangt, so
Kritische Folgerungen 55

werden die Behörden und ihr Objekt in der Mehrzahl der Fälle ver-
schiedener Ansicht sein. Wenn man nach § 3 des Sozialhilfegesetzes
auf den Wunsch des Hilfsbedürftigen wirklich hört, so wird sein
Wunsch in aller Reg.el sein, den guten Rat des § 73 Sozialhilfegesetzes
nicht ZJU befolgen. Es ist aber auch nicht wahr, daß die probation
gegenüber der Freiheitsstrafe als milder·e Maßnahme ohne weiteres
erlaubt sei. Ob probation oder Vollzug milder ist, kann nur im Einzel-
fall entschieden werden. Jedenfalls dauert die Überwachung bei pro-
bation viel länger und die längere Dauer wiegt vielleicht die viel
kürzere Freiheitsstrafe auf. Man wage doch nur einmal dem Proban-
den ernstlich die Frage zu stellen, ob er lieber die kurze Freiheits-
strafe oder die lange Überwachung wählt. Diese Wahl hat der Ge-
setzgeber der §§ 23 ff. StGB dem Verurteilten wohlweislich versagt,
und der Entwurf will sie ihm auch nicht gewähren. Die wohltätige
Absicht nimmt also der aufgedrängten Hilfe nicht den Charakter der
schmerzlichen Rechtseinschränkung, ob sie nun als Hilfe nach dem
Sozialhilfegesetz oder als probation nach dem Strafgesetzbuch auf-
gedrängt wird. Solche Maßnahmen können also ihre Rechtfertigung
immer nur darin finden, daß sie als Statusveränderungen notwendig
und gerecht sind.
Wir leiten aus unseren Grundgedanken folgende Thesen ab.
a) Es sind alle Möglichkeiten der gerechten Strafe auszuschöpfen.
Die Freiheitsstrafe ist keine Beeinträchtigung der v·erfassungsmäßigen
Freiheit. Der Bestrafte hat sein Strafleiden zu dulden, bleibt aber
darüber hinaus und ist jedenfalls nach StrafverbüBung ein freier
Mann. Deshalb ist die Strafe grundsätzlich vorzuziehen, und sie ist so
einzusetzen, daß gefährliche die Freiheit beschränkende Maßnahmen
auch in Form eines fürsorgenden Personenrechts tunliehst vermieden
werden können.
b) Zweckmaßnahmen, die lediglich aus dem Gesichtspunkt der
Nützlichkeit- sei es auch des Nutzens für den Betroffenen selbst -
in die Substanz der Persönlichkeitsrechte eingreifen, sind in allen
Fällen unzulässig, mögen sie nun strafrechtlich oder fürsorger·e chtlich
begründet sein. Möglich ist eine auf den Zweck der Fürsorge ab-
gestellte Statusänderung nur dann, wenn der Habitus der betroffenen
Person es ihr unmöglich macht, ihr Leben in freier sittlicher Selbst-
verantwortung zu g-estalten. Ein solches Recht der Statusveränderung
ist um der allgemeinen Freiheit und Gleichheit willen nur in engen
Grenzen zul.ässig und an möglichst strenge rechtsstaatliche Voraus-
setz.ungen zu kruüpfen.
c) Niemals kann ein einzelner, gar geringfügiger Vorfall als solcher
einen hinreichenden G r und für eine Statusveränderung abgeben.
56 Kritische Folgerungen

d) Statusveränderungen können nicht in einer dramatischen emotio-


nalen Hauptverhandlung nach Art des Strafverfahrens, sondern nur in
einem besonderen Statusverfahren angeordnet werden, das ·g eeignet
ist, die persönlichen Umstände und Gegebenheiten zuverlässig zu er-
örtern.
e) Eliminierende Maßnahmen sind grundsätzlich unzulässig. In
einem "christlichen" Staat ist es unerlaubt, irgendwelche Menschen
nur negativ zu bekämpfen. Auch dem Verbrecher gegenüber gilt das
Gebot der Feindesliebe. Wer dies für unpraktisch hält, sollte min-
destens das große "C" aus seinem politischen Programm streichen.
Zweiter Teil

Kriminalpolitische Aufgaben

Erster Abschnitt

Quantitative Einschränkung des Strafrechts


§ 6. Die Misere und die Möglichkeiten

Wir kamen sowohl aus kriminalpolitischen als auch aus humanitären


Gründen zu d-er ersten Hauptthese, daß die vordringlichste Aufgabe
einer echten Reform sei, die gegenwärtige Inflation des Strafrechts
einzudämmen1 . Will man dies·e r These folgen, so muß man zunächst
dieses Phänomen der strafrechtlichen Inflation genauer betrachten und
die Möglichkeiten der Abhilfe allg>emein .prüfen.
I. Die Misere. Der Kriminalpolitiker operiert für den Z~ck sta-
tistischer Vergleiche gewöhnlich mit der relativen Kriminalitätsziffer.
Diese läßt uns aber die Summe von Leid und Demütigung, sittlicher
Gefährdung und Elend nicht unmittelbar erkenn-en, welche mit un-
serem zweckwidrigen System der Massenbestrafung zusammenhängt.
Das leisten uns nur die absoluten Ziffern, die ergeben, daß 1956 in
der Bundesrepublik ohne Berlin 546 819 Menschen, im Jahr 1957 sogar
564 026, im Jahr 1958 549 191 Menschen wegen Verbrech-en und Ver-
gehen verurteilt worden sind2 • Die weit größere Zahl der Über-
tretungen und Ordnungswidrigkeiten ist dabei noch gar nicht berück-
sichtigt.
Man möchte sich damit trösten, daß das jeweils nicht mehr als
1,35 °/o bis 1,40 °/o pro Jahr der strafmündigen Bevölkerung sind.
In der Tat macht in normalen Zeit-en die Mehrheit der Bevölkerung
keine Bekanntschaft mit dem Strafrichter. Dennoch bleibt die Zahl
der Menschen, deren Lebensschicksal durch ·eigene Vorstrafen, oder
durch die Bestrafung naher Angehöriger geprägt wurde, unheimlich

1 Vgl. Strafrecht des deutschen Volkes 1936, S. 53 ff.; Materialien zur


Strafrechtsreform Bd. 1, S. 259 ff.
2 Die Zahlen wurden bei Beginn dieser Arbeit zunächst nach der Sta-
tistik von 1956 errechnet. Später habe ich dann die Statistiken von 1957
und 1958 mit herangezogen, um Durchschnittswerte zu gewinnen. Der Leser
möge entschuldigen, wenn sich infolgedessen zahlenmäßige Unebenheiten
finden sollten. Die Sache wird dadurch nicht berührt.
58 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

groß. Es kommt dabei in erster Linie auf die kriminelle Belastung


der männlichen Bevölkerung an, die viel geringere weibliche Krimi-
nalität ist in sich sehr ungleichartig. Leider können wir mangels einer
Vorbestraftenstatistik nicht mit Sicherheit sagen, wie viele Vorbestrafte
sich unter der strafmiÜndigen Bevölkerung befinden. Immerhin hat
Finkelnburg-3 für 1910, also für eine Zeit ruhiger gesellschaftlicher
Entwicklung und ständigen wirtschaftlichen Wachstums errechnet, daß
damals jeder sechste erwachsene Mann vorbestraft war. Boeck4 hat für
1885 berechnet, daß in Berlin jeder 15. erwachsene Mann eirue Frei-
heitsstrafe erlitten hatte. Diese Zahlen genügen als Anhalt. Bedenkt
man, daß nicht rmr die besitzende bürgerliche Schicht, sondern auch
die ganz·e Landbevölkerung an der Kriminalität unterdurchschnittlich
beteiligt war, so ergibt sich für die städtische Arbeiterschaft im all-
gemeinen, insbesondere aber für die sogenannte ungelernte Arbeiter-
schaft jedenfalls eine weit höhere Belastung, um von der kriminellen
Belastung der Pariaschicht gar nicht zu r·eden. Heute lassen sich nur
ganz allgemeine Erwägungen anstellen. Führt man namentlich die
Berechnungen Finkelnburgs an den seit 1948 erschienenen Bänden der
Kriminalstatistik durch, so gelangen wir schon mit diesen \Zahlen zu
einer so hohen Belastung, daß für die Zeit eines Menschenalters, die
Finkeinburg zugrundelegte, höhere Werte als bei Finkeinburg sich er-
geben müßten. Dabei ist die Krisenkriminalität der Nachkriegszeit
nicht einmal einger·echnet.
Der internationale statistische Vergleich zeigt, daß andere Länder
die Waffe des Strafrechts weit sparsamer ·gebrauchen als Deutschland.
England strafte vor 1914, auf die Gesamtbevölkerung berechnet, in
weniger als der Hälfte der Fälle, die französische Kriminalitätsrz:iffer
betnug etwa die Hälfte der unsrigen6 •
Diese in Deutschland übliche Vielstraferei ist ebenso unnötig wie
schädlich.
Sie ist unnötig, denn die Strafzumessungspraxis erweist, daß die
meisten bestraften Taten doch nur recht unbedeutend gewesen sein
können. Wenn von rund 440 000 Vollerwachsenen etwa 310 000 nur
:zu Geldstrafe, nur etwa 135 000 zu Gefängnis., davon über 50 000 mit
Bewährung und nur 3000 zu Zuchthaus verurteilt Wlllrden, so begreift
man nicht recht, warum man erst eine so groß·e Masse kleiner Sünder
einfängt, um sie dann doch wieder laufen zu lassen. Und man sollte
auch Geldstrafen in ihren sozialen Auswirkung·e n auf den Bestraften
nicht 'ZU leicht nehmen.

3 Finkelnburg, Die Bestraften in Deutschland 1912.


4 Bei v. Mayr, Moralstatistik 1917, S. 885, 973 f.
5 Strafrecht des deutsch. V., S. 56 ff.
Die Misere und die Möglichkeiten 59

Gewiß können alle dioese rechtswidrigen Handlungen, auch die un-


bedeutenderen nicht ·geduldet werden. Aber es dient eben in Wahrheit
nicht dem Rechtsgüterschutz, wenn man in solch minderwichtigen
Fällen gerade mit der strafrechtlichen Reaktion eingreift. Das Straf-
recht kann doch das einreine verletzte Rechtsgut ohnedies niemals
schützen, denn der !Strafrichter tritt begrifflich erst nach der Tat in
Aktion. Der durch die Straftat eingetretene Einzelschaden wird
sogar gewöhnlich durch das strafrechtliche Eingreifen vergrößert oder
überhaupt unheilbar. Der Vermögensverbrecher wird durch die öffent-
liche Strafe meist endgültig rzahlungsunfähig, der Geschädigte verliert
also die Hoffnung auf Entschädigung. Die an Kindern begangenen
Sexualhandlungen, wenigstens die große Zahl der unerheblichen,
schädigen die Kinder meist viel weniger als die nachfolgende Unter-
suchung und Verhandlung. Der strafrichterliche Schutz wirkt eben
immer nur mittelbar, und zwar wesentlich generalpräventiv in der
Weise, daß er den Wert der geschützten Rechtsgüter dem Gemein-
bewußtsein einpr.ä gt, die rechtswidrige Handlung mit einem sozial-
psychologisch wirksamen Unwerturteil belegt und schließlich auch von
solchen Handlungen abschreckt. Die massenpsychologische Bereitschaft,
sich durch das Gemeinschaftsurteil leiten zu lassen, wird aber bereits
durch eine hinreichende exemplikative6 Handhabung des Strafrechts
erzielt. Es ist ·ein großer Irrtum zu glauben, es müsse allen wichtigen
Rechtsgütern ein lückenloser strafrechtlicher Schiutz gewährt werden,
damit die Rechtssicherheit herg-estellt w-erd-e.
Di-e übermäßig-e Anwendung des Strafrechts in der G-eg-enwart er-
klärt sich denn auch nicht aus kriminalpolitischen, sondern anfänglich
aus staatsrechtlich-en Motiven des beginnenden 19. Jahrhunderts. Die
Mass-e der kleineren Kriminalität wurde nämlich noch im 18. Jahr-
hundert als bürgerlich-es oder Polizeiunrecht von den Niederg·erichten
abgeurt-eile. Di-e Grenz.e zwischen bürgerlich-em {polizeilichem) und
peinlich-em Unrecht war all-erdings flüssig. Wir wissen über die Tätig-
keit der Niedergerichte immerhin genug, um sagen zu könnoen, daß ihre
mehr privatrechtliehen oder disziplinären Reaktionen nicht an die
Ehr-e des klein-en Mannes gingen. Dazu trug die Nähe der Obrigkeit,
ihre innig-e Verbundenheit mit d-en Hintersassen sehr viel bei. Di-eses
zu s-einer Z-eit wohltätige Syst-em mußte aufgeg-eben we rden, seitdem
das moderne GI-eichheitsstreben die Patrimonialg-ewalt als unrecht-
mäßige private Herrengewalt empfand. Auch lag es in der Natur des

6 Im Anschluß an Binding, Lehrbuch Bd. 1, S. 20 ff., habe ich Strafr. d.


Dt. V., S. 72 ff., Allg. Tl., § IV, 3, auf den "fragmentarischen" Charakter
des Strafrechts hingewiesen, um damit zu sagen, daß das Strafrecht eben
nur das besonders hervorgehobene unerträgliche Beispiel bestraft.
7 Vgl. meine Abhandlung über den Strafbefehl. G. S. Bd. 98, S. 330 ff.
60 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

modernen !Staates, die früher autonomen Lokalinstanzen in sein ein-


heitliches Behördensystem einzugliedern. Aus di•esen Gründen wurde
das frühere bürgerliche Unrecht zur kleinen oder mittleren Straf-
sache._ Dabei bedachte man nicht, daß nunmehr die so·z ialen Folgen
einer Bestrafung viel ernster wurden als früher. In den östlichen
Provinzen Preußens soll die Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit
1848 die Zahl der Strafgefangenen verdoppelt haben8 • Dazu kam noch,
daß das bürgerliche 19. Jahrhundert sowohl die Vermögensdelikte als
auch die leichteren Sexualverstöße viel strenger beurteilte als frühere
Zeiten.
Nicht ohne Bedeutung war aber auch die dogmatische Entwicklung
des Strafrechts. Der Besondere Teil wird erst im 19. Jahrhundert
von dem systematisierenden Bestr·eben des modernen Rechtsdenkens
erfaßt. So entstand dite Vorstellung vom lückenlosen strafrechtlichen
Rechtsgüterschutz. Das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft nötigte
zum Legalitätsprinzip, so daß nunmehr alles Unrecht auch wirklich
bestraft werden mußte. Zuletzt verflüchtigte die freirechtliche - im
Strafrecht moralisierende - Tendenz der letzten Menschenalter dite
festen Konturen wichtiger Tatbestände.
Es fehlt heute überhaupt an einer echten kriminalpolitischen Über-
legung, wieweit der strafrechtliche Schutz ausgedehnt werden müsse.
Zu Anfang des 19. Jahrhunoerts wurde noch die ·ernsthafte Frage ge-
stellt, wie zwischen Zivilunrecht und strafbarem Unrecht abzugrenzen
sei. Aber diese Frage wurde gerade von Franz v. Liszt ad acta
gelegt9 •
So hat sich ohne irgendwelche kriminalpolitische Überle.g ungen, aus
historisch zufälligen Gründen das Strafrecht übermäßig ausgedehnt,
und diese Inflation des Strafrechtes wirkt im :höchsten Maße schädlich.
Die übergroße Zahl von Strafverfahren macht es ganz unmöglich,
Persönlichkeit und Lebensverhältnisse der Angeklagten zu ·erforschen.
Die im allgemeinen sehr schlecht gearbeiteten Strafzumessungsgründe
der durchschnittlichen Strafurteile lehren nicht nur, daß manche Rich-
ter keine Urteilsgründe schreiben können, sondern daß es an sorg-
fältigen Strafzumessungserwägungen überhaupt fehlt. Die im Prozeß
begonnene Routine muß sich dann im Vollzug fortsetzen. Auch die
vernünftigerweise milden Strafen in Bagatellsachen können aber
durchaus persönlichkeitszerstörend wirken. So sind Massenbestrafung
und Spezialprävention miteinander .unvereinbar.
Die allzuvielen Vorbestraften sprechen sich wechselseitig allzuleicht
den billigen Trost zu, daß· der Mensch eben kein Engel sei und einmal
auch mit d•er Strafgewalt des Vaters Staat Bekanntschaft machen
8 Vgl. v. Hippel, Handbuch Bd. 1, S. 339, Anm. 5.
9 Vgl. genauer Strafr. d. Dt. V., S. 66 ff.
Die Misere und die Möglichkeiten 61

müsse. Di-eses Massenerlebnis höhlt den generalpräventiven Ernst der


Strafe aus, der auf der Bestrafung des echten unertr.äglichen Beispiels
beruht. Nur dann kann die :Strafe die verbotene Handlung mit einem
wirksamen Tabu beloegen, wenn Straflosigkeit dem Gutwilligen ver-
hältnismäßig leicht erreichbar ist.
Alle diese Bedenken wiegen im heutigen Massenzeitalter doppelt
schwer, denn das v·ereinsamte Individuum entbehrt heute weithin der
Führung durch die Gemeinschaft.
Die Ausuferung des Strafrechts untergräbt auch die Privatautono-
mie. Sobald nämlich soziale Störungen strafrechtlich erfaßt werden,
können sie nicht mehr frei von den Beteiligten ausgeglichen und ab-
gewickelt werden. Eine Privatrechtsordnung, die aber nicht regelmäßig
Störungen auf dem Wege privatautonomer Vereinbarungen berinigen
kann, entbehrt der inneren Freiheit und degeneriert.
So sollte sich eine Strafrechtsreform in erster Linie die Aufgabe
stellen, die Zahl der kriminellen Bestrafungen wenigstens um
ein Drittel der gegenwärtigen Zahl zu vermindern. In den nachfolgen-
den Ausführungen soll gezeigt werden, daß di•ese Faustregel keine
phantastische Forderung darstellt. 1Es wird vielleicht nicht möglich
sein, dies Ziel schon im ersten Anlauf zu erreichen, aber der Anfang
müßte jetzt und heute gemacht werden.
II. In erster Linie ist der begriffliche Umfang des materiellen Straf-
rechts wesentlich zu beschränken10 • Das heißt, es muß sowohl die Zahl
der Tatbestände vermindert, als auch deren Umfang eingeschränkt
werden. Daß dies möglich ist, soll nach Straftatengruppen gesondert
in den folgenden §§ 7 .bis 9 dargetan werden. Dabei müssen wir natür-
lich das Wesen der geschützten Rechtsgüter berücksichtigen, um den
Umfang des wirklich erforderlichen strafrechtlichen Schutzes bestim-
men zu können.
1. Es müssen aber auch die gesetzlichen Strafausdehnungsgründe und
die tatbestands•erweiternden Allgemeinbegriffe in die Betrachtung ·ein-
bezogen werden. Mit Hilfe des Allgemeinbegriffs der Begehung durch
Unterlassung ist bekanntlich die Reichweite zahlreicher Tatbestände
insbesondere des Betrugstatbestandes wesentlich erweitert worden.
Die Tragweite der im Begriff d er Begehung durch Unterlassung
enthaltenen Bestrafungsmöglichkeiten wird gerade durch die gesetz-
liche Anerkennung dieses Bozgriffs in § 13 Entw. erkennbar. Man
muß nur die Kommentare durchstudieren, um schnell herauszufinden,
daß von diesem Denkbehelf praktisch bisher doch nur bei einigen
typischen Delikten Gebrauch gemacht wurde. Nun ist eine gesetzliche
Grundlage für dioe Bestrafung der B. d . U . sicherlich unentbehrlich.
10 Vgl. Materialien Bd. 1, S. 260.
62 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

Es ist aber nicht leicht, den Gedanken richtig zu umschreiben. Da dies


Problem sehr eng mit dem Thema der gesetzlichen Bestimmtheit der
Tatbestände zusammenhängt, wollen wir die Frage erst dort ab-
schließend behandeln. Um aber unnötige Bestrafungen zu verhindern,
ist jedenfalls der Bestimmung folgender Absatz 3 anzufügen.
"Die Bestimmungen des Abs. 1 und 2 finden nur Anwendung, so-
weit dies in den einzelnen Strafbestimmungen ausdrücklich angeordnet
ist."
Würde man nämlich die generelle Vorschrift des § 13 Entw. bestehen
lassen, so würde aus der pflichtwidrigen Unterlassung, für einen Ver-
dächtigen einzutreten, bereits eine positive Falschverdächtigung § 164,
aus der Unterlassung religiöser Verehrung möglicherweise eine aktive
Gotteslästerung § 166, aus der Nichtbehinderung der Unzucht mög-
licherweise Unzucht mit Abhängigen § 174 oder Kindern § 173 Z. 3, aus
dem bloßen Behalten bei mala fides superveniens Unterschlagung § 246
oder Hehlerei § 259. Kurz, die Folgen einer so allgemeinen Bestimmung
sind ganz unübersehbar. Die einzelnen Tatbestandsbeschreibungen
werden bei der Neigung der Praxis, alle Tatbestände moralisierend
zu erweitern nur in besonderen Fällen, etwa beim Wegnahmebegriff
des D1ebstahls, Halt gebieten.
Nach der vorliegenden Fassung des Entwurfs ist die seit der Novelle
von 1943 allmählich sich abzeichnende Gefahr beseitigt, daß die Tat-
bestände durch die Verallgemeinerung des Teilnahmebegriffs ins
Uferlose ausgedehnt werden könnten. Nur eben die Bestrafung der
bloßen Mitwisserschaft könnte durch § 13 Entw. (Begehung durch Un-
terlassung) nahegelegt werden, insofern wäre allerdings noch eine aus-
drückliche Begrenzung erforderlich. Im übrigen stimmt der Verfasser
den vorgeschlagenen Bestimmungen zu, obgleich er sie nicht für er-
schöpfend hält und obgleich sie doch wohl nicht aruf richtigen theore-
tischen Auffassungen beruhen11•
Endlich ist zu beachten, daß der Tendenz zur Erweiterung des Straf-
rechts nur dadurch entgegengetreten werden kann, daß, der Gesetz-
geber in allen Beziehungen den Satz noulla poena sine lege wieder
ernst nimmt, vgl. dazu unten Abschnitt 2.
2. Auf verfahrensrechtlichem Gebiete ist dem Strafantragsrecht12
größerer Raum zu geben.
Die Hoffnung, man könne die Flut der Bestrafungen durch das
Opportunitätsprinzip wirksam eindämmen, hat sich als trügerisch er-
wiesen. Bei Vergehen wird erfahrungsgemäß nach § 153 StPO nur
dann eingestellt, wenn die Tat durch ihre Geringfügigkeit den
11 Vgl. dazu Festschrift für Rittler, S. 243 ff.
12 Vgl. dazu G. S. Bd. 104, S. 315 ff.
Die Misere und die Möglichkeiten 63

materiellen Charakter eines Vergehens überhaupt eingebüßt hat. In-


sof·ern ist die Bestimmung sicher wohltätig, als sie dem praetor, qui
minima non curat, ein gutes Gi?wissen gibt. Aber die Bestrafung sollte
auch entfallen, wo die Tat zwar nicht ganz unbedeutend, aber eben
Bestrafung nicht unerläßlich ist. Man kann aber das Opportunitäts-
prinzip nicht soweit ausdehnen, daß der Staatsanwalt entgegen den
Wünschen des Verletzten aus rechtspolitischen Gründen über das
Strafrecht des Staates verfügt. Damit wür.de die gleichmäßige 0€-
rechtigkeit aufhören.
Sicherlich ist die Novelle von 1876 in der Beschränkung des An-
tragsrechtes viel zu weit gegangen. Aber es wär·e zu einfach, wollte
man nur den damaligen Schritt wieder zurückgehen. Man muß ganz
allgemein prüfen, inwieweit die Strafwürdigkeit einer Tat davon ab-
hängt, daß sich das Genugtl\lungsbedürfnis des Verletzten im Straf-
antrag beweist und bewährt. Im demokratischen Staat muß doch
gerade auch das Recht des Verletzten geachtet werden, aus vernünf-
tigen Gründen über die Strafverfolgung des zunächst ihm angetanen
Unrechts zu befinden. Es ist z. B. ganz unerträglich, daß heute der
Arbeitgeber eine Unterschlagung nicht wirksam verzeihen kann. Die
Allgemeinheit ist ~Unmittelbar nur betroffen, wenn der öffentliche
Friede gestört worden ist.
Nimmt man das Antragsrecht in diesem S inn ernst, so kann allein
der Antragsteller die Verantwortung für den Strafantrag tragen. Das
Prozeßrecht muß also :Strafanträge, welche von der Polizei oder von
Versicherungs·g esellschaften eingesammelt werden, unmöglich machen.
iEs geht nicht an, daß Versicherungsgesellschaften Strafanträ.ge der
Versicherten erzwingen, damit sie den Zivilprozeß ersparen oder er-
leichtern. Ebenso ist es mißlich, wenn man aus Akten über Unzuchts-
verfahren immer wieder sieht, daß die Strafanträge der Eltern ein-
gesammelt wurden, ohne daß diese Eltern wußten, daß erst ihr Antra·g
ihr Kind in das Verfahren zerrt, wenn sich die Anklagebehörde nur
auf § 185 stützen kann. Vielmehr müßte eine Form für den Straf-
antrag vorgeschrieben werden, welche dem Antragsteller seine Ver-
antwortJung zu vollem Bewußtsein bringt. Erschlichene oder abge-
nötige Anträge sollten in jedem Fall widerrufen werden können.
Nun wird sich allerdings eine klare Grenze zwischen solchen De-
likten, die nur Privatinteressen und solchen, die die Allgemeinheit
betreffen, nicht ·z iehen lassen. Es muß also neben dem Privaten die
für das 'betreffende Sachgebiet zuständige staatliche Behörde das
Recht zum Strafantrag haben. Es ist durchaus mit rechtsstaatliehen
Grundsätzen vereinbar, wenn die untere Verwaltungsbehörde auf der
Stufe des Landrates, z. B. als Sicherheits- oder als Jugendwohlfahrts-
64 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

behörde je nach dem B-edürfnis der öffentlichen Sicherheit oder


des Jugendschutzes Strafantrag stellt.
3. Man könnte in weitem Umfang auf strafrechtliche Reaktion ver-
zichten, wenn nsur das PrivatrechtL3 dem Unrecht ernsthaft entgegen-
treten wollte. Im frühen mittelalterlichen und im späten römischen
Recht befri-edigte das Privatstrafrecht den Geschädigten und wehrte
zugleich mit poenalen Sanktionen das Unr-echt ab. Seit der Einführung
des peinlich-en Rechts emp-findet das europäische Rechtsbewußtsein in
der schweren Rechtsverletzung in erster Linie den strafwürdigen An-
griff auf die Allgemeinheit. Dieser an sich berechtigte Gedanke ist
seit dem späten Naturrecht in doktrinärer W·e ise übertriehren worden,
so daß heute Privatrecht und öffentliches Strafrecht als völlig ge-
schiedene Rechtsdwtzordnungen, jede mit der Tendenz der systema-
tischen Vollständigk~üt unverbunden nebencinanderstehen. So wird
einerseits das Prinzip der gerechten Vergeltung zu Tode geritten,
andererseits vernachlässigt das Privatrecht gänzlich den Angriff gegen
die Rechtsordnung, der in der Privatrechtsverletzung enthalten ist.
Man hat diesen Doktrinarismus in den Anfangsz·eiten der modernen
Strafrechtschule sehr deutlich gesehen. Es war ·einmal eine große
Reformforderung, die Strafe weitgehend durch Schadloshaltung zu
ers•etzen. Leider ist dieser gesunde Gedanke durch den ungesunden
ersetzt worden, Strafe und Schadensersatz seien durch das Adhäsions-
verfahren zu verbinden. Letztere Verfahrensart setzt also strafrecht-
liche Inflation geradezu voraus, abgesehen davon, daß sie in der Praxis
ebenso lebensunfähig bleiben wird, wi•e sie in einer lebensfremden
Theorie unsterblich ist. Die neueste Verbindung von Strafe und Er-
satzleistung über die Bewährungsauflage des § 24 Ziff. 1 StGB (ent-
sprechend § 15 Abs. 1 JGG) schwächt die ehrmindernde Wirkung der
Strafe kaum ab und begegnet ernst>en rechtsstaatliehen Bedenken.
Denn der Umfang der Ersat~flicht wird nicht hinreichend geprüft,
und der Ersatzsdwldner verliert jeden sozialen Pfändungsschutz.
Schadloshaltung statt Strafe nötigt zur Einführung poenaler Ele-
mente in Privatrecht und VoHstreckungsrecht. !Entsprechend dem
römischen Injurienanspruch sollte bei g€•eigneten vorsätzlichen Rechts-
verletzungen zum Ersatzanspruch eine Privatbuße hinzutreten, deren
Leistung die StrafverfoLgung ausschließen müßte. Die in Betracht
kommenden Tatbestände könnten entweder in einem Anhang zu § 823
BGB oder im Strafgesetzbuch benannt werden. Der Schwerpunkt
eines solchen Privatbußenrechts würde auf dem Gebiet der Ver-
mögensverletz.ungen liegen. Aber wie der Verletzte für die Körper-
verletzung ein Schmerzensgeld verlangen kann, wird oes auch sonst
13 Vgl. auch Peters, Festschrift für Eberhard Schmidt, S. 488 ff.
Die Misere und die Möglichkeiten 65

Fälle geben, in denen eine gewisse Entschädigung für persönliche


Unbill dem Verletzten nicht verweigert werden sollte. Im Voll~
streckungsrecht müßte bei vorsätzlicher Tat der soziale Pfändungs~
schutz eingeschränkt werden. Damit würde die Familie des Täters
immer noch weit besser stehen, als wenn sie unter der Bestrafung des
Täters mit leiden muß. Es wäre auch daran zu denken, Staatsanwalt
und Polizei bei der Vollstreckung einzusetzen, damit es dem böswilli..
gen Schuldner unmöglich gemacht wird, sich der Vollstreckung zu
entziehen. Auch an eine Erhöhung der Gerichtskosten bei vorsätz-
licher Privatrechtsverletzung könnte man denken.
Dem Verfasser dies•er Zeilen ist klar, daß. ein derartiger Vorschlag
nicht ohne nähere Prüfung verwirklicht werden kann. Aber es ist
notwendig, auf diese Seite der Sache hinzuweisen. Das Nebeneinander
zweier separierter Schutzordnungen, wie wir es heute haben, ist auf
die Dauer unerträglich.
4. Die bisherigen Ausführungen bezogen sich auf im kriminellen
Sinn strafwürdige Handlungen, der-en kriminelle Bestrafung entbehrt
werden kann. Darüber hinaus gibt es einen weiten Bereich von heute
strafbaren Bagatellsachen14 , die überhaupt keinen echten kriminellen
Charakter haben, also nicht als Vergehen im heutigen Sinn gewertet
werden sollten. Es herrscht heute allgemeines Einverständnis darüber,
daß jedenfalls die Übertretungen, vielleicht auch einige Vergehen der
Nebengesetze als bloße Ordnungswidrigkeiten, nicht mehr als krimi-
nelle strafbare Handlungen geahndet werden sollten. Der Entwurf
will demgemäß den Abschnitt "Übertretungen" aus dem Gesetz über-
haupt entfernen.
Keine 1Einigkeit herrscht dagegen über die Abgrenzung dieser Baga-
tellsachen. Nach der von James Goldschmidt und seinem Schül•cr
Eberhard Schmidt vertretenen Lehre ist zwischen Straftat und Ver-
waltungSIUnrecht zu unterscheiden. Dieser Unterschied wäre nicht etwa
ein quantitativer, sondern wesentlich ein qualitativer. Nur das Ver-
waltungsunrecht gehöre eigentlich in den Bereich der Ordnungs-
widrigkeit. Die Ordnungswidrigkeit verstoße als solche nicht gegen
die gerechte sittliche Ordnung, der Täter der Ordnungswidrigkeit sei
nicht entsühnungsbedürftig. Diese Lehre verkennt, daß allich die Ver-
waltungsnormen die gerechte sittliche Ordnung zu ihrem Teil mit
aufbauen, und daß auch derjenige unsittlich handelt, der dem ge-
rechten Verwaltungsgebot nicht gehorcht. Die wichtigsten Verwal-
tungsgebote wollen einer sogen. "abstrakten Gefahr" für Rechtsgüter
vorbeugen, sind also durchaus auf die allgemeine Rechtsgüterordnung
14 Vgl. zur Frage der Bagatelldelikte, Zuchtgewalt und Strafrechtspfiege,
Würzburger Abhandlungen, Heft 13, 1922, S. 53 ff., S. 73 ff., Strafrecht d. Dt.
V., S. 84 ff. Über die prozessuale Seite G. S. Bd. 96, S. 397 ff.
S Mayer, Strafr~tsreform
66 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

bezogen. Niemand wird bestreiten wollen, daß Verletzungen der


Straßenverkehrsordnung unsittlich sind. Wer das Verwaltungsunrecht
als sittlich neutral betrachtet, verstärkt fatalerweise die irrige Mei-
nung, gegen den bösen Staat dürfoe man sich mit ruhigem Gewissen
verfehlen. Dann wären ISteuervergehen wirklich Kavalier-delikte. Es
ist natürlich richtig, daß. eine Unmenge von polizeilichen Verfehlungen
sehr mild beurteilt werden können, eben weil es sich nur um einen
entfernteren Angriff auf die Rechtsgüterwelt handelt. Aber der Unter-
schied zwischen Ordnungswidrigkeit und kriminellem Unrecht ist
auch insofern lediglich quantitativer Art, als es sich um die Zuwider-
handlung gegen die Verwaltungsinteressen des Staates handelt. Ver-
hängnisvoll wird die Lehre vom Verwaltungsunrecht vor allem dadurch,
daß sie eine Fülle von Bagatellsachen im Bereich des kriminellen
Unrechts festhält, wo sie nichts zu suchen haben. So gehören Mund-
raub (anders Entwurf § 241 Abs. 2), Schwarzfahrbetrug, der gewöhn-
liche Fall des Automatenmißbrauchs überhaupt nicht in den kriminellen
Bereich. Sie wiegen weit weniger schwer, als eine große Zahl von
gewerbepolizeilichen Verstößen oder Verkehrsübertretungen.
Der Begriff der Ordnungswidrigkeit muß also alle Bagatellfälle ein-
schließen, deren Unrechtsgehalt so gering ist, daß sie nicht mehr als
Vergehen betrachtet werden sollten. Dies muß bereits im Text des
Strafgesetzbuches zum Ausdruck kommen, ist im einzelnen in der
Prozeßordnung durchzuführen.
III. Zum Verständnis der weiteren Ausführungen ist eine statistische
Aufgliederung der Kriminalität hier vorauszuschicken.
Die rund 547 000 Verurteilungen wegen Verbrechen und Vergehen
verteilen sich nach der Kriminalstatistik 1956 auf folgende Gruppen:
1. Straftaten gegen Staat und öffentliche Ordnung §§ 80-168StGB 27 000
2. Straftaten gegen die Person §§ 169-241 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . 161 000
3. Straftaten gegen das Vermögen §§ 242-330 StGB . . . . . . . . . . . . . . 199 000
4. Straftaten im Amt §§ 331-359 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 000
Straftaten gegen das Strafgesetzbuch zusammen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 000
5. Verbrechen und Vergehen gegen andere Bundesgesetze und ge-
gen Landesgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 000
zusammen 547 000
Diese rohe Aufteilung ist für kriminologische Zwecke noch nicht
verwendbar.
Kriminologisch gehören in die Gruppe 2, Vergehen gegen die Per-
son, aus anderen Gruppen:
Vergehen gegen § 123 StGB 6 000 Verurt.
Vergehen gegen § 142 StGB 7 000 Verurt.
Die Misere und die Möglichkeiten 67

Aus der Grrup.pe 5:


Vergehen gegen das StraEenverkehrsgesetz ...... 107 000 Verurt.
Aus der Gruppe 3:
Die meisten gemeingefährlichen Verbrechen, denn bei der Gemein-
gefahr handelt es sich meist auch um eine Gefahr für Leib und
Leben.
Von den 39 000 Verurteilungen dieser Gruppe sind nur abzuziehen die
Verurteilungen wegen Brandstiftung, §§ 306-310 a StGB mit 3000 Verurtei-
lungen. Auch die sogen. menschengefährdende Brandstiftung ist nämlich
in der Masse der Fälle nur als eine Vernichtung von Eigentum anzusehen.
Es kommen also zur Gruppe Verbrechen gegen die Person aus diesem Titel
noch 36 000 Verurteilungen hinzu.
Diese Gruppe umfaßt damit 317 000 Verurteilungen.
Dioe Gruppe 3, Straftaten gegen das Vermögen, mit 199 000 Ver-
urteilungen, ist aus dem angeführten Grunde um 36 000 auf 163 000
Verurteilungen zu vermindern.
Umgelrehrt gehören aus der Gruppe 5 in die Gruppe der Straftaten
gegen das Vermögen die Verbrechen und Vergehen
gegen die Lebensmittelgesetze 10 000,
gegen die Sozialversicherungsgesetze 2 000 und
gegen die Metallgesetze 1 000 Verurteilungen.
Die Kriminalstatistik zählt mit Recht die Urkundenverbrechen zu den
Vermögensverbrechen. Dann muß man aber auch die Verstöße gegen das
Paßgesetz, mit 3000 Verurteilungen, hierher zählen. Die Gesamtzahl beträgt
demnach 179 000.
Eine letzte kriminologische Sammelgruppe bilden dann die Ver-
brechen gegen !Staat und öffentliche Ordnung im weiteren Sinn, also
die Gruppe 1 abzüglich der herausgenommenen §§ 123, 142 StGB mit
13 000 Verurteilungen, aus der Gruppe 4, Verbrechen und Vergehen
im Amt, §§ 331, 359 und der Rest der Verbrechen und Vergehen gegen
sonstige Bundesgesetze und gegen Landesgesetze. Diese Sammelgruppe
läßt sich nicht korrekt aufteilen, weil sie ohnedies 25 000 Ver-
urteilungen enthält, die statistisch nicht näher bezeichnet sind. Dazu
gehören auch die meisten Straftaten gegen die Familie. Wir kommen
also zu einer Sammelgruppe von 51000 Verurteilungen.
Die berichtigten Gruppen sind daher folgende, in der Ordn,ung,
in der sie zweckmäßigerweise kriminalpolitisch behandelt werden:
1. Verbrechen und Vergehen gegen das Vermögen .. ... ....... ... . 179 000
2. Verbrechen und Vergehen gegen die Person ...... . .. ... . . . . .. 317 000
3. Verbrechen und Vergehen gegen Staat, öffentliche Ordnung und
Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 000

s•
68 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

Diese Reihenfolge rechtfertigt sich mit der Erwägung, daß vor-


nehmlich die Verbrech•en gegen das Vermögen spezialpräventive
Fragen aufwerfen, so daß die quantitative Überhöhung der Zahl auf
diesem Gebiet sich kriminalpolitisch besonders nacllteilig auswirkt.
Demgegenüber handelt es sich bei den Verbrechen gegen die Person
überwiegend um Einzeltaten von geringerem spezialpräventiven
Interesse. Die Sammelgruppe der Verbrechen und Vergehen gegen
Staat und öffentliche Ordnung läßt sich überhaupt nicht als echte
kriminologische Einheit begreifen.
Es kann nicht die Absicht dieser Abhandlung sein, alle einzelnen
Bestimmungen des Besonderen Teils und der strafrechtlichen Neben-
gesetze durchzugehen. Es sind vielmehr nur diejenigen Straftaten oder
Straftatengruppen durchzuprüfen, die statistisch zu Buch schlagen.

§ 7. Strafbare Handlungen gegen das Vermögen

I. Vorbemerkungen. Vermögensrechte werden in erster Linie durch


das Vollstreckungsrecht garantiert. Vermögensverletzungen sind grund-
sätzlich reparabel. Ein echtes Strafbedürfnis besteht demnach nur,
wenn zur bloßen Vermögensverletzung ein Angriff gegen personale
Werte oder gegen den öffentlich·e n Frieden hinrukommt. So wendet
sich der Diebstahl nicht nur gegen das Eigentum, sondern zugleich
gegen den Gewahrsamswillen des Verletzten und gegen den öffent-
lichen Frieden. Der Betrug stört di~ publica fides, die Untreue ver-
letzt besondere Treupflichten.
Das bloße Unvermögen des Schädigers, Schadenersatz zu leisten,
rechtfertigt für sich allein noch keine öffentliche Strafe. Auch in den
Zeiten des späten Naturrechtes war man sich bewußt, daß das "Zivil-
unrecht" keiner Kriminalstrafe bedarf. Mögen die Versuche der Natur-
rechtsdoktrin bis hin zu Hegel und seinen Schülern, eine allgemeine
begriffliche Grenze zwischen Zivilunrecht und Kriminalunrecht zu
ziehen, mißlungen sein, so entschuldigt dies nicht die Gedankenlosig-
keit, mit der das 19. Jahrhundert hinter der umfassenden Privat-
rechtsordnung und ihrem zugehörigen Vollstreckungsrecht noch ein
zweites vermögensrechtliches Schutzsystem strafrechtlicher Art auf-
baute. Vielleicht handelt es sich aber noch um etwas anderes als um
bloße Gedank~nlosigkeit, nämlich um eine Überbewertung des Eigen-
tums im bürgerlichen Zeitalter.
Dabei spielt allerdings auch das historische Mißverständnis mit, das
ältere Recht sei mit dem Dieb noch sehr viel härter verfahren. In
Wahrheit war nur der eigentliche Diebstahl, der fünf solidi oder Schil-
linge überstieg, kriminell, so namentlich nach d~m Reichslandfrieden
Strafbare Handlungen gegen das Vermögen 69

von 11521 • Diese Schillinge wurden 1532 in der CCC durch fünf Gold-
gulden ersetzt, deren Goldwert nach der Reichsmünzordnung von 1559
immerhin nicht ·ganz 5 mal 3 = 15 gr fein betrug, also etwa 40 Gold-
mark der früheren deutschen Goldwährung. Dies war damals ein ganz
außerordentlich hoher Realwert, man konnte z. B. in Schleswig-Hol-
stein etwa zwei Mastochsen dafür kaufen2 • Derartige Werte lassen sich
praktisch nicht ohne Bruch des öffentlichen Friedens entwenden, und
so hat die Landfriedensordnung die Sache eben auch beurteilt. Diese
Untergrenze des eigentli<:h kriminellen Diebstahls blieb im wesent-
lichen bis zum 1Ende des alten Reiches bestehen. Denn wenn Carpzow3
fünf beste 'Ungarische Gulden, der bayerische Kriminalkodex von 1751
dagegen 20 schw;ächere neuere Gulden4 fordert, so ist dies immer un-
gefähr der gleiche Realwert. Der Täter dieses schweren Diebstahls" ist
immer ein halber Räuber oder ein Marodeur oder dergleichen. Immer-
hin will CCC Art. 160 auch beim ersten Diebstahl über fünf Gulden
Wert die Todesstrafe noch vermieden wissen, während Carpzow, hier
auf sächsisches Recht gestützt, strenger ist. Was man aber bei der Er-
innerung an die Todesstrafe bei Diebstahl überhaupt vergißt, das ist
die Tatsache, daß für den ersten geringeren Diebstahl in der CCC nur
Duplierung angedroht ist, vgl. Art. 157, und dabei denkt die CCC
nicht an die kleinsten Diebstähle, die überhaupt nicht vor die Schöffen
kommen. Carpzow ist also hier strenger als die CCC, er spricht von
Landesverweisung und Körperstrafen, kurzfristigem Carcer und Mul-
tierung. Aber auch er berichtet, daß tatsächlich die Masse der kleinen
Diebstähle nur multiert werden5 • Was es mit den kleinsten Diebstählen
auf sich hatte, sieht man am besten wieder im Codex Criminalis Ba-
varicus, der Diebstähle unter dreißig Kreuzer beim Niedergericht läßt6 ,
wo ja zunächst nur Multierung denkbar ist. Dreißig Kreuzer sind aber
ein halber Gulden, die Kaufkraft darf man in heutigem Gelde doch

1 Vgl. Rudolf His, Das Strafrecht des Deutschen Mittelalters Bd. 2, 1935,
S.178 ff. Die Grenze ist wohl alt-indogermanisch; vgl. Ernst Mayer, Ger-
manische Wergelder sowie Weiderechte und Römische Multa, Tijdschrift
voor Rechtsgeschiedenis Deel VIII, 1928, S. 1 ff.
2 Vgl. CCC Art.157; über die Reichsmünzordnung vgl. Sehröder v. Kii.nß-
berg, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 6. Aufl. 1922, S. 925; unser
altes Zwanzigmarkstück wog bekanntlich 7,1685 g fein.
über die Realkaufkraft gibt es leider zusammenfassende Werke nicht.
Doch genügt für unsere Zwecke die vortreffliche Arbeit von Waschi nski,
Währung, Preisentwicklung und Kaufkraft des Geldes in Schleswig-Holstein
von 1226-1864 (Quellen und Forschungen zur Geschichte von Schleswig-
Holstein) 1952; vgl. insbes. die Tabelle B 1-3.
3 Vgl. Practica Nova Qu. 78 nr. 29.
4 Codex Crim. Bav., 1. Teil, 2. Cap., §§ 2-4, dazu die Anmerkungen von
Kreittmayr, § 3 a.
5 Vgl. Practica Nova Qu. 78 nr. 100.
6 Cod. Crim. Bav., l.Teil, 2. Cap., § 2.
70 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

wohl auf oetwa 40 Mark V€ranschlagen. Aber auch bei dem kleinen
landgerichtliehen Diebstahl von 30 Kreuzer bis 20 Guld€n war noch
Multierung grundsätzlich m-öglich.
Betrug in unserem heutigen Sinne war bekanntlich nach der CCC
überhaupt nicht strafbar, strafbar waren zunächst nur die hervor-
g€hobenen Fälle der eigentlichen Fälschung.
Der absolutistische Fürstenstaat erließ dem Rückfalldieb oder schwe-
ren und großen Dieb die Todesstrafe, dehnte aber die milder gewor-
denen Diebstahlsstrafen auf den mittleven Diebstahl aus. Erst das bür-
gerliche 19. Jahrhundert hat dann auch den kleinsten Diebstahl krimi-
nalisiert und den Betrug sowie die Unterschlagung allgemein unter
öffentliche Strafe gestellt.
Dieser historische Exkurs mag zeigen, daß unsere heutige Regelung,
welche auch unbedeutende Angriffe gegen fremdes Vermögen mit Kri-
minalstrafe bestraft, sich nicht auf eine historisch erwiesene Notwen-
digkeit berufen kann. Sie ist vielmoehr ganz und gar unvernünftig. Mit
Recht hat darum die SPD in den Reichstagsverhandlungen von 1928
bis 1930 einen zaghaften Widerspruch gegen diese Übersteigerung des
bürgerlichen Sekuritätsbedürfnisses angemeldet, indem sie vorschlug,
den gewöhnlichen Diebstahl in ein Antragsdelikt zu verwandeln7 •
Sie ließ es sich aber gefallen, daß die Entscheidung darüber bis zur
zweiten Lesung zurückgestellt wurde, so daß die Zusammenstellung
der Ausschußberatungen von 1930 den Antrag der SPD als erledigt er-
scheinen ließ. Dabei hatte dieser Antrag den guten Grund für sich,
daß alle Vermögensrechte verzichtbar sind, so daß die Offizialverfol-
gung problematisch erscheint. Auch die häufig wiederholte Behaup-
tung, daß die Vermögensd.elikte, insbesondere der Diebstahl, auf nied-
rige Gesinnung oder eine kriminelle Persönlichkeit hinwiesen, ist offen-
sichtlich haltlos. Der junge Dieb begeht die Tat mehr oder weniger
aus Leichtsinn, Übermut oder Trotz. Im übrigen sind Diebstahl, Unter-
schlagung und der gewöhnliche Betrug eben die heimliche Selbsthilfe
des Schwachen.
Gerade im Gebiet des Vermögensstrafrechts ist es also dringend er-
forderlich, sowohl die Tatbestände einzuschränken als auch weitere
Verfolgungsvoraussetzungen vorzuschalten.
Von den 179 000 Verurteilungen unserer berichtigten Gruppen schla-
g·en zu Buch:

7 Vgl. die Kommissionsberatungen der Legislaturperiode von 1928,


109. Sitzung vom 16. 1. 30, Antrag des Abg. Rosenfeld, endgültig 110. Sitzung,
vgl. dann die Zusammenstellung Reichstagsdrucksache 3396, S. 328 ff., wo
die Sache fallen gelassen wird.
Strafbare Handlungen gegen das Vermögen 71

Diebstahl und Unterschlagung . · ......... · 82 000


Straftaten gegen die Sozialversicherungs-
gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 000
Straftaten gegen die Metallgesetze ..... · 1 000
Diebstahl und verwandte Delikte . . . . . . . . . . 85 000 Verurteilungen
Betrug und Untreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 000
Straftaten gegen die Lebensmittelgesetze 10 000
Betrug und verwandte Fälle ............. . 49 000 Verurteilungen
Sachbeschädigungen . . ..... . . . . . .... . .. . . . 8000
Brandstiftungen ......... . ......... . ... . 3 000
Sachbeschädigungen und verwandte Fälle .. 11 000 Verurteilungen
Urkundenfälschungen ................. . 2500
Verstöße gegen das Paßgesetz ......... . 3 000
5 500 Verurteilungen
Natürlich müßten auch die zahlenmäßig minder hervortretenden
Gruppen unter dem Gesichtspunkt der quantitativen Beschränkung
überprüft werden. Für unsere Zwecke genügt jedoch eine Untersuchung
der bezeichneten zahlenmäßig bedeutsamen Gruppen.
11. Diebstahl, Unterschlagung und verwandte Delikte. Die heutige
Formulierung der einschlägigen Tatbestände beruht auf geschichtlichen
Zufällen. Gerade das Diebstahlsrecht im weiteren Sinne muß aber auf
die gesellschaftliche Wirklichkeit der Gegenwart bezogen werden. Im
modernen Industriezeitalter hat das sachenr·echtliche Individualeigen-
tum seine überragende soziale Bedeutung eingebüßt, denn Eigentums-
rechte und andere Vermögensbeziehungen sind zu sehr miteinander
verflochten. Zahlreiche Zwischenformen zwischen Eigentum und blo-
ßem Schuldrecht haben sich herausgebildet, so daß die individuelle
Eigentumssphäre nicht mehr sichtbar abgegrenzt ist. Die breite Masse,
namentlich der jungen Menschen, hat auch zu geringen Anteil am
Sacheigentum. Unter diesen Verhältnissen leidet die Achtung vor
fremdem Eigentum, vielfach betrachtet sich der Täter irgendwie als
teilweise mitberechtigt, häufig ist der Diebstahl namentlich junger
Täter als Auflehnung gegen eine Ordnung zu verstehen, die als be-
engend und benachteiligend empfunden wird.
1. Beim Diebstahl muß daher das Schwergewicht auf die frieden-
störende Gewahrsamsverletzung und auf die Bereicherungsabsicht ge-
legt werden, obgleich der Begriff der Aneignung auch weiterhin nkht
entbehrt werden kann, um furtum possessionis und furtum u sus
aus dem Bereich des Diebstahlsbegriffs auszuschließen.
Der Begriff der Wegnahme muß enger gefaßt werden. Die gemein-
rechtEehe Lehre hat den G ewahrsamsbegriff nur d eshalb auf den hoo-
72 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

tigen Umfang ausgedehnt, weil die Unterschlagung zunächst überhaupt


straflos war. Wenn aber heute z. B. ein Kassierer wegen Diebstahls
bestraft wird, weil er regelmäßig einen Mitgewahrsam seines Chefs
bricht, so widerspricht das nicht nur der Volksanschauung, sondern
auch der richtigen kriminalpolitischen Wertung des Sachverhalts. Der
Angestellte bricht doch nicht von außen in den Herrschaftsbereich des
Herrn ein, er stört nicht den öffentlichen Frieden. Der Bruch des Mit-
gewahrsams gehört daher zur Unterschlagung. Mit einer solchen Grenz-
ziehung dürften auch die Fälle fiktiven Gewahrsams verschwinden,
z.. B. der angebliche Gewahrsam der Bahn an liegengelassenen Sachen.
Der mitreisende Fahrgast ist mindestens ebenso stark am Gewahrsam
an diesen Sachen beteiligt wie die Bahnverwaltung, denn er soll sie
sich-erstellen und .abliefern. Konstruiert man so die Unterschlagung als
den umfassenden Grund- und Gattungstatbestand, so wird man eine
Definition des Gewahrsamsbegriffs im Diebstahlstatbestand entbehren
können.
Der Diebstahl des alten gemeinen Rechts war gewinnsüchtiger Ge-
wahrsamsbruch, contrectatio rei alienae lucri faciendi gratia8 • Diese
Definition hatte nur den Nachteil, daß sie möglicherweise das furtum
possessionis einbezog, insofern bleibt das Merkmal des Aneignungs-
willens von Wert, das zudem für den Unterschlagungstatbestand kon·
stitutiv ist. Aber nur die Bereicherungsabsicht kennzeichnet den echten
Dieb. Der jugendliche Schwarzfahrer9 mißachtet zwar das Eigentum
am Kraftwagen, aber doch nicht in wesentlich anderer Weise, als der-
jenige, der eine fremde Sache entzieht oder beschädigt. Doer personale'
Unrechtsgehalt des Diebstahls, die eigensüchtige Eigentumskehr liegt
im eigentlichen Sinn doch nur vor, wenn Bereicherungsabsicht vor-
handen ist. Fehlt sie, so liegt bloßes furtum usus vor, das nach Bedarf
durch eine Sonderbestimmung zu erfassen ist. Der vorliegende Ent-
wurf geht leider noch hinter den § 328 des Entwurfs 27 zurück.
2. Unterschlagung. Dem heutigen Unterschlagungstatbestand fehlt
die Definition des Begriffs der fremden Sache10• Die Rechtsprechung
konnte daher alle Rechtsverhältnisse unter § 246 ziehen, die von der
Zivilrechtsprechung nominell als Eigentum aufgefaßt werden, wie z. B.
das Sicherungseigentum, das seinem wirtschaftlichen Zweck, also nach
realistischer, dem Strafrecht angemessener Betrachtung nur eine Mo-
biliarhypothek ist. Es ist kriminalpolitisch unverständlich, weshalb dies
der Publizität entbehrende schwächere Pfandrecht so sehr viel stärker
8 Vgl. Feuerbach, Lehrbuch § 312, v. Wächter, Lehrb. des römisch-teut-
schen Strafrechts Bd. 2, § 188, dagegen dann der deutschrechtliche Dieb-
stahlsbegriff § 189.
9 Vgl. Friedr. Geerds in Kriminalistik 1960, S. 106 ff., S. 171 ff., 212 ff.
10 Vgl. zum folgenden maine Abhandlung G. S. Bd. 104, S. 100 ff
Strafbare Handlungen gegen das Vermögen 73

geschützt sein soll, als das nur in § 289 StGB geschützte an sich viel
stärkere Faustpfandrecht. Auch das Vorbehaltseigentum kann straf-
rechtlich nicht dem Volleigentum gleichgestellt werden. Es darf nicht
zugelassen werden, daß durch Privatvertrag eine öffentliche Strafbar-
keit vereinbart werden kann. Alle Bestrafungen dieser Art laufen auf
das reaktionäre Bestreben hinaus, den insolventen Schuldner als sol-
chen zu strafen.
Dagegen bedarf das Geld besonderen strafrechtlichen Schutzes. Da
Geld im Verkehr wesentlich als Wertträger, nicht aber als eigentums-
fähige 1Einzelsache behandelt wird, so wird Geld meist Eigentum des
Empfängers, auch wenn dieser das Geld für einen anderen in Empfang
nehmen, verwahren oder verwenden soll. In den meisten Fällen ist
der Empfänger auch berechtigt, das angebliche fremde Geldeigentum
in eine bloße Forderung zu verwandeln, indem er es auf ein Bankkonto
einzahlt. Nur wenn der Empfänger ausnahmsweise gehalten ist, Geld
als unterscheidbare Sache auch gesondert aufzubewahren, bleibt es in
Händen des Empfängers fremdes Eigentum. Die strafrechtliche Recht-
sprechung fingiert im Gegensatz zur konkursrechtlichen vielfach frem-
des Sacheigentum, indem sie sachenrechtliche Einigungen 11.1nterstellt,
die weder psychologisch noch normativ anerkannt werden können. Da-
durch entstehen schwer erträgliche Unsicherheiten. In Wahrheit kommt
es allein darauf an, ob bezüglich der Geldsumme ein Kreditgeschäft
vereinbart war, oder d•er Empfänger ·gehalten sein sollte, die Summe
greifbar zu verwahren. Liegt der letztere Fall vor, so ist die Summe
eine fremde Sache. Mit einer solchen Fassung des Unterschlagungstat-
bestandes w:är·e auch der Untreuetatbestand entlastet.
Genauer zu formulieren ist auch der Begriff der Aneignung. Die
Rechtsprechung hat praktisch den Versuch der Unterschlagung schon
zur vollendeten Unterschlagung erhoben, indem sie als Aneignung jede
Bekundung des Aneignungswillens genügen läßt11• Ohne eine solche
äußere Bekundung fehlt aber die für den Versuch unentbehrliche Ma-
nifestation des Aneignungswillens. Das ist gerade bei der Unterschla-
gung sehr mißlich, weil damit der Weg z.um strafbefreienden Rück-
tritt von vornherein abgeschnitten wird. Nun ist es aber immer eine
schwere Versuchung, wenn jemand fremde Werte mehr oder minder
unkontrolliert in der Hand hat. Der Wille, anvertrautes fremdes Gut
anzutasten, sollte daher nur dann strafbar sein, wenn er in entschie-
dener Tat festgehalten wird. Es muß also ein breiterer Weg für den
Rücktritt offengehalten werden. Die Unterschlagung sollte daher erst
vollendet sein, wenn der Täter dem Berechtigten tatsächlich die Ver-
fügll.lngsmacht über sein Eigentum entzieht. Damit bleibt auch die
11 Vgl. die Nachweise bei Schönke-Schröder (10. Aufl.) zu § 246 V.
74 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

Fundunterschlagung solange straflos, als der Finder nicht tatsachlich


seinen Pflichten zuwiderhandelt.
3. Ergänzende Bestimmungen. Die Bestimmung über unbefugten ~·
brauch von Kraftfahrzeugen würde alle Entwendungsfälle einschließen,
welche nicht in Bereicherungsabsicht begangen sind, vgl. dazu § 244
Entw. Die Bestimmung über Pfandkehr und Sachentziehung müßte d1~
t\.ngriffe gegen Sicherungseigentum und die nicht g>ewinnsüchtige Em-
eignung aufnehmen, vgl. dazu § 251 Entw.
4. Strafantrag und Wiedergutmachung. Die praktische Bedeutung
unserer Vorschläge liegt zunächst nur in der Vereinfachung der Tat-
bestände, dann aber in der Tatsache, daß die Aneignung ohne Berei-
cllerungsabsicht lediglich nach Maßgabe der Sondertatbestände strafbar
wäre. Viel wesentlicher ist aber, daß man beim Strafantragsrecht an
diese neuen Unterscheidungen anknüpfen kann. Und hier liegt der
Schwerpunkt unserer Vorschläge.
Die Verfolgung der Unterschlagung sowie der Pfandkehr und der
Gebrauchsanmaßung wäre nämlich ganz allgemein vom Strafantrag
des Verletzten abhängig zu machen. Außer dem Verletzten müßte aller-
dings das Antragsrecht auch den Handels- und Handwerkskammern
und sonstigen Verbänden und Stellen zugestanden werden, welche
über die öffentliche Sauberkeit in bestimmten Wirtschaftszweigen zu
wachen haben.
Dagegen ist es nicht angängig, den einfachen Diebstahl als solchen
zum Antragsdelikt zu machen. Jedoch sollte ein Antrag erforderlich
sein, wenn der Täter den Schaden wiedergutgemacht hat, bevor die
Anklage erhoben wurde.
5. Nur die qualifizierten Fälle des Diebstahls und der Unterschla-
gung wären also ausnahmslos von Amts wegen zu verfolgen.
Der !Entwurf bezeichnet in § 240 Abs. 3 die geeigneten Qualifika-
tionsmerkmale der Unterschlagung, die Ziffer 1 bedarf einer gewissen
Zuschärfung.
Mit unseren Vorschlägen gewinnt der Unterschied zwischen leichtem
und schwerem Diebstahl ein so großes Gewicht, daß die Rechtssicher-
heit verbietet, bei der Beschreibung des schweren Diebstahls mit einer
Generalklausel zu arbeiten. Es dürfte an sich nicht schwer fallen, die
Aufzählung des heutigen § 243 zu mod•ernisieren. Dabei müßten auch
die Tatbestände des Metalldiebstahls eingefügt werden, soweit sie
wirklich schweren Diebstahl darstellen. Die aufgezählten Fälle könnten
dann jeweils durch eine das spezielle ·Qualifikationsmerkmal verall-
gemeinernde Klausel erweitert werden. Damit würde dem Satz nulla
poer.a sine lege genügt.
Strafbare Handlungen gegen das Vermögen 75

6. Nachstehender Formulierungsversuch umfaßt nur die grund-


legenden Bestimmungen, er soll nur der Orientierung dienen, denn
Formulierungen lassen sich endgültig nur gemeinsam erarbeiten. So-
weit möglich, ist der Wortlaut des Entwurfs gewählt.
Titel x
Unterschlagung, Diebstahl und ähnliche Handlungen
§ a: Unterschlagung
Wer eine fremde, bewegliche Sache in Gewahrsam oder Mitgewahrsam
hat, oder den Gewahrsam an einer fremden Sache ausübt, wird wegen Un-
terschlagung mit . . . bestraft, wenn er sich diese Sache in Bereicherungs-
absicht aneignet, indem er dem Berechtigten tatsächlich die Verfügungs-
macht entzieht.
Fremd ist eine Sache, wenn sie in fremdem Eigentum steht, ohne daß
der Täter ein Anwartschaftsrecht besitzt. Geld ist fremd, wenn der Täter
gehalten ist, die Summe stets greifbar zu halten. Hat der Täter das Geld
auf ein besonderes Konto eingezahlt, so gilt die unrechtmäßige Verfügung
über das Konto als Unterschlagung.
Der Versuch ist strafbar.
Die Tat wird nur auf Antrag des Verletzten oder einer antragsberechtig-
ten Stelle verfolgt.
§ b: Schwere Unterschlagung
Die Unterschlagung wird in besonders schweren Fällen mit . . . bestraft.
Ein besonders schwerer Fall liegt vor, wenn der Täter
1. eine ihm anvertraute Sache unterschlägt und zur Verschleierung der Tat
Urkunden oder Beweiszeichen fälscht oder unterdrückt oder Bücher oder
Register unrichtig führt,
2. Sachen von bedeutendem Wert unterschlägt, die für gemeinnützige oder
mildtätige Zwecke gesammelt worden sind, oder
3. eine Sache unterschlägt, die ihm als Amtsträger anvertraut oder zugäng-
lich geworden ist.
Der Versuch ist strafbar.
Hat der Täter freiwillig vor Erhebung der Anklage den Schaden wieder
gutgemacht, so wird die Tat nur auf Antrag verfolgt.
§ c: Diebstahl
Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen wegnimmt, indem er
dessen Gewahrsam bricht und sich die Sache in Bereicherungsabsicht an-
eignet, wird wegen Diebstahl . . . bestraft.
Der Versuch ist strafbar.
Wer vor Anklageerhebung den Schaden freiwillig gutmacht, wird nur auf
Antrag des Verletzten bestraft.
§ d: Besonders schwerer Diebstahl
In besonders schweren Fällen wird der Diebstahl mit . . . bestraft. Ein
besonders schwerer Fall liegt vor,
1. wenn der Täter eine besonders befriedete Sache stiehlt, insbesondere
wenn er
a) zur Ausführung der Tat in ein Gebäude, eine Wohnung, einen Dienst-
oder Geschäftsraum oder in einen anderen umschlossenen Raum ein-
76 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

bricht, einsteigt, mit einem falschen Schlüssel oder einem anderen


nicht zur ordnungsmäßigen Öffnung bestimmten Werkzeug einsteigt
oder sich in dem Raum verborgen hält,
b) eine Sache stiehlt, die durch ein verschlossenes Behältnis oder eine
andere Schutzvorrichtung besonders gesichert ist,
c) aus einer Kirche oder einem anderen der Religionsausübung dienen-
den Gebäude oder Raum eine Sache stiehlt, die dem Gottesdienst ge-
widmet ist oder der religiösen Verehrung dient,
2. wenn der Täter eine für die Allgemeinheit besonders wichtige Sache
stiehlt, insbesondere wenn er
a) eine Sache von Bedeutung für Wissenschaft, Kunst oder Geschichte
oder für die technische Entwicklung stiehlt, die sich in einer allgemein
zugänglichen Sammlung befindet oder öffentlich ausgestellt ist,
b) eine Sache stiehlt, die ihm als Amtsträger zugänglich geworden ist,
c) indem er die Hilflosigkeit eines anderen oder die aus einem Un-
glücksfall oder einer gemeinen Gefahr entstehende Gelegenheit aus-
nützt,
d) (hier einfügen Metalldiebstahl in geeignetem Umfang).
§ e: Pfandkehr
Wer seine eigene Sache, an der ein anderer ein Recht auf Befriedigung
aus der Sache hat, oder die Gegenstand eines Nutzungs-, Gebrauchs- oder
Zurückbehaltungsrechts ist, zerstört, beschädigt oder unbrauchbar macht
oder dem anderen wegnimmt und dadurch absichtlich dessen Recht ganz
oder zum Teil vereitelt, oder wer diese Tat für einen anderen begeht, wird
... bestraft.
Ebenso wird bestraft, wer die Tat an einer Sache begeht, auf die er ein
Anwartschaftsrecht hat.
Der Versuch ist strafbar.
Die Tat wird nur auf Antrag verfolgt.
111. Betrug und verwandte Delikte. 1. Der Betrugstatbestand ist erst
im 19. Jahrhundert geschaffen worden. Die Rechtsprechung hat ihn erst
allmählich ausgeschöpft und zugleich erweitert, die Kriminalitätsziffer
ist daher seit 1882 sehr .gestiegen. Sie ist nämlich von 45 im Jahre
1882, gerechnet auf den Durchschnitt der Jahre 1882 bis 1891, auf 95
im Jahre 1925 und auf 125 im Jahre 1956 geklettert. Betrachtet man
die ausgeworfenen Strafen, so erscheint der größte Teil der Taten
recht unbedeutend. Im Jahre 1957 wurden 33 000 Vollerwachsene wegen
einfachen Betruges verurteilt, davon 14 000 zu Geldstrafe und 19 000
zu Freiheitsstrafe. Von den letzteren erhielten rd. 7000 Verurteilte
Strafaufschub zur Bewährung. Es ist auch bezeichnend, daß von rd.
4700 wegen Rückfallbetrugs bestraften Vollerwachsenen nur 423 zu
Zuchthaus und nur 1260 zu Gefängnisstrafen von über 9 Monaten ver-
urteilt wurden. Rd. 1000 Rückfallbetrüger erhielten Gefängnisstrafen
von unter 3 Monaten Dauer. Wenn aber immerhin rd. 1040 Fälle des
einfachen Betruges zu Freiheitsstrafen von mehr als 9 Monaten
Dauer, darunter auch Zuchthaus führten, so enthält doch offenbar
Strafbare Handlungen gegen das Vermögen 77

der Betrug im Gegensatz zum einfachen Diebstahl eine relativ


große Zahl von wirklich schweren Fällen. Dies entspricht der
Tatsachte, daß der Betrugstatbestand bereits heute gerade die Fälle er-
faßt, in welchen das ungreifbar gewordene Sacheigentum nicht mehr
durch die Bestimmung der Diebstahlsgruppe geschützt wird. Demnach
enthält der heutige Betrugstatbestand kriminologisch völlig verschie-
denartige Fälle. Er bedarf daher in ganz besonderem Maße einer ex-
akten Begrenzung, andererseits muß innerhalb des Betruges ebenso
wie beim Diebstahl zwischen tatbestandsmäßig schweren und leichten
Fällen unterschieden \\"erden.
Kriminologisch gehört der Betrug mit der Warenfälschung und dem
betrügerischen unlauteren Wettbewerb zusammen. Die einschlägigen
Tatbestände müßten in das Strafgesetzbuch aufgenommen werden. Die
Ver\\"eisung in die Nebengesetze führt in der Praxis zu einer unge-
rechtfertigten Milde. 1Es ist nicht einzusehen, warum ein Geschäfts-
mann, der in der Wolle sitzt, für Warenfälschungen niedriger bestraft
werden soll als ein armer Teufel, der seine dürftige Lage auf unred-
liche Weise verbessern will. Der Vorwurf der Klassenjustiz ist in
dieser Beziehung nicht gänzlich unbegründet.
2. Der Tatbestand des Betruges ist von der Rechtsprechung nament-
lich dadurch ausgeweitet worden, daß man von der Rechtsfigur der
Begehung durch Unterlassung immer häufiger Gebrauch machte. Das
betrifft namentlich folgende Fallgruppen: Schwarzfahren, Zech-
prellerei, Kreditkauf, insbesondere Kreditkauf auf Abzahlung und
schließlich auch unterlassene Aufklärung des Gerichtsvollziehers, wenn
dieser fremdes Eigentum gepfändet hat.
Außerdem ist auch der Begriff der Tatsachte in der Rechtsprechung
mehr und mehr verwässert worden, indem heute auch lediglich inner-
lich gebliebene psychische Zustände des Täters als Tatsachen gelten.
Auch der Begriff des Vermögensnachteils ist in der jüngsten Ver-
gangenhteit erweicht worden. Die frühere Lehre vom wirtschaftlichen
Vermögensbegriff setzte voraus, daß der objektive gemeine Geldwert
des Vermög~ms wirklich vermindert worden sei. Die sogenannte in-
dividualisierende Vermögensbetrachtung hat demgegenüber nur in-
softem recht, als man natürlich nicht lediglich auf das Einzelgeschäft
und die einzelnen getauschten Gegenwerte abstellen kann. Wer eine
Sache einem anderen um den gemeinen Wert veräußert, wohl wissend,
daß diese Sache für den Getäuschten den ·gemeinen Wert nicht besitzt,
vermindert ebenfalls den gemeinen Wert des Vermögens. Aber zur
Vermögensschädigung genügt nicht, daß irgendein anderweitiges In-
teresse des Getäuschten nicht brefriedigt worden ist. Die Befürworter
dieser Lehre übersehen, daß dann jeder betrügerische Wettbewerb, jede
Warenfälschung bereits versuchter oder vollendeter Betrug wäre, die
78 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

Bestimmungen der Nebengesetze also überhaupt überflüssig wären.


Dies zeigt andererseits, daß mit der neueren Lehre der Betrugstat-
bestand alle Konturen verliert12•
Diese Mängel wirken sich in der Praxis darin aus, daß namentlich
die Abzahlungsverkäufer heute nicht einmal mehr einen Zahlungs-
befehl ausschreiben, wenn sie den Schuldner für insolvent halten, son-
dern gleich zur Anzeige wegen Kreditbetrugs greifen. Die Staats-
anwaltschaft ist aber kein Beitreibungsinstitut, obgleich sie von vielen
Ckschäftsleuten heute als solches angesehen wird. Man muß nur die
Briefe lesen, in denen der Anzeigeerstatter der Staatsanwaltschaft für
ihre "Bemühungen" dankt.
Der Grundtatbestand des Betruges wäre daher folgendermaßen zu
beschreiben:
"Wer in ausdrücklichen oder mittelbaren Erklärungen unwahre bestimmte
tatsächliche Angaben macht und dadurch einen anderen täuscht, so daß
dieser über eigenes oder anvertrautes Vermögen zum Nachteil des Be-
rechtigten und zum eigenen Vorteil des Täters oder eines Dritten ver-
fügt ..."
Eine solche Regelung würde besondere Bestimmungen über Schwarz-
fahrt und Zechprellerei erforderlich machen, die aber in ein Ordnungs-
strafrecht gehören, soweit eben nicht wirklich durch bestimmte An-
gaben in echten Erklärungen getäuscht worden ist. Ein Bedürfnis,
Abzahlungsgeschäfte über die verengte vorgeschlagene Fassung hinaus
zu schützen, besteht überhaupt nicht.
3. Es ist verdienstlich, wenn der Entwurf in § 253 den Versuch
unternimmt, einen Tatbestand des schweren Betrugs zu schaffen. Die
Generalklausel des heutigen Rechts, § 263 Abs. 4 ist rechtsstaatlich un-
erträglich, in der Strafdrohung übertrieben und außerdem wertlos,
weil sie dem Richter keine hinreichende Anleitung gibt. Auch die Rück-
fallvorschriftdes geltenden Rechts ist wertlos, da geringfügige Schwin-
deleien auch dann nicht zu einer schweren Straftat werden, wenn sie
wiederholt vorkommen. So ist es also zu begrüßen, wenn der Entwurf
hier einen neuen Weg sucht. Es will aber scheinen, als ob die Auf-
zählung der schweren Fälle unvollständig, zum Teil auch sachlich be-
denklich ist. Schwerer Betrug liegt allerdings vor, wenn der Verletzte
in wirtschaftliche Bedrängnis geriet (§ 253 Ziff. 1 Entw.), beim schweren
Sammlungsschwindel {§ 153 Ziff. 2 Entw.) und beim Versicherungs-
betrug (§ 253 Ziff. 3 Entw.). Jedoch dürfte die Fassung der Ziff. 2 noch
zu ungenau sein und es überzeugt nicht, daß die körperliche Selbst·
12 Über die geschilderte Praxis vgl. die Kommentare. Ob sie rechtens
ist, kann hier unentschieden bleiben, da wir de lege ferenda sprechen;
vgl. aber Str. d. Dt. Volkes, S. 177, Allgem. Teil, S. 152; vgl. neuerdings
Bockelmann, Festschrift für Eberhard Schmidt, S. 437 ff.
Strafbare Handlungen gegen das Vermögen 79

Schädigung als Versicherungsschwindel besonders schwer bestraft wer-


den soll, ganz abgesehen davon, daß solche Versich·erungsschwindler
immer vermindert zurechnungsfähig sein dürften. Einzufügen ist ent-
sprechend der schweren Urkundenfälschung des älteren Rechts der
Betrug mit Hilre gefälschter Urkunden und die g.enauere Formulie-
rung müßte mit den Urkundenstraftaten abgestimmt werden. Einzu-
fügen ist aber namentlich auch der mittels Warenfälschung wirklich
unternommene Betrug. Die Verfasser des Entwurfs scheinen sich nicht
darüber klar gewesen zu sein, daß jede Warenfälschung oder jeder
betrügerische Wettbewerb unter § 254 iEntw. gerät, wenn nur der
Händler nicht lediglich die Käufererwartung enttäuscht, sondern tat-
sächlich auch die Ware zu einem Überpreis absetzen will. So ungerecht-
fertigt die Milde der heutigen Rechtsprechung in diesen Fällen ist, so
geht doch sicherlich der Vorschlag des Entwurfs im Ergebnis zu weit.
Die Problematik des berufsmäßigen Betruges, vgl. Entw. § 254 Abs. 2
ist an anderer Stelle zu behandeln.
4. Ergänzende Bestimmungen. Die Strafvorschrift über Leistungs-
erschleichung, § 265 a StGB, § 257 Entw., ist ersatzlos zu streichen, so-
weit sie nicht durch die Bestimmungen des Ordnungsstrafrechts über-
nommen wird. Die Kriminalstatistik erweist, daß diese Bestimmung
völlig überflüssig ist. Die Bestimmung über Auswanderungsbetrug
könnte zu den Fällen schweren Betrugs gezählt werden, soweit der
Auswanderer durch die Täuschung geschädigt wird. Im übrigen ist die
Bestimmung zu streichen, weil sie die Auswanderungsfreiheit in ge-
fährlicher Weise einschränkt. Ein Grund für die Strafvorschrift des
§ 260 Abs. 1 Entw. ist nicht ersichtlich. Die körperliche Selbstver-
letzung kann doch dann nicht strafbar sein, wenn der angebliche Scha-
den überhaupt nicht der Versicherung gemeldet wird.
5. Verfolgungsvoraussetzungen: Es ist selbstverständlich, daß der
schwere Betrug und der Versicherungsbetrug von Amts wegen verfolgt
werden müssen. Dagegen sollte der einfache Betrug nur auf Antrag
verfolgt werden. Der Antrag sollte zurückgenommen werden können,
wenn der Betrüger den Schaden wieder gutgemacht hat.
6. Der Tatbestand der Untreue ist wesentlich unter dem Gesichts-
punkt der gesetzlichen Bestimmtheit zu prüfen, vgl. unten S. 116.
IV. Aus Raumgründen können wir uns mit den beiden übrigen
Gruppen nur kurz befassen.
1. Sachbeschädigung, Brandstiftung und auch einige Fälle sonstiger
Schädigungen, die vielleicht aus dem Bereich der lebensgefährdenden
gemeingefährlichen Handlungen ausgegliedert werden könnten, um-
fassen zusammen den Bereich der kriminellen Schade nsstiftung. Es ist
notwendig, diese Gruppe von Verletzungen als eine Einheit zu sehen,
80 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

denn es gilt im Bereich der Schadensstiftung zwischen der einfachen


und der schweren Schädigung zu unterscheiden. Die leichtesten Fälle
der Schädigung wären überhaupt in das Privatrecht zu verweisen. Die
heutigte Sachbeschädigung sollte nur dann kriminell strafbar sein, wenn
sie entweder in irgendeiner Weise gemeinschädlich ist oder unter
Bruch des Hausfriedens geschieht. Soll es auf die Größe des Scha-
dens ankommen, so müßte man es zunächst auf die wirtschaftliche
Bedrängnis des GeschädigtJen abstellen. Darüber hinaus müßte man
eine bestimmte Wertgrenze festsetzen, deren Formalismus bei der
Sachbeschädigung erträglich wäre. In all diesen Fällen wäre wie bis-
her die Verfolgung an den Strafantrag zu binden. Übrigens zeigt die
Kriminalstatistik und die Erfahrung in der Praxis, daß gerade in sol-
chen Fällen die vernünftige Ausübung des Strafantragsrechts durch
den einzelnen Bürger die Unvernunft des Gesetz.e s und der Behörden
wirksam in Schranken hält.
Die Fälle der schweren Schadensstiftung wären besser mit der ge-
meingefährlichen Schadensstiftung in Verbindung zu bringen, als dies
bisher dem Entwurf gelungen ist. Die Bestimmungen des Entwurfes,
§§ 320 bis 342 enthalten manchen guten Gedanken. Zum Teil dürften
aber private Interessen unter dem Anschein einer Verletz.ung öffent-
licher Interes&en übermäßig geschützt sein. Dies gilt namentlich für
die höchst gefährliche Bestimmung des § 335.
2. Der neue Abschnitt über Urkundenstraftaten, §§ 303 bis 311, hat
das Verdienst, daß er die neuen technischen Aufzeichnungen und Be-
urkundungsmittel ziemlich vollständig ins Auge faßt. Er ist aber in-
sofern verfehlt, als er Urkunden und Beweiszeichen gleichstellt. Die
meisten Fälle des Mißbrauchs von Beweiszeichen wären in den Bereich
der Ordnungswidrigkeiten zu verweisen. Es ist aber hier nicht mög-
lich, auf die 'Einzelheiten dieser Bestimmungen einzugehen, ohne die
besonders schwierige Einzelproblematik des Urkundenbegriffes zu er-
örtern. Eine Stellungnahme im einzelnen müßte also einer späteren
Äußerung vorbehalten bleiben, wenn es gelingen sollte, die Entwurfs-
beratungen überhaupt in die durch diese Kritik angezeigte Richtung
zu lenken. Bekanntlich hat die Rechtsprechung den Begriff der Ur-
kunde völlig verflüchtigt bis zu der lächerlichen Entscheidung, daß die
Striche auf einem Bierfilz urkundlich beweisen sollen, wieviel der Gast
bestellt und getrunken hat. Es erscheint mir leider ziemlich sich·er, daß
§ 304 Abs. 2 des Entwurfes diese skurrile Entscheidung bestätigt.
V. Die Behandlung der Bagatellfälle. 1. Der quantitative Unterschied
zwischen kriminellen Vermögensverbrechen 'u nd bloEen Bagatellen,
d. h. Ordnungswidrigkeiten, läßt sich nur im Werte des Vermögens-
schadens bzw. Vermögensvorteils ausdrücken. Dies entspricht dem ge-
Strafbare Handlungen gegen das Vermögen 81

sunden Gedanken des älteren Rechts vor dem bürgerlichen Zeitalter.


Die richtige Grenze zwischen Bagatellfall und -echter Vermögensstraf-
tat wird dort überschritten, wo der angerichtete Schaden mehr als den
Tagelohn eines durchschnittlichen Lohnarbeiters beträgt. Damit würde
das kriminelle Vermögensdelikt immer noch sehr viel früher beginnen
als im 18. Jahrhundert, wo die Grenze nach dem bayerischen Recht
bei 30 Kreuzern, d. h. ·etwa bei 40 bis 50 Mark Kaufkraft der heutigen
Währung lag. Beabsichtigt der Täter einen größeren Schaden anzu-
richten oder größ•eren Vorteil sich anzumaßen, so läge eine echte Ver-
mögensstraftat vor, sei es in der Form des Versuchs oder in Form der
vollendeten Tat. Zum letzteren Punkt sind beide Lösungen vertretbar.
Der Kameradendiebstahl, der Vermögensangriff, der einen anderen
in wirtschaftliche Bedrängnis bringt, können aber nicht als bloße Ord-
nungswidrigkeiten angesehen werden. Dem Abschnitt über Vermögens-
verbrechen wären die nachfolgend formuliertlen Bestimmungen als
letzter Titel anzufügen.
Titel x
"§ a) Betragen in den Fällen der §§ ... der angerichtete Schaden
und der erstrebte Vorteil nicht mehr als den Tagelohn eines durch-
schnittlichen Lohnarbeiters, so ist die Tat nur nach den Bestimmungen
über Ordnungswidrigkeiten zu verfolgen."
(Aufzunehmen wären hier jedenfalls einfacher und privilegierter
Diebstahl, die Unterschlagung, einfacher Betrug.)
"§ b) Gerät der Geschädigte durch die Tat in wirtschaftliche Be-
drängnis oder bricht der Täter ein besonderes Vertrauensverhältnis,
so bleibt die verbotene Handlung eine Straftat."
(Zu der zweiten Bestimmung ist zu bemerken, daß in solchen Fällen
die Tat immer noch als Nottat besonders privilegiert sein könnte.)
VI. Kriminalpolitische Konsequenzen. Es dürfte einleuchten, daß der
Verfasser mit seinen Vorschlägen auf dem Gebiet der Vermögensver-
brechen sein Ziel erreichen würde, die Zahl der Verurteilungen um
mindestens ein Drittel herabzusetzen. Dies würde die Konsequenz
haben, daß die langen Straflisten der schwachen Hangtätler überhaupt
verschwinden würden. Ebenso würden die meisten Straftaten ent-
fallen, welche zu dem unseligen Vorschlag der vorbeugenden Jugend-
verwahrung Veranlassung gegeben haben. Die nicht ·geringe Zahl der
sozial spätreifen jungen Menschen erschiene in einer ganz anderen
Beleuchtung. Man würde aufhören von Verbrechensbekämpfung zu
reden, wo von ernsthafter Gefährdung der Allgemeinheit gar keine
Rede sein kann, und würde das sozialpädagogische Problem der
sozialen Verwahrlosung klar sehen und sich damit vielleicht auch
seiner Lösung nähern.

6 Mayer. Strafrechtsrliform
82 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

§ 8. Verbrechen gegen die Person

I. Die 317 000 Verurteilungen dieser Gruppe unserer Zählung zer-


fallen in folgende Untergruppen:
1. Straftaten gegen Leib und Leben
a) Vors. Tötung §§ 211-217 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
Abtreibung §§ 218, 219 . . ............. . ... . . ...... . 2500
Fahrlässige Tötung mit Verkehrsunfall ........... . 3000
Sonstige fahrlässige Tötungen 600
Tötungen insgesamt 6400
b) Vorsätzliche Körperverletzung §§ 221, 223-225 21000
Fahrlässige Körperverletzung mit Verkehrsunfall . . 89 000
Sonstige fahrlässige Körperverletzungen . . . . . . . . . . . . 6 000
Körperverletzungen insgesamt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 000
c) Gemeingefährliche Straftaten, Vergehen gegen Stra-
ßenverkehrsgesetz und § 142 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . 114 000
Sonstige gemeingefährliche Straftaten (ohne Brand-
stiftung) .............. . ............... . .......... . 36000

Gemeingefährliche Straftaten zusammen ........... . 150 000


Straftaten gegen Leib und Leben insgesamt .. . ...... . 272000
2. Sonstige Straftaten gegen die Person (ohne Sittlichkeits-
verbrechen)
Hausfriedensbruch §§ 123, 124 ........ . .. . . · . .. . .. ... . 6000
Beleidigungen, Geheimnisverrat §§ 185-187, 299, 300
(§ 300 nicht ausgewiesen) . .................. .. ...... . 9 500
Angriffe auf die Freiheit §§ 234, 241 ..... . ........... . 2 700

Sonstige Straftaten gegen die Person insgesamt .. .. . . ... . 18 000


3. Sittlichkeitsverbrechen ... . .............. . . ... .. .. · . .. . 15 000
4. Vernachlässigte Posten und Abrundungen 11000
Zusammen 317 000
Die Folgerungen aus dieser statistischen Betrachtung sind sehr ein-
deutig. Die kriminalpolitische Bedeutung der Angriffe gegen die Per-
son ist weit grö.Eer als die der Angriffe gegen das Vermögen. Auch
wenn man -etwa 100 000 gemeingefährliche Delikte geringerer Bedeu-
tung, namentlich die Vergehen gegen das Straßenverkehrsgesetz, und
außerdem einen Teil der fahrlässigen Körperverletzungen in das Ord-
nungsstrafrecht verweisen könnte, so bleibt das zahlenmäßige Über-
gewicht der Straftaten gegen die Person bestehen. Die personalen
Rechtsgüter, wie Leib und Leben, Ehre und Freiheit, geschlechtliche
Sittlichkeit, sind auch unvergleichlich viel wichtiger als das Vermögen.
Die meisten d er einschlägigen Straftaten sind Einzeltaten, die mit
Verbrechen gegen die Person 83

einem kriminellen Hang nichts zu tun haben. Es handelt sich also in


erster Linie um ein generalpräventives Problem. Eine quantitative
Begrenzung der Strafbarkeit ist insofern möglich, als geringfügige
Gefährdungsdelikte. in das Ordnungsstrafrecht gehören und auch bei
der Körperverletzung und bei manchen Sittlichkeitsverbrechen Ein·
schränkungen möglich sind.
Es ist sehr lehrreich, daß gerade auf diesem wichtigsten kriminal-
politischen Gebiet sich das Privatstrafrecht mit Antragsrecht und BuB-
anspruch für die Körperverletzungen behauptet hat und sich außer-
ordentlich wohltätig auswirkt. Offenbar ist die Sicherheit von Leib
und Leben gewährleistet, obgleich deren Scllutz über das Antragsrecht
bei Körperverletzungen weitgehend dem Ermessen des Bürgers an-
vertraut ist.
Wir betrachten auch diese Straftatengruppe an dieser Stelle unter
dem Gesichtspunkt einer möglichen quantitativen Beschränkung.
II. Straftaten gegen Leib und Leben. 1. Es liegt auf der Hand, daß
sich die Tatbestände der auf unmittelbare Verletzung des Lebens,
auch des keimenden Lebens, abzielenden Straftaten nicht einschränken
lassen. Hier ist das öffentliche Strafrecht in s•einem Recht. Wird gegen
die Abtreibungsseuche nicht mit Energie eingeschritten werden, so
muß die Ehrfurcht vor der Heiligkeit des Lebens schwinden. Das Leben
hätte im letzten Menschenalter nicht als ein willkürlicher Verfügung
unterlie~ndes Gut angesehen werden können, wenn nicht vorher im
Lebensbereich der Frau jene entsetzliche Entwertung des keimenden
Lebens eingetreten wäre.
Will man aber die Abtreibungsseuche wirksam bekämpfen, so muß
man die Verhütung einer unerwünschten Schwangerschaft leicht ma-
chen. Dies läßt sich mit hinreichender sozialer Sicherheit erreichen,
wenn die Verhütung auch in die Hand der Frau selbst gelegt wird.
Dazu gehört planmäßige Beratung. Damit soll nicht etwa einer laxen
Auffassung des Geschlechtslebens das Wort geredet werden. Dem Ver-
fasser dieser Zeilen erscheint kein Zweifel daran erlaubt, daß jeder
außereheliche Geschlechtsverkehr unzüchtig ist, aber es ist unverant-
wortlich, ein Kind in die W-elt zu setzen, welches des Schutzes der
Ehe entbehrt und es ist ein schweres Verbrechen gegen das Leben,
wenn eine unerwünschte Schwangerschaft durch Abtreibung beseitigt
wird. Um das Schlimmere zu verhüten, ist deshalb die rechtzeitige
Belehrung üboer Verhütungsmittel, die Beratung bei ihrer Anwendung
in öffentlichen Beratungsstellen erforderlich. Dann darf aber sexuelle
Beratung und Aufklärung nicht unter Strafe gestellt werden. Die Be-
stimmung des § 227 Entw. macht eine wirksame Bekämpfung der Ab-
treibungsseuche geradezu unmöglich. Wenn d ie Verhütungsmittel recht-
zeitig in die Hände der Beteiligten, namentlich auch der Mädchen und
8i Quantitative Einschränkung des Strafrechts

Frauen, gelangen sollen, so müssen sie angeboten werden können, auch


wenn dies zunächst das Schicklichkeitsgefühl des Empfängers verletzt.
iEs ist dah•er § 227 Entw ersatzlos in den Bereich der Ordnungswidrig-
keiten zu verweisen1 • Die Verwaltung kann dann dafür sorgen, daß
die unerläßliche Belehrung das öffentliche Schamgefühl möglichst
wenig verletzt, und auch die sittlichen Auffassungen nicht gefährdet.
Nur so lassen sich die ungeheuerlichen Schäden für Leib und Seele
ausräumen, welche mit der Massenabtreibung zusammenhängen.
2. Der Tatbestand der Körperverletzung ist auf die Gesundheits-
beschädigung und die Zufügung erheblichen Schmerzes einzuschrän-
ken2. Anders leider § 146 Entw. Der unbestimmte Begriff der Miß-
handlung ist rechtsstaatlich unerträglich und bezieht ganz unerhebliche
Vorgänge in die Körperverletzung ein. Körperliche Einwirkungen, die
weder Schmerzen zufügen, noch die Gesundheit beschädigen, mögen
tätliche Beleidigungen sein. "Verletzungen" sind sie nicht.
Mit Recht hält der Entwurf daran fest, daß einfache Körperver-
letzungen nur auf Antrag verfolgt werden. Das Einsammeln von Straf-
anträgen durch die Polizei oder Versicherungen sollte auch hier aus-
geschaltet werden. Ein etwaiges öffentliches Interesse an der Straf-
verfolgung geltend zu machen, sollte nicht der Justizbehörde zustehen,
sondern der Polizeibehörde im Range der unteren Verwaltungsbehörde.
Damit hat d1e Abgrenzung zwischen einfacher Körperverletzung einer-
seits, schwerer und gefährlicher Körperverletzung andererseits eine
außerordentliche Bedeutung g'e wonnen. Die Bestimmungen des Ent-
wurfs in den §§ 153 bis 155 sind im allgemeinen zu billigen, nur § 175
Abs. 2 wäre zu streichen.
3. Die Verkehrskriminalität beherrscht das statistische Bild der
Straftaten gegen die Person.
Die Lösung dieser Probleme dürfte auf folgendem Wege zu suchen
sein:
a) Ein Teil der Strafen wegen fahrlässiger Körperverletzung könnte
entbehrt werden. Das Verschulden ist häufig nur recht gering, die
gegenwärtige Verkehrslage überfordert den Menschen. In den meisten
Fällen hat der Verletzte kein echtes Genugtuungsbedürfnis3 gegenüber
dem Schädiger, die meisten Strafanträge sind also unecht. Vielfach
wird nur in den Formen des Strafprozesses ein Beweisprozeß um den

1 Auf eine Analyse der einschlägigen Rechtsprechung zu § 184, Ziff. 3 a,


aber auch zu § 185, soll hier verzichtet werden. Aber es ist jedenfalls heute
lebensfremd anzunehmen, daß die Jugend nicht unterrichtet sei. Bei Zu-
sendung muß unaufdringliche Werbung erlaubt sein.
2 So schon de lege lata Binding, Lehrb. Bd. 1, S. 43. Die auch in der Pra-
xis herrschende Gegenmeinung zieht keineswegs alle Konsequenzen.
3 Vgl. dazu meine Abhandlung, G. S. Bd. 104, S. 314 ff.
Verbrechen gegen die Person 85

Schadensersatzanspruch geführt. Dafür ist aber der Strafprozeß nicht


da und deshalb müßten Menschen nicht bestraft werden4 • Das Straf-
verfahren wäre in der Regel bis zur Regelung des zivilen Schadens-
ersatzanspruches auszusetzen, nach dessen Beendigung müßte dem
Antragsteller das Recht zustehen, den Strafantrag zurückzunehmen.
Die Masse der Verstöße ·gegen das Straßenverkehrsgesetz ist in das
Gebiet der Ordnungswidrigkeiten zu verweisen.
Dies ist allerdings nur möglich, wenn die Bestimmungen der
§§ 315 a, 316 Abs. 2 StGB noch über § 349 des Entwurfs hinaus um die
schwereren Verstöße gegen das Straßenverkehrsgesetz erweitert
werden.
Zu bestrafen ist also die wirkliche Rücksichtslosigkeit und Frivolität
im Verkehr, d. h. di•e unfallträchtige Fahrweise5 • Die menschliche Un-
zulänglichkeit und bloße Ordnungswidrigkeit gehört dagegen in den
Bereich eines wirksamen Schadensersatzrechtes und eines energischen
Ordnungsrech tes.
Damit könnte die Zahl der Verurteilungen wegen Straftaten gegen
die Person ganz erheblich vermindert und zugleich die Verkehrssicher-
heit erhöht werden.
4. Bei den sonstigen gemeingefährlichen Straftaten, welche eine Ge-
fährdung von Leib und Leben in sich schließen, stellt sich im allge-
meinen das Quantitätsproblem nicht. Es kann daher auf die Erörterung
dieser Tatbestände verzichtet werden.
III. Von den sonstigen Straftaten gegen die Person stellt sich das
Quantitätsproblem nur bei der Beleidigung in weiterem Sinn. Es ist
ihier nicht möglich, die ganzen Fragen des Ehrenschutzes ~u erörtern.
Immerhin soll auch hier der alte Vorschlag wiederholt werden, die
mündliche Beleidigung unter vier Augen aus dem Strafrecht über-
haupt herauszunehmen. Außerdem ist § 185 StGB unter dem Gesichts-
punkt der gesetzlichen Bestimmtheit zu überprüfen, vgl. unten
§ 11 III 1. Ferner sollte die Möglichkeit geschaffen werden, daß der
Hausfriedensbruch in leichten Fällen als bloße Ordnungswidrigkeit
geahndet wird. Zu den zahlreichen Tatbestandsproblemen dieser
Gruppe soll hier keine Stellung genommen werden, weil, abgesehen
4 Vgl. Karl Peters in Peters-Lang-Hinrichsen, Grundfragen der Straf-
rechtsreform 1959, S. 33 f.: "Unser heutiges Strafrecht ist weitgehend der
Büttel für die Klärung rein zivilistischer Lebensvorgänge und ihrer Durch-
setzung geworden." Vgl. auch Karl Peters in Festschrift für Eberhard
Schmidt, S. 488 ff.
5 Die mechanische einseitige Verfolgung auch der Fälle leichter Alkohol-
beeinflussung wirkt praktisch als ein Freibrief für die gefährliche Rück-
sichtslosigkeit, die viel mehr Unfälle auf ihrem Schuldkonto hat, als der
Alkohol.
86 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

vom Hausfriedensbruch und Beleidigung, die sonstigen Straftaten


gegen die Person statistisch nicht zu Buch schlagen.
IV. Sittlichkeitsverbrechen. 1. Die Kriminalstatistik faßt unter diesem
Titel die 14 000 Verurteilungen aus §§ 173 bis 184 StGB zusammen,
die kriminologisch zugehörigen Verurteilungen aus §§ 170, 172 StGB
können statistisch vernachlässigt werden.
Die Hauptposten der Rechnung sind folgende:
Mißbrauch Abhängiger § 174 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 900
Unzucht mit Kindern § 176 Abs. 1, Ziff. 3 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 100
Kuppelei und Zuhälterei §§ 180, 181, 181 a StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 300
Erregung öffentlichen Ärgernisses § 184 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 000
Straftaten gegen die geschlechtliche Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 300
Paederastie §§ 175, 175 a StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 800
Im Verhältnis zu den bisher besprochenen Verbrechensgruppen sind
die Zahlen klein, betreffen aber objektiv ernste Verstöße gegen die
Person, die subjektiv manchmal entschuldbar sind. Die deutsche Ge-
richtspraxis neigt dazu, Sittlichkeitsverbrechen schwer zu bestrafen,
daher kann ein solches Urteil möglicherweise ein sonst geordnetes
Leben völlig aus der Bahn werfen. Es ist also sowohl die general- und
spezialpräventive Wirkung der Strafen als auch die Frage des per-
sönlichen Schicksals der Beteiligten zu bedenken. Insofern gewinnt die
Quantitätsfrage trotz der geringen Zahlen an Interesse.
Aus dem zeitlichen und örtlichen Vergleich der Kriminalitätsziffer
lassen sich keine Schlüsse auf den sittlichen Zustand oder auch nur
auf die tatsächliche Häufigkeit derartiger Delikte ziehen. Die Dunkel-
ziffer ist so groß, daß die repräsentative Bedeutung der Kriminalitäts-
ziffer völlig ungewiß bleibt. Die kriminelle Reizbarkeit gegenüber
Jugendverführung und gewaltsamer Unzucht ist größer, die allgemeine
Sittenlosigkeit ist sichtbarer geworden. Das übliche pessimistische Ur-
teil über die sittlichen Zustände unserer Zeit übersieht freilich, daß
man einen sittlichen Zustand, wie er nur im Altbürgertum und auch
m diesem nur beilweise verwirklicht war, nicht als gesetzliche Norm
auf alle Zeiten und auf die Allgemeinheit übertragen kann. Wahr-
scheinlich haben die br eiten Massen bis einschließlich des 18. Jahr-
hunderts auch schon sehr früh den Geschlechtsverkehr begonnen, ohne
daß sich die Obrigkeit um das sexuelle Verhalten der Unterschicht viel
bekümmerte. Erst als das Bürgertum zur Herrschaft kam, versuchte
es nach dem Grundsatz der Gleichheit die im Altbürgertum erreichte
Sittenstrenge der Allgemeinheit aufzudrängen. Heute zerfällt mit d•em
Heiratskreis des Altbürgertums auch dessen Lebensform. Die Unter-
suchungen über die angebliche Aceeieration des Geschlechtstriebes sind
"erbreChen gegen die Person 87

also in ihren geschichtlichen Grundlagen zweifelhaft, haben aber jeden-


falls erwiesen, daß das Verlangen weit früher beginnt, als man ein-
mal wähnte.
2. Es kommt nicht nur auf die Frage an, inwieweit Strafverfolgung
überhaupt geeignet ist, die gültige geschlechtliche Sittenordnung zu
bekräftigen und durchzusetzen6 • 1Es muß zuerst die Grundfrage beant-
wortet werden, was denn überhaupt sexuelle Sittlichkeit und ge-
schlechtliche Reinheit ist. Leider fehlt es sowohl der Strafrechtswissen-
schaft als auch dem Entwurf an klaren Grundsätzen über Sexualethik,
ihre sozialen Voraussetzungen und ihre soziale Bedeutung7 • Es reicht
auch nicht aus, wenn man an Hand der herkömmlichen Strafbestim-
mungen nach einem praktischen Kompromiß sucht, zwisch•en denen, die
möglichste Zurückhaltung des Staates auf diesem Gebiete fordern,
und den anderen, die mit Strenge den Auflösungserscheinungen ent-
gegentreten wollen. Wie wenig solche Kompromisse auf scheinbar un-
bestrittenen Teilgebieten taugen, zeigt die überaus törichte Behandlung
der Sittlichkeitsverbrechen Jugendlicher in unserer heutigen Straf-
rechtspflege.
Stellt man sich aber die Grundsatzfrage, so muß man davon aus-
gehen, daß der Gesetzgeber eben gerade auf umstrittenem sittlichem
Gebiet besondere Verantwortung trägt, daß er also Gesetze in tiefem
Sinn aufstellen muß, daß es seine Sache ist zu entscheiden, Wert-
tafeln aufzurichten und den Schwankenden Halt zu geben. Daß das
gesellschaftliche Leben selbst heute noch schwankender ist, als zu an-
deren Zeiten, weiß jedermann. Aus der sozialen Wirklichkeit läßt sich

8 Nur diese an sich bereChtigte Frage stellt die Begründung S. 334 ff.
7 Binding, Lehrb. Bd. 1, S. 194, redet von einem ReChtsgut der Ge-
sChleChtsehre, ohne dies saChliCh zu definieren, gibt vielmehr § 49 II nur
Ableitungen, die siCh in dieser Form kaum ableiten lassen. Er verweist auf
die "Grenzen von ReCht und Sitte", ohne zu sagen, welChen Sinn diese
Grenzen haben. AuCh GrassbergeT in Festschrift für Eberhard Schmidt,
S. 333 f., setzt die sexuelle Sitte lediglich in ihrer TatsäChlichkeit voraus.
Heute enthalten sich die meisten jeder grundsätzlichen Stellungnahme; vgl.
Welzel, Lehrb. 7. Aufl., § 63. Maurach, Besonderer Teil, 3. Aufl., S. 376 ff.
Schönke-Schröder, "orbemerkung vor 13. Abschnitt I, sagt geradezu: "Ge.,
schützt werden die Grundsätze, die nach der tatsächlichen Entwicklung
innerhalb des deutsChen Volkes bezüglich der geschlechtliChen Verhältnisse
gelten." Mezger, Strafr., besonderer Teil, § 22, sChreibt zwar: ,.Die maß-
gebende Ordnung des gesellschaftlichen Lebens liegt für das heutige ReCht
in der EinriChtung der Ehe." Aber daraus zieht Mezger keine eigentlichen
rechtlichen Konsequenzen.
Die Referate von Niggemeyer, Renee König, Baader auf der Arbeits-
tagung des Bundeskriminalamtes über Sittlichkeitsverbrechen 1959 kommen
zu keinerlei wirklichem Ergebnis. Gescholten wird viel über die Sitten-
riChterei in Strafurteilen, vgl. NJW 1961, S. 1569. Tatsächlich sind die Ur-
teile der NJW 1959, S. 1092 und 1961, S, 838, niCht miteinander zu verein-
baren und zeigen, daß das allgemeine Sittlichkeitsempfinden keine wirk-
lichen Antworten gibt.
88 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

also das Gesetz nicht ablesen, es hat vielmehr dieser die Form zu
geben. Für den Gesetzgeber .gilt Goethes Vers in besonderem Maße:
"Denn der Mensch, der zur schwankenden Zeit auch schwankend ge-
sinnt ist,
Der vermehret das Übel und breitet es weiter und weiter.
Aber wer fest auf dem Sinne beharrt, der bildet die Welt sich."
Zwei Grundauffassungen stehen sich gegenüber, die natürlich auch
in verschiedenartigen Kompromissen miteinander verbunden werden.
Die gegenwärtige Gesetzgebung hat zur historischen Grundlage die
christliche Vorstellung der religiös begründeten Monogamie, daß von
Anbeginn ein Mann und ein Weib geschaffen sei, und beide unlöslich
ein Fleisch werden sollen, vgl. Matth. 19. Diese Vorstellung erkennt
die große Bedeutung der Sexualität als einer göttlichen Schöpfergabe
durchaus an, weist aber die Geschlechtlichkeit ausschließlich in die
Ehe. Diese Forderung verliert nicht deshalb ihre Geltung, weil mensch-
liche Schwäche ihre volle Verwirklichung ausschließt. Aus der ster-
benden Antike übernimmt die christliche Tradition auch ein gutes Teil
urtümlicher Sexualangst, die VorsteUung, daß der Mensch in der
sexuellen Ekstase die Person verliere und unrein werde. Die aus
dieser biologisch an sich natürlichen Angst stammenden Übertrei-
bungen können im Ganzen heute als abgetan gelten.
Die Gegenmeinung verehrt in der zur Erotik sublimierten Sexualität
gerade in ihrer wechselhaften Lebendigkeit das eigentliche Lebens-
prinzip und Lebensglück. Die Ehe wird von hier aus leicht zum äußer-
lichen Zwang, sie ist jedenfalls nur die äußere Form einer erotischen
Bindung. Die naturhafte Kraft soll allerdings gesund und "rein" blei-
ben, was in der Hauptsache heißt, daß !Erotik und Sexualität nicht aus-
einanderfallen sollen. Für diese erotische Weltdeutung ist die Pro-
stitution das schlimmste Skandalen, das es geben kann, denn es kommt
eben alles darauf an, daß die Sexualität in der Erotik ihre Weihe und
Rechtfertigung erhält. Allerdings wird diese Auffassung nur selten in
voller Klarheit vertreten, denn sie stößt sich eben an der Macht der
christlich bestimmten Überlieferung. Außerdem kann sich auch der
ideologische Naturalismus einfach nicht der nüchternen Menschheits-
erfahrung entziehen, daß die dämonische Macht der Sexualität die
höhere Persönlichkeit und die menschliche Ordnung bedroht. So tarnt
sich dieser Naturalismus vielfach mit dem idealistischen Gedanken,
daß in der Intimsphäre des Menschen nur die freie Gewissensentschei-
dung gelten dürfe. Man legt Wert auf "Reinheit" des Geschlechts-
lebens, d. h. man macht den vergeblichen Versuch, ausgerechnet das
Triebleben als solches irgendwelchen Idealnormen zu unterwerfen.
Insbesondere will man die frühzeitige Se:x,ualität unterbinden, da in
Verbrechen gegen die Person 89

ihr die höhere Erotik noch fehle. Dies wird aber begreiflicherweise
von der Jugend entschieden bestritten, zumal kein moralisches Prinzip
der Jugend weniger einleuchtet, als der Satz: "Das ist nichts für kleine
Mädchen."
Es kann schon aus historisch-politischen Gründen gar kein Zweifel
darüber sein, daß sich der Gesetzgeber im Prinzip für die in der ge-
gebenen christlichen Volksreligion begründete Überlieferung ent-
scheiden muß. Nur der Puritanismus nach Reformation und Gegen-
reformation hat aber aus dieser Überlieferung den Schluß gezogen,
daß das Strafrecht alle geschlechtliche Unordnung bestrafen müsse. Ge-
hölt die Geschlechtlichkeit in die Ehe, so tritt die ideologische Forde-
rung des Einklangs von Sexualität und Erotik in den Hintergrund, es
gibt keinen Unterschied von reiner und unreiner Sexualität. Sie er-
scheint in allen ihren Formen, auch in der Prostitution, als natürlich,
aber eben nur als ungeordnet und der Ordnung in der Ehe be-
dürftig. !Eine Ausnahme machen nur eigentliche Erkrankungen der
Triebrichtung. Aber es kann, so gesehen, zunächst nur die Aufgabe
von Familie und Gesellschaft, die Pflicht des Einzelnen selbst sein, den
Trieb in Zucht zu nehmen. Die geschichtliche Erfahrung lehrt zudem,
daß jeder Versuch, die Unzucht als solche zu strafen, an der Über-
macht des Triebes scheitert. Der Staat kann also nicht allgemein jede
Unzucht, sondern nur die besonders schweren Formen der Unzucht,
wie die gewaltsame Unzucht oder die Verführung unschuldiger Ju-
gend, verbieten. Vor allem muß der GeStetzgeber klare Grundsätze auf-
stellen, insbesondere unmißverständlich sagen, was Unzucht ist. Ver-
weist er hier, wie die Rechtsprechung irrig meint, auf das normale
Schamgefühl8 , so gibt er den vortrefflichen Rat, die Gesellschaft möge
sich wie Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Sumpfe ziehen. Will
der ·Gesetzgeber die Eheordnung schützen, so ist Unzucht einfach die
unmittelbare Erregung oder Befriedigung des Triebes außerhalb der
Ehe, wenn auch nicht jede Unzucht strafbar ist. In der Ehe ist Unzucht
nur insofern denkbar, als das Prinzip der Monogamie verletzt wird.
Es kann aber niemals Aufgabe des Gesetzgebers sein, dem wunder-
lichen Eros bestimmte Betätigungsweisen als "rein" vorzuschreiben,
andere als "unrein" zu verbieten.
Die Strafbestimmung gegen den Ehebruch hat daher als die eigent-
liche Kernbestimmung den Abschnitt über Sittlichkeitsverbrechen zu
eröffnen, wie dies vor 1943 der Fall war. Ohne diese Kernbestimmung
werden alle übrigen unverständlich. Dann muß das Kuppeleiverbot
folgen, das wie heute grundsätzlich die Förderung fremder Unzucht
unter Strafe stellt, wenn auch auf besonders schwierige Verhältnisse
8 Vgl. die Nachweise bei Schönke-Schröder, § 174 II 1.
90 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

Rücksicht zu nehmen ist. Es folgen dann di•e Strafbestimmungen gegen


die Unzuchtspropaganda in Presse, Literatur, Film usw. Der Staat
kann insofern Bedeutendes tun, als er alle Unzucht unzweideutig miß-
billigt, indem er deren Förderung unter Strafe stellt.
Richtet so der Gesetzgeber klare Wertmaßstäbe auf, kann er sich im
übrigen auf soehr exakt formulierte Tatbestände beschränken. Der alte
Reichskanzler von Hohenlohe hatte recht, als er anläElich der so-
genannten Lex Heinze im Alter von 80 Jahren in seinen Tagebüchern
niederschrieb9 : "Es ist ein krankhafter Zug unserer Zeit, die Menschen
durch Gesetze tugendhaft machen zu woll~n. Die menschliche Natur
fordert die Befriedigung des Geschlechtstriebes und wird diese finden,
auch wenn noch so viele Strafbestimmungen erlassen werden." Wir
müssen namentlich bedenken, daß die moderne Entwicklung nicht nur
physiologisch den Anfang geschlechtlichen Verlangens vorverlegt hat,
sondern gesellschaftlich auch das Eheschließungsalter hinausgeschoben
hat. Selbst wenn man letzteres wieder rückgängig machen könnte,
bliebe immer eine Zwischenzeit, in der man nicht erwarten kann, daß
auch nur die Mehrzahl der jungen Männer und Mädchen sich ge-
schlechtlich zurückhält10• Wir müssoen uns leider sogar damit abfinden,
daß eine nicht geringe Zahl junger Mädchen vorzeitig geschlechtlich
aktiv wird, aktiver vielleicht als die männliche Jugend. Die moderne
technische und hygienische Entwicklung hat die uralte Angst vor
Schwangerschaft und Geschlechtskrankheiten beseitigt und damit
früher sehr wirksame Hemmungen ausgeschaltet. Der Staat kann also
gegen die ordnungswidrige Triebbetätigung selbst weniger tun als
jemals. Hier kann nur gute Zucht und vorbildliche Haltung der Eltern,
ernste und zugleich verständnisvolle erzieherisch'€, sittliche und reli-
giöse Führung helfen. Der Staat trägt seinen entscheidenden Teil bei,
indem er die Ehe schützt und die Förderung fremder Unzucht durch
Kuppelei oder Unzuchtspropaganda bestraft. Er kann im übrigen nur
besonders schlimm~ Auswüchse der Unzucht strafrechtlich bekämpfen.
Diese wenigen Tatbestände sind so klar zu begrenzen und zu for-
mulieren, daß jede moralisierende extensive Interpretation möglichst
unterbunden wird. Auch der Beleidigungstatbestand ist so eindeutig
zu beschreiben, daß die Praxis aus ihm nicht wi~der einen Auffang-
tatbestand machen kann, der dann alle unZJüchtigen Äußerungen und
Zumutungen umfaßt11, die der Gesetzgeber mit gutem Grund straflos
gelassen hat. Es widerspricht vor allem den heutigen Lebensverhält-
9 Fürst Chlodwig von Hohenlohe Schillingsfürst, Denkwürdigkeiten der
Reichskanzlerzeit, herausgegeben von K. A. von Müller 1931, S. 560 f.
10 So auch der strenge Rigorist Immanuel Kant in Pragmatische Anthro-
pologie II. Teil, Abs. E lit. A.
11 Vgl. die Nachweise bei Schönke-Schröder, § 185 II 1 III.
Verbrechen gegen die Person 91

nissen, wenn man glaubt, die Frau vor dem geschlechtlichen Verlan.gen
des Mannes schützen zu sollen. Dieser Gesichtspunkt hatte eine gewisse
Berechtigung zu der Zeit, als die Frau unter der Herrschaft des Mannes
weitgehend geschützt und daher unerwarteten Angriffen gegenüber
wehrlos war. Die freie Frau der Gegenwart, gerade auch die weib-
liche Jugend, muß und kann sich selbst schützen. Die sittliche Ord-
nung hängt heute an der sittlichen Selbstverantwortung der Frau.
3. Der Ehebruch kann unmöglich straflos bleiben, soll nicht die Ehe
ihre in Art. 6 Grundgesetz ·garantierte verfassungsrechtliche Stellung
einbüßen. Der freie Westen wird die Partie gegen die Strenge der
totalitären Ordnung verlieren, wenn er nicht mit der Leichtfertigkeit
in Dingen der Ehe aufräumt. Andererseits sind hier Leidenschaften,
und nicht nur sinnliche, im Spiel, die der Macht der Gesetze spotten.
Man muß also sehr genau bedenken, was sich heute tun läßt, und darf
sich nicht auf herkömmliche Bestimmungen verlassen. Die nachträg-
liche Bestrafung des Ehebruchs nach Auflösung der Ehe, wie sie im
geltenden !Weht stattfindet, wird von den Gerichten nicht mit Unrecht
als Racheakt empfunden. Daher werden meist ganz niedrige Strafen
verhängt, die sich wie Hohn auf die Ehe ausnehmen.
Entsprechend der in der Familienrechtsnovelle sichtbaren Tendenz
sollte daher die Strafbestimmung der Erhaltung der Ehe dienen. Da-
her kann sich der unentbehrliche Strafantrag immer nur gegen den
Störer der Ehe richten, der aber erst dann strafbar werden sollte,
wenn er trotz förmlicher Ahmahnung durch einen Rechtsanwalt im
Ehebruch beharrt. Letztere Regelung entspricht älteren Rechtsvorstel-
lungen, die insoweit verdienen wiederaufgenommen zu werden. Die
Tat wird straflos, wenn der mitschuldige Ehegatte seinerseits die ehe-
liche Gemeinschaft überhaupt löst. Dann kann man nämlich dem
Störer nicht mehr zumuten, sich der gesetzlosen Gemeinschaft zu ent-
halten12.
Der Verfasser verkennt nicht, daß eine solche Vorschrift sehr realen
Ernst mit der Ehebruchsstrafe macht. Das ist aber in unserer Zeit auch
nötig. Hier muß der Pelz gewaschen, also auch wirklich naß gemacht
werden. Aber der Vorschlag enthält keine üboertriebene Strenge. Bevor
der gekr·ä nkte Teil sich zur förmlichen Ahmahnung entschließt, wird
er lange überlegen und verhandeln. Beim Verhandeln hat er eine
starke Waffe und anwaltschaftliehe Beratung. Bleibt der gekränkte
Teil untätig, so wird er in den Verwirrungen dieser Welt meist gute
Gründe haben; aber auch schlechte Gründe berechtigen den Staat nur
dann einzugreifen, wenn eigentliche Kuppelei vorliegen sollte. Kommt
es zur Abmahnung, so wird der Störer sich gewöhnlich zurückziehen,
12 Also der F a ll, den Fontane in L. adultera behandelt hat.
92 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

einzelne Verfehlungen sind ohnedies noch kein Beharren im Ehebruch.


Wer aber schließlich wirklich das Risiko einer gesetzlosen Verbindung
eingeht, handelt mindestens nicht im vordergründigen Sinne leicht-
fertig und kann als durch übergro.Ee Leidenschaft entschuldigt gelten.
Die Bestimmung würd•e also nur selten zu wirklichen Strafen führen,
die dann auch streng sein könnten. Aber niemand könnte bei wäh-
render Ehe seine Nebenfrau in der Theaterloge zeigen.
Die Bestimmung würde also folgendermaßen lauten müssen:
"§Ehebruch
Wer trotz Ahmahnung eine fremde Ehe stört, indem er im Ehebruch be-
harrt, wird . . . bestraft. Die Ahmahnung erfolgt durch Zustellung einer
von einem Rechtsanwalt unterzeichneten Abmahnungsschrift."
"Die Tat wird nur auf Antrag des gekränkten Gatten verfolgt. Sie wird
straflos, wenn der mitschuldige Gatte die eheliche Gemeinschaft löst."
4. Aus den oben dargelegten grundsätzlichen Erwägungen muß klar-
gestellt bleiben, daß der Gesetzgeber jede Unzucht, d. h. jede Ge-
schlechtsbeziehung außerhalb der Ehe mißbilligt, indem er die Kup-
pelei grundsätzlich für strafbar erklärt. Wenn der Entwurf die Ver-
kuppelung von Personen über 18 Jahre freigibt, so untergräbt er die
sittliche Ordnung. Die wirklich probl€:matischen Fälle lassen sich in
anderer Weise ausräumen. Die mit der Prostitution verbundene Kup-
pelei stellt überhaupt ein·en Sonderfall dar, vgl. unten Ziff. 8.
Die allgemeinen Schwierigkeiten bei der Durchführung des Kup-
peleiverbots, von denen die BegründungS. 363 berichtet, entstehen über-
haupt erst dadurch, daß die Rechtsprechung auch hier die Rechtsfigur
der Begehung durch Unterlassung13 anwendet, und so allerdings z. B.
Vermieter oder Beherberger überfordert. Beschränkt man sich aber
auf die gewinnsüchtige positive Förderung fremder Unzucht, so ist
nicht einzusehen, weshalb die Verkuppelung älterer Personen straflos
bleiben soll. Der Vermieter fördert doch die Unzucht des Zimmer-
herren nicht dadurch positiv, daß er den Besuch desselben nicht über-
wacht. Der Hotelportier hat genug getan, wenn er dem erkennbar
illegitimen Pärchen zwei getrennte Zimmer anweist. Aber der Gastwirt
darf unzüchtiges Treiben in der Gaststub-e doch auch dann nicht da-
durch fördern, daß er den Raum wissentlich zur Verfügung stellt, wenn
die Gäste über 18 Jahre alt sind.
Die Verkuppelung von Jugendlichen kann allerdings auch dadurch
geschehen, daß der Erzieher dieselbe duldet. Das Problem liegt natür-
lich bei der Jugend unter 18 Jahren. Nun kommt es aber hier darauf
an, daß die Jugend nicht im kritischen Alter, das bei den Mädchen
mit 18 Jahren bereits vorüber ist, den Schutz der Eltern verliert. Ins-
13 Vgl. die Nachweise bei Schönke-Schröder, § 180 IV 3.
Verbrechen gegen die Person !}3

besondere sind die Mädchen vor häufig wechselndem Geschlechtsver-


kehr zu bewahren, aus dem allzuleicht die Prostitution folgt.
Man darf daher von d•cn Eltern nichts Unmögliches verlangen. Denn
sie können unmittelbaren Zwang gegen die Jugend nicht allzulange,
auch gegen frühreife und geschlechtshungrige Mädchen überhaupt
kaum ausüben. Wenn man also die 1Eltern schlechthin bestraft, wenn
sie Geschlechtsverkehr der Jugendlichen unter 18 duld•cn, so treibt man
nur die besonders gefährdete Jugend aus dem Elternhaus. Dazu ist zu
bedenken, daß die Bestrafung der einfachen Unzucht am männlichen
Teil nach §§ 176 Ziff. 3, 182, 185 StGB nur dem Mädchen den dauern-
den Freund versagt und es so in den häufig wechselnden Geschlechts-
verkehr gerad·ezu hineinstößt. Gewiß sollen die Eltern unsittliche Be-
ziehungen nicht fördern, aber sie müssen die erforderlichen Aushilfen
ergreifen können, ohne durch formale strafrechtliche Bestimmungen
beengt zu &ein. Es muß also den Eltern unverboten sein, den Ge-
schlechtsverkehr unter Verlobten zu dulden, auch wenn das Mädchen
noch nicht 18 Jahre alt ist. Bei Jungen hat die Frage ohnedies gerin-
gere praktische Bedeutung. Es überzeugt nicht, wenn die Begründung
a.a.O. meint, der Gesetzgeber würdrc auf diese Weise zu der Frage
Stellung nehmen, ob der Verkehr unter Verlobten Unzucht ist. Was
noch nicht bestraft wird, ist noch immer nicht gebilligt. Wohl aber
wird der Rechtsbegriff der Unzucht überhaupt aus der Welt geschafft,
wenn man mit dem Entwurf die Verkupplung von Personen über
18 Jahre ·grundsatzlich freigibt.
5. Es sollten dann, wie dargelegt, die Strafbestimmungen gegen die
Verbreitung und Weitergabe unzüchtiger Schriften und Darstellungen
folgen. Sie werfen zwar sehr schwierige Fragen auf, stellen aber keine
Quantitätsprobleme.
6. Erst danach sollten d:•c Strafbestimmungen gegen strafbare Un-
zucht eingeordnet werden. Alle diese Bestimmungen tragen die
Schwierigkeit in sich, daß sie sich unmittelbar gegen die Leidenschaft
des Triebes wenden.
a) Unzucht, qualifiziert durch Angriffe gegen die Willensfreiheit.
Die einschlägigen Bestimmungen des geltenden Rechts sind im
Wesentlichen gesund, nur zum Teil durch eine moralisierende Recht-
sprechung verdorben. Die vom Entwurf vorgeschlagenen Erweiterun-
gen beruhen auf dem falschen Gedanken, daß diese Bestimmungen
die geschlechtlich•c Freiheit als solche schützen. Eine solche geschlecht-
liche Freiheit gibt es aber a~ ein selbständiges Rechtsgut überhaupt
nicht, denn niemand hat das "Recht", Unzucht zu treiben. Die Ein-
willigung rechtfertigt nicht die Unzucht, sie schließt nur das Tat-
b estandsmerkmal der Willensbeeinträchtigung aus. Es kann also nur
94 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

die Frage gestellt werden, ob und inwieweit ein Angriff auf die
Willensfreiheit die Unzuchtshandlung strafwürdig macht.
Abzulehnen ist in § 206 Entw. die Fassung "eine unzüchtige Hand-
lung zu dulden oder eine Handlung vorzunehmen, die das allgemeine
Scham- und Schicklichkeitsgefühl in gesclllechtlicher Beziehung er-
heblich verletzt". Es ist vielmehr klarzustellen, daß der Genötigte
körperlich an einer unzüchtigen Handlung beteiligt wird. Andere Aus-
schreitungen e!"eignen sich meist im Gefolge zweifelhafter Vergnügun-
gen, mit denen sich das Strafrecht nicht befassen sollte. 'Erst recht
ist nicht ersichtlich, weshalb der Geschlechtsverkehr mit einer hoch-
gradig Schwachsinnigen strafbar sein soll, zumal wenn diese - wie
der Entwurf richtig sieht- geschlechtlich sehr aktiv ist. Die Regelung
des Entwurfs würde doch zur strengen Verwahrung solcher Frauen
nötigen, damit sie kein Unheil anrichten. Der Zustand der Anstalten,
in denen solche mannstollen Geisbesschwacllen angesammelt werden.
wäre ebenso fürchterlich, wie das Schicksal solcher Mädchen selbst in
diesen Anstalten.
b) Sehr fragwürdig sind bereits die Jugendschutzbestimmungen des
geltenden Rechts §§ 176 Ziff. 3 und 182 StGB, insbesondere ihre Er-
weiterung durch § 185 StGB. Die Vorschläge des Entwurfes gehen
erst recht zu weit. Zwar verdient die Schändung von Kindern unter
14 Jahren strenge Strafe, sofern sie von Vollerwachsenen, u. U. mil-
dere, soweit sie von Heranwachsenden begangen wird. Aber man darf
docll nicht übersehen, daß nun einmal sehr viele Kinder unter sich
längst sexuelle Spielereien betrieben haben und auch ganz genau
wissen, was sie tun, bevor sie Opfer eines sexuellen Angriffes wer-
den. Es ist übrigens erzieherisch völlig verfehlt, wenn verdorbenen
Kindern das Gefühl der Mitschuld erspart wird.
Keinesfalls darf der Vorschlag des § 216 Entw. Gesetz werden, daß
der Täter schon bei Fahrlässigkeit gestraft wird. Di-e biologisch an
sich zu hohe Altersgrenze ist überhaupt nur deshalb erträglich, weil
der Täter straflos bleibt, wenn die körperliche !Erscheinung und das
Verhalten des "Kindes" es älter ersclleinen lassen, als es nach seinen
Jahren ist. Im übrigen sollte die Tat nicht ohne Antrag des Erziehers
verfolgt werden. Er ist berufen zu entscheiden, ob nicht das Straf-
verfahren gerade ein unschuldiges Kind weit mehr schädigt, als das
sexuelle Erlebnis selbst. Weil es aber in der Tat gefährliche "Kinder-
freund-e" gibt, weil in anderen Fällen die öffentlich·e Sittlichkeit mög-
licherweise die Bestrafung dringend verlangt, so muß außerdem dem
zuständigen Jugendamt ein eigenes Antragsrecht gegeben werden.
Der Jugendliche sollte dagegen nur gestraft werden dürfen, w enn
das "Opfer" nicht geschlechtsreif ist. Es ist absurd, de n vorzeitigen
Geschle chtsverkehr einseitig am männlichen Teil zu bestrafen. Auch
Verbrechen gegen die Person 95

hier ist Strafantrag zu fordern. Die Hüter der öffentlichen Sittlichkeit


wissen anschein•end gar nicht, was sie den mit einem frühzeitigen
Trieb gestraften Mädchen antun. Da die männlichen Partner wissen,
daß eine Berührung dieser Mädchen verboten ist, und sie das Alter
bald zu erfahren pflegen, so werden diese unseligen Geschöpfe von
Hand zu Hand und auf die Straßoe getrieben, während sie sich mit
einem im Alter entsprechenden und ähnlich primitiven jugendlichen
Freund wahrscheinlich begnügen würden. Ein früherwachter Trieb
muß als Tatsache hingenommim und kann nicht abgestellt werden.
Man muß sich nur hüten, mit Polizeimaßnahmen das Unheil zu ver-
größern.
Der Tatbestand doer Verführung ist so klar zu formulieren, daß nur
echte Verführung unschuldiger Mädchen bestraft wird. Ohne das
Merkmal der Unbescholtenheit verliert das Tatbestandsmerkmal der
Verführung alle sicheren Konturen. Ein Mädchen, das geschlechtliche
Erfahrung hat, weiß auch ganz genau, was es tut, wenn es in den
Beischlaf einwilligt. Als Verführer kann nur ein Vollerwachsener
gelten. Hier widerspricht es übrigens auch dem Grundsatz der Gleich-
berechtigung, wenn die Strafbestimmung sich nur gegen männliche
Täter richtet. Die Verführung von Knaben durch reife Frauen ist
nicht besser als der umgekehrte Fall und keineswegs ungefährlicher.
Recht bedenklich sind auch die tatbestandlkhen 'Erweiterungen, die
in §§ 210 Abs. II, 211, 212 Entw. enthalten sind. In dieser Bestimmung
gehen Unzucht und Jugendgefährdung durcheinander.
In § 210 ist es nicht verständlich, weshalb die Jugendgefährdung
nur strafbar sein soll, wenn sie in wollüstiger Absicht geschieht.
Auch weiß man nicht, wieso die Handlung eines Kindes unzüchtig sein
soll, wenn das Kind die geschlechtliche Bedeutung gar nicht versteht.
Die Bestimmung müßte also lauten:
§210 Abs. 2
"Ebenso wird bestraft, wer ein Kind zu geschlechtlichen Handlungen an-
leitet und dadurch sein sittliches Wohl gefährdet."
Damit würde jedenfalls § 212 Abs. 2 Ziff. 3 überflüssig. Auch die
Ziff. 2 würde durch die vorgeschlagene Bestimmung gedeckt, denn
die "Absicllt" kann doch dahingehen, den Jugendlichen zu verführen.
Soweit hier oder in Ziff. 1 an das Vorz·eigen unzüchtiger Darstellungen
gedacht sein sollte, gehört dies in den Bereich des § 220 Entw. Auch
der Exhibitionismus gehört an anderer Stelle behandelt. Der ganze
§ 212 Entw. ist also überflüssig.
7. Die pathologisch,en Formen der Sexualität werfen besondere
Fragen auf, die über den Rahmen dieser Schrift hinausgehen. Bei
der strafrechtlichen Bekämpfung solcher Krankheitserscheinungen ist
96 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

Vorsicht geboten. Es ist also zu begrüßen, daß der 1Entwurf für die
Bestrafung der einfachen Päderastie eine beischlafsähnliche Handlung
voraussetzt. Die 1Sodomi•ebestimmung wäre besser zu streichen. Die
Verfolgung des Exhibitionismus gleicht manchmal einer Hexenjagd.
Er ist in den meisten Fällen zwar eine Schamverletzung aber keine
echte Gefährdung.
8. Zur Frage der Prostitution hat der schon zitierte Hohenlohe14
geschrieben: "Das ganze Getue über Prostitution ist auf männ-
lic.l}er Seite Heuchelei, auf weiblicher Hysterie." Die oben zitierten
Ausführungen dieses Staatsmannes gehen folgendermaßen we iter:
"Das Ergebnis wird nur sein, daß die Heuchelei zunimmt und daß
die Befriedigung des Triebes sich auf widernatürliche Weise vollzieht.
Wir haben aber wahrlich schon genug Päderasten um sie nicht künst-
lich zu z,üchten." Es wird sif'.h nicht leugnen lassen, daß die von
Hohenlohe ·prophezeite Zunahme der Päderastie zeitlich mit der zu-
nehmenden Bekämpfung der Prostitution zusammenfiel. Der Weg zum
anderen Geschlecht ist für einen großen Teil der jungen Männer sehr
weit. Wie die Erfahrungen in den au.Eerchristlichen Kulturen beweisen,
ist die Prostitution kein unnatürliches Verhalten, der Schutzwall da-
gegen ist zwar die Scham, nicht aber das bloße natürliche Geschlechts-
empfinden des Weibes15• Es ist auch nicht einmal wahr, daß d1e
Prostitution in unseren Kulturverhältnissen notwendig die Person
zerstören müsse. Sie ist einfache, wenngleich primitive Unzucht, jeden-
falls entschuldbarer als der 1Ehebruch und im Ganzen sozial ungefähr-
licher als die freie Liebe. Daß sie eine Brutstätte des Verbrechens
sei, ist schlechthin unrichtig. Unerfreulich bleibt sie aber jedenfalls.
Der Strafgesetzgeber hat sich um die Prostitution an sich ebenso
wenig zu kümmern, als um andere Formen der einfachen Unzucht
auch. In dieser Sache bestehen aber folgende öffentlichen Interessen.
Man muß verhüten, daß die Prostitution frech anlockt, daß sie nicht
die Gesundheit schädigt und nicht die allgemeine Kriminalität be-
günstigt. Der Staat muß alles tun und vielleicht noch mehr unter-
lassen, damit diese Mädchen und Frauen nicht zugrundegehen. Jede
direkte oder indirekte VerfolgtUng der Prostitution ist daher einzu-
stellen, übrigens auch deshalb, weil die einseitige Verfolgung16 der
Prostitution die anderweite Unzucht legitimiert. Deshalb ist insoweit

14 Vgl. oben Anm. 9.


15 Wulffen, Das Weib als Sexualverbrecherin 1923, S. 401 ff., schreibt von
der "Dirnennatur des Weibes". Er übersieht dabei, daß das Schamgefühl
zwar biologisch tief fundiert, aber in der eigentlichen menschlichen We-
sensschicht angesiedelt ist, wie denn überhaupt auch das Weib zuerst
Mensch ist.
16 Alle libertinen Bestrebungen suchen sich ein moralisches Alibi zu ver-
schaffen, indem sie auf die Prostitution als besonders abscheulich schelten.
Straftaten gegen Staat und öffentliche Ordnung fl7

auch der Kuppeleitatbestand jedenfalls wie bisher einzuschränken. Es


genügt aber nicht, di~ Wohnung der Prostituierten freizugeben. Ist
sie nicht zu finden, so muß sie auf die Straße gehen, in allgemeinen
Tanzlokalen anlocken oder sich in Bordellstraßen ansiedeln. Alle diese
Formen des Angebots ruinieren die Mädchen und den öffentlichen
Anstand. Es bleibt also nichts anderes übrig, als in begrenztem Um-
fang TPcffpunkthäuser und unauffällige auch telefonische Vermittlung
freizugeben. Dabei darf kein Anreiz zur Unzucht ausgeübt, es dürfen
keine Ehefrauen vermittelt werden. Kuppeleiinserate reizen zur Un-
zucht an, sind also weiterhin zu V'erbieten. Sieht man der Wahrheit
:ns Gesicht, so erkennt man, daß die Zahl der offenen und heimlichen
Prostituierten heute größer ist als jemals. Die meisten Mädchen finden
aber wieder ins geordnete Leben zurück, wenn sie die Krise- der
Jugend überwunden haben. Daran kann sie nur die Polizei hindern,
indem sie die Mädchen nötigt oder ihnen erlaubt, ihr Gewerbe in
auffälliger Weise auszuüben.
Im übrigen kann nur durch geistige Mächte geholfen werden. Alles
andere ist Illusion.
9. Endlich ist darauf hinzuweisen, daß auch die Probleme dieses
Abschnittes nur teilweise hier erörtert werden konnten.

§ 9. Straftaten gegen Staat und öffentliche Ordnung

Diese Sammelgruppe mit 51 000 Verurteilun.gen unserer Zählung ist


unter sich so verschiedenartig, daß wir nur einzelnoe wenige wichtige
Punkte kurz herausgreifen können.
I. Ins Gewicht fallen die Widerstandsdelikte der §§ 113, 114, 117
bis 119 StGB mit etwa 6000 Verurteilungen.
Die allzuweit gefaßte Bestimmung des § 114 StGB mit ihrer an-
stößigen Versuchsstrafe wird nur in rd. 760 Fällen angewendet, weil
in aller Regel nur die speziellere Bestimmung des § 113 StGB zum
Zuge kommt. Der Entwurf stellt in Übereinstimmung mit seinen Vor-
gängern den Gedanken der Nötigung der Amtsgewalt an die Spitze,
vgl. § 418 Entw. und baut die Widerstandsbestimmung in eine Nöti-
gungsbestimmung um. Dies könnte die unangenehme Folge haben, daß
der von der Rechtsprechung nicht ausgeschöpfte bisherige § 114 StGB
mit seiner Versuchsbestrafung nunmehr in der Praxis wirklich an-
gewendet werden müßte. Dadurch könnten Handlungen erfaßt werden,
die nicht strafwürdig sind.
Der Hauptmangel des gegenwärtigen Rechtes ist, daß die Straf-
barkeit nach § 113 StGB über § 330 a StGB einen unerträglichen Um-
fang annimmt. Es hat wirklich keinen Sinn, einen Volltrunkenen, der
von der Polizei auf die Wache gebracht wird, deshalb zu bestrafen,

7 Mayer. Strafrechtsreform
98 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

weil er in seiner Trunkenheit für die wohltätige Fürsorge der Polizei


kein Verständnis aufbringt. Die Beamten sind zur Strafanzeige ge-
nötigt, obgleich sie selbst vielleicht gar keinen Strafantrag stellen
würden. 1Es ist ein guter alter militärischer Grundsatz, daß man
Trunkene möglichst nicht reizen soll und ihnen keine Gelegenheit ver-
schaffen soll, sich strafbar zu machen.
Widerstand •g egen die Staatsgewalt gehört zu denjenigen strafbaren
Handlungen, der·en sich auch gutwillige Bü11ger schuldig machen kön-
nen, wenn sie mit einem erregbaren Gemüt ausg·estattet sind. Es ist
andererseits kein Zweifel, daß die Amtsgewalt energisch gegen ernste
Angriffe geschützt werden muß. Der Angreifer sollte sich Straflosig-
keit verdienen können, wenn er auf Verwarnung des Beamten hin
den Widerstand aufgibt. Er erwirbt damit natürlich keine Straffreiheit
für die etwa begangene Körperverletzung oder Beleidigung, deren
VerfoLgung durch :Strafantrag im pflichtgemäßen Ermessen des Be-
amten bzw. seines Vorgesetzten steht.
· Die Bestimmung wäre im Sinn dieser Vorschläge neu zu formulieren.
II. Die Strafbarkeit der tUneidlichen falschen Aussage § 153 StGB,
§ 431 Entw., der fahrlässig falschen Versicherung an Eides statt § 163
StGB ist zu beseitigen1 .
1. Der geltende § 153 StGB steht im Zusammenhang mit den Be-
strebungen, den Eid abzuschaffen oder einzuschränken und damit zu-
gleich die Meineidsseuche, wie man anläßlich des damaligen Ent-
wurfs sagte, z.u bekämpfen.
Das statistische E11gebnis ist fol-gendes: In den Jahren 1925 bis 1929
lagen die Strafen wegen Meineids in seinen verschiedenen Formen
etwa bei 1200 Verurteilungen im Jahr. Auch heute werden in der
Bundesrepublik etwa 840 Verurteilungen wegen Meineids ausge_;
sprachen, also praktisch die gleiche Zahl, wenn man die verringerte
Bevölkerungsziffer in Betracht zieht; daz.u treten aber nach der neuen
Bestimmung rund 1050 neue Verurteilungen wegen falscher Aussage.
Man ihat daher nicht etwa die Meineidsseuche vermindert, sondern
die Bestrafungen verdoppelt. Dieses Ergebnis entspricht nicht ein-
mal entfernt der wirklichen Häufigkeit der uneidlichen falschen Aus-
sage. Würde man auch nur nach j·edem Zivilprozeß prüfen, wer vor
Gericht bewußt gelogen hat, so ließe sich zweifellos die IZahl der Ver-
urteilungen ganz wesentlich ·e rhöhen.
Bestimmte Vorschläge lassen sich deshalb sehr schwer machen, weil
die Frage eng mit dem Prozeßrecht zusammenhängt. Franz v. Liszt
hat in seiner bekannten Anfängerarbeit2 niemals den Vorschlag ge-
Vgl. dazu meine Abhandlung G. S. Bd. 93 S. 172 ff.
1
v. Liszt, Meineid und falsches Zeugnis 1876, die falsche Aussage 1877;
2
vgl. auch Stooß V. D., Bes. Teil, Bd. 3, S. 223 ff., insbes. S. 379 ff.
Straftaten gegen Staat und öffentliche Ordnung 99

macht, man solle ganz allgemein alle unvereidigten unwahren Aus-


sagen bestrafen. Sein Vorscltlag zielte vielmehr daraJuf ab, den Eid
abzuschaffen und die bisher eidlichen Aussagen strafrechtlich zu garan-
tieren. Die gleichzeitige Änderung des Strafrechts und des Prozeß-
rechts mißlang. Das Ergebnis der übereilten Novelle von 1943 sollte
nicht bestehen bleiben. Die Leichtfertigkeit der Novelle lag darin, daß
sie ein Bruchsruck aus der Reformarbeit herausgriff. Man darf keines-
falls jede uneidliche Aussage bestrafen, wenn die Prozeßordnung be-
wußt auf das Sicherungsmittel des Eides verzichtet. Namentlich ist es
der WaJhrheitsfindung sehr abträglich, daß auch die Verwandten straf-
bar werden, wenn sie überhaupt aussagen. Der Ehegatte z. B., welcher
wahre Milderungsgründe hervorheben will, kann dabei zunächst zu-
gleich versuchen, die Tat als solche abzuleugnen und abzuschwächen.
Man darf ihn nicht vor das Dilemma stellen, entweder sein wahres
Wissen über günstige Strafzumessungstatsachen zu verschwoei:gen oder
aber zur 'überfüh11ung des Schuldigen beizutragen.
2. Die falsche Versicherung an Eides statt sollte nur im Falle vor-
sätzlichen Handeins strafbar sein. iEs ist hier nicht erforderlich, auf
die früher breit aus·gesponnene Kontroverse einzugehen, inwieweit
eine fahrlässige Zuwiderhandlung gegen die Wahrheitspflicht bei einer
Aussage überhaupt psychologisch denkbar ist. Man sollte aber nicht
bestreiten, daß jedenfalls der Unrechtsgehalt einer fahrlässigen fal-
schen Aussage zu gering ist, um sie als strafwürdig erscheinen zu
lassen, falls sie lediglich mit einer bloßen Versicherung an Eides statt
bestärkt ist. Dieser Vorschlag läßt sich auch statistisch außerordentlich
leicht begründen.
III. Der Abschnitt über Straftaten gegen die Familie ist aufzulösen,
gerade um dem das Familienrecht tragenden Grundgedanken der
Familienautonomie zu genügen. Die Bestimmungen über Ehebruch,
Ehebetrug, Doppelehe und Blutschande gehören in den Abschnitt über
Sittlichkeitsverbrechen. Daß die Blutschande die körperliche Gesund-
heit der Familie •gefährden könnte, kommt biologisch nicht in Betracht.
Der durch Blutschande vorübergehend eintretende seltene Ahnenver-
lust ist nicht größer rund jedenfalls ungefährlicher, als der dauernde
Ahnenverlust, wie er durch Endogamie in jedem Bauerndorf eintritt,
in dem dieselben Familien ineinanderheiraten. Bekanntlich benutzt der
Tierzüchter die Inzucht bewußt. In Betracht kommt nur sittliche Ge-
fährdung, die aber eben das Wesen jeder Unzucht ausmacht.
Muntbruch ist kein Angriff gegen die Familie, sondern ein Verstoß
gegen Freiheits- und Statusrechte bestimmter Personen, gehört also
nach wie vor in die Freiheitsdelikte.

7*
100 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

Die übrigen Strafbestimmungen schützen in Wahrheit nicht die


Familie, sond•ern schränken die Autonomie der Familie ein, und zwar
in einer zum Teil sehr bedenklichen W•eise.
Die neue Bestimmung über Kindesweglegung § 197 Entw. ist völlig
überflüssig. Wie die Begründung selbst richtig hervorhebt, hat man
bisher eine solche Vorschrift niemals vermißt. Soweit Leib und Leben
des Kindes gefährdet werden, liegt strafbare Aussetzung vor. Darüber
hinaus ist es verfehlt, Verzweiflungshandlungen zu bestrafen. Man
kann damit nur erreichen, daß das Verhältnis zwischen Mutter und
Kind - darum handelt es sich meist - unheilbar vergiftet wird. Auch
die VerletZJung der Fürsorge- und Unterhaltspflicht rechtfertigt eine
Bestrafung ohnedies nicht, wie noch genauer darzulegen ist. Die Be-
stimmung richtet sich eindeutig gegen die Familie, da sie die Möglich-
keit erschwert, wenn nicht beseitigt, sie wieder herzustellen.
Die Verletzung der Aufsichtspflicht § 143 StGB, § 199 Entw. ist
immer ein Verstoß gegen die öffentlich•e Sicherheit, gehört also in den
bisherigen gesetzlichen Zusammenhang. Gegen die vorgeschlagene
Fassung der Bestimmung bestehen im übrigen keine Bedenken. Die
falsche Einordnung könnte aber zu •einer falschen Auslegung in dem
Sinn führen, als ob die Verletzung von Erziehungspflichten als solchen
allgemein bestraft werden ·dürfte. Dieser Gedanke würde aber gegen
die Autonomie der Familie verstoßen.
Die Verletzung de r angeblichen Hilfspflicht gegenüber Schwangeren
§ 170 e StGB, § 201 Entw. kann man nur strafen, wenn man entweder
den mittelalterlichen Gedanken eines Strafzwanges zur Eheschließung
wieder einführen, oder wenn man die Monogamie direkt beseitigen
will. Ist d•er Schwängerer overheiratet, so hat er gar nicht das Recht
sich um die Schwangere zu kümmern. Handelt es sich um einen außer-
ehelichen Erzeuger, so legt ihm die Bestimmung eine familienrechtliche
Pflicht auf, die das Familienr·echt mit gutem Grund verneint. Wer
nämlich eine rechtliche Pflicht der Schwangeren und dem Kinde gegen-
über hat, dem muß man auch Rechte gewähren. Das rechtliche Wesen
der Polygamie besteht aber wesentlich darin, daß ein Mann von meh-
reren Frauen Kindern haben kann, die mit ihm rechtlich verwandt
sind3. Außerdem leidet die Vorschrift an mangelnder Bestimmtheit.
Die Personenstandsfälschung §§ 169 StGB, 202 Entw hat mit dem
Recht der F amilie schlechterdings nichts zu tun. Es müßte nur endlich
klargestellt werden, daß der hintergangene Ehemann selbstverständ-
lich um der Familie willen das Recht hat, das Kind als von ihm er-
zeugt anzumelden.

3 Es ist leider nicht möglich, diese wichtige Grundfrage ausführlicher zu


behandeln, die Literatur ist unübersehbar.
Straftaten gegen Staat und öffentliche Ordnung 101

Die Bestrafung der Insemination § 203 Entw. ist überflüssig. Es ist


ein unerträglicher Widerspruch, wenn die ehebrecherische Erzeugung
eines Kindes regelmäßig nicht aufgedeckt, der Ehebruch nicht bestraft
wird, wohl aber die Zeugungshilfe im Wege der Insemination. Es ist
kaum daran zu denken, daß die Insemination sich gefährlich ausbreiten
könnte. Die in der Begründung genannten höchst unsicheren Zahlen
sind in außerordentlichen Verhältnissen entstanden und beziehen sich
offensichtlich in der Hauptsache auf homologe Insremination. Daß die
Insemination zu einer Bedrohung der Ehe werden könnte, ist äußerst
unwahrscheinlich. Man warte erst einmal ab.
Wir kommen damit zu den ·gefährlichsten Vorschriften dieses Ab-
schnittes, die ausführlicher Besprechung bedürfen.
1. Nach § 198 Entw. wird wie in § 170 d StGB die Verletzung der
Fürsorge- und Erziehungspflicht bestraft, wenn Kinder oder Jugend-
lich unter sechzehn Jahren in die Gefahr sittlicher oder körperlicher
Verwahrlosung geraten. Mit Recht beruft sich allerdings die Begrün-
dung darauf, daß diese Bestimmung durch die vorgeschlagene Neu-
fassung praktikabler geworden ist, weil der Begriff der Verwahr-
losung im Fürsorgerecht gewisse Umrisse hat, während der Begriff
des sittlichen und körperlichen Wohls so unbestimmt war, daß die
Praxis damit gar nichts anfangen konnte. Aber die Begründung über-
sieht, daß d~·ese Praktikabilität die Bestimmung überhaupt erst an-
wendbar macht. Nun ist aber der fürsorgerechtliche Begriff der Ver-
wahrlosung doch allzu weit. Regelmäßig wird im Falle der Verwahr-
losung irgend eine Vernachlässigung der Erziehungspflicht behauptet
werden können. Wenn also Fürsorgeerziehung wegen der Gefahr der
Verwahrlosung nötig wird, so müßten künftig gleichzeitig die Eltern
ins Gefängnis wandern. Das !heißt die gefährdete Familie zerstören,
nicht aber sie aufbauen. Bedenkt man, daß die moderne Fürsorge-
erziehung, die Verbindung zwischen Kindern und Eltern pflegt und
bestrebt ist, über ihre Leistungen das Vertrauen der Eltern zu ge-
winnen, und so auch die Familien wieder einigermaßen zu sanieren,
so wird deutlich, wie verfehlt hier jedes repressive Eingreifen ist.
Die bloße Gefahr körperlicher Verwahrlosung ist ebenfalls kein Grund
zu strafrechtlichem Einschreiten. Ist eine Körperverletrung eingetreten,
so liegt der Fall anders. Alles was an § 198 Entw. berechtigt ist, ist
also schon in § 223 b StGB § 154 Entw. enthalten. Die Bestimmung
ist demnach ersatzlos zu streichen.
2. Ersatzlos zu streichen ist auch die Vorschrift über Unterhalts·
verweigerung des § 200 Entw. § 170 b StGB4 • Aus diesem in der natio·
nalsozialistischen Zeit gelegten Kuckucksei sind immerhin etwa 10 000
4 Auch hier ist es nicht möglich, näher auf die Literatur einzugehen.
102 Quantitative Einschränkung des Strafrechts

jährlkhe Verurteilungen ausgebrütet worden. Es ist zwar nicht zu


leugnen, daß sich die Unterhaltsverweigerung gegen die Interessen der
Familie richtet, allerdings nur dann, wenn nicht oetwa alle Beteiligten
darüber einig sind, daß der Unterhalt von der öffentlichen Hand ge-
tragen werden sollte. Ein sehr großer Teil der Kindsmütter legt nicht
den geringsten Wert darauf, den Liebhaber und Erzeuger durch Ali-
mentenforderungen zu verärgern. Vielfach wird ja der Mutter der
Name des Erzeugers auf eine Weise abgenötigt oder abgelistet, die
rechtsstaatlich äußerst bedenklich ist. Schließlich ist es das gute Recht
der Kindsmutter, ihr Kind für sich allein haben zu wollen. Dem Kind
kann es aber ziemlich gleichgültig sein, ob es den Unterhalt von der
Mutter allein, oder auch von der F1ürsol'ge oder schließlich vom Vater
bekommt. Wie man dies nun auch beurteilen mag, sicherlich richtet
sich die Bestrafung der Unterhaltsverweigerung eindeutig gegen die
Interessen der Familie. Man kann einem Kind doch gar keinen
größeren Schaden zufügen als den, seinen Vater ins Gefängnis zu
bringen. Man kann einer Frau kaum ein größeres Unrecht tun, als
den Unterhaltsanspruch von dem Ehemann, dem geschiedenen Ehe-
mann oder dem Liebhaber gegen ihren Willen einzutreiben. Wenn
irgendwo, so muß doch der Beteiligte in einer seine persönlichsten
Beziehungen derart berührenden Sache sich selbst entsclleiden können.
M. E. verstößt die Beitreibung des Unterhalts über den Kopf der
Mutter hinweg eindeutig gegen Art. 2 und 6 GG. J·edenfalls z·eigt sich
ihier wieder einmal, daß der Totalitarismus des Wohlfahrtstaates alle
gesunden sittlichen Maßstäbe verwischt. Die Bestimmung dient also
einseitig fiskalischen Zweclren. Im Tatbestand des § 170 b bzw. § 200
Entw. versteckt sich der gescllützte Fiskus schamhaft unter der Be-
zeichnung "ein anderer".
Soweit die Täter zahlungsfähig sind, fragt man, weshalb es nicht
möglich sein sollte, den Unterhalt im Wege der Zwangsvollstreckung
beizutreiben. Die Sache hat aber eine sehr böse Seite. Infolge einer
verfehlten Prozeßtheorie glaubt der BGH, der Strafrichter sei im
Rahmen des § 170 b an die Zivilurteile nicht gebunden. Die Jugend-
ämter treiben im Wege des Strafprozesses auch dann Forderungen
ein, wenn sie im Zivilprozeß unterlegen sind, mindestens aber dann,
wenn sie den Zivilprozeß fürchten. Da zur Zeit Strafurteile gegen
Unterhaltsverweigerer in der Presse besonders beklatscht werden, so
ist die Gefahr falscher Popularitätshascherei gerade auf diesem Gebiet
sehr groß. Immer wieder muß sich die Revisionsrechtsprechung mit
Fällen beschäftigen, in denen die Voraussetzungen des Unterhalts-
anspruchs nicht hinreichend geprüft, die Vorschriften des sozialen
Pfändungsschutzes nicht beachtet worden sind.
Straftaten gegen Staat und öffentliche Ordnung lüä

In der Masse der Fälle, nämlich bei rund 7000 Tätern handelt es sich
aber um Vorbestrafte, das heißt sozial äußerst schwache Täter, von
denen ein erheblicher Teil nicht geordnet lebt. Darauf deutet auch,
daß in der Mehrzahl der Fälle kein Strafaufschub zugebilligt werden
konnte und daß immerhin 6000 Gefängnisstrafen von mehr als drei-
monattger Dauer ausgesprochen wurden. Wer eine Anzahl solchel'
Akten in doer Hand .gehabt hat, weiß, daß die Strafanzeige wegen
Unterhaltsverletzung der Strafentlassung verhältnismäßig früh nach-
folgt, wenn der Strafentlassene bestenfalls ein Bein auf dem Boden
hat. Der Verfasser wäre bereit Straflisten zu sammeln, aus denen sich
ergeben würde, daß der letzte -ehrliche Versuch eines sozial Hilflosen,
wieder in geordnete Verhältnisse zu kommen, häufig durch solche
Unterhaltsklagen vereitelt wird. Aber der Strafentlassene ist Dür die
Wohlfahrt ein Asozialer.
Zweiter Abschnitt

Die gesetzliche Bestimmung der Tatbestände

§ 10. Die grundsätzliche Bedeutung der Tatbestandsgarantie

Nach Art. 103 GG müss~m die Voraussetzungen d~r Strafbarkeit,


mindestens aber der strafbare Tatbestand selbst - als solcher und in
seinen Grenzen -, gesetzlich "bestimmt" sein. Diese gesetzliche Be-
stimmtheit der Tatbestände kann man abgekürzt als Tatbestands-
garantie bezeichnen. Die einschlägigen Rechtsfragen hat der Verfasser
dieser :Schrift wiederholt behandelt1 und kann sich daher hier auf eine
kurze Zusammenfassung der entsch~id~nden Grundgedanken be-
schränken.
I. Die Tatbestandsgarantie im Sinne der gesetzlich•en Formulierung
der Tatbestände hat sich geschichtlich aus dem Verbot entwickelt, eine
Handlung nach Maßgabe eines Gesetz.es zu bestrafen, das nach der
Tat erlassen worden ist {ex post facto~Gesetz).
Im kontinentalen Rechtsbereich drängt seit der !Einführung des
Kodifikationsprinzips das Verbot des ex post facto-Gesetzes zu dem
von F·euerbach formulierten Grundsatz nulla poena sine l.ege, d~r besagt,
daß die Strafbarkeit nur durch Ges.etz ausgesprochen werden könne
und durch Rechtsgewohnheit und Analogie nicht erweitert werden
düde. Die weitere Entwicklung nötigte zur Folgerung, daß das Gesetz
die Grenzen der Tatbestände auch mit einiger Genauigkeit gesetzlich
beschreiben müsse. Sonst hätte ·es der Gesetzgeber in der Hand, den
Grundsatz nulla poena sine lege dadurch zu umgehen, daß er mit
Kautschuk-Tatbeständen dem Richter eine unbestimmte Strafermächti-
gung in die Hand gibt2 • Der Gesetz,geber des 19. Jahrhunderts be-

1 Vgl. Str. d. dt. V., S. 111 ff.; SJZ 1947, Spalte 12 ff.; Lb. ATl § 13 V; Mat.

z. Strafrechtsreform Bd. 1, S. 259 ff.


2 Der Gesetzgeber des Code p{mal hat diese Konsequenz noch nicht ge-
sehen und seine Tatbestände teilweise sehr unbestimmt formuliert. Ver-
möge des Grundsatzes der restriktiven Auslegung hat die französische
Rechtsprechung allmählich den Tatbeständen einen sehr präzisen Sinn ge-
geben. Wenn sie trotzdem bei Stromentziehung und Hehlerei an Ersatz-
sachen über die deutsche Rechtsprechung hinausgeht, so hält sie sich ge-
rade genau an den französi.schen Wortlaut. Die auf Schönke zurückgehende
Ansicht, die französische Auslegung sei insofern weniger formalistisch als
die deutsche, geht fehl. Vgl. dazu Mat., a.a.O., S. 264, Anm. 26.
Die grundsätzliche Bedeutung der Tatbestandsgarantie 105

gnügte sich damit, den Grundsatz der Tatbestandsgarantie im Straf-


gesetzbuch selbst als einen einfachen Rechtssatz auszusprechen.
Die Weimarer Verfassung hat den Satz nulla poena sine leg'e zu
einem verfassungsrechtlich geschützten Grundrecht der Einzelperson
in Art. 116 erhoben. Diese Rangerhöhung blieb leider ohne praktische
Folge, weil die Grundrechte nicht als unmittelbar anwendungsfähiges
Recht galten, wobei allerdings gerade bezüglich des Art. 116 Zweifel
bestanden. Dieser Zweifel ist in Art. 103 GG im positiven Sinn aus-
geräumt, niemand kann heute noch bestreiten, daß der Grundsatz
nulla poena sine lege nicht nur d•en Richter, sondern auch den Straf-
gesetzgeber bindet. Diese Entwicklung kann nicht besser bezeugt wer-
den als durch die Überarbeitung des Schänkesehen Kommentars § 2
Anm. XIII durch Schröder, der sich doch dieser Entwicklung gegenüber
sehr zurückhaltend verhi€lt. So darf es heute als feststehend gelten,
daß unbestimmte Tatbestandsbeschreibungen verfassungswidrig, solche
Strafgesetze nichtig sind. Man kann heute nur noch über das ver-
fassungsrechtlich gebotene Maß der gesetzlichen Bestimmtheit der
Tatbestände und über das Maß der Auslegungsfreiheit d€s Richters
verhandeln. Der Verfasser dieser Zeilen hält daran fest, daß Bestim-
mungen wie §§ 170 d, 240 StGB nichtig sind3 • Aber diese Streitfragen
müssen in einer Schrift de lege ferenda nicht ausgetragen werden.
Denn einerseits herrscht allgemeines Einverständnis darüber, daß. die
Tatbestände nicht ohne Not kasuistisch formuliert werden sollen, an-
dererseits wünscht jedermann, es mögte dem Gesetzgeber eine mög-
lichst bestimmte und brauchbare Fassung des Gesetzes gelingen. Die-
ses doppelte Bestreben hat offensichtlich auch die Verfasser des vor-
liegenden Entwurfes geleitet. Es ist ihn-en manche Formulierung ge-
lungen, die zugleich einfach und praktikabel und doch so bestimmt
ist, daß allen billigen Ansprüchen genügt wird. 1Es bleibt also die ser
Schrift nur übrig, in eine erg.ä nzende Einz·elkritik einzutreten. Dazu
sind allerdings noch einige Vorerörterungen übter Sinn und Tragweite
der Tatbestandsgarantie erforderlich.
11. Die Bedeutung der Tatbestandsgarantie liegt sowohl auf inner-
strafrechtlichem wie auch staatsrechtlichem Gebiet.
1. Die innerstrafrechtliche Bedeutung der Tat bestandsgarantie ergibt
sich aus der generalpä ventiven Aufgabe des Strafre chts. Darf d3.s
Strafrecht - wie wiederholt dargelegt - nur das unerträgliche Bei-
spiel ·einer offenbaren Verletzung der rechtlich-sittlichen Ordnung
erfassen wollen, so sind d~oe Tatbestände also exemplikativ, der Be-
sondere Teil erscheint dem Systematiker immer fragmentarisch 4 • Die-
3 a .a.O., S. 268 ff.
4 Vgl. oben§ 6, Anm. 6.
106 Die gesetzliche Bestimmtheit der Tatbestände

ser ex·emplikative oder fragmentarische Charakter des Strafrechts ist


nicht etwa ein Mangel, sondern entspricht dem Wesen der Sache. Die
Tatbestände müssen klar verständlich formuliert sein, sie müssen
plastisch dem Bewußtsein der Masse einprägen, was als schlechter-
dings verboten nicht geschehen darf rUnd deshalb mit Strafe ·b elegt
wird. Das :Strafrecht darf niemals den Eindruck erwecken, es sei eben
schlechthin strafbar, was unmoralisch ist. Sonst läßt sich Gehorsam
nicht mehr mit einiger Wahrscheinlichkeit erzielen. Es ist hier nicht
der Ort, diese allerdings sehr unvollkommene Übung der Gerechtigkeit
vor dem Forum der Rechtsphilosophie zu rechtfertig·en. Diese durch
die Sache ·gebotene Begrenzung des Strafrechts kann - außerhalb
des starren Präjudiziensystems des angelsächsischen Rechts6 - nur
das strikte Gesetz gewährleisten. Der Richter ist dem 1Einzelfall ver-
haftet <Und daher nicht in der Lage, Grenzen zu ziehen. Er vermag
nur eine einreine Handlung als besonders verwerflich zu bewerten,
aber er kann unmöglich hinter dem Einzelfall die allgemeine Regel
sehen, welche sich aus diesem Einzelfall abstrahieren ließe. Denn die
Aufgabe des Richters ist es, die allgemeine Regel auf den Einz·e lfall
anzuwenden und so dem Einzelfall möglichst vollkommene Gerechtig-
keit angedeihen zu lassen. Ein Beispiel mag das Gesagte verdeut-
lichen.
Die Rechtslehre behauptet überwiegend - und zwar mit gutem
Grund - auf § 180 StGB sei der Auslegungsgrundsatz von der not-
wendigen Teilnahme anzuwenden. Das verkuppelte Pärchen dürfe also
nicht wegen Teilnahme an der zu seinen Gunsten begangenen Kuppe-
lei bestraft wrerden. Da der Wortlaut des Gesetzes dieses Ergebnis
nicht rUnmittelbar ausspricht, hat die höchstrichterliche Rechtsprechung
wiederholt verurteilt, wenn ein besonders übler Wüstling durch einen
Kuppler sich eine größere Zahl von Partnerinnen zu besonders an-
stößiger Unzucht besorgte. Hält man aber die Teilnahme der Ver-
kuppelten an der Kuppelei für möglich, so läßt § 180 StGB nur noch
die Generalregel zu, daß das Unzucht treibende Pärchen immer straf.,.
bar ist, wenn es den Kuppler anstiftet. Diese groteske Folgemng
steht sicherlich im Widerspruch zur Absicht des Gesetzgebers. Nichts-
destoweniger erweist sich die höchstrichterliche Rechtsprechung seit
langer Zeit als unfähig, diesen offenbaren Widersinn zu korrigieren,
was der 1Entwurf § 226 Abs. 4 endlich tun muß.
Dazu kommt noch, daß das Auslegungsverfahren der Analogie, also
der Schluß vom unmittelbar als strafbar bezeichneten Fall auf den
nächstähnlichen und daher angeblich strafwürdigen Fall bereits be-
grifflich unzulässig ist6 • Erklärt man nämlich den Fall B für strafbar,
5 Vgl. dazu a.a.O., S. 265 ff.
6 Vgl. dazu Str. d. dt. V., S. 127 f.; Lb., S. 85 f.; Mat., S. 273 ff.
Die grundsätzliche Bedeutung der Tatbestandsgarantie 107

weil er dem Fall A so ähnlich ist, so meldet sich gleich der Fall C,
der nun seinerseits dem Fall B ebenso ähnlich ist wi·e der Fall B
dem Fall A, vor Einbeziehung des Falles B, aber vom Fall A deutlich
unterschieden werden konnte. So geht es in der Reihe C, D, E un-
endlich weiter bis zur kriminellen Bestrafung geringfügigster Ord-
nungswidrigkeiten, ja völlig harmloser Handlungen. Dies läßt sich
am besten an der allzuweitherzigen Auslegung des § 263 StGB ver-
folgen. Als man das Schwarzfahren als Betrug bestrafte, indem man
die Tatbestandsmerkmale der 'Däuschung und der Vermögensschädi-
gung verwässerte, beschritt man einen gefährlichen Weg. Anschließend
wurde Betrug, wenn man mit einem Zweier statt mit einem Zehner
vom Fernsprechautomaten aus das Fräulein an der Vermittlung in
Tätiglreit setzte. Zwischen dem Betrieb mit Handvermittlung und
dem Selbstwählverkehr läßt sich dann aber ein Unterschied kaum noch
machen. Der Unsinn lag aber nicht in dieser Grenze, sondern er be-
gann bereits mit der Bestrafung des Schwarzfahrens als Betrug. Der
nationalsozialistische Gesetzgeber hat dann die scheinbare Konsequenz
in § 265 a StGB zum Gesetz erhoben, so daß es heute strafbar ist,
wenn jemand in der abgeschlossenen Waldwirtschaft dem Musik-
automaten im kalten Winter das schöne Lied von der grünen Waldes-
lust entlockt. Im Strafprozeß steht nämlich dem Bestreben, jreden
materiell 'Schuldigen mit der Strafe zu erreichen, kein inhaltlich be-
stimmtes Gegeninteresse gegenüber. Im Zivilprozeß dagegen ist die
Analogie deshalb ungefährlich, weil der Beklagte nicht nur sein all-
gemeines Freiheitsinteresse, sondern jederzeit ihöchst bestimmte
konkrete Gegeninteressen gegen das Interesse des Klägers geltend
mach·en kann. Außerdem ist die Analogie im Zivilrecht deshalb uner-
läßlich, weil der Richter eine positive RegeLung in jedem Falle geben
muß, während das fragmentarische Strafrecht den Begriff der so-
genannten Lücke gedanklich nicht zuläßt.
2. Die Tatbestandsgarantie ist aber auch staatsrechtlich von höchster
Bedeutung. a) Nur gesetzlich bestimmtre Tatbestände schützen den
Einzelnen vor willkürlicher Anwendung des Gesetzes. Der Satz nulla
poena sine lege ist nicht sowohl eine Magna-Charta des Verbrechers,
als vielmehr ·eine unerläßliche Rechtsgarantie für den freien Bürger.
Dires ist besonders deutlich geworden, als nach 1933 die Auslegungs-
grenze des § 266 alter Fassung ins Schwanken geriet, und es mit Hilfe
von Anklagen und Verhaftungen aus § 266 gelang, die Gleichschaltung
der Banken und der Industrie herbeizuführen. Die wenigsten dieser
Verfahren endeten mit einer Ve11urteilung, aber sie verdrängten die
unerwünschten Inhaber wirtschaftlicher Macht aus ihren wirtschaft-
lichen Positionen. Auch in einem Rechtsstaat können wirtschaftliche
108 Die gesetzliche Bestimmtheit der TatbeständP.

und politische Gruppen die Freiheit der Bürger bedrohen, indem sie
diese unter den Druck von Strafanzeigen setzen.
b) Sobald die Tatbestände flüssig werden, verschwindet die Gewalten-
teilung, nicht nur zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung, sondern
auch zwischen Regi•erung und Verwaltung einerseits und Recht-
sprechung andererseits. Diese Gewaltenverwirrung gefährdet die
Aktionsfähigkeit des modernen demokratischen Staates, wenn die
Justiz sich das Recht nimmt, ·entscheidende Akte der Verwaltung,
möglicherweis·e sogar Akt•e der Außenpolitik vor ihr Forum zu ziehen.
Dies ist formal immer möglich, weil jeder irgendwie bedeutsame Ver-
waltungsakt irgendwelche personelle Konsequenzen zu haben pflegt.
So hielten die Personalberater des Wirtschaftsministeriums es anläß-
lich des Israel-Vertrages für nötig, einen Beamten in ein anderes
Referat zu versetzen, weil dieser mit Recht oder Unrecht in den
Geruch eines ·entschiedenen Gegners des Israel-Vertrages gekommen
war. Darin sah dieser Beamte ·eine persönliche Benachteili~ung, ein
gegen ihn gerichtetes Verfahren im Sinne des § 164 Abs. 2 StGB.
Diese Rechtsanschauung haben sich die Banner Justizbehörden zu eigen
gemacht. Bei dieser vom Wortlaut her möglichen Auffassung des § 165
Abs. 2 StGB, hier Abs. 5, mußte dann der Richtoer sich auf die Jagd
nach dem angeblich unsachlichen oder üblen Motiv begeben, in einer
Sache, in der es sich ausschließlich um die personellen Konsequenzen
einer grundlegenden außenpolitischen Entscheidung handelte. In der
Urteilsbegründung des Banner Landgerichts wird dabei mittelbar
immer wieder zur Frage des Wertes oder Unwertes der Vorderasien-
Politik des Auswärtigen Amtes Stellung genommen. Ähnliche Schwie-
rigkeiten bringt die unbestimmte Fassung des § 266 StGB mit sich.
Wenn wirklich die Bildung von schwarzen Fonds Untreue ist, so kann
jeder Amtsrichter sich an di•e Stelle des Rechnungshofes setzen, was
denn auch schon wirklich geschehen ise.
III. Durchführung des Grundsatzes: Die Verfasser des Entwurfs
haben sich offensichtlich bemüht, der Tatbestandsgarantie zum Leben
zu verhelfen. Sehr erfreulich sind insofern die vorgeschlagenen Be-
stimmungen über Nötigung odoer Untreue, wobei hier materielle Ein-
zelheiten nicht disk.utiert werden sollen. Aber die Aufgabe, die hier
gestellt wird, ist eine unendliche und kein kodifikatorischer !Entwurf
vermag sie auch nur annähernd zu lösen. Zwischen dem Ärgernis
widerspruchsvoller Kasuistik und formalistischer Auslegung einer-
seits und der Gefahr der Unbestimmtheit und Willkürlichkeit anderer-
seits hin und her geworfen, muß das Strafrec.'ü das Ziel eines zugleich
7 Ein Fall dieser Art ist dem Verf. bekannt geworden. Er ging allerdings
schließlich doch nicht über die Staatsanwaltschaft hinaus.
Die Tatbestandsgarantie als magna charta libertatis 109

vernünftig und klar begrenzten Strafrechts immer von neuem an-


steuern. In dieser Lage kann der Kritiker nur einzelne Fragen hervor-
heben, deren richtige Lösung ihm vordringlic..~ crsc.l-jeint, nur dies soll
im Folgenden geschehen.

§ 11. Die Tatbestandsgarantie als magna charta libertatis

I. In den letzten Menschenaltern hat die Theorie die Grenzen aller


Tatbestände dadurch unsicher gemacht, daß sie durch verallgemei-
nernde Generalbeg1·ijfe die Tatbestände grundsätzlich •erweitert hat.
Die Praxis ist auf diese Erweiterung in Wahrheit nicht in vollem
Umfange eingegangen. Hervorzuheben ist der sogenannte extensive
Täterbegriff1 .und die Rechtsfigur der Begehung durch Unberlassung.
Die Gefahren des extensiven Täterbegriffes sind durch den Entwurf
mindestens sehr vermindert worden. Das Problem der Begehung durch
UnterLassung will der Entwurf durch folgende Vorschrift lösen:
"§ 13 Begehung durch Unterlassen
Wer es unterläßt, einen zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehörenden
Erfolg abzuwenden, ist als Täter oder Teilnehmer strafbar, wenn er
rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintreten würde und
sein Verhalten auch nach den besonderen Umständen der Tat und unter
Berücksichtigung der Handlungsmerkmale des gesetzlichen Tatbestandes
dem Begehen durch ein Tun gleichwertig ist."
Das dogmatische Problem ist so vielschichtig, daß der Verfasser
dieser Zeilen auf seine anderweitigen Veröffentlichungen verweisen
muß2 und nur das Ergebnis seiner Kritik vorträgt.
Dem Entwurf ist darin zuzustimmen, daß eine gesetzliche Regelung
angesichtsdes Art. 103 GG nicht mehr entbehrt werd•cn kann, vgl. auch
oben 61 f. Bekanntlich hat bereits vor langer Zeit Kraus3 nachge-
wiesen, daß § 2 StGB für den Begriff der Begehung durch Unter-
lassung nur insoweit Raum läßt, als die betreffende gesetzliche Einzel-
bestimmung die erfolgverursachende Unterlassung für strafbar er-
klärt. Über diese Bedenken kam man seinerzeit nur mit der Begrün-
dung hinweg, daß § 2 StGB als einfacher Strafrechtssatz vom Straf-

1 Vgl. dazu meine Abhandlung in der Festschrift für Rittler, S. 244 ff.
Es bleibt freilich die große Schwierigkeit übrig, daß die Teilnahme am
Sonderverbrechen allgemein als strafbar gilt, denn daß die Theorie die
durch Nagler begründete Lehre aufgibt, ist kaum zu erwarten. Diese Kon-
sequenz ist in Einzelfällen sehr unerfreulich, namentlich bei Standesver-
brechen im engeren Sinne.
2 Vgl. Lb. § 17. Der Verfasser hofft, sich demnächst zu dieser Frage aus-
führlicher äußern zu können.
3 Vgl. Kraus, Z Bd. 23, S. 783 ff., über anschließende Diskussion mein
Lb., S. 120.
110 Die gesetzliche Bestimmtheit der Tatbestände

gesetzgeb€r nicht durchgehalten werden müßte und im iEinzelfall der


Strafgesetzgeber berechtigt sei, von seinem Programm abzuweichen
und die Lösung bestimmter Fragen der wissenschaftlichen Entwicklung
zu überlassen. Seitdem jedoch die Tatbestandsgarantie Verfassungs-
rang erhalten hat, ist eine ausdrückliche gesetzliche Anerkennung der
BdU nicht mehr zu umgehen. Die Bestimmung erscheint mir auch
sachlich richtig formuliert z.u sein, insbesondere ist es gut, daß sie
im letzten Halbsatz fordert, daß das Unterlassen eine dem Tun gleich-
wertige Verbrechensenergie beweise. Stilistisch läßt sie sich vielleicht
verbessern. Es ist aber, wie schon oben § 6 II gefordert, folgender Ab-
satz 2 hinzuzufügen:
"Die Begehung durch Unterlassung ist nur strafbar, wenn das einzelne
Strafgesetz die Bestimmung für anwendbar erklärt."
Man darf nämlich nicht übersehen, daß die BdU sich bisher nur bei
wenigen Tatbeständen wirklich durchgesetzt hat, weil viele Tat-
b€stände ohnedies kaum in dieser Form b€gangen werden können
und weil sich ein Strafbedürfnis nicht gezeigt hat. Die ausdruckliehe
Gesetzesvorschrift zwingt aber nun dazu, jede im Sinn der neuen Be-
stimmung -erfolgsverursachende Unterlassung zu bestrafen. Dies geht
viel zu weit. Will man wirklich einer Frau, die zu Fehlgeburten neigt,
auferlegen, besondere Vorkehl'lung gegen solche Fehlgeburten zu
treffen? Wieweit soll eine solche Verpflichtung g,ehen? Soll es etwa
als Bedrohung b€straft werden, wenn man einem anderen nicht aus
einer unbegründeten Angst hilft? Soll es üble Nachrede sein, wenn
jemand einem Verdacht, der von anderer Seite verbreitet wird, nicht
entgegentritt? Soll es Unzucht mit Kindern sein, wenn jemand in
wollüstiger Absicht ein Kind nicht daran hindert, unzüchtige Hand-
lungen vorzunehmen? Soll wirklich jeder wegen Kuppelei bestraft
werden, der der Unzucht entgegentreten müßte? Soll -es Unt>erschla-
gung sein, wenn jemand die fremde Sache nicht spontan herausgibt?
Ist es Falschanzeige oder Anklage, wenn jemand einem Verdacht nicht
entgegentritt? Alle diese Fragen können doch nur verneint werden,
auch wenn man voraussetzt, daß in irgendeiner rechtlichen Beziehung
der Unterlassende sich pflichtwidrig - z. B . die Ehefrau des ersten
Beispiels sich ehewidrig - verhält. Die Liste dieser Beis:pieJ.e ließe
sich übrigens bis ins Unendliche fortsetzen .
Die allgemeine Regel wird in einem Teil der Tatbestände auch ge-
wisser Modifikationen bedürftig sein. In vollem Umfang paßt sie ohne
weiteres für alle Fälle der fahrlässigen Verursachung. Bekanntlich
lehnt das französische Recht die Rechtsfigur der Begehung durch
Unterlass.ung im allgemeinen ab, erkennt sie aber im Bereich der
fahrlässigen Verursachungsdelikte unbedenklich an. Bei vorsätzlicher
Tötung und Körperverletzung wird man di-e Regel in gewissem Sinn
Die Tatbestandsgarantie als magna charta libertatis 111

einschränken müssen. Namentlich wird es h€i diesen Tatbeständen


sehr schwer möglich sein, die Gleichwertigkeit der betätigten Ver-
brechensenergie ohne näheren Anhalt im Tatbestand abzuschätzen.
II. Grundsätzliche Fragen werden durch normative Tatbestands-
merkmale und Gesinnungsmerkmale aufgeworfen. Es ist ein großes
Verdienst der neueren Dogmatik, daß sie die Besonderheit S<>lcher
Tatbestandsmerkmale erkannt hat. Mindestens normative Tatbestands-
merkmale lassen sich auch nicht vermeiden, wenn man den Tatbestand
sinnvoll umgrenzen will. Aber nicht alle Wertbegriffe eignen sich als
Merkmale strafrechtlicher Tatbestände.
1. Zu den g€€igneten normativen Begriffen gehört der Gefahr-
begriff, wenn man ihn richtig verwendet. So ist es ein Fortschritt,
wenn der Entwurf darauf verzichtet, die gefährliche Körperverletzung
mit einfachen deskriptiven Merkmalen zu bezeichnen (vgl. § 223 a
StGB und § 148 Entw.). In diesem Fall kann es tatsächlich nur auf die
schwere Gefährdung von Leib und Leh€n ankommen. Ah€r diese
Gefährdung h€darf doch wiederum einer vorsichtigen Umschreibung.
Insofern ist die den §§ 198, 155 Entw. zugrundeliegende Vorschrift
der Ziff. 2 des § 147 Abs. 2 Entw. bedenklich. 1Es läßt sich einfach nicht
mit hinreichender Bestimmtheit sagen, was eine "erhebliche Beein-
trächtigung der Arbeitsfähigkeit" oder der ""seelischen Kräfte" ist.
Darüber, welches Maß an Arh€it einem jungen Menschen auf Grund
seiner Gesundheit zugemutet werden kann und mit Rücksicht auf seine
Erziehung zur Arbeitstüchtigkeit auferlegt werden muß, gehen die
Ansichten allzusehr auseinander. So kann es als Schädigung der Ar-
beitsfähigkeit angesehen werden, wenn ein Meister durchschnittliche
Lehrlinge 46 Wochenstunden (einschließlich Berufsschule) h€schäftigt
anstatt der vorgeschriebenen 42 Wochenstunden. Die Gefährdung soll
dann darin liegen, daß die Jugendlichen nicht dioe nötige Zeit für die
Erholung hätten. Bedenkt man, daß dem höheren Schüler eine solche
Arh€itszeit kaum ·erspart werden kann, so erkennt man, daß wohl nur
ein formeller Verstoß vorliegt. Aber der Tatricht·er ist in solchen
Fällen ziemlich hilflos, und seine tatsächlichen F-eststelLungen sind für
den Revisionsrichter bindend4 •
Eh€nso müssen klare gesetzliche Regeln für die Ausübung des Züch-
tigungsrechtes bestehen. Es gibt viele Leute, die der Meinung sind,
Jaß jede körperliche Züchtigung einoe seelische Schädigung zur Folge
habe. Insofern gibt § 147 Abs. 2 Entw. demjenigen Richter, der sich
dieser populären Auffassung anschließt, die Möglichkeit, jede Aus-
übung des gesetzlich gebilligten Züchtigungsrechts zu bestrafen. Dann

4 Dieser Fall Ist nicht erfunden.


112 Die gesetzliche Bestimmtheit der Tatbestände

bleibt es bei den Widersprüchen, in denen sich hoeute die Recht-


sprechung nicht nur der Tatgerichte bewegt.
Es wäre die Bestimmung des § 147 Ziff. 2 1Entw. also folgendermaßen
zu fassen:
"Für immer oder lange Zeit auffallend entstellt, im Gebrauch seines
Körpers oder seiner Sinne erheblich beeinträchtigt wird."
Die geistige Gesundheit ·und die Arbeitsfähigkeit sind bereits durch
die Ziff. 3 geschützt. Wer nicht im Sinn d~eser Vorschrift schwer oder
für lange Zeit erkrankt, ist nicht geistig oder in seiner Arbeitsfähigkeit
ernsthaft geschädigt.
Nicht voll geglückt scheinen mir auch §§ 164 ("gröblich"), 166 und
167 Entw. Hier ist eine genauere Formulierung mindestens erwünscht.
Die Wertbegriffe "sittenwidrig", "verwerflich" sind nur dort straf-
rechtlich brauchbar, wo si•e auf eine feststellbare tatsächliche Übung
Bezug nehmen können, wie z. B. im Verkehrsr·echt. Man kann sich,
wie ber eits oben § 8 IV gezeigt, im Sittenstrafrecht auch nicht auf den
Popanz des "normalen Schamgefühls" berufen. Gerade das Sitten-
strafrecht greift in Lebensverhältnisse ein, hinsichtlich deren die sitt-
lichen Anschauungen umkämpft sind, die Anforderungen des Scham-
gefühls auseinandergehen. Hier kann nur das Gesetz überhaupt feste
Richtung und sicheres Maß geben.
2. Gesinnungsmerkmale sollte der Strafgesetzgeber jedenfall nicht
als strafbegründendes Tatbestandsmerkmal verwenden. Auch die in
§ 211 StGB enthaltenen straferhöhenden Gesinnungsmerkmale sind
nur deshalb erträglich, weil es auf die Unterscheidung von Mord und
Totschlag nach Abschaffung der Todesstrafe überhaupt nicht mehr ent-
.>clleidend ankommt. Niemand darf für eine angebliche innere Einstel-
lung bestraft werden, die er in der Tat nicht geäußert hat, denn dies
wäre ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2, der nur die Bestrafung von
Taten zuläßt. Unbedenklich ist es dagegen, ein inhaltlich bestimmtes
Motiv als strafschärfenden oder strafmildernden Umstand zu ver-
wenden. In § 211 StGB sollte daher an die Stelle der Worte "Aus Hab-
gier" treten "um sich zu bereichern".
Die Bedenklichkeit strafbegründendoer Gesinnungsmerkmale läßt sich
besonders gut an der unglückseligen Vorschrift des § 223 b StGB und
der noch bedenklicheren des § 154 Entw. zeigen. Hinter dieser Vor-
schrift stehen die von einem kleinen aber sehr lautstarken Teil dter
öffentlichen Meinung getragenen Bestrebungen, das gesetzlich an-
erkannte Züchtig.ungsrecht, insbesondere der Eltern, auszuschalten 5 •
5 Aus der einschlägigen Literatur möchte ich nur anführen Lydia v.
Wolffring, Die Kindermißhandlung, ihre Ursachen und die Mittel zu ihrer
Abhilfe, Wien 1907, sowie den Bericht über den Kinderschutzkongreß 1907.
Die Tatbestandsgarantie als magna charta libertatis 118

Nun mag man die körperliche Züchttgung für ein geeignetes Er-
ziehungsmittel halten oder nicht, die heute übliche durch die Justiz..,
pressestellen veranlaßte Berichterstattung über angeblichen Mißbrauch
der ·elterlichen Erziehungsgewalt hat immerhin auch Anteil an !Er·
Ziehungsmüdigkeit rund Autoritätsverlust des Elternhauses.
Die Frage mag am praktischen Beispiel erläutert werden. Ein Be-
amter, der sich vom Militäranwärter bis in den gehobenen
Dienst emporgearbeitet hatte, wollte seinen Sohn auf der höheren
Schule halten. Der Junge verglich das sparsame lieben seiner Eltern
und sein geringes Taschengeld mit den Möglichkeiten, die sein Freund,
ein Elektrikerlehrling, hatte, und wollte deshalb aus der Schule aus-
scheiden. Die Mutter meldete den Sohn ihinter dem Rücken des Vaters
in die Mittelschule um, der Vater bestand wenigstens auf vollendetem
Abschluß dieser Schule. In diesem Konflikt kam der Junge zum Dieb-
stahl. Die erste Tat konnte .der Vat<er durch seine guten Beziehungen
zu Polizeibeamten vertuschen. Bei der zweiten war dies nur noch
schwer möglich. Nun wollte der Vater mit körperlicher Züchtigung
einschreiten und benutzte dazu eine Peitsche. Die Sache mißlang, weil
der Junge durch das Fenster der Hochparterrewohnung auf die Straße
entfloh. Gegen den Vater wurde ein Strafverfahren eingeleitet. In
einem anderen Fall wurde ein Vater bestraft, der seine 15jährige Toch.,.
ter - wie es heißt - "maßlos" gezüchtigt hat, weil sie wied•erholt
Veruntreuungen beging, sich herumtrieb, von der Polizei aufgegriffen
wurde rund häufig wechselnden Geschlechtsverkehr ausübte6 •
Derartige - auch sehr harte - Züchtigungen galten in früheren
Zeitren allgemein als sinnvolles ZüchtigungsmitteL Will man mit dieser
Überlieferung brechen, so muß man dies schon klar sagen, zumal die
betreffenden Eltern meist die Kinder nur vor der Fürsorgeerziehung
bewahren wollen, in der nacll ihrer Vorstellung junge Diebe l!lnd Huren
sich wechselseitig weiter verführen. Man kann in solchen Fällen -
und dires sind die typischen - die Strafbarkeit aber auch nicht von
der Gesinnung abhängig machen. Die seelischen Konflikte steigern
sich beim Erziehungsnotstand derart, daß unbeherrschter Zorn kaum
noch vermieden werden kann, ja sich sogar Haßkomplexe aufdrängen.
Aber nur in einer begrenzten Zahl von Fällen erdulden Kinder dann
schwerwiegendes, manchmal entsetzliches Leid. Krankhafte Reaktio-
nen und ausweglos gewordene Konflikte gehen ineinander über. Bett-
nässer und !Einkoter bringen auch gesunde Eltern allmählich in völlige
Verzweiflung, zumal ärztliche Hilfe auch heute noch bei diesen Er-
6 Den ersten Fall entnehme ich einer selbst angestellten Aktendurchsicht.
der im Bereiche des OLG Schleswig durch zwei Jahre hindurch erwach-
senen Strafakten über § 223 b, der zweite findet sich bei Wolfgang Nix, Die
Mißhandlungen Abhängiger, Bonn. Diss. 1958, S. 72.

6 Mayar. Strafr~tsr~form
114 Die gesetzliche Bestimmtheit der Tatbestände

krankungen versagt. Sind die Eltern geistig nicht voll~rtig und


glauben sie, den unerträglichen Zustand durch Prügel aus der Welt zu
schaffen, so ist ein Teufelskreis betreten, aus dem es kein Entrinnen
mehr gibt. Derselbe Konflikt spielt sich in abgemilderter Form ab,
wenn ein Kind- namentlich ein unoerwünschtes -geistig und mora~
lisch versagt. Werden uneheliche Kinder nach Jahren der Entfrem-
dung von ihrer Mutter zurückgeholt, so geben die Großeltern nur den
Versager leicht heraus.
In diesen Fällen sollte man nicht nach Rohheit, sadistischer Ein-
stellung (quälen) oder sonst einer ungreifbaren Bosheit suchen, obo..
gleich immer die Abgründe des menschlichen Herzens zutage treten.
Vielmehr muß man ganz einfach die gesundheitsgefährdende Mißhand.:.
lung als solche bestrafen und zwar mit erhöhter Strafe, wenn sie an
Kindern unter 7 Jahren begangen wird. Der Tatbestand muß dem
primitiven •Und mehr oder weniger hilflosen Menschen klar sagen, was
erlaubt und was verboten ist. insbesondere sind nach dem Vorbild
alter Stadtrechte ungebräuchliche Züchtigungsmittel und maßlose Züch~
tigung klar zu verbieten. Die Lloß erziehungswidrige Züchtigung geht
aber den Strafrichter nichts an, auch wenn sie angeblich einer rohen
oder quälerischen Gesinnung entspringt. § 154 Entw. wäre entspre-
chend zu verändern.
3. Aus ähnlichen Gründen sind die Strafvorschriften über Ver-
letzung der Erziehungspflicht, § 170 d StGB (vgl. dazu oben § 9 III 1
§ 198 Entw. und Tierquälerei § 233 Entw. unbrauchbar. Nach der gel~
tenden Vorschrift des § 170 d StGB bestraft die Praxis in Wahrheit
die Wohnungsnot7 • In Tierquälereiprozessen erlebt man immer wieder;
daß der Mensch um des Tieres Willen mißhandelt wird. Ebenso leidet
§ 201 Entw. an einer unerträglichen Unbestimmtheit. Alle diese Be:..
stimmungen sind augenblicklich sehr populär, aber populäre Strömun.i.
gen sind immer geeignet, die Redüsprechung irrezuführen.
III. Endlich sei noch in aller Kürze eine Wunschliste aufgestellt, die
einige besonders dringliche Verbesserungen enthält. ·
1. Bei den Straftaten gegen die Person ist in unserem Zusammen..
hang nur noch folgendes hervorzuheben:
Bei der vorsätzlichen Tötung bedarf die BdU genauester Umschrei-
bung. Die Beihilfe zum Selbstmord muß entweder im Gegensatz zu
den Vorstellungen des liberalen Jahrhunderts wieder für strafbar er•
klärt werden, oder die BdU muß so exakt umgrenzt werden, daß die
Strafbarkeit nicht auf Umwegen erschlichen werden kann. Der gegen~
wärtige Zustand führt zu unerträglicher Rechtsunsicherheit.
7 Vgl. dazu Materialien Bd. I, S. 269.
Die Tatbestandsgarantie als magna charta libertatis 115

Körperverletzung sollte auf Gesundheitsbeschädigung und Zufügung


erheblicher Schmerzen beschränkt werden. Der Ausdruck "mißhan-
deln" bezieht Bagatellfälle mit ein, die nicht vor den Strafrichter ge-
hören. Die unbestimmte Fassung stammt aus dem römisch-rechtlichen
Injurienbegriff, gehört aber nicht in ein modernes Strafgesetzbuch.
Eigenmächtige Heilbehandlung, § 162 Entw., solte nur im Fall eines
echten Eingriffes strafbar sein.
Erfreulich ist § 175 des Entwurfes, der die einfache Beleidigung als
Kundgabe von Mißachtung definiert. Damit dürfte es künftig un-
möglich sein, den Beleidigungstatbestand als Auffangtatbestand für
straflose Verletzungen der geschlechtlichen Sittlichkeit zu mißbrauchen.
Problematisch bleibt der ganze Abschnitt über Verletzung des per-
sönlichen Lebens- und Geheimnisbereiches; die sachlichen Bedenken
gegen diese Bestimmungen zeigen sich auch in der Schwierigkeit, eine
exakte Tatbestandsbeschreibung zu finden.
Sehr zu begrüßen ist die neue Definition der Nötigung in § 170 in
Verbindung mit § 11 Nr. 7 Entw. Damit ist eines der schlimmsten Über-
bleibsel der nationalsozialistischen Verschlechterung unseres Straf-
rechtes beseitigt. Nach der gegenwärtigen Fassung wäre jedes Kartell-
recht, jeder Streik, jede Form der sozialen oder kirchlichen Zensur der
Nachprüfung durch den Richter ausgesetzt.
2. Erwähnt seien noch einige Straftaten gegen das Vermögen.
Der Betrugstatbestand bedarf genauester Formulierung. Die Erfah-
rung hat gezeigt, daß die Praxis immer wieder dazu gedrängt wird,
die&em Tatbestand alle festen Grenzen zu nehmen. Der Entwurf er-
kennt leider in gewissem Umfange diese unzulässigen Erweiterungen
an. Demgegenüber sollte klargestellt werden, daß Betrug nur durch
täuschende Erklärungen, seien es auch konkludente Erklärungen, ge-
schehen kann. Die Begehungsform der Begehung durch Unterlassung
muß ausdrücklich ausgeschlossen werden, sonst würde die Praxis
immer wieder dazu versucht, unter dem Titel des Kreditbetrugs die
bloße Insolvenz zu bestrafen. Diese Beschränkung des Tatbestandes ist
vordringlich, damit endlich der Mißbrauch des Strafprozesses für
zivilproz~Cssuale Zwecke abgestellt wird. Auch muß der Verfügende
"für" einen anderen handeln. Bekanntlich hat die Praxis den nega-
tiven, d. h. logisch unendlichen Satz gebildet, der Getäuschte und der
Geschädigte müßten nicht identisch sein. Wenn man bei diesem nega-
tiven Satz stehenbleibt, ist jede Unt'Crschlagung Zlllgleich ein Betrug.
denn man kann den Erwerb durch den gutgläubigen Dritten als eine
Verfügung desselben ansehen. Auch der Begriff des Vermögensnach-
teils bedarf ausdrücklicher Definition, auf welche bei der Erpressung
116 Die gesetzliche Bestimmtheit der·Tatbestände

und bei der Untreue Bez.ug genommen werden könnte. Die Rechtspre-
chung ist hier offensichtlich überfordert.
Bei der Erpressung ist die Drohung auf die gefährliche Drohung
im Sinne des § 11 Ziff. 7 zu beschränken. Ich möchte zwar meinen
Antikritikern gegenüber daran festhalten, daß die geg·enwärtige Fas-
sung des § 253 StGB im Gegensatz zu der des § 240 StGB gerade noch
mit Art. 103 GG vereinbar ist. Dioes bedeutet aber nicht, daß diese
Fassung erwünscht ist. Alle Einzeluntersuchungen über die Krimino-
logie der Erpressung z.eigen, daß in der Praxis nur ganz bestimmte
Fälle der Erpressung eine Rolle spielen, die alle durch die !Erpressung
mit einer gefährlichen Drohung im Sinne des Entwurfs ~deckt wer-
den. Alle anderen theoretisch formulierten Beispiele kommen nicht
vor. Es ist daher unberechtigt, die Bestimmungen mit einer unnöttgen
Unsicherheit z,u beLasten, insbesondere deshalb, weil dioe Ausübung
wirtschaftlicher Macht sonst einer u. U. sehr wenig sachverständigen
Prüfung unterzogen werden könnte.
Sehr zu billigen ist die neue Fassung der Untreuebestimmung. Es
zeigt sich eben, daß subtile Fragen nicht mit einer kurzen Vorschrift
geregelt werden können. Zur Verteidi~ng der neuen Fassung darf
nur darauf hingewiesen werden, daß bereits die alte Fassung des
§ 266 StGB vor der unglückseligen Novelle von 1933 die Möglichkeit
gebotoen hat, in einer rechtstaatswidrigen Weise die Vorstände der
Aktiengesellschaften und Genossenschaften politisch gleichzuschalten.
Die bisherige Fassung bedeutet eine unerträgliche Unsicherheit für
die leitenden Personen der Wirtschaft. Nur wäre die Vorschrift durch
eine Definition des Begriffes des Vermögensnachteils noch zu ver-
bessern.
3. Die Probleme des politischen Strafrechts einschließlich der §§ 166,
167 Entw. sowie der Straftaten gegen Staat und öffentliche Ordnung
überhaupt, müssen hier aus Raumgründen ausgeklammert woerden, sie
führen in zu ausgedehnte Sachbereiche.

§ 12. Probleme der Gewaltenteilung

Die Selbständigkeit der Regiemng und Verwaltung wird durch eine


ganze Anzahl von Strafvorschriften gefährdet, von denen hier nur
die wichtigsten besprochen werden sollen.
In erster Linie sind zu nennen Beleidigung und fahrlässig falsche
Anzeige im Sinne § 164 Abs. 5 StGB; letztere Bestimmung soll er-
freulicherweise nach dem Vorschlag des Entwurfs entfallen. Alle
irgendwie umstrittenen Regierungs- und Verwaltungsakte haben ge-
wöhnlich Maßnahmen personeller Art - Rügen, ungünstige Beurtoei-
Probleme der Gewaltenteilung 117

lungen, Referatsveränderungen usw. - zur Folge. Da Streitigkeiten


politischer Art nicht mit Sammethandschuhen ausgetragen werden
k!önnen, so kommt es möglicherweise zu kränkenden Vorwürfen oder
auch zu der Frage, ob irgendein Beamter sich strafbar gemacht hat. Es
geht keinesfalls an, daß etwa ·ein Ministerium leitende Beamte eines
anderen dadurch auszuschalten versucht, daß es Strafanzeigen ver-
anlaßt des Inhalts, der Beamte des eigenen Ministeriums sei zu Un-
recht beleidigt oder beschuldigt worden. Die Gefahr für die Verwal-
tung besteht heute nicht mehr in der Überwachung durch die Zivil-
gerichte - diese wäre völlig harmlos, und die Verwaltungsgerichte
könnten ruhig in die Zivilgerichte eingegliedert werden - , sondern
in der Überwachung durch die Strafjustiz.
In diesem Zusammenhang ist auch der Bruch does gewöhnlichen
Amtsgeheimnisses zu nennen, der bis 1933 aus guten Gründen immer
straflos war. Mit dieser Strafbestimmung führen bereits gewisse Son-
derverwaltungen Krieg gegen die allgemeinen Verwaltungsbehördenf.
Der Beamtoe sollte als Täter der Untreue ausscheiden2 • Dies mag be-
fremdend kling·en, denn sicherlich ist ungetreue und eigennützige Ver-
mögensverwaltung, begangen durch einen Beamten, strafwürdig; aber
es gilt dasselbe wie bei der vorsätzlichen Falschanklage und der
Rechtsbeugung. Boeide sind trotz höchster Strafwürdigkeit heute nur
im Falle dir·ekten Vorsatzes strafbar, der in den seltensten Fällen
nachzuweisen ist. Di·es muß aber in Kauf genommen werden, weil jede
Erweiterung der Strafbarkeit die Unabhängigkeit der Rechtspflege be-
drohen würde. Ebenso muß auch verhindert werden, daß· die Staats-
anwaltschaft die staatliche Vermögensverwaltung als solche überwacht
und die Strafjustiz sich an die Stelle des Rechnungshofes setzt.
Auch der Tatbestand der Bestechung-3 bedarf genauer Begrenrung.
Nur sehr naive Menschen können annehmen, daß die Grenze zwischen
der erlaubten und unerläßlichen gesellschaftlichen Beziehung und dem
verbotenen Geschenk ohne weiteres zu ziehen und im Leben leicht
zu finden ist. Darum muß die strafbare Bestechung auf die Fälloe des
offenbar verbotenen Handeins beschränkt werden. Sonst kann nämlich
jeder politische Gegn·e r dem führenden Politiker seine ausführenden
Organe allzu leicht abschießen. Die Justiz beweist in solchen Fällen
eine außerordentliche Harmlosigkeit.
Andererseits darf die Justiz der Verwaltung die Verantwortung
nicht abnehmen, wo diese Verantwortung allein von der Verwaltung
getragen werden kann. Im Rahmen der fahrlässigen Tötung oder Kör-
1 Es kommen leider sehr seltsame Dinge vor.
2 Materialien Bd. 1, S. 351.
3 Vgl. neuerdings besonders Friedr. Geerds, Der Unrechtsgehalt der Be-
stechungsdelikte ... Tübingen 1961.
118 Die gesetzliche Bestimmtheit der Tatbestände

perverletzung ist klar zu sagen, daß die Anwendung von Heilmitteln,


~lche bisher wissenschaftlich noch nicht anerkannt sind, für sich
allein keine strafbare Handlung darstellt. Auswüchse der Kurierfrei-
heit müssen allerdings bekämpft werden. Dafür ist aber zuerst die
Verwaltung, erst sekundär die Strafjustiz verantwortlich. Neuerdings
hat der Prozeß Isseis gezeigt, in welch bedenklichem Ausmaß die
Justiz in solchen Fällen überfordert wird.
Dritter Abschnitt

Strafensystem, Maßnahmen des Kriminalrechts,


fürsorgendes Personenrecht

§ 13. Ein neuer Plan

Die etwas schwerfällige Abschnittsüberschrift soll die herkömmliche


Bezeichnung "Strafen und Maßregeln (bzw. Maßnahmen)" ersetzen.
Wir sind zu einer neuen Terminologie genötigt, weil wir aus grund-
sätzlichen Erwägungen Maßnahmen des Kriminalrechts nur insoweit
für zulässig halten, als sie nicht in die Substanz der Rechtspersön-
lichkeit eingreifen. Eine zulässige Maßnahme ist z. B. die Einziehung.
An die Stelle der nach unserer Auffassung unzulässigen Maß-
nahmen oder Maßregeln treten entweder Zweckstrafen oder die Maß-
nahmen des fürsorgenden Personenrechts. Mit dies·er Forderung unter-
scheiden wir uns so wesentlich von der Konzeption des Entwurfs\ daß
wir auch bedeutsame Veränderungen des Strafensystems vorsehen
müssen.
Damit sind wir genötigt, einen eigenen neuen Plan eines Sanktions-
systems zu entwerfen.
I. Dieser neue Plan beruht auf nachstehenden Grundgedanken.
1. Unsere grundsätzlichen kritischen Bedenken und Vorschläge (vgl.
oben § 5) gewinnen in unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Situa-
tion besondere Bed•eutung. In unser·e m heutig·e n Leben herrscht die
furchtbare Übermacht des Kollektiven und Allgemeinen. Das Mittel-
alter mußte noch den anbrandenden Wogen der Anarchie den Damm
des harten peinlichen Rechts entgegenstellen. Die heutige Ge9ells·c haft
kann durch anarchische Übergriffe der Einzelperson, also durch krimi-
nelle Betätigung der Privatpersonen kaum noch ernsthaft gefährdet
werden, nicht einmal durch die so bedenklich angeschwollene Jugend-
kriminalität. Dag.egen müssen wir stets auf der Hut sein vor dem
mehr :oder minder amtlichen Mißbrauch kollektiver Macht, auch und
gerade im demokratischen Rechtsstaat, der sich auf die Entscheidungen

1 Die vorgetragenen Gedankenzusammenhänge lassen sich literarisch nicht


belegen, da sie neu sind. Angeregt wurde Verf. namentlich durch Oetker,
vgl. G. S. Bd. 91, S. 321 ff., Bd. 92, S. 1 ff.; dort auch Oetkers frühere Ar-
beiten. Die Grundlegung unserer Gedanken bereits Str. d. dt. V., S. 133 ff.
120 Strafensystern, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

des inappellablen Volkswillens beruft. Dioe Hauptgefahr steckt aber


nicht einmal in dem eigentlichen Mißbrauch, sondern darin, daß der
Staat in Strafrecht und Fürsorgerecht seine domestizierende Ordnungs-
macht zwar wohlwollend, aber so unbedachtsam gebraucht, daß er
alles lebendige Einzelleben erstickt. Die vermoehrte Jugendkriminalität
erfüllt uns nicht deshalb mit Sorge, weil die Sicherheit der Gesell-
schaft gefährdet wäre, sondern weil so viele junge Menschen in der
Mühle der Strafrechtspflege zermahlen werden, wobei es nur einen
geringen Unterschied macht, ob sich die Jugendrichter als Strafrichter
oder "Erziehungsrichter" fühlen. Es kommt heute nicht darauf an,
Strafen und Maßnahmen b€sonders effektiv zu machen, sondern nach
dem guten alten ärztlichen Grundsatz "nil nocere", alle personzerstö-
renden Nebenwirkungen des staatlichen Eingriffs möglichst zu ver-
meiden. Diese Milde können wir uns durchaus leisten, denn nicht nur
ist die kollektive Übermacht sehr groß, es hat sich auch infolge Ver-
bürgerlichung der Massen, der allgemeinen Gleichheit des Ehrgefühls
die Strafempfindlichkeit sehr gesteigert.
Es kann daher die Freiheitsstrafe alten Stils, deren Wesen die kör-
perliche .Einschließung ist, auf di·e Fälle der sch.wer·en Kriminalität
oder der Rückfallkriminalität beschränkt werden. Für die leichtoere
und mittlere Kriminalität genügt neb€n Geldstrafe, Verwarnung und
Friedensbürgschaft2 der offene Vollzug als besondere Strafart. Wir
wollen diese neue Strafart Strafdienst nennen, und unterscheiden
innerhalb does Strafdienstes bürgerliche Schulung und Bewährungs-
dienst. Im Strafdienst bleibt der Bestrafte ein freier Mann, er ist nicht
eingeschlossen, sondern hat nur die Pflicht, sich am Dienstort in ka-
sernenartiger Unterbringung aufzuhalten und seine Übungen oder
seinen Dienst zu verrichten.
Gerade die Einschließung entwürdigt, demütigt und -entmutigt den'
Sträfling in der Tiefe seiner pevsönlichen iExistenz. Es ist das ganz
große geschichtliche Verdienst des sogenannten offenen Vollzugs, daß
er ·einen Ausweg aus diesem Menageriesystem gezeigt hat. Aber es
genügt nicht, dem Übel der Einsperrung erst nachträglich durch offenen
Vollzug zu steuern. Auch wer diese Vergünstigung erhält, ist doch
einmal zu entwürdigender Behandlung verurteilt und so diffamiert
worden.
Andererseits muß allerdings der Ernst der Strafe aufrechterhalten,
die unantastbare Hoheit des Gesetz·es manifestiert werden. Aber es ist
b€i unserem Vorschlag nicht zu fürchten, daß die Generalprävention
leidet. Unser gegenwärtiges System hat uns ja dazu genötigt, jede
erstverhängte Freiheitsstrafe zur angeblichen Bewährung auszusetzen;
2 Vgl. dazu unten § 16 III.
Ein neuer Plan 121

Dieser seltsame Grundsatz "Einmal ist keinmal" schwächt die Kraft


der Strafdrohung allerdings ab und verführt schwache Menschen dazu,
ihren rechtswidrigen Launen nachzugeben. Milde und vernünftige
Strafen können und sollen dagegen in sicherer Regelmäßigkeit voll-
streckt werden. Auch eine milde Strafe bleibt dann immer bitter ge-
nug, ja, wir werden nur uns ernstlich bemühen müssen, daß sich der
Strafdienst nicht nur dem Namen nach unzweideutig von der Frei-
heitsstrafe unterscheidet. Es ist bekannt, daß die Strafzumessungs-
praxis der deutschen Gerichte von 1882 bis 1914 fortlaufend milder
geworden ist3, daß aber im gleichen Zeitraum die spezialpräventiv be-
deutsamen Formen der Erstkriminalität, insbesondere die Vermögens-
kriminalität ständig abgenommen haben. Diese Abnahme wäre noch
größer, wenn nicht gleichzeitig die Praxis die Tatbestände ständig aus-
geweitet hätte.
Milde und Generalprävention sinq also sehr wohl vereinbar, da-
gegen ist der spezialpräventive Mißerfolg der Freiheitsstrafen einfach
nicht zu leugnen. Wie der offene Vollzug erwiesen hat, lassen sich die
Sträflinge in einem freieren System auch leichter eigentlich erziehen.
Hinter dem Strafdienst steht für denjenigen, der sich seinen Verpflich-
tungen entzieht, subsidiär dann allerdings die Freiheitsstrafe. Im
Grund drehen wir mit unserem Vorschlag nur das derzeitige Verhält-
nis der Sanktionen um. Steht heute hinter der primären Einsperrung
die Möglichkeit, daß sekundär je nach der Klassifikation der Gefan-
genen die Vergünstigung des offenen Vollzugs steht, so soll nach un-
serem Vorschlag ·erst gar nicht zur Einsperrung verurteilt und auch
gar niemand klassifiziert und prognostisch beurteilt werden. Jeder
er.hält eine ·echte Chance. Wer sich aber der liberal·en Behandlung des
Strafdienstes durch die Tat unwürdig erweist, verfällt dann allerdings
der Freiheitsstrafe. iEr hat sich dann selbst klassifiziert und kann sich
über dies Ergebnis nicht beklagen.
2. Wir sahen oben § 5 einen grundlegenden Fehler des Entwurfs
darin, daß er um der sauberen Zweispuri,gkeit willen Sühne und Prä-
vention in einen unechten .Gegensatz stellt. In Wahrheit kann und
muß die gerechte Strafe dem Besserungs- und Sicherungszweck dienst-
bar gemacht werden. Soweit aber wirklich der Täter unfähig ist, den
rechtlichen Anforderungen der Allgemeinheit zu g·enügen, muß ihm
als ·einem sozial Hilflosen ein ffirsorgendes Personenrecht Hilfe leisten.
Mit dieser Zwecksetzung geht die soziale Hilfe über den bloßen Prä-
V·e ntionszweck weit hinaus.
a) Der Besserungsgedanke ist im Sühnegedanken begrifflich einge-
schlossen und seine pnaktisch psychologische Grundlage. Es ist der
3 Exner, Kriminalbiologie, 3. Aufi., S. 104 f.
122 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

Mensch, der zu sühnen hat. Da aber seine Schuld in der Ent~gen­


setzung seines Eigenwillens gegen den Allgemeinwillen besteht, so darf
ihm die Strafe nicht nur von außen angetan werden, er soll vielmehr
selbst sühnend seinen Eigenwillen überwinden4 • Bei diesem Heilungs-
prozeß ist Krankheitseinsicht des Patienten nicht zu entbehren. Auch
das Strafleiden selbst darf daher nicht als bloße äußerliche Zufügung
eines Übels verstanden werden, es ist vielmehr im wes·e ntlichen
Rü~, •Censura, die allerdings der äußeren Macht des Strafleidens nicht
entbehren kann.
Die Strafe ist jedenfalls auch Sicherungsstrafe, insoweit der schuldig
gewordene Täter der Allgemeinheit Sicherung schuldet. Das ist recht
unproblematisch bei denjenigen Strafen, die Verwirkungen ausspre-
chen, wie ·Entziehung der Fahrerlaubnis oder Berufsverbot. Der Täter
schuldet hier offenbar der Allgemeinheit, daß die von ihm ausgehen-
den Gefahren beseitigt werden. Auch die Dauer der Freiheitsstrafe
kann insoweit durchaus durch den Sicherungszweck bestimmt werden,
als der rückfällige Täter in schuldhafter Weise eine auf schwere Ge-
fährdung abzielende Lebensweise gewählt hat. Der Grundgedanke des
§ 20 a ist insoweit durchaus gesund, bedarf nur der richtigen Formu-
lierung. Es ist wohl auch eine Erfahrungstatsache, daß der Verurteilte
die nach § 20 a verhängte Freiheitsstrafe verstehen und ertragen kann,
während die bloß sichernde Einsperrung psychologisch für Häftling
und Vollzugsbeamten glteich unerträglich ist.
b) Die soziale Hilflosigkeit der Vergesellungsschwierigen ist viel
größer, ihre Gefährlichkeit geringer geworden. Die Macht des Kollek-
tiven schaltet in immter stärkerem Maße den Unfähigen oder Un-
brauchbaren aus und stößt ihn so in eine Kriminalität der Desorientle-
rung. Unser Problem sind heute nicht mehr die Nachfahren der alten
Landstreicher und Gauner, sondern die große Masse der Menschen,
deren Pubertätsentwicklung irgendwie gestört worden ist, oder die
geistig irgendwie Geschädigten. Außerdem fehlen unserer modernen
Gesellschaft die früheren Gemeinde- und Nachbarschaftsbeziehungen,
die sozialen Abhängigkeitsverhältnisse, in denen die sozial Hilflosen
mitgetragen wurden. Wir produz~eren auf diese Weise eine breite neue
Pariaschicht, zumal das Solidaritätsbewußtsein des Arbeiters nach
unten hin immer früher seine Grenze findet. In den USA läßt sich
diese Entwicklung noch deutlich•er beobachten als bei uns. Die Frage
eines fürsol'genden Personenrechts hat infolgedessen wachsende Be-
deutung.

4 Über Vergeltung und Sühne vgl. heute Karl Peters, Grundprobleme der
Kriminalpädagogik, S. 95 ff., S. 100 ff. M. E. bilden Vergeltung und Sühne,
beide im Rechtssinn verstanden, eine dialektische Einheit.
Ein neuer Plan 123

3. Die Rechtstaatlichkeit unseres Strafrechts ist auf keinem Gebiet


mehr gefährdet, als auf dem der Unrechtsfolgen5 • Indem der Entwurf
um der sauberen Zweispurigkeit willen, theoretisch den Präventions-
gedanken aus dem Strafensystem verbannt, verbannt er in Wahrheit
nur alle materiellen Bestimmungen über den Gehalt der Strafe aus
dem Strafgesetzbuch in das Strafvollzugsgesetz, welches dann den
Sträfling der ganzen angeblich modernen Maschinerie kollektiver Will-
kür unterwerfen könnte. Der sachliche Gehalt der Strafen ist daher
im Strafgesetzbuch selbst festzulegen. Nur wenn die Strafe auch in
ihrem Vollzug vom Sträfling als gerechte Sühne empfunden werden
kann, ist es denkbar, daß der Sträfling am Erziehungsvorgang mit-
wirkt. Die .Strafe kann nämlich wie jede Rüge dem Gerügten wesent-
lich nur Hilfe zur Selbsterziehung leisten, mit bloßer "Behandlung"
ist wenig zu erreichen. Selbst der Arzt kann einen körperlich Kranken
nur dann heilen, wenn dieser geheilt und behandelt werden will. Es
ist ein seltsamer Doppelwahn, anzunehmen, daß man nur der freien
Persönlichkeit des Erziehers vertrauen und ihm eine unerhörte Macht-
fülle geben müss·e, daß es aber auf die freie Persönlichkeit des Sträf-
lings gar nicht ankomme.
Man kann nicht ·erziehen, indem man "behandelt", den zu Behan-
delnden prognostisch erfaßt, in kriminologische Rubriken klassifiziert
und dann je nach Zweckwahl Haftdauer, Haftformen und Haftmetho-
den auferlegt. Die Grundvoraussetzung dieser kollektiwn Maschinerie
ist die Prognose, auf die der Entwurf selbst bei der Strafaussetzung
zur Bewährung § 71 Entw. und bei den Maßregeln der Sicherung und
Besserung insbesondere in §§ 82 bis 86, 91, 101 Entw. abstellt. Es ist
aber zu erwarten, daß dannn im Strafvollzugsgesetz die Prognose eine
sehr große Rolle spielen wird. Es kann hier auf das Prognoseproblem
nicht näher eingegangen werden. Daß eine sogenannte "intuitive" Pro-
gnose nicht ausreicht, um über ein Menschenschicksal zu entscheiden,
ist wohl allgemein anerkannt. Die sogenannte wissenschaftliche Pro-
gnose will aus dem statistischen Verhalten einer Masse auf das Ver-
halten einzelner Menschen schließen, was in sich widerspruchsvoll ist.
Die Fragwürdigkeit aller Prognosetabellen ist denn auch in der neue-
ren wissenschaftlichen Diskussion so deutlich geworden, daß sich wei-
tere Ausführungen erübrigen. Der Vergleich mit dem ärztlichen Han-
deln mag hier zur Klärung dienen. Der Arzt behandelt den Kranken
nach Maßgabe einer Diagnose, d. h. auf Grund festgestellter Tat-
sachen. In der Prognose über den zukünftigen Verlauf der Krankheit
hält er sich sehr zurück, da er sich der relativen Unberechenbarkeit
biologischer Proz·esse sehr wohl bewußt ist. Aber die Allwissenheit der
5 Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz 1960.
124 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

Menschenbehandler im Strafvollzug weiß mehr als der Arzt, sogar


über den Verlauf künftiger geistiger Entwicklungen. Aber allerdings
ist mit Geerds6 anzuerkennen, daß die sogenannte wissenschaftliche
Prognose kriminalpolitisch geeignet ist, die allgemeinen Gefahren-
situationen zu erkennen. Diese Kenntnis ist beim Aufbau des Strafen-
systems und des Systems des fürsorgenden Personenrechts zu ver-
werten, aber in der Weise, daß dem Betroffenen immer die Chance
gegeben wird, sich selbst richtig zu klassifizieren. Dann entscheidet
nämlich das Leben und nicht psychologische Künstelei. Dies geschieht
bei leichter und mittlerer Kriminalität in der Weise, daß jeder die
Chance -erhält, sich selbst durch Beachtung einer Verwarnung, durch
ordnungsmäßig-en Dienst im Strafdienst positiv zu klassifizieren. Hat
sich aber jemand in gefährlicher Weise als Rückfallverbr-echer be-
tätigt, so hat oer eine harte Strafe verwirkt, mit der Chance, sich Straf-
erlaß zu verdienen. Wenn man so verfährt, so urteilt der Richter
immer auf Grund bewiesener Tatsachen, was allein seines Amtes
sein kann.
li. Das nachstehend vorgeschlagene Strafensystem kann leider das
Jugendstrafrecht und das Recht der Ordnungswidrigkeiten nicht be-
rücksi~tigen, weil unsere Ausführungen sonst ihre Beziehung auf den
vorliegenden 1Entwurf verlieren würden. Aber die Analogien drängen
sich für diese Rechtsgebiete von selbst auf, so daß entsprechende
Vorschläge unterbleiben können.
1. Die gewöhnliche Hauptstrafe für die leichte Kriminalität ist die
Geldstrafe. Sie hat sich als solche seit dem Geldstrafengesetz von 1921
voll bewährt. Die heutigen sozialen Verhältnisse haben die früheren
Probleme ihrer Anwendung praktisch beseitigt. Es wäre an sich auch
möglich, di-e Geldstrafe mindestens auch gegen die mittlere Kriminali-
tät einzusetzen, denn es gibt zahlreiche Fälle, in denen die Geldstrafe
stärlrer wirkt .als jede andere Strafe. Jedoch darf aus aUgemeinen
rechtspolitischen Gründen die Höchststrafe nicht über 90 Tagesbueen
hinausgehen, um in der Ausdrucksweise des Entwurfs zu bleiben, vgl.
zu alled-em § 14.
2. Neben die ·Geldstraf-e tritt als die mildere Form des Strafdienstes
die bürgerliche Schulung. In ihr wird der Bestrafte im offenen Voll-
zug angehalten, an geeigneten schulenden und erziehenden Übungen
teilzunehmen. Diese Schulung ist zwar eine Freiheitsbeschränkung,
aber keine Freiheitsentziehung. Uns-er Vorschlag bezweckt nicht -etwa
einen neuen Etikettenschwindel, sondern eine radikale Veränderung
unseres Strafensystems. Die Schulung soll kein Denkzettel, keine Haft
irgendw-elcher Art sein, sondern eben ein wirklicher Schulungsaufent-
6 Friedr. Geerds, Zur kriminellen Prognose, Msch. Bd. 43, S. 92 ff.
Ein neuer Plan 125

halt mit den bei solchen Schulungslehrgängen üblichen und möglichen


Freiheiten. Die Strafe sollte mindestens eine, höchstens acht Wochen
betragen. Schulung kann mit Geldstrafe verbunden werden. Unser
Vorschlag, der manchem phantastisch klingen mag, wird unten
§ 15 II 1 näher dargelegt.
3. In der Stufenleit•er der Straf,en folgt an dieser Stelle die Ver-
warnung. Der psychologische Fehler der heute üblichen bedingten Ver-
urteilung besteht darin, daß sie in allen ihren Formen den Verurteilten
der Demütigung eines auf Freiheitsstrafe lautenden Urteils unterwirft.
Sie ist also teine Ehren- oder Demütigungsstrafe und als solche für die
Entwicklung des Verurteilten schädlich. Zugleich schwächt sie den
Ernst der .Strafe in uniheilvoller Weise ab. Wenn einmal eine Wider-
rufsstatistik vorliegt, wird sich wie früher zeigen, daß die Strafaus-
setzung die Rückfallerwartung erhöht. Die Verwarnung kann mit
Geldstrafe oder Fried•ensbürgschaft verbunden werden. Der Verwarnte
wird grundsätzlich weder durch Weisungen angeleitet, noch durch
Helfer überwacht, vgl. dazu § 16 III.
4. Die normale Strafe für di•e mittlere Kriminalität ist der Bewäh-
rungsdienst. Hier sind die Erfahrungen des offenen Vollzuges erst
richtig auszuwerten. Die Strafe sollte mindestens dr·ei Monate, höch-
stens zwölf Monate dauern. Es entfällt von vornherein die ent-
ehrende Vorstellung, daß der Verurteilte hinter Schloß und Riegel
untergebracht wird. Er wird vielmehr kasernoen- oder lagerartig unter-
gebracht, wobei Urlaub und Ausgang allerdings nicht in demselben
Maße wie bei Soldaten gewährt werden könnten. Briefwechsel wäre
unbeschränkt, Empfang von Besuchen im Rahmen des Möglichen er-
laubt. Gegen den Vollzug einer solch•en Strafe bestehen keine Be-
denken. Der massenhafte Strafaufschub wird auf diese Weise entbehr-
lich, der Ernst der Strafrechtspflege würde wiederhergestellt. Die
nähere Darstellung des Vorschlages findet sich in § 15 II 2.
5. Als Freiheitsstrafen im eigentlichen Sinne sind Haft, Gefängms
und Zuchthaus beizubehalten, vgl. dazu § 15 III.
a) Haft wäre nur subsidiär hinter Schulung anzudrohen.
b) Gefängnis wäre wie bisher echte Freiheitsstrafe, d. h. körperliche
Einschließung. Offener Vollzug wäre als Vergünstigung bei Wohlver-
halten zulässig, könnte aber nicht dieselben Freiheiten gewähren, die
beim Strafdienst vorgesehen sind. Gefängnis sollte grundsätzlich mit
sechs Monaten beginnen, nur als subsidiäre Strafe hinter Bewährungs-
dienst käme Gefängnis von drei Monaten an in Betracht. Die Höchst-
dauer sollte nicht über zwei Jahre sein.
c) Der einzige wirkliche Unterschied zwischen Zuchthaus und Ge-
fängnis ist die lange Daue r der Zuchthausstrafe. Sie sollte daher mit
126 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

zwei Jahren beginnen und bis zur regelmäßigen H&:hstdauer von


zehn Jahren gehen, ausnahmsweise könnte sie bis zu fünfzehn Jahre
betragen, in besonderen Fällen wäre auf l-ebenslängliche Zuchthaus-
strafe zu erkennen. Es hat keinen Sinn, einen neuen Namen für die
langfristige Freiheitsstrafe zu erfinden. Jeder Name für die lang-
zeitige Freiheitsstrafe wird allmählich dieselbe Bedeutung gewinnen,
die der Name Zuchthaus gegen die ursprüngliche Wortbedeutung an-
genommen hat. Nennt man auch die langzeitige Freiheitsstrafe Ge-
fängnis, so gerät nur der Gefängnissträfling in den Verdacht, "Zucht-
häusler" zu sein. Andererseits kann man schwerlich einen überzeu-
genden Grund dafür finden, warum neben die normale langzeitige
Freiheitsstrafe eine angeblich weniger entehrende gesetzt werden soll.
Die custodia honesta alten Stils stammt historisch aus veralteten stän-
disch•en Vorstellungen. Die Zuchthausstrafe sollte auch nicht mehr mit
Nebenstrafen an der 'Ehre verbunden sein.
6. Ehrenstrafen aller Art sind gänzlich abzuschaffen. Dagegen sind
Verwirkungsstrafen, und zwar gerade als Strafen, unentbehrlich. Wer
sich durch eine strafbare Handlung als ungeeignet erwiesen hat, be-
stimmte Tätigkeiten oder öffentliche Funktionen auszuüben, verwirkt
das Recht der Ausübung einschließlich der entsprechenden Berechti-
gungsurkunden und Qualifikationen. Eine derartige Verwirkung dient
zwar bestimmten Zwecken, bleibt als schweres Strafübel aber dennoch
echte Strafe. Gerad•e hier hat sich die Unterscheidung von Strafe und
Maßregel als sehr verhängnisvoll erwiesen und dem Verwaltungsrecht
den Weg eröffnet, materielle Strafen unter dem formellen Titel der
bloßen verwaltungsrechtlichen Maßnahme zu verhäng•en. Infolge dieser
Übung kann der Strafrichter die rechtlichen Folgen eines Strafurteils
gar nicht mehr übersehen7 • Der Strafrichter sollte aber in möglichst
umfassender Zuständigkeit alle Unrechtsfolgen bestimmen können, da-
mit der Verurteilt-e ausreichenden Rechtsschutz erhält. Es geht nicht
an, daß die Verwaltung Urteilsfolgen ausspricht, die der Strafrichter
g·erade nicht für veranlaßt hielt. Besonders fragwürdig ist die Ent-
ziehung des Doktorgrades, schon deshalb, weil im allgemeinen dem
Betroffenen nicht einmal rechtliches Gehör gewährt wird, und von Ur-
teilern entschied•en wird, die zumeist der Befähigung zum Richteramt
entbehren.
Im übrigen würde aber die Vielzahl der hier in Betracht kommen-
den Fragen den Rahmen dieser Schrift überschPeiten, auch das
Problem der Rehabilitation muß hier übergangen werden.
7 Vgl. dazu die Verhandlungen des Athener Kongresses der Ass. Int. de
Droit Penal Z Bd. 68, S. 177 ff., Bd. 70, S. 127 ff., S. 144 ff., insbes. S. 140 f.
(Bericht von Lackner), S. 147 ff. Die Entschließung ist aber sehr viel schär-
fer, als dies der vermittelnde Bericht von Lackner wahrhaben will.
Ein neuer Plan 127

III. Die echten Maßnahmen des Kriminalrechts, die als solche zu-
lässig sind, weil sie nicht in die Substanz der Person eingreifen, kön-
nen hier ebenfalls nicht ausführlich behandelt werden. Sie haben ihre
Hauptbedeutung im Nebenstrafrecht. Das interessante Thema ist nicht
von grundsätzlicher Bedeutung.
IV. Fürsorge für Gefährdete, sozial Hilflose und Gefährliche. Soweit
nicht sühnende Strafe verwirkt ist, können Störungen oder Gefahren,
die von gefährdeten, sozial hilflosen oder auch im eigentlichen Sinne
gefährlichen Personen ausgehen und zugleich Gefahren für diese Per-
sonen s•elbst mit sich bringen, nur im Wege fürsorgender Tätigkeit von
Staat und Gesellschaft behoben oder gebannt werden. Man darf nicht
mit einer falschen Zivilistischen Analogie solche Störungen oder Ge-
fahren als eine Art von objektivem Unrecht ansehen, weil sie eben
irgendwelche Interessen Einzelner oder der Allgemeinheit beeinträch-
tigen. Echte Schuld fordert Sühne. Wo keine Schuld vorhanden ist oder
doch nicht in Betracht gezogen wird, dürfen Störungen nicht anders
betrachtet werden, denn als soziale Krankheiten. Diese Betrachtungs-
weise mag z. B. dem gefährlichen SittlichkeitsV'erbrecher gegenüber -
der übrigens seine Schuld sühnen muß - als allzu human erscheinen.
Es gibt aber auch für den Schutz der Allgemeinheit keinen besseren
Weg als den der Fürsorge.
Fürsorge ist ohne weiteres möglich, soweit sie nicht in die Rechte
dessen eingreift, dem geholfen werden soll. Ist es aber nötig, die recht-
liche Bewegungsfreiheit des Betroffenen zu beschränken, so ist auch die
wohlwollende Absicht der Fürsorge, niemals ein ausreichender Grund,
einen Menschen nach den Zwecken anderer zu behandeln. Der Satz
Kants richtet sich nicht nur gegen die relativ begründete Strafe, nicht
nur gegen kriminelle Maßregeln, sond•ern auch gegen Fürsorgemaß-
nahmen, welche in die Rechte der Person eingreifen. Soweit also ein
solcher tEingriff unentbehrlich ist, muß der Rechtsgrund in der be-
sonderen Verfassung dieser Personen gesehen werden, vermöge deren
sie unfähig sind, ihr Leben ohne fremde Hilfe zu führen. Diese beson-
dere Verfassung der Person muß aber in einem Statusprozeß festgestellt
sein, bevor fürsorgende Maßnahmen in Freiheitsrechte eingreifen. Vor-
läufige Maßnahmen sind natürlich auch vor einer endgültigen !Entschei-
dung denkbar.
Nach § 72 BSHG soll zwar allen Personen Hilfe gewährt werden,
die aus Mangel an innerer Festigkeit ein geordnetes Leben in der Ge-
meinschaft nicht führen können. Auch § 39 Abs. 1 BSHG ist heranzu-
ziehen, der allen denjenigen Hilfe verspricht, deren geistige Kräfte
schwach entwickelt sind, sowie Abs. 2 derselben Bestimmung, der den
Kreis der geistig Behinderten noch weiter faßt. Aber sehen wir von
den geistig Behinderten ab, so kennt doch das BSHG als einzige Form
128 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

der Hilfe die Anstaltshilfe. Auch kann vom Strafentlassenen als sol-
chem nicht behauptet werden, daß er aus Mangel an innerer Festigkeit
kein geordnetes Leben führen könnte. Gefährdet sind aber alle Straf-
entlassenen durch das soziale Handicap, das sie erleiden, sie bedürfen
also verschiedener Formen der Sozialhilfe. Nun mag es sein, daß man
daran gedacllt hat, die Strafentlassenenfürsorge und jede Form ambu-
lanter Fürsorge für Gefährdete der Justiz zu überlassen. Dies wäre
aber sachlich schon deshalb verfehlt, weil die Strafentlassenenfür-
sorge der Justiz allein nicllt zum Ziel kommen kann. Es wäre aber
auch sehr bedenklich, wenn insoweit die Subsidiaritätsklausel ent-
fiele, welche der freien Wohlfahrts- und Hilfstätigkeit die Möglichkeit
gibt mitzuhelfen. Ohne diese Mitwirkung ist aber gerade in unserem
Bereich gar nicht auszukommen. Verständlicll wäre es allerdings, wenn
die Justiz sich hier ein Monopol v·erschaffen möchte, damit die Be-
strebungen der Reformer nicht gänzlich von der Entwicklung des Für·
sangerechts illusorisch gemacht würden. Aber für die Sache wäre ein
solches Justizmonopol nicht gut.
Das Sozialhilfegesetz legt aber auch die statusrechtlichen Voraus-
setzungen in rechtsstaatliclrem Sinne nicht hinreichend fest, die zu
fürsorgenden Eingriffen in die persönliche Freiheit berechtigen sollen.
Dies wird noch näher zu bespr·echen sein. Auch das gerichtliche Ver-
fahren bei Freiheitsentziehungen nach dem Gesetz vom 29. Juni 1956
genügt nicllt den Ansprüchen, die an einen statusrechtlichen Prozeß zu
stellen sind. Dieses Gesetz bezieht sich außerdem nur auf die volle
Freiheitsentziehung in der Form der Anstaltsunterbringung, gilt also
dort nicht, wo nur eine ambulante Überwachung in Betracht kommt.
1. Strafentlassenen ist ganz allgemein Hilfe zu gewähren. Ob und
in welchem Umfang sie aufzudrängen wäre, kann hier nicht erörtert
werden. Aber mindestens muß jeder Strafentlassene wissen, daß er bei
einer besonderen Stelle Rat und Hilfe erhält, wenn er keinen Arbeits-
platz findet, oder Gefahr läuft, aus seinem Arbeitsplatz verdrängt zu
werden, oder wenn er auf sonstige soziale Schwierigkeiten stößt. Ein
besonders schwieriges Problem für den Strafentlassenen ist die Unter-
haltsleistung für uneheliche Kinder oder für Kinder aus Alimenten-
zwangsehen, seien diese bereits wieder geschieden oder nicht. Es muß
dafür gesorgt werden, daß dem unterhaltspflichtigen Strafentlassenen
hinr·eichende Zeit zum Wiederaufbau seiner Existenz gelassen wird.
Doch soll dies Beispiel hier nur genannt werden, um zu zeigen, wie
groß und mannigfaltig der Bereich sozialer Hilfe ist. Die Schwie-
rigkeiten sind um so größer, weil gerade die ehrenhaften Strafentlas-
senen den Weg zu staatlichen Stellen scheuen, um nicht an ihre soziale
Demütigung erinnert zu werden. Um so mehr muß durch die Gesetz-
gebung die Zusammenarbeit von Justiz, Sozialhilfebehörden und freier
Ein neuer Plan 129

Wohlfahrtstätigkeit .gewährleistet werden. Die Führung muß hier den


Sozialhilfebehörden zukommen, weil der Strafentlassene zuletzt eben
doch in den Bereich ihrer Zuständigkeit gerät.
Das Problem eines besonderen P.crsonenrechts stellt sich aber bei
der gewöhnlichen Strafentlassenenfürsorge nicht.
2. Fürsorge für Gefährdete unter 25 Jahren kann nur in der Form
der Überwachung, also der Bewährungsaufsicht, geleistet werden. Nach
unserer Grundauffassung ist die Bewährungsaufsicht nicht eine krimi-
nelle Maßregel, sondoern ein Ausfluß fürsorgenden Personenrechts, das
in den Rechtsstatus der Person freiheitsbeschränkend eingreift. Unser
Vorschlag geht dahin, die Bewährungsaufsicht von der lEinrichtungdes
Strafaufschubes zu lösen. Die Verbindung der ambulanten Über-
wachung mit dem Strafaufschub hat zur Folge, daß diese Maßnahme
angeordnet wird, ut aliquid fieri videatur, weil man sich mit dem
bloßen Strafaufschub nicht begnügen möchte. Sie wird daher vielfach
in als aussichtsreich angesehenen Fällen angeordnet, in denen sie über-
haupt überflüssig wäre. Die Bewährungshelfer dürfen aber nicht mit
unnötiger Arbeit überlastet werd•cn, sondern sollen sich auf diejenigen
Fälle konzentrieren, in denen ihre Hilfe wirklich dringend benötigt
wird. Eine ·e inzelne Bestrafung als solche liefert auch keinen hin-
reichenden Rechtsgrund, in die Freiheitsrechte des Einzelnen odoer in
das elterliche Erziehungsrecht einzugreifen. Nur in einem besonderen
Statusprozeß können die persönlichen Verhältnisse so eingehend er-
mittelt werd•an, daß die nötigen Grundlagen für einen Erziehungs- oder
Bewährungsplan erarbeitet werden können. Vgl. zu all dem § 16.
3. Sozial hilflose vergesellungsschwierige Personen sind unter
Schutzhilfe zu stellen, wenn in einem Statusprozeß festgestellt ist, daß
sie ohne Hilfe, Anleitung und Anweisung oein geordnetes Leben nicht
führen können.
Schutzhilfe sollte möglichst ohne Anstaltsunterbringung auskommen.
Auch der Entwurf sieht ja neben der Sicherungsverwahrung Siche-
rungsaufsicht, außerdem die Aussetzung von Maßnahmen vor. Dieses
Maßregelsystem ist aber viel zu unbeweglich. Die Schutzhilfebehörde
muß hinreichende Bewegungsfreiheit haben, um die in jedem Einzel-
fall erforderlichen Maßnahmen anordnen zu können und durch ihre
Schutzhelfer ausführen oder überwachen zu lassen. Anstaltsunterbrin-
gung dürfte nur auf einen zusätzlichen besonderen Gerichtsbeschluß
hin erfolgen. Mit dem blo߀n Rat des § 73 BSGH, sich in eine Anstalt
zu begeben, kommt man auch nicht aus. Daß ein solches Schutzhilfe-
recht möglich ist, kann nur in der Einzeldarstellung erwiesen werden,
vgl. dazu § 17.

9 Mayer 1 Strafr~ts r~form


130 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

4. Besonders gefährliche vergesellungsschwierige Personen sind


unter Sicherungsaufsicht zu stellen, nur subsidiär in besonderen Fällen
zu verwahren, vgl. dazu § 17.

§ 14. Die Geldstrafe

I. Sie eignet sich als gewöhnliche Hauptstrafe für alle, aber auch
nur für Fälle leichterer Kriminalität. Nur in diesem Sinne hat sich
das Geldstrafengesetz von 1921 bewährt. Aus diesen Erfahrun-
gen sind heute die endgültigen Folgerungen zu ziehen. Das Straf-
gesetz sollte in allen denjenigen Fällen von vornherein Geldstrafe
zur Wahl stellen, in denen möglicherweise eine Geldstrafe angemessen
erscheint. Es wäre noch zu prüfen, ob dann nicht überhaupt auf den
§53 Entw., der dem heutigen§ 27 b StGB entspricht, verzichtet werden
könnte. Jedenfalls ist es im Regelfall unnötig und erziehungswidrig,
den Bestraften durch die Feststellung zu demütigen und zu diffamie-
ren, er habe eigentlich eine Freiheitsstrafe verdient. Demnach müßte
die Geldstrafe gerade auch bei den wichtigsten Vermögensdelikten, wie
einfachen Diebstahl, Unterschlagung, Untreue, Betrug, zur ord~mtlichen
Mindeststrafe werden, oder als solche verbleiben.
li. Im modernen Sozialstaat können alle Menschen, welche über-
haupt ein geordnetes Leben führen, eine ihrem Einkommen augepaßte
Geldstrlj.fe bezahlen, auch Rentenempfänger. Es bedarf nur einer ent-
sprechenden Änderung des Vollstreckungsrechts. Gegenüber Personen,
die kein geordnetes Leben führen, kommen aber ohnedies nur andere
Strafen bzw. Maßnahmen in Betracht. Dennoch bleibt die Ersatz-
freiheitsstrafe unentbehrlich. Sie sollte drei Monate nicht übersteigen
dürfen und nur dann vollstreckt werden, wenn der Verurteilte schuld-
haft die Geldstrafe nicht bezahlt.
III. Als Strafe für geringfügige Straftaten darf die Geldstrafe nie-
mals über 90 Tagessätze hinausgehen. Es soll nicht bestritten werden,
daß höhere Geldbeträge ein sehr wirksames Strafmittel bei schweren
Delikten, namentlich in der Form der Nebenstrafe, sein können.
Es ist aber ein altes liberales Anliegen, höhere Geldstrafen nicht zu-
zulassen. Bereits die Magna Charta und die Bill of Rights verbieten
Geldstrafen von übermäßiger Höhe. Um 1800 wurden überall die
älteren hohen Geldstrafen beseitigt, soweit sie konfiskatorisch wirken
konnten. Seitdem lagen und liegen die Geldstrafenmaxima ziemlich
1 Vgl. die Literatur bei v. Liszt - Eberhard Schmidt, Lehrb., 26. Aufl.,
§ 61, insbes. Goldschmidt, Vg. Allg. T., Bd. 4, S. 398, Oetker, G. S. Bd. 88,
S. 161. Sehr lehrreich die Zusammenstellung der gesamten Diskussion zum
Entwurf 09 in "Zusammenstellung der gutachtlichen Äußerungen über den
Vorentwurf" 1911, S. 51 f.
Die Geldstrafe 131

niedrig, in Preußen bei 2000 Taler, in Frankreich bei 5000 Franken,


in USA bei 500 Dollar. Das Strafgesetzbuch kannte zwar in seiner ur-
sprünglichen Fassung keine allgemeine Höchstgrenze für die Geld-
strafe, aber die Höchststrafe betrug bei Beleidigung 1500, bei Betrug
3000 Mark. Allerdings haben auch die Liberalen den Grundsatz, daß
nur niedrige Geldstrafen zulässig seien, nie ganz konsequent festge-
halten, ein so emotionales Gesetz wie die Wuchernovelle verstieg sich
bis zu 15 000 Mark. Die Strafrechtsreformer haben das im Geldstrafen-
maximum steckende Freiheitsproblem von Anfang an nicht gesehen.
Immerhin beschränkt aus der liberalen Überlieferung heraus der Ent-
wurf 1913 die Geldstrafe auf 5000 Mark, der Entwurf 27 zieht aus dem
veränderten Geldwert die Folgerungen und geht auf 10 000 Mark. Die
entscheidende Wendung erfolgt dann bezeichnenderweise im Gürtner-
schen Entwurf, der über die Berechnung nach Tagesbußen konfiska-
torische Sätze einführen will, wenigstens bei allen in Bereicherungs-
absicht begangenen Delikten. Diesem schlechten Beispiel ist dann der
vorliegende Entwurf gefolgt. Nach § 51 Abs. 4 Entw. könnte die Geld-
strafe 360 Tagessätze, der einzelne Tagessatz bis zu 500 DM betragen.
Demnach wären ·Geldstrafen bis zu 180 000 DM möglich.
Die alte liberale Tradition hat aber recht. Die vom Entwurf vorge-
sehenen Geldstrafensätze bedrohen die politische Freiheit, wie über-
haupt die Geldstrafe ein•e politisch sehr gefährliche Strafe ist. Sie
schafft keine Märtyrer, kann aber doch die politische Handlungsfähig-
keit einer Minderheit oder eines Außenseiters völlig vernichten. Sie
war daher zu allen Zeiten eine besonders beliebte Waffe in der Hand
der Tyrannei, und zwar vorzüglich in populären angeblich demokra-
tischen Staatswesen, die immer bestrebt waren, den oppositionellen
Reichtum und damit die Widerstandsmöglichkeit der Minderheit zu
vernichten. Man sage nicht, daß in einem demokratischen Staatswesen
ein Rückfall in die Tyrannei nicht möglich wäre, die Tyrannei ist ge-
wöhnlich aus der entarteten Demokratie emporgestiegen. Vor solcher
Entartung muß sich die freiheitliche Demokratie möglichst dadurch
schützen, daß sich die Mehrheitsherrschaft der gesetzlichen Mittel ent-
hält, deren Gebrauch die Freiheit der Minderheit gefährdet. Es liegt
auf der Hand, daß. Geldstrafen um 100 000 Mark die Freiheit der Mei-
nungsäußerung, insbesondere der Presse, ernsthaft bedrohen. Geld-
strafen bis zu 180 000 Mark sind auch wirtschaftspolitische Eingriffe
ersten Ranges, die selbst ein großes Vermögen unter Umständen nicht
aushält. Mit hohen Geldstrafen ließen sich namentlich solche Ge-
werbezweige sozialisieren, die von mittleren oder kleineren Unterneh-
mern betrieben wären. Dem Strafrichter fehlt auch die wirtschaftliche
Ausbildung und Erfahrung, welche ihn allein befähigen könnten, der-
artige Eingriffe in ihrer Tragweite zu beurteilen, auch der Richter ist
132 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

nämlich nicht allwissend. Die Rechtsprechung in Wirtschaftsstraf-


sachen, in der sich manchmal ein engherziger Konsumentenstandpunkt
zeigte, ist ein trübes Kapitel. Wenn im Ganzen die Strafgerichte die
übertriebenen Vollmachren des Kriegsstrafrechts nicht ausnützten,
auch die heutte noch teilweise sehr übersetzten Geldstrafenmaxima
nicht ausnützen, so kommt dies im wesentlichen daher, daß der Richter
solche Maxima und solche Vollmachten gar nicht verwenden kann,
wenn ihm keinerlei Maßstäbe in die Hand gegeben werden. Das
System der Tagesbußen würde aber dem Richter di-e nötige Anleitung
zum Gebrauch und damit auch zum Mißbrauch erteilen.
IV. Dem Entwurf ist aber darin zuzustimmen, daß die Geldstrafe
wirksamer gestaltet werden muß als bisher. Dies ist aber nur möglich,
wenn dem Strafrichter feste Bewertungsgrundsätze zur Verfügung
sttehen. Dies läßt sich wohl nur durch das System der Tagesbußen er-
reichen. Der Strafrichter sollte aber im Urteil nur die Zahl, nicht die
Höhe der Tagesbußen bestimmen. Die g·egenwärtige, in der Masse der
Fälle zu milde Geldstrafenpraxis beruht einfach darauf, daß der Rich-
ter in und bis zur Hauptverhandlung gar keine hinreichende Übersicht
über die Einkommen- und Vermögensverhältnisse des Angeklagten
gewinnen kann. Er darf sie sich nicht einmal verschaffen, denn der
Angeklagte gilt bis zur Rechtskraft des Urteils als unschuldig, so daß
es ganz unzulässig wäre, das Steuer- oder Bankgeheimnis zu lüften.
Will der Richter aber im Zweifel ungerechtfertigte Härten vermeiden,
so bleibt ihm gar kein anderer Ausweg, als zur Sicherheit niedrige
Geldstrafen auszuwerfen. Das System der Tagesbußen for-dert also eine
nachträgliche Berechnung der Höhe der Tagessätze. Nur die niedri-
geren Tagessätze wird der Strafrichtter selbst in einem anschließenden
Beschlußverfahren errechnen können. Höhere Beträge könnten nur die
Finanzämter errechnen, die allein über die erforderliche Sachkunde
verfügen. Dies Problem hat man früher auch schon gesehen und dahrer
sich gegen das System der Tagessätze wegen der Fiskalisierung der
Geldstrafe ausgesprochen. Jedoch ist nicht einzusehen, weshalb die
Geldstrafe ihren Strafcharakter dadurch einbü.Een soll, daß ihre Höhe
uach Tagessätz•en durch sachverständige l&ute ausgerechnet wird. Be-
~;ondere Schwierigkeiten macht die Einbeziehung des Vermögens.
Bei niedrigem Einkommen sollte der Tagessatz ein Drittlei des Ein-
kommens betragen, bei höheven wäre eine Progvession vorzusehen.
Für die Berücksichtigung des Vermögens möchte ich keine Vorschläge
machen, da ich nicht weiß, welche Belastungen ein steuerlich fest-
gegetztes Vermögen ertragen kann. Auszugehen wäre wohl von einem
Zuschlag zur Vermögenssteuer.
V. Die Einziehung des unrechtmäßigen Gewinns ist überhaupt keine
Strafe, sondern nur •eine 1Einztehung von Vermögens.werten, die dem
Strafdienst und Freiheitsstrafe 133

Verurteilten nach rechtlichen Grundsätzen nicht gehören. Die Her-


ausgabe des unrechtmäßigen Gewinnes erfolgt immrer zugunsten des
Geschädigten, zugunsten des Staates also nur insoweit, als kein pri-
vat·er Geschädigter vorhanden ist.
In einem Strafproz·eß ist es ganz unmöglich, die Höhe des unrecht-
mäßigen Gewinns zu ermitteln, erst recht nicht, inwieweit die Be-
reicherung noch im Vermögen enthalten ist. Die Höhe kann daher
nur nachträglich in ·einem Beschlußverfahren festgestellt werden.
Gegen den Beschluß müßte der Verurteilte Beschwerde an die Finanz-
gerichte haben. Aus der eingezogenen Summe sind in erster Linie die
Schadensersatzansprüche der privaten Geschädigten zu befriedigen.
Die Einziehung darf iiliemals als zusätzliche Geldstrafe mißbraucht
werden. Auch die etwaige Gewinnsucht des Täters gibt keinen ver-
nünftigen Grund dafür, den Ersatzanspruch oder Bereicherungsan-
spruch zugunsten des Staates zu dublieren.

§ 15. Strafdienst und Freiheitsstrafe

Unser Vorschlag, die kurze und mittlere Freiheitsstrafe durch die


neue Strafart des Strafdienstes zu ersetzen, die Freiheitsstrafe auf die
Fälle schwerer Kriminalität zu beschränken, ergibt sich aus den er-
zieherischen Möglichkeiten der Freiheitsstrafe, wie wir sie sehen.
I. Wir haben daher zuerst die kriminalpädagogische Problematik
der Freiheitsstrafe zu erörtern1 •
1. Die grundlegende Tatsach.e ist, daß die Menschheit sich schon
seit 300 Jahren mit recht fragwürdigem Erfolg bemüht, Sträflinge in
Gefängnissen zu bessern. Der Besserungsgedanke drängt sich ja
der Fr·eiheitsstrare gewissermaßen von selbst auf. Bei den Zucht-
häusern, deren .erstes 1595 in Amsterdam g·egründet wurde, steht die
erzieherische Absicht außer Zweifel. Aber die heute vorHegenden
Untersuchungen über die Geschichte einzelner deutscher Festungsbau-
Haftanstalten2 haben -eben doch die Unrichtigkeit der summarischen
Behauptung erwiesen, das Opus publicum habe als eine Abwandlung
der Körperstrafe nur auf Mortifikation der Sträflinge abgezielt. Selbst
bei der schrecklichsten Form dieser Strafen, nämlich bei der in West-
1 Joachim Hellmer, Erziehung und Strafe 1957; ders. Kriminalpädigogik
1955, Günther Naß, Der Mensch und die Kriminalität Bd. 3, Kriminalpäd-
agogik 1959; Kar! Peters, Grundfragen der Kriminalpädagogik 1960.
2 Vgl. schon Kriegsmann, Einführung in die Gefängniskunde 1912, S. 14 ff.
Dazu Kuhlmann, Das Zucht- und Tollhaus in Glücksta dt, Diss. Harnburg
1936, Glatz, Die Entwicklung des Freiheitsstrafvollzuges in Mecklenburg,
Diss. Rostock 1940, auch Saam, Quellenstudien zur Geschichte des deut-
schen Zuchthauswesens 1936; ferner Helmut v. W eber, Die Entwicklung des
Zuchthauswesens in Deutschland, Festgabe für Zycha 1941, S. 427 ff.
134 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

und Südeuropa üblichen Galeerenstrafe, sollte man bedenken, daß


man mit mortifizierten GaJeoerensträflingen keine Seeschlachten ge-
winnen kann. In Deutschland haben bei allen Willkürlichkeiten des
17. und 18. Jahrhunderts eben doch die kirchlich·en Berater ihre "christ-
lichen Landesväter" seit Reformation und Gegenreformation mit Nach-
druck an die Not der Sträflinge .erinnern müssen, so daß der von der
Theologi·e immer betonte Besserungszweck niemals gänzlich aus dem
Auge v·erlor.e n werden konnte. Es gibt hinreich·e nde Zeugnisse dafür,
daß immer wieder ernste Bestrebungen sich geltend machten, die sich
dann nach der Konstituierung des modernen Staates um 1800 all-
gemein durchsetzten. Ein gerechtes Urteil über die tatsächlichen Zu-
stände in den Strafanstalten zu Ausgang des 18. Jahrhunderts ist nicht
leicht zu fälLen. Die berühmte aufrüttelnde Kritik Howards rührt eben
doch auch an die Nachtseite der politisch sonst so wohltätigen eng-
lischen Selbstverwaltung, und Schriften philantropischer Reformer
sind auf aller Welt keine zuverlässigen GeschichtsqueUen3 . Aber es
kommt uns auch hier nur darauf an, daß seit dreihundert Jahren
eine hinreichend große Zahl ernsthafter Versuche gemacht worden
ist, welche uns einigermaßen sichere Methoden des Besserungsvoll-
zuges hätten an die Hand geben müssen.
Das Charakteristikum der guten Zuchthäuser alten Stils war das
rationalistische Vertrauen auf dte Macht vernünftiger Gewöhnung und
Übung, mögen uns die Erziehungsmethoden von Amsterdam auch
heute sehr fremdartig anmuten. Im Philadelphia der Quäker kam dazu
der Glaube an die automatische Wirkung eines Bußmechanismus. Von
diesen Anfäng•en ausgehend, entwickelte vornehmlich die angelsäch-
sische Welt Systeme menschenformender Mittel und Methoden. Diese
Bemühungen haben uns denn auch ein Arsenal besondePer Vollzugs-
methoden beschert, von dem noch zu r·eden sein wird. Demgegenüber
sah das theologisch bestimmte deutsche Gefängniswesen mehr die
Einz·elperson. Diese 1Entwicklung gipf,elt in einer so begnadeten Er-
zieherpersönlichkeit, wie Obermaier, der nun gerade nicht den ratio-
nalen .Methoden, sondern dem le.b endigen Wirken von Person zu
P·erson das entscheidende Gewicht beimaß. In diesem Sinn ist die
an Obermaier oft geübte Kritik, sein System sei seine Person selbst.
in Wahrheit •ein hohes Lob4 •
Damit soll nicht gesagt sein, daß. Gefängnispädagogik nur irrational
wirken könne. Karl Peters gibt in seinem vortrefflichen Buch "Grund-
probleme der Kriminalpädagogik" .einen umfassenden Überblick über
3 Darum vermögen mich die Ausführungen von Eb. Schmidt in Einfüh-
rung in die Geschichte der Deutschen Strafrechtspflege, § 175, und von
Karl Peters, a.a.O., S. 40 f., nicht zu überzeugen.
4 Vgl. zu Obermaier Karl Peters, a.a.O., S. 50 f.
Strafdienst und Freiheitsstrafe Hl5

unser kriminalpädagogisches Wissen. Aber jeder Leser kann sich in


diesem Buch selbst überzeugen, daß keine der entscheidenden Grund-
fragen bisher geklärt werden konnte, weder die Frage, inwieweit es
eine Möglichkeit der Umerziehung überhaupt gibt, noch die Frage des
Erziehungszieles, noch die Frage der Erziehungsmethoden.
Den Ertrag dieser mehrhundertjährigen Bemühungen faßte der Hol-
länder Röling auf dem Freiburger Internationalen Kolloquium 1957
mit folgenden Worten zusammen5 : "Damals vor ungefähr 25 Jahren,
machte ich eine Studienreise durch Europa, mich bemühend, ein gutes
Gefängnis zu finden. kh fand nur schlechte, zwar verschiedenen Gra-
des." Das klingt kaum anders als der Bericht Howards vor 200 Jahren.
Demnach bliebe es also dabei, daß der Durchschnitt der Strafgefan-
genen verschlechtert, d. h., daß neben einer erheblichen Zahl, die nicht
merkbar beeinflußt werden, eine Mehrheit verschlechtert, eine Min-
destzahl gebessert wird. Läßt sich an diesem Ergebnis wirklich nichts
ändern.? Durch Methodenverbesserung als solch·e wird sich kaum viel
tun lassen, denn auch die vielgerühmten englischen Borstalanstalten
produzieren 56 'Ofo Rückfällige6 •
2. Will man Klarheit gewinnen, so muß man versuchen, eine nüch-
terne Bilanz der Wirkungen der Freiheitsstrafe aufzumachen7 •
a) Beginnen wir mit den schädlichen Wirkungen, so kann nur wie-
derholt werden, daß d1e Freiheitsstraf.e ein höchst ungeeignetes Mittel
ist, um eiruen Menschen dazu zu erziehen, von seiner Freiheit den
richtigen Gebrauch. zu machen.
Die ältere Gefängnisliteratur betont vor allem die Gefahr wechsel-
seitiger antisozialer Ansteckung, welche die Gefängnisse zu Brut-
stätten des V.erb11echens mache. In der Tat bilden die Sträflinge
möglicherweise in der gemeinsamen Haft eine eigene Sozialgruppe
mit ihrer eigenen "Subkultur", ihrer eigenen negativ·en Wertwelt,
welche die gültigen Normvorstellung•en der Allgemeinheit v·erneint.
Es können auch. im Gefängnis ·g efährliche persönliche Beziehungen be-
gründet werden, welche nach der Haft andauern. Jedoch läßt sich
diese Gefahr durch geeignete Unterbrilngung, insbesondere Zellenhaft
bei Nacht und Arbteitsgemeinschaft am Tage, vor allem aber durch
positive ständige Anleitung bei Arbeit und Freizeit entscheidend ver-
mindern. In überfüllten Anstalten, bei nächtlicher Gemeinschaftshaft,
können di·e Dinge aHerdings sehr schlimm werden, vor allem wenn

5 Internationales Colloquium über Kriminologie und Strafrechtsreform,


Freiburg 1958, S. 104.
6 Vgl. a.a.O.
7 Es kann hier nur eine Gesamtschau unter eigenen neuen Gesichts-
punkten gegeben werden. Ein Einzelnachweis für die allgemein bekannten
Tatsachen würde viel zu weit führen, da sie sich natürlich unter sehr ver-
schiedenen Vorzeichen betrachten lassen.
136 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

hinreichendes Ptersonal zur ständigen An1eitung fehlt. Insoweit han-


delt es sich wesentlich um eine Frage der personellen und sachlichen
Mittel.
Andere Schädli~eiten sind mit der iEinsperrung aber nahezu not-
wendig verbunden.
Am schlimmsten ist die soziale Diffamierung und die damit verbun-
dende Entmutigung des Häftlings. Die Einsperrung "hinter Schloß
und Riegel" ·entehrt heute schlimmer, als dies die Körperstrafe vor
200 Jahren tat, d1e gegenteilige Hoffnung der Reformer um 1800 hat
sich als Traum erwiesen. Die Diffamierung zeigt sogar infolge des g0··
steigerten Ehrgefühls der Massen eine ansteigende Tendenz. Der
Sträfling gilt nirg.ends mehr als Opfer eines Klassenkampfes, nicht
der Arbeitg-eber, aber vielfach die Belegschaft lehnt die Beschäftigung
von Vorbestraften ab. Beim heutigen Arbeitermangel führt dies aller-
dings nur zum häufigen Wechsel des Arbeitsplatzes, bis dann der Straf-
entlassene müde seine zwecklosen Anstrengungen aufgibt8 • Der "arme
Sünder" früherer Zeiten konnte immerhin für sich g·eltend machen,
daß wir alle schuldig werden. Seit diese Katechismusweisheit durch
die moderne kriminologische Anschauung ersetzt ist, daß "der Krimi-
nelle" eine abartige P·ersönlichkeit sei, Peagiert der Ausstoßungstrieb
gegen den "Schädling" ungehemmter denn früher. Derartige Instinkt-
reaktionen lassen sich auch kaum beherrschen, selbst wenn sie nur
durch unzulängliche Theorien ausgelöst werden. Leider ist der Aus-
stoßungstrieb beim Menschen fast ungeschwächt erhalten geblieben. Die
soziale Diffamierung entmutigt den Sträfling, zumal schon das Straf-
verfahren psychisch nur schwer bewältigt werden kann, auch der
Sträfling von der Familie getrennt wird.
Aber auch die unnatürlichen Lebensbedingungen der Haft sind in
höchstem Grad schädlich. Wir woHen nur kurz die wesentlich.en
Momente hervorheben. Der Sträfling wird durch läng·ere Haftdauer
dem fveien Leben •entfremdet, er hat kaum Gelegenheit zu selbstän-
digem WiUenentschluß oder auch nur zu selbständiger Anspannung
des Willens, den g.ewöhnlichen Gefahren des Lebenskampfes wird er
gänzlich entrückt. In der grauen Öde seines Daseins flüchtet er in eine
Welt der Illusionen und Träume, schreibt doch ein gescheiter Ein-
brecher rückblick•end über die Tage, in denen er nach einem Aus-
bruch in Freiheit war: "Was hatte ich nicllt in diesen fünf Tag.e.n
alles .erlebt, genug um drei Jahre lang hinter Kerkermauern davon

8 Daran ändert die Rehabilitation im Strafregister nur sehr wenig. Der


Strafentlassene erzählt nach kurzer Zeit selbst, daß er vorbestraft ist. Das
Erlebnis der Haft ist eben zu schwer, als daß man es mit sich allein ab-
machen könnte.
Strafdienst und Freiheitsstrafe 137

Ziehren zu können9 ." Zu bedenken ist auch die extreme Abhängigkeit


dres Sträflings von den aufsichtsführenden Beamten. Im ganzen mensch-
lichen Leben kommt es sonst nicht vor, daß jemand im ganzen Tag-es-
lauf, in jed·er Minute und Sekunde von der Einsicht, dem guten
Willen, den Sympathien und Antipathien eines anderen abhängig ist.
Alles dies wirkt dahin zusammen, daß der Sträfling weitgehend die
Fähigkeit zur Selbstführung einbüßt. Nun wäre es aber gerade die
erste Aufgabe der Umerziehung, dem Sträfling zu solcher Fähigkeit
der Selbstführung zu verhelfen, denn der Mangel an dieser Fähigkeit
hat ja zumeist den Sträfling ins Gefängnis gebracht.
Es liegt auf der Hand, daß alle diese Schädlichkeiten sich um so
schlimmer auswirken, je länger die Haft dauert. Die kurze Freiheits-
strafe ist gewiß auch schädlich, aber die langfristig·e Fl'leiheitsstrafe ist
um vieles schädlicher als die kurze.
b) Dennoch sind die positiven Einwirkungen der Freiheitsstrafe
nicht zu unterschätzen, dabei ist der Bestrafungsvorgang als solcher
von der eigentlichen umerziehenden Bemühung zu unterscheiden. Der
Bestrafungsvorgang als solcher l·egt den Grund.
aa) Unbestreitbar hat die Freiheitsstrafe eine behütende Funktion,
sie verschafft dem Sträfling Beruhigung und Geleg·enheit zur Selbst-
besinnung. Die unnatürlichen Lebensbedingungen des sauberen Ge-
fängnisses bewahren den Sträfling wenigstens vor einem wüsten und
gesetzlosen Leben. Jeder Sträfling bekommt so Geleg·enheit zum
neuen Anfang, jeder einigermaßen gesunde Mensch wird durch die
Strafe beschämt, er kann an dem Gedanken der Sühne nicht einfach
vorbeigehen, er muß sich einfach mit den objektiven Werten und
Forderungen der Rechtsordnung auseinandersetzen. Es g·elingt in drer
Tat nicht selten, dem Sträfling echte Einsicht zu vermitteln, die aller-
dings noch nicht die Kraft zu einem geordneten Leben in sich schließt.
Gewöhnung an vernünftige Ordnung, an regelmäßige saubere Arbeit,
Arbeitsunterricht, Ausbildung und geistige Schulung machen immer-
hin den Sträfling auch tauglicher, den Lebenskampf zu bestehen. So
mag das gesteigerte Bewußtsein eigenen Könnens auch der Entmuti-
gung entg·egenwirken. Aber alle diese behütenden und bewahrenden
Kräfte könnten sich in einem grundsätzlich offenen Vollzug doch noch
viel besser auswirken, zumal der Sträfling doch dann etwas an die
sozialen Lebensgefahren herangeführt wird.
bb) Die eigentlich pädagogische Bemühung steht vor der Aufgabe
der Umerziehung, d. h . der Auflösung einer g·e wordenen Persönlich-
keitsstruktur und der Bildung einer neuen. Dieser Aufgabe g•egenübe:r
muß versagen, wer an bloße Resozialisierung denkt, früher sagte man
9 Walter Luz, Das Verbrechen in der Darstellung des Verbrechers, S. 49.
138 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

"bürgerliche Besserung" 10. Jede Erziehung gibt dem Zögling doc.."'I


immer nur Möglichkeiten, die er aus eigener Kraft nützen muß.
Die im Gefängnis angewö:hnte Gewöhnung str·eift auch der vortreff-
lichste Häftling ab, sobald er das Gefängnistor hinter sich hat. Nur
wer in eigener sittlicher Verantwortung sein Leben selbst in die Hand
nehmen kann, hat überhaupt eim! Chance den schweren Weg des
Vorbestraften durchs Leben zu gehen, ohrue erneut zu strauclleln. Der
Gefang·ene wird ·zum Nachdenken über seine Lage gezwungen, aber
für keinen denkenden M-enschen kann die Anpassung an die Ge&ell-
schaft in ihrem kläglichen So~Sein ein ausreichendes oder auch nur
sittlich vertretbares Motiv des Handeins sein. Es reicht für den Straf-
entlassenen am wenigsten aus. Im Konflikt zwischen Allgemeinheit
und dem Einzelnen wird notwendigerwei&e die Frage der Gültig~eit
der Maßstäbe immer mitgestellt, und sie wird von den Gefangenen
sehr •energisch gestellt. Man muß also den Sträfling zur freien An-
er~ennung der gültigen sittlichen Maßstäbe bringen. Wer umerziehen
will, muß daher auf den inneren Kern der Pterson zugreifen können.
Der Versuch bloßer rationaler Gewöhnung und Anpassung muß not-
wendig Schiffbruch leiden. Damit ist gerade die Gefängnisemiehung
Begegnung von Mensch zu Mensch. Diese Beg.e gnung wird nur gele-
gentlich erleichtert, überwiegend ·erschwert durch die außerordentliche
Macht, dte der Beamte über den Gefangenen besitzt. Es hilft hier
nur, die Mittel der ·eigenen Persönlichkeit wirken zu lassen, denn un-
erträglich ist dem beengten Gefangenen alles menschlich unechte
Wesen und Getue. Wir haben ein vortreffliches P·ersonal, aber es be-
darf eben auch der nimmermüden Treue im KLeinen, der Selbst-
beherrschung in allen schwierigen Situationen, der ernsten Anleitung
zur Pflichberfüllung, ja der mitreißenden Fröhlichkeit und Frische,
sogar der echten Brüderlichkeit gegenüber dem Gezeichneten. Immer
entsch.eidet der lEinsatz in der j-eweilig•en Stunde, und wer wird nie-
mals müde? Damit soll nicht g·esagt sein, daß Erziehung nur ein
irrationaler Vorgang ist, aber dem Aberglauben an rationale Me-
thoden, an Gewöhnung oder iSuggestion muß freilich mit Nachdruck
entgeg.engetr.eten werden.
Auch hier liegt deutlich zu Tag·e, daß echte 'E rziehung um so leichter
ist, j·e freter das V•erhältnis von Erzieher und Zögling gestaltet wer-
den kann.
3. Immerhin haben uns die Erfahrungen des modernen Vollzugs
eine Reihe von fruchtbaren Behandlungsmethoden gebracht, die aber
alle insgesamt noch keine Kriminalpädagogik in sich schließen, weil

1o Vgl. Karl Peters, a.a.O., S. 130 ff.


Strafdienst und Freiheitsstrafe 139

d1ese eben überhaupt nicht "Jkhandlung" sondern Menschenführung


und Menschenbildung ist.
a) Positiv zu werten sind alle diej-enigen Bestrebungen, die auf der
Einsicht beruhen, daß die Freiheitsstrafe außer der Freiheitsentzie-
hung ~ein weiter·es Strafleiden mit sich bringen soll, daß die Sträf-
linge in der Haft ein menschenwürdig·es und erträgliches Leben führen
sollen. Wir haben von diesen Dingen ja schon oben in 2 b) gesprochen.
Noch vor einem Menschenalter galt der progressive Vollzug als eine
Art Allheilmittel, und er ihat sich auch als ein vorzügliches und mensch-
liches Disziplinierungsmittel bewährt. Man neigt nach den ambrosia-
nischen Lobgesängen früherer Zeiten heute zu einer Unterschätzung
dieses Mechanismus. Gewiß ist d-er vortreffliche Häftling noch kein
g.efestigter Bürger, aber es bedeutet doch viel, wenn ein völlig ab-
hängiger Mensch sich durch seine eigene Leistung eine gewisse Rechts-
stellung erarbeiten kann. Diese sollte ihm auch durch noch so wohl-
wolLende Willkür der Beamten nicht geschmälert werden dürfen.
Der ganz große Fortschritt ist im offenen Vollzug zu sehen. Nur
leidet er noch an dem Grundübel der Strafanstalten, nämlich an der
wohlwollenden Behandlungswillkür, denn er wird als Vergünstigung
gewährt, die auf einer Persönlichkeitsbeurteilung beruhen soll, die
sogar zufolge Empfehlungen eines UNO-Kongresses nach dem Urteil
in einem geheimen Verfahren vorgenommen werden soll. Ein solches
Verfahren ist l'echtsstaatlich ganz unerträglich und auch pädagogisch
verfehlt. In Ländern, in denen dies System v·e rfolgt wird, beginnt auch
die generalpräventive Kraft der Strafe zu erlahmen, denn General-
prä~ntion ist ohne Gerechtigkeit nicht denkbar. Übrigens darf nicht
vergessen werden, daß die diffami·erende Wirkung der Einsperrung
nicht dadurch beseitigt wird, daß auf deren Vo0llzug bei g.eeigneten
Gefangenen nachträglich vel'Zichtet wird.
b) Abzulehnen sind die jüngsten Bestrebungen, welche allesamt dar-
auf hinauslaufen, die Sträflinge nach irgendwelchen Persönlic..."'lkeits-
merkmalen zu testen und zu klassifizieren, prognostisch zu beurteilen
und je nach dem getesteten Persönlichkeitsbild einer verschiedenartigen
Behandlung zu unterwerfen. Dieses System sieht etwa folgendermaßen
aus:
Die Verurteilten weroen zunächst in ·eine Auswahlanstalt einge-
wies·en und dann je nach dem Ausfall des Persönlichkeitstestes auf
verschiedene Anstalten oder Abteilungen verteilt. Prognostisch günstig
beurteilte Gefang•ene kommen von vornherein in den Genuß des
offenen Vollzugs und weiterer Vorteile. Soweit sie zu unbestimmter
Freiheitsstrafe verurteilt sind, werden sie praktisch niemals über die
Minelestdauer der Haft hinaus festgehalten, also etwa nur ein Jahr
140 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

und nicht drei Jahre. Nur bei schlecllter Führung werden sie in An-
stalten der Klasse 2 verwiesen. Die zweite Klasse der Gefangenen
gelangt in ein Progressivsystem, das in den üblichen strengeren For-
men beginnt. Diese Gruppe verliert die Anlehnung an die kraft-
volleren und .gesünderen Leidensgenossen. Sie wird auch meist sehr
viel länger in Haft gehalten als die erste. Ziemlich trostlos ist das
Schicksal der dritten Gruppe, der Schwachsinnigen, der Psychopathen,
die meist Neurotiker sind. Wenn man nur Menschen zusammensperrt,
die im Zusammenleben ihre eigene Lebensunfähigkeit steigern, so
können kaum noch Hafterleichterungen gewährt werden. Diese Gruppe
wird also viel härter behandelt, bleibt auch länger in Haft und wird
meist nach Haftenlassung schnell wieder rückfällig.
Die angeblichen Erfolge in der ersten Gruppe sind unecht, denn
diese Sträflinge hatten ohnedies eine günstige Prognose, die Miß-
erfolgte der dritten Gruppe pflegt man zu übersehen, die entsprechen-
den Anstalten nicht vorzuzeigen. Aber auch bei den Besseren leidet
der Glaube an die unparteiische Gerechtigkeit des Staates. Dieses
System ist also nicht zu empfehlen. Man muß vielmehr ein System
anstreben, in dem sich jeder durch Leistung oder Versagen selbst
qualifiziert.
Eine andere Frage ist es, ob nicht ·etwa eigentlich Kranke, also
schwere Psych.opathen oder Neurotiker in besonderen Anstalten
psychotherapeutisch behandelt werden sollen.
4. Nil nocere! Es kommt also in allererster Lini'€ darauf an, Strafe
und Strafvollzug so unschädlich zu gestalten, als dies nur irgend mög-
lich ist. Die von Molien~ als ;Quacksalberei verspottete Medizin krankte
selbst an ihrer Vielgeschäftigkeit und stiftete mit einer Fülle von
Medikamenten oft mehr Schaden als Nutzen. Erst als die Medizin
ihre relative Ohnmacht einsah, erlebte sie ihren glänzenden Aufstieg.
Zuerst heißt es nil nocere, dann mag man sichere Behandlungsmetho-
den anwenden.
Da in der Einsperrung ein Hauptübel liegt, so ist sie möglichst zu
vermeiden und durch den unten näher dargestellten Strafdienst zu
ersetzen.
Zum anderen sollte man der Versuchung entsagen, die Macht des
Strafvollzugs zu einer angeblich der Persönlichkeit angepaßten Be-
handlung zu mißbrauchen. J·e de solche Behandlung ist begrifflich
willkürlich. Der Sträfling verlangt aber vom Richter und vom Voll-
zugsbeamten in erster Linie Gerechtigkeit. Das wird durch alle Haft-
memoir~m belegt. Die Dauer der Strafe muß daher durch den Richter
eindeutig bestimmt werden. Der Sträfling muß sich aber nach dem
Grundsatz der belohnenden Vergeltung Vollzugserleichterungen und
Strafdienst und Freiheitsstrafe 141

Abkürzung der Strafzeit v-erdienen können. Dab-ei ist eine gewisse


Schablonenhaftigk·eit vorzuziehen, denn d•2r Sträfling muß mit Sicher-
heit darauf rechnen können, daß gute Führung und Arbeit ihren Lohn
finden. Di-e pädagogische Bemühung wird dadurch nur g·ewinnen,
denn die Begegnung von Mensch zu Mensch muß von jeder utilitari-
schen Motivierung freig·ehalten werden.
Endlich sollte man aus der Einsicht in die Schädlichkeit der Frei-
heitsstrafen doch wenigstens die Folg•erung ziehen, daß man mit der
Freiheitsstrafe sehr sparsam umgehen sollte. Le~der g-eschieht das
Gegenteil. Im Jahr 1930 waren die Strafanstalten durchschnittlich be-
legt in Preußen mit 23 600 Männern und 1220 Frauen, in Bayern mit
46 000 Sträflingen, in Sachsen mit 3300 .Sträflingen. In den Jahren
der Weltwirtschaftskrise saßen also etwa 40 000 Strafg·efangene im
deutschen Reich ein. L-eider wiesen aber die Gefängnisse der viel
kleineren Bundesrepublik am 31. März 1957 schon wieder eine Be-
legung mit 40 000 Strafgefangenen auf. Die Zahl der Mensch~n, die
alljährlich durch den Vollzug hindurchgehen, läßt sich leider zur Zeit
nicht angeben, ist aber natürlich noch wesentlich größer. Es leuchtet
ein, daß g-eeignete Erzieher für ein solches Heer von Strafgefangenen
gar nicht aufzutreiben sind, obgleich unser Aufsichtspersonal durch-
aus das Lob der PflichttPeue verdient und auch das Herz auf dem
richtigen Fleck hat.
II. Strafdienst ist nach unseren Vorschlägen in der leichteren und
kürzeren Strafart der bürgerlich·en Schulung für die leichtere, in der
längeren und härteren Form des Bewährungsdienstes als die Regel-
strafe für die mittlere Kriminalität zu verhängen.
1. Bürgerliche Schulung tritt an di~ Stelle der kurzfristigen Frei-
heitsstrafe, die nur noch als subsidiäres Strafmittel beibehalten wer-
den sollte. Der alte Kampf g•egen die kurzfristige Fr·eiheitsstrafe ihat
bisher noch keinen Erfolg gehabt. Zwar sind die Schäden der kurz-
fristigen Freiheitsstrafe - um es noch einmal zu sagen - sehr viel
kleiner als di~ der langfristigen Einsperrung, aber schädlich bleibt die
kurze Freiheitsstrafe ·eben doch. Daran ändert sich auch nichts, wenn
man den Namen ändert, also von Jugendarrest oder detention centre
redet. Der Schaden ist immer die Einsperrung als solche, die bei dieser
Strafart das eigentliche Strafleiden ist.
Dagegen soll die bürgerlich•e Schulung gerade keine Einsperrung
sein. Zwar würde die Unterbringung allerdings in Schulungszentren
stattfinden, und zwar in recht großen, damit jeweils geeignete Schu-
lungsgruppen zusammengestellt werden könten. Der Schulungsteil-
nehmer ist aber nur gehalten, an den Schulungsübungen und gemein-
samen Mahlz·ei11en teiLzunehmen und die vorgeschriebene Zeit der
142 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

Nachtruhe im Schulungsheim zu v·erbringen. Er hätte also das Recht,


die offene Anstalt zu gewissen Zeiten zu verlassen. Vorkehrungen
gegen die iEntweichung sind nicht zu treffen. Man wird die Anstalt
in ländliche Gegenden verh:~gen, damit der tägliche Ausgang nicht so
leicht mißbraucht werden kann. Gastwirtschaften, in denen sich der
Teilnehmer frei mit Besuchern treffen könnte, wären auf dem An-
staltsgelände einzurichten.
Die Aufenthaltsdauer sollte mindestens eine, höchstens acht Wochen
betragen.
Die Teilnehmer sind in einem intensiven Schulungsbetrieb vom
frühen Morgen bis zur Nachtruhe in nützlicher Weise in allerlei Ge-
genständen zu schulen, soweit möglich mit Arbeiten für den Anstalts-
betrieb zu beschäftigen und zu vernünftigem Gebrauch der Fr·eizeit
anzuleiten. Der Inhalt der Schulungsthemen wäre nach dem Bildungs-
stand der einzelnen Gruppen verschieden. Teilnehmer mit höherer
Bildung könnten selbst aktiv eingesetzt werden. Der Durchschnitt
wär·e auch zu geordneter Körperpflege, sportlichen, möglicherweise
auch zu musischen Übungen anzuhalten. Dazu würde zeitgeschichtlicher
und staatsbürgerlicher Unterricht treten. Je nach der religiösen Ein-
stellung könnte auch Gelegenheit zur Teilnahme an der Tagesliturgie
der Konfession gegeben werden. Eine gewisse Zeit müßte auch der
eigenen Besinnung eingeräumt werden. Jeder Teilnehmer wäre daher
in einer kleinen eigenen Schlafzelle unterzubringen.
Ein gemilderter kasernenartiger Betrieb wird sich nicht vermeiden
lassen, eine individuelle Behandlung des einzelnen Teilnehmers ist nur
schv.-.er möglich. Immerhin sollte auf Wunsch jeder sich mit Beamten
aussprechen können, namentlich sollte er von geeigneten seelsorger-
ischen oder psychologischen Mitarbeitern Antwort auf persönliche
Fragen, Rat in persönlichen Nöten bekommen können. Auch der Für-
sorger muß die erforderliche Zahl von Sprechstunden halten. Der
Strafentlassene soll auf die spöttische Frage, wie er denn geschult
worden sei, überzeugend antworten können, daß ihm etwas Vernünf-
tiges beigebracht worden sei. Dann wird die weitere Bemerkung aus-
bleiben, er habe eben doch gesessen.
Ist eine solche Schulung noch eine Strafe? Leider wird sie es eher
zu sehr als zu wenig sein. Was eine Strafe ist bei Kindern, entscheidet
sich danach, was als Strafe bezeichnet wird, und die meisten Menschelll.
sind nur große Kinder. Die Öffentlichk·eit wird sich daher auch bald
mit der Einrichtung befl'eunden, sie erträgt es ja auch, daß unter dem
Titel des Strafaufschubs :heute tatsächlich gar nichts geschieht. Ein
straffer Dienstbetrieb, die zwangsweise Teilnahme an einer unerbe-
tenen Schulung bleiben auch immer unangenehm und peinlich genug.
Strafdienst und Freiheitsstrafe 143

Die Kosten wären gering, gerade weil Sicherungsmaßnahmen ent-


behrlich sind. Über die Rechtsfolgen einer unerlaubten Entfernung ist
noch zu sprechen, vgl. unten ·3.
2. Regelstrafe für die mittlere Kriminalität wäre der Bewährungs-
dienst, man könnte auch an die Bezeichnung Arbeitsdienst denken,
doch ist diese Bezeichnung bereits verbraucht. Die Strafe sollte min-
destens drei, höchstens zwölf Monate betragen. Auch der Bewährungs-
dienst wird von vornherein in der Form offenen Vollzugs ohne Ein-
schließung und Sicherungsvorkehrungen durchgeführt. Ausgangszeiten
würden erst nach vier Wochen ordnungsmäßiger Führung, allmählich
in zunehmenden Maße gewährt.
Pflicht und Leistung des Verurteilten bestehen darin, daß der Ver-
urteilte in der Anstalt verbleibt, bzw. zeitgerecht iln dieselbe zurück-
kehrt, daß er sich unterordnet, die erzieherische Führung annimmt
und sich an den aufgetragenen Arbeiten oder dem sonstigen Dienst
ordnungsmäßig beteiligt. Die Arbeitsleistung hätte der heutigen Ge-
fängnisarbeit zu entsprechen, es wäre aber normaler Lohn zu be-
zahlen, aus dem ein etwa angerichteter Schaden möglichst zu erstatten
wäre. 1Ein gewisser Bruchteil müßte dem "Dienstmann" verbleiben.
Durch den offenen Vollzug könnte die Arbeit erzieherischer gestaltet
werden. Es wäre auch denkbar, die Dienstmänner in Lagern unter-
zubringen und sie bei größeren öffentlichen Arbeiten einzusetzen.
3. Subsidiär stünde hinter der bürg·erlichen Schulung die Haft, hinter
dem Bewährungsdienst das Gefängnis, jeweils von entsprechender
Haftdauer. Sie würden durch Richterspruch v·erhängt, wenn der Ver-
urteilte die ihm aufgetragenen Pflichten nicht erfüllt, insbesondere sich
unerlaubt entfernt. Geringere Verfehlungen könnten disziplinarisch
geahndet werden. Jeder klassifiziert sich selbst, um diesen Gedanken
zu wiederholen.
Auf Haft bzw. Gefängnis wäre im Falle wiederholter Bestrafung
zu erkennen, soweit nicht Geldstrafe ausreich·en sollte. Beide Formen
des Strafdienstes eignen sich nicht zur wiederholten Anwendung. Bei
vorgängiger V·erurteilung zu Schulung könnte auch auf Bewährungs-
dienst erkannt werden.
III. Als Freiheitsstrafen sind Haft, Gefängnis und Zuchthaus bei-
zubehalten.
Im Vollzug der Freiheitsstrafen sind, wie bereits ausgeführt, klare
Rechtsverhältnisse zu schaffen. Der Stufenstrafvollzug ist bindend vor-
zuschreiben. Ebenso muß sich der Verurteilte durch gute Führung
eine Haftverkürzung verdienen können, ohne daß diese Rechte
durch fragwürdige Prognoseversuche beeinträchtigt werden dürfen.
Über die Behandlung der sogenannten Hangtäter wird in § 17 zu reden
144 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

sein. Die grundsätzlichen Vollzugsvorschriften gehören in das Straf-


gesetzbuch selbst.
1. Haft ist an sich ein(! denkbar unzweckmäßige Strafe, aoor als sub-
sidiäre 1Strafe im beschriebenen Sinne nicht zu \l'ermeiden. Entspre-
chend der Dauer der bürgerlichen Schulung sollte sie mindestens
7 Tage, höchstens 8 Wochen betragen können.
2. Die Gefängnisstrafe sollte regelmäßig mit 12 Monaten beginnen,
auf Gefängnis nicht unter 6 Monaten wäre nur zu erkennen, wenn der
Täter sich als ungeeignet für d•en Bewährungsdienst erw1esen hat. Die
Höchstdauer sollte nicht über zwei Jahre hinausgehen, damit der Ge-
fängnissträfling nicht mit dem Zuchthäusler verwechselt werden kann.
3. Entsprechend dem Vorschlag des Entwurfes ist die Zuchthaus-
strafe beizubehalten. Ihr Mindestmaß sollte mit 2 Jahren beginnen, ihr
Höchstmaß wäre normalerweise 10, ausnahmsweise 15 Jahre, in be-
sonderen Fällen wäre auf lebenslängliches Zuchthaus zu erkennen.
Eine 20jährige Dauer halte ich für unpraktisch, sie kann natürlich in
der Weise vorkommen, daß der lebenslang Verurteilte nach 20 Jahren
entlassen wird. Nach unserem Vorschlag würde also ein klarer zeit-
licher Unterschied zwischen Gefängnis und Zuchthaus sich ergeben.
Der wirkliche Unterschied liegt auch nicht im Namen, sondern in der
Dauer. Aus der langen Dauer schließt das Volksbewußtsein auf die be-
sondere Verwerflichkeit der Tat oder des Täters, so fragwürdig dieser
Schluß auch ist. Daran wird sich nichts ändern lassen. Man mach·e also
keine !Experimente mit dem Namen, sonst müßte man, wioe das Für-
sorgerecht die Einrichtung nach einigen Jahren immer wieder um-
taufen.

§ 16. Die Behandlung der Gefährdeten1

I. Alle Vorbestraften sind insofern gefährdet, als auch geringfügige


Straffälligkeit einen :Schwankenden allzuleicht aus der geraden Bahn
werfen kann. Dieser unbestimmten Gefahr kann nur mit -energischen
Ordnungsbußen und geeigneten Strafen begegnet werden. Nach un-
seren Vorschlägen würde ein erheblicher Teil der leichten Kriminalität
durch zivilrechtliche Klage oder durch Ordnungsbußen erledigt w er-
den, so daß di·e diffamier-ende Vorstrafe entfiele. Als kriminelle Strafe
käme dann zuerst eine Geldstrafe, weiter bürgerliche Schulung, ·end-
lich Haft in Betracht. Auf diese Weise könnte ein erheblicher Teil der

1 Der vorgetragene Gedankengang läßt sich aus der Literatur nicht mehr
unmittelbar belegen. Jeder Kundige kann ohnedies ersehen, was der Verf.
aus der Reformliteratur gelernt hat. Aber es ist nicht die Aufgabe dieses
Buches, über die literarischen Auseinandersetzungen zu berichten.
Die Behandlung der Gefährdeten 145

leichteren Rückfallkriminalität der 18- bis 25jährigen in ausreichender


und spezialpräventiv ungefährlicher Weise aufgefangen werden.
Schwerere Straftaten oder ernsterer Rückfall müßten härter be-
straft werden, nach unseren Vorschlägen mit Bewährungsdienst. Auch
diese verbesserte Form der Bestrafung würde immer noch ernste Ge-
fahren für die weitere Entwicklung des Bestraften nach sich ziehen.
Damit stehen wir vor der Frage der bedingten Verurteilung. Wir
schlagen vor, dieses Rechtsinstitut in eine Verwarnung mit oder ohne
Friedensbürgschaft, möglicllerweise verbunden mit einer GeLdstrafe,
umzubilden, vgl. II und III.
Es ·gibt aber auch eine gesteigerte Gefährdung, welche skh nicllt nur
in den Straftaten, sondern in der gesamten Lebensführung zeigt. In
diesen Fällen kann nur durch eine Veränderung des Personalstatuts
im Sinne einer umgebildeten Bewährungsaufsicht geholfen werden,
vgl. IV.
Sozialschwierige Personen, welche überhaupt nicht von sich aus die
Fähigk•eit besitzen, geordnet zu leben, sind .einer besonderen Behand-
lung zu unterwerfen, vgl. unten § 17.
Alle diese Vorschläge setzen eine Neufassung der Rückfallbestim-
mungen voraus.
II. Die Vorschrift über Verwarnung hätte etwa folgendermaßen zu
lauten:
"Ist Bewährungsdienst von nicht mehr als 6 Monaten verwirkt, so ist an
Stelle dieser an sich verwirkten Strafe auf eine Verwarnung zu erkennen,
wenn der Täter bisher bemüht war, ein geordnetes Leben zu führen und
aus verzeihlichen Antrieben, insbesondere aus Leidenschaft oder Unbeson-
nenheit gehandelt hat."
"Wird der Verwarnte erneut straffällig, so wird die an sich verwirkte
Strafe als Einzelstrafe zur Bildung der Gesamtstrafe (§§ 68, 69) herange-
zogen."
"Diese Strafmilderung kann davon abhängig gemacht werden, daß der
Angeklagte sich erbietet, aus seinem eigenen Vermögen Bürgschaft für sein
künftiges Wohlverhalten zu leisten. Die Bürgschaft kann auch in Teilzah-
lungen aufgebracht werden."
"Soweit keine Friedensbürgschaft geleistet wird, kann die Verwarnung
mit einer Geldstrafe verbunden werden."
Die heute geübte bedingte Verurteilung hat sich in allen ihren
Formen nicht wirklich bewährt, obgleich sie sich im Rechtsbewußtsein
durchaus e ingebürgert hat.
1. Die praktischen Erfahrungen sehen nämlich folgendermaßen aus:
Die bedingte Verurteilung erscheint auf den ersten Blick ganz un-
entbehrlich, denn sie wird auch im Erwachsenenstrafrecht in sehr gro-
ßem Maße angewendet. Von r und 135 000 Gefängnisstrafen unter 9 Mo-
naten, die in den Jahren 1956 bis 1958 durchschnittlich gegen Erwach-

fO Mayer, Strafr4Xhtsreform
146 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

sene und Halberwachsene verhängt wurden, sind nicht weniger als


rund 57 000 zur Bewährung ausgesetzt worden.
Die Anwendung der Maßnahme ist allerdings von gewissen Mode-
erscheinungen und Zeitströmungen abhängig. Um 1900 hielt man auf
damals moderner Seite d}e Strafaussetzung für eine Art von Allheil-
mittel. Die praktischen 1Erfahrungen mahnten schon vor dem ersten
Weltkrieg zu einer gewissen Zurückhaltung. Nach dem zweiten Welt-
krieg wollte man dem Vater Staat dioe obrigkeitliche Härte abgewöh-
nen und dem alten Löwen die Zähne und Klauen abfeilen. So wurde
sehr häufig bedingt verurteilt, allerdings immer noch in der Form
eines Gnadenbeschlusses.
Die praktischen Ergebnisse waren leider schlecht, obwohl aus an-
deren Gründen die Kriminalität sowohl bei Erwachsenen als nament-
lich bei Jugendlichoen sogar absank. Man machte auch von der Maß-
reg·el immerhin noch nicht soviel Gebrauch, daß die kritische Grenze
überschritten wurde, jenseits deren die generalpräventive Kraft der
Strafe leidet. Aber namentlich bei Jugendlichen, weniger bei Erwach-
senen lag die Rückfallhäufigkeit der mit Strafaussetzung Begnadeten
über der Rückfallhäufigkeit der Bestraften2 • Nicht aus nationalsozia-
listischer Bösartigkeit, sondern aus diesen praktischen Erfahrungen
heraus kam das Reichsjustizministerium nach 1933 zu einer sehr star-
ken Zurückhaltung. Nach 1945 und insbesondere nach dem 3. Straf-
rechtsänderungsgesetz schlug die Mode wieder um.
Immerhin wird man angesichtsder Überfüllung unserer Gefängnisse
und des hohen Standes der Gefangenenzahl die deutsche Strafjustiz
nicht ohne weiteres übertriebener Weichheit bezichtigen dürfen. Wenn
aber der Staat in solchem Ausmaße Strafen aussprechen läßt, die dann
doch nicht vollzogen werden, so beweist dies eigentlich nur, daß die
Mehrzahl d.i.oeser Strafen besser überhaupt nicht ausgesprochen worden
wäre.
Die spezialpräventive Wirkung der bedingten Verurteilung seit 1945
läßt sich nicht übersehen, da es insoweit an einer geeigneten Statistik
fehlt. Es ist aber kein Grund anzunehmen, daß der Erfolg günstiger
wäre als in früheren Zeiten. Die generalpräventiven Wirkungen der
bedingten Verurteilung sind heute offenbar ungünstig. Es geht einfach
nicht an, die .gegenüber der Vorkriegszeit außerordentlich ungünstige
Entwicklung der Kriminalstatistik zu übersehen. Spezialpräventiv ge-
sehen ist die bedingte Verurteilung eine schädliche Ehrenstrafe. Der
Richter reiht den Bestraften ausdrücklich in die Reihe derjenigen ein,
die durch ihre Tat eine Gefängnisstrafe verdient haben. Dieser Makel
wird nur wenig g·emindert durch die weitere Feststellung, daß man
2 Verf. verzichtet absichtlich auf zahlenmäßige Nachweise, um die sta-
tistische Frage nicht einfacher erscheinen zu lassen, als sie ist.
Die Behandlung der Gefährdeten 147

auf künftiges Wohlverhalten des Bestraften rechnet, weshalb man ihm


bei Bewährung die FI'eiheitsstrafe erlassen wolle.
Manchmal dient die bedingte Verurteilung zur bewußten Demüti-
gung des Verurteilten, wie dies im Bonner Diplomatenprozeß der Fall
war. Es ist seltsam, daß dieselbe Zeit derart schwerwiegende Demüti-
gungsstrafen duldet, welche gleichzeitig die Ehrenstrafen abschaffen
will. Manche Systeme der bedingten Verurteilung wollen das Übel mil-
dern, indem sie das Strafverfahren oder doch den Strafausspruch auf-
schieben. Das ändert aber nichts daran, daß ein auf Freiheitsstrafe ab-
zielendes Verfahren eingeleitet worden ist.
Generalpräventiv ist es sehr schädlich, wenn der Staat den Ernst
seiner Strafandrohungen derart in Frage stellt. Massenhafte Ver-
urteilungen zu Freiheitsstrafen, die dann nicht vollzogen werden, kön-
nen doch in der Allgemeinheit nur den Eindruck hervorrufen, daß es
der Staat nicht so ·ernst meint und daß einmal keinmal ist. Alle diese
Schäden werd•en durch Einführung der Probation nicht wesentlich ge-
bessert, ganz abgesehen von der noch zu erörternden Problematik
dieser Maßnahme, vgl. unten V.
2. Gegen die lEinrichtung des :Strafaufschubs bestehen aber auch
ernsthafte rechtliche Bedenken, die sich wiederum sowohl spezialprä-
ventiv als generalpräventiv nachteilig auswirken.
Bekanntlich hat Oetker.a die bedingte Verurteilung als gerechte
Strafe aufgefaßt. Der Täter werde mit einem ideellen Übel bestraft,
das sich im Falle mangelnder Bewährung in ein reales verwandeln
könne. Im Sinne "belohnender Vergeltung" werde aber dem Verurteil-
ten Gelegenheit gegeben, durch Wohlverhalten sich Straferlaß zu ver-
dienen. Dieser Theorie wäre im Grunde zuzustimmen, wenn sie in
unseren Einrichtungen verwirklicht wäre. Es widerstreitet aber der
Gerechtigkeit, wenn dem Täter die Chance belohnender Vergeltung
ohne gerechten Grund nur geschenkt wird. Ein ausreichender Grund
kann aber doch nur darin gesehen werden, daß besondere subjektive
Gründe das Verhalten des Täters in milderem Licht erscheinen lassen.
Insbesondere rechtfertigt eine günstige Täterprognose keine Vorzugs-
behandlung. Wem es leicht fällt, auf der Bahn des Rechtres zu bleiben,
der hat auch keine mildere Behandlung verdient als derjenige, den
sein Unstern in soziale Konflikte treibt. Diese Ungerechtigkeit ist um
so unerträglicher, als die für den Strafaufschub maßgebenden Pro-
gnosen nur auf gänzlich unzureichenden Unterlagen beruhen können.
Im Strafverfahren ist es erfahrungsgemäß nicht einmal möglich, die
Tatsachen des Vorlebens auch nur einig·ermaßen zuverlässig zu er-
heben. So leidet das Institut von vornherein an einer bedenklichen
3 Oetker, Strafe und Lohn 1907, S. 20 f.

, c.
148 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

Willkürlichkeit, und es ist kein Zufall, daß es in Deutschland über


50 Jahre als ein Institut des Gnad•enrechts behandelt wurde.
Kommt es wirklich zum glücklichen Ende des Straferlasses, so geht
ja die Sache noch einigermaßen gut. Immerhin ergeben sich gewisse
Bedenken für das Strafregister, denn der Verurteilte hat sich durch
sein Wohlverhalten den Straferlaß verdient. Die Strafe müßte also
eigentlich gelöscht werden, was kriminalpolitisch doch kaum zu ver-
treten ist.
Viel schlimmer ist es aber, wenn es zum Widerruf kommt. Dann
wird der Ang·eklagte doppelt bestraft4 • Denn die Unterstellung unter
besondere Strafdrohung war doch schon ein echtes StrafübeL Man
überlege sich nur, daß die Strafzeit um die ganze vergeblich ver-
brachte Bewährungsz•eit verlängert wird. Wird nach 2 Jahl'en wider-
rufen, so wird ·ein Angeklagter vielleicht erst nach 21/2 Jahren von der
Strafe frei, der bei sofortigem Strafvollzug die Sache nach einem
halben Jahre hinter sich gebracht hätte. Diese Bedenken sind beson-
ders schwerwiegend, wenn der Verurteilte dem Rlegime der Probation
also besonderen Weisungen oder gar der Bewährungsaufsicht unter-
stellt worden ist. Denn dabei handelt es sich um ambulanten Straf-
vollzug.
3. Die vorg·eschlagene Verwarnung begegnet diesen Bedenken im
großen und ganzen nicht.
a) Die V•erwarnung kann als gerechte Strafe zugemessen wel'den.
Nach unserem Vorschlag hat die Verwarnung einen doppelten Inhalt.
Sie ist als solche einfach Warnung vor weiterem strafbaren Tun, die
öffentlich durch den Richter ausgesprochen wird und damit den Cha-
rakter einer öffentlichen Rüge, also einer - erträglichen - Ehren-
strafe hat. Diese Ehrenstrafe empfängt ihr.en besondel"en Ernst da-
durch, daß sie an Stelle einer bestimmt ausgesprochenen Strafe, näm-
lich Bewährungsdienst zwischen 3 und 6 Monaten verhängt wird. Die
Verwarnung spricht außerdem eine präzise und ausführbare Drohung
aus, indem sie ankündigt, daß die zugrundeliegende Strafe bei er-
neuter V-erurteilung als 1Einzelstrafe für die Gesamtstrafbildung heran-
gezogen wird. Nimmt man hinzu, daß die Verwarnung neben einer
Geldstrafe verhängt oder mit einer Friedensbürgschaft verbunden
wird, so fehlt der Verwarnung also nicht der nötige Ernst.
Verhält sich der Verurteilte fortan ges·etzmäßig, so ist er im Straf-
register nur mit ·einer Verwarnung eingetrag·en. AUerdings ist ersicht-
lich, daß diese V·erwarnung an Stelle einer freiheitsbeschränkenden
Straf.e ausgesprochen ist. Aber es lautet doch anders, wenn das Er-
4 Joachim Hellmer, Die Strafaussetzung im Jugendstrafrecht 1959, S. 2 ff.,
S. 14 ff.
Die Behandlung der Gefährdeten H9

gebnis nur eine Verwarnung ist. Auf die Benennung der zugrunde
gelegten Strafe im Tenor des Urteils kann allerdings nicht verzichtet
werden. Genügt eine bloße Geldstrafe, so ist es, wie wir oben dar-
gel.egt haben, nicht sinnvoll, den Verurteilten mit dem Makel einer
härteren Strafe auch nur indirekt zu belegen. Kommt Bewährungs-
dienst, d. h. eine freiheitsbeschränkende Strafe von mehr als 3 Monaten
in Betracht, so liegt der Fall doch so schwer, daß dem Verurteilten die
Rüge, er habe im Grunde eine freiheitsbeschränkende Strafe verdient,
nicht erspart werden kann. Bewährt sich der Verwarnte nicht, so wird
er nicht doppelt bestraft. Die Verwendung der zugrundegelegten frei-
heitsbeschränkenden Strafe als Einzelstrafe bei der Bildung der Ge-
samtstrafe ist unter dem Gesichtspunkt des Rückfalles durchaus ge-
rechtfertigt. Man kann auch nicht sagen, daß eine derartige Rückfall-
bestimmung zu hart wäre.
Der Vorschlag empfiehlt sich durch seine Einfachheit, er läßt sich
noch ·glatter und einfacher durchführen als die im Entwurf 1936 vor-
gesehene V:erwarnung mit Strafvorbehalt.
b) Unser Vorschlag ist teils milder, teils strenger als das g·elt·ende
oder vom Entwurf vorgeschlagene Recht, und zwar strenger insofern,
als Strafaufschub bei Strafen von weniger als 3 Monaten Dauer nicht
vorgesehen ist. Diese Strenge ist aber auch erforderlich.. Im Jahre 1958
wurden rund 100 000 Erwachsene und Heranwachsende zu Gefängms-
strafen von wenig·er als 3 Monaten Dauer verurteilt, davon wurde die
knappe Hälfte zur Bewährung ausgesetzt. Da wäre es besser gewesen,
in diesen Fällen auf Geldstrafe zu erkennen oder das Verfahren wegen
Gering:ßügigkeit einzustellen, falls man doch nicht ernsthaft strafen
wollte. Beschränkt man aber den quantitativen Umfang des Strafrechts
im Sinne unserer Vorschläge, so sollte es nur noch selten vorkommen,
daß jemand aus formalen Gründen verurteilt werden muß, der eine
Strafe in Wahrheit gar nicht verdient hat. Daneben bleibt auch nach
unseren Vorschlägen natürlich die proz·essuale Möglichkeit, die Sache
wegen Geringfügigkeit einzustellen. Will man aber wirklich strafen,
so soll man milde Strafen, wie Geldstrafe und bürgerliche Schulung,
auch vollstrecken. Kommt es zur subsidiären Haftstrafe, so fehlen
ohnedies die Voraussetzungen eines Strafaufschubes.
Nur wenn Bewährungsdienst zwischen 3 und 6 Monaten verhängt
werden müßte, so sollte ein neuer Versuch mit einer Verwarnung ge-
macht werden. iEs liegt kein Widerspruch darin, daß die geringfügigen
Strafen vollstreckt werden, die erste ernste !Strafe dagegen durch eine
Verwarnung ersetzt wird, denn dies geschieht, um einen schweren Ein-
griff in die persönliche Entwicklung nochmals zu vermeiden.
Unser Vorschlag ist insofern milder als das geltende Recht, als eine
Gefängnisstrafe von vornherein nicht ausgesprochen wird. Darunter
150 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

dürfte aber die Eindruckskraft der Verwarnung kaum leiden. Die Ver-
warnung hat gegenüber dem Strafaufschub den großen psychologischen
Vorteil, daß der Staat aufrichtig sagt, was er tut, und sich in keinen
Widerspruch mit sich selbst begibt; sie hat außerdem den Vorzug,
daß sie den Bestraften überhaupt nicht mit dem Makel einer Freiheits-
strafe belastet und daß sofort mit dem Ausspruch der Verwarnung der
Verurteilte die Sache hinter sich hat und neu anfangen kann.
c) Der Strafausspruch gründet sich nach unserem Vorschlag nicht auf
eine mehr oder weniger willkürliche Prognose, etwa auf einen bloßen
Bersönlichkeits·eindruck, sondern darauf, daß wirklich subjektive mil-
dernde Strafzumessungstatsachen festgestellt werden. Der vorgeschla-
gene Text bedarf insofern keiner Erläuterung.
III. Friedensbürgschaft (Wohlverhaltensbürgschaft). Die Einführung
dieses Instituts ist wiederholt von Oetker5 mit guten Gründen, leider
vergeblich, gefordert worden. Der romantisch klingende Name wäre
heute durch die Bezeichnung Wohlverhaltensbürgschaft zu ersetz·e n. Sie
besteht in der Hinterlegung einer Geldsumme, oder unter den heutigen
sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen in der allmählichen Auf-
bringung der Bürgschaftssumme durch Lohnabzug. In der ltetzteren
Form hätte di•e Friedensbürgschaft den weiteren Vorteil, daß sie den
Gefährdeten nötigt, mit seinem Geld sorgsam umzugehen und sich in
den jungen Jahren eine Sparsumme anzusammeln, in denen erfah-
rungsgemäß der Lohn die vernünftigen Bedürfnisse erheblich über-
steigt. Diese gesparte Summe würde dann bei Wohlverhalten, u. U. vor-
zeitig, anläßlich der Eheschließung ausgezahlt werden können.
Die Wohlverhaltensbürgschaft kann niemals aufgedrungen, sie kann
nur angeboten werden. Solches Angebot wäre einer der Gründe, die
den Richter dazu berechtigen können, anstatt einer auf Bewährungs-
dienst lautenden Strafe auf ·eine bloße Verwarnung zu erkennen.
Wird der Täter vückfällig, so verfällt die Friedensbürgschaft als
Geldstrafe. Daraus ergibt sich unsere Vorschrift, daß entweder eine
Friedensbürgschaft anzunehmen oder auf Geldstrafe zu erkennen ist.
Beides, Geldstrafe und Bürgschaft kann der Verurteilte nicht zugleich
aufbringen. Mit Recht hat aber Oetker immer wieder darauf hinge-
wiesen, daß an d er Wirksamkeit der Maßregel wohl kaum gezweifelt
werden kann.
Mit der Fried·ensbürgschaft können zugleich besondere Verpflich-
tungen auferlegt werden. Als solche kommt nur die Verpflichtung zur
Wiedergutmachung in Betracht, wobei es aber nicht nur auf die finan-
zielle Wiedergutmachung abzust•ellen ist. Hauptsächlicher Fall der
ideellen Wiedergutmachung ist die Abbitte. Der mögliche Inhalt einer
5 Oetker, G. S. Bd. 92, S. 2, Anm. 1, mit Literaturangaben.
Die Behandlung der Gefährdeten 151

Wiedergutmachung .ergibt sich aus dem angerichteten finanziellen


oder ideellen Schaden. Sie ist keine Strafe, bedarf daher auch keiner
genauen gesetzlichen Fixierung.
Natürlich könnte die Bewährungsaufsicht heutigen Stils auch an die
Friedensbürgschaft angehängt werden, wenn man vom Strafaufschub
zur bloßen Verwarnung übergeht.
IV. Gefährdet sind alle Rückfälligen, insbesondere auch durch das
Vorurteil, dem sie begegnen. Der Grundgedanke der besonderen
Rückfallvorschrift des § 61 Entw. ist d aher sehr zu begr üßen. Un-
erhebliche Taten werden nkht dadurch erheblich, daß Menschen immer
wieder der gleichen Versuchung ausgesetzt sind, sei es, daß sie zur
Selbstführung ihres Lebens nur bedingt imstande sind, sei es, daß sie
s!.ch dauernd in schwieriger sozialer Lage befinden. Geringfügige Taten
können daher niemals rückfallbegründend wirken. Übersetzt man die-
sen Gedanken in unser·e Stufenleiter der Strafen, so bedeutet dies, daß
Täter geringfügiger Taten mit Geldstrafe, mit bürgerlicher Schulung,
mit Haftstrafen und weiteren Geldstrafen bestraft werden. Muß Haft
wiederholt angeordnet werden, so empfiehlt sich die Haftstraf•e in be-
sonderen Anstalten oder Abteilungen zu vollstrecken, damit geprüft
werden kann, ob besondere Maßnahmen veranlaßt sind.
Es wird noch in ander em Zusammenhang zu prüfen sein, ob die
weiteren Voraussetzungen des Rückfalles in § 61 Entw. richtig for-
muliert werden. Es ist eben doch zweifelhaft, ob man ohne weiteres
sagen kann, daß eine Freiheitsstrafe zur Warnung geeignet ist. Auch
die Erhöhung der Höchststrafe scheint mir nicht veranlaßt, vgl. über
beides unten § 17.
V. Die Bewährungsaufsicht hat sich als Einrichtung insofern be-
währt, als es sich als möglich und sinnvoll erwiesen hat, Gefährdete
in sogenannter ambulanter Überwachung und Anleitung zu einem ge-
ordneten Leben anzuhalten und ihnen zu helfen, für die Selbstführung
ihres Lebens reif 1:u werden. Wir müssen aber auf unsere grundsätz-
lichen Ausführungen im ·ersten Teil v-erweisen, in denen wir dargelegt
haben, daß die Bewährungsaufsicht nicht als eine einfache Rechts-
wohltat begriffen werden kann, sie ist nicht e.'nfach milder als die
Strafe. Sie greift so tief in die persönliche Freiheit ein, daß sie nur
als Statusveränderung richti:g begriffen werden kann. Das Strafver-
fahr·en ist seiner Natur nach aber nur geeignet, die Tat festzustellen.
Im ganzen wird heute die Bewährungsaufsicht doch nur deshalb an-
geordnet, weil man mit dem bloßen Strafaufschub zur Bewährung
unzufrieden ist, also nur unte r docm Gesichtspunkt ut aliquid fieri
videatur. Die ambulante Überwachung und Anleitung ist daher vom
Strafverfahren zu !äsen. Die Frage, ob si•e erforderlich ist, kann zwar
152 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

aus Anlaß einer Straftat aufgeworfen werden, aber die einz·elne Tat
kann keinen hinreichenden Grund für eine Statusveränderung ab-
geben. Auch die hinter der Überwachung stehende Sanktion des Voll-
zuges einer Strafe reicht weder aus noch ist sie überhaupt eine pädago-
gisch geeignete Form des Zwanges.
Daraus sind nachstehende Folgerungen zu ziehen:
1. Ihrem Inhalt nach ist die Bewährungsaufsicht, wie dargelegt, eine
Statusveränderung. Sie unterstellt nach dem heutigen Recht der
§§ 23 ff. StGB den Verurteilten der Aufsicht und Anweisung eines Be-
währungshelfers oder doch besonderen Weisungen des Richters.
Pädagogisch gesehen ist die Bewährungsaufsicht Nacherziehung jun-
ger Menschen, die noch nicht reif sind, über ihr Leben in voller Frei-
heit zu bestimmen, si•e ist daher nur zwischen dem 18. und dem 25. Le-·
bensjahr sinnvoll. Aus dem Prinzip der Nacherziehung ergibt sich, daß
dem staatlichen Erzieher volle Erziehungsgewalt zukommt, soweit dies
für den 1Erziehungszweck erforderlich ist. Bei Heranwachsenden sollte
in das elterliche Erziehungsrecht nur soweit notwendig eingegriffen
werden. Wünsche des Probanden, die sich auf die Entfaltung seiner
Persönlichkeit, insbesondere auf die BerufsausbiLdung oder Berufs-
tätigkeit, beziehen, sind soweit als möglich zu berücksichtigen. Zu die-
sem Zweck hat das Gericht einen Erziehungsplan aufzustellen, der auf
Antrag eines der Beteiligten geändert werden kann. Unmittelbare
Weisungen des Gerichts außerhalb ·eines solchen Nacherziehungsplanes
sind als pädagogische Halbheit abzulehnen. Man kann nicht im Vor-
übergehen ·erziehen. Daher muß die Erziehungsgewalt in jedem Fall
einem Amtsvormund übertragen werden, welcher deren Ausübung den
Eltern überlassen kann. Als Amtsvormünder kommen namentlich die
Vorstände oder höher·e n Beamten einer Fürsorgeerziehungsanstalt in
Betracht, insbesondere derjenigen, in welche der Proband früher ein-
gewiesen war. Dem Amtsvormund stehen als ausführende Organe Be-
währungshelfer zur Seite, soweit die Erziehungsmöglichkeiten der
Eltern nicht ausreichen.
2. Auch die Bewährungsaufsicht bedarf einer rechtlichen Sanktion.
Als solche kommt die lEinweisung zur Nacherziehung in eine Er-
ziehungsanstalt in Betracht, wenn der Zögling sich beständig den An-
weisungen des Bewährungshelfers oder Amtsvormundes widersetzt.
Die Bewährungsaufsicht ist zu unterbrechen, solange der Zögling
Strafdienst oder Freiheitsstrafe verbüßt.
3. Aus rechtsstaatliehen Gründen empfiehlt es sich, Bewährungs-
aufsicht nur aus Anlaß einer gerichtlichen Straf·e anzuordnen. Es muß
aber bereits genügen, wenn der Gefährdete zur Strafe der bürger-
lichen Schulung verurteilt werden mußte. Die materielle Voraussetzung
Einordnung der Vergesellungsschwierigen 153

der Bewährungsaufsicht ist aber nicht die Straftat als solche, sondern
die ungeregelte Lebensführung des Gefährdeten. Das gewöhnliche
Merkmal der ungeregelten Lebensführung ist, daß der Gefährdete
keine regelmäßige Arbeit sucht und ausübt. Es genügen aber auch
Trunksucht und Verschwendung, Landstveicherei und wiederholte Be-
gehung von Straftaten. Geschlechtliche Unordnung genügt als solche
nicht, man sollte auch nicht den Versuch machen, die Prostitution durch
Bewährungsaufsicht zu unterbinden. Eine genauere Formulierung
dieser Gedanken könnte nur in .einer Diskussion erarbeitet werden.
4. Die Anordnung der Bewährungsaufsicht gehört ebenso wie die
Anordnung der Fürsorgeerziehung grundsätzlich in die Hände des
Richters der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Es ist immer mißlich, auf
Grund eines Strafverfahrens derartige Anordnungen zu treffen. Ge-
rade die Fürsorgeerziehung leidet darunter schwer, daß sie bei Jugend-
lichen im Rahmen eines Strafverfahrens angeordnet werden kann. Mit
Recht geht daher die Tendenz der internationalen Bewegung des
Jugendrechtes dahin, diese Maßnahmen allein den Erziehungsbehörden
vorzubehalten6 , was zur Zuständigkeit des Richters der freiwilligen
Gerichtsbarkeit führt. Über die rechtsstaatlich·e Ausgestaltung dieses
Verfahrens wird man erst nach längeren Erfahrungen Genaueres sagen
können.
Der Verfasser ist sich darüber klar, daß diese Skizze noch kein ab-
schließendes Bild von dem gibt, was gesetzlich zu bestimmen und was
praktisch zu tun ist. Es kann aber im Rahmen dieser Ausführungen
nur darauf ankommen, den Grundgedanken zu entwickeln, die ge-
nauere Gestalt kann er erst in der Diskussion erhalten, wenn der
Grundgedanke akzeptiert ist.

§ 17. Einordnung der Vergesellungsschwierigen


(Schutzhilfe und Sicherungsaufsicht)1

Der Verfasser setzt sich nur ungern mit obiger neugeprägter Be-
zeichnung dem Verdacht eigenwilligen Sprachgebrauchs aus. Aber alle
gebräuchlichen Termini, wie Gewohnheitsverbrecher oder auch Hang-
täter, sind nicht nur anfrechtbar, sondern irveführend.
I. Name und Sache: iEs kommt auf eine Bezeichnung an, welche
:weder zu vorschnellen, etwa moralisierenden Wertungen, noch zu vor-
eiligen soziologischen oder psychologischen Kausalurteilen verführt.
Ungenau, aber immerhin noch verhältnismäßig unschädlich sind die
6 Vgl. den Bericht von Ivar Strahl über den Stockholmer Kongreß der
Defense sociale Z. Bd. 70, S. 150 ff.
1 Ach hier gilt, was oben .Anm. 1 zu § 16 gesagt ist.
154 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

Ausdrücke asozial oder antisozial od·er der englische Ausdruck de-


linquency, welche nicht mehr besagen, als daß gewisse Menschen sich
in bezug auf Gesellschaft und Rechtsgemeinschaft fehlerhaft verhalten.
Nur legen diese Ausdrücke den Irrtum nahe, als habe der normale
Mensch eine von Haus aus ihn leitende soziale Veranlagung, die nur
der Ausreifung bedürfe, die Asozialen oder Antisozialen seien also
ein0 besondere Menschenart. Wir wissen aber, daß jeder Mensch erst
,.:ur Sozialität gebildd und auch als Erwachsener fortwährend in den
Vergesellungsvorgang ·einbezogen werden muß 2 • Die beliebten Bezeich-
nungen Hangtäter oder Gewohnheitsverbrecher sind deshalb im höch-
sten Grade irreführend, weil sie die falsche Vorstellung nahelegen, als
ob irgendeine immerhin einigermaßen einheitliche Menschenart zu
einem sozialwidrigen Verhalten neige. Die Begriffe entstammen zudem
keineswegs der empirischen Beobachtung, sondern zunächst einer de-
duktiven Konstruktion. Die kriminalpolitische Unterscheidung zwi-
schen der Denkzettelstrafe, der Besserungsstrafe und der Sicherungs-
maßnahme als den angeblich möglichen drei Behandlungsformen geht
im kriminalpolitischen Denken Franz von Liszts der Einteilung der
Verbrecher in Klassen logisch und historisch voran. Der Ausdruck Ge-
wohnheitsverb!"ech·er mag auch eine Übersetzung der Bezeichnung
habitueller Verbrecher sein, was im Lateinischen nichts anderes heißt
als ständig rückfälliger Täter, im Englischen oder Französischen aber
doch wohl etwas ähnlich•es wie Gewohnheitsverbrecher. Doch wird ein
verbrecherischer Hang eben nur in Ausnahmefällen durch Gewöhnung
erworben. Aber auch wenn man von einem Hang zum Verbrechen
redet, verwechselt man die statistische Wahrscheinlichkeit, daß eine
gewisse Gruppe von Menschen mit einer statistischen Rückfallerwar-
tung belastet ist, mit -einem psychologischen Merkmal, sei es eines be-
sondel.'en Antriebes oder dem Mangel einer Hemmung. Auf diese Weise
wird eine soziale und psychologische Einheit vorgetäuscht, die nicht
besteht.
Alle diejenig·en Bezeichnungen, welche die angebliche dauernde
soziale Gefährlichkeit oder die angebliche Abartigkeit des ständig rück-
fälligen Täters besonders hervorheben, legen es nahe, den ständig
Rückfälligen als Feind schlechthin zu betrachten, dem man mit Kriegs-
handlungen im Kampf um das Dasein begegnen dürfte. Zu welchen
Unmenschlich.keiten dieser Gedankengang anregen kann, zeigt nicht

2 Die heute viel gebrauchten Bezeichnungen, mal adaptees bzw. mal


adjusted, gehen in unsere Richtung, aber leiden an einem doppelten Feh-
ler. Einmal ist der Zustand der gesellschaftlichen Anpassung niemals end-
gültig zu erreichen, denn der Vergesellungsvorgang hört nie auf, zum an-
dern kann es niemals ein vernünftiges Ziel sein, sich bloß der Gesellschaft
in ihrem Sosein anzupassen. Gesellschaft ist immer wertbezogen und er-
reicht niemals die in ihr intendierte Tendenz der Wertverwirklichung.
Einordnung der Vergesellungsschwierigen 155

nur die tatsächlich durchgeführte physische Vernichtung eines großen


Teils der Sich·erungsverwahrten in Deutschland - ohne daß irgendein
Protest erfolgt wäre -, sondern auch der heute gemachte Vorschlag,
sogenannte Frühkriminelle schon als junge Menschen aus der mensch-
lichen Gemeinschaft durch Dauerverwahrung auszuschließen.
Demgegenüber stellt die vorgeschlagene Be:z;eichnung "Vergesellungs-
schw1erige" klar, daß wir von allen diesen Menschen zunächst nur
eines sagen können, nämlich, daß sie nur mit besonderen Schwierig-
keiten in die Gesellschaft richtig eingeordnet werden können. Es bleibt
aber völlig offen, woher diese Schwierigkeiten im Einzelfalle kommen.
"Der Schwierige" hat es eben sehr schwer, mit sich selbst fertig zu
werden und mit den anderen zu leben, denen ·e r es schwer macht. Er
ist im 1Ergebnis asozial .oder antisozial, aber zugleich sozial hilflos im
engeren oder weiteren Sinne. Man kann ohne falsches Mitleid sagen,
daß der so.g enannte Asoziale der arme Lazarus der modernen Zivilisa-
tion ist, wie wahrscheinlich auch der arme Lazarus des Gleichnisses
historisch als Asozialer in unsoerem Sinn aufzufassen ist.
Einordnung des Schwierigen besagt, daß diese Menschen ungeachtet
ihrer Dürftigkeit oder Erbärmlichkeit in einem Rechtsstaat, der sich in
der Präambel seines Grund.gesetz·es auf die Verantwortung vor Gott
beruft, nicht "bekämpft", "behandelt" oder "ausgeschieden" werden
dürfen, sondern in ·eine Ordnung zu st>ellen sind, in der ihre Berufung
zu Freiheit und Menschenwürde gewahrt bleibt. Denn auch der ver-
worfenste Verbrecher bleibt in einem Rechtsstaat Mitmensch, steht in
und nicht außerhalb der Gemeinschaft.
II. Die praktische Bedeutung des Problems läl:t sich nur an den ver-
schiedenen Erscheinungsformen aufzeigen, in denen die Schwierigen
vorkommen. Die Gesamtheit der Schwierigen zerfällt in zwei Gruppen,
einmal in die Gruppe der RezidiVlisten, zum anderen die Gruppe der
Leistungsschwachen.
Als Rezidivisten bezeichnen wir die ständig rückfälligen Täter,
welche wiederholt nicht ganz unerhebliche Straftaten begehen. Wir
wissen von dieser Gruppe zunächst nur die äußere Tatsache dieser
Rückfälligkeit. Es ist unerlaubt, sie als Gewohnheitsverbrecher oder
Hangtäter zu bezeichnen, denn es ist erst noch zu prüfen, ob diese
Menschen an einem sie unterscheidenden Hang leiden, oder ob die
Rückfälligkeit Lebensschicksal ist.
Als Leistungsschwache bezeichnen wir diejenigen, welche die erfor-
derlichen sozialen Leistungen nicht erbringen, so daß sie mehr oder
weniger auf Kosten anderer leben. Die Bezeichnung asozial oder gar
parasitär ist v•erfehlt, weil wir wiederum nicht wissen, ob diese Men-
schen ungesellig sind .oder nur unvermögend. Viele Leistungsschwache
begehen wiederholt geringfügige Straftaten, gelegentlich auch schwe-
156 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

rere Straftaten. Insofern ist die Grenze zwischen Rezidivisten und Lei-
stungsschw:achen flüssig.
Der inhaltliche Umfang der beiden Gruppen kann jeweils nur durch
eine Typologie erfaßt werden. Wir geben im folgenden eine Übersicht
über die kriminalpolitischen Sozialtypen, also eine Einteilung nach
Art und Größe der von diesen Typen drohenden Gefahren. Kurze
Hinweise auf die Ätiologie, die erforderlich sind, sollen nicht eine ätio-
logische Typologie ersetzen, die hier nicllt beabsichtigt ist.
1. Nur ein verhältnismäßig kleiner Teil der Rezidivisten ist wirklich
gefährlich im gewöhnlichen Sinne des Wortes, d. h. richtet wirklich
erheblichen Schaden an fremden Rechtsgütern an.
a) Der energische aktive Vermögensverbrecher kommt im Leben
viel seltener vor als im Kriminalroman. Gewalttätig im weiteren Sinne
handelt bereits der energische Einbrecher, erst recht der Räuber im
Sinne des § 249 StGB. Heide schonen zwar meist Leben und Gesund-
heit der Geschädigten, sind aber doch bereit, ernste Hindernisse zu
überwinden. Der echte Gangster gr·eift auch zur schweren Gewalt
gegen die Person. Jede derartige Lebensweisre erfordert zu große
Energie, als daß sie nicht bis zu einem gewissen Grade willentlich ge-
wählt sein müßte. Dennoch sollte man nicht von Berufsverbrechern
reden, denn auch der energische Verbrecher betrachtet sreine Lebens-
weise nicht als einen Beruf. Nach allen sorgfältigen Einzelschilderun-
gen ist er weder ein "geborener" noch ein "berufener", sondern wird
in einem schweren Lebenskonflikt während der Entwicklungszeit aus
der Bahn gedrängt. Gerade der energische und phantasievolle Mensch
kann unter den Bedingungen der techniscllen Zivilisation leicht dem
"Zivilisationskonflikt" zum Opfer fallen. Insofern ist also auch der
habituelle Gewaltverbrecher ein "Schwieriger". Der energische Ver-
brecher bietet siclJ. nicht so leicht als Untersuchungsobj·ekt dar, doch
dürften die Anforderungen eines solchen Lebens zu groß sein, als daß
sie von psyclJ.isch Abartigen erfüllt werden könnten. In Betracht käme
nur Gemütskälte, aber wahrscheinlich !handelt es sich nUT um eine
g·e wisse Willenshärte.
b) Gefährliche Triebverbrecher sind ein Opfer ihrer Triebstörung,
also zunächst Schwierige. So häufig sadistische Mordlust als Massen-
wahn in erregten Zeiten auftl'eten kann, so selten gibt es den habi-
tuellen sadistischen Lustverbn~cher. Häufiger sind leider die fragwür-
digen Kinderfreunde, von denen die wirkliclJ. gefährlichen selten, da-
gegen die geistig irgendwie Geschädigten leicht gefaßt werden. Bei den
letzteren kommt es in den seltensten Fällen zum Beischlaf, gewöhnlich
handelt es sich um sexuelle Spielereien mit Kindern, die ihrerseits die
ihnen bereits bekannten Spielereien mit Erwachsenen fortsetzen.
Einordnung der Vergesellungsschwierigen 157

c) Die Hochstapler und gewohnheitsmäßigen Betrüger, auch die Hei-


ratsschwindler, gehören nur zum Teil zu den wirklich gefährlichten
Tätern, wobei die Gefahr sich nur auf fremdes Vermögen bezieht. Der
Vermögensschaden kann gelegentlich wirklich bedeutend werden. Die
meisten sogenannten Heiratsschwindler sind allerdings nur das Gegen-
stück zur kostspieligen Dirne, dite ja auch eine im Grunde primitive
sexuelle Beziehung durch schöne Schwindeleien ausschmückt. Alle diese
Leute sind wahrscheinlich Getriebene, Opfer ihrer ungewöhnlichen Be-
fähigung, fremde Ausdruckstätigkeit wahrzunehmen und durch
eigene Ausdruckstätigkeit zu wirken. Die meisten Kinder machen ~ine
sogenannte pseudologische Phase durch und finden ihr·e Lust darin,
listig mit 1Erwachsenen zu experimentieren. Inso~ern steckt in den
Hochstaplern auch ein infantiles Element, sie sind Vergesellungs-
schwierige.
Zu a) bis c): Mit dieser Aufzählung sind nur die wichtigsten Typen
der gefährlichen Rezidivisten genannt. Es ist nochmals darauf hinzu-
weisen, daß nicht jeder habituelle Triebverbrecher, jeder habituelle
Betrüger wirklich gefährlich ist in dem Sinn, den dieses Wort natür-
licherweise hat.
2. Die Masse der Rezidivisten, d. h. der ständig rückfälligen Diebe
und Betrüger, ist weder bösartig noch gefährlich im eigentlichen Sinnte.
Der Vermögensschaden, den sie anrichten können, ist gewöhnlich viel
geringer, als ihre Verwahrung in einer Anstalt kostet. Das eigentliche
Ärgernis liegt nicht in dem Schaden, sondern in der persönlichen Exi-
stenz dieser Menschen, wteil sie immer wieder demonstrieren, daß
Staat und Gesellschaft nicht vermögen, sie zu einem geordneten Leben
anzuhalten. Nur gelegentlich begehen sie auch Sittlichkeitsverbrechen,
da ihnen die normale Befriedigung des Geschlechtstriebes sehr er-
schwert ist.
Ätiologisch gesehen sind diese Menschen einfach gekennzeichnet
durch die bloße negative Unfähigkeit, ihr Leben selbst zu führen, da-
her sind sie sozial hilflos im engeren Sinne. Diese Unfähigkeit kann
auf die verschiedenartigsten Gründe zurückgeführt werden, so auf
psychische Defekte, auf Abstammung, sei es aus primitiven Teilgrup-
p en der Bevölkerung, aus der sozialen Pariaschicht, aus dem Gauner-
turn selbst, endlich auf Entgleisung im Entwicklungsalter.
Unrichtig ist es, diese Leute allgemein als arbeitsscheu zu bezeich-
nen, was bedeuten würde, daß ihr·e Arbeitsunlust größer wäre als die
normaler Menschen. Gegen diese Annahme spricht, daß sie im Vollzug
meist gut und ordentlich arbeiten. Ihre Arbeitseinstellung ist dort au.:h
nicht innerlich unecht, ihnen fehlt nur die erforderliche Willensstetig-
keit, die zu geordneter freier Arb€it unerläßlich ist. Wo sie fehlt, helfen
die besten Vorsätze nichts.
158 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

3. Die leistungsschwachen Vergesellungsschwierigen stören die Ge-


sellschaft nicht in aktiver Weise, sie sind sozial hilflos in besonderem
Maße. Ob die Verfolgung der Landstreicher, Bettler oder Prostitu-
ierten sinnvoll ist, ist um so fraglicher, als sehr viel gefährlichere For-
men negativen Sozialverhaltens geduldet werden. Ich erinnere nur an
den berufsmäßigen Spi<eler oder Spielbankunternehmer, an den reichen
Playboy und sein weibliches Gegenstück, an die Unternehmer von
Nachtklubs und dergleichen, und hier kann man nicht entschuldigend
von sozialer Hilflosigkeit reden. Frühere Zeiten duldeten den Bett-
ler, weil er die Tugend der Barmherzigkeit erweckte, den Landstrei-
cher, weil er unterhaltsam war, die Dirne, weil man glaubte, sie nicht
entbehren zu können, alle diese Randexistenzen aber deshalb, weil sie
das Verdienst haben, an die Grenzen d<er menschlichen Existenz über-
haupt zu erinnern.
III. Geisteskranke sind zwar hilfsbedürftig, richten auch gelegentlich
- selten genug - Sclladen an, zählen aber nicllt zu den Vergesel-
lungsschwierigen, weil von ihnen soziale U:!istungen überhaupt nicht
erwartet werden. Wir beabsichtigen auch nicht das Problem ihrer Be-
handlung hier zu erörtern, denn es liegt am Rande des Strafrechtes. Es
geht hier nur darum, die Grenz.en zwischen Kranken und Gesunden,
wenn auch vielleicht hilflosen und leistungsscllwachen Gesunden
einerseits und den Kranken sowie d<eren Behandlung andererseits zu
ziehen.
Die Geisteskranken gehen eigentlicll den Strafrichter nur insofern
etwas an3 , als er den irrtümlicll angeklagten Geisteskranken vom Ver-
dacht schuldhaft begangener strafbarer Tat freisprechen muß oder ihn
nur zu milder·er Strafe verurteilen kann, solange wenigstens noch ver-
minderte Schuldfähigkeit anzunehmen ist. Die weitere Behandlung des
Kranken sollte ausschließlicll nach ärztlichen Gesichtspunkten erfolgen.
Nur dann, wenn vom Geisteskranken ernste Gefahren für Leib und
Leben anderer ausgehen, dürfte eine solche besondere Gefahr die Be-
handlungsart beeinflussen. Die Unterbringung nach §§ 42 b StGB, 82
Entw. darf daher nicllt ohne weiteres als eine Verwahrung verstanden
werden. Geisteskranke werden heute nur ausnahmsweise in geschlos-
senen Abteilungen untergebracht, w enn dies aus besond<eren Sicher-
h eitsgründen dringend erforderlicll ist. Im allgemeinen werden sie in
offe ner Unterbringung, möglicherweise nicllt einmal in der Anstalt
selbst, durch Arbeitstherapie behandelt. Diese medizinisch riclltige Be-
handlungsart darf nicht etwa durch strafrechtliclle Erwägungen ge-
stört werden.

3 Str. d. dt. V., S. 141 ff.


Einordnung der Vergesellungsschwierigen 159

Nach .ganz anderen Gesichtspunkten ist der Vergesellungsschwierige


zu behandeln. Leider beseitigt der Entwurf die Grenze zwisc..'len Gei-
steskranken und Vergesellungsschwierigen, indem er in § 25 Entw.
jede schwere seelische Abartigkeit in die verminderte Schuldfähigkeit
einbezieht, auch wenn diese Abartigkeit keinen Krankheitswert hat.
Nun denkt der Entwurf freilich nicht daran, etwa sadistische Mörder
oder sonst besonders gefährliche "Psychopathen" milder zu behandeln.
Nach dem Entwurf "kann" nur wie nach dem geltenden Recht, der
Richter die Strafe mildern, aber er muß es nicht. Insofern würde die
Bestimmung die unerfreuliche Willkürlichkeit des jetzigen § 51 Abs. 2
StGB leider beibehalten. Denken wir aber an diejenigen Täter, denen
der Entwurf die mildere Strafe des § 25 Entw. zugute kommen lassen
will und denen er nach § 82 Entw. willkürlich und ohne Rechtsgaran-
tien die Fr·eiheit nehmen will, so enthält der Entwurf einen doppelten
Fehler. Vergesellungsschwierige, die nicht eigentlich krank sind, müs-
&en durch geeignete Anleitung zur Selbstverantwortung angehalten
und erzogen werden, verweist man sie aber mit dem Entwurf in
eine Bewahrungsanstalt, so werden sie geradezu zur Flucht in die
Krankheit gedrängt, der Vorschlag ist also medizinisch und erziehe-
risch gleichermaßen verfehlt. Es ist aber auch rechtsstaatlich ganz un-
erträglich, daß alle irgendwie auffälligen Menschen beliebig lange in
eine Bewahrungsaustalt gesteckt werden können, nur weil sie einmal
eine strafbare Handlung begangen haben. Daß auP.erdem eine Gefahr
künftiger erheblich·er rechtswidriger Taten vorliegen müsse, kann nicht
ernstlich als eine rechtsstaatliche Grenze angesehen werden. Wir haben
oben unter den leistungsschwachen, vergesellungsschwierigen Personen
die relativ gefährlichste Gruppe nicht genannt; es sind diejenigen,
welche sich der öffentlichen Angelegenheiten annehmen, nachdem sie
ihre privaten gänzlich in Unordnung gebracht haben, Leute, welche
nach Kretschmer in ruhigen Zeiten vom Psychiater begutachtet wer-
den, in unruhigen Zeiten über uns herrschen4 • Sicherlich war Adolf
Hitler in hohem Grade seelisch abartig. Aber es geht doch wohl nicht
an, den vielfach seelisch auffälligen Überzeugungstäter mit Hilfe von
§ 82 Entw. auszuschalten, so nützlich dies im Fall Hitler gewesen wäre.
In der Tat ist kaum zu befürchten, daß der Wortlaut der Bestimmung
in dieser Weise ausgenützt wird, aber es wäre doch sehr wohl möglich,
irgendwelche Außenseiter ("ärztliche Außenseiter" 5), namentlich Queru-

4 Kretschmer, Geniale Menschen, 2. Aufl. 1931, S. 20: "Die Psychopathen


sind immer da, aber in den kühlen Zeiten begutachten wir sie und in den
heißen Zeiten beherrschen sie uns."
5 Vor längerer Zeit ist mir der praktische Fall durch die Hand gegangen,
daß ein erfolgreicher ärztlicher Außenseiter mit gewöhnlicher Allgemein-
praxis auf Anregung seiner Kollegen unter der falschen Diagnose der pro-
gressiven Paralyse (wozu doch wohl etwas gehört) 2 Jahre in der Anstalt
160 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

lanten, in dieS€r Weise zu erledigen. Insofern ·e nthält die Bestimmung


eine ernste Gefahr für die allgemeine Freiheit. Jedenfalls aber ist es
gänzlich unangemessen, den nur Vergesellungsschwierigen einfach auf
die Dauer in eine Bewahrungsaustalt zu stecken.
Als Grundlage der verminderten Zurechnungsfähigkeit dürfen also
nur solche Zustände angesehen werden, die Krankheitswert haben.
Welche das sind, kann der Gesetz·geher um so weniger sagen, als in
dieser Sache innerhalb der Medizin niemals Einigkeit bestanden hat.
Der Psychopathiebegriff, wie ihn etwa das Lehrbuch von Bumcke6 ver-
trat, namentlich aber der Psychopathiebegriff Kretschmers7 , ist gänz-
lich unvereinbar mit dem Psychopathiebegriff, wie ihn Kurt Schneider
in den dreißiger Jahren8 vertreten hat und wie ihn die Begründung
seltsamerweise auch heute noch als herrschend ansieht, obgleich Kurt
Schneider selbst seinen Begriff weitgehend relativiert hat9 • 1Erst recht
unv·ereinbar ist der angeblich "herrschende" Psychopathiebegriff mit
der vielverbreiteten Neurosenlehre10 • Als vermindert zurechnungs-
fähig können nur Personen g·elten, die man deshalb nicht mehr voll
verantwortlich machen kann, weil sie am Rande echter Krankheits-
zustände stehen. Sie gehören dann in Heilanstalten, nicht in Bewah-
rungsanstalten, allerdings möglicherweise in Heilanstalten beson-
derer Art.
IV. Was nun die Behandlung der "gesunden" Vergesellungsschwie-
rigen betrifft, so sind die Vorschläge des Entwurfes anhand der bis-
herigen Erfahrungen kritisch zu beleuchten.

festgehalten wurde, dann aber seine Praxis noch 20 Jahre bis zu seinem
Tode erfolgreich ausübte.
6 Bumke, Lehrb. der Geisteskrankheiten, 3. Aufl. 1929, S. 201 ff. Ich
wähle absichtlich diese ältere Auflage, weil Bumcke später zu Kompro-
missen neigte.
7 Für Kretschmer ist Psychopathie eine Randerscheinung oder Teilerschei-
nung der echten Psychose; vgl. Körperbau und Charakter, 21./22. Aufl.
1955, S. 163: "Wir bezeichnen als schizoid cycloid die zwischen krank und ge-
sund fluktuierenden abnormen Persönlichkeiten, die die psychologischen
Grundsymptome der schizophrenen und der zirkulären Psychosen in dem
leichteren Grade einer Persönlichkeitsspielart widerspiegeln." Danach wäre
Psychopathie eine Geisteskrankheit leichteren Grades.
8 Kurt Schneider, Die psychopathischen Persönlichkeiten, 3. Aufl. 1943,
S. 13: "Hier sei nur nochmals festgestellt, daß keinerlei sachliche Veran-
lassung besteht, die abnormen psychopathischen Persönlichkeiten krankhaft
zu heißen." Die Auseinandersetzung Kretschmers, a.a.O., S. 396, mit Kurt
Schneider geht daher an dem Kern der Sache vorbei.
9 Vgl. Kurt Schneider, Klinische Psychopathologie, 4. Aufl. 1955, S. 42 ff.

10 Vgl. das im Erscheinen begriffene Handbuch der Neurosenlehre und


Psychotherapie, hrsg. von Frank~, v. Ge bsatte~, Schultz. Gerade Stumpf!
neigt in seinem Beitrag dazu, alles das, was er in seinen früheren Arbeiten,
vgl. oben § 2, Anm. 6, als Psychopathie angesehen hat, als Neurose zu be-
greifen.
Einordnung der Vergesellungsschwierigen 161

1. Der Entwurf setzt an sich die Grundtendenz der seinerzeit moder-


nen Schule fort: a) langfristige Besserungsstrafe für die Gefährdeten,
aber noch Besserungsfähigen, b) eliminier~mde Verwahrung für die
Besserungsunfähigen. Er behält die Sicherungsverwahrung des Ge-
wohnheitsverbrechergesetzes von 1933 in der Hauptsache bei, obgleich
dies Institut nahezu in allen Rechtsstaaten der Welt Bankerott ge-
macht hat, weil die Richter sich einfach nicht bereit finden, eine der-
art grausame Maßnahme auch wirklich anzuwenden. Der Entwurf
meint, die Maßnahme dadurch praktikabel zu mach·en, daß er keine
vorgängige Verurteilung zu härterer Strafe als Gewohnheitsverbrecher,
wie nach § 20 a StGB, mehr fordert, daß er die Bezeichnung Gewohn-
heitsverbr-echer durch die Bezeichnung Hangtäter ersetzt und endlich
dadurch, daß es nur mehr auf die Gefährlichkeit im Zeitpunkt des
Urteils ankommen soll. Es ist sehr unwahrscheinlich, daß diese kleinen
Mittel die nur allzu begreiflichen humanen Hemmungen der deut-
schen Richter ausschalten. Doch läßt sich natürlich in solchen Dingen
schlecht prophezeien.
Der radikalste Vorschlag des Entwurfes, die vorbeugende Verwah-
rung von Jungtätern, ist in sein-em Sinngehalt nicht völlig klar, weil
hinter dem Vorschlag zwei ganz verschiedene Gedankenreihen stehen.
Nach dem Text des Entwurfs scheint es allerdings sich nur darum
zu handeln, daß vermittels einer Prognose zwischen besserungsfähigen
gefährdeten Jugendlichen und dem künftigen Gewohnheitsverbrecher
unterschieden werden könne und solle. Nur für die letzbere Täter-
grupp-e müsse die Lücke geschlossen werden, die zeitlich zwischen den
Maßnahmen des Jugendstrafrechtes und der Sich·erungsverwahrung
bestehe, oder etwas härter ausgedrückt, diese prognostisch ungünstig-e
Gruppe solle ·von der Ju~ndverwahrung bis zum Lebensende in stän-
diger Haft v·e rbleiben. Denn mit erheblichen iErziehungserfolg·e n der
vorbeugenden Verwahrung rechnet die Begründung nicht. Es ist er-
staunlich, daß die Begründung di-e Prognose entscheiden lassen will,
obgleich eine auch nur halbwegs zuverlässige Prognose von den ernst-
hafben Kriminologen als mindestens zur Zeit unerreichbar angesehen
wird. Aber es hat eben auch noch ein anderer Gedankengang, der aus
der Erfahrung des Vollzuges und der Fürsorgeerziehung stammt, beim
Vorschlag. Pate gestanden. Sowohl in der Fürsorgeerziehung wie im
Jugendstrafvollzug erweist sich immer wieder, daß eine begrenzte
Anzahl irgendwie abartiger J.ugoendlicher den normalen Vollzug stören
und im normalen Vollzug nicht gefördert werden können. So kommt
es denn nach Sieverts11 wen~ger auf die problematische Prognose als
11 Vgl. den Bericht von Dreher über die 9. Arbeitstagung der Großen
Strafrechtskommission Z., Bd. 68, S. 566 ff., insbesondere die Äußerungen
von Sieverts, S. 568, und den Bericht über die Abstimmung, S. 571, die
11.
162 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

vielmehr auf der Tatsache an, daß man eine Reihe von Häftlingen
um ihrer selbst willen nach der Entlassung aus der Fürsorgeerziehung
oder dem Jugendstrafvollzug sich nicht selbst überlassen kann. Dieser
Gedanke ist grundsätzlich b€rechtigt, läßt sich aber in anderer Weise
v·erwirklichen. Keinesfalls kann aus den Verhandlungen der großen
Strafrechtskommission entnommen werden, daß diese in der Gesamt-
heit hinter dem Vorschlag des Entwurfes stünde, denn nur eine Min-
derheit hat offenbar diese Jungtäterverwahrung als sichernde Maß-
nahme auffassen wollen, die Mehrheit scheint an eine Art Nacherzie-
hung gedacht zu haben.
Über die Psychopathenverwahrung des § 82 Entw. haben wir bereits
in III. berichtet.
Der Entwurf behält außerdem die Entziehun·g sanstalt § 83 iEntw.,
das Arbeitshaus § 84 Entw. mit gewissen Änderungen bei.
Es liegt auch noch in der Tendenz der bisherigen Entwicklung, wenn
der Entwurf in § 87 es zuläßt, daß gewisse Maßnahmen vor der Frei-
heitsstrafe vollzogen werden. Beschränkungen in der Dauer der Unter-
bringung vgl. § 89 Entw. und neue Vorschriften bezüglich der Über-
prüfung § 90 sind zu begrüßen, ändern ab€r das Gesamtbild nicht.
Wirklich neue Wege beschreitet dagegen der Entwurf mit der Ein-
führung der Sicherungsaufsicht §§ 91 bis 98 und der Aussetzung von
Maßregeln zur Bewährung, §§ 105 bis 108. Hier wird endlich die me-
chanische Vorstellung aufgegeben, daß man einen Menschen einsperren
müsse, um die Gesellschaft zu schützen.
2. Die praktischen Erfahrungen, welche seit 1933 mit den Maß..,
regeln des Gewohnheitsverbr·e chergesetzes gemacht worden sind, er-
mutigen keinesfalls, mit dem Entwurf den damals beschrittenen Weg
weiter zu gehen.
a) Die Erfahrungen mit § 42 b StGB zeigen einerseits, daß diese
Bestimmung überflüssig war, soweit sie überhaupt Nutzen bringen
kann. Auch ohne diese Bestimmung wären gemeingefährliche Geistes-
kranke in Heil- und Pflegeanstalten eingewiesen worden, nur wären
die Ärzte in der Heilbehandlung nicht durch den Verwahrungszwang
beschränkt. Die Einweisung sogenannter Psychopathen in Heil- und
Pfl.egeanstalten hat sich nach allgemeiner Überzeugung nicht bewährt.
Die Behandlung der Süchtigen in Entziehungsanstalten ist so gut und
so schlecht als sie sein kann. Neue Gesichtspunkte sind seit 1933 hier
nicht zutage getreten. Das Arbeitshaus hat auch seit 1933 nicht ver-
mocht, Menschen, die der Arbeitsstetigkeit ermangeln, zur Arbeits-
fr·eudigkeit zu erziehen. Die Leistungen des Arbeitshauses stehen
eben nur eine grundsätzliche Mehrheit bezeugt, wobei aber bezüglich der
Ausgestaltung alles offen bleibt.
Einordnung der Vergesellungsschwierigen 163

offensichtlich zurück hinter der fr.eien Wandererfürsorge der Inneren


Mission. Diese kurzen Bemerkungen sollen nur in Erinnerung bringen,
daß es eben nicht ausreicht, Menschen zu v·e rwahren, um angeblich
drohende Gefahren zu beseitigen.
b) Die Sicherungsverwahrung, also die zentrale Maßnahme des Ge-
wohnheitsverbrechergesetzes hat sich in der Praxis als V'Öllig unnütz
herausgestellt. Die Erfahrungen seit 1933 reich·en voll aus, um das
Urteil zu fällen, daß sie auch künftig unnütz sein wird. Wir stützen
uns dabei auf die umfangreichen Untersuch·ungen von Hellmer12 sowie
eine Reihe von weiter-en ergänzenden Untersuchungen, die zur Zeit
noch nicht veröffentlicht sind. Im übrig-en stimmen die vor 1945 er-
mittelten vorläufigen Untersuchungsergebnisse mit unseren Befunden
überein, nur daß vor 1945 noch niemand aus den Tatsachen den not-
wendigen Schluß zu ziehen wagte.
Der energische habituelle Verbrecher, also der im eigentlichen Sinn
gefährliche Täter, ist in der Sicherungsverwahrung praktisch
nicht zu finden. Das zeigt eine genaue Untersuchung der Straf-
listen ·ebenso wie ·eine Prüfung derjenigen Taten, die zur \Einweisung
führten. Das gilt zunächst für die von 1933 bis 1945 Verwahrten. Es
wäre allerdings daran zu denken, daß bei der Ablieferung der Siche-
rungsverwahrten an die Konzentrationslager gerade energisch aktive
Gewaltverbrecher umgekommen wären. Soweit man sehen kann, ist
die gegen den Willen der Justizbehörden erzwungene Aktion aber
ohne rationale Maßstäbe durchgeführt worden13• Aus den Karteien,
die noch einen Überblick über den ehemaligen Gesamtbestand geben,
gewinnt man gerade nicht den Eindruck, daß Gewaltverbrecher in
höherem Grade der Aktion zum Opfer gefallen seien. Man muß nur
mit der Möglichkeit rechm.m, daß Gewaltv·erbr·ech·er zur Zeit des
Nationalsozialismus zur Todesstraf.e verurteilt, oder unmittelbar in
vorbeugende Polizeihaft genommen worden sind. Aber auch unter den
wenigen Sicherungsverwahrten, die seit 1945 eingewiesen worden sind,
finden sich in dieser strengen Auslese nur selten aktive Gewaltver-
br·echer. Nun hängt dies freilich auch damit zusammen, daß im all-
gemeinen die Sicherungsverwahrung erst nach sehr zahlreichen Vor-
strafen, also in höher.e m Alter angeordnet wird. Aber es ist doch
12 H ellmer, Der Gewohnheitsverbrecher und die Sicherungsverwahrung
(Bd. 2 der Kriminol. Forschungen) 1961. Außerdem liegen mir neben meinem
aus eigenen Anstaltsbesuchen stammenden Material drei größere Arbeiten vor,
die das nordrhein-westfälische, bayerische und niedersächsische Nachkriegs-
material enthalten. Ihre Veröffentlichung wird demnächst erfolgen.
13 Es läßt sich nicht mehr feststellen, wie groß die Zahl der Sicherungs-
verwahrten 1942 war. Es mögen etwa 15 000 gewesen sein. Nach der Ver-
teidigungsschrift der zur Mitwirkung gezwungenen Ministerialbeamten sind
jedenfalls etwa 9000 Verwahrte ausgeliefert worden, von denen etwa 8000
umgekommen sein dürften.

11 Mayer, Strafred-.tsreform
164 Strafe~system, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

nicht so, daß etwa die Kriminalität nach dem 30. Lebensdahr "ver-
sandet" und eine größere Zahl von Sicherungsverwahrten wenigstens
im drittlen Lebensjahrzehnt tatsächlich aktive Gewaltverbrecher ge-
wesen wären. Für diese Annahme ergeben die Straflisten keinen An-
haltspunkt. Es scheint vielmehr doch so zu sein, daß der akti,v e habi-
tuelle Gewaltverbrecher rechtz·e itig den Kampf g·egen die übermäch-
tige Staatsgewalt aufgibt, wozu er als Willensmensch auch in der
Lage ist. Ob er dabei immer in sehr ehrenwerte Betätigungen hinüber-
wechselt, mag dahingestellt bleiben, ein Bedürfnis der Sicherungs-
verwahrung scheint hier nicht mehr zu bestehen.
Die Masse der Sicherungsverwahrten besteht aus Vermögensver-
brechern, die verhältnismäßig unbedeutende Straftaten begangen
haben, nur haben sie eben eine sehr lange Strafliste. Man ist geradezu
betroff.en, wenn man in diesen Straflisten und den zugehörigen Straf-
akten immer wieder sieht, daß sogar Taten, die nahe an der Grenze
des Notdiebstahls oder Notbetrugs liegen, bei häufig rückfälligen
Tätern außerordentlich hart bestraft werden und dem Verurteilten
schließlich die SicherungS'V'erwahrung einbringen. Den aktenmäßigen
Unterlagen entspricht der persönliche Eindl'uck, den man beim Besuch
der Verwahrten ·gewinnt. Auch nach dem Urteil der Vollzugsbeamten
und psychologischen Gutachter handelt es sich ganz überwiegend rum
sogenannte "schwache Hangtäter", Menschen, welche eben nicht in der
Lage sind, ein geordnetes Leben in Freiheit zu führen. Auch die
Heiratsschwindler und Hochstapler entsprechen überwiegend nicht
dem Bild, das man sich von ihnen draußen macht. Auch hier über-
wieg·en die minderwichtigen Akteure.
Auch wenn man die Akten der Sittlichkeitsverbrecher überprüft,
ändert sich das Bild nicht wesentlich. Schwere Angriffe gegen die
geschlechtliche Fre~heit, ·echte Kinderschändung finden sich nur selten.
Bei den Pädophilen handelt ·e s sich überwiegend um Spielereien mit
Kindern, die nicht unerfahren sind, sonst um Geschlechtsverkehr mit
frühreifen Mädchen. Besonders tragisch, allerdings auch ernst zu
nehmen, sind die Fälle der Homosexuellen, unter denen sich mög-
licherweise geistig an sich hochstehende Menschen befinden, welche
aber immer wieder dem unglücklichen Liebestrieb zu jungen Männern
und Knaben nicht widerstehen können und diese verführen.
So steht im ganzen die Sicherungsverwahrung in keinem richtigen
Verhältnis zur Größe der sogenannten Gefahr, die von den Ver-
urteilten ausgeht. Infolgedessen wird die Sicherungsverwahrung auch
gar nicht wirklich als solche vollzogen. Die allermeisten Verwahrten
werden doch etwa nach Ablauf von drei Jahren entlassen, die Straf-
zeit wird also nur auf einen falschen Titel verlängert. Dies ist aber
für den Vollzug um so nachteiliger, als sich ohnedies zwischen Siehe-
Einordnung der Vergesellungsschwierigen 165

rungsrvollzug und Zuchthausvollzug praktisch nicht unterscheiden läßt.


Zwar können besondere Verwahrungsanstalten wenigstens heute noch
bei .geringer Belegung gewisse Freiheiten .gewähren, die im Rahmen
einer Strafanstalt sich nicht ohne weiteres durchführen lassen. Aber
die Verwahrung in besonder·en Anstalten ist psychisch unertr.äglich,
und zwar für die Beamten ebenso wie für die Vterwahrten, wenn
nicht mit einer dem Gesetz widersprechenden fristgerechten Entlas-
sung gerechnet werden kann. Alle diese Leute sind so oft durch die
Strafhaft hindurchgegangen, daß sie weitgehend neurotisiert sind.
Solche Leute können nicht mehr unter sich allein zusammenleben. So
ist ·es also doch wohl erträglicher für die Verwahrten, wenn man sie
im Zuchthaus in besonderen Abteilungen unterbringt. Dann aber
können sie sehen, daß es ihnen viel schlechter geht als Zuchthaus-
sträflingen, namentlich als den Mördern, weil eben haltlose Men-
schen unter den heutigen Bedingungen nicht im offenen Vollzug
gehalten werden können. So ist d~e Maßnahme unter jedem Gesichts-
punkt psychisch unerträglich. Wären die meisten Verwahrten nicht
völlig müde g·ewordene Mensch·e nfragmente, konnte der Vollzug über-
haupt nicht durchgeführt werden.
Als positive Erfahrung bleibt nur übrig, daß die Sicherungsver-
wahrung sehr .abschr·eclrend wirkt, was aber richtiger und besser
durch entsprechende Strafen zu erreichen wäre.
V. Eine grundsätzZiehe Weuordnung des Rechtes der Vergesellungs-
schwierigen muß an di·e neuen Gedanken anknüpfen, die im Soziai-
hilfegesetz und in der neuen Fassung des Jugendwohlfahrtsgesetzes
sich geltend machen. Sie kann aber auch erfreulicherweise Gedanken-
gänge des 1Entwurfes selbst ·verwerten, soweit ·e r den sterilen Gedan-
ken der Verwahrung ersetzt durch die ambulante Überwachung und
Anleitung, so im Vorschlag der Sicherungsaufsicht und der Aussetzung
der Maßnahmen. Zu verabschieden ist aber der entscheidende Grund-
gedanke der frühter ·einmal modernen Schule, nämlich die Vorstellung
der bloßen Bekämpfung des Verbrechens und des Verbrechers um der
Gesellschaft willen. Wir verweisen hier noclunals auf unsere grund-
sätzlichen Ausführungen im ersten Teil dies·es Buches. Es handelt
sich vielmehr rechtlich und sittlich um die Frage der gerechten und
menschlichen Einordnung der Schwierigen, der Leute, die es schwer
haben und anderen .schwer machen. Zu verabschieden ist auch der
deduktive Begriff des Hangtäters und des werdenden Hangtäters; auch
mit einem medizinisch so umstrittenen Begriff wie dem des Psycho-
pathen ist nichts mehr anzufangen. Es handelt sich um den Menschen,
um Gerechtigkeit, um soziale Hilfe. Stellt man so dten Mensch·e n in
den Mittelpunkt, so eröffnen sich von selbst neue Perspektiven. Wir
geben eine kurze Obersicht über diese Möglichkeiten anhand der oben

t1 •
166 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

skizzierten sozialen Typen. Unsere Vorschläge ~önnen nicht mehr


als einen vorläufigen Entwurf darstellen, der im einzelnen noch der
Diskussion bedürfte, wenn er einmal grundsätzlich akzeptiert wäre.
1. Unser Plan setzt voraus, daß entsprechend unserem in § 16 V
gemachten Vorschlag, gefährdete Jugendliche bis zur Beendigung des
25. Lebensjahres einer Bewährungsaufsicht unterworfen werden kön-
nen, die als statusrechtliche Verä1 derung konstruiert ist, daher sehr
eingreifend und vermöge der diesem Institut innewohnenden Sank-
tionsmöglichkeiten sehr wirksam gestaltet werden kann. Danach be-
steht die Möglichkeit der Nacherziehung auch und gerade· für junge
Leute, die bis zum 25. Lebensjahr häufig rückfällig werden.
2. Die aktiv energischen Rezidivisten bedürfen nur einer strengen,
aber gerechten Bestrafung. Richten sich ihre Taten gegen die Person,
namentlich in geschlechtlicher Beziehung, so bedarf es keiner beson-
deren Strafbestimmung, wohl aber besonderer Sicherung, vgl. unten 5.
Dagegen ist eine besondere Strafbestimmung gegen aktiv energische
Vermögensverbrecher nicht zu entbehren.
Gerecht ist in diesen Fällen die der Sache nach relativ unbestimmte
Freiheitsstrafe in der äußeren Form einer absolut bestimmten Frei-
heitsstrafe, die unter bestimmten Voraussetzungen teilweise erlassen
werden kann. Die Schutzwirkung einer solchen Strafe wäre
groß, sie böte aber auch dem Bestraften eine echte Chance.
Die nachfolgend vorgeschlagene Bestimmung faßt den Kreis der
im § 20 a StGB, jetzt § 85 Abs. 1 Entw., ferner in § 238 Entw.
(über berufsmäßigen Diebstahl}, § 245 Abs. 2 Ziffer 3, § 246 Abs. 1
Ziffer 4 (über berufsmäßigen Raub), § .254 (iiber gewerbs- und berufs-
mäßigen Betrug), § 287 Entw. (Hehlerei) erfaßten Personen in neuer
Weise zusammen. Dabei gehen wir davon aus, daß die Begehung
schwerer Straftaten, wenn sie mit dem Willen künftiger Wieder-
holung erfolgt, erhöhte Schuld begründet und die Einzeltaten zu
einem besonders strafwürdigen Gesamtverhalten zusammenfaßt. Die
dahinterstehende Schuld mag als subjektive Lebensführungsschuld
bezeichnet werden, die strafbare einheitliche Tat ist das Gesamtver-
halten als solches. Der bisherige § 20 a StGB ist aber insofern verfehlt,
als es nach ihm auf die Richtung des strafbaren Angriffs gar nicht
ankommt, so daß völlig v·erschiedenartige Taten zu einer Einheit zu-
sammengefaßt werden, die als einheitliches Gesamtverhalten nicht
gedacht werden können. Andererseits r·eicht es aber auch nicht aus,
jeweils nur den berufsmäßigen Diebstahl, berufsmäßigen Raub oder
gewerbsmäßigen Betrug usw. höherer Strafe zu unterwerfen. Alle
Angriffe gegen das Vermögen richten sich im Grunde gegen das gleiche
allg·emeine Rechtsgut. Unter Anlehnung an § 85 Abs. 1 Entwurf wollen
wir daher uns·eren Vorschlag folgendermaßen formulieren.
Einordnung der Vergesellungsschwierigen 167

§
"Hat jemand durch mindestens drei vorsätzlich gegen fremdes Vermögen
gerichtete Straftaten, von denen er wenigstens eine nach Vollendung des
25. Lebensjahres begangen hat, jeweils Zuchthaus oder Gefängnis oder Be-
währungsfrist von mindestens 6 Monaten oder Jugendstrafe verwirkt, so
wird er, wenn er mit dem Willen zur Vornahme weiterer einschlägiger
Straftaten, einen schweren Betrug, eine Erpressung, einen Raub oder einen
schweren Diebstahl begangen hat, mit Zuchthaus von 5 Jahren bestraft."
"War die letzte Tat ein Raub oder eine gleich dem Raube zu strafende
Tat, so wird er mit Zuchthaus von 10 Jahren bestraft."
"Wenn der Täter sich in der Strafhaft gut führt und außerdem glaubhaft
zu machen vermag, daß er den ernsten Willen und die äußere Möglichkeit
besitzt, künftig ein gesetzmäßiges Leben zu führen, so kann er frühestens
nach Verbüßung von einem Drittel der Strafzeit vorläufig entlassen werden.
Er steht mindestens bis zur Beendigung der Strafzeit unter Sicherungsauf-
sicht."
Absatz 4 und 5 müßten entsprechend aus § 85 Abs. 2 und 3 des Entwurfs
übernommen werden.
Bezüglich der Strafzeit wäre noch zu bemerken, daß die allgemeine Mög-
lichkeit der Haftverkürzung bei Wohlverhalten jedem Häftling auf jeden
Fall zugute kommen müßte.
Es kommt für die Abgrenzung des Typus des aktiv energischen
habituellen Gewalttäters eben gerade auf den Willen der Wieder-
holung an. Dieser Wille begründet die besondere Verantwortung, er
ist das besondere kriminologisch·e Merkmal dies·e r Gruprpe, er läßt sich
auch im Wege der freien Beweiswürdigung mit hinreichender Sicher-
heit feststellen. Die Strafe gründet sich dann auf erhöhte Schuld,
nicht auf eine gänzlich unsichere Prognose. Wenn der Entwurf es in
einigen Bestimmungen auf berufsmäßige Begehung abstellt, so würde
das dte Strafmöglichkeit zu sehr einschränken, wenn man den Begriff
des Berufes in seinem eigentlichen Sinn nimmt.
Der Vorschlag würde praktisch bedeuten, daß wirklich gefährliche
Täter rechtzeitig mit der vollen Härte des Gesetzes bekannt würden,
daß sie aber gleichzeitig die Chance erhielten, durch eine innere
Wandlung der sozialvernichtenden Wirkung der Strafe zu entgehen.
Man kann übrigens darüber streiten, ob man eine solche Bestimmung
nicht besser schon gegen jeden volljährigen Täter anwenden sollte.
Man würde dann diese zwar an sich bewußt lebenden, aber in der
Jugend doch verwirrten Täter zugleich über die gefährlichsten Jahre
der Nachpubertät sicher hinwegbringen. Auch eine harte Strafe ist
erträglich, psychisch unerträglich ist die sichernde Maßnahme, die sich
dem Betroffenen gegenüber nicht auf den echten und ausreichenden
Rechtsgrund der Schuld berufen will.
Wenn man die Anwendung einer solchen Bestimmung durchdenkt,
werden gewisse Schwierigkeiten bei den gefährlichen Hochstaplern
168 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

entstehen. Denn diese Menschen werden im Grunde durch ihre ver-


hängnisvolle Gabe zu schauspielerischer Selbstdarstellung immer
wieder in Straftaten g·etrieben. Soweit aber eine willensmäßige Hal-
tung noch festg.estellt werden kann, wird auch diesen Menschen mit
einer strengen Strafe noch am besten gedient sein.
3. 1Ergänrend wär·e eine maßvolle Rückfallbestimmung einzufügen.
welche alle übrigen Gattungen von Tätern treffen würde, damit
natürlich zugleich auch die große Masse der schwachen Hangtäter. Die
Bestimmung darf aber nicht so gefaßt werden, daß aus einer einzelnen
Tat, die wirklich nur eine Kleiniglreit ist, durch den Rückfall eine
schwere Tat wird. Nach uns·eren Vorschlägen ist davon auszugehen,
daß die Rrückfallbestimmung überhaupt erst in Betracht kommt, wenn
der Täter einmal zu Bewährungsdienst und anschließend einmal zu
Gefängnis verurteilt worden ist. Eine Formulierung läßt sich hier
nicht geben, weil der Wortlaut der vorausgesetzten Einzelbestimmun-
gen auch nach unseren Vorschlägen noch nicht feststeht. Eine Er-
höhung der Höchststrafe schießt jedenfalls über das Ziel hinaus.
4. Die Masse der kleinen Diebe und Betrüger, die sogenannten
schwachen Hangtäter aus Arbeitsscheu sind unter Schutzhilfe zu
stellen und dadurch in die Rechtsgemeinschaft einzuordnen. Die
Schutzhilfe soll nicht einreitig die Gesellschaft sichern, sondern wirk-
lich auch den Betroffenen einen Lebensraum schaffen, den sie mit
ihren schwachen Kräften auszufüllen vermögen. Dieser Gedanke ist
grundsätzlich bereits ausge6prochen in § 72 des Sozialhilfegesetzes, er
findet sich aber auch im Entwurf in den Fürsorgetendenzen, dire dem
Vorschlag einer Sicherungsaufsicht eignen. Aber diesen an sich ver-
nünfügen Tendenz.e n muß zum Durchbruch verholfen werden. Es
kommt nicht darauf an, durch Weisungen die Lebensführung zu be-
schränken, irgendetwas zu verbieten und dergleichen. Man muß viel-
mehr diresen Menschen überhaupt ·erst eine Heimstatt im Leben ein-
richten. Dabei wird man sich die Erfa:hrungen der Inneren Mission
und der Caritas, wie sie nicht nur in der Wandererfürsorge gewonnen
worden sind, zunutz·e machen müssen. iEs kommen hier die verschie-
densten Möglichkeiten in Betracht, von Wohnheimen in Großstädten
über Wohnsiedlungen und Arbeiterkolonien bis zu eigentlichen Ver-
wahrungsaustalten in schweren Fällen.
Erforderlich ist die Sicherung des Arbeitsplatzes, Anleitung und
Anweisung zu geeigneter Arbeitstätigkeit in ambulanter Über-
wachung. Erst eine solche Fürsorge rechtfertigt dann die Überwachung
des Arbeitsverdienstes und der Verwrendung desselben. Praktisch wird
e6 in erster Linie darauf ankommen, dem Hilfsbedürftigen den Wohn-
ort und den Arbeitsplatz anzuweisen.
Einordnung der Vergesellungsschwierigen 169

Vergleichen wir unseren Vorschlag mit dem Entwurf, so drehen wir


im Grunde nur die Rangordnung zwischen Sicherungsaufsicht und
Verwahrung, zwischen Maßnahmen und Aussetzung der Maßnahme
um. Voranzugehen hat die ambulante Überwachung. Die Einweisung
in die Anstalten bis zur echten Verwahrung in Anstalten ist nur die
Sanktion, wenn die milderen Mittel versagen.
Voraussetzung für die Schutzlhilfe wäre, daß der Täter nach der
oben Ziffer 3 ·erörterten Rückfallbestimmung verurteilt ist.
Die Vorschrifttm des Sozialhilfegesetzes wären mit doen Vorschriften
über Schutzhilf.e au~ugleichen.
Die Schutzhilfe wäre durch Schutzhilfeämter zu führen. Man müßte
wohl für jeden Oberlandesgerichtsbezirk ein Schutzhilfeamt errichten,
notfalls für mehrere Landgerichtsbezirke zusammen. Das Schutzhilfe-
amt müßte durch Schutzhelfer die ambulante Aufsicht durchführen.
Der Grundsatz der Subsidiarität müßte auch hier gelten. Gerade bei
einer so schwierigen Aufgabe sind die vielerlei Möglichkeiten auszu-
nützen, welche die freie und kirchliche Wohlfahrtspflege bietet.
Wer unter Schutzhilfe gestellt ist, kann nicht mehr in dem Umfang
für seinoe Handlungen verantwortlich gemacht werden wie ein freier
Mensch. Wenn man die Lebensläufe der sogenannten schwachen Hang-
täter studiert, findet man immer wieder, daß sie vielfach doch nur
ganz geringfügige Straftaten begehen. Solche geringfügigen Straf-
taten dürfen aber die Schutzhilfe nicht stören. Ebenso wie die Straf-
tat des Unfreien im antiken Recht rechtlich nicht bedeutsam ist, ebenso
sollten geringfügige Verstöße des Hilfsbediirfti·g en die Strafgerichte
nicht beschäftig·en. Es müßte möglich sein, daß solche geringen Ver-
stöße - unter voller Wahrung jeder rechtsstaatlich·en Garantie -
durch die Schutzhilfebehörde im Wege disz.iplinarer Maßnahmen er-
ledigt würden. Man muß auch mit traurigen Schelmen leben können
und sie irg·endwie leben lassen. Die Lebensfähigkeit und die innere
Freiheit einer Gesellschaft entscheidet sich nicht zuletzt daran, daß
sie dies vermag14•
5. Sicherungsaufsicht wäre für eine kloeine Gruppe von wirklich
gefährlichen Tätern anzuordnen. Man kann darüber streiten, ob joeder,
der nach der .oben .2. vorgeschlagenen Bestimmung verurteilt ist, auch
über die Strafzeit hinaus unter Sicherungsaufsicht gestellt werden
müßte. Auch soweit Sicherungsaufsicht gegen g·efährliche Täter an-
zuordnen ist, ist jedenfalls zunächst der Weg der ambulanten Über-
wachung zu ~en. Doch scheint Sicherungsverwahrung unvermeidlich
zu .sein, soweit die kleine Gruppe der Unglücklichen in Betracht
14 Diese Bemerkung gehört zu den harten und schockierenden Aussagen,
die ich im Vorwort angekündigt habe.
170 Strafensystem, Kriminalrecht, fürsorgendes Personenrecht

kommt, welche mit gefährlichen Trieben behaftet sind, die sich gegen
Leib und Leben und gegen die geschl€chtliche Unversehrtheit richren.
In diesen Fällen liegt in der Tat ein echter Notstand d-er Allgemein-
heit vor, während bei der Masse der Verwahrungsfälle nach heutigem
Recht von einem solchen Notstand nicht entfernt die Rede sein kann.
Jedoch erscheint mir eine Bestimmung, welche primär Verwahrung
anordnet, überflüssig zu sein. Denn wenn ein Täter dieser Art wirklich
gefaßt wird, so hat ·er doch möglicherweise mit lebenslänglicher Frei-
heitsstrafe, mindestens aber mit so hoher Freiheitsstrafe zu rechnen.
daß dem Sicherungsbedürfnis Genüge getan wird. Die sadistischen
Reihenmörder können ja nicht deshalb ihre schreckliche Laufbahn so
lange Z-eit fortsetzen, weil man nicht rechtzeitig mit Sicherungsmaß-
nahmen gegen sie eingeschritten ist, sondern ganz einfach deshalb,
weil man sie niemals unter Umständen gefaßt hat, die auf eine derart
gefährliche Triebrichtung hinweisen. Handelt es sich um Homo-
sexuelle, dürfte die Sicherungsaufsicht regelmäßig genügen. Hinter
der Sicherungsaufsicht steht aber immer subsidiär die Sicherungsver-
wahrung, wenn der Beaufsichtigte sich der Aufsicht entzieht, oder
wenn er sich in höherem Grade als gefährlich erweist.
6. Die erforderlichen Entscheidungen sind in einem Statusprozeß zu
treffen. Die Formen dieses Prozesses können hier nicht näher dar-
gelegt werden; es kommt darauf an, in sorgfältiger Hemühung die
Grundlagen über die persönlichen Lebensumstände, über die Per-
sönlichkeit und die bisherige Lebensführung zu ermitteln. Die erste
'Entscheidung lautet entweder auf Anordnung der Schutzhilfe oder
der Sicherungsaufsicht Auf Grund dieser Entsch·eidung ist ein Hilfs-
plan oder Sicherungsplan von der Schutzhilre- bzw. Sicherungsauf-
sichtsbehörde zu entwerfen, der der B-estätigung des Gerichtes bedarf.
Dabei ist der Betroffene ausreichend zu hören. Muß Anstaltsunter-
bringung oder gar Verwahrung angeordnet werden, so bedarf es
jeweils einer zusätzlichen richterlichen Entscheidung.
Es würde nicht sehr viel Mühe kosten, diese Skizz.e näher auszu-
führen und einen förmlichen Gesetzesentwurf in schönen Paragraphen
daraus zu machen. Doch kann dies nicht die Aufgabe dieser Zeilen
sein. Zunächst bedürfen die Grundzüge dieser hier vorgebrachten Vor-
schläge einer Diskussion. Aber soviel darf .gesagt werden , daß durch
den Vorstoß des Fürsorgerechres im Sozialhilfegesetz das ganz·e Ge-
bäude der Maßnahmen des Entwurfs ins Wanken geraten ist. Die
Fr·e iheit des einz·elnen muß gegen kollektivistische Bestrebungen so-
wohl im Strafrecht wie im Fürsorgerecht verteidigt werden. Die für-
sorgerechtliehen und die strafrechtlichen Problteme müssen als eine
Einh-eit gesehen werden.

Das könnte Ihnen auch gefallen