Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
NomosLehrbuch
Kindhäuser | Schumann
Strafprozessrecht
Kindhäuser
Schumann
Strafprozessrecht
6. Auflage 6. Auflage
ISBN 978-3-8487-7653-5
Nomos
NomosLehrbuch
Strafprozessrecht
6. überarbeitete Auflage
Nomos
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
Vorwort
Dieses Lehrbuch zum Strafprozessrecht ergänzt die Darstellungen materiellen Straf-
rechts dieser Lehrbuchreihe. In seiner inhaltlichen Gewichtung orientiert es sich an den
Erfordernissen der Ausbildung in Studium und Referendariat: Im Vordergrund stehen
die allgemeinen Verfahrensgrundsätze, das Ermittlungsverfahren und die erstinstanz-
liche Hauptverhandlung. Bei den Rechtsmittelverfahren liegt der Schwerpunkt auf der
Revision. Dass das Strafverfahrensrecht eine zentrale Rolle in der rechtspolitischen
Entwicklung spielte und weiterhin spielt, sollen die Abschnitte zur Rechtshistorie und
europäischen Perspektive aufzeigen.
Für die vorliegende 6. Auflage wurde das bewährte Konzept beibehalten, auch wenn
der „moderne“ Gesetzgeber dem Autor einer Lehrdarstellung des Strafverfahrensrechts
die Arbeit nicht gerade einfacher macht (was freilich auch nicht zu seinen Aufgaben
gehört): Seit Redaktionsschluss der Vorauflage Ende Dezember 2018 hat die StPO
durch insgesamt 25 Gesetze Änderungen erfahren. Wesentliche Änderungen für dieses
Lehrbuch brachten dabei v.a. das Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen
Verteidigung (2019), das Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens (2019) sowie
das Gesetz zur Fortentwicklung der Strafprozessordnung (2021). Ergänzung fand auch
der „europäische“ Teil am Ende des Buches, da die Arbeitsaufnahme der Europäischen
Staatsanwaltschaft nicht unbeachtet bleiben sollte. Anregungen, Kritik (und Lob) sind
weiterhin willkommen (per Email an schumann@jura.uni-bonn.de).
Ich danke Frau Sabrina Prem v.a. für die wertvolle Unterstützung bei der Einarbeitung
der zahlreichen Gesetzesänderungen. Außerdem haben mich bei Korrekturen und
sonstigen Fleißarbeiten tatkräftig und wie gewohnt verlässlich unterstützt Jakob Leo-
nardy, Heiner Lindlein, Chioma Helen Samuel und Jakob Stuff. Ich darf allen fünfen
an dieser Stelle herzlich für ihre Mitarbeit danken.
5
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
Vorwort
6
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
Inhalt
Vorwort 5
1. Abschnitt: Überblick
§1 Ziele des Strafverfahrens 31
I. Die Funktion des Strafverfahrens 31
II. Verfahrensziele des Strafverfahrens 31
1. Wahrheit 32
2. Gerechtigkeit 32
3. Rechtsbeständigkeit 33
III. Der strafprozessuale Zielkonflikt 33
1. Wahrheit und Gerechtigkeit 33
2. Wahrheit und Rechtsbeständigkeit 33
3. Gerechtigkeit und Rechtsbeständigkeit 34
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen 35
2. Abschnitt: Ermittlungsverfahren
§4 Prinzipien der Einleitung und Durchführung des Ermittlungsverfahrens 42
I. Die Einleitung des Ermittlungsverfahrens 42
1. Einleitung aufgrund privater Initiative 42
2. Einleitung von Amts wegen 43
3. Anfangsverdacht 44
II. Offizialmaxime (§ 152 Abs. 1) 45
1. Begriff 45
2. Ausnahmen 45
III. Anklagegrundsatz (§ 151) 46
IV. Legalitätsprinzip (§§ 152 Abs. 2, 170 Abs. 1) 46
1. Begriff 46
2. Durchbrechungen 46
7
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
Inhalt
§6 Der Beschuldigte 61
I. Die Terminologie 61
II. Die zeitlichen Grenzen des Beschuldigtenstatus 61
1. Der Beginn des Beschuldigtenstatus 61
2. Das Ende des Beschuldigtenstatus 63
III. Die Rechtsstellung des Beschuldigten 64
1. Die Rechte des Beschuldigten 64
2. Die Pflichten des Beschuldigten 66
IV. Die Beschuldigtenvernehmung 66
1. Der Vernehmungsbegriff 66
2. Vernehmungsdurchführung und -ablauf 67
3. Verbotene Vernehmungsmethoden 69
4. Fehlerfolgen 72
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen 74
8
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
Inhalt
§7 Die Verteidigung 75
I. Allgemeines 75
1. Das Recht auf Verteidigung 75
2. Aufgabe des Verteidigers 75
3. Stellung des Verteidigers 75
II. Die Rechte und Pflichten des Verteidigers 76
1. Grundlagen 77
2. Die wichtigsten Rechte des Verteidigers im Überblick 78
III. Der Wahlverteidiger 80
1. Personenkreis 80
2. Mandatsverhältnis und Verteidigerausschluss 80
IV. Der Pflichtverteidiger 82
1. Notwendige Verteidigung 82
2. Bestellung 84
3. Dauer und Aufhebung 85
4. Verteidigerwechsel 86
5. Sicherungsverteidiger 86
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen 87
9
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
Inhalt
10
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
Inhalt
11
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
Inhalt
§ 14 Prozessvoraussetzungen 196
I. Begriff 196
II. Einzelne wichtige Prozessvoraussetzungen 196
1. Zuweisung an bestimmte Gerichte 197
2. Umstände in der Person des Beschuldigten 197
3. Verfolgbarkeit der konkreten Sache 198
III. Prozessvoraussetzungen und Verfassungsrecht 201
1. Rechtswidriger Lockspitzeleinsatz 201
12
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
Inhalt
§ 15 Prozesshandlungen 206
I. Begriff 206
II. Wirksamkeitsvoraussetzungen 206
1. Allgemeines 206
2. Widerruflichkeit 207
3. Willensmängel 208
4. Form 209
III. Fristen 210
1. Begriffe 210
2. Folgen der Fristversäumung 210
3. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 210
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen 211
13
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
Inhalt
5. Fragerechte 229
6. Hinweis- und Fürsorgepflichten 230
7. Das Hauptverhandlungsprotokoll 231
8. Aussetzung und Unterbrechung der Hauptverhandlung 232
III. Rechtsbehelfe im Hauptverfahren 233
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen 233
§ 18 Verfahrensprinzipien 234
I. Grundsätze, die für das gesamte Erkenntnisverfahren gelten 234
1. Unschuldsvermutung 234
2. Beschleunigungsgrundsatz 235
3. Verhältnismäßigkeitsprinzip 236
4. Grundsatz des fairen Strafverfahrens 237
II. Grundsätze, die für Richterinnen und Richter im gesamten Strafverfahren
gelten 237
1. Richterliche Unabhängigkeit 237
2. Grundsatz des gesetzlichen Richters 239
3. Grundsatz des rechtlichen Gehörs 239
4. Grundsatz der gerichtlichen Fürsorge 240
III. Grundsätze, die nur in der Hauptverhandlung gelten 240
1. Konzentrationsmaxime 240
2. Öffentlichkeitsgrundsatz 241
3. Mündlichkeitsprinzip 241
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen 242
14
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
Inhalt
V. Untersuchungsgrundsatz 253
1. Inhalt 253
2. Umfang 254
VI. Beweisantragsrecht 254
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen 255
§ 21 Beweiserhebung 256
I. Allgemeines 256
1. Beweismittelarten 256
2. Streng- und Freibeweisverfahren 256
II. Der Zeugenbeweis 257
1. Begriff 257
2. Zeugnisfähigkeit 257
3. Beweisgegenstand 260
4. Pflichten des Zeugen 261
5. Beschränkungen der Zeugenpflichten bei staatlichen Personengruppen 262
6. Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte 262
7. Gang der Zeugenvernehmung 269
8. Zeugenschutz 270
III. Der Sachverständigenbeweis 271
1. Begriff des Sachverständigen 271
2. Abgrenzung zum sachverständigen Zeugen 272
3. Begriff der Tatsachen beim Sachverständigengutachten 272
4. Rechte und Pflichten des Sachverständigen 273
5. Ablehnung des Sachverständigen 274
6. Belehrungspflichten 275
7. Der Sachverständige in der Hauptverhandlung 275
IV. Der Urkundenbeweis 276
1. Begriff der Urkunde und des Urkundenbeweises 276
2. Zulässigkeit 276
3. Beweisführung 277
V. Der Augenscheinsbeweis 277
1. Begriff des Augenscheins 277
2. Abgrenzung zur Urkunde 277
3. Beweisführung 277
VI. Grundsätze der Beweiserhebung 278
1. Unmittelbarkeit 278
2. Öffentlichkeit und Mündlichkeit 282
3. Rechtliches Gehör 282
VII. Beweiserhebungsverbote 282
1. Beweisthemaverbote 283
2. Beweismittelverbote 283
3. Beweismethodenverbote 283
4. Relative Beweiserhebungsverbote 283
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen 284
15
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
Inhalt
§ 22 Beweisanträge 285
I. Beweisantragsrecht und gerichtliche Aufklärungspflicht 285
1. Unterschiedliche Anforderungen 285
2. Bedeutung des Beweisantragsrechts 285
II. Begriffe 286
1. Beweisantrag 286
2. Beweisermittlungsantrag 289
3. Beweisanregung 289
4. Beweiserbieten 290
5. Prozessual bedingte Beweisanträge, Hilfs- und Eventualbeweisanträge 290
III. Beweisantragsstellung 291
1. Antragsberechtigung 291
2. Form 292
3. Zeitpunkt 292
IV. Ablehnung von Beweisanträgen 292
1. Allgemeines 292
2. Nicht präsente Beweismittel 294
3. Präsente Beweismittel 299
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen 300
§ 23 Beweisverwertung 301
I. Beweisverwertungsverbote 301
1. Unselbständige Beweisverwertungsverbote 301
2. Selbständige Beweisverwertungsverbote 309
II. Beweiswürdigung 310
1. Gebundene und freie Beweiswürdigung 310
2. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung 310
3. Grundlage der Überzeugung 311
4. Grundlage der Überzeugungsbildung 312
III. In dubio pro reo 313
1. Der Grundsatz 313
2. Der Anwendungszeitpunkt 313
3. Der Anwendungsgegenstand 313
4. Die Anwendungsmethode 314
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen 315
16
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
Inhalt
17
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
Inhalt
§ 27 Vollstreckungsverfahren 359
I.Allgemeines 359
II.Zuständigkeit für die Strafvollstreckung 359
III.Voraussetzungen der Strafvollstreckung 359
IV. Vollstreckung von Geld- und Freiheitsstrafe 360
V. Aufgaben der Gerichte im Rahmen der Strafvollstreckung 360
1. Entscheidungen nach § 458 360
2. Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer 361
3. Zurückstellung der Strafvollstreckung 361
VI. Rechtsbehelfe 361
1. Gegen Entscheidungen des Rechtspflegers 361
2. Gegen Entscheidungen der StA 362
3. Gegen gerichtliche Entscheidungen 362
4. Gegen Entscheidungen des Generalstaatsanwalts 362
5. Dienstaufsichtsbeschwerde 362
VII. Register 362
1. Bundeszentralregister („Strafregister“) 362
2. Länderübergreifende staatsanwaltschaftliche Verfahrensregister 363
3. Fahreignungsregister 363
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen 363
4. Abschnitt: Rechtsbehelfe
§ 28 Grundlagen 364
I. Allgemeines 364
1. Formlose Rechtsbehelfe 364
2. Förmliche Rechtsbehelfe 364
II. Zulässigkeit eines Rechtsmittels 365
1. Zuständigkeit 365
2. Statthaftigkeit 366
3. Befugnis 366
4. Beschwer 368
5. Ordnungsgemäße Einlegung 369
18
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
Inhalt
6. Begründung 370
7. Verzicht, Rücknahme und Beschränkung 370
8. Rechtsmissbrauch und Verwirkung 371
III. Begründetheit eines Rechtsmittels 372
IV. Umfang der Anfechtung bei Berufung und Revision 372
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen 372
§ 30 Berufung 379
I. Zulässigkeit der Berufung 379
1. Statthaftigkeit 379
2. Berufungsberechtigung 379
3. Form und Frist der Berufungseinlegung 380
4. Annahmeberufung 381
5. Kein Rechtsmittelverzicht 381
6. Keine Rechtsmittelrücknahme 381
7. Folgen einer unzulässigen Berufung 381
II. Begründetheit der Berufung 381
1. Unzuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts 381
2. Anderes Ergebnis als die Vorinstanz 382
3. Folgen einer unbegründeten Berufung 382
III. Berufungsverfahren 382
1. Einlegung der Berufung 383
2. Berufungsbegründung 383
3. Vorprüfung (I) durch das AG 384
4. Vorprüfung (II) durch das Berufungsgericht 384
5. Vorbereitung der Berufungshauptverhandlung 384
6. Berufungshauptverhandlung 384
7. Ausbleiben des Angeklagten in der Hauptverhandlung 385
8. Berufungsentscheidung 385
IV. Rechtsmittel 386
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen 386
19
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
Inhalt
§ 31 Revision 387
I. Allgemeines 387
II. Zulässigkeit 387
1. Statthaftigkeit und Zuständigkeit 387
2. Wirksame Einlegung 388
3. Antrag und Begründung 389
4. Keine Rücknahme, kein Verzicht 390
III. Begründetheit 390
1. Gesetzesverletzungen 390
2. Verfahrenshindernisse 390
3. Verfahrensrügen (Grundlagen) 390
4. Verfahrensrügen (relative Revisionsgründe) 393
5. Verfahrensrügen (absolute Revisionsgründe) 395
6. Sachrügen 400
IV. Gerichtliche Entscheidungsmöglichkeiten 401
1. Beschluss 401
2. Urteil 402
V. Nebenklägerrevision 402
VI. Revisionserstreckung auf Mitverurteilte 403
VII. Bindungswirkung und Verschlechterungsverbot 403
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen 403
§ 32 Beschwerde 404
I. Allgemeines 404
II. Zulässigkeit der (einfachen) Beschwerde 404
1. Zuständigkeit 404
2. Statthaftigkeit 405
3. Beschwerdebefugnis 406
4. Form und Frist 407
III. Verfahren und Entscheidungen 407
1. Abhilfeverfahren 407
2. Vorlage 407
3. Entscheidung des Beschwerdegerichts 408
IV. Sofortige Beschwerde (§ 311) 408
V. Weitere Beschwerde (§ 310) 408
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen 409
§ 33 Wiederaufnahme 410
I. Allgemeines 410
II. Verfahren 411
1. Überblick 411
2. Zulässigkeitsprüfung 411
3. Begründetheitsprüfung 412
4. Anordnung der Wiederaufnahme 412
5. Erneute Hauptverhandlung 413
6. Neue Entscheidung 413
III. Wiederaufnahme bei Strafbefehlen (§ 373a) 414
20
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
Inhalt
Stichwortverzeichnis 443
21
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
§2
1 Das Fundament des Strafverfahrensrechts wird durch die Verfassung gelegt. Die we-
sentlichen Vorschriften zur Ausgestaltung des Strafverfahrens finden sich in der Straf-
prozessordnung (StPO) und im Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Diese Vorschriften
werden wiederum durch eine Vielzahl von Gesetzen und bundeseinheitlich geltenden
Verwaltungsvorschriften ergänzt.
I. Verfassungsrecht
2 Die wichtigsten Bestimmungen für das Strafverfahren finden sich im Grundgesetz,
nämlich:
n das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG,
n die Vorschriften über die Rechtsprechung, Art. 92 ff. GG, insbesondere
– der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)
– das Verbot der Doppelbestrafung (Art. 103 Abs. 3 GG)
– die Rechtsweggarantie bei Freiheitsentziehung (Art. 104 GG).
II. Bundesgesetze
3 Die Strafprozessordnung (StPO) vom 1. 2. 18771 und das Gerichtverfassungsgesetz
(GVG) vom 27. 1. 18772 traten – jeweils mit Einführungsgesetz – zusammen mit der
zugleich erlassenen Zivilprozessordnung (ZPO) und damaligen Konkursordnung (KO)
am 1. 10. 1879 in Kraft. Diese als „große Reichsjustizgesetze“ bezeichneten Gesetze
waren als einander ergänzende Teile einer gesamten gesetzlichen Ordnung justizförmi-
gen Verfahrens gedacht; so verweist etwa die StPO in §§ 37, 464b auf die ZPO.
4 Im Einführungsgesetz zum GVG (EGGVG) ist z.B. der Rechtsschutz gegen sog. Justiz-
verwaltungsakte3 geregelt (§§ 23 ff. EGGVG). Das Strafgesetzbuch (StGB) vom 15. 5.
18714 enthält in §§ 77 ff. StGB Regelungen über den Strafantrag, der seinem Wesen
nach Prozessvoraussetzung ist.5 Die Besonderheiten des Strafverfahrens gegen Jugend-
liche und Heranwachsende regelt das Jugendgerichtsgesetz (JGG) vom 4. 8. 19536.
5 Weitere die StPO und das GVG ergänzende Gesetze sind:
n das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (OWiG),
n die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
(EMRK, durch deutsches Zustimmungsgesetz seit 1952 im Range einfachen Bun-
desrechts),
n das Bundeszentralregistergesetz (BZRG),
36
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
37
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
§3
3 a) Ermittlungsverfahren (§§ 158 ff.): Das Erkenntnisverfahren beginnt mit dem Ermitt-
lungsverfahren (auch „Vorverfahren“ oder „vorbereitendes Verfahren“). Es wird ein-
geleitet aufgrund amtlicher Wahrnehmung durch die Strafverfolgungsbehörden, durch
Strafanzeigen oder durch Strafantrag. Die StA, die die „Herrin“ dieses Verfahrensab-
schnittes ist,5 prüft hier – i.d.R. unter Zuhilfenahme der Polizei bei der Aufklärung des
Sachverhalts –, ob „genügender Anlass“ zur Erhebung einer Anklage besteht. Ein sol-
cher hinreichender Tatverdacht ist gegeben, wenn nach vorläufiger Bewertung der Ak-
1 LR-Kühne Einl. Abschn. G Rn. 2, Roxin/Schünemann § 4 Rn. 2; Volk/Engländer § 4 Vor 1. Teils wird auch auf die-
se Zweiteilung verzichtet und eine Unterteilung in Ermittlungs-, Zwischen-, Haupt- und Vollstreckungsver-
fahren vorgenommen, vgl. z.B. HK-Gercke/Temming Einl. Rn. 82 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt Einl. Rn. 59; R/H-
Radtke Einl. Rn. 22 ff.; guter kurzer Überblick bei Kröpil JuS 2015, 213.
2 In der Praxis stellt der komplette Durchlauf dieser Verfahrensstadien allerdings eher die Ausnahme dar. Ein
Großteil der einfach gelagerten Fälle oder solche mit geringer Straferwartung werden im Wege besonderer
Verfahrensarten, welche die StPO – nicht zuletzt angesichts der knappen Ressourcen in der Justiz und zur
Beschleunigung der Verfahren – vorsieht, verkürzt abgewickelt (v.a. Strafbefehlsverfahren gem. §§ 407 ff.,
vereinfachtes Verfahren gem. §§ 417 ff., Privatklageverfahren gem. §§ 374 ff.).
3 So z.B. § 111b (Beschlagnahme von Gegenständen zur Sicherung der Einziehung oder deren Unbrauchbar-
machung), § 111e (Vermögensarrest zur Sicherung der Wertersatzeinziehung).
4 LR-Kühne Einl. Abschn. G Rn. 2.
5 HK-Gercke/Temming Einl. Rn. 82; Meyer-Goßner/Schmitt Einl. Rn. 60; R/H-Radtke Einl. Rn. 22. Eingehend zur
Stellung der StA im Ermittlungsverfahren Lilie ZStW 111 (1999), 807 ff.
38
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
tenlage die Verurteilung des Beschuldigten wahrscheinlicher ist als ein Freispruch.6 Ist
das aus Sicht der StA der Fall, erhebt sie öffentliche Klage beim zuständigen Gericht
(§ 170 Abs. 1). Anderenfalls – oder wenn unüberwindbare Verfahrenshindernisse be-
stehen – stellt sie das Verfahren ein (§ 170 Abs. 2). Daneben bestehen durch die
§§ 153 ff. weitere Möglichkeiten, das Ermittlungsverfahren aus Opportunitätsgesichts-
punkten (zumindest vorläufig) zu beenden.
Bereits im Ermittlungsverfahren ist die StA zur Objektivität verpflichtet, hat also alle 4
zur Belastung und Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln (§ 160 Abs. 2).
b) Zwischenverfahren (§§ 199 ff.): Hat die StA öffentliche Klage erhoben, so kommt es 5
mit dem Zeitpunkt des Eingangs dieser Klage bei Gericht zum Zwischenverfahren
(auch „Eröffnungsverfahren“)7. Hier nun prüft das Gericht – ohne die in einer späte-
ren Hauptverhandlung ggf. erforderliche Mitwirkung von Laienrichtern (Schöffen) –,
ob der von der StA behauptete hinreichende Tatverdacht besteht. Teilt es die Einschät-
zung der StA, lässt es die Anklage durch Erlass eines Eröffnungsbeschlusses zur Haupt-
verhandlung zu (§ 203). Anderenfalls lehnt es die Eröffnung der Hauptverhandlung ab
(§ 204).
Es ist also niemals die StA allein, welche die Entscheidung für oder gegen eine Haupt- 6
verhandlung zu fällen hat. Dem Zwischenverfahren kommt somit eine nicht zu unter-
schätzende Filterfunktion zu: Im Interesse der Angeschuldigten und zur Entlastung der
Gerichte vor unnötigen Hauptverhandlungen ermöglicht dieses Verfahren die Ableh-
nung der Verfahrenseröffnung.8
c) Hauptverfahren (§§ 212 ff.): Dieser Verfahrensabschnitt bildet das eigentliche Kern- 7
stück des Erkenntnisverfahrens. Es lässt sich wiederum aufteilen in Vorbereitung
(§§ 212–225a) und Durchführung (§§ 226–275) der Hauptverhandlung. Erstere be-
steht vornehmlich aus der Terminansetzung sowie der Ladung etwaiger Zeugen, Sach-
verständigen und des Angeklagten selbst. Der Begriff der „Hauptverhandlung“ steht
dabei nicht für nur eine einzige zeitlich-räumlich zusammenhängende Sitzung der Be-
teiligten; gerade in umfangreichenden Sachen kann sich die Hauptverhandlung aus
mehreren Einzelterminen zusammensetzen („Mehrtagesache“)9.
Während die vorangegangenen Verfahrensabschnitte der Stoffsammlung und der Vor- 8
klärung dienen, bildet die Hauptverhandlung die alleinige Grundlage der Entschei-
dungsfindung (§ 261). Sie ist es auch, die gem. § 169 GVG öffentlich stattzufinden hat.
Die Verhandlungsleitung obliegt den Vorsitzenden des Gerichts (§ 238). Der Ablauf ist
sehr formstreng und findet vor allem in den §§ 243, 244, 257, 258 und 260 eine ge-
naue Regelung: Aufruf der Sache; Verlesung der Anklageschrift durch die StA; Äuße-
rungsmöglichkeit des Angeklagten zur Sache; Beweiserhebung; Schlussvorträge („Plä-
doyers“) mit den Anträgen der StA und des Angeklagten (bzw. der Verteidigung). Stets
ist dem Angeklagten abschließend das letzte Wort zu gewähren (§ 258 Abs. 3).
Über den Gang der Verhandlung und die wesentlichen Ergebnisse ist gem. § 271 ein 9
Protokoll zu führen. Mit seiner Beweiskraft gem. § 274 dient dies v.a. als alleiniges Be-
39
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
§3 1. Abschnitt: Überblick
2. Das Vollstreckungsverfahren
40
https://www.nomos-shop.de/isbn/978-3-8487-7653-5
> Aus welchen zwei wesentlichen Teilen setzt sich das Strafverfahren zusammen? (Rn. 1)
> Welche Verfahrensstadien durchläuft ein (ordentliches) Erkenntnisverfahren? (Rn. 4 ff.)
> Was ist unter dem Vollstreckungsverfahren zu verstehen; in wessen Händen liegt es?
(Rn. 15 f.)
41