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o.Univ.-Prof. Dr.

Stephan Kirste

FB Sozial- und Wirtschaftswissenschaften


Rechts- und Sozialphilosophie

Einführung in die Rechtsphilosophie

Erste Stunde:
Was ist Rechtsphilosophie

Einführung S. 15-29
Theorie der Rechtsphilosophie

I. Was ist Rechtsphilosophie?


1. Der inhaltliche Begriff der Rechtsphilosophie
 Rechtsphilosophie hat es mit denjenigen Dingen zu
tun, die im Recht allgemeingültig sind, insbes. mit
der Gerechtigkeit.
Artikel 2 EUV (Vertrag über die Gründung einer Europäische Union)
„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der
Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die
Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die
Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Rudolf Stammler
Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, (1856-1938)
Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern
auszeichnet“.

 Einwand:
 Jeder, der einen Rechtstext anwendet, in dem
„Gerechtigkeit“ vorkommt, wäre Rechtsphilosoph.

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Theorie der Rechtsphilosophie

I. Was ist Rechtsphilosophie?


1. Die inhaltliche Bestimmung der Rechtsphilosophie
„any judge’s opinion is itself a piece of legal philosophy,
even when the philosophy is hidden and the visible
argument is dominated by citation and lists of facts“
Dworkin 1986, S. 90

 These:
• Jeder Richter betreibt Rechtsphilosophie
 Einwand:
• Rechtsphilosophie wäre dann gleichbedeutend mit Ronald Dworkin
Rechtsdogmatik und Rechtspraxis. Das wiederum (1931-2013)
bedeutet entweder:
o Die Argumente der Rechtsphilosophie beschränken
sich auf das positive Recht oder
o jeder Rechtsanwender ist Rechtsphilosoph.
o Beide Annahmen ergeben aber keinen Sinn, weil sie
der Besonderheit der Rechtsphilosophie nicht gerecht
16.11.2021 werden. 3 von 20
Theorie der Rechtsphilosophie

I. Was ist Rechtsphilosophie?


1. Zusammenfassung zu der inhaltlichen
Bestimmung
 Was Rechtsphilosophie ist, kann nicht nur inhaltlich
bestimmt werden, weil
• der Katalog derjenigen Fragen, die inhaltlich zur
Rechtsphilosophie gehören sollen (vgl. die Übersicht in der
letzten Stunde, Follie 3), nicht abgeschlossen werden kann;
• es verschiedene Grundlagen des Rechts gibt, die nicht alle
philosophisch sind;
• Gerechtigkeit nicht nur in der Rechtsphilosophie, sondern
auch in der Rechtspraxis eine Rolle spielt;
• sich die Art und Weise, wie praktische Juristen,
Rechtswissenschaftler und Rechtsphilosophen sich mit
Gerechtigkeit beschäftigen, von einander unterscheidet.
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Theorie der Rechtsphilosophie

I. Was ist Rechtsphilosophie?


2. Die formale Bestimmung der Rechtsphilosophie
 So, wie die Frage nach dem Schiff des Theseus je
nach dem auf die Form oder die Materie (die
Schiffsbretter) abgestellt wird, anders beantwortet
wird, wird auch die Frage nach der Rechtsphilosophie
unterschiedlich beantwortet, wenn man auf die Form
oder die Materie abstellt.
 Die Frage „Was ist die Rechtsphilosophie“ ist aber die
Frage nach der Form, die allen rechtsphilosophischen
Fragen (Materie) zugrunde liegt.
 Sie wird durch den Begriff der Rechtsphilosophie
beantwortet.

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Theorie der Rechtsphilosophie

II. Rechtsphilosophie als Philosophie


1. Philosophie als Reflexion
 Die theoretische Funktion der Philosophie
 Immanuel Kant über Erkenntnis:
„Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so
entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung“,
Kant: Kritik der reinen Vernunft, B1, S. 45
 Die Erfahrung gibt lauter Einzeleindrücke, die wir mittels Immanuel Kant
der formbildenden Begriffe zu Wahrnehmungen und (1724-1804)
Erkenntnissen zusammensetzen.
 Erkenntnis besteht also aus der Verbindung von
Wahrnehmung und Denken.
 Die Philosophie reflektiert dies und bringt uns zum
Bewusstsein, was wir sowieso tun.
 Aufgrund dieses Bewusstseins können wir dies aber
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kritisieren und ggf. ändern.
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II. Rechtsphilosophie als Philosophie


1. Philosophie als Reflexion
„… wir wollen sagen, die Philosophen räsonieren“. Philosoph: „Folglich
werden diejenigen, welche zu räsonieren vermögen, auch philosophieren,
und da alle Menschen, sammt und sonders sich des ersteren rühmen, so Platon
werden auch alle Menschen Philosophen seyn“. Platon 428-347 v. Chr.

„alle Menschen haben eine Philosophie, ob sie es wissen oder nicht. Zugegeben, daß
diese unsere Philosophien allesamt nicht viel wert sind. Aber ihr Einfluß auf unser
Denken und Handeln ist oft geradezu verheerend. Damit wird es notwendig, unsere
Philosophien kritisch zu untersuchen. Das ist die Aufgabe der Philosophie…“
Logik der Forschung, S. XXV

 Alle Menschen haben eine „Philosophie“;


 Philosophie richtet sich nicht (nur) auf äußere Karl R. Popper
Erfahrung, sondern auf auch innere wie etwa (1902 [Wien] -1994)
Vorstellungen;
16.11.2021  Diese prüft sie kritisch. 7 von 20
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II. Rechtsphilosophie als Philosophie


1. Philosophie als Reflexion
 Die ethisch-praktische Funktion der Philosophie
 Immanuel Kant über Freiheit der Erkenntnis:
„Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsoniert nicht
[denkt nicht nach, S.K.]! Der Offizier sagt: räsoniert nicht,
sondern exerziert! Der Finanzrat: räsoniert nicht, sondern
bezahlt! Der Geistliche: räsoniert nicht, sondern glaubt! …
Hier ist überall Einschränkung der Freiheit. Welche Einschrän-
kung aber ist der Aufklärung hinderlich? welche nicht, sondern
ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: der öffentliche
Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der
allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen…“
Immanuel Kant
Kant: Was ist Aufklärung, S. 55 1724-1804

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II. Rechtsphilosophie als Philosophie


1. Philosophie als Reflexion
 Immanuel Kant über Freiheit der Erkenntnis
• Die genannten Berufe müssen sich innerhalb ihrer rechtlichen
Grenzen aufhalten und dürfen sie zumeist nicht hinterfragen.
• Dieses Hinterfragen ist aber genau die Aufgabe der Philosophie.
• Der öffentliche Vernunftgebrauch ist im Gegensatz zum
heimlichen oder privaten einer, der sich ans „Licht der
Öffentlichkeit“ traut, also ein transparenter Diskurs. Immanuel Kant
1724-1804
• Er verschafft Aufklärung über das eigene Handeln.
• Er gibt Gründe an, warum man Befehlen gehorchen soll – oder
die Begründung mißlingt und das ergibt ggf. einen Grund, den
Befehl zu verweigern.
• Man weiß, was man tut und ist insofern nicht fremdbestimmt und
damit frei.
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II. Rechtsphilosophie als Philosophie


1. Philosophie als Reflexion
 Der Begriff der Philosophie
• Philosophie ist die selbstkritische Wissenschaft.
• Wissenschaft ist sie, weil sie methodengeleitete
Erkenntnis sucht.
• Kritisch ist sie, weil sie alles, auch das Denken
selbst zum Gegenstand ihrer Erkenntnis machen
kann.
• Sie ist also Denken des Denkens (Reflexion).
• In den besonderen Philosophien wird über das
Denken in den Wissenschaften nachgedacht.

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II. Rechtsphilosophie als Philosophie


1. Philosophie als Reflexion
 Der Begriff der Philosophie
• Sie ist also Denken des Denkens (Reflexion).
„Das Denken an sich aber geht auf das an sich
Beste, das höchste Denken auf das Höchste. Sich
selbst denkt die Vernunft in Ergreifung des Denkba-
ren; denn denkbar wird sie selbst, den Gegenstand
berührend und denkend, so daß Vernunft und
Gedachtes dasselbe ist“. Aristoteles
Aristoteles, Metaphysik, 1072b 384-322 v. Chr.

• Das Denken kann sich also auf sich selbst richten.


• Ich kann nicht nicht denken. Das Denken ist also
performativ.
• Da ich in diesem Sinn nur selbst denken kann, ist
mein Denken ein Beweis meiner selbst und
René Descartes
16.11.2021 meiner Freiheit. 11 von 20
1596-1650
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Rechtsphilosophie als Philosophie


1. Philosophie als Reflexion
 Der Begriff der Philosophie
• Philosophie abstrahiert von der gewohnten Wirklichkeit
„Der Entschluß zu philosophieren wirft sich rein in Denken (- das Denken ist einsam bei
sich selbst), - er wirft sich wie in einen uferlosen Ozean; alle die bunten Farben, alle
Stützpunkte sind verschwunden, alle sonstigen freundlichen Lichter sind ausgelöscht. Georg Wilhelm Friedrich
Nur der eine Stern, der innere Stern des Geistes leuchtet; er ist der Polarstern. Aber es Hegel
ist natürlich, daß den Geist in seinem Alleinsein mit sich gleichsam ein Grauen befällt … 1770-1831
Unter dem, was verschwunden ist, befindet sich vieles, was man um allen Preis der Welt
nicht aufgeben wollte, und in dieser Einsamkeit aber hat es sich noch nicht
wiederhergestellt, und man ist ungewiß, ob es sich wiederfinde, wiedergeben werde.“
Hegel-Werke. Bd. 10, S. 399 ff.

„Ich habe damals ziemlich ohne Netz arbeiten müssen in einer konkreten Situation weitgehend
fehlender Hilfsmittel, ohne doppelten Boden… Es kam darauf an, tatsächlich erst mal Faden zu
schlagen, ein paar Schneisen anzulegen, ein paar Rollbahnen zu ziehen: Dort geht’s lang, Freunde,
dort geht’s lang!... Man muss freilich an einen Blindflug denken, ein Peilstrich war kaum vorhanden,
Funkfeuer sehr, sehr weit. Bis zu Kant mußte man zum Teil schauen können, und der Kompaß, den Günther Dürig
man bei sich hatte, den hat man sich selber gebastelt“. Dürig 1987, S. 95.
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5. Zusammenfassung
 Vorteile und Leistungen der Rechtsphilosophie:
• Befreiung
„Im Grunde weiß jeder Mensch recht wohl, daß er nur einmal, als ein Unikum, auf der
Welt ist und daß kein noch so seltsamer Zufall zum zweitenmal ein so wunderlich Friedrich Nietzsche
buntes Mancherlei zum Einerlei, wie er es ist, zusammenschütteln wird… Die Künstler (1844-1900)
… wagen es, uns den Menschen zu zeigen, wie er bis in jede Muskelbewegung er
selbst, er allein ist, noch mehr, daß er in dieser strengen Konsequenz seiner Einzigkeit
schön und betrachtenswert ist, neu und unglaublich wie jedes Werk der Natur und
durchaus nicht langweilig… Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht
nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein; er folge seinem Gewissen, welches ihm
zuruft: ‚sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, begehrst.‘ …
‚Seht euch vor‘, sagt Emerson, ‚wenn der große Gott einen Denker auf unsern Planeten
kommen läßt. Alles ist dann in Gefahr‘“… Deshalb wäre es besser, die Philosophen
„beweisen selbst durch die Tat, daß die Liebe zur Wahrheit etwas Furchtbares und
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Gewaltiges ist“.
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2. Begriff der Rechtsphilosophie
• Rechtsphilosophie ist Reflexion des Rechts: Sie denkt über
das juristische Denken nach.

• Rechtsphilosophie ist abstrakt, weil sie keine juristischen


Fälle entscheidet, sondern die wertungsmäßigen
Grundlagen für diese Entscheidungen erforscht.

• Sie führt zu einem Selbstbewußtsein des Juristen von


seinem Tun.

• Sie hat befreiende Wirkung.

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3. Die Reflexion der Philosophie richtet sich auf:
„Was ist der Mensch?“
Logik, Akademieausgabe IX, S. 25.
„Alles Interesse meiner Vernunft (das spekulative sowohl, als das
praktische) vereinigt sich in folgenden drei Fragen:
1. Was kann ich wissen?
2. Was soll ich tun?
3. Was darf ich hoffen?“ Immanuel Kant
Kritik der reinen Vernunft. Kant-Werke Bd. 4, S. 677. (1724-1804)

 Philosophie gliedert sich also in:


• Theoretische Philosophie, insbes. Erkenntnistheorie
• Praktische Philosophie (Moral-, politische, Rechtsphilosophie)
• Philosophie der Religion
16.11.2021 • Philosophische Anthropologie 14 von 20
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4. Rechtsphilosophie und Rechtsethik
 Manche Rechtsphilosophen meinen, Rechtsphilosophie sei
nur Rechtsethik
 Einwand:
• Juristen haben es nicht mit der Gerechtigkeit schlechthin oder
einer theologischen oder moralischen Gerechtigkeit zu tun,
sondern mit rechtlicher Gerechtigkeit.

• Also muß es eine Wissenschaft geben, die über die rechtliche


Form nachdenkt: Das ist die Rechtstheorie.

• Und es muß eine Wissenschaft geben, die über Gerechtigkeit


in dieser rechtlichen Form nachdenkt: Das ist die Rechtsethik.

• Also ist Rechtsphilosophie nicht nur Rechtsethik.


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5. Zusammenfassung
 Rechtsphilosophie ist die selbstkritische
Wissenschaft vom juristischen Denken.
 Sie gliedert sich in:
• die Theorie der Rechtsphilosophie
• die Theorie der Rechtswissenschaft
Dies ist die Wissenschaft von den formalen
Strukturen des juristischen Denkens.
• die Rechtstheorie
Dies ist die Wissenschaft vom Begriff oder
der Struktur des Rechts.
• die Rechtsethik
Dies ist die Wissenschaft von der
Gerechtigkeit des Rechts.
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5. Zusammenfassung
 Vorteile und Leistungen der Rechtsphilosophie:
• Kritische Funktion: Aufdeckung und Vermeidung von
Vorurteilen
• Kontinuität in Zeiten des Umbruchs
• Brückenfunktion
Rechtsphilosophie bereitet philosophische Erkenntnisse
so auf, daß sie in der Rechtswissenschaft und
rechtswissenschaftliche Kenntnisse so, daß sie in der
Philosophie verwendet werden können..
• Systematisierung des Denkens

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Was ist Rechtsphilosophie?


Fragen:
• Kann man sagen, was Rechtsphilosophie ist, wenn man die
Themen auflistet, mit denen sie sich beschäftigt?
• Welches sind die hauptsächlichen Fragen der
Rechtsphilosophie?
• Stimmt es, dass sich Rechtsphilosophie mit den Grundlagen
des Rechts beschäftigt?

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Rechtsphilosophie als Philosophie


Fragen
 Wenn man die Frage „Was ist Rechtsphilosophie?“
formal stellt, wonach fragt man dann eigentlich?
 Was ist der Vorteil der Bestimmung der
Rechtsphilosophie durch ihre Form?
 Was ist Philosophie?
 Was sind ihre Grundprobleme?
 Was können die erwünschten Ergebnisse von
Philosophie sein? Wozu kann sie führen?
 Ist Rechtsphilosophie nur Rechtstheorie?
 Ist Rechtsphilosophie nur Rechtsethik?

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