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4/2009 Juristische Schulung

Zeitschrift für Studium und Referendariat


Herausgeber Präsident des LG Professor Dr. Michael Huber
Professor Dr. Stephan Lorenz, Mitglied des BayVerfGH
Professor Dr. Thomas Rönnau
Vizepräsident des BVerfG Professor Dr. Andreas Voßkuhle 49. Jahrgang
April2009 · Heft 4
Gründungsherausgeber Rechtsanwalt Dr. Dr. Heinrich Götz
Professor Dr. Dr. Gerhard Lüke
Schriftleitung Dr. Georg Neureither
Rechtsanwalt Dr. David Herhold www.jus.beck.de

Aufsätze

Professor Dr. Georg Bitter und Wiss. Mitarbeiter Rechtsanwalt Ti Iman Rauhut, Mannheim

Grundzüge zivilrechtlicher Methodik- Schlüssel zu einer gelungenen


Fallbearbeitung*
Subsumtion, teleologische Reduktion, Erst-recht-Schluss- als schriften abhängig (D). Dabei bedienen sich Rechtsprechung
wäre die bloße Kenntnis des Gesetzestextes nicht schon Her- und Lehre einiger typischer Schlussformen (E). Mit einem
ausforderung genug. Systematische Auslegung, Regelungs- Blick auf Grund und Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung
lücke, Rechtsfortbildung - allesamt Begriffe aus der juris- endet der Beitrag (F).
tischen Methodenlehre, vor die sich schon Anfänger im Jura-
studium gestellt sehen und die zum Kern der juristischen
Arbeit hinführen: der oftmals schwierigen Rechtsfindung. B. Was ist, wozu dient "Methodik"?
Methodische Kenntnisse sind für den Erfolg im Studium so
unerlässlich wie im späteren Beruf. Sie garantieren verwert- Methodik ist die Gesamtheit der in einer Fachwissenschaft
bare Ergebnisse und geben Sicherheit auch bei unbekannten angewandten Methoden. Der Begriff "Methode" geht auf das
Fällen. Der folgende Beitrag soll angehenden Juristinnen griechische Wort mf:thodos (das Nachgehen, das Verfolgen)
und Juristen den Zugang zur juristischen Methodik anhand zurück und bezeichnet ein planmäßiges Verfahren zum Ge-
von Beispielen aus dem Zivilrecht erleichtern. winnen von Erkenntnissen. Dieses Verfahren kann je nach
Fachgebiet ganz unterschiedlich ausgestaltet sein. Es ist der
Gegenstand der jeweiligen Wissenschaft, der die Methode
A. Einführung bestimmt- in unserem Fall also: das Zivilrecht.

In der juristischen Methodenlehre geht es nicht um das Lösen


von einzelnen Rechtsproblemen oder Fällen, sondern darum, I. Was ist (Zivii-)Recht?
sich der Grundlagen und Bedingungen ehendieses juristischen
Tuns zu vergewissern. Die Methodenlehre stellt das Rüstzeug Wer vor die schwierige Frage nach dem Wesen des Rechts
bereit, um auf juristische Fragen verwertbare Antworten zu gestellt ist, kann sich zunächst einen Augenblick Luft ver-
finden. Diese Fähigkeit, nicht die bloße Kenntnis des Gesetzes schaffen, indem er auf die sichtbarste Erscheinung des Rechts
und einiger Urteile, zeichnet einen Juristen aus. verweist: die Gesamtheit der Normen eines Gemeinwesens.
Recht ist, was im Gesetz steht. Man bezeichnet diese Gesamt-
Wie er aussieht, der richtige Weg zur Rechtsfindung, darüber heit der Normen2 auch als das "positive" Recht, weil es von
gehen die Vorstellungen in der Methodenlehre zum Teil er- Menschen gemacht, von ihnen (lat.:) "gesetzt" ist. Recht ist
heblich auseinander. Das soilte Studierende nicht schrecken: also zunächst einmal menschliche Verhaltensregelung.
Sie dürfen sich zur Vorbereitung auf das Examen auf die
weitgehend anerkannten Methoden der Rechtsfindung be- * Der Autor Bitter ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Bank-
schränken. Darum bemüht sich auch dieser Beitrag. Zur Ver- und Kapitalmarktrecht, Insolvenzrecht an der Universität Mannheim. Der
tiefung stehen kleinere und große Werke mit ganz unter- Autor Rauhut ist dort als Wiss. Mitarbeiter tätig. - §§ ohne Gesetzesbezeich-
schiedlichen theoretischen Ansätzen bereit 1 . nung sind solche des BGB.
Rüthers, Rechtstheorie, 4. Auf!. (2008); Larenz/Canaris, Methodenlehre der
Eine Darstellung der "Grundzüge zivilrechtlicher Methodik" Rechtswissenschaft, 3. Auf!. (1995); Zippelius, Jurist. Methodenlehre,
10. Auf!. (2006); Engisch, Einf. in das jurist. Denken, 10. Auf!. (2005); Paw-
legt zunächst ein Wort zum Wesen und Gegenstand der zivil- lowski, Methodenlehre f. Juristen, 3. Auf!. (1999); Bydlinski, Jurist. Metho-
rechtlichen Methodik nahe (B). Beschrieben wird sodann der denlehre u. Rechtsbegriff, 2. Auf!. (1991); Kramer, Jurist. Methodenlehre,
Vorgang der Rechtsfindung aus abstrakten Rechtssätzen, ins- 2. Anfl. (2005); Esser, Vorverständnis u. Methodenwahl in d. Rechtsfindung,
besondere der Kern der juristischen Arbeit: die Subsumtion 2. Auf!. (1972).
2 Der Begriff der "Norm" ist Synonym für einen Rechtssatz. Der Jurist sagt
(C). Diese ist häufig und immer dann, wenn die Parteien um dazu auch: Regelung, Regel, Vorschrift, Anordnung, Gesetz und natürlich
Rechtsfragen streiten, von der Auslegung gesetzlicher Vor- ganz konkret Paragraf bzw. Artikel.
290 JuS 4/2009 Bitter/Rauhut: Grundzüge zivilrechtlicher Methodik- Schlüssel zu einer gelungenen Fallbearbeitung

Sodann, auf einer nächsten Stufe, ist Recht verwirklichte Ver- Beteiligten berechenbar macht. Und schließlich kann der Un-
haltensregelung. Davon sprechen wir, wenn wir sagen, je- terlegene nur, wenn die Rechtsfindung verbindlichen Regeln
mand habe "Recht bekommen". Unsere selbstgeschaffene folgt, den Entscheidungsgründen entnehmen, dass das Ergeb-
Rechtsordnung bliebe ohne Wert, wenn sie nicht auch die nis nicht auf sachwidrigen (z. B. gegen seine Person gerichte-
Mittel bereitstellen würde, die geschaffenen Regeln anzuwen- ten) Kriterien beruht. So bietet die Methodik auch Schutz vor
den und durchzusetzen: ein sprichwörtlicher Tiger ohne Zäh- staatlichem Rechtsmissbrauch und erscheint als Ausdruck des
ne. Rechtsstaatsprinzips und des Willkürverbots (Art. 20 III,
28 I, 3 I GG).
Schließlich und vor allem aber geht es im Recht um die
Lösung von Gerechtigkeitsfragen. "Das geschieht dir recht!"
rufen schon unsere Kleinsten, ohne vom BGB oder vom C. Der Vorgang der Rechtsfindung
Grundgesetz auch nur gehört zu haben. Dass das positive Die Rechtsfindung geschieht in vier Schritten:
Recht oder eine darauf gründende Entscheidung nicht immer
von allen als gerecht empfunden wird, bleibt unvermeidlich. - Als Erstes ist der Sachverhalt, also das konkrete tatsäch-
Es ist jedoch die große Errungenschaft des demokratischen liche Geschehen zu ermitteln. In der universitären Ausbil-
Rechtsstaats (Art. 20 I, 28 I GG), dass die Gesetze das Ge- dung bleibt den Studierenden dieser Schritt erspart, weil
rechtigkeitsempfinden der Mehrheit des Volkes spiegeln und der rechtlich zu würdigende Sachverhalt vorgegeben wird.
dass Entscheidungen allein nach Maßgabe dieser Gesetze und Schon im Referendariat und noch mehr in der späteren
nicht nach dem Gutdünken Einzelner ergehen (Art. 20 III Praxis geht es hingegen überwiegend um streitige Tatsa-
GG). chen. .
- Als Zweites gilt es, die möglicherweise einschlägige
Innerhalb der Rechtsordnung trägt das Zivilrecht die Auf- Rechtsnorm zu finden, also diejenige Vorschrift, die für
gabe, die Rechtsverhältnisse der Bürger untereinander zu re- die Rechtsfindung bedeutsam sein kann. Dabei sind sämt-
geln. Seine wesentliche Aufgabe besteht darin, private Güter liche Vorschriften heranzuziehen, die möglicherweise die
richtig zu verteilen und einen Ausgleich zwischen den wider- Entscheidung beeinflussen, auch wenn sich später bei
streitenden Interessen der Privatleute herbeizuführen. Das näherer Prüfung herausstellt, dass sie nicht einschlägig
Zivilrecht ist deshalb eine Friedensordnung. Dementspre- sind.
chend hat im Zivilprozess das Gericht ia jeder Lage des Ver- - Als Drittes folgt der Abgleich des konkreten Geschehens
fahrens darauf hinzuwirken, dass die Parteien ihren Streit mit dem abstrakten Inhalt der gefundenen Norm. Der
gütlich beilegen(§ 278 I ZPO). Rechtsanwender prüft, ob der Sachverhalt von der ge-
setzlichen Regelung erfasst wird. Diesen Vorgang nennt
II. Wozu Methodik im (Zivii-)Recht? man Subsumtion (näher u. C III). An ihr entzünden sich
die meisten Rechtsfragen, weil der Vergleich des Konkre-
Der Weg vom Gesetzestext zu einer den Zwecken des Zivil- ten mit dem Abstrakten häufig erhebliche Probleme auf-
rechts dienenden Entscheidung ist weiter, als vor allem An- wirft.
fänger im Jurastudium sich das bisweilen vorstellen. Die Zi- - Als Viertes schließlich lässt sich nach erfolgter Subsumtion
vilgesetze enthalten - wie das gesamte deutsche Recht - ab- eine Schlussfolgerung für den konkreten Fall ziehen und
strakte Regeln. Man liest im Gesetz nichts darüber, ob A von eine Entscheidung aussprechen. Dieser Schritt bereitet im
B die Kosten für die Reparatur seines Fahrrads ersetzt ver- Gegensatz zur Subsumtion keine Schwierigkeiten, denn
langen kann, wenn B ihn auf der Kreuzung angefahren hat. ihm liegt ein simpler logischer Schluss (Syllogismus) zu
Stattdessen findet man im Gesetz Vorschriften darüber, wann Grunde: Wenn der Sachverhalt von der Norm erfasst ist,
jemandem wegen der Verletzung seines Eigentums ein Scha- dann tritt die von ihr angeordnete Folge ein (z. B. eine
densersatzanspruch gegen den Schädiger zusteht (§ 823 I) Schadensersatzpflicht).
und in welcher Form und in welchem Umfang der Schadens-
ersatz zu leisten ist(§§ 249 ff.). Die Richtigkeit einer Entscheidung hängt davon ab, dass die
Ob nun A von B die Reparaturkosten ersetzt bekommt, ent- aus den ersten drei Schritten gewonnenen Prämissen richtig
scheidet der Rechtsanwender, indem er den Lebenssachver- gesetzt sind. Nur dann führt der logische Schluss in Schritt
halt, also das, was konkret geschehen ist (kurz: Sachverhalt), vier zum insgesamt richtigen Ergebnis: Wer den Sachverhalt
darauf überprüft, ob das Geschehen den abstrakten Regeln unvollständig ermittelt, der erklärt womöglich eine Norm für
unterfällt. Damit diese Entscheidung sowie die sie begründen- nicht einschlägig, obwohl sie es hinsichtlich des wahren Ge-
den gesetzlichen Vorschriften ihre friedensstiftende Wirkung schehens eigentlich wäre. Wer eine entscheidungserhebliche
entfalten und Befolgung verlangen können, müssen sie von Rechtsnorm übersieht, hält ein bestimmtes Verhalten mangels
den Rechtsunterworfenen als richtig und gerecht empfunden anderer einschlägiger Vorschriften womöglich für folgenlos,
werden. Dazu leistet eine methodisch richtige Entscheidung obwohl es in Wahrheit sanktioniert ist. Und wer den richtig
einen erheblichen Beitrag: ermittelten Sachverhalt fehlerhaft unter eine Regelung sub-
sumiert, die diesen Fall nicht erfasst, ordnet im Ergebnis
Erst ein methodisches Vorgehen macht die Entscheidung be- Folgen an, die den Rechtsunterworfenen - jedenfalls mso-
gründbar und damit nachvollziehbar. Vor allem der im Pro- weit - ohne Grund treffen.
zess Unterlegene soll verstehen können, warum sich seine
Rechtsauffassung nicht hat durchsetzen können (vgl. § 313 I
I. Der Aufbau des typischen Rechtssatzes
Nr. 6, III ZPO). Die Methodik dient insoweit der Legitima-
tion von Entscheidungen gegenüber den Rechtsunterworfe- Weil das Gesetz bestimmte Vorkommnisse bestimmten Re-
nen. Zudem verhindern die Regeln der Methodik eine bloße geln unterwerfen will, enthält es typischerweise eine Beschrei-
Entscheidung nach dem Gerechtigkeitssinn des Rechtsanwen- bung dieser Tatsachen (Tatbestand) sowie die daran ge-
ders. Sie erlauben damit eine Selbstkontrolle der Entschei- knüpfte rechtliche Folge (Rechtsfolge). Der Tatbestand ent-
dungsträger. Eine einheitliche Methode schafft auch Rechts- hält die Bedingung dafür, dass die in der Norm angeordnete
sicherheit, weil sie das Ergebnis eines Rechtsstreits für die Rechtsfolge ausgelöst wird. Der typische Rechtssatz setzt sich
Bitter!Rauhut: Grundzüge zivilrechtlicher Methodik- Schlüssel zu einer gelungenen Fallbearbeitung JuS 4/2009 291

somit aus einem Konditionalsatz mit den Tatbestandsvoraus- beweisen, was ihnen günstig ist. In einigen Fällen erleichtert
setzungen ("Wenn ... ") und einem Hauptsatz mit der Rechts- das Gesetz den nötigen Nachweis, indem es eine Vermutung
folge ("dann ... ") zusammen. Allerdings formuliert das Ge- für das aufstellt, was eigentlich darzulegen und zu beweisen
setz dieses Konditionalgefüge in den meisten Fällen weniger wäre.
schematisch, so dass der Rechtsanwender zunächst Tat- Beispiel 5: Wer einen anderen gern. § 823 I auf Schadensersatz wegen
bestand und Rechtsfolge herauslesen muss. der Beschädigung einer beweglichen Sache in Anspruch nimmt, muss
Beispiel 1: § 117 I lautet: "Wird eine Willenserklärung, die einem ande- eigentlich darlegen und beweisen, dass ihm die Sache gehört. Weil aber
ren gegenüber abzugeben ist, mit dessen Einverständnis nur zum Schein nach § 1006 I 1 zu Gunsten des Besitzers einer beweglichen Sache ver-
abgegeben, so ist sie nichtig". Wer sich durch den eingeschobenen Rela- mutet wird, dass er Eigentümer der Sache sei, genügt dem Geschädigten
tivsatz nicht verwirren lässt, erkennt schnell: Wenn eine gegenüber der wesentlich leichter zu erbringende Nachweis, dass er der Besitzer ist.
einem anderen abzugebende Willenserklärung mit dessen Einverständnis
nur zum Schein abgegeben wird(= Tatbestand), dann ist diese Erklärung
Vermutungen können widerleglieh oder unwiderleglich sein.
nichtig (= Rechtsfolge). Der Tatbestand umfasst hier wohlgemerkt vier Bei widerlegliehen Vermutungen steht dem Gegner der Nach-
Voraussetzungen: 1. eine Willenserklärung, die 2. einem anderen gegen- weis offen, dass das, was das Gesetz vermutet, in Wahrheit
über abzugeben, also empfangsbedürftig ist und die 3. nur zum Schein nicht so ist. Eine unwiderlegliche Vermutung ist hingegen
abgegeben wurde, womit 4. der andere einverstanden war. dem Gegenbeweis unzugänglich.
Beispiel 2: § 138 I bestimmt: "Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Beispiel 6: Eine überaus wichtige widerlegliehe Vermutung enthält
Sitten verstößt, ist nichtig". Hier ist das Konditionalgefüge stilistisch gut § 280 I: Zu Gunsten des Gläubigers unterstellt das Gesetz - unaus-
versteckt. Das Gesetz sagt uns mit bewusst deklaratorischem Ton: Wenn gesprochen! - in Satz 1, dass der Schuldner die Pflichtverletzung zu
ein Rechtsgeschäft gegen die guten Sitten verstößt (= Tatbestand), dann vertreten hat, und zwar solange er nicht zu seiner Entlastung das Gegen-
ist es nichtig(= Rechtsfolge). teil beweist (Satz 2).

Weil es im Zivilrecht um die Verteilung von privaten Gütern Beispiel 7: Da § 1566 II unwiderleglich vermutet, dass die Ehe geschei-
und um den Ausgleich widerstreitender privater Interessen tert ist, wenn die Ehegatten seit drei Jahren getrennt leben, kommt es im
Scheidungsprozess nicht mehr darauf an, ob einer der Ehegatten das
geht, kommt so genannten Anspruchsgrundlagen eine ganz Scheitern bestreitet und sogar Beweise dagegen liefern kann.
besondere Bedeutung zu. Anspruchsgrundlagen sind typische
Rechtssätze, die als Rechtsfolge einer Person das Recht ein- 3. Fiktionen
räumen, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu
verlangen (vgl. § 194 I). Freilich gibt sich das Gesetz auch bei Auch die gesetzliche Fiktion enthält eine Unterstellung. Im
der Formulierung der Anspruchsgrundlagen nicht unnötig Gegensatz zur Vermutung kann das, was fingiert wird, je-
streng. doch in Wahrheit niemals der Fall sein. Gesetzliche Fiktio-
Beispiel 3: § 433 I 1 stellt fest: "Durch den Kaufvertrag wird der Ver- nen sind unwiderleglich, weil ihr Zweck ja gerade darin
käufer einer Sache verpflichtet, dem Käufer die Sache zu übergeben und besteht, zu unterstellen, was nicht der Fall ist. Der Unter-
das Eigentum an der Sache zu verschaffen". Weil diese Anspruchsgrund- schied zur unwiderleglichen Vermutung liegt darin, dass das
lage nur eine Voraussetzung hat, nämlich einen (wirksamen) Kaufver- Vermutete tatsächlich gegeben sein kann, das Fingierte aber
trag, spart sich das Gesetz die umständliche Formulierung: Wenn zwi- nicht.
schen zwei Personen ein wirksamer Kaufvertrag besteht(= Tatbestand),
dann kann der Käufer vom Verkäufer verlangen, dass dieser ihm die Beispiel 8: In § 892 I 1 liest man: "Zu Gunsten desjenigen, welcher ein
Sache übergibt und das Eigentum an der Sache verschafft (= Rechts- Recht an einem Grundstück ... erwirbt, gilt der Inhalt des Grundbuchs
folge). als richtig, es sei denn, dass ... die Unrichtigkeit dem Erwerber bekannt
ist". Die Vorschrift setzt voraus, dass der Inhalt des Grundbuchs unrich-
Beispiel 4: In § 433 li heißt es weiter: "Der Käufer ist verpflichtet, dem tig ist und erklärt diesen Inhalt gleichwohl zu Gunsten des gutgläubigen
Verkäufer den vereinbarten Kaufpreis zu zahlen und die gekaufte Sache Erwerbers für richtig.
abzunehmen" (= Rechtsfolge). Hier fasst sich das Gesetz noch kürzer
und verzichtet sogar darauf, die Voraussetzung dieses Anspruchs zu 4. Verweisungen
benennen. Sie ergibt sich selbstverständlich aus Absatz 1 Satz 1: ein
(wirksamer) Kaufvertrag. Verweisungen im Gesetz vermeiden platzraubende Wieder-
holungen. Sie können andere Vorschriften für entsprechend
II. Sonstige Rechtssätze anwendbar erklären (so z. B. §§ 168 S. 3, 480, 865, 1192 I)
oder auch nur hinsichtlich einzelner Tatbestandsvorausset-
Neben den typischen Rechtssätzen finden sich im Gesetz zungen oder Rechtsfolgen auf andere Normen verweisen (so
auch Vorschriften, die die Arbeit mit dem Gesetz erleichtern z. B. §§ 146 Alt. 2, 280 II und III, 437 Nrn. 1-3, 932 I 1).
oder Voraussetzungen für die Anwendung anderer Normen
schaffen (so genannte Hilfsnormen). Dazu zählen Legalde-
finitionen, Vermutungen, Fiktionen und Verweisungen: 111. Die Subsumtion
Die Subsumtion, also das Unterordnen des' Sachverhalts unter
1. Legaldefinitionen
den Tatbestand einer Rechtsnorm, bildet den Kern der juris-
Legaldefinitionen bestimmen, wie ein an anderer Stelle des tischen Tätigkeit. Der Rechtsanwender hat zu prüfen, ob das
Gesetzes gebrauchter Begriff zu verstehen ist. Sie treten in konkrete Geschehen von den abstrakt gehaltenen Vorausset-
zwei Formen auf: entweder in ganzen Sätzen wie z. B. in zungen einer Regelung erfasst ist. Dieser Abgleich erweist
§§ 90, 90 a S. 1 (Sache), 276 II (fahrlässig), 1592 (Vater) sich als äußerst fehleranfällig. Der Rechtsanwender muss die
oder als Klammerdefinitionen innerhalb einer Vorschrift, so Bedeutung des gesetzlichen Tatbestandsmerkmals ergründen
z. B. in §§ 121 I 1 (unverzüglich), 184 I (Genehmigung), und entscheiden, ob das konkrete tatsächliche Geschehen die
651 a I 1 (Reise). Wesenszüge aufweist, die das Gesetz in allgemeiner Form zu
umschreiben sucht3 .
2. Vermutungen
Gesetzliche Vermutungen helfen über Schwierigkeiten bei der 3 Anschaulich dazu, wie der Gesetzgeber einen konkreten Regelungsgegenstand
durch Gesetz zunächst verallgemeinert und hernach der Rechtsanwender den
Sachverhaltsermittlung hinweg. Eigentlich ist es Sache der allgemeinen Rechtssatz wieder auf den konkreten Fall übertragen muss, Haft,
Streitparteien, im Prozess jeweils das vorzutragen und zu Jurist. Rhetorik, 4. Auf!. (1990), S. 83 ff.
292 JuS 4/2009 Bitter!Rauhut: Grundzüge zivilrechtlicher Methodik- Schlüssel zu einer gelungenen Fallbearbeitung

Beispiel 9: Der Abgleich zwischen Tatbestand und Sachverhalt erfordert mit zunehmendem Alter des Gesetzes von dessen ursprüng-
wenig Nachdenken, wenn das Gesetz von einer "Person" oder einem licher Bedeutung entfernt.
"anderen" spricht und wir es mit der Studentin S, dem Großvater G
oder dem Neugeborenen N zu tun haben. Aber die Angelegenheit wird Was sich in der Theorie der Gesetzesauslegung so unversöhn-
schon weniger eindeutig, wenn die Frage zu beantworten ist, ob auch ein lich liest, steht in der Praxis meist deutlich näher beieinander:
nasciturus, also ein Kind im Mutterleib, oder ein Verstorbener eine Auch wenn die Gerichte sich zu objektiver Auslegung berech-
"Person" im Sinne des Gesetzes ist.
tigt sehen, suchen sie doch die Anhindung an den vom Ge-
Schwierigkeiten bereitet die Subsumtion insbesondere dann, setzgeber geäußerten Willen. Und kein Vertreter der subjekti-
wenn der allgemeine Begriff des Gesetzes, unter den das ven Auslegungslehre fordert, dass die Gerichte sich für Ver-
Besondere des ·Sachverhalts gefasst werden soll, nicht klar änderungen blind stellen, weil auch der historische Gesetz-
umrissen ist: Stellt eine Windkraftanlage ein "Gebäude" i. S. geber sie nicht vorausgesehen hat. Der Kern des Streits um
von § 94 I dar? Noch schwieriger wird es, wenn das Gesetz das Ziel der Auslegung besteht deshalb heute in der Frage,
einen gänzlich abstrakten Begriff verwendet (z. B. Verstoß wie weit sich der Gesetzesanwender im Zuge der Auslegung
gegen die "guten Sitten" i. S. von § 138 I) und der Rechts- von den historischen Vorgaben lösen darf, ohne dies als rich-
anwender entscheiden muss, ob die Wesenszüge dieses Ab- terliche Rechtsfortbildung kenntlich zu machen (u. F II).
straktums sich in dem konkret zu Beurteilenden (z. B. der
Gewährung eines Darlehens gegen einen Zinssatz von 20%
p. a.) wiederfinden. Um den allgemeinen Begriff des Gesetzes II. Interpretation und Legitimation
hier und in vielen anderen Fällen auf den Gegenstand der
Entscheidung herunterzubrechen, bedarf es einer mehr oder Wegen der unvermeidlichen Unschärfe von Begriffen stellt
minder großen Zahl von Zwischenschritten, in deren Zen- die Auslegung keine exakte Methode zur Wahrheitsfindung
trum die Auslegung des Gesetzes steht 4 . dar: Da Interpretation denknotwendig einen Interpretations-
spielraum voraussetzt, liefert auch die sorgfältigste Aus-
Die Subsumtion gibt - wenn die herangezogene Rechtsnorm legung kein absolut richtiges Ergebnis. Vielmehr erweitert
nicht ausnahmsweise (etwa wegen Verfassungswidrigkeit) sich die Bandbreite möglicher Ergebnisse, je mehr Gründe
unwirksam ist - den Ausgang des Rechtsstreits vor. Sobald für und wider eine bestimmte Auslegung sich finden. Die
nämlich festgestellt ist, dass der Sachverhalt die Tat- Rechtswissenschaft ist eben eine hermeneutische, also auf
bestandsvoraussetzungen einer Regelung erfüllt, ergibt sich das Verstehen, Auslegen und Erklären (von Texten) angelegte
die Rechtsfolge aus einem zwingenden, dem Rechtsanwen- Wissenschaft und keine Naturwissenschaft, deren Ergebnisse
der vorgegebenen logischen Schluss. Deshalb ist auf die den Naturgesetzen folgen. Deshalb sprechen Juristen in strei-
Subsumtion besondere Sorgfalt zu verwenden und das Er- tigen Fragen häufig von "vertretbaren" statt von "richtigen"
gebnis des Abgleichs von Gesetz und Sachverhalt genau zu Ergebnissen. Das darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen,
begründen. dass es im Prozess kein Sowohl-als-auch geben kann: Das
vom Gericht ausgesprochene vertretbare Ergebnis ist in dem
Sinne auch das "richtige", als es Alleingültigkeit bean-
D. Die Auslegung von Gesetzen sprucht.
Die Entscheidung, ob ein konkreter Sachverhalt den abstrak- Die "richtige" Entscheidung beruht letztlich auf einer Wer-
ten Vorgaben des Gesetzes unterfällt, setzt voraus, dass man tung zu Gunsten der besseren, d. h. der überzeugenderen
sich über die Bedeutung der gesetzlichen Tatbestandsmerk- Gründe 6 . Diese Wertung schafft ein Legitimationsproblem,
male Klarheit verschafft. Häufig genug lässt sich über den da der Rechtsanwender (insbesondere der Richter) nicht
Inhalt gesetzlicher Begriffe trefflich streiten, und dann besteht seine eigene Auffassung, gar sein eigenes Gerechtigkeitsemp-
die Aufgabe des Rechtsanwenders darin, die wahre, d. h. die finden zur Grundlage seiner Entscheidung machen darf. Der
rechtlich maßgebliche Bedeutung des fraglichen Begriffs her- Konflikt zwischen dem Ziel einer objektiv-gesetzlichen Ent-
auszufinden. Diese Bedeutungsfindung, diese Interpretation scheidung und der Notwendigkeit einer subjektiven Inter-
des Gesetzes nennen Juristen Auslegung. pretation lässt sich allerdings nicht endgültig lösen. Man
kann nur versuchen, mit Hilfe der Methodik die Auslegung
gewissen Regeln zu unterwerfen und damit die Entschei-
I. Das Ziel der Gesetzesauslegung
dungstindung so weit wie möglich in rationale Bahnen zu
Seit jeher diskutiert man, ob das Ziel der Auslegung darin lenken.
liegt, den Willen des Gesetzgebers zu erkennen, wie er bei
Erlass des Gesetzes bestand bzw. heute entsprechend geäußert
würde (subjektive Auslegung), oder ob es gilt, den Willen des 111. Die klassischen Mittel der Auslegung
Gesetzes freizulegen, also seine objektive Bedeutung, die sich
im Laufe der Zeit mit den gesellschaftlichen Bedingungen Am Anfang dieser methodischen Bemühungen stehen vier seit
verändern kann (objektive Auslegung) 5 . Die Frage ist prekär, Langem anerkannte Erkenntnismittel, um die Bedeutung ei-
denn einerseits hat der Gesetzgeber, nicht der Rechtsanwen- ner gesetzlichen Vorschrift zu bestimmen: der Wortlaut der
der, die demokratische Legitimation zur Normsetzung inne Norm (grammatische Auslegung), der Regelungszusammen-
(Art. 20 II, III GG), und es wird sich noch zeigen, dass das so hang (systematische Auslegung), die Normgeschichte (histori-
genannte objektive Verständnis doch häufig in mehrere Rich- sche oder genetische Auslegung) und der Normzweck (teleo-
tungen weist und keine Gewähr dagegen bietet, dass sich die logische Auslegung).
subjektive Rechtsauffassung des Urteilenden durchsetzt. An-
dererseits haben die Richter auf Grund der Gesetze Recht zu 4 Zur juristischen "Deduktion" als keineswegs logische Reaktualisierung und
sprechen (Art. 92, 97 I GG), und diese Aufgabe droht ihr Präzisierung von Begriffsinhalten Luhmann, Das Recht der Gesellschaft,
4. Auf!. (2002), Kap. 8 VI.
Ziel zu verfehlen, wenn der historische Wille des Gesetz- 5 Näher Rüthers (o. Fußn. 1), § 22 G; Zippelius (o. Fußn. 1), § 4; Wank, Die
gebers für die Auslegung maßgeblich bleibt, während sich das Auslegung von Gesetzen, 3. Auf!. (2005), § 3.
(objektivierte) Normverständnis der Rechtsunterworfenen 6 BVerfGE 82, 30 (38 f.) = NJW 1990, 2457 (2458).
Bitter/Rauhut: Grundzüge zivilrechtlicher Methodik- Schlüssel zu einer gelungenen Fallbearbeitung JuS 4/2009 293

1. Grammatische Auslegung (Wortlaut der Norm) der Norm in dem jeweiligen Gesetz oder gar ihre Position in
der gesamten Rechtsordnung geben möglicherweise Auskunft
Die Auslegung einer gesetzlichen Vorschrift beginnt bei ihrem
darüber, wie der Gesetzgeber seine Regelung verstanden wis-
Wortlaut. Der allgemeinsprachliche Bedeutungsumfang eines
sen wollte: in der Weise, die Widersprüche innerhalb des
Begriffs gibt uns zunächst eine positive Vorstellung davon,
Gesetzes sowie zwischen den einzelnen Rechtsgebieten ver-
worin (auch) der gesuchte fachsprachliche Wortsinn bestehen
meidet.
kann. Für den juristischen Gebrauch leiden die meisten Be-
griffe jedoch an zu großer Unschärfe. Wenn nicht das Gesetz Beispiel11: Schadensersatz nach § 823 I schuldet, wer " ... das Leben,
selbst durch eine Legaldefinition den juristischen Wortsinn den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sons-
umschreibt oder der Gesetzgeber auf eine fachsprachliche tiges Recht eines anderen ... verletzt". Weil die in § 823 I ausdrücklich
Bedeutung Bezug genommen hat, dann gibt der Wortlaut benannten Rechtsgüter ausnahmslos absolut geschützt sind, also gegen-
allenfalls über eindeutige Fälle Auskunft. Dabei nimmt die über jedermann Geltung beanspruchen, kommen als sonstige Rechte i. S.
von § 823 I ebenfalls nur absolut geschützte Rechtsgüter, wie z. B. das
Unschärfe mit der Abstraktheit des auszulegenden Begriffs
allgemeine Persönlichkeitsrecht, in Betracht, nicht aber bloß relative
ZU.
Rechte, wie z. B. Forderungen.
Beispiel10: § 130 I 1 bestimmt: "Eine Willenserklärung, die einem
anderen gegenüber abzugeben ist, wird, wenn sie in dessen Abwesen- Ein systematisches Argument lässt sich häufig daraus ziehen,
heit abgegeben wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in welchem sie ihm
dass eine Norm eine speziellere Regelung enthält (Iex specia-
zugeht". Weil dieser Zeitpunkt darüber entscheiden kann, ob der Er-
klärende eine wichtige Frist gewahrt hat, muss er juristisch genau lis). Dann dürfen deren Wertungen nicht durch Anwendung
bestimmt sein. Der allgemeine Sprachgebrauch lehrt uns: Ein Brief ist der allgemeinen Vorschriften unterwandert werden. Sonder-
sicher zugegangen, sobald der Empfänger ihn gelesen hat. Ebenso vorschriften können auch in der Form von Ausnahmeregelun-
gewiss kann von "Zugang" keine Rede sein, solange sich der Brief gen auftreten. Sie sind im Zweifel eng auszulegen, da sie von
noch in den Händen des Absenders befindet. Zwischen diesen Extre- der Grundwertung des Gesetzgebers abweichen und weil das
men lässt sich aus dem Wortlaut wenig Erkenntnis ziehen, denn schon Regel-Ausnahme-Verhältnis zeigt, welcher Entscheidung re-
das bloße Verschicken wird nicht selten als "zugehen" bezeichnet.
gelmäßig der Vorzug gebührt. Im Einzelfall mag es allerdings
Genau über den Zeitraum zwischen Abgabe und Lektüre der Erklärung
werden sich die Parteien indes streiten. Hier muss der Jurist andere nicht leicht sein festzustellen, ob eine gesetzliche Regelung
Kriterien bemühen, um zu entscheiden, ob und unter welchen Umstän- Ausnahmecharakter hat oder sie einen allgemeinen Rechts-
den der Einwurf des Briefs in den Briefkasten des Empfängers für den gedanken enthält 9 •
Zugang genügt.
Beispiel 12: Nach § 119 II kann sich durch Anfechtung von einem Ver-
Ob der allgemeinsprachliche Wortsinn dem fachsprachlichen trag befreien, wer bei Vertragsschluss über eine verkehrswesentliche
Verständnis nicht nur positive Möglichkeiten aufzeigt, son- Eigenschaft des Vertragsgegenstands irrte. Dieses Gestaltungsrecht steht
dern zugleich den Deutungsspielraum begrenzt, gehört- his- dem Wortlaut nach auch dem Käufer einer mangelhaften Sache zu. Die
torisch bedingt - zu den heikelsten Fragen in der juristischen §§ 434 ff. halten für diesen Fall jedoch besondere, hinsichtlich der
Rechtsfolgen differenzierende Regelungen bereit. Dadurch gibt der Ge-
Methodenlehre. Studierende lernen in diesem Zusammen-
setzgeber zu erkennen, dass im Anwendungsbereich des Sachmängel-
hang meist: keine Auslegung wider den möglichen Wortsinn, gewährleistungsrechts die allgemeinen Vorschriften keine Anwendung
und sind mit dieser Formel im Zweifel gut beraten. Wo sich finden sollen, also verdrängt werden.
der gesetzliche Wortlaut als zu eng erweist, kann Raum für
eine Analogie bestehen (u. F). Beispiel13: § 312 d I 1 gewährt dem Verbraucher bei Fernabsatz-
geschäften, z. B. einem Kauf bei einem Internet-Händler, ein Widerrufs-
So sehr das Dogma der Wortlautgrenze 7 vor Exzessen des recht nach § 35 5. Das Widerrufsrecht besteht allerdings gern. § 312 d IV
Rechtsanwenders zu schützen vermag, so sehr droht es aller- Nr. 5 nicht, wenn der Vertrag im Rahmen einer Versteigerung(§ 156) zu
dings auch eine wohlbegründete Auslegung über den Wort- Stande gekommen ist. Der Ausnahmecharakter dieser Regelung spricht
systematisch dagegen, das Widerrufsrecht auch bei Versteigerungen aus-
laut hinaus zu vereiteln. Man denke nur an den Fall, dass
zuschließen, in denen der Vertragsschluss nicht durch den Zuschlag eines
der Wille des Gesetzgebers im Wortlaut unzureichend Aus- Auktionators, sondern automatisch durch Zeitablauf an den Letztbieten-
druck gefunden hat und die Vorschrift bei wortgetreuem den erfolgt (wie z. B. bei eBay).
Verständnis ihren Regelungsauftrag nur zum Teil oder an der
falschen Stelle erfüllt (u. D III 4 a, b). Wo die Wertentschei- Oft genug lassen sich schon Widersprüche innerhalb eines
dung des Gesetzgebers gerade verwirklicht werden soll, be- Teilgebiets des (Zivil- )Rechts nicht vermeiden. Ein reibungs-
steht kein Bedürfnis, durch die Grenze des möglichen Wort- loses Ganzes quer durch alle Rechtsgebiete herzustellen wird
sinns einer Gesetzesänderung im Gewand der Auslegung vor- wegen der Vielfalt der Regelungsgegenstände und -zwecke
zubeugen. Wer hingegen - wir schreiben das Jahr 1935 - umso mehr Wunsch bleiben. Wo möglich, sollte der Rechts-
wider den eindeutigen Wortlaut des § 1 die Rechtsfähigkeit anwender sich gleichwohl um die Einheit der Rechtsordnung
nicht jedem Menschen, sondern nur dem "Volksgenossen bemühen.
deutschen Blutes" zugesteht 8 , hört auf, nach der Botschaft
des Gesetzes zu suchen, und tauscht es durch andere Begriffe Beispiel 14: Die Schadensersatzpflicht aus § 826 setzt voraus, dass je-
und deren Inhalte aus. Das verbietet sich nicht nur an der mand in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen
Universität. vorsätzlich Schaden zufügt. Zur Beantwortung der Frage, wann und ob
der Schädiger vorsätzlich handelt, kann auf die im Strafrecht entwickel-
ten Grundsätze zurückgegriffen werden, so z. B. zur Abgrenzung von
2. Systematische Auslegung (Regelungs- bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit 10 •
zusammenhang)
7 Krit. dazu Wank (o. Fußn. 5), § 5 I 2; wider verbreitete Skepsis Klatt, Die
So wie im allgemeinen Sprachgebrauch ein und derselbe Be- Theorie der Wortlautgrenze, 2004, S. 110 ff.
griff je nach Kontext eine unterschiedliche Bedeutung haben 8 So Larenz, in: Larenz, Grundfragen der neuen Rechtswissenschaft, 1935,
kann, so steht auch eine gesetzliche Vorschrift in Beziehung S. 225, 241 ff.
zu anderen Regelungen und damit in einem Bedeutungs- 9 Vgl. zu § 392 II HGB Bitter, Rechtsträgerschaft für fremde Rechnung, 2006,
S. 189 ff.
zusammenhang. Der innere Aufbau der fraglichen Regelung, 10 Vgl. BGHZ 173, 246 (Rdnrn. 30 f.) = NJW 2007, 2689 = NZG 2007, 667-
ihre Überschrift, die benachbarten Vorschriften, die Stellung TrihoteL
294 JuS 4/2009 Bitter/Rauhut: Grundzüge zivilrechtlicher Methodik- Schlüssel zu einer gelungenen Fallbearbeitung

3. Historische Auslegung (Normgeschichte) Tage und vermag vermeintlich gesicherte Positionen der Ge-
genwart herauszufordern.
Die historische Auslegung führt den Rechtsanwender zum
Ursprung einer Norm: dem historischen Akt der Gesetz- Beispiel 17: Seit Generationen lernen Studenten, dass Geldschulden
nach § 270 I und IV qualifizierte Schickschulden seien. Durch ein neue-
gebung. Wer nach der Botschaft eines Textes sucht, tut gut
res Urteil des EuGH zur Auslegung der Zahlungsverzugs-RU 9 sieht
daran, nach Möglichkeit auch den Autor zu befragen oder mancher sich zum Umdenken genötigt20 . Tatsächlich aber sollte die
wenigstens die Umstände zu ergründen, unter denen der Text Geldschuld immer schon auch im deutschen Recht eine (modifizierte)
entstand. Die Situation, die dem Gesetzgeber bei Normerlass Bringschuld sein 21 •
vor Augen stand, wird sich häufig in den Materialien zur
Entstehungsgeschichte wiederfinden, z. B. in einer Begrün- 4. Teleologische Auslegung (Normzweck)
dung zum Gesetzentwurf. Diese Materialien (Referentenent-
würfe, Regierungsentwürfe, Beschlussempfehlungen der Aus- Ziel der teleologischen Auslegung ist es, den Regelungszweck
schüsse in Bundestag und Bundesrat, Protokolle der Plenar- einer Vorschrift zu ermitteln und das Normverständnis zur
sitzungen) geben '-vielfach Aufschluss darüber, welchen Geltung zu bringen, das diesen Zweck bestmöglich verwirk-
Zweck der Gesetzgeber mit der Regelung verfolgen, zum Teil licht. Weil der Erlass einer Vorschrift immer Ausdruck einer
sogar, wie er einzelne Tatbestandsvoraussetzungen verstan- Regelungsabsicht des Gesetzgebers ist, darf der Normzweck
den haben wollte. Allerdings darf man nicht übersehen, dass als das zentrale Kriterium auf der Suche nach dem richtigen
es das Parlament ist, das die Gesetze erlässt, nicht die Regie- Normverständnis gelten. Dabei kann es sich um einen kon-
rung11. kreten Gesetzeszweck (z. B. Verbraucherschutz) oder um ein
allgemeines gesetzliches Anliegen (wie Effektivität, Praktika-
Beispie/15: Mit der Reichweite des Versteigerungsbegriffs in§ 312 d IV bilität oder Gerechtigkeit) handeln.
Nr. 5 (vgl. Beispie/13) hat sich der Gesetzgeber ausführlich befasst.
Während der ursprüngliche Regierungsentwurf noch keine Bezugnahme Beispiel 18: Nach §§ 766 S. 1, 126 I, 125 S. 1 ist eine Bürgschaft nur
auf § 156 enthielt, empfahl der Rechtsausschuss eine Ausdehnung des bei schriftlicher Erteilung wirksam. Der Zweck dieser Vorschrift, den
Verbraucherschutzes, im Ergebnis also eine Begrenzung der Ausnahme- Bürgen zu größerer Vorsicht anzuhalten und ihn vor der übereilten Über-
vorschrift des § 312 d IV Nr. 5. Dass der Gesetzgeber dieser Empfeh- nahme von Haftungsrisiken zu schützen, gebietet eine formstrenge Aus-
lung gefolgt ist, lässt seinen Willen erkennen, nur bei Versteigerungen im legung des Schriftformerfordernisses. Deshalb genügt weder eine per
Rechtssinne das Widerrufsrecht auszuschließen 12 • Telefax erklärte Bürgschaft 22 noch eine eigenhändig unterschriebene
Blankobürgschaft, in die ein anderer die Bürgschaftssumme eintragen
Im Streit um das Ziel der Auslegung (o. D I) droht die his- darf23 .
torische Auslegung bisweilen aufgerieben zu werden. Nüch-
tern betrachtet, bietet die Normgeschichte eine wichtige Er- a) Teleologische Reduktion
kenntnisquelle für die Gesetzesauslegung. Gegenüber der Einen wichtigen Unterfall der teleologischen Auslegung bildet
Auslegung nach Wortlaut und Systematik hat die historische die teleologische Reduktion (einschränkende Auslegung).
Auslegung sogar den Vorzug, sich auf Fakten statt auf sub- Durch teleologische Reduktion wird ein vom Wortlaut erfass-
jektive Deutungen des Rechtsanwenders zu gründen. Eine ter Fall aus dem Anwendungsbereich der Norm heraus-
andere Frage ist, welchen Rang die historischen Befunde genommen, weil er kein entsprechendes Regelungsbedürfnis
unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen beanspru- auslöst.
chen können. Dass in diesem Fall die Gerichte gehalten sind,
Beispie/19: Nach§ 828 II 1 ist, wer das siebente, aber nicht das zehnte
das Recht fortzudenken, bestreiten die Anhänger der subjek- Lebensjahr vollendet hat, "für einen Schaden, den er bei einem Unfall
tiven Auslegungstheorie so wenig wie ihre "objektiven" Ge- mit einem Kraftfahrzeug ... einem anderen zufügt, nicht verantwort-
genspieler. Die Gerichte wiederum sehen sich - entgegen lich". Dem Wortlaut nach wird ein Neunjähriger, der mit seinem Kick-
manch markigem Spruch 13 - durchaus an den Willen des board ein parkendes Auto rammt und beschädigt, von der Vorschrift
Gesetzgebers gebunden, soweit er sich im Wortlaut der Rege- erfasst. Dem Zweck von § 828 II 1 entspricht dieses Ergebnis jedoch
lung niedergeschlagen hat 14 . nicht: Die Regelung will Kinder vor den Folgen einer typischen Über-

Beispie/16: Im Zuge der Umsetzung der Verbrauchsgüterkauf-RL hatte


11 Nach der "Paktentheorie" macht sich der Gesetzgeber aber die Motive des
sich der deutsche Gesetzgeber ausdrücklich für eine Pflicht des Verbrau-
Entwurfs zu eigen; vgl. Engisch (o. Fußn. 1 ), S. 122.
chers ausgesprochen, bei der Neulieferung Wertersatz für die Nutzung 12 BGH, NJW 2005, 53 (55) = JuS 2005, 175 (Emmerich), m. Hinw. auf
der zuerst gelieferten, mangelhaften Sache an den Verkäufer zu leisten 15 . Beschlussempfehlung u. Bericht des Rechtsausschusses, BT-Dr 14/3195,
Dementsprechend enthielt die Verweisung des § 439 IV auf§ 346 I, II 1 S. 30.
Nr. 1 ursprünglich keine Ausnahme für den Fall des Verbrauchsgüter- 13 "Das Gesetz kann eben klüger sein als die Väter des Gesetzes" - BVerfGE
kaufs (anders nunmehr § 474 II 1 in der Fassung vom 16. 12. 2008 16 ). 36, 342 (362) = NJW 1974, 1181 (1182); dazu krit. Foerste, ]Z 2007, 122
Die dieser Entscheidung des Gesetzgebers zu Grunde liegenden Erwä- (124).
gungen hielt der BGH für zweifelhaft (zu den europarechtlichen Bezügen 14 BGH, NJW 2006, 3200 (Rdnr. 15) = EuZW 2007, 286 = JuS 2007, 182
(Faust) m. w. Nachw.; NJW 2005, 1508 (1510) = NZI 2005,228.
u. D IV 2) 17 . Gleichwohl konnte sich das Gericht- zunächst- nicht 15 BT-Dr 14/6040, S. 232 f.; dazu BGH, NJW 2006, 3200 (Rdnrn. 13 ff.) =
dazu durchringen, dem Verkäufer den Nutzungsersatzanspruch zu ver- EuZW 2007, 286 =JuS 2007, 182 (Faust).
sagen, weil der Wille des Gesetzgebers sowie der Wortlaut des Gesetzes 16 BGBI 2008 I, 2400.
eindeutig waren (vgl. aber Beispie/20) 18 . 17 BGH, NJW 2006, 3200 (Rdnrn. 23 f.) = EuZW 2007, 286 =JuS 2007, 182
(Faust).
Neben der Entstehungsgeschichte einer Norm kommt auch 18 BGH, NJW 2006, 3200 (Rdnrn. 12, 15) = EuZW 2007, 286 =JuS 2007, 182
ihrer späteren Entwicklungsgeschichte erhebliche Bedeutung (Faust), im Anschl. an BVerfGE 101, 312 (319) = NJW 2000, 347 (349); im
Erg. anders dann aber die für die amtl. Slg. vorgesehene Entsch. des BGH,
zu, weil nicht nur die Norm die auf ihrer Grundlage ergehen- NJW 2009, 427, m. Anm. Pfeiffer, NJW 2009, 412, und Stephan Lorenz,
den Entscheidungen bedingt, sondern auch jedes Urteil wie- LMK 2009,273 611.
derum auf das Verständnis der Norm zurückwirkt. Insbeson- 19 EuCH, Urt. v. 3. 4. 2008- C-306106, NJW 2008, 1935 = EuZW 2008, 277 =
JuS 2009, 81 (Faust)- 01051 Telecom.
dere bei der Konkretisierung von Generalklauseln, wie die 20 Vgl. Scheuren-Brandes, ZIP 2008, 1463; Hilbig, JZ 2008,991.
§§ 138, 307, 826, 242 sie enthalten, kann eine Darstellung 21 Näher Köndgen, in: Festschr. f. Karsten Schmidt, 2009, S. 909 ff. (911 ff.); aus
der Normentwicklung dem Eindruck des Rechtsunterworfe- systemat. Gründen im Hinbl. auf das ÜberweisungsR auch Rauhut, ZBB
nen vorbeugen, die Entscheidung gegen ihn komme gleichsam 2009, 32 (41 f.).
22 BGHZ 121, 224 (229 f.) = NJW 1993, 1126 (1127).
aus dem Nichts. Umgekehrt befördert eine vertiefte Beschäfti- 23 BGHZ 132, 119 (122f.) = NJW 1996, 1467 (1468), m.Anm. Fischer, JuS
gung mit der Geschichte mitunter auch Fehlentwicklungen zu 1998,205.
Bitter/Rauhut: Grundzüge zivilrechtlicher Methodik- Schlüssel zu einer gelungenen Fallbearbeitung JuS 4/2009 295

forderungssituation auf Grund der spezifischen Gefahren des motorisier- zwischen beiden Instrumenten liegt in der Art der aufgefun-
ten Verkehrs schützen. Im ruhenden Verkehr, wo solche Gefahren nicht denen Regelungslücke 29 : Eine sprachlich unzureichende Um-
bestehen, bedürfen Kinder keines gesteigerten Schutzes. § 828 II 1 ist setzung der gesetzgeberischen Entscheidung rechtfertigt die
vielmehr teleologisch dahin zu reduzieren, dass der Schaden auf einem
Unfall im fließenden Verkehr beruhen muss 24 . Dem Neunjährigen
teleologische Extension. Fehlt hingegen schon eine gesetzliche
kommt in dieser Situation das Haftungsprivileg also nicht zugute. Wertentscheidung, so kann diese Lücke allenfalls im Wege
der Analogie geschlossen werden. Im Zweifel ist die Analogie
Obwohl die teleologische Reduktion zur Korrektur einer wi- der methodisch ehrlichere Weg.
der den Gesetzeszweck zu weit greifenden Regelung dient,
machen viele ihre Zulässigkeit vom Bestehen einer Lücke im 5. Verhältnis der Auslegungskriterien zueinander
Gesetz abhängig. Gemeint ist: eine Lücke, die darin besteht, Die Auslegungskriterien sind in ihrer Gesamtheit zu würdi-
dass eine nach dem Normzweck gebotene Ausnahmeregelung gen. Es genügt nicht festzustellen, dass der Wortlaut eine
fehlt- eine "Ausnahmelücke" 25 , deren Schließung im Ergeb- bestimmte Auslegung deckt oder dass der Regelungszweck
nis den ursprünglich überschießenden Wortlaut begrenzt. Be- dieses oder jenes Verständnis verlangt. Vielmehr sind die
griffliche Untiefen drohen auch, wo die teleologische Reduk- Ergebnisse der grammatischen, der systematischen, der his-
tion als Mittel der Rechtsfortbildung (u. F) bezeichnet wird. torischen und der teleologischen Auslegung zueinander in
Das ergibt nur Sinn, wenn man eine den Wortlaut überstei- Beziehung zu setzen und zu gewichten, ohne dass es eine feste
gende Rechtsanwendung bereits als Rechtsfortbildung an- Regel gibt, welches Kriterium bei widersprüchlichen Ergeb-
sieht. Richtigerweise beginnt richterliche Rechtsfortbildung nissen den Vorrang verdient. Der Regelungsaufgabe des Ge-
aber erst dort, wo der Regelungswille des Gesetzgebers endet, setzes trägt der Rechtsanwender allerdings am ehesten Rech-
wo also eine Regelungsentscheidung des Gesetzgebers fehlt. nung, indem er dem Normzweck den entscheidenden Aus-
Das ist bei einem in zweckwidriger Weise ungewollt zu weit schlag zumisst.
gefassten Wortlaut gerade nicht der Fall, und deshalb stellt
die teleologische Reduktion zunächst einmal ein bloßes Mit- IV. Verfassungskonforme und richtlinienkonforme
tel der Gesetzesauslegung dar. Auslegung
Beispiel 20: In der Entscheidung, auf der Beispiel 16 beruht, heißt es:
"Eine Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Reduktion setzt
Die Auslegung einfachgesetzlicher Normen, zu denen sämtli-
eine verdeckte Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollstän- che Vorschriften des deutschen Zivilrechts zählen, kann auch
digkeit des Gesetzes voraus" 26 • Vermengt der BGH Rechtsfortbildung durch höherrangiges Recht, also durch Verfassungsrecht oder
und Gesetzesauslegung mittels teleologischer Reduktion? Wohl nicht: Europarecht, beeinflusst werden. Um den Vorgaben der Ver-
Die zu weit gehende Verweisung des § 439 IV ließ sich nicht einfach fassung oder des europäischen Rechts Geltung zu verschaffen,
durch Auslegung im Wege der teleologischen Reduktion korrigieren, müssen die einfachen Gesetze so weit wie möglich im Sinne
denn die Vorschrift lautete genau so, wie der Gesetzgeber sie gewollt des höherrangigen Rechts ausgelegt werden. Man spricht
hatte. Dessen Fehler lag nicht in der Umsetzung seiner Entscheidung, also
in einem überschießenden Wortlaut, sondern im Motiv für die undiffe-
dann von verfassungskonformer oder, wenn die deutsche
renzierte Regelung: Man dachte, die Verbrauchsgüterkauf-RL stehe ei- Norm der Umsetzung europäischer Richtlinien dient, von
nem Nutzungsersatzanspruch des Verkäufers nicht entgegen. Dass der richtlinienkonformer Auslegung 30 . Sie ist, wohlgemerkt, kein
BGH in diesem Fall die Voraussetzungen für eine (einschränkende) Unterfall der systematischen Auslegung, die gleichrangige ge-
Rechtsfortbildung geprüft hat, ist methodisch zu begrüßen: Eine Fehl- setzliche Vorschriften in Übereinstimmung zu bringen sucht,
vorstellung des Gesetzgebers kommt einer fehlenden Vorstellung näher sondern Ausfluss der Normenhierarchie.
als einer richtigen Vorstellung, die bloß fehlerhaft umgesetzt wurde.
1. Verfassungskonforme Auslegung
b) Teleologische Extension Die verfassungskonforme Auslegung dient dazu, die Wertent-
Eine am Normzweck orientierte Korrektur des Gesetzeswort- scheidungen des Grundgesetzes in das einfache Recht, hier
lauts kann auch in umgekehrter Richtung geboten sein: wenn das Zivilrecht, zu übertragen.
der Wortlaut den Anwendungsbereich einer Regelung wider Beispiel 22: Ob die Pflicht des Vermieters aus § 535 I 2, dem Mieter die
ihren Zweck zu eng umreißt. Mit Hilfe einer teleologischen Mietsache in einem zum vertragsgemäßen Gebrauch geeigneten Zu-
Extension (erweiternde Auslegung) lässt sich diese Lücke stand zu überlassen, auch bedeutet, das Anbringen einer Parabolan-
schließen und das Regelungsziel auch für den nicht erfassten tennne an der Hauswand dulden zu müssen, würde man mit Blick auf
Fall verwirklichen. den dadurch entstehenden Schaden am Haus wohl eher verneinen. In
der Normenhierarchie steht das BGB als einfaches Bundesgesetz aber
Beispiel 21: Als zur Anfechtung einer Willenserklärung berechtigender unter dem Grundgesetz, und dieses garantiert dem Bürger - gegenüber
Irrtum gilt nach § 119 II auch der Irrtum über solche Eigenschaften dem Staat - das Recht auf freien Zugang zu öffentlichen Informations-
einer Person oder Sache, die im Verkehr als wesentlich angesehen wer· quellen, wozu für ausländische Mieter auch der Empfang von Fernseh-
den. Da § 90 nur körperliche Gegenstände als Sachen definiert, findet programmen aus ihrem Heimatland zählt (Art,- 5 I 1 Halbs. 2 GG).
§ 119 II bei Rechtsgeschäften über nicht-körperliche Gegenstände, ins- Damit der Bürger als Mieter dieses Recht überhaupt ausüben kann,
besondere Rechte, dem Wortlaut nach keine Anwendung. Diese Be- muss er eine Parabolantenne installieren dürfen, und so zwingt die
schränkung widerspricht dem Gesetzeszweck: Geschützt werden soll, verfassungskonforme Auslegung des § 535 I 2 den Vermieter dazu, die
wer sich über verkehrswesentliche Eigenschaften des Geschäftsgegen- Antenne zu dulden 31 •
stands irrt27 . Über den Wortlaut des § 90 hinaus lassen sich auch nicht-
körperliche Gegenstände und Sachgesamtheiten als Sachen bezeichnen,
24 BGHZ 161, 180 = NJW 2005, 354 =JuS 2005, 374 (Emmerich), m. Hinw.
und das durch § 119 II anerkannte Bedürfnis des Irrenden, sich von dem auf die Begr. im RegE, BT-Dr 14/7752, S. 26 f.
irrtumsbehafteten Geschäft zu lösen, ist in diesen Fällen nicht geringer. 25 Vgl. Rüthers (o. Fußn. 1), Rdnrn. 848, 939.
Deshalb kann, wer eine Forderung in der Meinung ankauft, sie sei durch 26 BGH, NJW 2009,427, m.Anm. Pfeiffer, NJW 2009,412, und Stephan Lo·
eine Bürgschaft gesichert, den Forderungskauf anfechten, wenn die renz, LMK 2009, 273 611.
Bürgschaft in Wahrheit gar nicht besteht28 • 27 Vgl. RGZ 149,235 (238); 158,50 (52f.).
28 BGH, WM 1963,252 (253).
Wie bei der analogen Anwendung einer Vorschrift (u. F). 29 Vgl. Looschelders!Roth, Jurist. Methodik im Prozess der Rechtsanwendung,
leitet der Rechtsanwender auch mit Hilfe der teleologischen 1996, s. 268 ff.
30 Eingehend dazu Höpfner, Die systemkonforme Auslegung, 2008.
Extension Rechtsfolgen her, die das Gesetz für den zu ent- 31 BGH, NJW 2006, 1062 = NZM 2006, 98, im Anschl. an BVerfGE 90, 27 =
scheidenden Fall nicht ausdrücklich vorsieht. Der Unterschied NJW 1994, 1147; BVerfG, NJW-RR 2005, 661 = NZM 2005,252.
296 JuS 4/2009 Bitter/Rauhut: Grundzüge zivilrechtlicher Methodik- Schlüssel zu einer gelungenen Fallbearbeitung

Sieht sich das Gericht, das die einfachgesetzliche Norm anzu- det, die nicht nur der eigenen Argumentation dienen, son-
wenden hat, an einer verfassungskonformen Auslegung ge- dern auch helfen, Unstimmigkeiten in fremden Texten auf-
hindert, weil beispielsweise ein eindeutiger Wortlaut keinen zudecken.
Raum für ein grundrechtsfreundliches Verständnis lässt 32 ,
dann darf es die Vorschrift nicht selbst verwerfen, sondern I. Argurnenturne contrario (Umkehrschluss)
muss sie nach Art. 100 I GG dem BVerfC zur Entscheidung
über die Gültigkeit vorlegen (so genannte konkrete Normen- Mit dem argurnenturn e contrario (lat. für "aus dem Gegen-
kontrolle). teil") wird ein Umkehrschluss von einem anderen Umstand
auf den fraglichen Sachverhalt (X) gezogen, etwa wie in
2. Richtlinienkonforme Auslegung folgendem Gedankengang: "Wenn X der Fall wäre, dann
müsste auch der Umstand Y vorliegen. Liegt Y nicht vor,
Weil immer mehr Vorschriften in Umsetzung europäischer dann kann auch X nicht zutreffen". Was nach einer logisch
Richtlinien erlassen werden, kommt der richtlinienkonfor- zwingenden Kontraposition 39 klingt, beruht tatsächlich auf
men Auslegung wachsende Bedeutung zu 33 . Den Hinter- einer erst zu beweisenden Prämisse, nämlich dass X wahr-
grund dieses Auslegungskriteriums bildet Art. 249 III EG, haftig Y bedingt. Problematisch ist das argurnenturn e con-
wonach die vom zuständigen Organ der Europäischen Ge- trario besonders bei Aufzählungen im Gesetz: Sind sie ab-
meinschaften erlassene Richtlinie für jeden Mitgliedstaat, schließend, dann ist der Umkehrschluss zulässig, dass der
an den sie gerichtet wird, hinsichtlich des zu erreichenden Gesetzgeber nicht genannte Fälle nicht entsprechend sanktio-
Ziels verbindlich ist, jedoch den innerstaatlichen Stellen die nieren wollte. Listet das Gesetz hingegen nur Beispiele auf,
Wahl der Form und der Mittel überlässt. Entscheidet die scheidet ein Umkehrschluss aus. Vielmehr kommt dann ein
Bundesrepublik Deutschland sich für eine Umsetzung der Analogieschluss in Betracht (u. F).
Richtlinie durch Gesetz, so muss dieses Gesetz und damit
Beispiel 23: Will der Gläubiger nach § 281 I vom Schuldner Schadens-
auch seine Anwendung die Ziele der Richtlinie verwirk- ersatz statt der Leistung verlangen oder nach § 323 I vom Vertrag zu-
lichen. rücktreten, so muss er dem Schuldner grundsätzlich eine Nachfrist set-
zen. Die Nachfristsetzung ist bei § 281 I allerdings entbehrlich, wenn
Aus methodischer Sicht ändert sich durch die Herkunft der besondere Umstände vorliegen, die unter Abwägung der beiderseitigen
Norm aus einer europäischen Richtlinie zunächst nicht viel: Interessen die sofortige Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs
Die Auslegung erfolgt im Einzelnen nach nationaler Metho- rechtfertigen(§ 281 II). Zählt zu diesen "besonderen Umständen" auch
dik, also nach Wortlaut, Regelungszusammenhang, Gesetzes- die Vereinbarung der Lieferung zu einem bestimmten Termin, nach
geschichte und RegelungszwecP 4 . Erst innerhalb der Aus- dessen Verstreichen die Leistung für den Gläubiger kein Interesse mehr
legung nach den nationalen Kriterien hat sich der Rechts- hat (so genanntes relatives Fixgeschäft)? Dagegen spricht der dem
§ 281 II verwandte § 323 II: Diese Regelung erklärt die Nachfristset-
anwender so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck der zung in Nr. 2 ausdrücklich für entbehrlich, wenn der Schuldner die Leis-
umzusetzenden Richtlinie zu orientieren 35 . Das Europarecht tung zu einem im Vertrag bestimmten Termin oder innerhalb einer
gebietet deshalb keine Auslegung contra legem, wenn der bestimmten Frist nicht bewirkt und der Gläubiger im Vertrag den Fort-
nationale Gesetzgeber hinter den Vorgaben der Richtlinie bestand seines Leistungsinteresses an die Rechtzeitigkeit der Leistung
zurückbleibt und sich das nationale Gericht an einer richt- gebunden hat. Daraus lässt sich im Umkehrschluss folgern, dass der
linienkonformen Auslegung gehindert sieht36 • Darunter fällt Gesetzgeber diesen Fall nicht als Fall der "besonderen Umstände"
allerdings nicht nur die Auslegung im engeren Sinne, sondern (§ 281 II Alt. 2 bzw. § 323 II Nr. 3) ansehen wollte 40 •
auch eine nach nationalem Recht zulässige Rechtsfortbildung
(vgl. Beispiel 20) 37 . II. Argurnenturn ad absurdum
Das argurnenturn ad absurdum (lat. für "ins Ungereimte")
Über die Auslegung europarechtlicher Vorschriften entschei-
soll die Wahrheit einer Aussage dadurch beweisen, dass es ihr
det der EuCH auf Vorlage des nationalen Gerichts (Art. 234
kontradiktorisches Gegenteil widerlegt. Diese Widerlegung
EG). Anders als das nach Art. 100 GG angerufene BVerfC,
kann logisch zwingend sein. In der juristischen Argumenta-
das die einfachgesetzliche Norm bei einem Verfassungsver-
tion wird sie aber in den meisten Fällen nur auf einer Wertung
stoß für nichtig erklärt, stellt der EuCH nur fest, welche
beruhen, nämlich dass das kontradiktorische Gegenteil zu -
Vorgaben das Europarecht den Mitgliedstaaten macht. Seine
angeblich! - unsachgemäßen Ergebnissen führe. Häufig liegt
Entscheidung hat deshalb unmittelbar keine Auswirkung auf
dann eine petitio principii, also eine Vorwegnahme des Ergeb-
den Bestand der fraglichen nationalen Vorschrift, vielmehr
msses vor.
liegt das letzte Wort beim nationalen Gericht: Es kann die
Vorschrift richtlinienkonform auslegen oder sie in Kenntnis Beispiel 24: Man hat die Anwendung von § 312 d IV Nr. 5 auf Internet-
der Europarechtswidrigkeit anwenden und den betroffenen Auktionen (vgl. BeispiellS) damit zu begründen versucht, dass solche
Bürger auf Staatshaftungsansprüche wegen fehlerhafter "Versteigerungen" andernfalls ihren Sinn verlören und deren Anbieter
Richtlinienumsetzung verweisen 38 •
32 Vgl. BVerfCE 18,97 (111) = NJW 1964, 1563; 35,263 (280) = NJW 1973,
1491; BCH, NJW 2005, 1508 (1510) = NZI 2005,228.
E. Typische juristische Schlussformen 33 Eingehend dazu Canaris, in: Festschr. f. Bydlinski, 2002, S. 4 7 ff.; Herrestha/,
Rechtsfortbildung im europarechtl. Bezugsrahmen, 2006.
Der Schwerpunkt der juristischen Arbeit liegt in der Sub- 34 Beispielhaft zu§ 312d IV Nr. 5 BCH, NJW 2005, 53 (m. Anm. Mankowski,
JZ 2005, 444) =JuS 2005, 175 (Emmerich).
sumtion und der dazu erforderlichen Auslegung des Geset- 35 EuCH, Urt. v. 4. 7. 2006 C-212/04, Slg. 2006, I-6057 Rdnr. 108 ff. = NJW
zes. Die daran anschließende logische Folgerung vom Tat- 2006, 2465 = EuZW 2006, 730- Adeneler.
bestand auf die Rechtsfolge hat den geringsten Anteil an der 36 Ebda. (Tz. 110).
37 BCH, NJW 2009,427, m.Anm. Pfeiffer, NJW 2009,412, und Stephan Lo-
Rechtsfindung. Gleichwohl, oder eben deshalb, sind Juristen renz, LMK 2009, 273611; Herresthal, NJW 2008, 2475 (2476 f.).
bemüht, auch ihrer eigentlichen Leistung das Gepräge des 38 Vgl. EuCH, Urt. v. 4. 7. 2006- C-212/04, Slg. 2006, I-6057 Tz. 112 = NJW
Logischen zu geben. Die Deutung und Anwendung des Ge- 2006, 2465 = EuZW 2006, 730 - Adeneler; Stephan Lorenz, NJW 2006,
setzes soll sich als rationaler Prozess darstellen und nicht als 3203.
39 Wenn aus A stets B folgt, dann folgt aus "nicht B" zwingend "nicht A".
bloßes Behaupten. So haben sich zur Begründung von juris- 40 Vgl. Palandt!Heinrichs, BGB, 68. Aufl. (2009), § 281 Rdnr. 15; dagegen aber
tischen Ergebnissen bestimmte Schlussformen herausgebil- aus teleologischen Gründen ]aensch, NJW 2003, 3613.
Bitter/Rauhut: Grundzüge zivilrechtlicher Methodik- Schlüssel zu einer gelungenen Fallbearbeitung JuS 4/2009 297

ihr Geschäftsmodell aufgeben müssten. Dieser Argumentation mit einem Von Menschenhand gemacht, ist das Gesetz zwangsläufig
angeblich "absurden Ergebnis" hat der BGH zu Recht sinngemäß ent- unvollkommen und damit lückenhaft. Solche Lücken können
gegengehalten, dass Unternehmer, die ihre Waren über das Internet ver- entstehen, wenn der Gesetzgeber sich zu einer Regelung ent-
treiben, sich darauf eben einzustellen hätten41 . Dass sich die Anbieter
zur Aufgabe ihres Geschäftsmodells gezwungen sähen, ist alles andere
schließt, er diesen Entschluss aber sprachlich in einer Art und
als ein unerträgliches Ergebnis, wenn das Gesetz in solchen Vertriebs- Weise umsetzt, die sein eigentliches Anliegen nicht widerspie-
formen eine übergroße Gefahr für den Verbraucher sieht - und ob das gelt. Das sind, sozusagen, handwerkliche Lücken. Dieses Um-
der Fall ist, steht gerade in Frage. setZungsdefizit hinsichtlich der gesetzgeberischen Wertent-
scheidung darf - man kann auch sagen: muss - der Rechts-
anwendet im Zuge der Gesetzesauslegung beseitigen (o. D
111. Argurnenturn a maiore ad minus III 4 a, b).
Der Schluss a maiore ad minus {lat. für "vom Größeren auf Eine Regelungslücke mag aber auch daher rühren, dass der
das Kleine") basiert auf der Annahme, dass das Mehr das Gesetzgeber überhaupt keine Wertentscheidung getroffen
Weniger umfasst. Logisch zwingend ist dieser Schluss aller- hat, weil er z. B. den eingetretenen Fall nicht vorhergesehen
dings nur, wenn das Verhältnis vom Mehr zum Weniger hat. Dann tut sich eine inhaltliche Lücke auf. Auch sie kann
seinerseits logisch begründbar ist (wenn sechs Äpfel in die der Rechtsanwender zu schließen berufen sein. Weil er damit
Tüte passen, dann passen auch fünf hinein) und nicht auf allerdings selbst die Grundlage für seine Entscheidung schafft
einer bloßen Wertung beruht. Weil in der juristischen Argu- und eine Wertung des Gesetzgebers vorwegnimmt, handelt es
mentation das Mehr und das Weniger zumeist in einem wer- sich nicht mehr um bloße Gesetzesanwendung, sondern um
tenden "Größenverhältnis" stehen, diese Wertung aber kei- einen Akt der Rechtsfortbildung45 . Dass die Gerichte auf-
neswegs immer unangreifbar ist, verbirgt sich hinter einem gerufen sind, das Recht fortzubilden, steht heute außer Frage
argurnenturn a maiore ad minus häufig ein fehlbezeichnetes (vgl. §§ 511 IV 1 Nr. 1, 543 I Nr. 2 ZPO; § 132 IV GVG) 46 •
argurnenturn a fortiori (u. E IV). Man darf den nach Rechtsschutz suchenden Bürger nicht
Beispiel 25: Wer nach§§ 314, 543 oder 626 das Recht hat, außerordent- damit abspeisen, der Gesetzgeber habe an seinen Fall nicht
lich fristlos zu kündigen (Mehr), ist auch zu einer befristeten Kündigung gedacht.
berechtigt (Weniger), da dies weniger belastend für den Gekündigten
wirkt. Streng genommen liegt diesem Schluss eine Wertung zu Grunde, Beispiel 2 7: Was Studierende heute in § 311 II geregelt finden, stützte
nämlich die These, dass eine befristete Kündigung den Gekündigten sich bis 2002 auf eine Analogie zu den §§ 122, 179 II, 307 a. F. und war
weniger belaste als eine fristlose. Gleichwohl darf man den Schluss für als Haftung aus culpa in contrahendo (c. i. c.) gewohnheitsrechtlich
zwingend erachten, weil diese These kaum zu widerlegen ist und damit anerkannt: Auch im 20. Jahrhundert rutschte man in Geschäften schon
das Verhältnis zwischen fristloser und befristeter Kündigung einer logi- auf Gemüseblättern aus 47 •
schen Stufung zumindest sehr nahe kommt.

I. Voraussetzungen der Analogiebildung


IV. Argurnenturn a fortiori (Erst-recht-Schluss)
Richterliche Rechtsfortbildung ist nur zulässig, wo eine ge-
Beliebt unter Juristen ist auch das argurnenturn a fortiori (lat. setzliche Regelung fehlt und das Schweigen des Gesetzes nicht
für "vom Stärkeren"). Es enthält einen "Erst-recht-Schluss", Ausdruck einer gesetzgeberischen Entscheidung ist, an dieser
der im Gegensatz zum argurnenturn a maiore ad minus jedoch Stelle keine Regelung zu wollen. Erste Voraussetzung für
nicht logisch zwingend, sondern wertend ist. Mit dem argu- einen Analogieschluss ist deshalb eine Lücke im Gesetz, die
rnenturn a fortiori soll ein Sachverhalt, der als mindestens dem Regelungsplan des Gesetzgebers widerspricht, kurz: eine
genauso regelungsbedürftig erscheint, der Regelung eines an- planwidrige Regelungslücke.
deren Sachverhalts unterworfen werden. Im Kern geht es also
Auch wenn der Richter sich vor einen gesetzlich nicht gere-
um ein Gleichbehandlungsproblem, weshalb der Erst-recht-
gelten Fall gestellt sieht, befindet er sich nicht im rechtsfreien
Schluss in aller Regel ein verdeckter Analogieschluss (u. F)
Raum. Um eine Entscheidung herbeiführen zu können, muss
ist42 •
er den gesetzlichen Bestand nach einer Regelung durchfors-
Beispiel 26: Die Frage, ob das Bewusstsein, etwas rechtlich Erhebliches ten, die einen dem ungeregelten Fall möglichst ähnlichen Ge-
zu erklären (so genanntes Erklärungsbewusstsein), ein konstitutives genstand betrifft. Daraus ergibt sich die zweite Voraussetzung
Merkmal einer Willenserklärung darstellt, gehört zu den Klassikern im für einen Analogieschluss: dass eine vergleichbare Interessen-
Studium des Allgemeinen Teils des BGB. Man kann mit einem Erst-
lage zwischen normiertem und nicht normiertem Sachverhalt
recht-Schluss aus § 118 sagen: Wer nicht gebunden werde, obwohl er
bewusst den äußeren Tatbestand einer Willenserklärung setzt, könne besteht.
schon gar nicht gebunden sein, wenn ihm dieses Bewusstsein fehlt 43 . Das Beispiel 28: Aus § 823 I schuldet Schadensersatz, wer " ... das Leben,
klingt für sich genommen überzeugend, blendet jedoch aus, dass nach den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sons-
§ 116 S. 1 nicht erkennbare Willensmängel der Wirksamkeit der Erklä- tiges Recht eines anderen ... verletzt". Neben diesem Schadensersatz-
rung nicht entgegenstehen und § 118 eine im Hinblick auf den im BGB anspruch gibt das Gesetz dem Eigentümer in § 1004 I auch einen Stö-
hochgehaltenen Verkehrsschutz (§ 157) systemwidrige Ausnahmevor- rungsbeseitigungs- und Unterlassungsanspruch. Für alle übrigen in
schrift darstellt44 . Man kommt deshalb nicht umhin, zur Vergleichbar- § 823 I genannten, ebenfalls absolut geschützten Rechte fehlt eine ent-
keit der Fälle Stellung zu nehmen. sprechende Regelung. Sie verdienen jedoch nicht weniger Schutz als das
Eigentum. Der Träger eines dieser Rechte kann deshalb analog§ 1004 I

F. Analogieschluss und richterliche Rechtsfortbildung


41 BGH, NJW 2005, 53 (m. Anm. Mankowski, JZ 2005, 444) =JuS 2005, 175
Unter den juristischen Schlussformen verdient der Analogie- (Emmerich); krit. Braun, JZ 2008, 330.
42 Näher Schneider/Schnapp, Logik f. Juristen, 6. Auf!. (2006), § 36 III.
schluss, das argurnenturn a simile (lat. für "vom Ähnlichen"), 43 So Canaris, NJW 1984,2281.
besondere Heraushebung. Er hilft nicht einfach bei der Aus- 44 Vgl. Palandt!Heinrichs (o. Fußn. 40), § 118 Rdnr. 2.
legung einer Vorschrift, sondern entfaltet seine Wirkung dort, 45 Zu diesem Begriff Christian Fischer, Topoi verdeckter Rechtsfortbildungen im
wo eine Regelung schlicht fehlt. Damit rührt die Analogie- ZivilR, 2007, S. 34 ff.
46 Grdl. BVerfGE 34,269 = NJW 1973, 1221.
bildung an Grundfragen juristischer Methodik, in deren Zu- 47 Vgl. BGHZ 66, 51 = NJW 1976, 712 - Gemüseblatt; RGZ 78, 229 -
sammenhang sie zu behandeln ist: Linoleumrolle.
298 JuS 4/2009 Bitter/Rauhut: Grundzüge zivilrechtlicher Methodik- Schlüssel zu einer gelungenen Fallbearbeitung

die Beseitigung der Störung oder das Unterlassen weiterer Beeinträchti- lässiger richterlicher Rechtsetzung bewegt (Gewaltenteilung,
gungen verlangen4 8. Art. 20 II, III, 28 I GG) 54 • Wo aber verläuft die Grenze zwi-
Nicht jede Vorschrift taugt zu einer Analogiebildung. Sie schen richterlichem Müssen und Dürfen? Auf den schöpferi-
muss vielmehr einen verallgemeinerungsfähigen Gedanken schen Beitrag der Gerichte zu einer leistungsfähigen Rechts-
enthalten. So dürfen spezialgesetzliche Normen und Ausnah- ordnung mag niemand verzichten, auch nicht der Gesetzgeber,
meregelungen zur Analogiebildung grundsätzlich nicht heran- der sich bisweilen zwischen rechtlichem Wollen und politi-
gezogen werden, weil ihr besonderer Gegenstand der Über- schem Können aufreibt. Eines jedenfalls lehrt die Bindung der
tragung auf allgemeine Sachverhalte entgegensteht. Denkbar Gerichte an Gesetz und Recht: Richterliche Rechtsfortbil-
ist allerdings, dass zwei Sachverhalte sich gerade in der Be- dung, mitunter auch als Richterrecht bezeichnet55 , bedarf
sonderheit ähneln, auf welche die Sonderregelung abzielt49 • besonderer Rechtfertigung. Es soll das geschriebene Recht
weiterdenken und ergänzen. Anlass dazu kann nicht nur bei
Beispiel 29: Entgegen § 766 S. 1 ist die von einem Kaufmann abge- echten Lücken im Gesetz bestehen, sondern auch, wenn hinter
gebene Bürgschaftserklärung nach§ 350 HGB auch formlos gültig. Das
gilt nach h. M. aber nur für Kaufleute i. S. von § 1 HGB und nicht analog
den Worten des Gesetzes der Regelungsgehalt schwindet, weil
für Kleinunternehmer, Freiberufler50 oder geschäftsführende GmbH-Ge- die Zeit über Gegenstand und Ziel der Norm hinweggegangen
sellschafter51. Das kann man durchaus anders sehen, wenn man nicht ist. Ebenso mögen Fortschritte in der juristischen Erkenntnis
die Unterscheidung von Kaufmann (besonders) und Nicht-Kaufmann eine Neubewertung des geschriebenen Rechts erfordern.
(allgemein) zum Maßstab nimmt, sondern die vergleichbare besondere
Geschäftserfahrenheit von einem "echten" Kaufmann und einem "blo- Beispiel 32: Die Rechtsfähigkeit einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts
ßen" geschäftsführenden GmbH -Gesellschafter. (§§ 705 ff.) sowie die Haftung ihrer Gesellschafter hat Generationen von
Juristen Kopfzerbrechen bereitet. Das Normenfundament war in der
Zu warnen ist auch vor vermeintlichen Regelungslücken: Bei Rechtswissenschaft schon lange als unvollständig und brüchig erkannt
Aufzählungen kommt eine Analogie nur in Betracht, wenn worden. Nach einigen Jahren behutsamen Vortastens glich der BGH
die Aufzählung lediglich Beispiele enthält und nicht vom schließlich im Jahre 2001 die Haftungsverhältnisse der Außen-GbR
denen bei einer OHG (§§ 105, 128 HGB) an und schrieb diese Grund-
Gesetzgeber abschließend formuliert wurde. Andernfalls liegt satzentscheidung in den Folgejahren im Detail fort 56 . Dabei bemühte
keine planwidrige Regelungslücke, sondern ein beredtes sich das Gericht zunächst noch um eine aus dem Normtext gewonnene
Schweigen des Gesetzes vor. Mitunter verzichtet der Gesetz- Begründung. Ehrlicherweise handelte es sich aber um einen Akt richterli-
geber allerdings bewusst auf eine Regelung, um die Diskus- cher Rechtsfortbildung.
sion und Entwicklung in Rechtsprechung und Lehre abzuwar-
ten. Obwohl nicht planwidrig, ist die daraus resultierende An dieser Stelle spitzt sich der Streit um das Ziel der Aus-
Lücke dann zur Ausfüllung geradezu bestimmt. Je weiter sich legung zu: objektiv oder subjektiv? Darf der Rechtsanwender
die offene Frage von geregelten Sachverhalten entfernt, desto ein geändertes Verständnis in den unveränderten Gesetzestext
schwieriger wird allerdings ein Analogieschluss. Wo gesetzli- hineinlesen, oder muss er den historischen Willen des Gesetz-
che Einzelwertungen fehlen, bleibt nur der Blick auf gesetzli- gebers für defizitär erklären und den Weg der offenen Rechts-
che Grundwertungen, deren wichtigste im Gebot von Treu fortbildung gehen? Der zweite Ansatz hat die methodische
und Glauben(§ 242) besteht. Ehrlichkeit für sich. Er bewahrt den Gesetzesanwender davor,
Beispiel 30: Weite Teile des Arbeits-, des Gesellschafts-, aber auch des eigene Wertungen in das Gesetz zu tragen, bevor er deren
Miet- und Kreditsicherungsrechts müssen ohne gesetzliche Regelungen Fehlen festgestellt hat, und verhiiJ.dert eine womöglich unzu-
auskommen. Hier ist es Sache der Rechtsprechung, durch behutsame lässige Rechtsfortbildung gegen das Gesetz. Die Kehrseite
Rechtsfortbildung Lösungen zu entwickeln, die dereinst als Vorbild für wäre freilich eine wachsende Zahl von Entscheidungen, deren
eine Kodifikation dienen mögen52 . Gründe sich nicht unmittelbar auf den Gesetzestext stützen
An die Voraussetzungen des Analogieschlusses ist im Übrigen könnten. Der Rechtsanwender und seine subjektiven Wertun-
auch zu denken, wenn in der juristischen Literatur mit einem gen treten bei der Rechtsfortbildung in den Vordergrund. Da-
"Erst-recht-Schluss" argumentiert wird (vgl. o. E IV). Dieser rauf gründende Urteile büßen die Objektivität des gesetzlich
Erst-recht-Schluss basiert nämlich auf der Wertung, dass ein Vorbestimmten ein. Den Beitrag des Rechtsanwenders zur
nicht geregelter Sachverhalt "mindestens" so regelungswür- Rechtsfindung besser sichtbar zu machen und damit auch
dig sei wie der geregelte. eine mögliche Fehlerquelle offen:Zulegen, darf aus rechtsstaat-
lieber Sicht allerdings durchaus als Fortschritt gelten.
Beispiel 31: Nach§ 119 I kann, wer bei der Abgabe einer Willenserklä-
rung über deren Inhalt im Irrtum war oder eine Erklärung dieses Inhalts
überhaupt nicht abgeben wollte, die Erklärung anfechten, wenn anzu- 48 Zur Abwehr von Verletzungen des Allg. PersönlichkeitsR BGHZ 151, 26 =
NJW 2002, 2317 = GRUR 2002, 690; zur Abwehr von Eingriffen in den ein-
nehmen ist, dass er sie bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger gerichteten u. ausgeübten Gewerbebetrieb BGH, NJW 1999, 279 = GRUR
Würdigung des Falles nicht abgegeben haben würde. Den Fall, dass der 1999,364.
"Erklärende" eine Willenserklärung abgibt, ohne sich bewusst zu sein, 49 Vgl. Säcker, in: MünchKornrn-BGB, 5. Auf!. (2006), Einl. Rdnr. 112.
etwas Rechtserhebliches zu erklären (fehlendes Erklärungsbewusstsein), 50 Canaris, HandelsR, 24. Aufl. (2006), § 24 Rdnrn. 10, 14, trotz erheb!. rechts-
hat der Gesetzgeber nicht geregelt. Man kann sagen, dann fehle es schon politischer Bedenken.
am Tatbestand einer Willenserklärung (Beispiel 26). Bejaht man hin- 51 BGHZ 165, 43 (Rdnrn. 16 ff.) = NJW 2006, 431 =JuS 2006, 463 (Karsten
gegen aus Verkehrsschutzgründen eine wirksame Willenserklärung trotz Schmidt); Baumbach!Hopt, HGB, 33. Aufl. (2008), § 350 Rdnr. 7; a. A.
fehlenden Erklärungsbewusstseins, so muss der Erklärende sie wenigs- Karsten Schmidt, HandelsR, 5. Aufl. (1999), § 18 I 1 d aa (S. 519 f.).
52 Anschaulich zum - durchaus konfrontativen - Wechselspiel zw. Kodifikation
tens analog § 119 I anfechten können: Wenn derjenige, der etwas u. richterl. Rechtsfortbildung arn Bsp. des GesellschaftsR Karsten Schmidt, JZ
Rechtserhebliches erklären will, die Erklärung auf Grund eines Irrtums 2009, 10.
anfechten darf, dann gibt es keinen Grund, demjenigen, der sich schon 53 So die h.M. seit BGHZ 91, 324 = NJW 1984, 2279, rn.Anrn. Brehmer, JuS
über die Rechtserheblichkeit seines Verhaltens irrt, nicht ebenfalls ("erst 1986, 440; näher dazu Singer, JZ 1989, 1034.
recht"?) das Anfechtungsrecht zu gewähren53 . 54 Dazu vertiefend Hillgruber, JZ 2008, 745; sehr lesenswert die scharf geführte
Diskussion zw. Hirsch, JZ 2007, 853, u. Rüthers, JZ 2008, 446; ausgespro-
chen eng Neuner, Die Rechtsfindungcontra Iegern, 2. Aufl. (2005).
55 Rüthers (o. Fußn. 1), Rdnrn. 235ff.; Langenbucher, Die Entwicklung u. Aus-
II. Rechtsfortbildung und Methodenehrlichkeit legung v. RichterR, 1996.
Wer sich als Rechtsanwender zur Rechtsfortbildung ver- 56 BGHZ 146, 341 = NJW 2001, 1056 = NZG 2001, 311, rn.Anrn. Karsten
Schmidt, NJW 2001, 993, und Timme/Hülk, JuS 2001, 536; zur Grundbuch-
anlasst sieht, muss sich stets vor Augen halten, dass er sich im fähigkeit der GbR jüngst die für die arntl. Slg. vorgesehene Entsch. des BGH,
Spannungsfeld zwischen legitimer Rechtsprechung und unzu- N]W 2009, 594 = NZG 2009, 137 = NZM 2009, 94.

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