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Einleitung
Meine Ausführungen beschäftigen sich mit folgender Frage: Kann es mate-
riale strafrechtliche Schuld in einer pluralistischen und demokratisch verfaß-
ten Gesellschaft geben? Die Antwort wird zwar positiv ausfallen, aber nicht
unerheblich abweichen von den beiden Hauptströmungen in der heutigen
strafrechtlichen Grundlagendiskussion: dem Funktionalismus einerseits und
den Ausläufern des subjektivistischen Vernunftliberalismus andererseits.
Die Ausführungen sind in vier Abschnitte gegliedert, von denen sich der erste
mit einigen markanten Positionen, die heute zur Frage der materialen Schuld
vertreten werden, kritisch auseinandersetzt. Im zweiten Abschnitt werden die
handlungstheoretischen Grundlagen eines diskursiven Schuldbegriffs darge-
stellt, dessen rechtstheoretische Verankerung unter dem Aspekt demokrati-
scher Normsetzung im dritten Abschnitt behandelt wird. Im vierten Abschnitt
wird abschließend das Problem gestreift, inwieweit der Täter vor einer Instru-
mentalisierung durch den Schuldvorwurf bewahrt werden kann.
Unwesentlich erweiterter und durch Anmerkungen ergänzter Text des Vertrags auf der
Strafrechtslehrertagung im Mai 1995 in Rostock.
Es versteht sich, daß die Frage nach der materialen Schuld nicht unbeant-
wortet bleiben darf, wenn der Schuldvorwurf samt strafender Reaktion
nicht der legitimierenden Grundlage entbehren soll. Da die Feststellung ma-
terialer Schuld kein expliziter dogmatischer Prüfungsschritt ist, muß mate-
riale Schuld weiterhin in den formalen Gang der Zurechnung eingewoben
sein. Der formale Schuldvorwurf muß, mit anderen Worten, unausgespro-
chen materiale Schuld enthalten.
Nun bereitet die Suche nach der materialen Schuld nicht nur große
Schwierigkeiten, weil sie im Schuldvorwurf nicht ausdrücklich erwähnt
wird. Es gibt auch eine normative Sperre, die als Neutralitätsgebot des
Rechts gegenüber den Motiven seiner Befolgung bezeichnet werden kann.
Bereits Kant hat verdeutlicht, daß nur Legalität, das äußere gesetzeskonfor-
me Verhalten, erzwungen werden kann und darr. Aus welchen Gründen die
Norm befolgt wird, muß mithin freigestellt werden. Unter dieser Vorausset-
zung darf dem Täter nicht vorgeworfen werden, er hätte das rechtswidrige
Verhalten aus bestimmten Gründen vermeiden können und müssen. Zur ra-
tionalen - vor allem: moralischen - Motivation darf das auf äußere Gesetzes-
förmigkeit angelegte Recht nicht verpflichten3.
Immerhin geht Kant noch davon aus, daß das Gesetz seine Befolgung^er-
dienen müsse, daß es also die Möglichkeit bieten müsse, aus guten Gründen
befolgt zu werden . Doch selbst diese These ist fragwürdig: Gibt es in einer
pluralistischen Gesellschaft überhaupt Gründe, die eine Norm allgemein-
verbindlich legitimieren? Muß nicht schon deshalb das Recht jedem das Mo-
tiv zur Befolgung seiner Normen freistellen, weil es gar keine allgemein ein-
sichtigen Gründe für seine Normen - jedenfalls für alle Normen - bieten
kannt Wie soll es aber auf Legitimität bezogene materiale Schuld geben,
wenn Gründe fehlen, die jedermann zur Normbefolgung rational motivie-
ren können? Um eine Antwort auf diese Fragen vorzubereiten, seien einige
Vorschläge zur Bestimmung materialer Schuld kritisch betrachtet, zunächst
Positionen eines subjektivistischen Vernunftliberalismus.
1
Das rechtlich neutrale Motiv zur Normbefolgung ist zu unterscheiden von tatbestand-
lich vertypten Motiven der Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung; erhellend hierzu
Kühl, m: Jung u. a. (Hrsg.), Recht und Moral, 1991, S. 139, 144 ff.
2
Kant, Metaphysik der Sitten, hrsg. von Weischedel, Werke Bd. IV, 1975, S. 337 ff.
3
Vgl. auch Klaus Günther, JB RuE 1994, 143,148 f. und passim.
4
Kant, Metaphysik der Sitten (Anm. 2), S. 325, 509 ff.
5
Vgl. nur Hoffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 382 ff.; durchschlagende Kritik bei
Klaus Günther, Rechtshistorisches Journal 1991, 233 ff.
6
Leviathan, hrsg. von Fetscher, 1966.
7
Dies gilt auch für die von Arthur Kaufmann, ARSP 1994,476, jüngst vorgeschlagene Form
eines negativen Utilitarismus, der es zum Gebot macht, menschliches Elend zu minimieren.
De facto ist dieser Utilitarismus noch freiheitseinschränkender als der positive, der mit den
mehr oder minder diffusen Zielvorgaben Glück bzw. Nutzen freie Selbstbestimmung kaum
einengt. Dagegen sind die von Kaufmann exemplarisch genannten Umstände wie Armut,
Krankheit, Hunger und Obdachlosigkeit sehr konkret und damit zugleich (theoriewidrig)
inhaltliche Vorgaben eines positiven Utilitarismus: Durch die Minimalisierung von Armut,
Hunger usw. wird fraglos das Glück der Menschheit befördert. Das eigentlich Bedenkliche
an Kaufmanns Vorschlag liegt in der - sicher auch gar nicht so gemeinten - Radikalisierung
des Samariterprinzips. Es geht ja nicht um die sinnvolle Forderung, zur Verminderung von
Leid beizutragen, sondern um die kategorische Forderung: „Handle so, daß die Folgen dei-
ner Handlung verträglich sind mit der größtmöglichen Vermeidung oder Verminderung
menschlichen Elends", was auch die Minimierung unvermeidbaren Leides einschließen soll
(a. a. O., S. 486). Damit ist selbst eine an sich gute Handlung moralisch falsch, wenn durch
eine Handlungsalternative mehr Leid vermindert werden könnte: So dürfte ich den Ver-
unglückten V nicht retten, wenn ich statt seiner auch den Verunglückten U, der im Ge-
gensatz zu V eine große Familie zu versorgen hat, retten könnte - und dies angesichts des
das Sanktionieren von Normen unter Bezugnahme auf die Rationalität des
Trittbrettfahrens begründen: Wenn die anderen den Vertrag halten und ich
ihn breche, habe ich doppelt gewonnen: die Leistung der anderen erhalten
und die eigene eingespart. Dem ist durch Vertragssanktion zu begegnen, die
wiederum legitim ist, weil wir ohne Sanktion und daher bei allgemeinem
Vertragsbruch wieder im Naturzustand landeten, also in der sub specie Frei-
heitsentfaltung schlechtesten aller denkbaren Situationen .
Bei einer so verstandenen Legitimation der Norm ist materiale Schuld ein
Defizit an Vertragstreue, die sich aus keinem anderen Motiv speist als aus
dem der zweckrationalen Wahrung eigener Interessen. Diese Variante des
Vernunftliberalismus ist freilich dem vernichtenden Einwand ausgesetzt, daß
ein rein zweckrational konstituiertes Subjekt keinen zweckunabhängigen
Grund hat, sich auch dann an den geschlossenen Vertrag zu halten, wenn dies
seinen Interessen widerspricht. So zweckrational es sein mag, die anderen als
Vertragspartner zur Erreichung eigener Ziele zu behandeln, so zweckrational
kann es sein, Verträge wieder zu brechen, wenn sich so eigene Ziele besser
verwirklichen lassen . Der Vertragsbruch vermag also keinen rechtlichen
oder moralischen Vorwurf gegenüber dem Täter zu begründen .
b) Diese Schwäche vermeidet die Kantische Version des Vernunftliberalis-
mus, die im heutigen Strafrecht einige präzise Ausformulierungen gefunden
hat , sie deutet Vernunft nicht als rein zweckrational, sondern als moralisch
imprägniert. Die Vernunft ist als Ratio des guten Willens bereits a priori auf
das Prinzip der Verallgemeinerung bezogen: An die Stelle der Motivation
aus schierem Selbstinteresse tritt die Selbstgesetzgebung der Vernunft. Für
kategorischen Charakters der Forderung auch dann, wenn V mein Vater ist. Dies zeigt nur,
daß jede allgemeinverbindliche inhaltliche Ausgestaltung des Verallgemeinerungs-
prinzips den Keim des Tugendterrors in sich trägt.
8
Hieran anknüpfend noch KindbäHser, GA 1989,493,496 ff.; ähnlich Koriath, Grundlagen
strafrechtlicher Zurechnung, 1994, S. 245 ff.
9
Gemeint ist vor allem: Das Prinzip „pacta sunt servanda" läßt sich nicht rein zweckra-
tional begründen. Daß sich (utilitaristische) Regeln zweckrationalen Handelns formu-
lieren lassen, soll nicht nur nicht bestritten werden, sondern ergibt sich schon daraus,
daß Zweckrationalität Entscheidungsregeln voraussetzt.
10
Vgl. Apel, in: Brumlik u. a. (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, 1993, S. 149,
152 f.; vgl. auch Köhler·, in: Vielfalt des Rechts - Einheit der Rechtsordnung?, Hambur-
ger Ringvorlesung, 1994, S. 61, 65 f.
11
Vgl. Kahloy Das Problem des Pflichtwidrigkeitszusammenhanges bei den unechten Un-
terlassungsdelikten, 1990, S. 272 ff.; Köhler, Der Begriff der Strafe, 1986; E. A. Wolff,
ZStW 97 (1985), S. 786 ff.; Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 128 ff.; in
erhellender Frontstellung gegen das „moderne" Strafrecht Naucke, ZStW94 (1982),
S. 525 ff.
Kant ist das Prinzip der gleichen Freiheitsrechte aller Menschen vom auto-
nomen Einzelsubjekt immer schon gewollt und anerkannt. Vor allem Köhler
und Zaczyk ziehen hieraus für das Strafrecht den Schluß, daß das Recht, das
die Freiheitssphären koordiniert, auf der vernunftgemäßen Anerkennung
des Prinzips gleicher Freiheit beruht .
Auch in dieser Kantischen Variante des Vernunftliberalismus ist materiale
Schuld defizitäre Vernunft: Die Straftat sei sittliche Selbstkorruption eines als
gleiches und freies Vernunftwesen geachteten Mitmenschen. Der Straftäter
negiere durch die Tat die in der Norm kondensierte Vernunft des allgemeinen
Rechtsverhältnisses; er widerspreche durch die Unvernunft seiner Tat sich
selbst als Vernünftigem . In der vernunftgemäß schlüssigen Handlungsbe-
stimmung soll zugleich der subjektive Geltungsgrund der Norm liegen.
Indessen ist ein so interpretierter Vernunftliberalismus weder erkenntnis-
theoretisch überzeugend, noch wird er den spezifischen strafrechtlichen Er-
fordernissen gerecht. Zunächst ist schon das Bild eines der Gesellschaft vor-
gelagerten vernünftigen Subjekts fragwürdig . Rationalität im allgemeinen
wie Moralvorstellungen im besonderen werden im Sozialisationsprozeß
durch die Sprache intersubjektiv vermittelt und sind damit unaufhebbar mit
dem Rationalitätsstatus einer konkreten Gesellschaft verbunden. Ein Sozial-
vertragsmodell läßt sich nicht ohne vorgelagertes Bild einer Gesellschaft ent-
wickeln . Modelle, die gleichwohl an den Prämissen festhalten, wie etwa das
vom Schleier des Nichtwissens, den die Verhandlungspartner bezüglich ihrer
konkreten Rolle in der späteren Gesellschaft tragen sollten16, laufen im Kern
12
Vgl. Köhler und Zaczyk (Anm. 11), mit jeweils eingehender /fowi-Interpretation.
13
Vgl. Köhler, Der Begriff der Strafe, 1986, S. 29 f.: „Als Prozeß im Denken besteht das Böse
in der Selbstkorrumpierung, Selbstnegation der Einsicht in das wirklich Gute/Richtige
der Handlungsmaximenbestimmung." Vgl. auch den., Über den Zusammenhang von
Strafrechtsbegründung und Strafzumessung, 1983, S. 38. Ähnlich Zaczyk, Das Unrecht
der versuchten Tat, 1989, S. 201: Indem der Täter „Handlungsmöglichkeiten ergreift, die
er als Vernünftiger für sich ausgeschlossen hat, negiert er in gleichem Maße seine eigene
Vcrnünftigkeit". Der Selbstwiderspruch ergibt sich daher schon, wie Günther, JB
RuE 1994,151, aufzeigt, wenn die Norm aus unvernünftigen Motiven befolgt wird.
14
Da das Denken durch die Sprache - samt ihrer politischen und rechtlichen Grundbegrif-
fe - bestimmt ist, die Sprache aber der „Vernunftwerdung" des einzelnen vorgelagert ist,
läßt sich kaum die Konstitution des Gemeinwesens aus der Vernunft der einzelnen ab-
leiten; vgl. dagegen £. A. Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786, 814 ff.
15
Treff end Jakobs, in: Mehrheitsprinzip, Konsens und Verfassung, 1985, S. 23, 27: „Es ist
das Dilemma der Sozialvertragstheorien, mehr an Regelunterworfenheit vor dem Staat
postulieren zu müssen, als ohne Staat zu erwarten ist, oder aber zu wenig plausiblen An-
nahmen prästabilierter Harmonien greifen zu müssen"; vgl. auch a. a. O., S. 31.
16
Vgl. die einflußreiche Konstruktion von Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, deutsch
1979, S. 159 ff. und passim.
17
Zum philosophischen Paradigmenwechsel vom Bewußtsein zur Sprache vgl. Kindhätt-
ser, Intentionale Handlung, 1980, S. 50 ff., m. w. N.
18
Vgl. auch Günther,]^ RuE 1994,143,150 f.
19
Anders die ^« -Interpretation Kerstings, Wohlgeordnete Freiheit, 1984, S. 16 ff., 42 ff.:
Das - juridischer Vernunft entsprechende - Rechtsgesetz legitimiert nur den Zwang, der
wiederum nur indirekt nötigt: „Letztlich ist es die Selbstliebe, die zu gesetzeskonfor-
mem Verhalten motiviert. Der in Aussicht gestellte Zwang ist eine Information, die der
handlungsvorbereitende Verstand in sein Kalkül einbezieht und so die Selbstliebe vor
einer Dummheit bewahrt" (S. 34 f.). Insoweit kann die Rechtspflicht eine heteronome
Erfüllung zulassen, die Rechtspflichterfüllung also „Ergebnis massiver Fremdbestim-
mung" sein (S. 31).
20
Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 198.
21
Vgl. auch Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 171: Die Anerkennung von
(personalen) Rechtsgütern müsse „jedem begegnenden Anderen gegenüber geleistet
werden". Ähnlich ders., Strafrechtliches Unrecht und die Selbstverantwortung des Ver-
letzten, 1993, S. 26, 31: Unrecht als Verfehlung einer praktischen Leistung des Täters.
läßt sich keine prästabilierte Harmonie ausmachen22. Das hier relevante Pro-
blem ist beispielhaft für jeden Ansatz, der den Geltungsgrund der Norm un-
mittelbar aus der individuellen Moralität ableitet, ohne die gesellschaftliche
Vermitteltheit der Normgenese zu berücksichtigen. In der sozialen Welt
kann der einzelne nicht zugleich bei sich und im allgemeinen sein .
Daß sich die moderne Gesellschaft im Meinungskampf integriert, daß der
Staat vom zwangsbewehrten Nachtwächter zum kooperativen Partner - vor
allem in den Bereichen Wirtschaft und Arbeit - mutierte, daß das Austarie-
ren negativer Freiheiten von der Sicherung sozialer Teilhaberechte überla-
gert wird, daß sich die staatlichen Gewalten nicht nur zunehmend ineinan-
der verschlingen, sondern sich auch mit Parteien und Verbänden verflech-
ten , daß Selbstbestimmung heute wesentlich von der Verfügbarkeit über
Daten abhängt, kurz: daß Handlungsfreiheit im Lichte kommunikativer
Freiheit zu interpretieren ist, kommt dem rückwärts gewandten Vernunftli-
beralismus heutiger Prägung nicht in den Blick.
22
In diesem entscheidenden Punkt ist Köhlers ansonsten höchst eindrucksvoll geschlosse-
ne Konzeption auffallend unbestimmt: Der Rechts-Setzungsprozeß soll Rücksicht neh-
men „auf seine eigene Voraussetzung in der Subjektautonomie" (Köhler, Der Begriff der
Strafe, 1986, S. 46); gleichwohl kann die Rechtsnorm „sogar der moralisch autonom für
richtig gehaltenen Maxime widersprechen" (a. a. O., S. 47). Damit diese Kontingenz be-
hoben und in der Straftat „die Selbstnegation des Subjekts als praktisch Vernünftigen"
(a. a. O., S. 49) gesehen werden könnte, müßte Köhler ein Kriterium bieten, mit dessen
Hilfe sich die Übereinstimmung subjektiver und intersubjektiver Vernünftigkeit fest-
stellen ließe. Die mangelnde Erweislichkeit eines solchen Kriteriums ist die Bruchstelle
jeder Theorie, die intersubjektive Geltung subjektiv - und rechtliche Schuld gar im bö-
sen Willen - fundieren will. Ähnlich versteht Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat,
1989, S. 151, den Rechtssatz als Ausdruck „gemeinsamer Richtigkeit", ohne den Schritt
von der subjektiven zur gemeinsamen Richtigkeit zu explizieren; vgl. ders., Strafrechtli-
ches Unrecht und die Selbstverantwortung des Verletzten, 1993, S. 25: Im Staat erschei-
ne „die Ausrichtung der Vernunftleistung des einzelnen bei der Bestimmung seines Ver-
haltens objektiviert".
2
* So Jakobs, Das Schuldprinzip, 1993, S. 28 f. Der subjektivistische Vernunftliberalismus
kann zwar die Notwendigkeit staatlich gesetzten Rechts aufweisen - besonders klar:
Zaczyk, ARSP-Beiheft 56 (1994), S. 105,119 ff. -, nicht aber die für einen subjektiv fun-
dierten Schuldbegriff notwendige Kongruenz von subjektiver Vernunft und rechtlicher
Allgemeinheit.
24
Hinzuweisen ist nur auf die quasi-staatliche Ordnungsfunktion von Tarifvereinbarun-
gen.
Täter wird nur die Rolle eines freien Bürgers zugeschrieben, die besagt, daß
er das Recht beanspruche, seinen Kopf selbst zu verwalten und sein Leben
selbst zu gestalten. Synallagma dieser eingeräumten Freiheit ist die „Ver-
bindlichkeit, Rechtstreue zu leisten"25. Damit dieses Verständnis des Sub-
jekts der Zurechnung nicht formal bleibt, verlangt/<*&obs, daß die zu befol-
genden Normen legitim sind: Sie sollen Normen einer Ordnung sein, die je-
dem die zu seiner freien und gleichen Entfaltung nötigen Subsidien zuweist.
Materiale Schuld ist damit mangelnde Rechtstreue gegenüber legitimen
Normen, die sich durchaus im traditionellen Sinne als Gesetze gleicher Frei-
heit interpretieren lassen.
Die mangelnde inhaltliche Festlegung des Personbegriffs macht diese
Lehre immun gegen die Einwände, denen der Vernunftliberalismus - in der
zuletzt dargestellten Variante - ausgesetzt ist. Materiale Schuld verlangt kei-
ne sittliche Selbstkorrumpierung. Der Täter muß sich nicht gegen die für ihn
nachvollziehbaren Gründe normgemäßen Verhaltens entscheiden, um
schuldhaft zu handeln, weil die individuelle Vorzugswürdigkeit der Norm in
einer pluralistischen Gesellschaft ohnehin nicht beweisbar ist. Nach diesem
Ansatz genügt es vielmehr für materiale Schuld, die Rolle eines freien Bür-
gers zu beanspruchen, ohne gegenüber Normen, die gleiche Freiheit zutei-
len, rechtstreu zu sein.
Indessen schüttet Jakobs mit seiner rein objektiven Begründung materia-
ler Schuld das Kind gleich mit dem Bade aus. Auch wenn Schuld nicht im
subjektiven Nachvollzug der für die Norm sprechenden Gründe bestehen
kann, muß der Schuldvorwurf mehr beinhalten als mangelnde äußerliche
Regelkonformität. Es muß eine innere Beziehung zwischen der Norm und
dem Normadressaten zur Begründung materialer Schuld geben , zumal
sich auch nur so die emotionale Komponente der Enttäuschung über den
Normbruch erklären läßt27'. Jakobs' Interpretation von Rechtstreue paßt, so
modern sie klingt, auch in den paternalistischen Staat des aufgeklärten Ab-
solutismus. Daß Normen in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft auch
25
Jakobs, Das Schuldprinzip, 1993, S. 35.
26
Ob dieser Einwand auch noch nach Jakobs' Vortrag auf der Rostocker Strafrechtsleh-
rertagung (ZStW 107 [1995], S. 843) gilt, mag hier dahinstehen; jedenfalls ist mit der
Verankerung von Schuld in „personaler Kommunikation", die auf wechselseitigen An-
erkennungsverhältnissen beruht, weder eine rein äußerliche (funktionale) Betrachtung
des Schuldbegriffs noch die Außerachtlassung psychischer Konstituenten beim Person-
begriff zu vereinbaren.
27
Kritisch zur fehlenden emotionalen Komponente auch Schumann, Positive Generalprä-
vention, 1989, S. 8 f.; Streng, NStZ 1995, 161, 162; vgl. hierzu unten IV.
28
Vgl. auch Seelmann, Rechtsphilosophie, 1994, S. 187 ff.
29
Wobei aus dem breiten Spektrum der Diskussionsbeiträge vor allem die sog. substantia-
listische oder neo-aristotelische Richtung herausgegriffen wird, die den Status des Bür-
gers ethisch interpretiert und auf Gemeinwohlorientierung festlegt; vgl. zusammenfas-
send Forst, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 1993, S. 196 ff.
30
Vgl. zum Diskussionsstand Brumlik u. a. (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit,
1993; Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, 1994; Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus,
1993; Zahlmann (Hrsg.), Kommunitarismus in der Diskussion, 1992. Ob die Berufung
auf die genannten philosophischen Gewährsleute stets berechtigt ist, mag hier dahinge-
stellt sein.
und so schlecht ist, wie ihre Mitglieder die ihnen obliegenden staatsbürger-
lichen Pflichten erfüllen.
Der Kommunitarismus läßt sich als normative Gesellschaftstheorie for-
mulieren, die den Wert der Freiheit nicht geringer schätzt als der Liberalis-
mus. Er impliziert nicht die Idee einer volonte generate im Sinne Rousseaus^
sondern kann das Gemeinwohl auch als ex ante offene Resultante im demo-
kratischen Meinungsstreit sehen. Auch er setzt auf die Partizipation an Ver-
fahren, auf den Pluralismus der Meinungen und der sozialen Kräfte. Wäh-
rend der Liberalismus aber statisch denkt - ist die bürgerliche Gesellschaft
erst freiheitlich verfaßt, laufen die Dinge gewissermaßen von selbst, wenn
nur jeder die Freiheit der anderen achtet -, denkt der Kommunitarismus
dynamisch. An die Stelle der vernunftgemäßen Interessenverfolgung tritt die
Tugend , deren Ausübung erst Freiheit schafft. Freiheit ist keine feste Grö-
ße, sondern wird durch die Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten er-
rungen und durch Engagement garantiert. Ein Volk, bei dem die Tugend
fehlt und völlige Sittenverderbnis eingerissen ist, so konstatiert Macbiavelli,
kann keinen Augenblick in Freiheit leben . Erkenntnis theoretisch interpre-
tiert der Kommunitarismus den einzelnen nicht als geschichtsloses und ato-
mistisches Vernunftwesen, sondern als Kind einer konkreten Gesellschaft in
einer konkreten Epoche. Seine Identität ist keine der Gesellschaft zeitlich
oder logisch vorgelagerte Größe, sondern wird erst gesellschaftlich konsti-
tuiert. Die Identitätsstiftung des Selbst durch die Gesellschaft begründet ei-
ne Verbundenheit zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft im Sinne ei-
ner Gemeinschaft, aus der die jeweiligen Verbindlichkeiten, das Allgemein-
wohl zu fördern, folgen . Wesentlich ist allerdings, daß die fragliche Gesell-
schaft demokratisch verfaßt ist. Denn nur in der Demokratie folgt aus der
Teilhabe an der Macht über alle die Verpflichtung, das Wohl aller zu fördern.
Nach diesem Verständnis wird der einzelne nicht als Privatperson gese-
hen, die sich im - zumindest gedachten - Austausch von Rechten und Pflich-
31
Zaczyk sieht dies, im Anschluß an Fichte, anders: Der Gesellschaftsvertrag sei „als sich
ständig neu vollziehender und bestätigender Wille aller anzusehen, diese konkrete staat-
liche Ordnung anzuerkennen"; Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat, 1989, S. 184.
Dies läßt sich freilich nur aus Klugheitsregeln entwickeln und nicht (logisch) aus dem
bloßen Erfordernis miteinander verträglicher Willkürbereiche des subjektiven katego-
rischen Imperativs folgern.
32
Vgl. hierzu auch Münkler, Die Idee der Tugend, Archiv für Kulturgeschichte 73 (1992),
S. 381.
33
Machiavelli, Discorsi, hrsg. von Zorn, 1966,1, 16 (S. 57).
34
Beispielhaft Maclntyre, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 1993, S. 84 ff.
35
Vgl. Madntyre, Der Verlust der Tugend, 1988, S. 204 f.
36
Vgl. auch Fletcher, Loyalität, 1994.
37
Macht und Gewalt, 1985, S. 42; ähnlich Maclntyre (Anm. 35), S. 204.
38
Zur Kritik vgl. auch Günther, JB RuE 1994, 143, 151 f.
Rechts nicht nur auf die Garantie von Legalität. Beide Alternativen sind un-
befriedigend. Weder kann auf den Vorwurf subjektiv fundierter materialer
Schuld verzichtet werden, weil sonst der Schuldvorwurf die Strafe nicht
rechtfertigt, noch kann zur Begründung materialer Schuld gegen das Neu-
tralitätsgebot verstoßen werden, weil sonst dem Täter etwas zum Vorwurf
gemacht wird, was nicht Gegenstand der auf Legalität beschränkten Schuld-
zurechnung ist.
Die Situation wäre indessen nicht ausweglos, wenn es einen Grund gäbe,
der den einzelnen an die Norm bindet, ohne die Freiheit des Befolgungsmo-
tivs einzuschränken. Die Norm dürfte einerseits kein äußerlicher, heterono-
mer Befehl sein, andererseits aber auch den Adressaten nicht auf Grund einer
vorrechtlichen Autonomiemoral auf ihre Befolgung festlegen. Demnach ist
nach Bedingungen zu suchen, unter denen sich die Legitimität der Norm für
den Adressaten bereits aus ihrer Legalität ergibt. Nur dann ist materiale
Schuld rein auf Legalität bezogen, frei von sittlichen, moralischen oder wert-
ethischen Implikationen, irreduzibel normativ und doch nicht funktional,
weil sie auf die Legitimationsbedingungen der Legalität und nicht auf deren
Funktion bezogen ist39.
Ein so umschriebener Schuldbegriff ist inhaltsreich und muß von den
rechtstheoretischen Voraussetzungen bis zu seiner dogmatischen Ausgestal-
tung begründet werden. Dies kann hier nur geschehen, indem der Begrün-
dungsweg anhand einiger Antworten auf Schlüsselfragen markiert wird.
Begonnen sei mit der Klärung der handlungstheoretischen Grundlagen.
2. Handlungstheoretische Grundlagen
Normen begrenzen den Bereich faktisch möglichen Verhaltens um der
Schaffung einer Ordnung des Zusammenlebens willen; sie dienen - neben
anderen Loyalität erzeugenden Gemeinschaftsfaktoren wie Familie, Traditi-
on, Kultur oder Religion - der sozialen Integration40. Durch soziale Integra-
tion wird neben der natürlichen Welt eine soziale Welt konstituiert, die, um
39
Selbstverständlich ist der so verstandene (straf-)rechtliche Schuldbegriff moralischer
Kritik und Legitimation zugänglich; Moral ist für ihn nur nicht konstitutiv. Zu einem
Versuch, den Demokratiegedanken für den strafrechtlichen Schuldbegriff fruchtbar zu
machen, vgl. auch Munoz Conde, G A 1978, 65, 73 ff.
40
Besonders dichten Loyalitätsverhältnissen kann das Recht um deren sozialer Integrati-
on willen in zweifacher Hinsicht Rechnung tragen: Es kann entweder spezifische Loya-
litäten „verrechtlichen", wie dies bei institutionellen Garantenstellungen der Fall ist,
oder solchen Loyalitäten - wie etwa bei Entschuldigungsgründen - den Vorrang vor
rechtlicher Mindestsolidarität einräumen (vgl. hierzu unten III3).
4
' Hahermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns,
1984, S. 585.
42
Daher ist ein mangelnder Normbefolgungswille nicht per se belastend, nämlich dann
nicht, wenn das Verhalten keiner rationalen Deutung zugänglich - vor allem: nicht von
einem Zweck getragen - ist; dann steht es nicht in Sinnkonkurrenz zur Norm.
43
Zu den geschichtsphilosophischen Grundlagen einer Normativierung des Schuldbe-
griffs vgl. Oelmüller, in: Baumgartner u. a. (Hrsg.), Schuld und Verantwortung, 1983,
S. 9 ff.
44
Vgl. hierzu und zum folgenden vor allem Habermas^ Theorie des kommunikativen
Handelns, 2 Bde., 1981; ders.> Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommuni-
kativen Handelns, 1984, S. 595 ff. und passim; ders.^ Faktizität und Geltung, 1992.
45
Vgl. aus empirisch-genetischer Sicht auch Dux, Der Täter hinter dem Tun, 1988, S. 43 ff.
46
Vgl. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie,
1976, S. 497, 518 ff.
47
Vgl. zu den wechselseitig zugeschriebenen Bedingungen von Personalität Kindhäuser,
G A 1989, 493, 500 ff.; juristischen Personen kommt, wonach Häußling in der Diskus-
sion fragte, diese Personalität „naturgemäß" nicht zu.
48
Daß das Subjekt durch kommunikativen Perspektivenwechsel seine Identität findet,
schließt - entgegen Maihof ers Einwand in der Diskussion - gewiß nicht Reflexion durch
Vernunftgebrauch aus, und zwar in den dem Subjekt von der Sprache gesetzten Gren-
zen; vgl. Wittgenstein, Tractatus (Schriften, Bd. 1), 1960, Satz 5.6: „Die Grenzen meiner
Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.".
49
Es geht um die Anerkennung eines Prinzips, nicht um eine Deutung der Beteiligten als
Vernunftsubjekte der idealistischen Philosophie, w'ieMüssig, Schutz abstrakter Rechts-
güter und abstrakter Rechtsgüterschutz, 1994, S. 127 ff., gegen Habermas einwendet.
50
Meinem Ansatz liegt keine Diskursethik mit Letztbegründungsanspruch zugrunde.
Vielmehr gehe ich von einem kritischen Rationalismus aus, der besagt, daß diskursiv
nach gerechten Handlungskoordinationen zu suchen ist, die aber keinen Richtigkeits-
anspruch haben, sondern im Gegenteil sowohl hinsichtlich der Tatsachen als auch der
Wertungen einem steten Prozeß der kritischen Überprüfung unterworfen bleiben.
31
Vgl. nur Philosophische Untersuchungen (Schriften, Bd. 1), 1960, §241; hierzu auch
Kindhäuser, Intentionale Handlung, 1980, S. 41 m. w. N. Vgl. auch den - theoretisch
weiter entfalteten - Begriff der Lebenswelt bei Habermas, Faktizität und Geltung, 1992,
S. 37 ff.: Die Lebenswelt ist ein durch Kommunikation reproduzierter Zusammenhang
ineinander verschränkter kultureller Überlieferungen, legitimer Ordnungen und perso-
naler Identitäten. Zur Lebenswelt gehören auch Institutionen, die mit einem unanfecht-
baren Autoritätsanspruch auftreten (Inzesttabu) und bei denen Faktizität und Geltung
verschmelzen; die Geltung hat die Kraft des Faktischen. Diese Einebnung der Spannung
zwischen Faktizität und Geltung verleiht der aus der Lebenswelt geschöpften Gewiß-
heit ihre Stabilität und immunisiert sie gegen den Druck kontingenzerzeugender Erfah-
rung.
52
Vgl. auch Searle, Ausdruck und Bedeutung, 1982, S. 139 ff.
53
Vgl. hierzu und zum folgenden vor allem Hahermas, Faktizität und Geltung, 1992,
S. 41 ff., 61 ff. und passim.
54
Vgl. Metaphysik der Sitten (Anm. 2), S. 324.
55
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1956, S. 22 f.; vgl. bereits Rousseau, Der Ge-
sellschaftsvertrag, 1. Buch, 3. Kapitel; vgl. auch Habermas, Vorstudien und Ergänzun-
gen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 1984, S. 577 f., m. w. N.
56
Vgl. V7efo?r(Anm.55),S.23.
57
Vgl. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, 1991, S. 144 f.
58
Das wird von Jakobs nicht nur nicht geleugnet, sondern mit seiner Formel vom Schuld-
prinzip als Bestandsbedingung gesellschaftlicher Ordnung klargestellt (vgl. nur Das
Schuldprinzip, 1993, S. 8 und passim). Nicht stimmig ist es daher, wenn Hirsch diesem
Ansatz einerseits vorwirft, die Abhängigkeit des Schuldprinzips von der jeweiligen Ver-
fassung der Gesellschaft führe zu einer völligen Manipulierbarkeit des Schuldbegriffs,
zumal zeitweilige geistige Verirrungen der Durchschnittsbürger (Hexenwahn, Rassen-
haß etc.) nicht auszuschließen seien, andererseits aber die für den traditionellen Schuld-
begriff maßgebliche Willensfreiheit in dem gelebten allgemeinen Selbstverständnis der
Rechtsadressaten verankert und sogar postuliert, „daß mit den Strafandrohungen und
auch der Strafe selbst in besonderem Maße an dieses Selbstverständnis des Menschen an-
geknüpft wird"; ZStW 106 (1994), S. 746, 753, 763.
09
Vgl. die nüchterne und mit Vorurteilen aufräumende Analyse von Frisier, Die Struktur
des „voluntativen Schuldelements", 1993, S. 74 ff., 95 ff. und passim; vgl. aber auch zu
instrumentalisierenden militaristischen Ansätzen Burkhardt, in: Baumgartner u. a.
(Hrsg.), Schuld und Verantwortung, 1983, S. 51, 63 ff.
Schuldbegriff ist allerdings dem Einwand ausgesetzt, daß sich aus der Beob-
achterperspektive der Sinngehalt der Binnenperspektive nicht adäquat re-
konstruieren läßt, genauer: daß sich systemische Funktionen nicht bruchlos
in Normen und Zweck-Mittel-Relationen umsetzen lassen60. Ein einfaches
Beispiel: Aus der extern zu konstatierenden Stabilisierungsfunktion von
Dunkelfeldern läßt sich kaum ableiten, daß die Strafverfolgung intern nur
selektiv vorgehen solle oder wolle . Gerade wenn also Schuldzurechnung
konzeptuell in einen Zusammenhang mit der sozialintegrativen Aufgabe des
Rechts gestellt wird, kommt der auf Legitimität bezogenen Binnenperspek-
tive die tragende Rolle zu62.
60
Vgl. auch Frister (Anm. 59), S. 80 ff.; Neumann, ZStW 99 (1987), S. 567, 592 f.; Oelmül-
ler (Anm. 43), S. 12; Schild, GA 1995, 101, 119 f. Der gleiche Einwand betrifft die sog.
ökonomische Analyse des Strafrechts. Deren teilweise eindrucksvolle Erklärungen -
vgl. nur Adams/Shavell, G A 1990,337 ff. - ändern nichts an dem Umstand, daß das Mo-
dell den Sinn von Schuldzuschreibung und Strafdistribution aus der Binnenperspektive
nicht adäquat rekonstruiert.
61
Zudem lassen sich aus der Beobachterperspektive auch keine Kriterien der Auslegung
formulieren, was namentlich bei neuen, noch nicht implementierten und damit „funk-
tionierenden" Normen auf der Hand liegt. Zur einschlägigen Problematik der Dunkel-
feldforschung vgl. Kreuzer, NStZ 1994,10 f., m. w. N.
62
Dies folgt auch schon daraus, daß Normstabilität ein quantitativer Begriff ist, dessen
strafrechtsspezifische Festlegung nur normativ erfolgen kann.
63
Vgl. auch Roxin, Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1972, S. 12 f.; vehement vertre-
tene Gegenposition bei Naucke, in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a. M.
(Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Straf rechts, 1995, S. 483 ff.
Rechts aus, soziale Integration zu leisten, und zwar nicht irgendwie, sondern
gerecht, also die Interessen aller Betroffenen berücksichtigend, dann scheidet
eine Bestimmung der Handlungskoordination nach Maßgabe individueller
Vernunft aus64. Hierbei wird nicht etwa bestritten, daß die Freiheit Egos mit
derjenigen Alters in ein reziprokes Verhältnis zu setzen ist, sondern nur, daß
die Bestimmung dieses Verhältnisses, also die Ziehung der Grenze, individu-
ellen Vernunftschlüssen überlassen bleiben kann. Denn diese Vernunft-
schlüsse müssen sich nicht decken65, so daß es, wenn die individuelle Ver-
nunft das letzte Wort hat, zu keiner konsentierten Grenze der Freiheiten
kommen muß und Alter dann doch, wenn Ego der Stärkere ist, heteronom
bestimmt wird . Die angemessene und beiden Seiten gerecht werdende
Grenze kann nur durch Verständigung erzielt werden. Diese Verständigung
muß auf Loyalität im Sinne solidarischer Mitverantwortung an ihrem Gelin-
gen beruhen, ohne daß die Freiheit des einzelnen zugunsten patriotischer Tu-
gendpflichten verdrängt wird. Es ist deshalb nach einem Modell zu suchen,
das diskursive Kooperation mit subjektiven Freiheitsrechten verbindet.
Der Grundbegriff verständigungsorientierter Handlungskoordination ist
die kommunikative Autonomie des einzelnen. Damit ist die wechselseitig
zugeschriebene Fähigkeit und Berechtigung gemeint, als freier und gleicher
Teilnehmer an verständigungsorientierter Kommunikation zu Geltungsan-
sprüchen Stellung nehmen zu können und zu dürfen .
64
Kurz und treffend Günther, KJ 1992,178,193 f. Daß ein Vernunftliberalismus mit reli-
giösen oder ethischen Vorstellungen konfligieren kann, zeigt Fletcher, Loyalität, 1994,
S. 8, anhand der (möglichen) Inkompatibilität von universalistischer Moral und der
Vorstellung eines Bundes zwischen Gott und dem jüdischen Volk auf.
65
Vgl. auch Zaczyk, ARSP-Beiheft 56 (1994), S. 105,120: „Wo die Linie zwischen meiner
Rechtssphäre und der des anderen verläuft, vermag ich nicht mit Gültigkeit für den an-
deren anzugeben." Zu den Gründen gehören z. B. die von Rawls aufgezeigten „Bürden
der Vernunft"; vgl. den., Die Idee des politischen Liberalismus, S. 336 ff.; vgl. auch Geis,
JZ 1995, 324, 329 f.
66
In der Theorie wird das Problem umgangen, indem der Theoretiker ahistorisch-speku-
lativ ein Modell entwickelt, wie und worauf sich die Vernünftigen kraft (wessen?) Ver-
nunft notwendig (?) einigen; beispielhaft Wolff, ZStW 97 (1985), S. 786, 814 ff. Der ge-
samte Prozeß der sozialen Integration — samt der sich erst in diesem Prozeß herausbil-
denden subjektiven wie intersubjektiven Vernünftigkeit - wird ausgeblendet. Zutreffend
dagegen Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 1994, S. 72: „Das
Recht, das die Freiheiten der Menschen äußerlich gegeneinander abzugrenzen hat, ist
nicht als Schema völliger Koexistenz individueller moralischer Autonomie realisierbar."
67
Vgl. auch Günther, in: Koller u. a. (Hrsg.), Theoretische Grundlagen der Rechtspolitik,
ARSP-Beiheft 51 (1991), S. 58 ff.
Bei der Verständigung über Normen - also auf Dauer gestellter, allgemein-
gültiger Handlungskoordinationen - nimmt jeder der Teilnehmer eine Dop-
pelrolle ein. Einerseits ist er Autor der Norm, andererseits macht er sich zu-
gleich zum Adressaten der Norm, die ihm seinen Handlungsspielraum zu-
weist. Als jemand, der Normen festlegt, besitzt der Beteiligte öffentliche Au-
tonomie. Als jemandem, dem qua Verständigung Handlungsspielräume zu-
gewiesen werden, kommt dem Beteiligten dagegen private Autonomie zu;
nur er bestimmt noch, wie er seinen Handlungsspielraum nutzt. Öffentliche
und private Autonomie sind, so gesehen, nur die zwei Seiten kommunikati-
ver Autonomie bei der Verständigung über Handlungskoordinationen.
Für das Modell kooperativer Verständigung kraft kommunikativer Auto-
nomie ist ein bestimmtes Maß an Loyalität notwendig, das die Bereitschaft
umfaßt, jedem von einem behaupteten Geltungsanspruch Betroffenen die
Möglichkeit der Stellungnahme einzuräumen. Ohne diese Mindestsolidari-
tät kann Verständigung nicht gelingen. Diese notwendige Voraussetzung
verständigungsorientierter Handlungskoordination sei kommunikative
Loyalität genannt.
Die bislang skizzierte diskursive Seite des Modells trägt deutlich kommu-
nitaristische Züge; es geht um die Ermöglichung gemeinsamer Freiheit
durch Kooperation. Das Wesen dieser - wenn man so will: positiven - Frei-
heit ist nach dem Kommunitarismus-Theoretiker Taylor „die Partizipati-
on an der Selbstregierung", und diese Teilnahme „wird als Fähigkeit angese-
hen, zumindest zeitweise an der Formierung eines herrschenden Konsenses
beteiligt zu sein, mit dem man sich zusammen mit anderen identifizieren
kann". Insoweit wird, so Taylor^ von uns „eine gemeinsame Treue zu und ei-
ne gemeinsame Sorge für bestimmte historische Institutionen als gemeinsa-
mes Bollwerk unserer Freiheit und Würde als Bürger" gefordert.
Es ist jedoch noch das andere Element des Modells zu sehen, wenn Hand-
lungskoordinationen in der Form des Rechts getroffen werden. Dann wird
Autonomie verrechtlicht, und zwar öffentliche wie auch private. Die Betei-
ligten nehmen in Form von Rechten an der Verständigung teil und verstän-
digen sich zugleich über Recht, und hier vor allem wieder über subjektive
Rechte69.
68
Charles Taylor, in: Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus, 1993, S. 126 f.
69
Zur Gleichursprünglichkeit privater und öffentlicher Autonomie vgl. Günther,
KJ 1994,470; Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 109 ff. Kritisch hierzu Blanke,
KJ 1994, 439, 455 ff.; Köhler, Rechtsphilosophische Hefte 1994,133 f.; Kupka, KJ 1994,
461.
Das subjektive Recht ist als solches nicht aus der intersubjektiven Ratio-
nalität des Diskurses ableitbar, und zwar schon deshalb nicht, weil das sub-
jektive Recht negative Freiheit impliziert: Subjektive Rechte sind, nament-
lich als Menschenrechte, auch Abwehrrechte. Sie gestatten Teilhabe, aber
auch Verweigerung und damit Distanzierung von intersubjektiver Rationa-
lität; ein negatives Freiheitsrecht ist auch ein Recht auf Irrationalität . Inso-
weit geht ein dissoziatives Element - oder in den Worten Hegels: ein Mo-
ment der Entzweiung - in die notwendig auf rationale Kooperation ver-
wiesene soziale Integration ein. Die demokratisch verfaßte Gesellschaft, die
sich im Wege des rechtsförmigen Diskurses konstituiert und stetig reprodu-
ziert, scheint also gewissermaßen den Sprengsatz ihrer Atomisierung und ih-
res Auseinanderbrechens in sich zu tragen.
Negative Freiheitsrechte lassen sich jedoch, wie vor allem Klaus Gün-
ther aufgezeigt hat, ohne inhaltliche Abstriche so interpretieren, daß sie
mit dem Modell der rechtsförmigen Verständigung zu vereinbaren sind.
Subjektive Rechte haben unter dem Aspekt kommunikativer Autonomie
zwei Seiten. Zum einen kann der Berechtigte im Rahmen seines Rechts in-
strumentell tun und lassen, was er will. Er ist, soweit er sich in seinem Recht
bewegt, von kommunikativer Loyalität entbunden: Er muß nicht die Stel-
lungnahme anderer einholen oder beachten. Diese Seite des subjektiven
Rechts ist die des kommunikativen Freiraums. Zum anderen impliziert die
Wahrnehmung eines Rechts die Zustimmung der Betroffenen zu dem jewei-
ligen Handeln. Denn das subjektive Recht ist ja aus der normativen Abstim-
mung mit anderen hervorgegangen, ist also gespeicherte Verständigung. Die
Wahrnehmung eines subjektiven Rechts schließt damit die Verletzung der
kommunikativen Autonomie anderer aus . Insoweit läßt sich das subjekti-
ve Recht definieren als vorweggenommene Zustimmung zur Ausübung in-
strumenteller Freiheit . Diese Überlegung gilt gleichermaßen für subjektive
private und öffentliche Rechte, die sich nur auf unterschiedliche Gegen-
standsbereiche beziehen. Es versteht sich zudem, daß kraft kommunikativer
70
Vgl. Wellmer, Endspiele: Die unversöhnliche Moderne, 1993, S. 39, 47.
71
Hegel) Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. von Moldenhauer u.a., 1986,
§ 184 (S. 340).
72
G£«i£er,KJ1994,470.
73
Die Möglichkeit des Mißbrauchs eines subjektiven Rechts ist damit selbstredend nicht
ausgeschlossen.
74
Vgl. hierzu auch Hahermas, Faktizität und Geltung, 1992, S. 112, unter Berufung auf
von Savigny.
2. Demokratische Legitimation
Wie verhält sich nun dieses Modell loyaler Verständigung zur demokrati-
schen Setzung von Verhaltensnormen? Der demokratische Prozeß der
Normsetzung muß weder notwendig zu einem gerechten Ergebnis kommen
noch nach der Entscheidung beendet sein75. Die Vernünftigkeit der Norm
ist vorläufig und grundsätzlich fallibel. Die Demokratie kann nur die Vor-
aussetzungen für eine interessenberücksichtigende Verständigung schaffen,
aber keine endgültig bindenden Übereinkünfte liefern. Hierbei interpretiere
ich Demokratie nicht nur als Volkssouveränität, sondern auch und gerade als
Herrschaft des Rechts. Dies bedeutet, daß soziale Integration durch demo-
kratische Verständigung ein offener Prozeß der Meinungsbildung ist , in
75
Zum Verhältnis von Diskurs und Demokratie - kritisch, aber auch bereichsweise klä-
rend - Scheit, Wahrheit, Diskurs, Demokratie, 1987, S. 370 ff.
76
Allerdings sind in der abendländischen Rechtsentwicklung die Moralprinzipien selbst
weitgehend konstant. Änderungen ergeben sich daraus, daß die jeweils relevante Tatsa-
chenbasis sich wandelnden Beurteilungen unterliegt; vor allem ändert sich die Einschät-
zung dessen, was gleich und was ungleich ist. So sind etwa die revidierten Anschauun-
gen der letzten Jahrzehnte über Homosexualität, die gesellschaftliche Rolle von Frauen
dem es nur nautische Positionen gibt. In den Worten Martin Krieles : „Al-
les ist in Bewegung. Auch der festgehaltene Standpunkt ändert seine Funk-
tion durch die Bewegung der Umwelt.... Niemand kann je sagen, seine An-
sicht sei absolut vernünftig. Es gibt nur Grade von Vertretbarkeit und Plau-
sibilität. Dafür gibt es keinen anderen Maßstab als den der möglichst breiten
und dauerhaften Zustimmung." Die Legitimität der Norm ergibt sich also
aus ihrer Überprüfung im demokratischen Verfahren, durch „challenge and
answer", freilich immer vor dem Hintergrund des Erfahrungsschatzes der
Rechtsentwicklung. Eckstein dieses Erfahrungsschatzes interessengerechter
sozialer Integration ist die Verfassung.
Um also nicht mißverstanden zu werden: Ich plädiere nicht für eine
schlichte Ersetzung rechtlicher Legitimationskriterien durch schiere Mehr-
heitsentscheidungen. Ausgangspunkt ist vielmehr die Überlegung, daß Nor-
men dann inhaltlich gültig sind, wenn ihnen jeder Betroffene zustimmen
kann. Dieses Gültigkeitskriterium ist jedoch - parallel zum Induktionspro-
blem in den Naturwissenschaften - in der Endlichkeit unseres Handlungs-
und Erfahrungshorizontes nicht einlösbar. Insoweit ist jede Norm fallibel,
und wir müssen uns darum bemühen, sie zu falsifizieren, also nach Fällen zu
suchen, in denen sie den Interessen möglicher Betroffener nicht gerecht
wird; institutionalisiert ist dies vornehmlich Sache der parlamentarischen
Opposition, informell aber auch Aufgabe der Rechtswissenschaft und der
Medien. Je aussichtsloser die Suche verläuft, desto eher ist zu vermuten, daß
die Norm allgemein zustimmungsfähig ist, wie dies etwa für den Kernbe-
stand strafrechtlicher Verhaltensnormen - z. B. Totschlag oder Vergewalti-
gung - zutrifft78.
Gleichwohl gilt: Soweit die prozeduralen Verfahren der Normsetzung
über Rechte laufen - Wahlrecht, freies Mandat usw. -, hat der Berechtigte in-
strumentelle Freiheiten und muß nicht verständigungsorientiert handeln.
Das ist parlamentarischer Alltag. Wir können zwar den Abgeordneten und
damit der Mehrheit ansinnen, auf Konsens hin zu argumentieren, aber wir
und Kindererziehung nicht auf eine Veränderung der Moralprinzipien, sondern auf eine
Revision von Tatsachenannahmen zurückzuführen, beispielsweise auf die Erkenntnis
des Irrtums, Kinder durch körperliche Züchtigung zu anständigen Menschen machen
zu können. Vgl. auch Wellmer, Ethik und Dialog, 1986, S. 122 ff.
77
WdStRL 29 (1971), S. 46, 53.
8
' Da diese Normen konstitutiv für unsere Lebensform sind, besteht bezüglich ihrer Gül-
tigkeit ein in der Regel nicht thematisierter Hintergrundkonsens, was wiederum dazu
führt, daß ihnen „naturrechtliches" Prestige zuerkannt wird, jedenfalls aber ein Ver-
botsirrtum nahezu ausgeschlossen erscheint.
können sie nicht auf eine entsprechende Motivation verpflichten, weil auch
hier das Neutralitätsgebot uneingeschränkt gilt. Die prinzipielle und struk-
turell, d. h. rechtsimmanent, gar nicht zu behebende Möglichkeit einer Dik-
tatur der Mehrheit kann nur rechtsförmig eingeschränkt werden: durch ver-
fassungsrechtliche Grundaussagen, die vor politischen Stimmungsschwan-
kungen geschützt werden, durch Rechte, die Persönlichkeits- und Minder-
heitenschutz gewähren, durch Verfahrensregeln und Regeln des „fair play",
durch Begründungsansprüche und -pflichten, durch die institutionalisierte
Rollendistanz von Entscheidungsträgern, durch Rechtsanwendung und -fort-
bildung von Justiz und Exekutive usw. Dies meine ich mit einer Demokratie
unter der Herrschaft des Rechts . Kurz: Das Recht kann seine Rationalität
nur rechtsförmig garantieren, das heißt unter einer größtmöglichen Ausdif-
ferenzierung kommunikativer Autonomie in private und öffentliche auto-
nome Freiräume, in zwangsbewehrte Rechte und kontrollierende Gegen-
rechte, in sachgemäße Repräsentation und argumentative Prozeduren der
Entscheidungsfindung.
Der hier verwandte Konsensbegriff bedarf noch einer Erläuterung. Im
groben lassen sich bei Verständigungen drei Arten von Konsens unterschei-
den : Voraussetzung von Verständigung überhaupt ist ein sog. Hinter-
grundkonsenS) der sich auf die gemeinsame Lebensform, gemeinsame Über-
zeugungen und Wertungen, vor allem die gemeinsame Sprache bezieht und
nicht thematisiert wird . Im Idealfall mag der Diskurs dazu führen, daß sich
die Beteiligten nicht nur auf ein gemeinsames Ergebnis einigen, sondern
auch hinsichtlich der zu diesem Ergebnis führenden Gründe übereinstim-
men. Ein solcher Argumentationskonsens ist jedoch für das hier vertretene
Modell verständigungsorientierter Handlungskoordination im Recht nicht
erforderlich; es genügt, wenn die Beteiligten einen Ergebniskonsens erzielen,
also das Resultat akzeptieren, ohne auch die jeweiligen Gründe hierfür zu
teilen. Ein Ergebniskonsens in diesem Sinne ist namentlich der Kompromiß.
Nun ist deutlich geworden, daß demokratisch legitimiertes Recht gegen-
über den Motiven der Befolgung seiner Normen aus wenigstens zwei Erwä-
gungen neutral sein muß: Es hat nicht nur auf die Normierung von Motiven
mangels empirischer Erzwingbarkeit, sondern auch - auf Grund der Fallibi-
79
Vgl. auch Zippelius (Anm. 66), S. 67 ff., 110 ff.
80
Hinsichtlich der Terminologie vgl. Giegel, in: ders. (Hrsg.), Kommunikation und Kon-
sens in modernen Gesellschaften, 1992, S. 7, 9.
81
Vgl. zum pragmatischen Konsens der Verständigung Wellmer, in: G/ege/(Hrsg.), Kom-
munikation und Konsens in modernen Gesellschaften, 1992, S. 18 ff.
82
So etwa Hirsch, ZStW 106 (1994), S. 746, 756 f.
83
So etwa Roxin, Allg. Teil, 2. Aufl. 1994, § 19 Rdn. 3.
84
Ähnlich, wenn auch nicht mit dieser Spezifizierung, spricht Jescheck, in: LK, vor § 13
Rdn. 72, von der Erwartung eines höheren Maßes an Rechtstreue.
4. Rechtsgüterschutz
Die bisherigen Überlegungen bedürfen sub specie Strafrecht noch einiger
Modifikationen; sie bezogen sich bislang nur allgemein auf demokratisch le-
gitimierte Normen, ohne den strafrechtlichen Besonderheiten Rechnung zu
tragen. Es muß aber noch einen Zusammenhang zwischen dem Schutzzweck
der verletzten Norm und dem strafbegründenden Schuldvorwurf geben.
Aus der Deutung der strafrechtlichen Schuld als Defizit an kommunikativer
Loyalität ergibt sich, daß Aufgabe des Strafrechts der Schutz elementarer
Bedingungen verständigungsorientierter und damit gewaltloser sozialer In-
tegration ist . Es geht also beim strafrechtlichen Unrecht um die Beein-
trächtigung von Bedingungen, unter denen Handlungen überhaupt erst ver-
ständigungsorientiert koordiniert werden können .
Rechtsgüter können im Lichte kommunikativer Autonomie definiert
werden, und zwar als solche Eigenschaften von Personen, Sachen oder Insti-
tutionen, die die freie und gleiche Teilnahme an normativer Verständigung
ermöglichen bzw. absichern88. Vom Schutz erfaßt ist auch die Privatsphäre,
die den Bereich markiert, der nur mit Einverständnis des Berechtigten Ge-
genstand von Kommunikation sein darf. Weil die strafrechtlich relevante
normative Verständigung rechtsförmig ausgestaltet ist, sind Rechtsgüter zu-
gleich Gegenstand von Rechten. Im Individualbereich sind dies die - vor al-
85
Loyalität wird also - entgegen den Einwänden von Schreiber und Hirsch in der Diskus-
sion - keineswegs als positive Leistung vom einzelnen gefordert.
86
Die gesteigerte Reaktion auf terroristische Gewalttaten läßt sich mit Hassemer, in:
Baumgartner u. a. (Hrsg.), Schuld und Verantwortung, 1983, S. 89, 99, dadurch erklä-
ren, daß der Terrorist glaubhaft behauptet, über den vordergründigen Bankraub etc.
hinaus die Zerstörung der staatlichen und rechtlichen Ordnung überhaupt zu bezwek-
ken, und das heißt: Verständigung in toto aufzukündigen.
87
Meines Erachtens läßt sich von diesem Ansatz her ein - von Müller-Dietz und Schüne-
mann in der Diskussion vermißtes - Kriterium für einen berechtigten Anwendungsbe-
reich von Strafrecht begründen.
88
Beispielhaft für rechtsgeschäftliche Urkunden Zaczyk^ in: Lüderssen u. a. (Hrsg.), Mo-
dernes Straf recht und ultima-ratio-Prinzip, 1990, S. 113,125 f.
89
Dieser Ansatz zwingt freilich dazu, nebulöse Rechtsgüter wie die Reinheit der Amts-
führung oder die Funktionsfähigkeit der Kreditwirtschaft auf die jeweiligen rechtlichen
Regelungsgehalte, die gesichert werden sollen, zu reduzieren; vgl. insoweit Kindhäuser,
Madrid-Symposium, S. 125, 127 ff. Ob und - gegebenenfalls - inwieweit sich die Güter
des Umweltstrafrechts in diese Konzeption einfügen, muß hier dahingestellt bleiben;
zur Problematik vgl. Kindhäuser, Festschrift für Helmrich, 1994, S. 967.
90
Ein Beispiel für überindividuelle Güter: Bei den Aussagedelikten wird der Schutzbe-
reich durch den Beweisgegenstand, auf den sich die Wahrheitspflicht des Zeugen be-
zieht, bestimmt.
91
Die nicht notwendig für den einzelnen einklagbar sein müssen; grundlegend hierzu
Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, 1987, S. 144 ff. und passim.
92
Vgl. nur Jakobs, Allg. Teil, 2. Aufl. 1991,17/18 ff.
93
Beispielhaft Bock, ZStW 103 (1991), S. 636; Otto, G A 1981,481; StUbinger, KJ 1993, 33;
vgl. dagegen Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen, 1992, S. 85 ff.; Luzon, G A 1984,
393, 396 ff.; Neumann, ZStW 99 (1987), S. 567, 587 ff.
94
Zum geistesgeschichtlichen Verhältnis von Talion und Vergeltung einerseits und Talion
und Prevention andererseits vgl. Eben, m: Jung u. a. (Hrsg.), Recht und Moral, 1991,
S. 249 ff., m. w. N.
95
Vgl. auch Hegel (Anm. 71), § 99: „Die positive Existenz der Verletzung ist nur als der
besondere Wille des Verbrechers. Die Verletzung dieses als eines daseienden Willens ist
also das Aufheben des Verbrechens, das sonst gelten würde, und ist die Wiederherstel-
lung des Rechts."
96
Köhler, Der Begriff der Strafe, 1986, S. 50 f.; ähnlich ders., Über den Zusammenhang
von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung, 1983, S. 38: „Wenn ein wechselseitiges
Rechtsgleichheitsverhältnis fortbestehen soll, bedarf also der in der Straftat objektivierte
Geltungswiderspruch zum Recht der Aufhebung." Vgl. auch Zaczyk, Das Unrecht der
versuchten Tat, 1989, S. 187 f., sowie Seelmanns gründliche Interpretation von Hegels
Straftheorie, JuS 1979, 687, 690.
97
Vgl. dagegen Köhlers Begründung mit Blick auf Hegel: „Schadensersatz kann daher
grundsätzlich nicht das Strafrecht erfüllen, da er nur die Seite der Besonderheit, nicht die
im verletzten Allgemeinen bestehende Verbrechensqualität betrifft" (ARSP 1989, 265,
267). Warum aber soll nicht auch das verletzte Allgemeine Gegenstand einer (symboli-
schen) Wiedergutmachung sein können?
98
Sollte der Täter hierbei nicht als empirisches Subjekt verstanden, sondern nur als Ver-
nünftiger geehrt werden, stellt sich die Frage, warum sich dann die vergeltende Strafe
überhaupt nach den empirischen Voraussetzungen des Schuldvorwurfs (Tatmotive, So-
zialisation etc.) richten soll.
99
Im übrigen ist auch nicht zu sehen, inwieweit der böse Wille des Verbrechers mit dem
Anspruch auf Veraiigemeinerbarkeit auftritt. Die These, der Täter behaupte mit seiner
Tat, daß das, was er tue, allgemein getan werden dürfe, kann schwerlich aufgestellt wer-
den. Im Regelfall will der Dieb nicht selbst bestohlen und der Mörder nicht selbst getö-
tet werden. Also kann die Unvernunft des Täters allenfalls darin liegen, daß er etwas tut,
von dem er nicht will oder wollen kann, daß alle es tun; das ist gerade der Witz beim
Trittbrettfahren.
100
Grundlegend Strawson, in: Pothast (Hrsg.), Seminar: Freies Handeln und Determinis-
mus, 2. Aufl. 1988, S. 201 ff.; hierzu auch Günther, in: Jung u. a. (Hrsg.), Recht und Mo-
ral, 1991, S. 212 ff.; Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, 1991, S. 142 ff.; Munoz
Conde, G A 1978, 65, 73 f.; teilweise kritisch Steinvorth, Freiheitstheorien in der Philo-
sophie der Neuzeit, 1987, S. 250 ff.; vgl. aus empirischer Sicht Dttx, Der Täter hinter
dem Tun, 1988, S. 51 ff.
101
Ähnlich Günther (Anm. 100), S. 205,211 ff.; vgl. auch zur Bedeutung der Zuschreibung
von Verantwortung für die soziale Integration van der Yen, in: Baumgartner u. a.
(Hrsg.), Schuld und Verantwortung, 1983, S. 31, 35 f.
102
Vgl. Kant (Anm. 2), § 49, Allgemeine Anmerkung E (S. 453).
ebenso freigestellt wie das Motiv, aus dem er die Norm befolgt . Schuld-
vorwurf und Strafe müssen nur die Qualität haben, die es dem Täter ermög-
licht, sie um ihrer Legitimität willen zu akzeptieren104. Dies bedeutet: Der
Schuldvorwurf muß berechtigt sein, und die Strafe muß dem gezeigten Maß
an Illoyalität entsprechen. Um nicht mißverstanden zu werden: Schuldzu-
rechnung setzt keinen geglückten Dialog mit dem Täter voraus. Entschei-
dend ist nur, daß der Täter als Teilnehmer eines Dialogs mit entsprechend
abgesicherten diskursiven Rechten behandelt wird .
Der aufgezeigte Sinn der Schuldzurechnung läßt sich nicht in Zwecke
transformieren, mag er auch extern betrachtet funktional erklärbar sein. Re-
lativ zur emotionalen Grundlage des Übelnehmens ist Schuld notwendig
zweckfrei. Ich kann nicht jemandem zu einem bestimmten Zweck böse sein,
sondern nur aus einem bestimmten Grund, nämlich einer Enttäuschung.
Zwecke geben instrumenteilen Handlungen ihren Sinn, haben aber keinen
Platz in teilnehmenden Reaktionen auf interpersonale Konflikte. Der straf-
rechtliche Schuldvorwurf ist eine formalisierte Reaktion, ein generalisiertes
Übelnehmen . Insoweit lassen sich auch Strafzwecke nicht mit dem
Schuldvorwurf selbst koppeln . Man kann nicht jemandem ein Verhalten
zum Zwecke der Erziehung, der Abschreckung usw. verübeln108. Wer
103
Die Argumente gegen den Vernunftliberalismus gelten hier unter umgekehrtem Vorzei-
chen wieder: Nach Köhler, Der Begriff der Strafe, 1986, S. 50 ff., verlangt Strafe als Ne-
gation der Negation, daß der Täter „nicht bloß theoretisch, sondern im praktisch-kon-
kreten Selbstbestimmungsprozeß sich setzen und realisieren (erg. muß) als (potentiell)
Vernünftigen, der partikulär nach vernunftwidriger (selbstwidersprüchlicherweise die
Verallgemeinerung verweigernder) Handlungsmaxime gehandelt hat". Eine solche Ver-
ständigungsleistung zu fordern, widerspricht dem Neutralitätsgebot des Strafrechts, un-
geachtet der Tatsache, daß das Strafrecht nicht legitimiert ist, die Straftat moralisch als
Selbstnegation eines sittlichen Vernunftsubjekts zu qualifizieren. Zutreffend sieht Köh-
ler, a. a. O., S. 52, freilich, daß der geforderte Vernunftschluß als „autonom-moralische
Leistung" nicht erzwingbar ist.
104
Vgl. insoweit auch Arthur Kaufmann, in: Köpcke-Duttler (Hrsg.), Schuld - Strafe - Ver-
söhnung, 1990, S. 34, 48 ff.; Wolff, ZStW 97 (1985), S. 821 f.
105
In der Sache parallel Köhler, Der Begriff der Strafe, 1986, S. 53: Das Rechtsverhältnis
zwischen Allgemeinheit und Täter darf durch die Strafe nicht negiert werden.
106
Insoweit hat eine Theorie des Strafverfahrens der Theorie des materiellen Straf rechts zu
korrespondieren. Beide Rechtsmaterien lassen sich als Ausprägungen einer umfassen-
den Strafrechtstheorie, die auf soziale Integration durch Sicherung kommunikativer
Autonomie bezogen ist, rekonstruieren.
107
Vgl. insoweit auch Müller-Dietz, Festschrift für Jescheck, 1985, S. 813, 815.
108
So mag man einem Kind gegenüber zum Zwecke der Erziehung so tun, als rege man sich
über eine Verfehlung auf, um die Erforderlichkeit normgemäßen Verhaltens emotional
zu verdeutlichen. „Echtes" Verübeln ist dagegen stets zweckfrei und beruht auf rezipro-
ker Anerkennung.
109
Vgl. auch Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl. 1976, S. 271 ff.; Roxin, Straf-
rechtliche Grundlagenprobleme, 1972, S. 26 f.; ders., Festschrift für Arthur Kaufmann,
1994, S. 519, 530 f.; Wolff, ZStW 97 (1985), S. 823 f.
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Vgl. auch BVerfGE 45,187, 255 ff.