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1T» Rekonstruieren Sie den Gedankengang bei Rawls.

Folgen Sie dabei den fünf


Schritten kritischer Textarbeit (→ S. 424). Sichern Sie Ihre Lesart stets an den
Textauszügen ab.
21 Rawls' Texte sind recht abstrakt und sprachlich etwas sperrig. Falls Sie Hilfestellung
bei der Rekonstruktion benötigen, orientieren Sie sich an folgenden Begriffen, die
Sie aus dem Textzusammenhang heraus erklären können sollten:
Interessengleichheit, Schleier des Nichtwissens, Interessenkonflikt, Freiheit, Gleich-
heit, Gerechtigkeit, Vertrag, Differenz(prinzip), Gerechtigkeitsprinzipien, Fairness,
Chancengleichheit.

Auch die folgenden Leitfragen können Sie bei Ihrem Verstehensprozess unterstüt-
zen:
• Was zeichnet bei Rawls den Menschen im Urzustand aus?
• Welches Menschenbild legt Rawls zugrunde?
• Wieso müssten alle Menschen einer Beschränkung ihrer Freiheiten zustimmen?
• Was ist der Zweck des Gemeinwesens?
• Wie stehen besser und schlechter gestellte Mitglieder der Gesellschaft zueinan-
der?
• Wie wird nach Rawls eine gerechte Struktur der Gesellschaft sichergestellt?
• Was bedeutet für Rawls eigentlich „gerecht"?
3> Wie würde Rawls die Gehälterlisten der Fußballspieler kommentieren (→ S. 312f.)?

. 4» Müsste (aus Rawls' Sicht) der Staat bei einer solchen Gehaltsentwicklung eingrei-
fen? Welche Maßnahmen könnte oder müsste der Staat ggf. ergreifen?
Theorie des Gesellschaftsvertrags

Die natürlichste Alternative zum Utilitarismusprinzip ist seine traditionelle Rivalin, die Theorie des
Gesellschai svertrags. (...)
Anstelle der Annahme, eine Konzeption des Richtigen und damit der Gerechtigkeit sei einfach eine
Erweiterung des für den Einzelnen geltenden Entscheidungsprinzips auf die Gesellschaft als Ganze,
s geht die Vertragstheorie davon aus, dass jene vernünftigen Individuen, die der Gesellschaft angehö-
ren, zusammen, in einem gemeinschaftlichen Akt, entscheiden müssen, was für sie als gerecht oder
ungerecht gelten soll. Sie müssen miteinander und ein für alle Mal festlegen, wie die gerechte Ge-
sellschaft für sie aussehen soll. Und zwar wird diese Entscheidung in einer angemessen definierten
Ausgangssituation getroffen, zu deren hervorstechenden Merkmalen es gehört, dass jemand nicht
• seine spätere gesellschaftliche Stellung, ja nicht einmal sein Maß an natürlichen Begabungen und
Fähigkeiten kennt. Die Gerechtigkeitsprinzipien, auf die sich alle Individuen ein für alle Mal ver-
pflichten, werden ohne solche spezifischen Informationen beschlossen. Ein Schleier des Nichtwis-
sens verhindert, dass irgendjemand aufgrund der zufälligen Faktoren sozialer Klassenzugehörigkeit
oder glücklicher Anlagen bevorteilt oder benachteiligt wird; deshalb bleibt die Wahl der Prinzipien
is von jenen Verhandlungsproblemen, die sich im Alltag aus dem Besitz solcher Kenntnisse ergeben,
unberührt. [...]
Ist man erst einmal zu der Vorstellung gelangt, Gerechtigkeit ergebe sich aus einer solchen ur-
sprünglichen Vereinbarung, so muss das Utilitarismusprinzip als problematisch erscheinen. Denn
warum sollten vernünftige Individuen mit einem System von Zielen, das sie befördern möchten,
einer Verletzung ihrer Freiheit zustimmen, damit andere ein Mehr an Befriedigungen genießen
können? Es ist doch einleuchtender anzunehmen, dass sie in einem Urzustand der Gleichberechti-
gung auf Institutionen bestehen werden, die erforderliche Opfer durch entsprechende Vorteile aus-
gleichen. Wer vernünftig ist, wird keine Institution nur deshalb akzeptieren, weil sie die Gesamt-
summe aller Vorteile, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen für die eigenen Interessen, maximiert.
25 (...)
Bei unserer Erörterung werden wir keinen Versuch unternehmen, die beiden Gerechtigkeitsprinzi-
pien, die wir untersuchen wollen, abzuleiten; das heißt, wir werden nicht zu zeigen versuchen, dass
man sich im Urzustand tatsächlich für sie entscheiden würde. Es muss genügen, dass eine solche
Entscheidung plausibel erscheint, zumindest im Vergleich zu den gängigen Formen traditioneller
* Theorien. Stattdessen werden wir uns hauptsächlich mit drei Fragen beschäftigen:

1. Wie sind diese Prinzipien zu interpretieren, damit sie ein in sich widerspruchsfreies und vollstän-
diges Konzept der Gerechtigkeit ergeben?
2. Ist es möglich, die Institutionen einer konstitutionellen Demokratie' so zu gestalten, dass diese
Prinzipien wenigstens annähernd erfüllt sind?
3 3. Lässt sich die Konzeption der distributiven? Anteile, die sich aus diesen Prinzipien ergibt, mit den
Gerechtigkeitsvorstellungen des gesunden Menschenverstandes vereinbaren?
Kennzeichnend für die Prinzipien ist, dass sie der Strenge der Gerechtigkeitsanforderungen Genüge
tun. Wenn sie sich außerdem so interpretieren lassen, dass sie ein in sich widerspruchsfreies und
vollständiges Konzept ergeben, so würde dies die Alternative der Vertragstheorie nur noch attrakti-
40 ver machen.

"konstitutionell (lat.): durch eine Verfassung geordnet


2 distributiv (lat.): die Verteilung betreffend
Bestimmte Fähigkeiten berechtigen nach Rawls auch deshalb nicht zu einem
bestimmten Einkommen, weil in verschiedenen Zeiten und Gesellschaften sehr un-
terschiedliche Fähigkeiten - z.B. die eines Fußballspielers, Kriegers, Priesters oder
Bankers - als wertvoll angesehen werden; solche Zufälligkeiten können kein mora-
lisch relevanter Grund für eine unterschiedliche Bezahlung sein.
Wie man mit gesellschaftlichen Unterschieden umgehen sollte, untersucht
Rawis mit Hilfe des Gedarkenexperiments des „Urzustandes"; er verbindet dabei
Gedanken der klassischen Vertragstheorie von Hobbes bis Kant (0271-293) mit
Methoden der modernen Sozialwissenschaften.

Wir wollen uns [...] vorstellen, dass diejenigen, die sich zu gesellschaftlicher
Zusammenarbeit vereinigen wollen, in einem gemeinsamen Akt die Grund-
sätze wählen, nach denen Grundrechte und -pflichten und die Verteilung der
gesellschaftlichen Güter bestimmt werden. Die Menschen sollen im Voraus
, entscheiden, wie sie ihre Ansprüche gegeneinander regeln wollen und wie die
Gründungsurkunde ihrer Gesellschaft aussehen soll. [...]
Dieser Urzustand wird natürlich nicht als ein wirklicher geschichtlicher
Zustand vorgestellt, noch weniger als primitives Stadium der Kultur. Er wird als
rein theoretische Situation aufgefasst, die so beschaffen ist, dass sie zu einer
10 bestimmten Gerechtigkeitsvorstellung führt. Zu den wesentlichen Eigenschaf-
ten dieser Situation gehört, dass niemand seine Stellung in der Gesellschaft
kennt, seine Klasse oder seinen Status, ebenso wenig sein Los bei der Vertei-
lung natürlicher Gaben wie Intelligenz oder Körperkraft. Ich nehme sogar an,
dass die Beteiligten ihre Vorstellung vom Guten und ihre besonderen psycho-
15 logischen Neigungen nicht kennen. Die Grundsätze der Gerechtigkeit werden
hinter einem Schleier des Nichtwissens festgelegt. Dies gewährleistet, dass
dabei niemand durch die Zufälligkeiten der Natur oder der gesellschaftlichen
Umstände bevorzugt oder benachteiligt wird. Da sich alle in der gleichen Lage
befinden und niemand Grundsätze ausdenken kann, die ihn aufgrund seiner
20 besonderen Verhältnisse bevorzugen, sind die Grundsätze der Gerechtigkeit
das Ergebnis einer fairen Übereinkunft oder Verhandlung. [...] Das rechtfer-
tigt die Bezeichnung „Gerechtigkeit als Fairness" [...].
Die Gerechtigkeit als Fairness beginnt [...] mit der allgemeinsten Entschei-
dung, die Menschen überhaupt zusammen treffen können, nämlich mit der
25 Wahl der ersten Grundsätze einer Gerechtigkeitsvorstellung, die für alle späte-
re Kritik und Veränderung von Institutionen maßgebend sein soll. Nachdem
sie nun eine Gerechtigkeitsvorstellung festgelegt haben, können wir uns vor-
stellen, dass sie eine Verfassung, ein Gesetzgebungsverfahren und anderes
wählen müssen, alles gemäß den anfänglich vereinbarten Gerechtigkeits-
30 grundsätzen. [...]
Zur Gerechtigkeit als Fairnes gehört die Vorstellung, dass die Menschen im
Urzustand vernünftig sind und keine aufeinander gerichteten Interessen Sinamchten 8.
niemandem besonders
haben.' Das bedeutet nicht, dass sie Egoisten wären, die also nur ganz be- nützen oder schaden.

stimmte Interessen hätten, etwa an Reichtum, Ansehen oder Macht. Sie werden
»s aber so vorgestellt, dass sie kein Interesse an den Interessen anderer nehmen.
John Rawls
Sie halten selbst ihre geistigen Ziele für möglicherweise entgegengesetzt wie et- Eine Theorie der
Gerechtigkeit.
wa die Ziele der Angehörigen verschiedener Religionen. Ferner muss der Be- Übersetzt v. Hermann
Vetter. Suhrkamp:
griff der Vernünftigkeit im engst möglichen Sinne verstanden werden (...: Frankfurt/Main 1975,
dass zu gegebenen Zielen die wirksamsten Mittel eingesetzt werden. S. 28-31

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