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Ethik Klasse 10 Datum: ____________

Rawls zur Begründung seiner Grundsätze


1 Ich behaupte, dass die Menschen im Urzustand zwei […] Grundsätze wählen würden: einmal
2 die Gleichheit der Grundrechte und -pflichten; zum anderen den Grundsatz, dass soziale und
3 wirtschaftliche Ungleichheiten, etwa verschiedener Reichtum oder verschiedene Macht, nur
4 dann gerecht sind, wenn sich aus ihnen Vorteile für jedermann ergeben, insbesondere für
5 die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft.
6 Es ist vielleicht zweckmäßig, aber nicht gerecht, dass einige weniger haben, damit es
7 anderen bessergeht. Es ist aber nichts Ungerechtes an den größeren Vorteilen weniger, falls
8 es dadurch auch den nicht so Begünstigten bessergeht. Die intuitive Vorstellung ist die, dass
9 jedermanns Wohlergehen von der Zusammenarbeit abhängt, ohne die niemand ein
10 befriedigendes Leben hätte, und dass daher die Verteilung der Güter jeden, auch den
11 weniger Begünstigten, geneigt machen sollte, bereitwillig mitzuarbeiten.
12 Die beiden soeben erwähnten Grundsätze dürften eine faire Grundlage dafür sein, dass die
13 Begabteren oder sozial Bessergestellten – was beides nicht als Verdienst angesehen
14 werden kann – auf die bereitwillige Mitarbeit anderer rechnen können, sofern eine
15 funktionierende Regelung eine notwendige Bedingung für das Wohlergehen aller ist. Sobald
16 man sich für eine Gerechtigkeitsvorstellung entschieden hat, die die Zufälligkeiten der
17 natürlichen Begabung und der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zu politischen und
18 wirtschaftlichen Vorteilen führen lässt, gelangt man zu diesen Grundsätzen. Sie lassen jene
19 Seiten der sozialen Welt aus dem Spiel, die als moralisch willkürlich erscheinen.

Die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit


20 1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten
21 haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.
22 2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, dass (a) vernünftigerweise
23 zu erwarten ist, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen und (b) sie mit Positionen und Ämtern
24 verbunden sind, die jedem offenstehen. […]
25 Wir unterscheiden […] zwischen den Seiten des Gesellschaftssystems, die die gleichen
26 Grundfreiheiten festlegen und sichern, und denen, die gesellschaftliche und wirtschaftliche
27 Ungleichheiten bestimmen und einführen. Es ist nun von Bedeutung, dass die
28 Grundfreiheiten durch eine Liste derartiger Freiheiten festgelegt sind. Wichtig unter ihnen
29 sind die politische Freiheit (das Recht, zu wählen und öffentliche Ämter zu bekleiden) und die
30 Rede und Versammlungsfreiheit; die Gewissens- und Gedankenfreiheit; die persönliche
31 Freiheit, zu der der Schutz vor psychologischer Unterdrückung und körperlicher
32 Misshandlung und Verstümmelung gehört (Unverletzlichkeit der Person); das Recht auf
33 persönliches Eigentum und der Schutz vor willkürlicher Festnahme und Haft, wie es durch
34 den Begriff der Gesetzesherrschaft festgelegt ist. Diese Freiheiten sollen nach dem ersten
35 Grundsatz für jeden gleich sein. […]
36 Diese Grundsätze sollen in lexikalischer Ordnung stehen, derart, dass der erste dem zweiten
37 vorausgeht. Diese Ordnung bedeutet, dass Verletzungen der vom ersten Grundsatz
38 geschützten gleichen Grundfreiheiten nicht durch größere gesellschaftliche oder
39 wirtschaftliche Vorteile gerechtfertigt oder ausgeglichen werden können.
Quelle: John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt am Main 1975, S. 31f und 81f.

1. Lies den Text oben und erörtere mit deinem Partner


a. Welches Ziel die Menschen im Urzustand laut Rawls verfolgen.
b. Welches Menschenbild Rawls hier annimmt.
c. Wogegen sich Rawls vor allem wendet.
2. Lies den Text unten und erörtere mit deinem Partner
a. Welche Güter in einer Gesellschaft gleich und welche unterschiedlich verteilt
sein können.
b. Warum die lexikalische Ordnung der Verteilung wichtig ist (bitte mit Beispiel).
c. Welche Gründe für die Annahme solcher Grundsätze im Urzustand sprechen.
3. Vergleicht in den Gruppen eure Grundsätze mit denen von Rawls.
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4. Versetzt euch in die Lage eines Egoisten, eines Spielers, eines Adligen, eines
reichen Erben und kritisiert die Position von Rawls aus der Sicht der jeweiligen
Personen. Zu welchen Kritikpunkten kommt ihr?

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