Sie sind auf Seite 1von 16

1 Grundkonzepte und Rechtsquellen

Grundzüge des Rechts

PD Dr. Oliver Streiff


HS 2022
SW 2 | Grundzüge des Rechts | Oliver Streiff 2
Programm
19.09.22 ---------- ----------

26.09.22 Grundkonzepte und Rechtsquellen (Sources / Legal Reasoning / Concepts)

03.10.22 Vertragsrecht Teil 1 (Law of contract)

10.10.22 ---------- ----------

09.10.22 Vertragsrecht Teil 2 (Law of contract)

24.10.22 Deliktsrecht (Tort Law)

31.10.22 Sachenrecht (Property Law)

07.11.22 Grundrechte als Teil des Verfassungsrechts (Constitutional Law / Human Rights)

14.11.22 Verwaltungsrecht Teil A (Administrative Law)

21.11.22 Verwaltungsrecht Teil B (Administrative Law)

28.11.22 Beschaffungsrecht (Procurement Law)

05.12.22 Europarecht (The Law of Europe)

12.12.22 Prozessuales Denken (Procedural Law)

19.12.22 Strafrecht / Prüfungsvorbereitung (Criminal Law)

SW 2 | Grundzüge des Rechts | Oliver Streiff 3


Lernziel

Sie kennen die hauptsächliche Gliederung, ausgewählte Grundkonzepte und die Quellen des Rechts. Sie
können diese Aspekte auf einen konkreten Sachverhalt übertragen.

SW 2 | Grundzüge des Rechts | Oliver Streiff 4


Gliederung des Rechts

Juristische Ordnungsmuster
− Normenpyramide (auch: Normenhierarchie): Ordnung nach Subordinationsverhältnissen (Stufen,
Rechtsschichten)
− Normenkreise: Ordnung nach Lebensbereichen (z.B. Arbeitsrecht)
Öffentliches Recht
− Primäre Beziehung: Staat – Bürgerinnen und Bürger
− Der Staat tritt den Bürgerinnen und Bürgern als Träger von Hoheitsrechten mit obrigkeitlicher Gewalt
gegenüber (Abgrenzung nach der Subordinationstheorie)
− Geht dem Privatrecht grundsätzlich vor
Privatrecht
− Primäre Beziehung: Bürgerin – Bürger
− Im Privatrecht sind die Rechtssubjekte einander gleichgeordnet

SW 2 | Grundzüge des Rechts | Oliver Streiff 5


Gliederung des Rechts

Materielles Recht
− Inhaltliche Festlegungen; wer hat welche Rechte und Pflichten, was ist zu tun, was ist zu unterlassen
Formelles Recht
− Legt fest, wer Recht setzen kann
− Legt fest, wie materielles Recht durchgesetzt wird
− Formelles Recht umfasst zwei Komponenten: Organisationsrecht und Verfahrensrecht
Funktionale Felder
− Daneben: Charakterisierung von Gebieten nach Funktion (z.B. Europarecht)

SW 2 | Grundzüge des Rechts | Oliver Streiff 6


Gliederung des Rechts

Rechtskreise
− Angelsächsischer Rechtskreis (common law)
− Länder mit Kodifikationsprinzip (civil law)
Vernetzung und transnationale Rechtsprozesse
− Die dargestellte Gliederung wird zunehmend von neueren Konzepten und Entwicklungen überlagert
− Tendenz zu Vernetzungen, d.h. keine strikt hierarchisch aufgebaute Rechtsschichten und keine strikt
nebeneinander stehende Normenkreise
− Schematisierend: «Tetralemma des globalen Rechts» (Callies 2006):
national/international/supranational/transnational
− Transnationale Rechtsprozesse, charakterisiert durch Ablösung von Territorien, Verwischung der
Grenze zwischen binding/non binding norms und bottom up Prozesse der Rechtserzeugung. Bsp.:
Normative Framework des Forest Stewardship Council

SW 2 | Grundzüge des Rechts | Oliver Streiff 7


Rechtsnorm | Sachverhalt | Rechtswirkung

Rechtsnorm
− Grundtypus: Konditionalnorm (Bsp. Art. 111 StGB)
− Elemente: Tatbestand (Voraussetzungen) und Rechtsfolgen, Wenn-Dann-Beziehung
− Aber auch: finale Normen (Bsp. Art. 3 Abs. 2 lit. c RPG)
Syllogismus (logischer Schluss vom Allgemeinen zum Besonderen)
− Alle Menschen sind sterblich (Obersatz)
− Frau Meier ist ein Mensch (Untersatz)
− Frau Meier ist sterblich (Schlussfolgerung)
Justizsyllogismus
− Norm mit Rechtsfolgen gilt für alle Fälle, die unter Tatbestand fallen
− Sachverhalt fällt unter Tatbestand
− Rechtsfolge gilt für Sachverhalt

SW 2 | Grundzüge des Rechts | Oliver Streiff 8


Rechtsnorm | Sachverhalt | Rechtswirkung

Mehrdeutigkeit
− Rechtsnormen werden abstrakt formuliert, Texte sind mehrdeutig
− Beispiel: «Wer einem anderen widerrechtlich Schaden zufügt, [...] wird ihm zum Ersatze
verpflichtet.»
− Umformung in eine Wenn-Dann-Struktur: «Wenn jemand widerrechtlich handelt und wenn er
dadurch einem anderen Schaden zufügt, dann muss er den dabei entstandenen Schaden ersetzen».
Auch: offene Begriffe
− U.a. diese Umformung nennt man Interpretation, auch Auslegung. Recht ist auslegungsbedürftig
Vom Normtext zum Normsinn: Interpretation
− Es gibt etablierte Interpretationsregeln (grammatikalische, systematische, historische, zeitgemässe,
teleologische Auslegung), dabei Pluralismus
− Daneben auch formale Regeln: Umkehrschluss, Analogieschluss
− Aber: Keine Letztbegründbarkeit juristischer Erkenntnisse

SW 2 | Grundzüge des Rechts | Oliver Streiff 9


Rechtssubjekte

Rechtsträger
− Rechtssubjekte sind Träger von Rechten und Pflichten
− Die Subjekteigenschaft ist Ausdruck der Rechtsfähigkeit
− Zwei Gruppen: Menschen als Einzelwesen, unkörperliche Rechtssubjekte
Natürliche Personen
− Alle Menschen als Einzelwesen
− Vgl. Art. 11 ff. ZGB
Juristische Personen
− Auch «Verbandspersonen» genannt Auch juristische Personen können Ansprüche
aus den Grundrechten ableiten, sprich Grundrechte
− Vgl. Art. 52 ff. ZGB gelten je nach dem ebenso für juristische Personen.

− Starke, freiheitliche Stellung im CH-Recht


− Konkret: Vereine, Stiftungen, Personenverbindungen mit wirtschaftlichen Zwecken (AG, GmbH, etc.)

SW 2 | Grundzüge des Rechts | Oliver Streiff 10


Rechtsgeschäft

Definition des Rechtsgeschäfts (CH)


− Ein Rechtsgeschäft lässt sich als Tatbestand definieren, bestehend aus:
1) einer Willens-Äusserung, die auf Rechtsfolgen gerichtet ist Rechtswirkung ausgerichtet sein.
Willens-Äußerung muss auf eine

2) Eintritt der Rechtswirkung, gerade weil sie gewollt ist


− Bsp.: Vertrag als zweiseitiges Rechtsgeschäft
Abgrenzung zu Realakt
− Handlung, bei der der Wille des Handelnden nicht auf Erzielung einer rechtlichen Wirkung, sondern
auf Veränderung der Aussenwelt gerichtet ist.
− Rechtswirkung knüpft nicht an Willensäusserung einer Person an, sondern an den tatsächlich
bewirkten Erfolg Die Schneeräumung des Staates ist nicht
mit einer Rechtswirkung einhergehend.

− Bsp. Übergabe des Besitzes (bspw. an einem Buch)


Unterschiedliche Arten
− Unterscheidung nach Anzahl der Beteiligten oder nach Wirkungen

SW 2 | Grundzüge des Rechts | Oliver Streiff 11


Rechte und Pflichten

Pflichten
− Allgemeine Pflichten (gegenüber jedermann) Absolute Rechte Bsp.: Urheberrechte

− Besondere Pflichten (gegenüber bestimmten Personen) Relative Rechte Bsp.: Verkaufsvertrag

− Unterschiedlicher Inhalt: Verbot als Pflicht sich einer Sache zu enthalten, dagegen Gebot resp.
Erlaubnis
Rechte
− Objektives Recht: Rechtsordnung als Ganzes, Summe aller Rechtsregeln
− Subjektives Recht: Berechtigung eines Rechtssubjekts (z.B. Eigentumsrecht). Dabei absolut
(gegenüber jedermann, z.B. geistiges Eigentum) und relativ (gegenüber bestimmten Personen, z.B.
Forderung aus Vertrag) wirksam.
− Freiheitsrecht (im Kontext von Grundrechten): Schützt den Einzelnen in seiner Freiheitssphäre
gegenüber Eingriffen des Staats. Bsp.: Meinungsfreiheit

SW 2 | Grundzüge des Rechts | Oliver Streiff 12


Rechte und Pflichten

Mikroebene: Obligation (Schuldverhältnis im engen Sinn)


− Mikroebene der Beziehung zwischen Gläubigerin und Schuldner (umfasst nur eine einzelne
Forderung beziehungsweise Schuld) gegenüber jedermann
− Rechtsverhältnis Gläubigerin-Schuldner (zweipolige Beziehung)
− Gläubigerin kann Leistung verlangen, Schuldner ist zu Leistungserbringung verpflichtet
− Leistungspflicht (positive und negative) mit Korrelat Forderungsrecht
− Entstehungsgründe der Obligation: aus Rechtsgeschäft oder aus Gesetz
Makroebene: Schuldverhältnis im weiten Sinn
− Makroebene der Beziehung zwischen Gläubigerin und Schuldner
− Oft eine ganze Palette von Rechten und Pflichten beinhaltend (Organismus)
− Bsp. Kaufvertrag: ist Schuldverhältnis im weiten Sinn, das drei Obligationen umfasst (Übergabe
Kaufsache, Verschaffung Eigentum an der Kaufsache, Bezahlung des Kaufpreises)

SW 2 | Grundzüge des Rechts | Oliver Streiff 13


Rechtsquellen

Entstehungsgründe und Geltungsgründe


− Entstehungsgründe: Wie ist Recht entstanden (z.B. aus Gewohnheit, durch Rechtsetzung).
− Geltungsgründe: Weshalb gilt Recht (heute in erster Linie: positives, d.h. gesetztes Recht)
Konkretisierung für die Schweiz
− Gesetzesrecht (im materiellen Sinn, d.h. Völkerrecht, Verfassung, Gesetze und Verordnungen)
"negatives" − Gewohnheitsrecht Erhöhung der Studiengebühren wurde vom Bundesgericht als Gewohnheitsrecht deklariert.
ungeschriebenes
Recht − Richterrecht Wenn nirgends eine Regel zu finden ist, kann auch das Gericht eine Regel erstellen.

− Dabei: Bedeutung der Wissenschaft («Lehre») und der Präjudizien («Überlieferung»)


− Vgl. Art. 1 ZGB

Es gibt keine direkten privaten Rechtsquellen, es wird jedoch öfters auf private Normen direkt in Gesetzen verwiesen.

SW 2 | Grundzüge des Rechts | Oliver Streiff 14


Rechtsquellen

Stufenbau der Rechtsordnung


− (Völkerrecht), Verfassung, Gesetz, Verordnung
− Multiplikation: Dreistufiger Staatsaufbau: Bund, Kantone, Gemeinden
Normenkollision und Normenhierarchie
− Es kann vorkommen, dass sich mehrere Rechtsnormen widersprechen: Man spricht von einer
Normenkollision. Damit stellt sich die Frage der Hierarchie
− Vier Achsen der Normenhierarchie:
− 1. Achse Gebietskörperschaft: Hierarchie vom Grösseren zum Kleineren (lex superior), d.h.
Völkerrecht > Landesrecht; Bundesrecht > interkantonales Recht > kantonales Recht >
interkommunales Recht > kommunales Recht
− 2. Achse erlassendes Organ: Als Folge des Demokratieprinzips gilt eine Hierarchie entsprechend der
demokratischen Legitimation des erlassenden Organs, d.h. Verfassung (obligatorisches
Referendum) > Gesetz (fakultatives Referendum) > Verordnung (ohne Referendum)

SW 2 | Grundzüge des Rechts | Oliver Streiff 15


Rechtsquellen

Normenkollision und Normenhierarchie (Fortsetzung)


− 3. Achse Zeit: Das neuere Recht geht dem älteren vor (lex posterior)
− 4. Achse Spezialität (lex specialis): Die besondere Regelung geht der allgemeinen Regelung vor
− Verhältnis der Achsen zueinander: 1. Achse geht allen übrigen Achsen vor. 2. Achse geht 3. Achse
und 4. Achse vor. Verhältnis zwischen 3. und 4. Achse nicht eindeutig bestimmt, ist Auslegungsfrage.
Geltungsbereiche
− Ausgangsfrage: Welche Rechtsordnung gilt?
− Räumlich: Grundsatz der territorialen Abgrenzung, d.h. bestimmte Rechtsordnung gilt für bestimmtes
Territorium (Gegensatz: personale Geltung, z.B. Anknüpfung an den Wohnsitz einer Person)
− Zeitlich: Grundsatz der Nichtrückwirkung, d.h. Sachverhalt ist nach dem Recht zu beurteilen, das bei
Verwirklichung des Sachverhalts in Kraft steht.

SW 2 | Grundzüge des Rechts | Oliver Streiff 16

Das könnte Ihnen auch gefallen