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Gerhard Schweppenhäuser

Ethik nach
Auschwitz
Adornos negative Moralphilosophie
Ethik nach Auschwitz
Gerhard Schweppenhäuser

Ethik nach Auschwitz


Adornos negative Moralphilosophie

2., überarbeitete Auflage


Gerhard Schweppenhäuser
Hochschule für angewandte
Wissenschaften
Würzburg, Deutschland

ISBN 978-3-658-11770-2 ISBN 978-3-658-11771-9 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-658-11771-9

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Lektorat: Cori A. Mackrodt, Stefanie Loyal

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Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2 Anfänge der bürgerlichen Moralphilosophie: Adornos Interpretation


der Ethik bei Sokrates, Platon und Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
2.1 »Bürgerliche« Elemente der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
2.2 Sokrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
2.3 Platon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
2.4 Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit: Kritik und Rettung


der kantischen Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
4.1 Die Kant-Kritik in Lukács’ Geschichte und Klassenbewußtsein
und ihre Rezeption bei Adorno und Horkheimer . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
4.2 Adornos Kantinterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
4.2.1 Die Freiheitsantinomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
4.2.2 Das Sittengesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
4.2.3 Die Postulatenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
4.2.4 Der intelligible Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs: Adornos dialektische


Bestimmung der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
VI Inhalt

6 Aufhebung der Moralität: Adornos Hegelinterpretation . . . . . . . . . . . . 149

7 Die Vormacht des Allgemeinen: Zur moralphilosophischen


Dialektik des Individuums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

8 Ein Wort für die Moral: Nietzsches Moralkritik bei Adorno . . . . . . . . . 179
8.1 Die Nietzsche-Interpretation der Dialektik
der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179
8.2 Adornos Nietzsche-Deutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

9 … »versuchen, so zu leben, daß man glauben darf, ein gutes Tier


gewesen zu sein«: Umrisse einer negativen Moralphilosophie . . . . . . . . 201
9.1 Die Problematik der Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
9.2 Der kategorische Imperativ nach Auschwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213
9.3 Widerstand, Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220
9.4 Moralische und ästhetische Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
9.5 Die Artikulation moralischer Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
Vorwort zur Neuausgabe
Vorwort zur Neuausgabe
Vorwort zur Neuausgabe

Es hat lange gedauert, bis Adorno in der akademischen Landschaft als kritischer
Moralphilosoph rezipiert wurde. Zu der Verzögerung hat unter anderem Jürgen
Habermas’ Bemühung beigetragen, für seine Theorie des kommunikativen Han-
delns durch die Ausarbeitung einer Kommunikationsethik ein positives normatives
Fundament auszuweisen. Dies ging mit einer Revision und Abwicklung der Kri-
tischen Theorie im Zeichen des »linguistic turn« einher, die den Paradigmenkern
der Kritischen Theorie von Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Theodor W.
Adorno für veraltet erklärte.1 Als Habermas 1980 in Frankfurt den Adorno-Preis

1 »Die Abweichungen von dem Ideal, das mit der gesellschaftlichen Verwirklichung des
vernünftigen Allgemeinen erreicht wäre, lassen sich als soziale Pathologien beschreiben,
weil sie mit einem leidvollen Verlust an Chancen der intersubjektiven Selbstverwirkli-
chung einhergehen […]. Im Zuge der intellektuellen Entwicklung von Horkheimer bis
Habermas hat sich […] diese Idee eines vernünftigen Allgemeinen nicht nur inhaltlich,
sondern auch der methodischen form nach verändert. Während Horkheimer mit seinem
Begriff der Arbeit noch ein rationales Potential verknüpft, das den Subjekten direkt als
ein Ziel der kooperativen Selbstverwirklichung in einer ›Gemeinschaft freier Menschen‹
dienen soll […], begreift Habermas die Idee einer kommunikativen Verständigung nicht
mehr als vernünftiges Ziel, sondern nur noch als vernünftige Form einer gelingenden
Weise der Vergesellschaftung« (Axel Honneth, Pathologien der Vernunft. Geschichte
und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt/M. 2007, S. 35). Für Habermas kann
»die Vernunft verständigungsorientierten Handelns nur noch die Bedingungen, aber
nicht mehr die Erfüllung einer autonomen Selbstverwirklichung gewährleisten« (ebd.,
S. 35 f.). – »Habermas hat mit der Reduktion des Interesses an der Aufhebung der
Klassengesellschaft, wie es von Horkheimer und Adorno formuliert wurde, auf das
Interesses an ›herrschaftsfreier Kommunikation‹ zugleich den materialistischen Begriff
einer objektiven Dialektik auf eine begrenzte Form subjektiver Dialektik reduziert. Er
rekonstruiert daher die Geschichte nicht mehr als Geschichte von Klassenkämpfen,
sondern als die Geschichte der Unterdrückung und Wiederherstellung des Dialogs«
(Friedrich W. Schmidt: Hegel in der Kritischen Theorie der »Frankfurter Schule«, in:
Aktualität und Folgen der Philosophie Hegels, hrsg. v. O. Negt, Frankfurt/M. 1970
2 Vorwort zur Neuausgabe

in Empfang nahm, behauptete er in seiner Dankesrede, bei Adorno sei »die Moral
einer Begründung nicht mehr fähig«2. Habermas leitete dies aus der Behauptung
ab, dass die Vernunftkritik der kritischen Theorie nicht mehr aus den Aporien
einer (im Sinne Max Webers) rationalisierten kulturellen und sozialen Moderne
hinausgefunden habe. Das stimmte zwar nicht, erwies sich aber als wirkungsvolles
Verdammungsurteil. So wurde Adorno beispielsweise noch Anfang der 1990er Jahre
in dem Artikel »Ethik der Kritischen Theorie« aus einem viel gelesenen Sammel-
band mit dem Titel Geschichte der neueren Ethik gänzlich ignoriert.3 Zwar gingen
nicht alle Interpreten auf den Leim der Wissenschaftsstrategie von Habermas, aber
viele. Und auch etliche, denen es um sachgerechte Auslegung zu tun war, meinten,
Adorno habe mit seinem pointierten Buchtitel Minima Moralia, der Aristoteles’
imposanten Ansatz einer Ethik als Magna Moralia ironisiert, auf subtile Weise
zum Ausdruck bringen wollen, dass es nach Auschwitz nicht nur barbarisch wäre,
weiterhin unverdrossen Lyrik zu produzieren, sondern auch, philosophische Ethik
zu betreiben, als habe der Verlauf der abendländischen Geschichte deren Ansprüche
nicht längst ad absurdum geführt.
Die Dissertation von Robert Schurz aus den 1980er Jahren4 enthielt erste Ansätze
zu einer Würdigung der kritischen Moralphilosophie Adornos, konnte aber noch
keine systematische Grundlage für eine Diskussion schaffen. Die Lage änderte sich
erst Anfang der 1990er Jahre allmählich, nachdem die Dissertationen von Mirko
Wischke und mir über Adornos Moralphilosophie erschienen waren.5 1996 wurde

[S. 17–57], S. 48). Richard Klein nennt Habermas’ Kritik an Adorno ›inadäquat‹ und
beschreibt seine Stellung zu Adorno treffend als »Mix aus persönlicher Verehrung
und sachlicher Beziehungsarmut« (Richard Klein, Deutschland II: Philosophische
plus politische Resonanz, in: Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. v.
R. Klein, J. Kreuzer u. S. Müller-Doohm, Stuttgart, Weimar 2011 [435–445], S. 437).
2 Jürgen Habermas: »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt«, in: Ders., Kleine poli-
tische Schriften (I-IV), Frankfurt/M. 1981 (S. 444–464), S. 454.
3 Hans-Peter Schreiber, Ethik der kritischen Theorie, in: Geschichte der neueren Ethik, Bd.
2: Gegenwart, hrsg. v. A. Pieper, Tübingen 1992 (S. 194–209); dort werden ausschließlich
Horkheimer und Marcuse referiert.
4 Robert Schurz, Ethik nach Adorno, Basel, Frankfurt/M. 1985. – Diese Arbeit war bei
Helmut Fleischer in Darmstadt begonnen und bei Ulrich Sonnemann in Kassel vollendet
worden. Richard Klein bezeichnet sie zu Recht als ›kryptisch‹ (Klein, a. a. O., S. 442).
5 Mirko Wischke, Kritik der Ethik des Gehorsams. Zum Problem der Moral bei Theodor
W. Adorno, Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien 1993 (die Arbeit
wurde von Gerd Irrlitz, Herbert Schnädelbach und Axel Honneth an der Berliner
Humboldt-Universität betreut); Gerhard Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz.
Adornos negative Moralphilosophie, Hamburg 1993 (betreut von Heinz Paetzold und
Herbert Schnädelbach an der Universität Hamburg). – Einige Ergebnisse aus diesen
Vorwort zur Neuausgabe 3

dann Adornos Frankfurter Vorlesung »Probleme der Moralphilosophie« aus dem


Sommersemester 1963 veröffentlicht. Dort geht es vor allem um eine dialektische
Interpretation von Kants praktischer Philosophie. Adorno hatte die Nachschrift
dieser Vorlesung als Grundlage für das Kant-Kapitel seiner Negativen Dialektik
verwendet. Ein Jahr darauf erschien Ulrich Kohlmanns Doktorarbeit, die ebenfalls
Adornos Moralphilosophie gewidmet war.6
Mittlerweile hat sich die Deutung weitgehend durchgesetzt, dass Adornos kri-
tischer Theorie der Moral keine abstrakte, sondern eine bestimmte Negation der
»traditionellen« Moralphilosophie zugrunde liegt. Ihr wesentliches Merkmal ist
die Anstrengung, die normativen Voraussetzungen für Kritik an der Gesellschaft
und deren philosophischen Reflexionsgestalten nicht »normativistisch« aus der Be-
wegung des Gedankens auszulagern und als eigenes »Fundament« zu zementieren,
sondern jene als Element der dialektischen Rekonstruktion der Wirklichkeit und
ihrer Möglichkeiten fortwirken zu lassen.7
Meine Schrift, die hier nach mehr als 20 Jahren wieder vorgelegt wird, war die
erste Darstellung von Adornos moralphilosophischen Überlegungen, die auf der
Grundlage von unpubliziertem Material aus dem Theodor-W.-Adorno-Archiv
in Frankfurt konzipiert und geschrieben wurde. Das war durch die freundliche
Unterstützung von Rolf Tiedemann möglich geworden, dem ich an dieser Stelle
noch einmal ausdrücklich danken möchte.
Zu einem geplanten »moralphilosophischen Buch«, von dem Tiedemann 1970
im Nachwort zur posthumen Ausgabe der Ästhetischen Theorie berichtet hatte,
waren in Adornos Nachlass keine Vorarbeiten zu finden. Dort gibt es lediglich
Tagebuchaufzeichnungen aus mehreren Jahrzehnten, die inzwischen auszugs-

Studien waren bereits vorab publiziert worden; siehe: Mirko Wischke, Betroffenheit
und Versöhnung. Die Grundmotive der Moralphilosophie von Theodor W. Adorno,
in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 40. Jg. (1992), Heft 8, 1992 (S. 900–915) und
Gerhard Schweppenhäuser, Zur kritischen Theorie der Moral bei Adorno, in: Deutsche
Zeitschrift für Philosophie, 40. Jg. (1992), Heft 12 (S. 1403–1417).
6 Ulrich Kohlmann: Dialektik der Moral. Untersuchungen zur Moralphilosophie Adornos,
Lüneburg 1997. Auch aus dieser Arbeit, die bei Christoph Türcke in Kassel entstand,
wurden Ergebnisse vorab publiziert; siehe: Ulrich Kohlmann, Selbstreflexion der Ethik.
Historisch-systematische Bezugspunkte der Moralphilosophie Adornos, in: Zeitschrift
für kritische Theorie, Heft 2 (1996), S. 87 ff. – Zu den Arbeiten von Kohlmann, Wischke
und mir siehe: Gunzelin Schmid Noerr, Kritik der Ethik in moralischer Absicht. An-
lässlich neuerer Versuche, Adornos Ethik zu rekonstruieren, in: Allgemeine Zeitschrift
für Philosophie, 24. Jg., Heft 1/1999, S. 69–80.
7 Siehe dazu Richard Klein, a. a. O., S. 442.
4 Vorwort zur Neuausgabe

weise veröffentlicht wurden.8 Sie behandeln Probleme des falschen Lebens aus
subjektiv-persönlicher Sicht und lesen sich oftmals wie Fortsetzungen der Minima
Moralia, bisweilen auch wie Betrachtungen nach Art der französischen Moralisten
aus dem 17. und 18. Jahrhundert. So beispielsweise das Unbehagen, das Adorno
bei der Ausübung des Cunnilingus an Prostituier ten verspürte (er führt es darauf
zurück, dass diese Lust heucheln müssen, die sie während der Arbeit nicht haben)
oder die beunruhigende Beobachtung, dass er im Unterscheid zu früheren Jahren
nackte Frauen nun reiz voller finde als leicht bekleidete (Adornos Erklärungsansatz
geht dahin, dass der alternde Trieb kräftigere Reize braucht). An anderer Stelle wird
der Selbstmord seines Schülers Roland Pelzer zum Thema. Pelzer war Anfang der
1960er Jahre bei Adorno mit einer Dissertation über »Hegels ethische Theoreme«
promoviert worden. Adorno wollte die Habilitation seines Schülers im Fach Phi-
losophie gegen den Widerstand von Kollegen aus der Fakultät durchsetzen. Dass
ein Suizid ihm das Leben in dieser Hinsicht leichter mache, beschreibt Adorno als
eine zutiefst inhumane Situation.
Grundlage meines Kommentars zur ungeschriebenen Moralphilosophie
Adornos waren die Mitschriften der beiden Vorlesungen zum Thema Probleme
der Moralphilosophie, die Adorno in den 1950er und 1960er Jahren in Frankfurt
gehalten hatte. Hat die bereits erwähnte Vorlesung von 1963, deren Nachschrift
Adorno als Grundlage für das Kant-Kapitel seiner Negativen Dialektik verwen-
det hat, in erster Linie Kant zum Gegenstand, so enthält die Vorlesung aus dem
Wintersemester 1956/57 unter anderem Adornos Interpretationen der antiken
Ethik. Sie ist bis heute unpubliziert. Textgrundlage dieser Vorlesung ist die
maschinenschriftliche Transkription einer stenografischen Mitschrift von Mar-
garete Adorno, während es sich bei der Vorlesung aus dem Jahre 1963 um die
Transkription einer Tonbandaufzeichnung handelt. Die Vorlesungsmitschrift von
Frau Adorno hat gegenüber der Abschrift der Tonbandaufzeichnung den Vorzug,
dass sie bereits das Resultat einer ersten Spontanredaktion von einer engen Mit-
arbeiterin Adornos ist. Der Text weist kaum Anakoluthe, Wiederholungen oder
Lücken auf. Anmerkungen von Adornos Hand finden sich sowohl im Typoskript
von 1956/57 als auch in dem von 1963.

8 Theodor W. Adorno: »Graeculus (II). Notizen zu Philosophie und Gesellschaft 1943–


1969«, in: Frankfurter Adorno Blätter VIII, hrsg. v. R. Tiedemann, München 2003,
S. 9–41.
Vorwort zur Neuausgabe 5

Die Universität Hamburg hatte die Arbeit an meiner Untersuchung durch


ein zweijähriges Promotionsstipendium gefördert. 1991 wurde die Dissertation
dem dortigen Fachbereich für Philosophie und Sozialwissenschaften vorgelegt.
1993 erschien dann eine für die Publikation überarbeitete Fassung der Arbeit im
Argument Verlag in Hamburg und war bald vergriffen. Die Fachöffentlichkeit hat
das Buch mit, wie mir damals schien, angemessener Aufmerksamkeit aufgenom-
men. Es wurde bis 1995, soweit ich weiß, zwölfmal rezensiert. Das Spektrum der
Beurteilung umfasste Zustimmung und Anerkennung,9 aber auch Ablehnung.10
Natürlich gab es auch Mischformen.11
Knapp zehn Jahre nach den ersten Forschungsarbeiten wurde eine weitere Dis-
sertation zum Thema vorgelegt.12 Seit Mitte der 1990er Jahre ist Adornos Beitrag
zur Moralphilosophie auch in einer Reihe von Aufsätzen dargestellt und diskutiert

9 Claudia Radmacher etwa sprach von »einem ungemein präzisen, historisch und syste-
matisch ansetzenden Nachvollzug der kritischen Kommentare Adornos« und nannte
die »brillante, übrigens in einer wohltuend klaren, analytischen Sprache geschriebene
Untersuchung […] eine Pflichtlektüre« (Sozialwissenschaftliche Literatur-Rundschau,
Nr. 28, 1994, S. 135–137). Kerstin Decker hob hervor, dass »Schweppenhäuser mit
sicherem Griff Adorno in Frontstellung zur Diskursethik bringt – nicht ablehnend,
wohl aber als deren zweite Reflexion« (Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 43. Jg.,
Heft 1/1995, S. 197–199). Wolfgang Habermeyer nannte die Studie »ein wichtiges Buch«
(Widerspruch. Münchner Zeitschrift für Philosophie, Heft 25/1994, S. 101–105).
10 »Auf Skepsis muß […] akademisches Bemühen stoßen, den fragmentarischen […] Re-
flexionen Adornos […] Stringenz und Systematik aufzwingen zu wollen« (Freiburger
Universitätsblätter, Dezember 1993, Heft 122).
11 Frigga Haug lobte beispielsweise: »Schweppenhäuser hat sein Buch gut aufgebaut«,
aber sie unterstellte mir andererseits einen »Standpunkt männlich-selbstzufriedener
Wissenschaft«, der »skandalös« sei (Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und
Sozialwissenschaften, Heft 206/1994, S. 848–852). Der Grund: Ich hatte Seyla Benhabibs
Buch Kritik, Norm und Utopie. Über die normativen Grundlagen der Kritischen Theorie
(Frankfurt/M. 1992) nicht erwähnt, das in deutscher Übersetzung erst erschienen war,
nachdem ich meine Arbeit bereits abgeschlossen hatte. Dieses Versäumnis scheint mir
indessen auch im Rückblick verschmerzbar, denn Benhabib geht lediglich auf wenigen
Seiten auf Adornos Überlegungen zur Moralphilosophie ein, und zwar ausschließlich
auf die Kant-Kritik der Negativen Dialektik.
12 Manuel Knoll, Theodor W. Adorno. Ethik als erste Philosophie, München 2002.
6 Vorwort zur Neuausgabe

worden.13 Inzwischen wurde Adornos praktische Philosophie in einer Kopenhagener


Doktorarbeit mit einem konzeptionell erweiterten Rahmen untersucht.14
Richard Klein resümiert den heutigen Diskussionstand mit Blick auf die Stu-
dien von Kohlmann und mir im Adorno-Handbuch wie folgt: »Für negative Ethik
(Wischke und Knoll sind diesem Ansatz nicht ganz zuzuordnen) ist die Frage
nach den Bedingungen, die gelingendes Leben verhindern, konstitutiv. Sie kann
gar nicht anfangen, ohne die Möglichkeit der Negation sozialer Pathologien in
Rechnung zu stellen. Kapitalismuskritik als solche beantwortet aber keine einzige
moralphilosophische Frage. Sie belegt vielfältig die Ohnmacht aller Moral und
allen ethischen Begründens, aber sie ersetzt diese nicht.«15

13 Siehe u. a.: Gerhard Schweppenhäuser, Kritische Moralphilosophie als negativer Uni-


versalismus, in: Soziologie im Spät kapitalismus. Zur Gesellschaftstheorie Theodor W.
Adornos, hrsg. v. G. Schweppenhäuser, Darmstadt 1995, S. 244–258; ders., Die Selbst-
zerstörung des Kultur-Überichs. Überlegungen zu den Grundlagen von Kultur- und
Moralkritik bei Adorno, in: Impuls und Negativität. Ethik und Ästhetik bei Adorno,
hrsg. v. G. Schweppenhäuser u. M. Wischke, Hamburg 1995, S. 198–214; Anke Thyen,
Metaphysikkritik und Ethik bei Theodor W. Adorno und Emanuel Lévinas, in: Impuls
und Negativität. Ethik und Ästhetik bei Adorno, a. a. O., S. 136–151; Gunzelin Schmid
Noerr, Moralischer Impuls und gesellschaftliche Reflexion. Das Verhältnis der Kriti-
schen Theorie zur Mitleidsethik, in: Ders., Gesten aus Begriffen. Konstellationen der
Kritischen Theorie, Frankfurt/M. 1997, S. 153–197; Gerhard Schweppenhäuser, Das
Unbehagen an der Moral. Zur Kritik der Ethik bei Adorno und Zygmunt Bau man, in:
Das Argu ment. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, 41. Jg. (1999), Heft
4, S. 513–526; ders., Ein Wort für die Moral. Horkheimer und Adorno lesen Nietzsche,
in: Nietzsche im Exil. Übergänge in gegenwärtiges Denken, hrsg. v. R. Schmidt-Grépaly
u. S. Dietzsch, Weimar 2001, S. 93–102; ders., A filosofia moral negativa de Theodor W.
Adorno, in: Educação & Sociedade. Revista de Ciencia da Educação, Vol. 24 No. 83,
Agosto 2003, S. 391–415; ders., Adorno’s Negative Moral Philosophy, in: The Cambridge
Companion To Adorno, hrsg. v. T. Huhn, Cambridge 2004, S. 328–353; Werner Post,
Adornos Moralphilosophie, in: Die Zukunft der Vernunft. Zur Aktualität von Theodor
W. Adorno, hrsg. v. G. Schmid Noerr u. K. Schmids, Cluj-Napoca 2004, S. 191–205;
Gerhard Schweppenhäuser, Gibt es ein »stellvertretendes Leben im falschen«? Moralische
Aporien nach Adorno, in: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 20–21, 2005, S. 147–170;
Rahel Jaeggi, »Kein Einzelner vermag etwas dagegen«. Adornos Minima Moralia als
Kritik von Lebensformen, in: Dialektik der Freiheit. Frankfurter Adorno Konferenz
2003, hrsg. v. A. Honneth, Frankfurt/M. 2005, S. 115–141; Christoph Menke, Tugend
und Reflexion. Die »Antinomien der Moralphilosophie«, in: Dialektik der Freiheit.
Frankfurter Adorno Konferenz 2003, a. a. O., S. 142–162; Robert B. Pippin, Negative
Ethik. Adorno über falsches, beschädigtes, totes, bürgerliches Leben, in: Dialektik der
Freiheit. Frankfurter Adorno Konferenz 2003, a. a. O., S. 85–114.
14 Per Jepsen, Adornos kritische Theorie der Selbstbestimmung, Würzburg 2011.
15 Klein, a. a. O., S. 442. – Weiter heißt es dort: »Negative Ethik ist der Kern seiner [sc.
Adornos] Kritik der falschen Gesellschaft, und doch ein autonomer Diskurs gegenüber
Vorwort zur Neuausgabe 7

Seit Mitte der 1990er Jahre habe ich mich in verschiedenen Zusammenhän-
gen von Neuem mit Adornos kritischer Theorie der Moral beschäftigt.16 Bei der
Durchsicht des vorliegenden Textes für die Neuausgabe erschien es mir aber
nicht vielversprechend, die Ergebnisse der späteren Arbeiten nun, in Form einer
Umarbeitung meines ersten Darstellungs- und Diskussionsversuchs, nachträglich
einzuarbeiten. Für die Neuausgabe dieses Buches habe ich mich daher auf »kosme-
tische« Überarbeitungen beschränkt, welche hoffentlich die Lesbarkeit verbessern.
Ich habe sachliche oder formale Fehler korrigiert, hier und da gekürzt und an
einigen Stellen Formulierungen verändert. An mehreren Stellen habe ich die Aus-
einandersetzungen mit der Sekundärliteratur aus dem Haupttext herausgenommen
und in die Anmerkungen verlegt. Im Schlusskapitel des Buches ging es seinerzeit
darum, die Differenzen zwischen Adornos moralphilosophischer Konzeption und
der »kommunikativ verflüssigten Moral« bei Habermas auf Grundlage einer rela-
tiv ausführlichen Darstellung der Diskursethik herauszuarbeiten. Dieses Kapitel
konnte in der vorliegenden Neuausgabe entfallen, die eine – wie oben skizziert
wurde – veränderte Debatte vorfindet.

der Theorie des gesellschaftlich Negativen selbst. Negative Dialektik erschöpft sich
weder in Gesellschaftstheorie noch in Ästhetik, sondern sie impliziert einen eigenen
moralphilosophischen Ansatz, der abgekürzt gesprochen, um ein Drittes jenseits von
rationalem Universalismus und moralischer Erfahrung kreist, das er aus der gegen-
seitigen Kritik dieser Extreme zu entwickeln sucht. Dass Kantianer wie Aristoteliker
mit soviel Gebrochenheit unzufrieden sind und sie weniger für Ethik als für deren
Vermeidung halten, liegt in der Natur der Sache.« (Ebd.).
16 Siehe dazu neben meinen in Anmerkung 13 angeführten Aufsätzen und dem Beitrag
über Adornos »Negative Moralphilosophie« in: Adorno-Handbuch. Leben – Werk
– Wirkung, a. a. O., S. 397–405: Gerhard Schweppenhäuser, Humane Zellen im inhu-
manen Allgemeinen? Adornos negative Moralphilosophie, in: Die Moral in der Kritik.
Ethik als Grundlage und Gegenstand kritischer Gesellschaftstheorie, hrsg. v. I. Elbe u.
S. Ellmers: Würzburg 2011, S. 151–177; ders., »Eine Gesellschaft kritisieren, in der alles
zum Mittel wird und nichts mehr Zweck ist«. Zur Dialektik von Kants Philosophie
und Hegels Kritik der Moral bei Adorno, in: Gewalt und Moral. Eine Diskussion der
Dialektik der Befreiung, hrsg. v. H. Wallat, Hannover 2014, S. 195–228, sowie meine
Bücher: Die Antinomie des Universalismus. Zum moralphilosophischen Diskurs der
Moderne, Würzburg 2005 (Kapitel V) und: Kritische Theorie, Stuttgart 2010 (Teil II,
Kapitel 2). Siehe ferner auch das Interview »Adorno als Denker zwischen den Stühlen?
Gerhard Schweppenhäuser, Mirko Wischke und Ulrich Kohlmann im Gespräch über
Adornos Vorlesungen zur Moralphilosophie«, in: Information Philosophie, August
1998, S. 56–59.
8 Vorwort zur Neuausgabe

Ich danke Philipp Mentrup, M.A. für seine Hilfe bei der Herstellung einer neu-
en elektronischen Textdatei und Dr. Andreas Beierwaltes für seine verlegerische
Unterstützung.
Die Neuausgabe widme ich dem Andenken meines Vaters Hermann Schwep-
penhäuser (1928–2015), der auch mein erster philosophischer Lehrer war.

Würzburg, September 2015 Gerhard Schweppenhäuser


Einleitung
1 Einleitung
1 Einleitung
1

In der Fülle der Literatur zum Werk Adornos finden sich bis zu Beginn der 1990er
Jahre auffallend wenige Untersuchungen zu moralphilosophischen Fragestellun-
gen. Das ist kein Zufall; es ist aus den dominierenden Forschungsinteressen zu
erklären, die die Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie kennzeichnen.
Aus der Perspektive des Neomarxismus der 1960er und 1970er Jahre schien es, als
brauchte man sich mit dem Thema Moralphilosophie nicht aufzuhalten. Wer in
gesellschaftstheoretischen und philosophischen Diskussionszusammenhängen unter
Berufung auf moralische Kategorien argumentieren wollte, machte sich verdächtig,
in »falsches bürgerliches Bewusstsein« zurückgefallen zu sein. Vulgär- (und das
heißt: pseudo-) ideologiekritisch wurden moralische Fragestellungen – auch die
Frage nach dem moralischen Maßstab einer kritischen Gesellschaftstheorie – als
Epiphänomene abgetan, die mit der praktischen Veränderung der Gesellschaft
von selbst ihre vermeintliche Relevanz verlieren und »absterben« würden. Diese
Argumentation schloss sich an das Missverständnis an, die marxsche Theorie würde
dieses Vorgehen rechtfertigen. Habe doch Marx, wie Hegel, die Ausarbeitung einer
Ethik für überflüssig gehalten, weil praktische Fragen nur in gesellschaftlicher
Praxis angegangen werden könnten und ihre Beantwortung – ja schon ihre Stellung
– unter Bedingungen einer ideologischen und antagonistischen Vergesellschaftung
gar nicht anders als ideologisch und widersprüchlich würde ausfallen können.
Bestärkt wurde diese Herangehensweise durch einschlägige Passagen, in denen
Marx bürgerlichen und sozialistischen »Moralisten« unübertrefflich den kritischen,
bisweilen polemischen Bescheid erteilt hatte.
Bereits zu Beginn der 1970er Jahre ist zwar gezeigt worden, dass Marx zwar
ein an praktischer Veränderung in Wahrheit gar nicht interessiertes Moralisieren
zurückgewiesen hat, in seiner Kritik der bürgerlichen Gesellschaft aber sehr wohl

G. Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz, DOI 10.1007/978-3-658-11771-9_1,


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10 1 Einleitung

authentisch moralisch inspiriert war.1 Das Missverständnis hielt sich dennoch


am Leben. Verdrängt wurde, dass sich im »kategorischen Imperativ« des frühen
Marx, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein
geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«2, bei aller – im übrigen
sachlich zu kurz greifenden – Kritik an Kants Moralphilosophie auch ein nach-
drückliches Anknüpfen an die emphatisch postulierte Idee einer Menschheit von
freien und autonomen Individuen anmeldete. Aus der Perspektive der Kritischen
Theorie wurde dagegen in den 1980er Jahren die normative Basis der marxschen
Kritik systematisch dargestellt.3
Im Rückblick kann es freilich erscheinen, als sei die Verdrängung moralphi-
losophischer Fragestellungen aus dem Diskurs des Neomarxismus ein spiegelver-
kehrtes Pendant zur Wiederauferstehung ethischer Kategorien gewesen, die in der
philosophischen Diskussion unterschiedlich bewertet worden ist: zustimmend als
»Rehabilitierung« der praktischen Philosophie (so Manfred Riedel Anfang der
1970er Jahre) oder besorgt als Tendenz der Philosophie, sich in Ethik aufzulösen
(so Michael Theunissen in den 1990ern). Und außerdem ist die Verdrängung der
Ethik auch in anderer Hinsicht gewissermaßen die Kehrseite der Medaille, also
ein Komplementärphänomen: Sie war der negative Widerschein der Dekretierung
einer »sozialistischen Ethik« durch die Ideologen der pseudosozialistischen auto-
ritären Staaten.4
Erstaunlich wenig beachtet blieb bei all dem das Verhältnis der Kritischen
Theorie zur Moralphilosophie. Dass es sich bei Kritischer Theorie um praktische
Philosophie handelt, wurde zwar unmissverständlich formuliert. Auch auf die
normativen Implikationen einer solchen Theorie wurde eingegangen; nicht aber auf

1 Vgl. Iring Fetscher, Zum Problem der Ethik im Lichte der Marxschen Geschichtstheorie,
in: Probleme der Ethik – Zur Diskussion gestellt, hrsg. v. G. G. Grau, Freiburg/München
1972, S. 15 ff.
2 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx, Engels,
Werke, Berlin 1956–1989, Bd. 1, S. 385.
3 Vgl. Matthias Lutz-Bachmann, Geschichte und Subjekt, Freiburg 1988, S. 170 ff. – Zur
Diskussion über das Verhältnis der Marxschen Kritik zur Ethik vgl. Ethik und Marx,
hrsg. v. E. Angehrn u. G. Lohmann, Königstein/Ts. 1986.
4 Vgl. dazu Herbert Marcuse, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus,
Darmstadt und Neuwied 1974, Teil II, S. 180 ff. – Der dogmatischen, DKP-nahen
Philosophie in der Bundesrepublik galt die »marxistische Ethik« als »die neue Ethik
der Arbeiterklasse« (Hans Jörg Sandkühler, Marxismus und Ethik, in: Marxismus und
Ethik, hrsg. v. H. J. Sandkühler u. R. de la Vega, Frankfurt/M. 1974, S. XXIV u. XXVI).
Als deren adäquate Weiterentwicklung wurde Lenins »Auffassung kommunistischer
Sittlichkeit« (a. a. O., S. XXVIII) angepriesen.
1 Einleitung 11

ihr Verhältnis zur Moralphilosophie.5 Hierin kommt ein Doppeltes zum Ausdruck:
Kritische Theorie hat sehr wohl »normative Implikationen«, aber sie arbeitet diese
nicht zu einer systematisch von anderen Bereichen abgegrenzten philosophischen
Teildisziplin aus. Dafür kann sie gute Gründe geltend machen; gleichwohl bleibt
aus dieser Perspektive das Desiderat einer expliziten normativen Fundierung der
Theorie bestehen.
In Robert Spaemanns Textsammlung zur Geschichte der Ethik heißt es, Ethik
werde in der »Frankfurter Schule« »nicht mehr als eigenständiges Gebiet der Philo-
sophie gesehen, sondern […] im Gesamtrahmen der praktischen, auf Gesellschafts-
veränderung und die Errichtung herrschaftsfreier Verhältnisse unter den Menschen
orientierten Aufgabe zum Gegenstand philosophischer Beschreibung.« 6 Sieht man
einmal davon ab, dass Kritische Theorie mehr leistet als eine bloße »Beschreibung«,
so ist dieser Befund sicher nicht falsch. Aber ist damit schon alles gesagt über das
Verhältnis der Kritischen Theorie zur Moralphilosophie?
Die Aufsätze von Horkheimer und Marcuse, die sich der ethischen Proble-
matik gewidmet hatten, wurden meist unter dem Aspekt der Theoriegeschichte
betrachtet, jedoch kaum systematisch ausgewertet.7 Dann gab es den Hinweis auf

5 Bei Fahrenbach etwa heißt es über den marxistischen Existentialismus und die Kritische
Theorie: »Es ist klar, daß in eine solche Analyse auch die der realen Praxis immanenten
normativen Strukturen einbezogen werden müssen. Sie nehmen darin sogar eine
ausgezeichnete Stellung ein, weil erst mit Bezug auf sie eine (im Sinne von Marx)
›immanente Kritik‹ der realen Praxis möglich wird, nämlich im Hinblick auf den
möglichen Widerspruch zwischen Idee beziehungsweise normativer Selbstinterpretation
und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Und diese immanente Kritik wiederum gibt die
realen Ansatzpunkte für die das bestehende gesellschaftliche System in der Spannung
von Wirklichkeit und Möglichkeit auf bessere Möglichkeiten hin überschreitende […]
utopische Kritik, die sich als solche natürlich nicht aus dem herrschenden System sozialer
Praxis legitimieren kann und will. Daran zeigt sich, daß normative Strukturen nicht
nur im Gegenstandsfeld einer kritischen Praxisanalyse eine wesentliche Rolle spielen,
sondern daß der Vollzug dieser Analyse – als realitätskritischer und utopischer – selbst
normative (ja moralische) Implikationen hat. […] Die kritische Theorie der Praxis hat
also normative Implikationen, die in ihr aber nicht isoliert thematisiert werden, weil
ihre ganze Reflexionsrichtung auf die kritische Analyse der realen Situation praktischer
Existenz und den Entwurf der Realisationsbedingungen besserer Möglichkeiten
menschlicher Praxis zielt.« (Helmut Fahrenbach, Ein programmatischer Aufriß der
Problemlage und systematischen Ansatzmöglichkeiten praktischer Philosophie, in:
Rehabilitierung der praktischen Philosophie Bd. I, hrsg. v. M. Riedel, Freiburg 1972,
S. 49 f.)
6 Ethik-Lesebuch, hrsg. v. R. Spaemann, München 1987, S. 474.
7 Siehe Max Horkheimer, Materialismus und Moral, in: Zeitschrift für Sozialforschung,
hrsg. v. M. Horkheimer, Jg. 2 (1933) [Reprint München 1980], S. 161 ff. und Herbert
12 1 Einleitung

ein von Adorno geplantes moralphilosophisches Werk, 8 aber seine Minima Moralia
wurden meist als Absage an den Versuch gelesen, im Spätkapitalismus noch eine
Moralphilosophie zu formulieren. Diese Auffassung schien untermauert zu wer-
den durch den Nachweis der Aporien von Kants Ethik, um den sich die Negative
Dialektik bemüht. Die dezidierte Kritik der bürgerlichen Moralphilosophie, die der
Juliette-Exkurs der Dialektik der Aufklärung enthält, schien schließlich geeignet,
die letzten Zweifel daran zu zerstreuen, dass Adorno mit Moralphilosophie nichts
im Sinn gehabt habe.
Erst in den 1980er Jahren wurden einzelne Versuche unternommen, sich den
moralphilosophischen Ansätzen in Adornos Werk anzunähern.9 1990 ist dann sogar
die These aufgestellt worden, »daß Adorno im Unterschied zu den heutigen Vertretern
der Kritischen Theorie ein klassischer Ethiker war.«10 Auch wenn man dieser These
nicht zustimmt: Man hätte doch bereits zu einer Zeit auf den Zusammenhang von
Kritik und moralischer Intention bei Adorno stoßen können, als diese Sichtweise
noch gänzlich unzeitgemäß erschienen wäre. Hinweise auf einen solchen Zusam-
menhang gibt es in Adornos Werk, auch und bisweilen gerade dort, wo nicht von
ethischen Themen die Rede ist. Adorno stellt sein Denken gewissermaßen a priori

Marcuse, Zur Kritik des Hedonismus, in: Zeitschrift für Sozialforschung Jg. 7 (1938),
S. 55 ff. sowie Herbert Marcuse, Ethik und Revolution, in: ders., Kultur und Gesellschaft
2, Frankfurt/M. 1979, S. 130 ff. – Zu Horkheimers Kritik der Moralphilosophie siehe
Herbert Schnädelbach, Max Horkheimer und die Moralphilosophie des deutschen
Idealismus, in: ders., Vernunft und Geschichte, a. a. O., S. 207 ff.; zu Marcuse siehe
meinen Aufsatz: Freiheit und revolutionärer Moralbegriff bei Herbert Marcuse, in: G.
Schweppenhäuser, Emanzipationstheorie und Ideologiekritik, Cuxhaven 1990, S. 27 ff.
8 Vgl. Editorisches Nachwort, in: Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 7,
Frankfurt/M. 1970, S. 537.
9 Siehe Klaus Günther, Dialek tik der Aufklärung in der Idee der Freiheit. Zur Kritik des
Freiheitsbegriffs bei Adorno, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 39 (1985),
Heft 2, S. 229 ff.; siehe vor allem auch Robert Schurz, Ethik nach Adorno, Frankfurt/M.
1985. Schurz geht insgesamt leider unsystematisch vor, was zur Folge hat, dass seine
Studie sich in der Fülle ihres – wie mir scheint – meist nur assoziativ verarbeiteten
Materials verliert. Sie kann daher nur wenig zur Klärung der hier untersuchten Fragen
beitragen. – Bei Anke Thyen und Hauke Brunkhorst finden sich Hinweise auf die
normativen Implikationen von Adornos Philosophie, die allerdings im Rahmen ihrer
jeweiligen Untersuchungen am Rande stehen und nicht auf die Rekonstruktion der
bei Adorno angelegten moralphilosophischen Position abzielen; siehe Anke Thyen,
Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des Nicht identischen bei Adorno,
Frankfurt/M. 1989 und Hauke Brunkhorst, Theodor W. Adorno. Dialektik der Moderne,
München 1990.
10 Ulrich Steinvorth, Klassische und moderne Ethik. Grundlinien einer materialen
Moraltheorie, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 9.
1 Einleitung 13

unter einen moralischen Gesichtspunkt. Dem Leiden Wort und Begriff zu geben und
an seiner Abschaffung zu arbeiten, ist das Movens Kritischer Theorie. »Das Bedürf-
nis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.«11 Die kritische
Reflexion der Rationalität auf sich selbst wird – auch – als moralische Notwendigkeit
begriffen: »die Selbstkritik der Vernunft ist deren eigenste Moral.«12 Die Einsichten
Kritischer Theorie sind nach Adorno unabtrennbar von der Verpflichtung, sie mit
der Intention auf praktische Wirksamkeit, »mit moralischem Effort, stellvertretend
gleichsam, auszusprechen«13. Offenkundig steht also für Adorno außer Frage, dass
es etwas gibt, was man als objektive moralische Verpflichtung bezeichnen kann.
Aber ein moralisches Erfordernis bietet keine Gewähr für das Gelingen dessen, was
erforderlich ist. Nicht einmal das Erfordernis selber kann aus außermoralischen
Kategorien argumentativ abgeleitet und als Prinzip formuliert werden, aus dem
sich Handlungsanweisungen deduzieren ließen. Moralische Erfordernisse folgen
einzig und allein aus dem historischen Interesse der Menschen an einer rationalen
Veränderung des »beschädigten Lebens«. Diese Prämisse unterscheidet Adornos
Sicht der Dinge von affirmativen Ethiken.
Adorno wollte zwar ein moralphilosophisches Buch schreiben, aber keine
»Ethik«. Von diesem Begriff grenzt er sich ausdrücklich ab. Im geistigen Klima
der 1950er Jahre hält er in der Rede von »Ethik« die naturalistische Tendenz für
wirksam, die Wesensart des Menschen, sein bloßes Sosein, zum Handlungsmaßstab
zu verklären. In der frühen Frankfurter Vorlesung Probleme der Moralphilosophie
heißt es dazu: »Der Begriff der Ethik ist viel beliebter als Moralphilosophie. Er
klingt nicht so rigoristisch, scheint einen höheren, humaneren Sinn zu haben […].
Ethik ist das schlechte Gewissen […], der Versuch, über Gewissen zu reden, ohne
an dessen Zwang zu appellieren. Ethik ist aufgeweicht, unverbindlich. […] Daraus,
wie wir nun einmal beschaffen sind, soll abgeleitet werden, wie wir uns zu verhalten
haben. […] Die moralische Ordnung ist keine natürliche, sondern hängt mit der

11 Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften Bd. 6, S. 29. – Zitate aus Adornos Gesammelten
Schriften (Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. a.,
Frankfurt/M. 1970–1986) werden im folgenden mit der Sigle GS sowie der Bandnummer
und der Seitenzahl nachgewiesen. Zitate aus den beiden Frankfurter Vorlesungen
Probleme der Moralphilosophie von 1956/57 und 1963 werden mit den Siglen PM 1
(Wintersemester 1956/57) bzw. PM 2 (Sommersemester 1963) und dem Datum der
Vorlesung, aus der jeweils zitiert wurde, nachgewiesen. – Für Zitate aus der Vorlesung
von 1963 erfolgt zusätzlich ein Nachweis nach der Ausgabe in Adornos Nachgelassenen
Schriften (Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie (1963), hg. v. T. Schröter,
in: Ders., Nachgelassene Schriften, Abt. IV, Bd. 10, Frankfurt/M. 1996).
12 Adorno, GS 4, S. 141.
13 Adorno, GS 6, S. 51.
14 1 Einleitung

Vernunft zusammen, damit, wodurch wir über die Natur hinausragen. Ethos steht
in scharfem Gegensatz zur Kantischen Moralphilosophie.«14
Das Verhältnis der Begriffe Ethik und Moral wird in der philosophischen Dis-
kussion heute meist folgendermaßen beschrieben: Unter Moral versteht man die
Gesamtheit der Normen, Regeln und Prinzipien menschlichen Handelns, sofern
sie sich an moralischen Kriterien orientieren, das heißt, sofern sie kategorischer
Natur sind und allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Ethik wird demgegenüber
die philosophische Disziplin genannt, die den Problembereich der Moral metho-
disch-wissenschaftlich untersucht – das heißt, die Wissenschaft, deren Gegenstand
moralisches Handeln ist und deren Ziel darin besteht, den Begriff der Moralität
zu begründen, indem sie die Prinzipien des Richtigen und des Guten bestimmt.
Innerhalb der Ethik wird dann der Sonderbereich der sogenannten Metaethik
abgegrenzt, die es nicht mit dem Inhalt, sondern mit der Form der Begründung
und Rechtfertigung moralischer Urteile zu tun hat und sich dieser auf dem Wege
sprachlicher Bedeutungsanalyse versichert.15
In der Regel werden dabei die Begriffe Ethik und Moralphilosophie synonym
verwendet. Zu dieser Praxis steht Adornos Gebrauch der Begriffe quer. Das liegt
nicht an sprachlicher Unklarheit, es hat vielmehr sachliche Gründe. Adorno
vermeidet den Begriff der Ethik, weil er inhaltlich motivierte Vorbehalte dagegen
hat. Sie kommen in den Sätzen zum Ausdruck, die zuvor zitiert wurden. Die Dop-
peldeutigkeit des Ethos-Begriffs, der zum einen für Gewohnheit, Sitte und Brauch
steht, zum anderen für einen durch Überlegung und Einsicht gekennzeichneten
tugendhaften Charakter, versteht Adorno offensichtlich nicht als eine Äquivokation
mit konträren Bedeutungsnuancen. Er scheint nicht zu meinen, dass ein in sich
gefestigter moralischer Charakter unbedingt das Gegenteil von einem Verhaltens-
muster darstellen muss, das sich an Konventionen ausrichtet. Vielmehr spürt er
im Begriff des Charakters und dem, wofür der Begriff steht, die Verfestigung und
Verhärtung auf, ohne die es, wie wir seit der Psychoanalyse wissen, gar keinen

14 Adorno, PM 1, 8. 11. 1956.


15 Siehe dazu etwa: Günther Patzig, Ethik ohne Metaphysik, Göttingen 1971, S. 3; siehe
auch Günther Grewendorf u. Georg Meggle, Zur Struktur des metaethischen Diskurses,
in: dies. (Hrsg.), Sprache und Ethik, Frankfurt/M. 1974, S. 7 ff., Norbert Hoerster, Ethik
und Moral, in: ders. u. D. Birnbacher (Hrsg.), Texte zur Ethik, München 1976, S. 9 ff.
und Annemarie Pieper, Ethik und Moral, a. a. O., S. 9 ff. – Klaus Günther schlägt eine
terminologische Unterscheidung vor, derzufolge es das Moralische mit dem »Gerechten
und normativ Richtigen« zu tun habe, während die Sphäre des Ethischen die des
»Guten und evaluativ Angemessenen« sei (Klaus Günther, Das gute und das schöne
Leben, in: Ethik und Ästhetik. Nachmetaphysische Perspektiven, hrsg. v. G. Gamm u.
G. Kimmerle, Tübingen 1990, S. 14).
1 Einleitung 15

sich durchhaltenden Charakter geben kann. Dieses Moment der Verdinglichung


aber steht der Autonomie entgegen, auf die es Adorno ankommt. Nicht, dass er für
Charakterlosigkeit eintritt – aber in seinen Begriff der Moralphilosophie kann er
den Begriff des Ethos nicht hineinnehmen.
Adorno ordnet den Titel »Ethik« also eindeutig den Entwürfen zu, die sich auf
gewachsenes Ethos, auf eingeführte Institutionen, etablierte Normen und Werte
berufen, das heißt auf jene Theorien, die in der neueren Diskussion neoaristo-
telische, neohegelianische oder Lebenswelt-Ethiken genannt werden.16 Für das
Verständnis von Adornos Konzept und für den Versuch, es zu vergegenwärtigen,
sind diese terminologischen Überlegungen wichtig, auch wenn sie nur den Sta-
tus der Vorläufigkeit beanspruchen können. Denn auch gegen den vorliegenden
Erklärungsversuch könnte eingewendet werden, dass ja im Kern des Begriffs der
Moralphilosophie ebenfalls eine Äquivokation steckt, nämlich die Doppelbedeutung
»Sitte« und »Charakter« des lateinischen mos. Dennoch muss immerhin versucht
werden zu erklären, warum Adorno Vorbehalte gegen den Begriff der Ethik hat.
Sicherlich spielt die seinerzeit übliche Verwendung des Terminus Ethik dabei eine
wichtige Rolle, mit der sich im bundesdeutschen Sprachraum in den 1950er Jahren
unweigerlich muffig-restaurative Assoziationen verbinden, und der in der Sprach-
regelung der DDR für ein repressives System kollektiver Verhaltensnormierung
stand.17 Weil Adornos Moralphilosophie kein Moralprinzip aufstellen will, sondern
sich in der immanenten Kritik der moralphilosophischen Tradition konstituiert,
liegt es darüber hinaus nahe, anzunehmen, dass für ihn der Titel »Ethik« auch die
Absicht verriet, Prinzipien der Moral aufzustellen; was ja auch, wie gesagt, dem
Selbstverständnis gegenwärtiger Ethiker vollkommen entspricht. Daher wird im
vorliegenden Zusammenhang von Adornos Moralphilosophie gesprochen.
Robert Schurz folgt in seiner Schrift Ethik nach Adorno der leitenden These,
dass Adorno vorgehabt habe, noch eine Ethik zu schreiben, die es nun posthum
nachzuliefern gelte. »Im Werk Adornos«, schreibt Schurz, »steht […] zwangsläufig
etwas aus: ein Rechenschaftsbericht. Daß Adorno gegen Ende (seines Lebens) noch
eine ›Ethik‹ schreiben wollte, zeugt davon, daß er zu einem wirklichen Ende gelan-
gen wollte. Wenn wir nun das Adornosche Werk um diesen Rechenschaftsbericht
ergänzen wollen, so nennen wir dies eben aus gutem Grunde eine ›Ethik‹.«18 Doch
das wird Adornos Intentionen nicht gerecht; weder im Hinblick auf eine kritische
Theorie der Moral (bzw. der Moralphilosophie) noch im Hinblick auf den intellek-

16 Vgl. dazu etwa Walter Schulz, Grundprobleme der Ethik, Pfullingen 1959, S. 216 ff.
17 Vgl. dazu etwa Hans Boeck, Ethik und Moral, Berlin 1977, Kap. 1: Gegenstand und
Aufgaben der marxistisch-leninistischen Ethik, S. 13 ff.
18 Schurz, a. a. O., S. 23.
16 1 Einleitung

tuellen Gestus des philosophischen Schriftsteller Adorno, der das Ansinnen, er solle
einen »Rechenschaftsbericht« verfassen, sicher als Zumutung zurückgewiesen hätte.
Im Gegensatz zu Schurz beabsichtige ich mit der vorliegenden Arbeit nicht,
›Adornos Werk zu ergänzen‹. Ich will vielmehr einen bislang kaum erschlossenen
Aspekt seiner Philosophie systematisch untersuchen. Meine Studie geht von der
Annahme aus, dass bei Adorno Elemente moralphilosophischer Reflexion vor-
liegen, die von ihm nur unzusammenhängend entfaltet worden sind, sich aber
gleichwohl zusammenführen lassen. Dazu werden auch die unpublizierten Nach-
schriften der beiden Vorlesungen Probleme der Moralphilosophie, die Adorno in
den 1950er und 1960er Jahren in Frankfurt hielt, herangezogen. Im Lichte ihrer
Interpretationen traditioneller moralphilosophischer Lehrstücke lassen sich die
einschlägigen Passagen in Adornos publiziertem Werk neu lesen und in Beziehung
zu den leitenden Fragen dieser Untersuchung bringen. Seine untergründig präsente
Moralphilosophie, die herausgearbeitet werden soll, wird aus zwei Gründen als
»negative« bezeichnet: weil Adornos »Reflexionen aus dem beschädigten Leben«
(als übergreifende Charakteristik verstanden) sich kritisch-negierend zu diesem
verhalten, und weil Adorno sich weigert, affirmativ ein Moralprinzip aufzustellen,
um seine Kritik zu fundieren.19
Bevor ich im Folgenden versuche, Adornos »negative Moralphilosophie« zu (re-)
konstruieren, möchte ich den Begriff der Rekonstruktion erläutern. Vom gängigen
Verständnis des Begriffs der Rekonstruktion – nämlich der zusammenfassenden,
neu systematisierenden Darstellung vorliegender Theoriestücke – unterscheidet
sich das Verfahren, das hier erprobt werden soll, insofern, als die darstellenden
Passagen eingebunden sind in einen konstruktiven Gesamtplan, von dem aus sie

19 Nach dem Abschluss der Arbeit an meiner Studie hat Mirko Wischke eine einschlägige
Arbeit vorgelegt (Mirko Wischke, Kritik der Ethik des Gehorsams. Zum Moralproblem
bei Theodor W. Adorno, Frankfurt/M.; Berlin; Bern; New York; Paris; Wien 1993).
Neben einigen Berührungspunkten gibt es vor allem zwei wichtige Unterschiede
zu meiner Konzeption. Wischke will zeigen, »daß der Gedanke der Versöhnung
und das Moralprinzip der Betroffenheit durch das Leiden anderer die Explikation
zweier Grundmotive der Utopie einer ›zwangfreien‹ Identitätsbildung darstellen, die
in eine negative Theologie der Moral münden.« (Wischke, a. a. O., S. 5.) Das würde
aber implizieren, dass es ein affirmativ formuliertes normatives Fundament bei
Adorno gibt, nämlich »die Moral der Betroffenheit als das normative Prinzip eines
richtigen Lebens« (M. Wischke, Betroffenheit und Versöhnung. Die Grundmotive der
Moralphilosophie von Theodor W. Adorno, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 40.
Jg., 8/1992, S. 900 ff.; hier: S. 901). Und andererseits würde es implizieren, dass immanente
geschichtsphilosophische Aporien Adorno zu einer negativen Moraltheologie Zuflucht
nehmen ließen. Die Differenzen zwischen diesen Grundannahmen und dem Konzept
einer negativen Moralphilosophie werden im vorliegenden Buch deutlich hervortreten.
1 Einleitung 17

erst ihren Stellenwert im Ganzen beziehen. Die Moralphilosophie Adornos gilt


es überhaupt erst zu konstruieren, weil es sie ja faktisch als solche nicht gibt. Das
heißt, rekonstruiert werden soll ein nicht zur Ausführung gebrachter gedanklicher
Zusammenhang als ganzer: so, wie er in Adornos Werk potentiell angelegt ist. Diese
Rekonstruktion soll durch die Konstruktion ermöglicht werden. Das tragende
Konzept ist, entsprechend den bei Adorno vorliegenden Ansätzen, gekennzeich-
net durch die Diskussion von historischen und systematischen Elementen, die im
Wechsel angeordnet sind. Historisch orientiert ist die Untersuchung dort, wo sie
Adornos kritische Arbeit an Modellen aus der moralphilosophischen Überlieferung
zum Gegenstand hat; systematisch dort, wo Adornos Position anhand moralphi-
losophisch zentraler Begriffe herausgearbeitet werden soll.
»Die überlieferte philosophische Problematik ist bestimmt zu negieren, gekettet
freilich an deren Fragen«20, lautet die inhaltlich-methodische Programmatik der
Negativen Dialektik. Das gilt auch für Adornos Vorgehen im Bereich der Moral-
philosophie. Die Diskussion von Adornos Auseinandersetzung mit traditionellen
Ethiken (und mit deren Kritik, wie sie Nietzsche vorträgt) wirft nun die Frage auf,
inwieweit seine Auslegungen diesen gerecht werden. Dazu möchte ich vorweg einige
methodische Bemerkungen machen.
In seinen Vorlesungen Probleme der Moralphilosophie trägt Adorno keine phi-
losophiegeschichtlichen Lehrstücke in traditionell abgesicherten Versionen vor. Er
gibt eigenwillige Interpretationen zentraler Probleme der sokratischen, platonischen
und aristotelischen Ethik. Und er schafft Vorstufen zur Kant-Kritik der Negativen
Dialektik, die zum einen im Hinblick darauf vielfach erhellende Passagen, zum
anderen aber auch eine Reihe selbständiger Motive enthalten, deren Heranziehung
die Einschätzung von Adornos Kant-Kritik bereichert. – Diese Interpretationen
sind stets von der Intention geprägt, die Beziehung der diskutierten Stoffe zur
Gegenwart und ihren Problemen deutlich werden zu lassen. Adorno versucht, den
sachlichen Gehalt der untersuchten moralphilosophischen Reflexionen für die in
seinem Sinne aktuelle philosophische Theorie der Moral und ihre Kritik fruchtbar
zu machen. Die Aneignung der Motive bei Sokrates, Platon, Aristoteles und Kant
erfolgt also im Blick auf die Fragestellungen, die Adorno bei der Arbeit an seiner
eigenen kritischen Theorie der Moral geleitet haben, die nicht mehr systematisch
ausgearbeitet worden ist. Das bedeutet, dass Adorno die aktuelle Relevanz der
erörterten Theoreme herausarbeiten will. Er liest die Geschichte der praktischen
Philosophie aus der Perspektive der gegenwärtigen praktischen Interessen der
Menschheit, die – und davon geht auch meine Studie aus – nach wie vor in den
Begriffen Humanität, Emanzipation und Autonomie aufbewahrt sind.

20 Adorno, GS 6, S. 28.
18 1 Einleitung

Damit ist auch schon darauf hingewiesen, dass Adorno stets die Beziehungen
zwischen Moralphilosophie und philosophischer Theorie der Gesellschaft im
Blick hat. Dem werde ich im Folgenden Rechnung tragen, indem ich die Aspekte
von Adornos Interpretationen von Sokrates, Platon und Aristoteles bereits aus der
Perspektive des impliziten Reflexions- und Argumentationszusammenhangs seiner
Kritik der Moralphilosophie betrachte. Das gilt auch für seine Kant-Kritik. Es soll
versucht werden, unter Bezugnahme auf die Vorlesungen Probleme der Moral-
philosophie und den Freiheits-Exkurs der Negativen Dialektik die systematische
Struktur von Adornos Argumentation herauszuarbeiten, deren Duktus sich dann
als konsequente Anstrengung erweisen lässt, Kantische Intentionen durch die
Kritik ihrer Ausformulierung bei Kant zu retten. Während bei der Untersuchung
der Kant-Kritik mein Verfahren auf ein – notwendigerweise selektives – Herausprä-
parieren der Argumentationsfiguren aus einer Fülle von Material abzielt, besteht es
bei der Untersuchung von Adornos Auseinandersetzung mit Nietzsches Moralkritik
eher im Zusammenbringen und Auswerten verstreuter Bemerkungen, in denen sich
gleichwohl argumentative Stringenz nachweisen lässt, die in den übergreifenden
Zusammenhang dieser Studie einzubringen ist.
So soll die Untersuchung von Adornos Einzelinterpretationen in die gesamte
Konstruktion der vorliegenden Arbeit integriert werden. Deren Ziel ist eine Rekon-
struktion der negativen Moralphilosophie bei Adorno. Das vordringliche Interesse
der Aneignung von Adornos Interpretation und Kritik moralphilosophischer Kon-
zeptionen der Tradition kann demzufolge nicht darin bestehen, die philologische
Seite seiner Anknüpfung an moralphilosophische Theoreme zu untersuchen und die
Frage zu beantworten, inwieweit er ihnen hermeneutisch gerecht wird. Es besteht
vielmehr darin, herauszuarbeiten, inwieweit Adorno Modelle produktiver Kritik
hervorgebracht hat, die als Schritte auf dem Weg zur Einlösung dessen verstanden
werden können, was in der vorliegenden Untersuchung als sein impliziter, aber
gleichwohl durchgängiger Anspruch verstanden wird: eine dialektische Kritik
der wirkmächtigsten Theorien vom richtigen Leben und von den Prinzipien der
Moral in der falschen Gesellschaft durchzuführen und dabei zu versuchen, die
Wahrheitsgehalte der kritisierten Lehren gleichermaßen gegen ihre ideologische
Affirmation wie gegen ihre abstrakte Negation zur Geltung zu bringen.
Um diesen Anspruch und die Argumentationszusammenhänge, durch die
Adorno an seiner Realisierung arbeitet, transparent zu machen, werde ich die
Bezugspunkte seiner Darlegungen da, wo er sie selber nicht durch Quellenanga-
ben belegt hat (nämlich bei seinen Reflexionen über die sokratische, platonische
und aristotelische Ethik), an systematisch relevanten Punkten nach Möglichkeit
verdeutlichen, indem ich die diskutierten Texte heranziehe.
1 Einleitung 19

Zur Methode, unpubliziertes Material zur Untersuchung von Adornos moral-


philosophischem Ansatz heranzuziehen, bleibt zu sagen, dass Adorno selbst mit
diesem Vorgehen sicher nicht einverstanden gewesen wäre. Bekannt sind seine
Vorbehalte gegen die nachträgliche Publikation von Vorträgen;21 ebenso bekannt
ist, dass er sich in seinen Vorlesungen auf wenige Stichworte zu stützen und in
freier Rede vorzutragen pflegte. Den so produzierten Textzusammenhängen wird in
dieser Studie der gleiche Rang zuerkannt wie redigierten, veröffentlichten Schriften.
Adorno hätte das abgelehnt. Gleichwohl müssen die Vorlesungen als eigenständige
Behandlungen der hier untersuchten Thematik aufgefasst werden. Adorno hat sie
veröffentlicht, indem er sie öffentlich hielt; er hat auch, wie aus den handschriftli-
chen Bearbeitungsspuren der Typoskripte hervorgeht, später immer wieder auf sie
zurückgegriffen. Gegenüber Vorbehalten, die Adornos eigene Aversion gegen die
kontrollierende »Ausschlachtung« des frei gesprochenen Wortes betreffen, muss
die Forschung also auf die sachliche Relevanz der Texte verweisen, die es gebietet,
sie als Quellen heranzuziehen. Das gilt auch gegenüber Bedenken, die Mängel des
Vorlesungstextes betreffen, welche auf der Situation einer frei gesprochene Vorlesung
zurückgehen oder auf Fehlern der Transkription beruhen.22
Die Struktur meiner Darstellung und Diskussion von Adornos Moralphilosophie
orientiert sich, wie bereits angedeutet, zunächst an der philosophiehistorischen
Entfaltung moralphilosophischer Probleme. In dieses Kontinuum werden dann,
jeweils entlang zentraler Begriffe, systematisch relevante Bausteine von Adornos
Konzeption eingearbeitet. Die Untersuchung ist daher weder entsprechend einer
rein problemgeschichtlichen Anordnung der Fragestellungen aufgebaut, noch an die
Struktur von Adornos moralphilosophischen Vorlesungen angelehnt. Dort folgen
zwar auch die Erörterungen klassisch-antiker und neuzeitlicher Moralphilosophie
historisch aufeinander, aber Adornos eigene grundsätzliche Einlassungen, etwa
zur Frage nach der Möglichkeit eines »richtigen Lebens«, befinden sich jeweils zu
Beginn und zum Ende der Vorlesungszyklen in eigenständigen Abschnitten. Mir
schien eine Mischform sinnvoll, weil durch den Wechsel von historischem und
systematischem Blickwinkel der wechselseitige Einfluss deutlich gemacht werden
kann, der zwischen den tragenden Begriffen von Adornos impliziter Moralphilo-
sophie und seiner Aneignung von Lehrstücken der Tradition besteht.
Im Verlauf der Studie wird die Funktion untersucht, die einerseits die Positionen
der moralphilosophischen Tradition und andererseits die tragenden Begriffe der
Konstruktion für Adornos Moralphilosophie haben.

21 Vgl. dazu Adorno, GS 20.1, S. 360 (Fußnote).


22 Mitunter habe ich die Interpunktion in Zitaten aus den Vorlesungen der 1950er Jahre
stillschweigend verbessert.
20 1 Einleitung

Zunächst gilt es, Adornos eigenwillige Interpretation der antiken Ethik erstmals
zugänglich zu machen und in ihrem Gesamtzusammenhang in die systematische
Konzeption der vorliegenden Arbeit einzubeziehen. Bei Sokrates ist, so Adornos
Interpretation, eine erste Gestalt der Dialektik der moralischen Wendung auf das
Individuum umrissen, die den Aspekt einer Besinnung auf die Autonomie des
einzelnen ebenso enthält wie den Aspekt des potentiell resignativen Rückzugs
ins Private. An Platons Ethik interessiert Adorno vor allem die Artikulation des
Konflikts zwischen individuellem Glücksanspruch und der Integration des Indi-
viduums in die Polisgemeinschaft. Dieser Konflikt wird bei Aristoteles aufgelöst.
Dessen Ethik bezeichnet Adorno als »Vermittlungstheorie des Moralischen«; ihr
Niveau deutet ihm zufolge auf die Neuzeit voraus.
Der anschließend diskutierte Begriff der Praxis steht als Bindeglied zwischen
Fragestellungen der antiken und der neuzeitlichen Moralphilosophie. (Die Ethik
der mittelalterlichen Philosophie wird bei Adorno nicht behandelt; darin bin ich
ihm nolens volens gefolgt.) Das Verständnis des Praxisbegriffs bei Adorno ist für die
Frage nach der Möglichkeit richtigen (moralischen) Handelns aus der Perspektive
der Kritischen Theorie von zentraler Wichtigkeit.
Kants Ethik ist nach Adorno das Paradigma der Moralphilosophie überhaupt.
Die Auseinandersetzung mit ihr hat einen zentralen Ort in Adornos kritischer
Theorie der Moral. An Kant hebt Adorno den Gesichtspunkt der Moralität als eine
Form der Kritik des Gegebenen und dessen potentieller Überschreitung hervor.
Der schon in der Kant-Diskussion entscheidende Begriff der Freiheit gewinnt in
Adornos Philosophie eine dezidierte Ausformung. Er bringt seine beiden Aspekte,
Willensfreiheit und gesellschaftliche Freiheit, aus der Perspektive einer negativen
Utopie zusammen.
Die folgende Rekonstruktion von Adornos Hegelinterpretation ist von problem-
geschichtlichem Interesse. Bei Hegel ist für Adorno das Moment der Realisierung
der Vernunft gegenüber einer abstrakt bleibenden Moralität wichtig.
Vor diesem Hintergrund wird Adornos Theorie der Individuation in der Mo-
derne und ihre moralphilosophische Dimension thematisiert. Das Individuum
als Subjekt moralischen Handelns gewinnt angesichts des Scheiterns von Hegels
Aufhebung der Moralität erneut an Bedeutung.
Nietzsches Moralkritik ist die letzte Etappe von Adornos Auseinandersetzung
mit der Tradition. Im Nietzsche-Bild wird die moralphilosophische Dialektik
fokussiert, die im Zentrum von Adornos Konzeption steht. Sein Grundmotiv ist,
dass Nietzsche fundamental zur Ideologiekritik der Moral beiträgt, seine abstrakte
Negation der Moral jedoch selber ideologisch wird.
Die Darstellung der negativen Moralphilosophie wird mit dem Versuch einer
Erörterung ihrer wesentlichen systematischen Züge abgeschlossen. Er geht aus
1 Einleitung 21

von der Diskussion ihrer beiden Hauptthemen: der aporetischen Frage nach der
Möglichkeit eines »richtigen Lebens im falschen« und dem »neuen kategorischen
Imperativ« nach Auschwitz. Besonderes Augenmerk gilt Fragen, die mit den Be-
griffen der Normativität, des Widerstands und des Glücks bezeichnet werden. Die
Untersuchung des Zusammenhangs von moralischer und ästhetischer Erfahrung
leitet schließlich über zu dem Versuch, Adornos Konzeption grundsätzlich als
Artikulation moralphilosophisch relevanter Erfahrung zu bestimmen.
Meine Studie konzentriert sich auf systematische moralphilosophische Gesichts-
punkte. Dabei sieht sie ab von den verschiedenen literarischen Formen, in denen
bei Adorno die moralphilosophische Thematik behandelt wird. Dieses Mangels
bin ich mir bewusst; gleichwohl liegt nach meiner Ansicht die Berechtigung und
Notwendigkeit eines systematisch orientierten Vorgehens in der Aufgabe, einen
moralphilosophischen Kern in Adornos Denken im Zusammenhang herauszu-
präparieren. Auch wenn die Kritische Theorie den esprit de système zurecht unter
Ideologieverdacht stellt, liegt ihr doch, das ist meine These, bei Adorno durchaus ein
esprit systématique zugrunde, auch auf moralphilosophischem Gebiet. Dabei versuche
ich nicht, Adorno als potentiellen Autor einer Geschichte der Moralphilosophie
zu interpretieren, die auch systematischen Ansprüchen genügt. Es soll vielmehr
gezeigt werden, dass für Adorno, wie auch generell, die Auseinandersetzung mit
wichtigen Phasen der Moralphilosophie notwendiges Medium der Verständigung
über ihre sachlich nach wie vor bedeutsamen Probleme ist.
Anfänge der bürgerlichen
Moralphilosophie: 2
Adornos Interpretation der Ethik
bei Sokrates, Platon und Aristoteles
2 Anfänge der bürgerlichen Moralphilosophie

2.1 »Bürgerliche« Elemente der Antike


2.1 »Bürgerliche« Elemente der Antike
Die negative Geschichtsphilosophie der Dialektik der Aufklärung ist der Hinter-
grund, vor dem Adorno die sokratisch-platonische und aristotelische Moralphi-
losophie untersucht. Sie ist der Bezugsrahmen, von dem aus erst deutlich wird,
in welchem Sinne Adorno die griechischen Moralphilosophien als »bürgerlich«
kennzeichnet. In der Dialektik der Aufklärung wird der Begriff der bürgerlichen
Gesellschaft, analog zu dem der Aufklärung, geschichtsübergreifend verwendet.
In der Tradition, der die Kritische Theorie entstammt, wird dagegen die Epoche
der europäischen Neuzeit als bürgerliche bezeichnet, in der die feudalaristokra-
tischen Herrschafts- und Besitzverhältnisse durch eine Gesellschaftsformation
abgelöst werden, in der die Herrschaft der bürgerlichen Klasse über die ihr formal
gleichgestellte komplementäre Klasse des Proletariats durch den Privatbesitz an
industriellen Produktionsmitteln und die durch Zwangsgewalt sanktionierte Ein-
richtung von Vertrags- und Rechtsverhältnissen etabliert wird. Entsprechend wird
unter »Aufklärung« die dieser realen Bewegung vorhergehende (und sie teilweise
noch begleitende) geistesgeschichtliche Phase der Emanzipation des Denkens von
traditionellen theologisch-metaphysischen Prämissen verstanden, die vor allem
die Autonomie der Naturwissenschaften als Motor des Fortschritts technischer
Naturbeherrschung ermöglicht und weiterhin auch die Loslösung der politischen
Theorie und Sozialphilosophie von den Fesseln einleitete, in die sie von der Stän-
degesellschaft gelegt waren, und damit jene politischen Prinzipien hervorbrachte,
welche die Verfassungen der heutigen westlichen Staaten mehr oder weniger reprä-
sentieren. Horkheimer und Adorno aber verstehen unter »Aufklärung die wirkliche
Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft als ganzer«23; sie begreifen »bürgerliche

23 Adorno, GS 3, S. 14.

G. Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz, DOI 10.1007/978-3-658-11771-9_2,


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24 2 Anfänge der bürgerlichen Moralphilosophie

Gesellschaft« dabei als eine epochenübergreifende Bezeichnung, die überall dort


angebracht ist, wo auf der Grundlage der Sesshaftigkeit und Arbeitsteilung gesell-
schaftliche Herrschaft über abhängig Arbeitende durch diejenigen ausgeübt wird,
die über Privateigentum verfügen und sich das erarbeitete Mehrprodukt vermittelt
durch institutionalisierte Gewaltverhältnisse aneignen. In der frühen moralphi-
losophischen Vorlesung geht Adorno darauf ein: »Wenn man etwa Autoren wie
Homer, Tacitus, etc. liest, wird man auf einen gemeinsamen Kern stoßen, den man
in dem Sinn als bürgerlich bezeichnen kann, [dass] eine organisierte städtische
Tauschgesellschaft vorausgesetzt wird.«24 Der Begriff wird also in doppelter Hin-
sicht verwendet: einerseits unmittelbar als historisch fixierter, andererseits als eine
gleichsam vermittelte Bestimmung, die das historisch Frühere aus seinem Resultat
heraus begreift und von dort aus benennt.
In der griechischen Gesellschaft aus homerischer Zeit sehen Horkheimer und
Adorno bereits wesentliche Elemente versammelt, die in der Neuzeit die Basis der
entfalteten bürgerlichen Gesellschaft bildeten. Es bedarf dazu spezifischer Ele-
mente, die jene ›quasi-bürgerliche‹ noch keineswegs aufweist; aber ohne die bereits
in der Antike vorhandenen Grundstrukturen gesellschaftlicher Besitzverteilung
und Machtausübung – so lässt sich der implizite Gedankengang der Dialektik der
Aufklärung interpretieren – wäre das historisch Spätere nicht möglich, das unsere
Gegenwart prägt. Dieser Konstruktion liegt ein materialistischer Begriff der his-
torischen Dialektik zugrunde, der insofern negativ gewendet ist, als er Geschichte
als Ineinander von Fortschritt und Rückschritt begreift. Die »bürgerlichen« Ele-
mente der Antike werden im neuzeitlichen Prozess der Entzauberung ein Stück
weit rational und emanzipatorisch; zugleich mit dem Fortschritt im Bewusstsein
der Freiheit bleibt aber reale Unfreiheit bestehen und die bürgerliche Gesellschaft
in Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen befangen, die transformierte
archaische Spuren tragen.
Der doppeldeutig verwendete Begriff der »bürgerlichen Gesellschaft« setzt sich
einerseits der Kritik aus, weil er historisch an Trennschärfe verliert. 25 Aber dieses
Vorgehen ermöglicht andererseits einen Zuwachs an diagnostischer Kraft, die im

24 Adorno, PM 1, 24. 1. 1957.


25 »Horkheimer und Adorno dehnen den Begriff der Aufklärung über deren eigentliche
Epoche hinaus – bis zum antiken Griechenland. Damit tragen sie zwar einem
geschichtlichen Phänomen Rechnung, nämlich daß jede Epoche in den vorausgegangenen
vorbereitet ist, aber die bestimmte Differenz von der einen zur anderen Epoche geht
verloren. Aus dieser Konstruktion resultiert der merkwürdig finalistische Charakter
der Dialektik der Aufklärung – der falsche Schein, als ob alles ab ovo vorherbestimmt
wäre.« (Detlev Claussen, Grenzen der Aufklärung, Frankfurt/M. 1987, S. 17.)
2.1 »Bürgerliche« Elemente der Antike 25

Dienst des historischen Blicks steht, dem eine derartige Verwendung des Begriffs
zunächst entgegenzustehen scheint.26
Marx’ Kritik zufolge ist die Menschheit in der modernen bürgerlichen Epoche
immer noch gewissermaßen naturverfallen (nämlich ihrer »zweiten Natur«) und
in »Vorgeschichte« befangen, weil sie sich nicht, wie es ihr philosophisches Pro-
gramm verhieß, als einheitliches, vernunftbestimmtes Subjekt konstituieren und
autonom ihren Produktionsprozess bestimmen kann, sondern vielmehr Objekt
ihres inneren Antagonismus und des Fetischismus der Warenproduktion bleibt.
»Dadurch aber nimmt Geschichte gegenüber ihren Herstellern, den bewußt ihre
Zwecke verfolgenden Menschen, gleichsam mythische Züge an: sie wird zum
unausweichlichen Schicksal. Die Individuen unterliegen einem blind-objektiven,
›naturwüchsig‹ entstehenden Zusammenhang«27.
Wenn die Begriffe »mythisch«, »aufklärerisch« und »bürgerlich« in der Dialektik
der Aufklärung also jeweils äquivok verwendet werden, so geschieht dies nicht um
einer strukturalistisch-synchronischen Betrachtungsweise willen. Es hat vielmehr
den Effekt, dass der regressive Zug im historisch-diachronen Prozess kritischem
Begreifen zugänglich wird; einem Begreifen, das auf das Scheitern des linearen
aufklärerischen Fortschrittsbegriffs in der Wirklichkeit nicht mit einer affirmativen
Theorie des posthistoire antwortet, sondern, bei allem geschichtlichen Pessimismus,
nach Auswegen aus dem Verhängnis von Fortschritt und Rückschritt sucht.
Der Begriff des Bürgerlichen steht in der Dialektik der Aufklärung aber nicht nur
im Zusammenhang mit Eigentums- und Herrschaftsverhältnissen; er bezeichnet
auch eine spezifische psychische Organisation des Individuums, die den Autoren
zufolge in der Antike keimhaft angelegt ist und sich in der Neuzeit voll entfaltet.
Sie wird – auf der Grundlage der freudschen Theorien vom seelischen Apparat und
der Kulturentstehung – als die mittels Triebverzicht zustande kommende Identität
des Selbst bestimmt, die durch eine Dialektik von kalkulierender Selbstverleugnung

26 Das gilt auch für den Begriff des Mythos, der bei Horkheimer und Adorno durch
scheinbar unhistorische, nämlich ebenfalls doppeldeutige, Anwendung an historisch-
kritischer Kraft gewinnt. Alfred Schmidt hat gezeigt, dass der Begriff des Mythos, den
die Dialektik der Aufklärung zugrunde legt, »wesentlich auf Motiven der Marxschen
Theorie« (Alfred Schmidt, Aufklärung und Mythos im Werk Max Horkheimers, in:
Max Horkheimer heute: Werk und Wirkung, hrsg. von A. Schmidt u. N. Altwicker,
Frankfurt/M. 1986, S. 202) beruht, »die den geheimen Hintergrund der historischen
Dialektik von Aufkärung und Mythos bilden, die durch Horkheimers und Adornos
Buch hindurchgeht.« (Ebd., S. 203.) In der Aktualisierung dieses Mythos-Begriffs liegt
Schmidt zufolge die Bedeutung der Lesart von Horkheimer und Adorno. Diese Bedeutung
wird nach Schmidt dadurch nicht geschmälert, dass einzelne Interpretationen im Lichte
neuerer Mythenforschung zu korrigieren sind.
27 Schmidt, a. a. O., S. 209.
26 2 Anfänge der bürgerlichen Moralphilosophie

durch mimetische Anpassung an übermächtige Natur-Gewalten zum Zwecke


erfolgreicher Selbsterhaltung gekennzeichnet ist. Insofern ist Odysseus für Hork-
heimer und Adorno »Urbild […] des bürgerlichen Individuums«; ein »vorweltliches
Muster« der »einheitlichen Selbstbehauptung«28, aus der sich das Ich konstituiert.
Selbst wenn man im einzelnen Vorbehalte gegen die Durchführung der hier
umrissenen Theoreme hat, wird man ihren Wert als erkenntnisleitende Grundan-
nahme schwerlich leugnen können. Dieser Annahme entsprechend legt Adorno
den typologischen Begriff des Bürgerlichen seinen Reflexionen über Elemente der
antiken Ethik bei Sokrates, Platon und Aristoteles zugrunde. Wird Odysseus in
der Dialektik der Aufklärung »als prototypischer Bürger«29 aufgefasst, so versucht
Adorno, der die Anfänge der griechischen Philosophie als »städtisch, rudimentär
bürgerlich«30 kennzeichnet, in der antiken Moralphilosophie spezifische Argu-
mentationsstrukturen herauszupräparieren, deren Relevanz aus der Perspektive
moderner, das heißt gegenwärtiger Problemstellungen betrachtet wird. Dieses
Vorgehen nimmt den untersuchten Theoremen gegenüber eine Haltung ein, die
einem historistisch orientierten Bewusstsein anachronistisch erscheinen würde.
Doch es wird den zur Diskussion stehenden Theoremen darum eher gerecht als
ein behutsamer »Historismus«, weil es ihren Wahrheitsanspruch ernst nimmt,
der ja immer ein nicht-relativistischer ist. Und der Einwand des Unhistorischen
wäre auch darum nicht triftig, weil Adorno dem geschichtlichen Erfahrungsgehalt
gerade dadurch Rechnung trägt, dass er die soziale und ökonomische Basis in die
Untersuchung mit hineinnimmt, die, noch unreflektiert, der antiken Moralphi-
losophie zugrunde liegt.

2.2 Sokrates
2.2 Sokrates
Zunächst verweist Adorno zustimmend darauf, dass Sokrates »in der gesamten
philosophischen Tradition des Abendlandes die Rolle zugesprochen« wird, »der
eigentliche Begründer der Moralphilosophie, der Ethik zu sein.«31 Die traditionel-

28 Adorno, GS 3, S. 61.
29 Adorno, GS 3, S. 94.
30 Adorno, GS 6, S. 309.
31 Adorno, PM 1, 11. 12. 1956. – Die Philosophiegeschichtsschreibung kann sich dabei
auf Aristoteles berufen (vgl. Aristoteles, Metaphysik, 987 b). Zum Sokrates-Bild der
Philosophiegeschichtsschreibung gegen Ende des 19. Jahrhunderts vgl. etwa Friedrich
Jodl, Geschichte der Ethik, o. O. u. J., S. 15: »Mit Sokrates beginnt die selbständige
2.2 Sokrates 27

le Auffassung ist indessen nicht so einheitlich und unproblematisch, wie es den


Anschein hat. Das wird bereits anhand der Verwendung der Begriffe »Ethik« und
»Moralphilosophie« deutlich. Hegel zufolge begründet Sokrates die »Moralphi-
losophie«. Ähnlich Adorno, der in der sokratischen Problemstellung bereits die
Ambivalenz der modernen Moralphilosophie angelegt sieht. Während, wie gesagt,
heute die Begriffe »Moralphilosophie« und »Ethik« meist synonym verwendet
werden, bevorzugt Adorno den Terminus »Moralphilosophie«. 32 Freilich wird
diese terminologische Differenz bei ihm nicht immer durchgehalten (was bei einer
weitgehend frei gehaltenen Vorlesung nicht überrascht). Vor allem aber kann gegen
dieses Sokrates-Bild eingewendet werden, dass es schließlich erst Aristoteles ist,
der die Ethik als eigenständige philosophische Disziplin fundiert.
Was die Quellen und die Methodologie seiner Darstellung betrifft, so beruft sich
Adorno auf Schleiermacher. Er gibt Xenophon, Aristoteles und die frühen Dialoge

Ausbildung der Ethik als Wissenschaft des praktischen, auf die Vernunft und auf die
Einsicht in den Lebenszweck gegründeten Verhaltens.« Entsprechend äußert sich auch
die neuere Sokrates-Forschung: »Die philosophische Leistung des historischen Sokrates
läßt sich […] dahin gehend bestimmen, daß er als erster erkannt und gefordert hat, die
Philosophie müsse eine wissenschaftliche Ethik begründen, damit sinnvolles Handeln
und also richtiges Leben möglich werde.« (Andreas Patzer, Sokrates als Philosoph,
in: ders. [Hrsg.], Der historische Sokrates, Darmstadt 1987, S. 449) Dabei darf freilich
nicht übersehen werden, dass Sokrates die praktische Philosophie noch nicht als
Sonderbereich angesehen hat; die Reflexion auf praktische Fragen ist für ihn wie für
Platon das vordringliche Geschäft der Vernunft und der Philosophie überhaupt. Insofern
kann die Begründung der praktischen Philosophie als eigenständiger Disziplin, die
sich auch terminologisch niederschlägt, Aristoteles zugeschrieben werden (vgl. dazu
Herbert Schnädelbach, Vernunft, in: Philosophie. Ein Grundkurs, hrsg. v. E. Martens
u. H. Schnädelbach, Reinbek b. Hamburg 1985, S. 94; vgl. auch Annemarie Pieper,
Ethik und Moral, München 1985, S. 18). Hegel dagegen betont, dass Sokrates »der
Moralphilosophie ihre Entstehung gab« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen
über die Geschichte der Philosophie I, in: ders., Werke in 20 Bänden, Frankfurt/M.
1970, Bd. 18, S. 445); darin, so referiert Ritter, liege sein »Gegensatz zur griechischen
Sittlichkeit« (Joachim Ritter, Moralität und Sittlichkeit, in: Hegel in der Sicht der neueren
Forschung, hrsg. v. I. Fetscher, Darmstadt 1973, S. 336).
32 Damit trägt er dem begriffsgeschichtlichen und sachlichen Unterschied Rechnung, dass
unter »Ethik« zumeist Güter- und Tugendethiken verstanden wurden, während unter
dem Namen »Moralphilosophie« seit Kant i. d. R. die Reflexion auf die Grundlagen des
Handelns im Subjekt verstanden wird, wie sie für die Neuzeit typisch ist. (Für diesen
Hinweis danke ich Michael Städtler.) Dass Adorno in seiner Sokrates-Darstellung den
Begriff »Moralphilosophie« verwendet, ist ein Anzeichen dafür, dass er eine Lesart
favorisiert hat, die jene Aspekte des sokratischen Nachdenkens über Moral fokussiert,
die den im klassischen Sinne »ethischen« Diskurs bereits in Richtung auf die neuzeitliche
Philosophie der Moral überschreiten.
28 2 Anfänge der bürgerlichen Moralphilosophie

Platons als Quellen an und verweist zustimmend auf Schleiermachers »Diktum«,


»man müsse bei Sokrates die doppelte Frage stellen: was Sokrates gesagt haben
könne, und was er gesagt haben müsse.«33 Daran wird deutlich, dass es Adorno
nicht um ein Sokrates-Bild zu tun ist, das primär an historischer und philologischer
Abgesichertheit orientiert ist. Adorno hat eine Konstruktion aus tragenden Begriffen
im Sinn – eine Konstruktion dessen, was sich als sokratische Position manifestiert
hat und in der philosophischen Tradition wirkmächtig geworden ist. Dass es sich bei
Adornos Verfahren um das sinnvollste handelt, belegt die historisch-philologische
Sokrates-Forschung. Deren Resultate zeigen, dass eine geschichtlich verlässliche
Rekonstruktion seiner Lehre heute so wenig wie zu früheren Zeiten möglich ist;
daher ist man auf mehr oder weniger plausible Konstruktionen angewiesen, die
sich auf die überlieferten philosophischen Zeugnisse beziehen. 34
Das Verfahren, das Adorno anwendet, ist von Hegel inspiriert. Es findet sich
zwar kein Verweis darauf; aus dem gesamten Duktus und den Schwerpunkten der
Darstellung geht aber deutlich hervor, dass Adorno als Folie seiner Interpretation
das Sokrates-Kapitel aus Hegels »Geschichte der Philosophie« zugrunde gelegt
hat. Adornos Sokrates-Deutung ist damit zugleich auch eine Auseinandersetzung
mit der hegelschen.
Die Rekonstruktion der sokratischen Moralphilosophie arbeitet deren Dop-
pelcharakter heraus: Die Wendung auf das Individuum enthält Adorno zufolge
zugleich die Begründung des Autonomiegedankens und die Tendenz zum Rückzug
in die Privatsphäre. Damit wird die Position des Sokrates als Urbild der modernen
Moralphilosophie deutbar.
Mit der Sophistik teilt Sokrates die »praktische Richtung des Philosophierens«
und die »Reflexion auf das Subjekt«35. Was ihn von ihr unterscheidet, ist der Ver-
such, »die Sphäre des Normativen und darüber hinaus überhaupt die Sphäre einer
jeglichen Objektivität nicht dogmatisch zu sichern, indem er auf bereits vorgegebene
Normen reflektiert […], sondern sie aus der Betrachtung der Subjektivität selbst
zu gewinnen«36, also indem er Normativität im Rekurs auf Subjektivität ableitet.
Adorno verweist auf die Beziehung zu Kant, die sich daraus ergibt, betont aber, dass

33 Adorno, PM 1, 11. 12. 1956. – Vgl. Daniel Friedrich Ernst Schleiermacher, Ueber den
Werth des Sokrates als Philosophen, in: Der historische Sokrates, a. a. O., S. 41 ff.
34 Patzer hat gezeigt, dass das bereits Xenophons Vorgehen gewesen ist (vgl. Patzer, a. a. O.,
S. 434 ff.).
35 Adorno, PM 1, 11. 12. 1956. – Ähnlich äußert sich auch Schulz: »Sokrates ist und
bleibt einer der wesentlichen Begründer der abendländischen Ethik, insofern er die
Subjektivität als konstitutives Prinzip für das ethische Handeln entdeckt.« (Walter
Schulz, Grundprobleme der Ethik, Pfullingen 1989, S. 78).
36 Adorno, PM 1, 11. 12. 1956.
2.2 Sokrates 29

Sokrates nicht wie Kant die moralische Objektivität als vom Subjekt selbst Produ-
ziertes begreift, also nicht als gewissermaßen nach außen gewendete Subjektivität,
sondern als eine ontologische Objektivität, zu der sich das Subjekt objektiv verhält. 37
Adorno bezeichnet die Erfahrung der Auflösung eines ehemals festgefügten
Staatswesens38 mit Hegel als entscheidenden historischen Hintergrund der auf
Praxis gerichteten Philosophie des Sokrates. Während Hegel jedoch den Akzent
darauf legt, dass Sokrates selbst die »unbefangene Sittlichkeit«39 der Athener ins
Wanken bringt und durch die Reflexion auf die Freiheit des seiner selbst bewussten
Subjekts in Moralität überführt,40 betont Adorno den komplementären Aspekt der
verändernden Wiederherstellung einer verlorengegangenen traditionalen Verbind-
lichkeit, die Sokrates, gegen die relativistische Tendenz seiner Zeit, intendiert. Auch
und gerade dadurch wird er für Adorno zum Urbild neuzeitlicher Moralphilo-
sophie: »Diese Situation der Rettung von traditionellen Seinsgehalten durch die
Besinnung auf das emanzipierte Individuum und dessen Kräfte ist nicht nur die
spezifische Situation des Sokrates, sondern die Ausgangssituation der eigentlichen
moralischen Problematik«41.
Moralphilosophische Reflexion kann erst dann stattfinden, wenn die Einbindung
des Individuums in den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang nicht mehr

37 Dass die auf sich reflektierende Subjektivität eine neue Objektivität intendiert, die
sie aus sich heraus setzt, bezeichnet Hegel als den wesentlichen Zug der sokratischen
Philosophie, ohne allerdings an dieser Stelle den Bezug zu Kant herzustellen: »Reflexion,
Zurückführung der Entscheidung aufs Bewußtsein ist ihm [Sokrates] gemeinschaftlich
mit den Sophisten. Aber das wahrhafte Denken denkt so, daß sein Inhalt ebensosehr
nicht subjektiv, sondern objektiv ist; darin ist die Freiheit des Bewußtseins enthalten,
daß das Bewußtsein bei dem, worin es ist, bei sich selbst sei, – dies ist eben Freiheit.
Das Prinzip des Sokrates ist, daß der Mensch, was ihm Bestimmung, was sein Zweck,
der Endzweck der Welt, das Wahre, Anundfürsichseiende (ist), – daß er dies aus
sich zu finden habe, daß er zur Wahrheit durch sich selbst gelangen müsse. Es ist die
Rückkehr des Bewußtseins in sich, die dagegen bestimmt ist als ein Heraus aus seiner
besonderen Subjektivität […]. Objektivität hat hier den Sinn der anundfürsichseienden
Allgemeinheit« (Hegel, a. a. O., S. 443). – Zum Verhältnis von Sokrates zur Sophistik
vgl. Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung,
Zweiter Teil, erste Abteilung, Leipzig 1889, S. 187 ff. sowie (den von Adorno benutzten)
Überweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie, fortgef. v. M. Heinze, Erster Teil:
Das Altertum, hrsg. v. K. Praechter, Berlin 1920, S. 143 ff.
38 Vgl. Adorno, PM 1, 11. 12. 1956. – Vgl. auch Hegel, a. a. O., S. 448 u. 469.
39 Hegel, a. a. O., S. 443.
40 Vgl. Hegel, a. a. O., S. 481 u. 445, wo auch der Bezug zu Kants Moralphilosophie benannt
wird. Hegel stellt die sokratische Moralphilosophie als die Stufe des Übergangs von
Sittlichkeit in Moralität dar.
41 Adorno, PM 1, 11. 12. 1956.
30 2 Anfänge der bürgerlichen Moralphilosophie

unbefragt vorgegeben, sondern problematisch geworden ist. Erst die reflektierte


Erfahrung gesellschaftlicher Gegensätze macht die philosophische Besinnung auf
das Verhältnis von besonderen Interessen des einzelnen und allgemeinem Interesse
der Gesellschaft als ganzer erforderlich. Die Antworten der griechischen Ethik auf
diese Frage sind nun im Wesentlichen durch die Intention gekennzeichnet, die
Harmonie zwischen Besonderem und Allgemeinem wieder herzustellen. Nicht
das Individuum im modernen Sinn, sondern die Polis und die zu ihrer Aufrecht-
erhaltung notwendigen Tugenden sollen Träger des ethischen Prinzips sein. Das
leugnet Adorno auch nicht. Seine Sokrates-Deutung zeigt aber, dass in dem Moment,
wo die Reflexion auf das Individuum unabweisbar geworden ist, die spezifischen
Wesenszüge neuzeitlicher Moralphilosophie in die Welt gekommen sind – auch
wenn die Lehrstücke der antiken Polis-Ethik diesen Zügen noch gar nicht voll
Rechnung tragen können. Sie entfalten sich erst im Lichte des historisch Späteren.
Horkheimer hat Sokrates als den Exponenten »der abstrakten Idee der Individu-
alität« begriffen: als den ersten, »der ausdrücklich die Autonomie des Individuums
hervorkehrte. Sokrates’ Bejahung des Gewissens hob das Verhältnis des Individu-
ellen und Allgemeinen auf eine neue Ebene. Das Gleichgewicht wurde nicht mehr
aus der etablierten Harmonie innerhalb der Polis abgeleitet; im Gegenteil, das
Allgemeine wurde jetzt als eine innere, fast sich selbst beglaubigende Wahrheit
gefaßt, die im Geiste des Menschen ihre Stätte hat«42. Daran knüpft Adorno an,
wenn er das sokratische Daimonion als »ethische Instanz«43 bezeichnet, die bereits
moderne Elemente enthält. Im Unterschied zur überwiegenden Ansicht der Tradi-
tion versteht Adorno das Daimonion als »Stimme des Gewissens«44. Überliefert ist,
dass es für Sokrates eine innere Stimme darstellt, durch die ihm göttliche Zeichen
zuteil werden. Sie hindert ihn daran, das Falsche zu tun: »eine Stimme nämlich,
welche jedesmal, wenn sie sich hören läßt, mir von etwas abredet, was ich tun will,

42 Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt/M. 1985, S. 129.
43 Adorno, PM 1, 11. 12. 1956.
44 Ebd. – Siehe dazu Zeller, a. a. O., S. 85 ff. Hegel zufolge ist das Daimonion weder
»Schutzgeist, Engel« noch »Gewissen« (a. a. O., S. 491). Denn das Gewissen ist »die
Vorstellung allgemeiner Individualität, des seiner selbst gewissen Geistes«, das
Daimonion dagegen das notwendige Komplement dieser Allgemeinheit, die »Einzelheit
des Geistes« (ebd.). Das Gewissen ist nach Hegel die Erscheinungsweise des Allgemeinen
im Besonderen, die Repräsentanz allgemeiner Wahrheit im besonderen, seiner selbst
gewissen Geist – eine Stufe der Vermittlung, die mit dem Daimonion noch nicht erreicht
ist. Es steht nach Hegel vielmehr für die noch nicht ganz zu sich selbst gekommene
Innerlichkeit des partikularen Subjekts, die ihrem Träger als treibende Kraft, als
»Dämon«, gegenübertritt (vgl. a. a. O., S. 491 f. u. 495). Hegel versteht das Daimonion als
Mitte zwischen dem »Äußerlichen« des griechischen Orakels und dem »rein Innerlichen«
(a. a. O., S. 495) des Geistes; es wäre demnach gleichsam das Privatorakel des Sokrates.
2.2 Sokrates 31

zugeredet aber hat sie mir nie.«45 In der eigentümlichen Verkleidung dieser inneren
Stimme als Organ einer Gottheit entdeckt Adorno die dämonologische Wiederkehr
des verdrängten »mythischen Erbes«, die gleichzeitig die »Vorform des Subjekti-
vismus«46 ist. Demzufolge drückt sich im Daimonion ein Rückgriff aus auf die von
der offiziellen polytheistischen Religion der Griechen verbannte und unterdrückte
»chthonische und animistische« Gestalt der ihr vorausgegangenen Formen; ein
verwandelnder Rückgriff, der auf die Krise der institutionalisierten Religion eines
Staatswesens reagiert, das von politischen Veränderungen erschüttert ist. Das
»Wiederaufflammen des animistischen Geisterglaubens« gehört für Adorno mit
der Erstarkung der Subjektivität zusammen, die bei Sokrates »als ein ontologisch
Substantielles, als animistische Kraft vorgestellt wird«47. Die Berufung auf das
eigene Wissen bedarf noch des Umwegs über eine frühere Stufe der Erkenntnis,
die gegen das »offizielle« Denken ausgespielt werden kann.
Das subjektive Prinzip verkörpert das Daimonion Adorno zufolge vor allem
insofern, als es bereits eine inhaltslose, abstrakt-formale »Instanz der Vernunft« 48
ist, die die Entscheidungen des Subjekts zu dessen eigener Sache macht. Adorno
bringt dies nun mit drei weiteren Elementen der sokratischen ›Lehre‹ zusammen:
mit der Auffassung, dass die Menschen niemals aus freiem Willen, sondern im-
mer nur unfreiwillig und aus Mangel an Einsicht das Böse tun;49 mit der – aus
der Identifizierung von Tugend und Wissen folgenden50 – Annahme, es gebe nur
eine Tugend; und mit der damit verbundenen These der Lehrbarkeit der Tugend.
Daraus leitet er ab, dass bei Sokrates bereits eine frühe Form der Rückführung auf
das rationale Einheitsprinzip in der Moralphilosophie vorliegt. Er folgert: »Die
Verhaltensweisen, die als die ethisch normativen gelten, sollen auf eine strikte

45 Platon, Apologie, 31 d (in: Ders., Sämtliche Werke, übers. v. F. Schleiermacher, hg.


v. W. F. Otto u. a., Hamburg 1980, Bd. 1, S. 22). – Nach Xenophon allerdings gibt das
Daimonion nicht nur negatorische Ratschläge, sondern sagt Sokrates auch, was er zu
tun habe (vgl. Xenophon, Memorabilien, IV, 3, 12; in: Xenophon, Die sokratischen
Schriften, Stuttgart 1956, S. 166). Adorno scheint Platons Überlieferung zu folgen, denn
er spricht an anderer Stelle von Sokrates’ »Negativismus« (vgl. Adorno, PM 1, 11. 12.
1956).
46 Adorno, PM 1, 11. 12. 1956.
47 Ebd.
48 Ebd.
49 Vgl. dazu Platon, Apologie, 37 ab. Zu Adornos Aktualisierung des »soldatischen
Rationalismus« vgl. 4, 224 (Minima Moralia).
50 Vgl. dazu Xenophon, Memorabilien HI, 9, 4 und Aristoteles, Nikomachische Ethik
1144, b 18–30.
32 2 Anfänge der bürgerlichen Moralphilosophie

Einheit zurückgeführt werden, die kaum eine andere als die Vernunft sein kann.«51
Dabei steht das Daimonion Adorno zufolge jedoch nicht im Widerspruch zum
Normenkodex seiner Zeit. Denn Sokrates verlege zwar in seinem »Appell an die
abstrakte Vernunft« die Handlungsprinzipien aus der Konvention in den einzelnen
Menschen; sein Daimonion sei aber zugleich »unkritisch mit den populären Normen
in Übereinstimmung gebracht«, das heißt mit den »kodifizierten Rechtsnormen«
und den »nicht kodifizierten Sitten der Menschen«52 ausbalanciert.53
Im Zentrum der sokratischen Philosophie steht nach Adorno die Selbsterhaltung
der substantiell gedachten Seele als höchster Zweck.54 Den ethischen Utilitarismus,
der Sokrates zugeschrieben wird, 55 interpretiert er daher als einen Vorgriff auf die
christliche Ethik, weil bereits für Sokrates der »konsequente Nutzen […] der für
das eigene Seelenheil, die eigene Unsterblichkeit«56 ist. Die Vorstellung des Guten
ist, wie Adorno hervorhebt, in der Antike noch nicht von der des Nützlichen ge-
trennt. Dass beide auseinandertreten, ist Resultat der »Brechung der Welt durch
den Christianisierungsprozeß«57. Dementsprechend gehören bei Sokrates der
Nutzen des partikularen Individuums und das Gute, das nichts anderes ist als der
Nutzen des universalen Ganzen, noch zusammen. Erst die Erfahrung, dass der
partikulare Nutzen, wenn er absolut gesetzt wird, in das Gegenteil universaler
Nützlichkeit umschlägt, lässt allmählich einen Begriff des Guten entstehen, der
sich von der Nützlichkeit »emanzipiert« hat und in der Neuzeit zur idealistischen
Ächtung des Utilitarismus führt, weil die Beziehung auf »konkreten Nutzen« nun
als »Verunreinigung« des »abstrakten Vernunftprinzips«58 erscheint.
In der noch unangefochtenen Utilitätsvorstellung der sokratischen Ethik er-
kennt Adorno indessen auch das Element der Beschränktheit. Zwischen dem

51 Adorno, PM 1, 11. 12. 1956


52 Ebd.
53 Diese Einschätzung befindet sich insofern in Einklang mit der Tradition und der neueren
Sokrates-Forschung, als dort die Auffassung herrscht, dass die Anklage gegen Sokrates
letzten Endes auch vom Standpunkt des Gemeinwesens aus nicht gerechtfertigt gewesen
sei, weil Sokrates sich den gültigen Normen gegenüber keineswegs einfach destruktiv
verhalten hätte (zu Hegels abweichender Auslegung in dieser Frage vgl. Hegel, a. a. O.,
S. 496 ff.).
54 Vgl. dazu Zeller, a. a. O., S. 154 f.
55 Vgl. Zeller, a. a. O., S. 149 ff. – Siehe auch Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und
Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, in: Ders., Werke in drei Bänden, hg. v.
K. Schlechta, Bd. 2, München 1977, S. 648 (Aph. 190).
56 Adorno, PM 1, 13. 12. 1956.
57 Ebd.
58 Ebd.
2.2 Sokrates 33

hoch angesetzten Vernunftideal der Identität von Tugend und Wissen und der
»Vereidigung auf partikulare Zwecke«59, die in dem lebenspraktischen Zug der
sokratischen Fragestellungen waltet, sieht er ein Missverhältnis, das ihm zufolge
charakteristisch für die Moralphilosophie insgesamt ist. Es scheint demnach zur
»Ontologie des Ethischen« zu gehören, »daß die Erhabenheit der Ideale, […] das
ungeheure Pathos, mit dem der Gedanke sich über die Niedrigkeit der Existenz
zu erheben trachtet, und die Kleinlichkeit in der dumpfen Alltäglichkeit« 60 stets
gemeinsam auftreten. Ebenso kann die dezidierte Ablehnung der Naturphilosophie
bei Sokrates, die allgemein bezeugt ist,61 als Ineinanderspielen von aufklärerischer
Kritik an mythologischen Restbeständen und dogmatischer Selbstbeschränkung
des Gegenstandsbereichs philosophischer Spekulation interpretiert werden.62 Daher
ist der »Übergang des Allgemeinen an das Private« Adorno zufolge das Eigentüm-
liche, »das eigentliche cachet des Sokrates-Bildes«; in dieser Hinsicht bedeutet
seine subjekt-zentrierte Ethik einen »Verzicht auf den Gedanken an die Totalität«
zugunsten der »Beschränktheit auf das existentielle Moment«63.
Gleichwohl liegt für Adorno die bleibende Stärke der sokratischen Position in
seinem »ethischen Intellektualismus«64. Das gute Handeln beruht nach Sokrates,
wie bereits erwähnt wurde, auf der richtigen Einsicht, also auf dem Wissen.65 Inter-
essant ist, dass Adorno den Begriff des ethischen Intellektualismus mit implizitem
Bezug auf die Moraltheorie des französischen Materialismus erläutert. Die richtige
Einsicht, die gutes Handeln nach Sokrates ermöglicht, ist Adorno zufolge nämlich
nichts anderes als »Einsicht in das eigene wohlverstandene Interesse« 66. Der Be-
griff des »wohlverstandenen Interesses« stammt von Helvétius und bezeichnet die
Kraft, vermöge derer die Individuen trotz des Egoismus, der ihnen wesentlich ist,

59 Ebd.
60 Ebd.
61 Vgl. dazu z. B. Zeller, a. a. O., S. 132 ff.
62 Vgl. Adorno, PM 1, 13. 12. 1956. – Diese Interpretation setzt allerdings voraus, dass
Sokrates’ Kritik an der Beschäftigung mit Naturphilosophie überhaupt übt; ob das der
Fall ist, oder ob er nicht vielmehr nur eine bestimmte Gestalt der (herabgesunkenen)
Naturphilosophie im Blick gehabt hat, wie Zeller vorsichtig nahelegt, ist nicht mit
Sicherheit zu entscheiden.
63 Adorno, PM 1, 13. 12. 1956. – Laut Hegel fehlt bei Sokrates die »Konstruktion des
Ganzen« (Hegel, a. a. O., S. 480).
64 Adorno, PM 1, 18. 12. 1956.
65 Vgl. dazu Zeller, a. a. O., S.141 ff.
66 Adorno, PM 1, 18. 12. 1956.
34 2 Anfänge der bürgerlichen Moralphilosophie

aus Einsicht moralisch handeln können.67 Das zeigt noch einmal, dass es Adorno
um eine systematische Konstruktion der Problematik geht. Obwohl Adorno den
französischen Materialismus gar nicht erwähnt, wird durch die Verwendung eines
seiner zentralen Begriffe deutlich, dass es eine inhaltliche Beziehung zur sokrati-
schen Thematik gibt. Den Berührungspunkt bildet die Berufung auf das Interesse
der Individuen und seine theoretische Reflexion.
Die Ablehnung, die der Intellektualismus der sokratischen Ethik in der philoso-
phischen Tradition erfahren hat,68 begreift Adorno als Symptom eines Widerspruchs,
der die entfaltete idealistische Moralphilosophie durchzieht. Dass die Vernunft stets
als höchste moralische Instanz angesehen wird, gleichzeitig aber sittliches Handeln
auch naiv, das heißt ohne reflektierte Einsicht in moralische Normen und ihre
Prinzipien möglich sein soll, drückt demnach eine verborgene, ihrer selbst nicht
bewusste Tendenz aus. In der Neuzeit entsteht die Notwendigkeit, Normen – die
den Zusammenhalt des gesellschaftlichen Ganzen gewährleisten und die von den
einzelnen Menschen verinnerlichen werden müssen – nicht mehr bloß gewaltsam
zu dekretieren, sondern für ihre Geltung eine Legitimationsgrundlage zu schaffen.
Aus dieser Notwendigkeit, den sittlichen Kodex der bürgerlichen Gesellschaft
rational zu rechtfertigen, erwächst die kritische Kraft normativer Reflexion. Die
hier bereits angelegte Differenzierung zwischen Sein und Sollen wirft die Frage
nach der Rechtfertigung des Bestehenden auf. Ist diese kritische Dimension erst
einmal entbunden und drängt auf Autonomie, dann widerspricht sie »der sozialen
Funktion der Moral«, die darin besteht, »die gesellschaftlichen Normen zu verin-
nerlichen«69. Damit richtet sie sich gegen die Funktion, aus der sie ursprünglich
entstanden und der sie untergeordnet ist. Dieser potentiell emanzipatorische Prozess
muss nun durch die affirmative Berufung auf Naivität wieder zurückgeschraubt
werden.70 Der Grund dafür ist nicht die Borniertheit der Philosophen. Vielmehr ist
dieser Vorgang objektiver Reflex des problematischen Status der Moralphilosophie

67 Vgl. Helvetius, De l’esprit, zit. nach Eislers Handwörterbuch der Philosophie, Berlin
1922, S. 313.
68 Vgl. Aristoteles, Magna Moralia 182 a; vgl. auch Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse,
a. a. O., sowie Zeller, a. a. O., S. 142 u. S. 149.
69 Adorno, PM 1, 18. 12. 1956.
70 Vgl. PM 1, 18. 12. 1956. – An dieser Stelle will Adorno seine stringente Argumentation
durch den kritischen Verweis auf Kant belegen. Das leuchtet jedoch nicht ein. Denn
nach Kant gibt es zwar gutes Handeln ohne moralphilosophische Überlegung; die im
emphatischen Sinn moralische Handlung aber ist erst die, die »aus Pflicht« geschieht,
das heißt aus reflektierter Einsicht in das Sittengesetz (vgl. Kant, Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten, Erster Abschnitt). In Adornos systematischer Kant-Kritik kommt
dieser Gedanke, soweit ich sehe, auch nicht mehr vor (siehe unten, Kapitel 4).
2.3 Platon 35

in antagonistischen, durch Herrschaft zusammengehaltenen Gesellschaften. Der


Wahrheitsgehalt der strikt durchgehaltenen Annahme einer Identität von Tugend
und Wissen ist daher, so könnte man Adornos Gedankengang interpretieren, die
vorweggenommene Kritik an dieser Ambivalenz. »Das Großartige an der Theorie
von der Basiertheit der Moral in der Vernunft ist, daß Sokrates im Gegensatz zu
allem späteren Denken die Katze aus dem Sack gelassen […] und die volle Konse-
quenz dessen formuliert hat, wohin […] die vernünftige Begründung des sittlichen
Handelns führt«71. Dagegen hat sich die Moralphilosophie als entfaltete Disziplin
auf die »Departementalisierung«72 des Individuums gemäß der gesellschaftlichen
Arbeitsteilung zurückgezogen. Die Zerlegung des Menschen in die Sphären der
Vernunft und des Willens ist Adorno zufolge Resultat eines Prozesses, der in der
Antike begonnen hat und in der späteren moralphilosophischen Hypostasierung
des vergegenständlichten Willens terminiert.

2.3 Platon
2.3 Platon
Die Aufspaltung des Individuums, der Konflikt zwischen seinem sinnlich vermittel-
ten Glücksanspruch und seiner Einbindung in den hierarchischen Zusammenhang
der Polis, die dem Glücksanspruch zunächst unvermeidlich zuwiderläuft, ist bei
Platon reflektiert. Im Zentrum seiner Ethik steht die Glückseligkeit des einzelnen; ein
Telos, das bereits insofern gebrochen ist, als sie nur durch die richtige Einordnung
in das Gemeinwesen zu haben ist. Dessen Ordnung versteht Platon als weltliche
Entsprechung des Kosmos der Ideen. Die Glückseligkeit, der Besitz des Guten,
liegt ihm zufolge in der Abwendung von der Sinnenwelt und in der Hinwendung
der Seele zur Kontemplation der »Idee des Guten«73. Den Versuch, das erwachende
selbstbezügliche Bewusstsein des einzelnen Subjekts und die damit verbundene
Vorstellung von Glück und Erfüllung mit den Einschränkungen und Herrschafts-
ansprüchen zu vermitteln, auf denen die Polis basiert, bezeichnet Adorno als den
»Doppelcharakter«74 der platonischen Moralphilosophie. Indem Platon das Glück
und die Lust der Sinnenwelt als Vergängliches, nicht im nachdrücklichen Sinn Sei-
endes, erweist und ihr die Sphäre der Ideen als einzigen Ort wahrer Glückseligkeit
gegenüberstellt, nimmt seine Vorstellung des Eudaimonismus bereits spezifisch

71 Adorno, PM 1, 18. 12. 1956.


72 Ebd.
73 Platon, Politeia 505 a.
74 Adorno, PM 1, 20. 12. 1956.
36 2 Anfänge der bürgerlichen Moralphilosophie

bürgerliche Elemente der modernen Moralphilosophie vorweg: Sie trennt virtuell


die Vorstellung des Guten von der des Angenehmen oder Nützlichen. Aber sie tut
das nicht radikal, wie später die protestantische Ethik, sondern versucht eine Ver-
mittlung. Ebenso, wie die Sinnenwelt von der Welt der Ideen getrennt ist, zugleich
aber an ihr teilhat, lässt uns nach Platon die Erfahrung des sinnlichen Glücks selbst
dessen Mangelhaftigkeit und Vergänglichkeit erfahren und veranlasst uns, kraft
der Vernunft zum wahren Glück in der Anschauung des Göttlichen und der Idee
des Guten, das heißt zur Tugend, aufzusteigen.75 Bei Platon findet sich »wohl zum
ersten Mal die eigentümlich gespaltene Stellung des bürgerlichen Bewußtseins zum
Glück […], zur Erfüllung der Begierde, und […] zu deren Negation, zur Askese,
zur abstrakten Disziplin«76.
Platon versucht also Adorno zufolge, Eudaimonismus und Tugendlehre mitein-
ander zu vermitteln. Wie das vor sich geht, zeigt Adorno an der Untersuchung der
Lust im Protagoras. Dort wird dargelegt, dass das Gute und das Böse nicht identisch
sind mit Lust und Unlust. Gegen das Lustprinzip des Hedonismus wird in einer
argumentativen Nebenlinie des Dialogs geltend gemacht, dass mit späterer Unlust
bezahlen muss, wer sich ungehemmt der Sinnenlust überlässt.77 Die vernunftgeleitete
Erkenntnis des »Wahren der Seele«78 ist allein imstande, »die Gewalt des Scheins«79
zu brechen und zu zeigen, »daß das Heil unseres Lebens auf der richtigen Auswahl
von Lust und Unlust beruht, der mehreren oder wenigeren, größeren oder kleineren
sowohl nahen als fernen«80. Darin erkennt Adorno »ein Urmotiv der gesamten
bürgerlichen Moralphilosophie«: die »Verschiebung der Lust«. 81 Der unmittelbaren
Erfüllung des Glücksanspruchs wird eine »Art von Kalkül«82 entgegengehalten, das
auf dauerhafteres Glück in der Zukunft verweist. Adorno bezeichnet dieses Kalkül
als bürgerlich, weil es zwei Voraussetzungen hat, die in der entfalteten bürgerlichen
Gesellschaft zu gleichsam allumfassenden konstitutiven Prinzipien werden: die
»Festigkeit der Zeitordnung« und die »Festigkeit der Eigentums- und Generati-

75 Vgl. ebd.
76 Ebd.
77 Vgl. Protagoras, 353 d ff.
78 A. a. O., 356 e.
79 A. a. O., 356 d.
80 A. a. O., 357 ab.
81 Adorno, PM 1, 20. 12. 1956. – »Verschiebung« wird bei Adorno nicht als psychoanalytischer
Terminus verwendet (vgl. etwa Sigmund Freud, Die Traumdeutung, in: Studienausgabe
Bd. II, S. 305 ff.), sondern bedeutet zeitlicher Aufschub.
82 Adorno, PM 1, 20. 12. 1956.
2.3 Platon 37

onsverhältnisse«.83 Freilich, so betont Adorno, hat das Motiv der aufschiebenden


Versagung des Glücksanspruchs im Protagoras noch nicht den Charakter einer an
ökonomischen Kriterien und am ›Sekuritätsbedürfnis‹84 orientierten Arbeitsmoral
der Neuzeit, sondern spricht gewissermaßen ohne Hintergedanken im Namen des
individuellen Interesses an der Glückseligkeit. Im Phaidon jedoch wird das Motiv
der Verschiebung derart »sublimiert«, dass den Philosophen, die im Leben asketisch
sind, nach dem Tod das wahre Glück versprochen wird, »und zwar in Gestalt von
besonders günstigen Plätzen im Jenseits«85: Weil ihre Seele nach dem Tod unter
den Göttern weilen soll, »enthalten sich die wahrhaften Philosophen aller vom
Leibe herrührenden Begierden und harren aus und geben sich ihnen nicht hin«86;
und nicht etwa deshalb, weil sie »Armut« oder »Ehrlosigkeit« im Leben fürchten.
Hier wird bereits die Konsequenz formuliert, zu der »jede moralische Ideenlehre«87
genötigt ist. Weil im realen Leben der Individuen sich stets zeigt, dass es für die
momentane Versagung schließlich doch keine spätere Befriedigung der Bedürfnisse
und keine Erfüllung gibt, wird das Verheißene ins Überzeitliche, Ewige verlegt.
Die Ontologie der vermeintlich wesenhaften moralischen Kategorien ist das Er-
gebnis eines Reflexionsprozesses, der aus dem Ungenügen an der Wirklichkeit die
falsche Konsequenz zieht und »innerzeitliche Ordnungen […] hypostasiert […] als
wären sie ewig«88. Die Vertröstung auf späteres Glück wird dadurch in die Ewigkeit
verlegt und dem innerzeitlichen Leben der Menschen entgegengesetzt, dem sie
doch in Wahrheit angehört. Das hat nach Adorno sowohl eine apologetische als
auch eine kompensatorische Funktion: Gerechtfertigt wird die Insistenz auf der
Geltung moralischer Gebote; kompensiert wird das Mangelhafte der zeitlichen
Ordnung der Wirklichkeit – aber nur, indem sie als höhere, wesenhafte Vernunft
verklärt wird, die den realen Verhältnissen enthoben sein soll. »So haben wir seit
Platon das unauflösliche Bündnis einer Vorstellung von zeitloser Ewigkeit und
asketischer Moral.«89

83 Adorno, PM 1, 20. 12. 1956. – Zum Zusammenhang von Eigentum und Moralkodex
bemerkt Nietzsche – die sozialistische Theorie der Moral, die er widerlegen möchte,
lediglich variierend und bestätigend –: »Man gräbt die Moral um, wenn man die
Grenzsteine umgräbt.« (Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: Werke Bd.
1, S. 988).
84 Vgl. PM 1, 20. 12. 1956.
85 Adorno, PM 1, 20. 12. 1956. – Vgl. Platon, Phaidon 80 d – 81 e.
86 Platon, Phaidon 82 c. Vgl. auch Politeia, 619 b ff.
87 Adorno, PM 1, 20. 12. 1956.
88 Ebd.
89 Ebd.
38 2 Anfänge der bürgerlichen Moralphilosophie

Adorno verwendet den Begriff der »asketischen Moral« hier nicht im Sinne
von Nietzsche. Dort steht er zunächst für den selbstbetrügerischen Masochismus
christlicher Jenseitsfixierung.90 Später wird der Begriff dann als Triebkraft des
lebensverneinend ›transfigurierten‹ »Willens zur Macht« im »asketischen Ideal«
bestimmt,91 welche die Philosophie in die Welt bringt. Gleichwohl schließt sich
Adorno hier der Sicht Hegels und Nietzsches insofern an, als sie auf die Bedeutung
Platons als des geistigen Wegbereiters des Christentums verweisen. Für Nietzsche
ist das Christentum die geschichtlich folgenreiche Popularisierung von »Platos
Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich«92. Anders als Nietzsche
sieht Adorno darin freilich nicht den verhängnisvollen Keim der europäischen
Dekadenz, sondern einen Versuch, Humanität zu verwirklichen – wenn auch in
historisch noch beschränkter Gestalt.
Dem »Bündnis« liegt die Erfahrung realer Negativität zugrunde. Sinnliche Lust,
das Urbild des Glücks, ist nicht losgelöst von ihrem Gegenteil zu haben; daher wird
im Interesse der Lust die Einlösung des Glücksanspruchs ins Jenseits der Sinnlich-
keit verlegt.93 Und die Verbindung von »Moral und Zeitordnung«94 hat überdies,
wie Adorno an anderer Stelle hervorhebt, einen realen Grund. Die Verbindungen,
die Menschen untereinander eingehen, und die als solche die Basis der Moralität
darstellen, enthalten, vermittelt durch ihre Stelle im Kontinuum der Zeit, stets ein
zugleich kontingentes und irreversibles Moment, das ihnen auch in einer Verge-
sellschaftungsform anhaften würde, die von der Heteronomie herrschaftlicher und
ökonomischer Zwänge befreit wäre.95 Doch dieses objektive Moment ist gleichzeitig
auch geschichtlich geworden: vermittelt durch Herrschaftsgeschichte. »Die Irre-
versibilität der Zeit gibt ein objektives moralisches Kriterium ab. Aber es ist dem
Mythos verschwistert wie die abstrakte Zeit. […] Historisch ist der Zeitbegriff selber
auf Grund der Eigentumsordnung gebildet.«96

90 Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Werke Bd. 2, S. 766, und Menschliches,
Allzumenschliches, in: Werke Bd. 1, S. 535 ff.
91 Vgl. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, a. a. O., S. 839 ff.
92 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, a. a. O., S. 566.
93 Entsprechend wird im Philebos die »Lebensweise des Einsichtigen« als diejenige
bestimmt, die weder durch Lust noch durch Unlust gekennzeichnet ist, sondern durch
einen »dritten […] Zustand« jenseits von beidem; vgl. Platon, Philebos, 32 c – 33 c.
94 Adorno, GS 4, S. 86.
95 Vgl. ebd. – So betont Adorno, dass sich auf dem Gebiet der erotischen Beziehungen aus
der zeitlichen »Reihenfolge«, in der man »Menschen kennenlernt« (ebd.), moralische
Konsequenzen ergeben.
96 Adorno, GS 4, S. 87.
2.3 Platon 39

In der Moralphilosophie, die zur Ideenlehre Zuflucht nimmt, um einen Garanten


für die Einlösung des Glücksverlangens und für die ethische Objektivität zu erhalten,
ist die Verstrickung von geschichtlich-gesellschaftlicher Genesis des Moralischen
und seinem überzeitlichen Geltungsanspruch jedoch nicht reflektiert. Es zählt für
Adorno zu den Elementen der »Urgeschichte des Moralischen«97, dass durch die
Anbindung der Tugenden an die ontologisierte Vernunft die Ethik gewissermaßen
verabsolutiert wird. Dadurch wird ihm zufolge »der Begriff eines bedingt Guten
aufgehoben«; statt dessen herrscht die Annahme vor, dass »das Gute selber über-
haupt nur möglich sein soll als das unbedingt Gute, demgegenüber das bedingt
Gute von vornherein der Geringschätzung verfällt.«98 Die Intention der Rettung des
Glücksanspruchs vor der Vergänglichkeit verkehrt sich – zumindest ansatzweise –
ungewollt in ihr Gegenteil, wenn das Verlangen nach einem richtigen Leben, das
immer das Verlangen konkreter Individuen ist, durch die Bestimmung der Tugend
als Teilhabe an der Idee des Guten aus der Sphäre der geschichtlich-gesellschaft-
lichen Verwirklichung des Guten herausgehoben wird. Platons antihedonistische
Ablösung der Glückseligkeitsvorstellung vom sinnlichen Glück bestimmt die Eudai-
monie und die Tugenden, die der Weg zu ihr sind – damit aber letztlich die »Norm
des menschlichen Verhaltens« –, als »Teilhabe an der Ideenwelt«. Daher leitet sie
Adorno zufolge einen moralphilosophischen Prozess der «Verinnerlichung«99 ein.
Weil Platons Ethik das Gute und das Schöne in eins setzt und die Schau der Ideen
zum höchsten Ziel hat, fasst sie das theoretisch-kontemplative Verhalten »als das
einzig moralische« auf und enthält insofern bereits »ein Moment von Resignation
gegenüber der Erfüllung der Ziele und Bedürfnisse des je einzelnen«.100
Die Aufgabe der Vermittlung zwischen dem einzelnen Subjekt und der Glückse-
ligkeit hat bei Platon die Tugend zu erfüllen. Tugend ist das Mittel, Glückseligkeit zu
erreichen. »Denn«, so heißt es etwa im Gorgias, »wer rechtschaffen und gut ist, der
[…] ist glückselig […]; wer aber ungerecht und böse, ist elend.«101 An Platons Begriff
der Tugend wird nach Adorno die klassisch-antike Grundannahme deutlich, »daß
die Antinomie, die zwischen Allgemeinem und Besonderem herrscht, gelöst werden
kann durch eine bestimmte Art von Takt, dadurch, daß man die gegeneinander

97 Adorno, PM 1, 20. 12. 1956.


98 Ebd.
99 Adorno, PM 1, 8. 1. 1957. – Zu Platons Kritik am Hedonismus vgl. auch Herbert Marcuse,
Zur Kritik des Hedonismus, in: Zeitschrift für Sozialforschung Jg. 7 (1938), S. 55 ff.,
insbes. S. 66 ff.
100 Adorno, PM 1, 8. 1. 1957. – Zum Begriff der «Ideenschau« vgl. Theodor W. Adorno,
Philosophische Terminologie, hrsg. v. R. zur Lippe, Bd. 2, Frankfurt/M. 1974, S. 284.
101 Platon, Gorgias 470 e.
40 2 Anfänge der bürgerlichen Moralphilosophie

divergenten Momente ausgleicht«102. Und zugleich zeigt sich, dass dieser Ausgleich
nur Schein ist, die Antinomie dagegen bestehen bleibt. Das bezieht sich sowohl auf
das Verhältnis der einzelnen Tugenden untereinander im seelischen Gefüge als auch
auf die Gruppen von Menschen, die Stände, die im gesellschaftlichen Ganzen die
Seelenteile repräsentieren.
Nach Platon sind die vier Haupttugenden Weisheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit
und Selbstbeherrschung bzw. Besonnenheit (Sophrosyne).103 Mit Ausnahme der
Tapferkeit zeichnen sie sich Adorno zufolge allesamt durch ihren »relativ abstrakten
Charakter«104 aus: Weisheit, als Tugend der Vernunft, ist die formale, gesetzgebende
Instanz, Sophrosyne hat für die richtige Proportion der Seelenteile zu sorgen und
Gerechtigkeit steht dafür ein, dass jede Seelentätigkeit genau die ihr eigentümliche
Bestimmung verfolgt. Systematisch sind diese drei Tugenden auf die Vernunft – das
spezifische Vermögen des Menschen, zur Ideenwelt aufzusteigen – beziehbar; auch
die Gerechtigkeit, die unter den Kardinaltugenden die zentrale Stelle einnimmt,
geht aus der richtigen Erkenntnis hervor. Einzig die Tapferkeit fällt da heraus; sie
ist nach Adorno eine Art »archaischen Erbes«, das nicht aus der Vernunft, son-
dern aus »den kriegerischen Verhältnissen« der Antike abzuleiten ist. Von dieser
unvermeidlichen Konzession an die nicht-vernünftige Wirklichkeit abgesehen,
sind die platonischen Tugenden für Adorno »formale Bestimmungen«, in denen
sich bereits eine Antizipation des modernen Vernunftreduktionismus auf dem
Gebiet des Moralischen Bahn bricht. Zudem drückt sich in der Aufspaltung der
Seele, die an der Vorstellung gesellschaftlicher Arbeitsteilung gewonnen ist, eine
»Tendenz zur Verdinglichung der einzelnen Seelenkräfte« aus.105 Vor allem aber
sieht Adorno in der Rückführung der Tugenden auf ein Einheitsprinzip – nämlich
auf die durch Vernunft bestimmbare Idee des Guten, die zuweilen mit der Gerech-
tigkeit identifiziert wird – den Versuch, das von Platon sehr wohl gesehene reale
»Problem des Auseinanderweisens von Allgemeinem und Individuellem« dadurch
zu umgehen, dass die Tugenden des einzelnen ein für allemal mit den »Tugenden
der Allgemeinheit«106 in eins gesetzt werden. Das macht Adorno an der Verlage-
rung des Interesses fest, das in den Frühdialogen Platons einzelnen Tugenden gilt,
während es in den Spätschriften, vor allem der Politeia, eben den »Tugenden der
Allgemeinheit« zugewandt ist.

102 Adorno, PM 1, 8. 1. 1957.


103 Vgl. Platon, Politeia 414 cd.
104 Adorno, PM 1, 8. 1. 1957.
105 Alle Zitate: Adorno, PM 1, 8. 1. 1957.
106 Ebd.
2.3 Platon 41

Freilich übersieht er nicht, dass Platon das Problem der Vermittlung von In-
dividuellem und Allgemeinem in seiner praktischen Philosophie doch ein großes
Stück voranbringt, wenn die Lösung auch misslingen muss. In Platons utopischer
Staatskonstruktion erkennt Adorno die Anstrengung, gegen die unvernünftige,
falsche Realität des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen die the-
oretische Konzeption verwirklichter Vernunft, Gerechtigkeit und Glückseligkeit
aufzubieten. Herrschaft und Vernunft hängen zwar insofern miteinander zusam-
men, als Naturbeherrschung Vernunft voraussetzt,107 aber in der Wirklichkeit der
Polis sind die Herrscher nicht unbedingt Weise und die Weisen nicht Herrscher.
Das Leiden an der Disharmonie von »Macht und Vernunft«108 ist die treibende
Kraft der kritischen Forderung, dass »entweder die Philosophen Könige werden
in den Staaten oder die jetzt so genannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und
gründlich philosophieren«109. Diese Konzeption ist jedoch zweischneidig: Sie ent-
hält ebenso den »Gedanken an eine richtige Organisation der Gesellschaft« wie die
Hypostasierung »der Teilung von geistiger und körperlicher Arbeit«110, das heißt
die Ontologisierung der Arbeitsteilung in einer antagonistischen Gesellschaft.
Zum Verhältnis von Vernunft und Macht bemerkt Adorno, dass Platon zunächst
die Vernunft als souveräne, die Wirklichkeit direkt beeinflussende Kraft konzipiert
habe, dann jedoch in seiner Staatsphilosophie »die Einsicht in die Notwendigkeit
von festen gesetzlichen Ordnungen« zur Geltung gebracht habe. An die Stelle »des
Glaubens an die Unmittelbarkeit der Vernunft« tritt in der Politeia »der Begriff der
Institution«111. Adorno betont, dass die Entfaltung des institutionellen Moments
in Platons Staatsutopie sich noch nicht verselbständigt hat, das heißt: keinen ver-
dinglichten Charakter besitzt, sondern schlicht der Frage nach der Vermittlung
von Idee und staatlicher Wirklichkeit Rechnung trägt.
Die Einführung des Institutionsbegriffs kann in diesem Zusammenhang als
implizite Auseinandersetzung mit Hegel verstanden werden. Dieser hatte auf den
argumentativen Zirkel aufmerksam gemacht, der darin besteht, dass bei Platon
Sittlichkeit und staatliche Institutionen einander wechselseitig begründen sollen.
»Das öffentliche Staatsleben besteht durch die Sitten, und umgekehrt die Sitten durch
die Institutionen. Die Sitten dürfen nicht unabhängig von den Institutionen sein
oder die Institutionen bloß auf die Sitten gerichtet sein durch Erziehungsanstalten,
Religion. Eben Institutionen müssen als das Erste angesehen werden, wodurch

107 Vgl. Adorno, PM 1, 10. 1. 1957.


108 Adorno, PM 1, 10. 1. 1957.
109 Platon, Politeia 473 cd.
110 Adorno, PM 1, 10. 1. 1957.
111 Ebd.
42 2 Anfänge der bürgerlichen Moralphilosophie

die Sitte wird, die Weise, wie die Institutionen subjektiv sind.«112 Diese zirkuläre
Denkfigur hat nach Hegel indessen einen Realgrund: Platons Staatskonzeption ist
keine über der Welt schwebende Chimäre, sondern insofern ein »Idealstaat«, als
sie den ideellen Gehalt, das Wahrhafte des »griechischen Staatslebens«113 selbst
darstellt. Weil das Ideal nur dann Ideal ist, wenn es mit der, immer an Vernunft
teilhabenden, Wirklichkeit vermittelt ist, ist es kein abstraktes Jenseits. Insofern ist
der »wahrhafte Inhalt« des platonischen Staats »die griechische Sittlichkeit in ihrer
substantiellen Weise«114. Sie kommt bei Platon ihrer Idee nach zum Ausdruck – in
ihrer emphatischen, idealen Wirklichkeit, die sich von der daseienden Wirklich-
keit unterscheidet, weil sie gewissermaßen deren Möglichkeit ist. Die substantielle
Sittlichkeit besteht Hegel zufolge darin, dass das Göttliche, Allgemeine »die zweite
geistige Natur«115 der Individuen ist. Im Gegensatz dazu besteht das moderne Prinzip
der Vergesellschaftung im Staat, dessen Ansätze die Auflösung der griechischen
Polis einleiten, in der »subjektiven Freiheit«, das heißt darin, dass die Individuen
»nicht aus Achtung, Ehrfurcht für die Institutionen des Staats, des Vaterlands
handeln, sondern aus eigener Überzeugung, nach einer moralischen Überlegung
einen Entschluß aus sich fassen, sich danach bestimmen.«116 Nach Hegel stellt
Platon seine Staatskonzeption, in der das »Wahrhafte« des griechischen Lebens
verkörpert ist, der Tendenz zu dessen Auflösung entgegen.117 Ohne es zu sagen,
verweist Hegel damit auf den restaurativen Zug des platonischen Entwurfs. Hegels
affirmative Darstellung von Platons Republik richtet sich gegen den Vorwurf des
abstrakten Utopismus. Dieser findet sich noch bei Nietzsche, der das Konzept der
Politeia von der Abschaffung des Privateigentums verhöhnt als »Platos utopistische
Grundmelodie, die jetzt noch von den Sozialisten fortgesungen wird«118.

112 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II,
in: Werke Bd. 19, S. 123.
113 Hegel, a. a. O., S. 111.
114 Ebd.
115 Hegel, a. a. O., S. 114; vgl. auch S. 108.
116 Hegel, a. a. O., S. 114.
117 Siehe dazu Ritter, Moralität und Sittlichkeit, a. a. O., S. 336 (Fußnote): »In dieser Deutung
[…] der platonischen Republik als Abwehr der einbrechenden Subjektivität kommt
[…] systematisch die Auffassung zu Wort, daß da, wo Freiheit Prinzip des politischen
und sittlichen Lebens ist, die Subjektivität an sich schon eingeschlossen ist. Darin ist
für Hegel das Vorübergehen griechischer Sittlichkeit begründet.« »Ihr Verlust ist das
Resultat des Prozesses, in dem sich, bevor die Freiheit der Subjektivität mit der Freiheit
aller politisch zur Substanz des Rechts und des Staates wurde, die Subjektivität gegen
die bestehenden, ihr nicht gemäßen Institutionen setzt.«.
118 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, a. a. O., S. 988.
2.3 Platon 43

Versucht man nun, Adornos Interpretation der Politeia mit der hegelschen in
Beziehung zu setzen, lässt sich der folgende Gedankengang konstruieren. Hegels
Verteidigung gegen den Utopievorwurf liefert wider Willen das Rüstzeug zur
modernen Kritik an Platons Entwurf. Indem gezeigt wird, dass die Politeia die
von empirischen Mängeln gereinigte sittliche Substanz der realen griechischen
Polis zum Ausdruck bringt, zeigt sich, dass sie immer auch eine Verdoppelung
des Bestehenden ist. Gerade weil man sie Hegel zufolge nicht als Utopie kritisieren
kann, wird deutlich, dass sie in entscheidenden Zügen dem verhaftet bleibt, was
mit Adornos Worten als »falsches Leben« zu bezeichnen wäre.
Nach Adorno wird der Gedanke der Institution bei Platon aus der Not heraus
eingeführt, Instanzen benennen zu müssen, durch welche die Idee die Wirklichkeit
verändern kann; und erst im historischen Fortgang nimmt der Institutionenbegriff
auch im Denken die verhärtete Gestalt an, die er in der neuzeitlichen Wirklichkeit
hat. Der Keim dieser Entwicklung ist freilich schon bei Platon angelegt. Adornos
Charakterisierung des Status der Institutionen in Platons Republik steht also der
hegelschen gegenüber: Während für Hegel die Funktion der Institutionen das Vor-
moderne in Platons Entwurf ausmacht, weil Institutionen im neuzeitlichen Sinn,
nämlich als aktualisierte Sittlichkeit, erst auf die Stufe der subjektiven Freiheit in
der Sphäre der Moralität folgen können, erkennt Adorno gerade darin schon den
Ansatz der modernen Vergesellschaftungstendenz.119
Platon, so kann man Adornos Gedankengang zusammenfassen, stellt implizit
bereits die entscheidende Frage: Wie kann die Idee die Wirklichkeit nach dem
Bild ihrer eigenen Vollkommenheit formen – oder, modern formuliert: Wie kann
Vernunft praktisch werden? Damit berührt er das Problem, in welchem Ausmaß
die »Idee« die politische Realität zu verändern imstande ist. Aber die Antwort bzw.
die Lösung des Problems ist ihm verwehrt. (Es konnte schließlich auch bis heute
nicht gelöst werden.) Er kann das Problem der Vermittlung des individuellen mo-
ralischen Verhaltens mit der Ethik der Polis nicht anders lösen als dadurch, »daß

119 Insofern geht Adorno an diesem Punkt über die Hegel-Deutung Ritters hinaus, deren
Perspektive eine ungebrochen affirmative Auslegung der neoaristotelisch interpretierten
Position Hegels für die Gegenwart des bürgerlichen Staats ist (vgl. Ritter, a. a. O., sowie
zur Diskussion des Neoaristotelismus: Herbert Schnädelbach, Was ist Neoaristotelismus?,
in: Moralität und Sittlichkeit, hrsg. v. W. Kuhlmann, Frankfurt/M. 1986, S. 38 ff.). Gegen
Gehlens affirmativen Begriff der gesellschaftlichen Institutionen hat Adorno darauf
bestanden, es gelte heute zu bedenken, »daß die Potentialitäten der Menschen durch
die Institutionen in einem noch nie dagewesenen Maß verkümmern und unterdrückt
werden« (Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen, Ist die Soziologie eine Wissenschaft
vom Menschen? Ein Streitgespräch [1965], in: Friedemann Grenz, Adornos Philosophie
in Grundbegriffen. Auflösung einiger Deutungsprobleme, Frankfurt/M. 1974, S. 247.
44 2 Anfänge der bürgerlichen Moralphilosophie

die Vorstellung von dem Gefüge der Seele in sich und die von der Gesellschaft als
Ganzer in einer Art von prästabilierter Harmonie konstruiert sind«,120 das heißt,
dass die Teile der einzelmenschlichen Seele der Hierarchie der Teile des Staatswe-
sens entsprechen sollen. Der Chorismos von Idee und Wirklichkeit bleibt auch auf
dem Gebiet der Moralphilosophie unüberwunden. Durch die konsequente Entge-
gensetzung von Idee und Sinnenwelt kann die Idee zum kritischen Korrektiv des
Bestehenden werden. Zugleich wird sie aber, in ihrer abstrakten Verschiedenheit
von allem konkret Daseienden, ohnmächtig.121 Hegelianisch bestimmt Adorno den
»Widerspruch«, in den die Idee als Basis moralphilosophischer Reflexion unaus-
weichlich gerät: »Entweder hält sie sich rein, dann kommt sie nicht in wirkliche
Fühlung mit der Realität und kann sie nicht gestalten, oder sie hält sich nicht rein,
geht in die Realität ein, so wird sie verformt und zur Lüge.«122 Diese – auch bereits
im Blick auf Kant formulierte – Dialektik markiert Adorno zufolge den systema-
tischen Punkt des Übergangs zur aristotelischen Ethik.

2.4 Aristoteles
2.4 Aristoteles
Bei Aristoteles werden Ethik und Politik erstmals explizit miteinander verbunden.
Ethik ist der Magna Moralia zufolge »nichts anderes als ein Teil der Wissenschaft
vom Staate«123. Letztere wird in der Nikomachischen Ethik als »die wichtigste und
leitendste«124 bezeichnet. Indem Aristoteles das Verhältnis von einzelnem Subjekt
und gesellschaftlichem Ganzen analytisch-wissenschaftlich zu bestimmen versucht,
stellt er die Reflexion ethischer Fragestellungen auf eine neue Grundlage. Während
Platons Ontologie den vermeintlich objektiven Strukturen des Seins selbst nachspürt
und seine Ethik die ansichseiende Idee des Guten zum Gegenstand hat, richtet die
Ethik des Aristoteles den Blick auf die konkreten Gestalten des gesellschaftlichen
Zusammenlebens der Menschen, in denen sich moralische Fragen stellen.

120 Adorno, PM 1, 8. 1. 1957. – »Plato betrachtet die Polis nach dem Vorbild der menschlichen
Psyche […]. Er unterscheidet die Funktionen der Polis nach seiner Dreiteilung der
Psyche in Intellekt, Emotionalität und Begehrlichkeit und versteht die Gesetze der Polis
als vernünftige Handlungsprinzipien, die ein Individuum sich selbst […] aufzwingt.«
(Ulrich Steinvorth, Gerechtigkeit, in: Philosophie, hrsg. v. E. Martens u. H. Schnädelbach,
a. a. O., S. 309).
121 Vgl. Adorno, PM 1, 10. 1. 1957.
122 PM 1, 10.1.57.
123 Aristoteles, Magna Moralia, 1181 a 24.
124 Aristoteles, Nikomachische Ethik (im folgenden: NE), 1094 a 26.
2.4 Aristoteles 45

Adorno hebt dieses Moment bei Aristoteles mit Max Weber als nominalistisches
– das heißt: auf die Erkenntnis des Einzelnen abzielendes – hervor.125 Er betont den
Fortschritt, der aus der aristotelischen Anstrengung resultiert, den Chorismos von
Idee und Wirklichkeit durch Vermittlung der begrifflich-ideellen Substanz mit den
daseienden Einzeldingen, in denen die Substanz sich ausschließlich realisiert, zu
überwinden. Ist die Idee auf die Verkörperung in der empirischen Realität angewie-
sen, so stellt sich in der Moralphilosophie Adorno zufolge konsequent die »Frage
[…], wie das Sittliche wirklich werden kann«126. Der Zugewinn an Konkretion und
Beziehung auf die gesellschaftliche Realität ist freilich, das ist einer der leitenden
Gedanken von Adornos Interpretation, in der Ethik des Aristoteles auch mit der
Tendenz verbunden, die bestehende Realität als Gegebenheit hinzunehmen.
Die produktive Differenz zu Platon arbeitet Adorno zunächst an der Lehre von
der Eudaimonie heraus, die – wie schon bei Platon – auch der Zentralbegriff der
aristotelischen Ethik ist. In der Nikomachischen Ethik wird Glückseligkeit als das
vollkommene, um seiner selbst willen angestrebte höchste Gut, als Telos mensch-
lichen Handelns, bestimmt.127 Wie Platon versteht Aristoteles darunter das Leben
gemäß der Vernunftbestimmtheit des Menschen.128 Anders als Platon macht er
jedoch die empirisch-realen Momente geltend, die notwendige Bedingungen zur
Entfaltung der Glückseligkeit sind: die »äußeren Güter« nämlich, die »Mittel«
und »Werkzeuge« wie »Freunde, Reichtum und politische Macht«, »Adligkeit,
wohlgeratene Nachkommenschaft und […] Schönheit«129, sowie »Gesundheit, […]
Nahrung und alles andere […], was zur Notdurft des Lebens gehört«130. Nimmt man
noch den Aspekt hinzu, dass die Glückseligkeit eines Menschen für Aristoteles nur
dann vollkommen wäre, wenn sie sein ganzes Leben andauert, dann wird deutlich,

125 Vgl. Adorno, PM 1, 10. 1. 1957.


126 Adorno, PM 1, 15. 1. 1957.
127 Vgl. NE, 1097 b 20. – Adorno macht zwar keine Angaben über die Textgrundlage seiner
Darstellung; es ist aber aus dem Gang der Ausführungen ganz eindeutig zu ersehen,
dass er sich auf die Nikomachische Ethik bezieht, die in der Forschung überwiegend
als das ethische Hauptwerk des Aristoteles angesehen wird. Vgl. zur Diskussion
über das Verhältnis der drei aristotelischen Ethiken zueinander und den Stellenwert
der Nikomachischen Ethik F.-P. Hager, Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Ethik und Politik
des Aristoteles, Darmstadt 1972, S. VII ff. Siehe dazu aber auch die bei Maclntyre
referierte abweichende These von A. Kenny, derzufolge die Eudemische Ethik als
moralphilosophische Hauptschrift des Aristoteles anzusehen sei (vgl. Alasdair Maclntyre,
Der Verlust der Tugend, Frankfurt/New York 1987, S. 199).
128 Vgl. NE, 1098 a 15.
129 NE, 1099 b 15ff.
130 NE, 1178 b 35f.; vgl. auch NE, 1153 b 15ff.
46 2 Anfänge der bürgerlichen Moralphilosophie

in welchem Maß Aristoteles’ Begriff der Eudaimonie auch durch materialistische


Momente gekennzeichnet ist. Darin erkennt Adorno zwei starke Seiten: die Kor-
rektur der platonischen Abtrennung der Glücksidee von allem Sinnlichen und
die durchgeführte Reflexion darauf, dass das Glück des einzelnen, entsprechend
der aristotelischen Definition des Menschen als zoon politikon, nicht isoliert vom
realen Stand seiner Vergesellschaftung untersucht werden kann. »Aristoteles
sieht […], daß […] die individuelle Existenz mit ihren Normen und ihrem Glück
gebunden ist an die richtige Verfassung des Ganzen. Er hat damit zum ersten Mal
das Bereich der bloß privaten Ethik […] überschritten.«131 Während Platons Ethik
die Wirkmächtigkeit der reinen Ideen in der Realität suggeriert, drückt sich darin,
dass Aristoteles Elemente in die moralische Reflexion hineinnimmt, die im Sinne
der modernen Moralphilosophie heteronom sind, »eine […] Einsicht in die realen
Bedingungen des Glücks« aus, die »der Vorstellung einer befreiten, ihrer eigenen
Güter mächtigen Menschheit mehr Ehre antut als der Platonische Idealismus.«132
Die empirischen Bedingungen der Eudaimonie bleiben bei Aristoteles freilich
akzidentell und behalten gegenüber deren Wesensbestimmung als vernunftgemäßer
Tätigkeit der Seele einen untergeordneten Status. Die aristotelische Tugendlehre
unterscheidet zwischen ethischen Tugenden, also solchen, die auf die Praxis des
»guten« Lebens gerichtet sind, und dianoetischen Tugenden, das heißt solchen, in
denen sich die Vernunft selber zum Gegenstand der Betrachtung macht und die
daher wesentlich für das »göttliche« Leben sind, das der theoria gewidmet ist. Ist
Glückseligkeit »identisch mit einer spekulativen Tätigkeit des Geistes«133, so verweist
sie auf die Kontemplation. Diese wird bestimmt als Betätigung des göttlichen nous
im Menschen; als die einzige Tätigkeit, die ihren Zweck in sich selbst trägt und um
ihrer selbst willen erstrebenswert ist. Ein ihr gemäßes Leben wird als glückseliges
definiert.134 Insofern, als die vita contemplativa den Praxisverzicht zum höchsten
Ziel von Praxis macht, interpretiert Adorno sie als Index des resignativen Elements
im Denken des Aristoteles. Aus der Perspektive einer Sozialgeschichte der Moral-
philosophie erweist sich jenes als notwendiger Bestandteil eines gesellschaftlichen
Zustands, in welchem den Bürgern der direkte Eingriff in die politische Realität
versagt ist und Vernunft ihren Anspruch, eine praxisverändernde Kraft zu sein,
nicht mehr aufrechterhalten kann. Adorno benennt das (mit dem selben Ausdruck,
den er schon bei Platon verwendet) allerdings in einem anderen Sinn, als »eine Art

131 Adorno, PM 1, 10. 1. 1957.


132 Adorno, PM 1, 10. 1. 1957.
133 Pierre Defourny, Die Kontemplation in den Ethiken des Aristoteles, in: Ethik und
Politik des Aristoteles, a. a. O., S. 227.
134 Vgl. NE, 1177 a 12 ff.
2.4 Aristoteles 47

Verschiebung«. Weil der Vernunft »die Möglichkeit ihrer Verwirklichung abge-


schnitten worden ist«, wird »sie selbst unmittelbar zum höchsten Gut erklärt«135,
und die Intention, das vernünftig Gedachte in Realität zu übersetzen, tritt in den
Hintergrund. Damit redet Adorno aber keiner vordergründigen, abstrakt bleibenden
Negation des Kontemplationsbegriffs das Wort. Gerade in seinen späteren Schriften
wird »das Wahrheitsmoment an der antiken und mittelalterlichen Ineinssetzung von
Glück und Kontemplation«136 herausgearbeitet. Im Zusammenhang seiner Kritik
am Praxisfetischismus der aktionistischen Richtungen der studentischen Protestbe-
wegung beschreibt er die objektive Dialektik der Kontemplation: »Daß Aristoteles
die dianoetischen Tugenden am höchsten stellte, hatte fraglos seine ideologische
Seite, die Resignation des hellenistischen Privatmanns, der der Einwirkung auf die
öffentlichen Dinge aus Angst sich entziehen muß und nach Rechtfertigung dafür
sucht. Aber seine Tugendlehre öffnete auch den Horizont seliger Betrachtung; selig,
weil sie dem Ausüben und Erleiden von Gewalt entronnen wäre.«137 Die Idee der
vita contemplativa ist also in dieser Hinsicht Vision einer Lebensform, in der die
Menschen ihrer vernünftigen Bestimmung überhaupt erst gerecht werden könnten,
weil sie vom Leiden befreit wären, das durch gesellschaftliche Gewalt erzwungen
ist. Praxisverzicht weist somit auch auf das Moment der Kritik an falscher Praxis
hin. Es wird noch zu zeigen sein, welche Bedeutung dieser Aspekt für Adornos
Praxisbegriff hat.
Da Aristoteles nun aber in erster Linie auf eine Vermittlung von Vernunft und
Wirklichkeit hinarbeitet,138 wird in seiner Moralphilosophie die Frage nach den
Kräften im Individuum relevant, durch die es vernünftige Einsicht in angemessene
Handlungen umsetzen kann. Ist bei Platon der Übergang von der Idee des Guten
zur einzelnen ethischen Handlung ebenso ungeklärt wie überhaupt die methexis
des Einzeldings an der Idee, so sieht Aristoteles, wie Adorno hervorhebt, erstmals
die Notwendigkeit, eine Instanz im Menschen zu benennen, die zielgerichtetes
Handeln ermöglicht. Richtige Einsicht und richtiges Handeln fallen nicht einfach
zusammen, wie es zuerst Sokrates und im Anschluss daran modifiziert auch Platon
angenommen hatte; sie werden vielmehr in der Sphäre des Willens aufeinander
bezogen. Für Aristoteles ist »die ethische Tugend ein Verhalten des Willens […]
und der Wille ein überlegendes Begehren«139. Der Lehre von der prohairesis, der

135 Adorno, PM 1, 17. 1. 1957.


136 Alfred Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, in: ders.,
Drei Studien über Materialismus, München/Wien 1977, S. 190.
137 Adorno, GS 10, S. 769.
138 Vgl. PM 1, 15. 1. 1957.
139 NE, 1139 a 22 f. (Mit der Abweichung »Begehren«, statt »Streben« in Gigons Übersetzung.).
48 2 Anfänge der bürgerlichen Moralphilosophie

rationalen Willensentscheidung, liegt eine Vorstellung des Wollens zugrunde, das


das Subjekt vermittelt durch die Erkenntnis des Guten zum Handeln treibt.140 Ein
solcher Willensbegriff setzt Freiheit voraus. Aristoteles unterscheidet bereits in
einer Weise zwischen Freiheit und Unfreiheit des Handelns, die auf die moderne
Sicht vorausdeutet.141 Für Adorno ist in diesem Zusammenhang von besonderer
Wichtigkeit, in wie hohem Grad hier schon gesehen ist, dass die Vorstellung vom
»richtigen Leben« Freiheit voraussetzt: äußere, gesellschaftliche, und innere, psy-
chologische Freiheit. Ein vom Tyrannen bevormundeter Bürger und ein Sklave, der
per definitionem unfrei ist, sind ebenso vom tugendhaften Handeln abgetrennt wie
ein äußerlich Freier, dessen Fähigkeit zu vernunftgemäßem Handeln aber durch
irrationale Charakterzüge deformiert ist.142 Adorno sieht hierin eine Antizipation der
Einheit von Freiheit und Willen, die bei Kant die Grundlage der Moralität bildet.143
Freiheit ist Voraussetzung der Sittlichkeit, die sich nach Aristoteles in den ethi-
schen Tugenden manifestiert. Gegenüber der platonischen Reduktion der Tugenden
auf das eine Prinzip der Vernunft wertet Aristoteles die einzelnen Tugenden zwar
wieder entscheidend auf; gleichwohl werden sie als durchgängig aufeinander be-
zogen und miteinander vermittelt gedacht.144 Das ist die Grundlage der generellen
Definition von Tugend als mesotes145, das heißt als ein Verhalten, das an der durch
Vernunft bestimmten Mitte, am richtigen Maß zwischen dem Zuviel und dem
Zuwenig, orientiert ist.
Während für Nietzsche dieser Tugendbegriff, der auf einen mittleren Ausgleich
abzielt, ein Dekadenzsymptom ist,146 geht es Adorno darum, die produktiven As-
pekte in Aristoteles’ Bestimmung der Tugend und ihren objektiven historischen
Gehalt zu erschließen. Adornos Intention ist es, bei der Betrachtung der aristote-
lischen Tugendlehre die einzelnen Kategorien wie die gesamte Konstruktion auf
den gesellschaftlichen Gehalt hin durchsichtig zu machen, der sich mehr oder
weniger dahinter versteckt. So gewahrt er im Begriff der mesotes einen spezifisch
bürgerlichen Zug, der bei Aristoteles zum ersten Mal expliziert wird: den Versuch,

140 Vgl. D. J. Allan, Aristoteles’ Auffassung vom Ursprung moralischer Prinzipien, in:
Ethik und Politik des Aristoteles, a. a. O., S. 281.
141 Vgl. NE, 1109 b 30 ff. (Drittes Buch, Kapitel 1–7).
142 Vgl. PM 1, 10. 1. 1957. – Vgl. auch PM 2, 4. 7. 1963.
143 Vgl. Adorno, PM 1, 15. 1. 1957.
144 »Der Glaube von Aristoteles an die Einheit der Tugenden ist eines der wenigen Elemente
seiner Moralphilosophie, das er direkt von Platon übernommen hat. […] Alle Tugenden
befinden sich im Einklang miteinander« (Maclntyre, a. a. O., S. 211).
145 Vgl. NE, 1106, b 27.
146 Siehe unten, Kapitel 8.
2.4 Aristoteles 49

im Bewusstsein »der Unmöglichkeit, ein Unbedingtes in der Welt überhaupt zu


realisieren«147, einen Ausgleich zwischen den Extremen zu erzielen; einen Versuch,
die Ansprüche der individuellen Existenz mit der staatlichen Organisation zu
vermitteln, in der das Individuum nur überleben kann. Entsprechend ist zunächst
der Begriff der engkrateia148 , der Beherrschtheit, oder, wie Adorno übersetzt, der
Selbstbeherrschung, Ausdruck der charakteristischen Ambivalenz des Ethischen.
Dessen zwei gegenläufige, voneinander nicht zu trennende Funktionen bestehen
darin, die Interessen des Individuums zur Geltung zu bringen und gleichzeitig dem
Interesse des sozialen Allgemeinen zu unterwerfen. Die zivilisationsgeschichtlich
unumgängliche Einsicht, dass sittliches Handeln Kontrolle der Affekte und des
Gemüts voraussetzt, enthält Adorno zufolge dementsprechend sowohl fortschritt-
lich-humanes Potential als auch bereits die Reduktion von Ethik auf Beherrschung
der inneren Natur.149
Es ist aber vor allem die Bestimmung der Gerechtigkeit, an der Adorno seine
ideologiekritische Untersuchung festmacht. Wie bei Platon150 hat Gerechtigkeit bei
Aristoteles eine doppelte Bedeutung: Sie ist einerseits Inbegriff aller Tugenden, die
»vollkommene Tugend«151 im Hinblick auf die gesellschaftliche Natur des Men-
schen, und andererseits eine »besondere« Tugend, die sich auf Gesetzlichkeit und
Gleichheit bezieht.152 Letztere wird noch einmal in verteilende und ausgleichende
Gerechtigkeit unterteilt.153 Die distributive Gerechtigkeit steht für die Zuteilung von
Gütern und Ehrungen an den einzelnen durch das Gemeinwesen, das nach dem
Prinzip suum cuique zu verfahren hat. Grundlage der Zuteilung ist das statische
Klassenverhältnis der Polis. Insofern kann Adorno die Bestimmung der distri-
butiven Gerechtigkeit als das »feudalaristokratische Erbe«154 der aristotelischen
Gerechtigkeitslehre bezeichnen, das die Ungleichheit der Menschen voraussetzt
und festschreibt.

147 Adorno, PM 1, 15. 1. 1957.


148 NE, 1149 a 21.
149 Vgl. Adorno, PM 1, 15. 1. 1957.
150 Vgl. Platon, Politeia, 431 d ff.
151 NE, 1129 b 26.
152 Vgl. NE, 1130 b 5 ff.
153 Vgl. NE, 1130 b 30 ff. – Aristoteles unterscheidet »zwischen der distributiven oder
Verteilungsgerechtigkeit, deren Regeln eine bestimmte Verteilungsweise, und der
retributiven oder Straf- und Rekompensationsgerechtigkeit, deren Regeln einen Schutz
der Individuen vor Verletzungen durch Gewalt und Betrug erzwingbar machen«.
(Steinvorth, Gerechtigkeit, a. a. O., S. 312).
154 Adorno, PM 1, 15. 1. 1957.
50 2 Anfänge der bürgerlichen Moralphilosophie

Adorno folgt der marxschen Einsicht in die historische und ökonomische Bedingt-
heit idealistisch formulierter philosophischer Begriffe von Gerechtigkeit.155 Doch
ihm zufolge besteht das Besondere der aristotelischen Gerechtigkeitslehre nun aber
darin, dass sich im Begriff der ausgleichenden Gerechtigkeit eine der distributiven
entgegenstehende Auffassung ausdrückt, die bereits im Kern auf die bürgerliche
Idee der Gleichheit der Menschen vorausweist. Die retributive Gerechtigkeit ist
zuständig in der »Gemeinschaft des Austausches«156; sie »ordnet den vertraglichen
Verkehr«157 und ist insofern am »abstrakten Tauschverhältnis«158 orientiert. In
seiner gleichsam idealtypischen Argumentation präpariert Adorno aristokratische
und bürgerliche Elemente in Aristoteles’ Konzeption der Gerechtigkeit heraus, die
sich unbewusst aneinander abarbeiten. Wenn also zwei Gerechtigkeitsbegriffe mit
historisch objektiv gegenläufigen Implikationen nebeneinander stehen, ist das laut
Adorno auf die Anstrengung des Aristoteles zurückzuführen, im »Bewußtsein der
Allmacht von staatlichen Organisationen […] gleichwohl […] das Individuelle zu
erhalten […]. Hier wird zum ersten Mal nicht das Allgemeine als das Gute schlech-
terdings empfunden, sondern Aristoteles ist bereits des Grauens inne geworden,
das in der abstrakten Allgemeinheit enthalten ist, die das Spezifische wegschneidet.
Seine Humanität beruht eigentlich darin, daß er immer wieder versucht, durch eine
Art von Selbstkorrektur das Individuelle, die Natur, gegenüber dem Allgemeinen,
der Vergesellschaftung, zur Geltung zu bringen.«159 Ist freilich auch im egalitären
Moment der retributiven Gerechtigkeit die Subsumtion des Besonderen unter
das Allgemeine des Vertragsprinzips und seiner Sanktionsinstanzen stets wieder
zwingend mitgesetzt, so wird diese Tendenz nach Adorno wiederum vermittels des
Begriffs der Billigkeit zu modifizieren gesucht, worunter Aristoteles »eine Korrektur
des gesetzlich Gerechten«160 versteht.
Franz Neumann hat in der Diskussion über den Status des Naturrechts bei
Aristoteles darauf hingewiesen, dass die – objektivistische – Vorstellung von
der »Natur der Dinge«, die, in der Anwendung des Billigkeitsbegriffs, gegen die
Formalität des kodifizierten Rechts zur Geltung gebracht werden soll, noch kei-
neswegs als emphatische Aufwertung des Individuums und seiner besonderen

155 Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, Frankfurt/M. 1968, S. 99 f. (Fußnote); siehe
auch Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage, in: Marx/Engels, Werke Bd. 18, Berlin
1981, S. 277.
156 NE, 1132 b 31 f.
157 NE, 1131 a 1.
158 Adorno, PM 1, 15. 1. 1957.
159 Ebd.
160 NE, 1137 b 12.
2.4 Aristoteles 51

Ansprüche zu verstehen ist, sondern lediglich ein Verweis auf die Notwendigkeit
ist, die konkrete Situation bei der Anwendung des jeweiligen Gesetzes angemessen
mit zu berücksichtigen.161 Adorno hingegen sieht darin den Ansatz, einen Begriff
von Natur zu berücksichtigen, der sich der Subsumtion unter das Tauschprinzip
entzieht, als dessen nochmals verdinglichte Gestalt er das Rechtsverhältnis versteht:
»Die Billigkeit ist die humane Korrektur des abstrakten Rechts.«162
Die zentrale Funktion der Gesetze und der Staatsverfassung basiert Aristoteles
zufolge auf der Notwendigkeit, intellektuelle und ethische Tugenden, die den Men-
schen nicht naturhaft eignen, durch »Belehrung« und «Gewohnheit«163 zu erzeugen.
Den expliziten Übergang zur Politik begründet die Nikomachische Ethik damit,
dass nur eine zugleich vernunftbestimmte und mit Zwangsgewalt ausgestattete
gesetzliche Ordnung der Polis eine systematische tugendhafte Erziehung aller
Menschen gewährleisten kann.164 Darin drückt sich nach Adorno die aristotelische
Einsicht aus, dass eine auf individuelle Tugenden gerichtete moralphilosophische
Untersuchung der »Ergänzung durch eine politische Philosophie, eine Ethik des
Allgemeinen«165, bedarf. Der im Kontext einer moralphilosophischen Erörterung
relevante Gehalt der politischen Philosophie des Aristoteles besteht in der In-
tention, den Glückseligkeitsanspruch des Individuums, dessen anthropologisch
gefasste Bestimmung die Angewiesenheit auf Vergesellschaftung ist, mit dem
Allgemeinen der Polis zu vermitteln. Aristoteles entwirft, wie Adorno heraushebt,
keinen Idealstaat mehr, aber er hat noch ein »politisches Ideal«: »eine Ordnung
der Dinge, in der bürgerliche Tugend […] und menschliche Tugend miteinander
koinzidieren.«166 Dabei rückt Aristoteles auch die Vermittlung von Politik und
Ökonomie in den Blick. Er geht von der realen Basis der Reproduktion des Lebens
aus, nämlich von der ökonomischen Grundstruktur einer Polis, die die Bedürfnisse

161 »The standards of equity in Aristotle’s philosophy of law are […] not determined solely
by the specific characteristics of the citizens concerned, but derive from the »nature
of things«, from the concrete configuration of the specific case in which the claim of
the individual may be but one of the determining factors.« (Franz Neumann, Types of
Natural Law, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 8, S. 343).
162 Adorno, PM 1, 15. 1. 1957. – Vgl. Adorno, GS 6, S. 305. Die Kritik am abstrakten Recht
spielt auch in Adornos Hegelkritik eine Rolle; siehe unten, Kapitel 6.
163 NE, 1103 a 15 u. a 17.
164 Vgl. NE, 1179 a 33 ff. – Damit kommt freilich ein Moment der Heteronomie in die
Konzeption von der Erziehung zur Tugendhaftigkeit, die ihrem emphatischen Begriff
zuwiderläuft. Siehe dazu Edith Züllig, Vom Glück der Menschen, in: Dialectica Negativa,
hrsg. v. M. Büchsel u. H. Lonitz, Lüneburg 1984, S. 56.
165 Adorno, PM 1, 17. 1. 1957.
166 Ebd.
52 2 Anfänge der bürgerlichen Moralphilosophie

ihrer Mitglieder arbeitsteilig befriedigt und dazu einen durch Geld vermittelten
Tauschverkehr entfaltet.167
Zwar wohnt diesem Gesellschaftsbild – wie bei Platon – auch das Element der
Hypostasierung der Arbeitsteilung inne, die in der Ontologisierung der Sklaverei
gipfelt, doch das ist nach Adorno nicht der dominierende Zug des politischen
Denkens bei Aristoteles, denn die naturalistische Rechtfertigung der Sklaverei ist
bereits durch ein aufklärerisches Moment objektiv gebrochen, weil sie immerhin der
nicht mehr zu umgehenden Nötigung folgt, die Sklavenhaltung mit Argumenten
zu begründen. So ist auch der empirisch-vergleichende Ansatz der Untersuchung
politischer Systeme für Adorno als ein Stück Aufklärung zu verstehen, da die
politischen Systeme und Normen dadurch kritisch mit ihrer Wirklichkeit konfron-
tiert werden.168 In der Gegenüberstellung mit Platons rückwärtsgewandter Utopie
betont Adorno die progredierte Stellung, die bei Aristoteles die quantitative und
qualitative Freiheit des einzelnen einnimmt: »Die Aristotelische Politik ist so viel
humaner als der Platonische Staat, wie ein quasi-bürgerliches Bewußtsein humaner
ist als ein restauratives, das, um einer bereits aufgeklärten Welt sich zu oktroyieren,
prototypisch ins Totalitäre umschlägt.«169
Als Kehrseite des Realitätsbezugs in der aristotelischen Theorie benennt Adorno
die Tendenz zur Apologie bestehender Zustände. Es ist gleichzeitig ein Wesenszug
der moralphilosophischen Dialektik insgesamt, den Adorno an dieser Stelle zu-
sammenfasst: »Die großen Vermittlungstheorien des Moralischen, die das Mora-
lische nicht in der puren Innerlichkeit belassen, sondern die realen Bedingungen
der Welt mit einbeziehen, haben immer eine gewisse Tendenz, Rücksichten zu
nehmen auf das, was einmal da ist.«170 Auf dieser Stufe der Reflexion ist zwar das
bloße Postulieren abstrakt bleibender Humanität überwunden, aber dafür tritt die
Hypostasierung von Normen und Institutionen in den Vordergrund, die, gegen die
ursprüngliche Intention, die Subsumtion des einzelnen unter das Bewegungsgesetz
des Allgemeinen befördert, also im Bündnis mit gesellschaftlichem Zwang steht.
Der Widerspruch – so kann man Adornos Argumentation hier ergänzen –, in
den Aristoteles’ Ethik gerät, wenn sie Freiheit und Einsicht als Bedingungen des
ethisch-tugendgemäßen Handelns bestimmt und diese Bedingungen gleichzeitig
durch staatliche Gesetze und Institutionen produzieren, das heißt erzwingen will,
ist dafür der deutlichste Beleg. Adorno verweist mit seiner Analyse indirekt auch
auf den Doppelcharakter der Hegel’schen Kritik an der Moralphilosophie und ihres

167 Vgl. NE, 1133 a 19 ff.


168 Vgl. Adorno, PM 1, 17. 1. 1957.
169 Adorno, GS 10, S. 769.
170 Adorno, PM 1, 17. 1. 1957.
2.4 Aristoteles 53

Übergangs in eine affirmative Theorie des Staats, der als »ein in sich Vernünftiges«,
als »das sittliche Universum«171, begriffen wird.
Adornos Auseinandersetzung mit Hegel wird unter ihrem moralphilosophischen
Aspekt noch zu untersuchen sein. Mit der Reflexion auf den emphatischen Begriff
von Praxis als der Herstellung der materiellen Bedingungen eines menschenwürdi-
gen Lebens, um die Adornos Überlegungen zur antiken Ethik zentriert sind, ist die
theoretische Verbindung zwischen Antike und Neuzeit angegeben. Im Folgenden
wird sein Begriff der Praxis Gegenstand der Untersuchung sein.

171 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders.,
Werke Bd. 7, S. 26. – Vgl. dazu auch Adorno, Drei Studien zu Hegel (GS 5, S. 265 ff.),
sowie grundsätzlich zur Interpretation der politischen Philosophie Hegels durch die
Kritische Theorie: Herbert Marcuse, Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung
der Gesellschaftstheorie, Darmstadt u. Neuwied 1982, S. 154 ff.
Der normative Begriff vernünftiger Praxis
3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis
3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis
3

Praxis und Theorie sind aufeinander verwiesen, wenn Philosophie versucht, Praxis
auf den Begriff zu bringen. Praxis wird durch Theorie bestimmt, und zugleich
nimmt Theorie Einfluss auf Praxis. Dass Vernunft praktisch und Praxis vernünftig
werde, ist bereits in der Philosophie der Antike intendiert und wird in der Neuzeit
zum expliziten Programm erhoben. Für Adorno ist diese Intention unaufgebbarer
Maßstab eines Begriffs von Praxis. Der Untersuchung seiner Reflexion bei Adorno
soll nun die Betrachtung einiger der wichtigsten und Gestalten des Praxisbegriffs
vorausgehen.
Wird der Begriff der Praxis bei Platon auch noch nicht in einem Sinne spe-
zifiziert, der darüber hinausginge, Praxis als menschliches Handeln überhaupt
zu verstehen, so findet sich doch die für die Ethik entscheidende emphatische
Bestimmung, dass richtiges Handeln die Bedingung für ein glückseliges Leben
ist.172 Diesen Gedanken formuliert auch die aristotelische Politik als Gleichsetzung
von gutem Handeln und Glückseligkeit.173 Er steht bei Aristoteles aber bereits im
Zusammenhang einer entfalteten Theorie des Handelns. Aristoteles unterscheidet
in der Metaphysik zwischen Handeln, dessen Finalität außerhalb seiner selbst
liegt und Handeln, das seinen Zweck im Vollzug, also in sich selbst, trägt174 und
damit erst im nachdrücklichen Sinn, als energeia, menschliche Praxis ist. Diese
Differenzierung wird schließlich in der Nikomachischen Ethik zur Distinktion
zwischen Theorie einerseits und poiesis und praxis andererseits erweitert, womit
die Bestimmung von Praxis als vernunftbestimmtem, gutem Handeln im Unter-
schied zum Herstellen gesetzt ist.175 Die ontologisch begründete Höherwertigkeit

172 Vgl. Platon, Charmides 172 a.


173 Vgl Aristoteles, Politik 1325 a 21.
174 Vgl. Aristoteles, Metaphysik 1048 b ff.
175 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1049 a l ff. u. 1140 a l ff. – Zur Poiesis-Praxis-
Unterscheidung vgl. Herbert Schnädelbach, Was ist Neoaristotelismus?, a. a. O., bes.

G. Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz, DOI 10.1007/978-3-658-11771-9_3,


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56 3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis

des in sich selbst sinnvollen Tuns gegenüber dem, was in der Begrifflichkeit mo-
derner Handlungstheorie als zweckrationales Handeln bezeichnet wird, ist bei
Aristoteles, wie im vorangegangenen Kapitel diskutiert wurde, damit verbunden,
dass der oberste Inhalt von Praxis gewissermaßen ihre eigene Aufhebung in der
Kontemplation ist, die den Gehalt der theoretischen Lebensform ausmacht. Doch
eben weil die Gegenstände von Theorie und Praxis unterschiedlichen ontischen
Sphären angehören, wird Praxis nicht in Theorie aufgelöst. Bei Aristoteles bleibt
sie ein eigenständiger Bereich der philosophischen Reflexion, die für beide Sphären
»das Gute« zu begreifen hat und dabei auf episteme und phronesis verwiesen ist.176
Über die neuplatonische Herabstufung von Praxis zum defizienten Modus der
Theorie und über die mittelalterliche Bestimmung der vita contemplativa als jener
Lebensform, die der menschlichen Wesensbestimmung voll gerecht wird – näm-
lich der spekulativen Erkenntnis Gottes177 – hat sich freilich die Hierarchisierung
von Theorie und Praxis in der idealistischen Philosophie der Neuzeit fortgesetzt.
Der Praxisbegriff erfuhr dabei jedoch erhebliche Veränderungen; sie tragen den
historischen Wandlungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses der Menschen
auf unterschiedliche Weise Rechnung. Kennzeichnend für die moderne Rationa-
lität ist die »Umkehrung der Rangordnung zwischen praxis und poiesis […], die
metaphysikgeschichtlich aus dem Verlust der objektiven Teleologie folgt.«178 Mit
dem Zerfall des mittelalterlichen ordo, der den Übergang vom Feudalismus zur
bürgerlichen Gesellschaft einleitet, verlor die Reflexion auf menschliche Praxis ihr
ontologisches Zentrum. Zur gesellschaftlich bestimmenden Gestalt der Vernunft
wurde die Zweckrationalität (Weber), die sich, von der kritischen Prüfung der
Zwecke losgelöst, als absolut gesetzte Zweck-Mittel-Kalkulation, zur »instrumen-
tellen Vernunft« (Horkheimer) verselbständigte. Der Beginn der industriellen
Produktionsweise verlangte die Freisetzung der Individuen aus den ontologisch
legitimierten Bindungen des Feudalismus. Die Entfaltung und Universalisierung der
industriellen Produktion führte zur Totalisierung dessen, was bei Aristoteles poiesis
hieß. Die Präformation sämtlicher Lebensbereiche nach Kriterien des Herstellens
war die Folge, gegenüber der alle Versuche ohnmächtig blieben, »Wertrationalität«
und ontologische Bestimmungen des »guten Lebens« zu restaurieren, weil sie sich
mit der historisch-ökonomisch vermittelten Idee der Selbstbestimmung der Indi-

S. 46 ff.; vgl. auch Wilhelm Vossenkuhl, Praxis, in: E. Martens u. H. Schnädelbach


(Hrsg.), Philosophie, a. a. O., S. 218 f.
176 Vgl. Schnädelbach, a. a. O., S. 43 f.
177 Vgl. den Artikel »Praxis« im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Basel
1989, Sp. 1286 ff.
178 Schnädelbach, a. a. O., S. 48.
3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis 57

viduen nicht vereinbaren ließen.179 Konsequent setzte denn auch der bürgerliche
Praxisbegriff, wie er sich etwa im mechanischen Materialismus der französischen
Aufklärung herausbildete, die Vorstellung einer entqualifizierten Natur voraus, die
als Gegenstand menschlicher Arbeit aufgefasst wird.180 Erkenntnis der Naturgesetze
steht dort im Zeichen ihrer Anwendung zum Zweck der Naturbeherrschung, in
dem Praxis, auch als gesellschaftliche, bis heute ganz aufzugehen scheint. Daraus
folgt nun nicht, dass die französische Aufklärung keinen darüber hinausgehenden
Begriff gesellschaftlicher Praxis gehabt hätte. Im Gegenteil. Die Philosophie des
französischen Materialismus ist »die Reflexion von historisch-praktischen Inter-
essen«181, die auf die Frage zuläuft, »wie Emanzipation, der moralische Fortschritt
der menschlichen Gattung möglich ist.«182 Der emanzipatorische Anspruch im
Praxisbegriff des Materialismus wurde bei Marx aufgenommen und weitergeführt.
Eine andere Differenzierung erfuhr der Impuls, die Welt vernünftig einzu-
richten, im Begriff des Praktischen bei Kant. Gegenstände der praktischen Phi-
losophie sind Kant zufolge allein Sätze, die sich auf die Bestimmtheit des freien
menschlichen Willens durch apriorische Prinzipien beziehen. Insofern der Wille
durch das geleitet wird, was Kant »die praktische Gesetzgebung der Vernunft nach
dem Freiheitsbegriffe«183 nennt, fällt er in den Bereich der »Moralphilosophie«184.
Praxis im nachdrücklichen Verstande hat demnach bei Kant zwei Bedingungen:
die Freiheit des menschlichen Handelns und seine vernünftige Bestimmtheit. Im
Begriff der Autonomie kommen beide zusammen. Individuelle Autonomie ist bei
Kant an das Sittengesetz geknüpft; Freiheit und Moralität verweisen nicht nur so
aufeinander, dass Moralität Freiheit zur Bedingung ihrer Möglichkeit hat, sondern
auch so, dass Freiheit erst verwirklicht ist, wenn Moralität herrscht.
Kants praktische Philosophie, der es »im Ernst um verändernde Praxis geht«185,
richtete sich freilich postulierend auf das Individuum. Sie bezog noch nicht explizit
die Dialektik von Selbstbestimmtheit und Fremdbestimmtheit ein, die aus der Ver-
gesellschaftung der Individuen unter den ökonomischen Produktionsbedingungen

179 Vgl. Schnädelbach, a. a. O., S.48 f.


180 Vgl. Alfred Schmidt, Praxis, in: ders., Kritische Theorie Humanismus Aufklärung,
Stuttgart 1981, S. 110 ff.
181 Günther Mensching, Totalität und Autonomie. Untersuchungen zur philosophischen
Gesellschaftstheorie des französischen Materialismus, Frankfurt/M. 1971, S. 178.
182 Ebd., S. 179.
183 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: ders., Werke in sechs Bänden, hg. v. W.
Weischedel, Bd. V, Darmstadt 1983, A/B XII.
184 Ebd.
185 Schmidt, a. a. O., S. 115.
58 3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis

mit Beginn der Moderne folgt.186 Der negative Bezugspunkt des Praxisbegriffs bei
Marx ist die heteronome Bestimmtheit der Individuen durch das gesellschaftliche
Bewegungsgesetz, das sie selbst produzieren, ohne ein angemessenes Bewusstsein
davon zu haben. Praxis ist demnach zunächst der Gesamtprozess der materiellen
Reproduktion, mit dem sich die Menschen, die wesentlich dadurch gekennzeichnet
sind, dass sie ihre Lebensbedingungen selbst hervorbringen, auf unterschiedlichen
historischen Stufen und in je verschiedenen Produktionsweisen sowie in den dadurch
vermittelten Formen der Vergesellschaftung, als Individuen und als Gattung am
Leben erhalten. »Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch.«187 Marx
kritisiert sowohl die Mystifizierung des Praxisbegriffs bei Hegel, für den Praxis in
erster Linie eine des Geistes ist,188 als auch die linkshegelianische Position, die Praxis
mit (theoretischer) Kritik identifiziert. Sein geschichtsphilosophisch reflektierter
Begriff der Arbeit ermöglicht es Marx, den dialektischen Zusammenhang von
geistiger und materieller Tätigkeit angemessen zu begreifen und die in der idea-
listischen Philosophie als autonom verklärte spontane, setzende oder vermittelnde
Geistes-Subjektivität auf ihre wirkliche, materielle Grundlage hin durchsichtig zu
machen. Marx zeigt auf, dass sich hinter der konstitutiven Subjektivität idealistischer
Philosophie etwas höchst Reales verbirgt, das zugleich abstrakt ist.189
Die begreifende Durchdringung dieses Scheins und ihre praktische Aufhebung
ist der andere Aspekt des marxschen Praxisbegriffs. »Kann Deutschland«, so fragt er
1844, »zu einer Praxis à la hauteur des principes gelangen, d. h. zu einer Revolution,
die es nicht nur auf das offizielle Niveau der modernen Völker erhebt, sondern auf
die menschliche Höhe, welche die nächste Zukunft der Völker sein wird?«190 Praxis,
die ihrem Begriff gerecht würde, wäre also nach Marx erst revolutionäre Praxis. Sie

186 Habermas hat diesen Aspekt von Kants Moralphilosophie die »Verabsolutierung des
verallgemeinerten, aber kommunikationslosen Privatismus bürgerlicher Subjektivität«
genannt (Jürgen Habermas, Nachgeahmte Substantialität, in: ders., Philosophisch-
politische Profile, Frankfurt/M. 1971, S. 116).
187 Karl Marx, Thesen über Feuerbach, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 3, Berlin 1981, S. 7.
Marx begreift, so Alfred Schmidt, »menschliche als kollektive Praxis. Sie macht das –
nie zu vergeistigende – Substrat von Geschichte aus« (Schmidt, a. a. O., S. 119).
188 Vgl. Hegels Bestimmung des »praktischen Geistes« aus der Philosophischen Propädeutik,
in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke Bd. 4, Frankfurt/M. 1970, S. 57.
189 »Ihr fundamentum in re bildet der Vorrang abstrakt-allgemeiner, Tauschwert
erzeugender Arbeit vor konkret-besonderer, die Gebrauchswerte hervorbringt. […]
Der Abstraktionsakt vollzieht sich, ohne daß dies den Individuen bewußt würde, in
der tatsächlichen Tauschgesellschaft.« (Schmidt, a. a. O., S. 122.)
190 Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx/Engels,
Werke, Bd. 1, Berlin 1983, S. 385.
3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis 59

setzt voraus, dass die philosophische Interpretation der Welt in den praktischen
Impuls zu ihrer Veränderung übergeht; dass Philosophie durch ihre Aufhebung
verwirklicht wird, Bewusstsein und realer Lebensprozess der Individuen in kol-
lektiver umwälzender Tätigkeit zusammenkommen. Die Kritik der politischen
Ökonomie ist der spätere Versuch von Marx, für dieses Praxiskonzept, das er
keineswegs aufgibt, eine objektivierte Grundlage in den Bewegungsgesetzen der
kapitalistischen Produktionsweise zu finden, die vermöge ihrer inneren Dynamik
auf die eigene Aufhebung hintendiere. Gleichwohl ist auch beim späten Marx die
Rolle der subjektiven Spontaneität, ohne die es keine revolutionäre Tätigkeit geben
könnte, nicht unterbestimmt. Gelingende Praxis, so lässt sich zusammenfassen,
wäre nach Marx die Realisierung vernünftiger Selbstbestimmung freiheitlich
vergesellschafteter Individuen – eine bewusst vollzogene Vergesellschaftung, die
dialektisch verstanden wird als Resultat umwälzender gesellschaftlicher Tätigkeit
und zugleich als deren Voraussetzung.191
Das wird deutlich, wenn man die marxsche Theorie nicht objektivistisch
verdinglicht und zur dogmatischen Philosophie macht, die angeblich von den
– quasi automatisch vorgestellten und damit Geschichte naturalisierenden – Be-
wegungsgesetzen der Gesellschaftsformationen künde, welche in der Gesellschaft
der Ostblockstaaten ihr real existierendes höchstes Niveau erreicht hätten. Die
marxsche Theorie taugt nicht zur weltanschaulichen Legitimation totalitärer Regi-
mes. Sie ist nicht, wie die sogenannte »marxistisch-leninistische Philosophie« von
sich behauptete, die »sozialistische« »Ideologie der fortgeschrittensten Klasse«192,
sondern wesentlich Kritik193 – und zwar Kritik bestimmter historischer Gesell-
schaftsverhältnisse und Kritik der ihnen entsprechenden Ideologien. Es gibt zwar
bei Marx geschichtsobjektivistische Motive, und diese nehmen in seiner Theorie
auch zentralen Stellenwert ein, aber dennoch geht die Theorie nicht ohne Rest in
jenen Motiven auf.
Diese Marxinterpretation wurde nicht erst durch den Zusammenbruch des
Ostblocks motiviert. Sie ist im Gegenteil bereits als begreifende theoretische Re-
aktion auf seine Etablierung als Herrschaftssystem entstanden, die bereits in den

191 Siehe zu Marx’ Begriff der Revolution: Sven Kramer, Aporien der Revolution, in: Krise
und Kritik Bd. 2, hrsg. v. G. Schweppenhäuser, D. zu Klapmen u. R. Johannes, Lüneburg
1989, S. 74 ff.
192 Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. G. Klaus u. M. Buhr,
Reinbek bei Hamburg 1979, Bd. 2, S. 548.
193 Vgl. Jürgen Habermas, Marxismus als Kritik, in: ders., Theorie und Praxis, Frankfurt/M.
1982, S. 228 ff.
60 3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis

Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts stattfand.194 Seit den Dreißiger Jahren des
20. Jahrhunderts, als sich der westliche Marxismus195 in Opposition zum Sowjet-
marxismus immer klarer herausbildete, war es das Anliegen auch der Kritischen
Theorie, die authentische Gestalt der marxschen Kritik aus der sowjetphilosophischen
Vereinnahmung zu befreien und für die ungegängelte theoretische Erfahrung der
damaligen Realität neu zu erschließen. Diese Linie wurde in den Sechziger Jahren
des 20. Jahrhunderts fortgesetzt.196 Daher kann das Ende des Sowjetmarxismus
mit seinen politischen Folgen aus der Sicht der Kritischen Theorie nicht Anlass
sein, Marx zu verabschieden. Es sollte vielmehr als Chance begriffen und genutzt
werden, substantielle Gehalte seiner Philosophie in ihrer authentischen, das heißt
nicht-instrumentalisierten Form erneut anzueignen. Die Kritische Theorie, die
seit dem Stalinismus stets die nur vermeintliche Verwirklichung von Marx’ In-
tentionen unnachgiebig mit Marx selbst kritisiert und auf die – heute zu Unrecht
verpönte – utopische Dimension seiner Kritik verwiesen hat, bietet dafür eine gute
Grundlage.197 Die vorliegende Studie kann nur auf die Notwendigkeit einer solchen
Neuaneignung verweisen. Gleichwohl bildet diese einen antizipierten heuristischen

194 Die undogmatische Beschäftigung mit der marxschen Theorie hat bereits in den
Zwanziger und Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts »die geistige Unfruchtbarkeit
und sachliche Unnahbarkeit« einer Vorstellung von Marxismus als »Weltanschauung«
aufgezeigt. (Matthias Lutz-Bachmann, Materialismus und Materialismuskritik bei Max
Horkheimer und Theodor W. Adorno, in: Kritischer Materialismus. Zur Diskussion
eines Materialismus der Praxis. Für Alfred Schmidt zum 60. Geburtstag, hrsg. v. M.
Lutz-Bachmann u. G. Schmid Noerr, München, Wien 1991, S. 143.)
195 Vgl. dazu Maurice Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt/M. 1968 u.
Perry Anderson, Über den westlichen Marxismus, Frankfurt/M. 1978, bes. S. 44 ff.
196 Vgl. vor allem die Arbeiten von Alfred Schmidt, etwa: Der Begriff der Natur in der
Lehre von Marx, Frankfurt/M. 1978; siehe dazu: Gunzelin Schmid Noerr, Für einen
kritischen Materialismus der Praxis, in: Kritischer Materialismus. Zur Diskussion eines
Materialismus der Praxis, a. a. O., S. 11 ff.
197 Zu Adornos und Horkheimers Einschätzung des Nachkriegs-Stalinismus vgl. »Die UdSSR
und der Frieden«, in: Adorno, GS 20, S. 390 ff. Systematisch hat Marcuse die Kritik an
der dogmatischen Verdinglichung der marxschen Theorie ausgearbeitet; siehe Herbert
Marcuse, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Darmstadt u. Neuwied
1974. Siehe zu diesem Thema auch Iring Fetscher, Von Marx zur Sowjetideologie,
Frankfurt/M., Berlin, München 1973. – Brunkhorst hat betont, wie wichtig es für Adornos
Wirkung im Nachkriegsdeutschland gewesen ist, dass dieser als »die Verkörperung eines
unabhängigen linken Denkens« erschienen sei, »eines Linksintellektualismus, der sich
weder mit dem Stalinismus eingelassen noch im sozialdemokratischen Pragmatismus
das sacrificium intellectus gebracht hatte« (Hauke Brunkhorst, Theodor W. Adorno.
Dialektik der Moderne, a. a. O., S. 106).
3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis 61

Rahmen, in dem Adornos moralphilosophische Anknüpfung an bestimmte mar-


xsche Theoreme zu lesen ist.198
Wenn Marx auch Kants Moralphilosophie – in dieser Verkürzung zu Unrecht
– als den Praxisverzicht bezeichnet, der geistiges Paradigma der »ohnmächtigen
deutschen Bürger«199 sei, so berührt sich sein Praxiskonzept sachlich doch sehr wohl
mit Kants Intentionen. Hier knüpft auch Adornos Begriff der Praxis an. Er hat vier
Aspekte. Zunächst kann Praxis für menschliche Tätigkeit schlechthin stehen. Das
ist der umfassend-allgemeine Begriff von Praxis (1). In einem emphatischen Sinn
bedeutet Praxis für Adorno das Handeln der Menschen, in dem sich ihre freie,
vernunftbestimmte Autonomie manifestiert. Das wird hier als Adornos norma-
tiver Praxisbegriff bezeichnet (2). Davon wird der deskriptive Begriff von Praxis
abgegrenzt. Er steht für Praxis als Inbegriff und Triebkraft der bestehenden gesell-
schaftlichen Verhältnisse (3). Und schließlich gibt es für Adorno die Anstrengung,
unter den Bedingungen des bestehenden gesellschaftlichen Zustands auf eine Praxis
im emphatischen Sinn hinzuarbeiten. Das ist der auf Gesellschaftsveränderung
bezogene Praxisbegriff (4).200
(1) Wie Marx begreift Adorno Praxis zunächst einmal generell als den Inbegriff
menschlichen Handelns, insofern die Menschen sich von bloßer Natur unterscheiden
und mit Hilfe ihrer Vernunft die Bedingungen schaffen, unter denen sie sich an der
Natur abarbeiten. Damit ist nicht nur das allgemeine philosophische Verständnis
des Handelns – vernunftbestimmte, zweckgerichtete Tätigkeit – gemeint, sondern
zugleich auch dessen Konkretion als Arbeit. »Praxis ist entstanden aus der Arbeit.«201
Gleichzeitig ist Praxis in diesem Sinne aber auch der Zusammenhang sozialen

198 Im Lichte der folgenreichen Probleme des »real existierenden Sozialismus«, der seinem
Begriff nie gerecht wurde, gewinnt das Urteil Alfred Schmidts erneute Aktualität: Adorno
– den die offizielle DDR-Philosophie als »Ideologen der untergehenden Bourgeoisie«
abqualifizierte (Rudolf Bauermann, Einige Bemerkungen zur Kant-Interpretation in
Th. W. Adornos »Negative Dialektik«, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-
Luther-Universität Halle-Wittenberg, Gesellschafts- u. sprachwissenschaftliche Reihe,
24. Jg. [1975], Heft 6, S. 68) – war Schmidt zufolge einer »der wenigen authentischen
Interpreten des Marxismus in unserer Zeit« (Alfred Schmidt, Adorno – ein Philosoph
des realen Humanismus, in: ders., Kritische Theorie Humanismus Aufklärung, a. a. O.,
S. 30).
199 Karl Marx u. Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 3,
Berlin 1981, S. 177.
200 Vgl. dazu Christoph Türcke, Praxis und Praxisverweigerung nach Adorno, in: Das
unerhört Moderne, hrsg. v. F. Hager u. H. Pfütze, Lüneburg 1990, S. 48 ff., an dessen
Einteilung ich mich in etwas abgewandelter Gestalt anlehne. Siehe auch Carsten Schlüter,
Praxisverzicht und Kritik der Praxis, in: Das unerhört Moderne, a. a. O., S. 63 ff.
201 Adorno, GS 10, S. 762.
62 3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis

Handelns, da naturbeherrschende Praxis nicht anders denn als gesellschaftliche


möglich ist. Da sowohl Naturbeherrschung als auch soziales Handeln Reflexion
voraussetzen, versteht Adorno Theorie grundsätzlich als ein Moment von Praxis. Er
denkt das Verhältnis von Arbeit und sozialem Handeln nicht – wie Habermas202 – als
Dualismus der gleichursprünglichen Prinzipien Arbeit und Interaktion, sondern
als eines dialektischer Momente des gesellschaftlichen Bewegungsprozesses, der
von Beginn an im Zeichen einer herrschaftlichen Hierarchie der Arbeitsteilung
steht, in welcher die Trennung von geistiger und körperlicher Arbeit privilegien-
sichernd festgeschrieben wird. Soziale Interaktion ist in diesem Konzept, das dem
Begriff der Geschichte als einer von Klassenkämpfen Rechnung trägt, ohne ihm
dogmengeschichtlich verhaftet zu bleiben, 203 der Organisation der gesellschaftlich
notwendigen Arbeit untergeordnet und ein daraus Abzuleitendes. Insofern hat
Praxis für Adorno stets ein Moment des Zwanghaften. Die Naturbefangenheit des
Menschen wird nicht nur von deren Bedürftigkeit angezeigt, die es durch Arbeit
zu befriedigen gilt, sondern auch durch die gesellschaftliche Organisation dieser
notwendigen Arbeit. Adorno denkt das immanente Telos von Praxis in Gestalt von
Arbeit als deren Aufhebung: Die erfüllten materiellen Bedürfnisse wären zugleich
die Befreiung des Geistes von ihrem Diktat.204 »Das Ziel richtiger Praxis wäre ihre
eigene Abschaffung.«205 Diese Befreiung des Geistes, bzw. des theoretischen Vermö-
gens, wäre aber auch die zu sich selbst kommende Praxis, die sich als Freiheit des
Reflektierens und des Handelns realisieren würde: »[w]ahre Praxis, der Inbegriff
von Handlungen, welche der Idee von Freiheit genügten«206.
(2) Die paradoxe Bestimmung von »richtiger« bzw. »wahrer« Praxis als Abschaf-
fung und Verwirklichung in eins verweist auf den historischen Index, den Adorno
am Begriff von Praxis hervorhebt. Er unterscheidet zwischen den historisch-realen
Formen, in denen Praxis sich bis heute vollzieht, und der konkreten Möglichkeit
einer anderen Gestalt von Praxis. Diese Idee einer anderen, freiheitlichen Praxis
hat universalistischen Charakter. Das heißt, sie impliziert ein privilegienloses
gesamtgesellschaftliches Arbeiten, das ein Maximum an Bedürfnisbefriedigung
bei minimaler Arbeitszeit gewährleisten müsste, und ein herrschaftsfreies soziales
Handeln, welches daraus hervorgehen würde. Grundlage und Anknüpfungspunkt
für diesen Begriff konkret-utopischer Praxis ist für Adorno der erreichte Stand

202 Vgl. Jürgen Habermas, Arbeit und Interaktion, in: ders., Technik und Wissenschaft als
›Ideologie‹, Frankfurt/M. 1968, S. 9 ff.
203 Vgl. Adorno, GS 8, S. 373 ff.
204 Vgl. Adorno, GS 6, S. 207.
205 Adorno, GS 10, S. 769.
206 Adorno, GS 6, S. 228.
3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis 63

der technischen Produktivkraftentfaltung, die eine weitgehende Freisetzung der


Menschen von entfremdeter Arbeit zumindest denkbar macht. Eine solche Auf-
fassung hat auch Marcuse vertreten; er hat diesen Gedanken allerdings, anders als
Adorno, im Zusammenhang seiner Theorie des Ästhetischen als »Umformung von
Arbeit (Mühe) in Spiel und von repressiver Produktivität in Schein«207 diskutiert.
Gegen Adornos Konzept können drei Einwände erhoben werden, die man
mit den Stichworten Fortschrittskritik, ökologische Krise und Verstärkung der
Abhängigkeit der Arbeitenden durch zunehmende Automatisierung der Produk-
tionsprozesse kennzeichnen kann. Gegen diese Einwände kann Adornos Konzept
aber verteidigt werden.
Zum ersten Punkt: Adorno hatte kein ungebrochenes Vertrauen in technischen
Fortschritt, er hat vielmehr vor der Gefahr des Umschlags von Produktiv- in De-
struktivkräfte gewarnt. Er huldigte nicht (wie etwa die Dogmatik der »ML«-Phi-
losophie) einem Fortschrittsschema, in dem der Zuwachs an Technologie und
Arbeitsproduktivität als Zuwachs gesellschaftlicher Freiheit gedeutet wird. Im
Gegenteil fielen seine Diagnosen und Prognosen für die »verwaltete Welt«, die ihm
zufolge die dem gegenwärtigen Stand der Arbeitsorganisation entsprechende Form
der Vergesellschaftung ist, bekanntlich recht düster aus. Aber Adorno war eben
auch kein deterministischer Verfallstheoretiker. Er artikulierte, was auf dem Stand
der technischen Entwicklung heute möglich wäre. Aber das, was technisch möglich
wäre, setzte eine Veränderung der gesellschaftlichen Organisation der produktiven
Kräfte voraus; eine Organisation, die »geformt wäre nach den Bedürfnissen einer
freien und mündigen Menschheit.«208
Das leitet über zum zweiten und dritten Einwand. Adornos Perspektive einer
mit Hilfe technischer Produktivkraftentfaltung befreiten Gesellschaft, in der Praxis
auch als freies, soziales Handeln realisiert werden könnte, würde vom Vorwurf
eines vor-ökologischen Utopismus verfehlt. Denn in der Idee vernünftiger Praxis
ist die Transzendierung der zum Selbstzweck gewordenen Naturbeherrschung
mitgedacht. In ihr müsste Technik Werkzeug eines auf Versöhnung abzielenden
Umgangs mit Natur sein. Hier stehen Adornos Überlegungen in enger Nachbar-
schaft mit anderen philosophischen und naturwissenschaftlichen Konzeptionen,
die einen neuen Umgang mit der außermenschlichen Natur anvisieren. Zu denken
ist zunächst an Walter Benjamins Theorem, demzufolge nicht die Natur zu beherr-
schen sei, sondern das Verhältnis der Menschen zu ihr. Auch Ernst Blochs Idee
einer »Allianztechnik« ließe sich mit Adornos Überlegungen zusammenbringen.

207 Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu


Sigmund Freud, Frankfurt/M. 1980, S. 191.
208 Adorno, GS 8, S. 446.
64 3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis

Von den neueren Konzeptionen wäre hier an die Starnberger »Finalisierungskon-


zeption« (Gernot Böhme) anzuknüpfen. Diese geht davon aus, dass Technik und
Wissenschaft, die immer schon gesellschaftlich präformiert und organisiert sind,
endlich auch bewusster gesamtgesellschaftlicher Kontrolle zu unterstellen wären.
Damit soll es Gesellschaften ermöglicht werden, selbstbestimmt auf bestimmte
Richtungen in Wissenschaft und Technik zu verzichten, wenn ihre Unvereinbarkeit
mit einem vernünftigen Umgang mit Natur erwiesen wäre. Man könnte Adornos
Konzept auf die gegenwärtige Problemlage in Gestalt der Forderung übertragen,
dass rationale Praxis die Blockierungen aufzuheben hätte, die heute sowohl die
Weiterentwicklung als auch den Einsatz längst entwickelter ökologisch vertret-
barer Technologien verhindern, sofern sie den Kriterien der Profitmaximierung
nicht genügen. Die drohende Zerstörung der Naturbasis des menschlichen Pro-
duktionsprozesses wird nur auf dem höchsten erreichten Stand der industriellen
Technik abgewendet werden können.209 Dass genau das nicht geschieht, kann
man, wie Günther Anders, auf eine Verselbständigung der Technik gegenüber
ihren ursprünglichen Subjekten zurückführen, das heißt auf eine Vertauschung
von Mittel und Zweck. Man kann aber auch einen Schritt weiter gehen und diese
Vertauschung wiederum als Resultat eines ihr zugrunde liegenden strukturellen
gesellschaftlichen Antagonismus begreifen. So bei Adorno: »Nicht die Technik ist
das Verhängnis, sondern ihre Verfilzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen,
von denen sie umklammert wird. Erinnert sei nur daran, daß die Rücksicht auf
das Profit- und Herrschaftsinteresse die technische Entwicklung kanalisierte«.210

209 »Das Verhältnis zur ersten Natur heute ist in entscheidendem Maß das einer prekären
Erhaltung und sogar Neukonstruktion eines Artefakts, das sonst katastrophisch aus dem
Ruder zu laufen drohte. Auch und gerade die ökologisch aufgeklärte Hege und Pflege
der Natur ist nur noch als deren fortschreitende Technisierung und Objektivierung
möglich«. (Gunzelin Schmid Noerr, Ein nicht-naturalistischer Begriff zweiter Natur,
in: Die Unnatürlichkeit der Natur, hrsg. v. M. Lutz-Bachmann u. G. Schmid Noerr,
Frankfurt/M. 1991, S. 53).
210 Adorno, GS 8, S. 362 f. – Es ist »nicht ein Entwicklungsgesetz der Technik selbst, das
deren humane Zwecke zerstört, vielmehr ist es die partikulare und deshalb anarchische
Form, in der die Ergebnisse der Wissenschaft in die Produktion eingehen. Wenn ein
neues Verfahren nur deshalb eingeführt wird, weil es dem einzelnen Kapital Extraprofite
verspricht, die alle anderen einholen und übertreffen müssen, dann werden die humanen
Zwecke des Produktivitätsfortschritts zum gelegentlich verwendeten Reklametrick, der
nur den Absatz der Produkte erleichtert.« (Günther Mensching, Die Enzyklopädie und
das Subjekt der Geschichte, in: J. Le Rond d’Alembert, Einleitung zur »Enzyklopädie«,
hrsg. u. mit einem Essay von G. Mensching, Frankfurt/M. 1989, S. 170.
3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis 65

Zum letzten Einwand: Die Freisetzung von Arbeit bedeutet nur unter Bedingun-
gen entfremdeten Arbeitens materielle und psychische Existenzbedrohung. 211 Die
zunehmende Ersetzung von lebendiger Arbeitskraft durch automatisierte Produk-
tion ist aus dieser Perspektive das Zerrbild dessen, was menschliches Wissen und
Können heute erlauben würde. Sie ist Freistellung von Arbeit nicht als Befreiung,
sondern als weitere Funktion der Abhängigkeit. Dieser Sachverhalt ist kennzeich-
nend für unsere gegenwärtige »Weltwirtschaftsordnung«, die Überfluss produziert,
aber nicht für alle Menschen. Adorno hat sie als subjektlose Totalität analysiert,
deren Potential an bedürfnisbefriedigender Produktivität aus seiner Ziellosigkeit,
die sich auch heute noch in der ständigen Vernichtungsdrohung gegen Mensch
und Natur manifestiert, durch emanzipatorische Praxis zu befreien wäre.212 In
der Einschätzung der realen Chancen für die Befreiung ist Adorno pessimistisch.
Darauf wird im folgenden noch einzugehen sein.
Im Rahmen unserer Erörterung ist Adornos Konzept einer freien Praxis, das
gesellschaftstheoretisch Elemente der frühsozialistischen Utopien und der Kritik
der politischen Ökonomie zusammenzudenken versucht, nach seinen moralphi-
losophischen Implikationen zu befragen. Einen deutlichen Hinweis darauf gibt
Adornos Einschätzung von Charles Fourier, in der das notwendige Korrelat zum
Bilderverbot kritischer Theorie bezeichnet wird: »angesichts der Dogmatisierung
sozialistischer Theoreme, die im östlichen Machtbereich aus politischen Motiven
erfolgte, gewinnen Gedanken erneute Aktualität, die schon früh und nicht erst in
jenem Bereich als utopisch verfemt worden sind. […] Das Verbot auszudenken, wie
es sein solle, die Verwissenschaftlichung des Sozialismus, ist diesem nicht nur zum
Guten angeschlagen. Das Verdikt über Phantasie als Phantasterei fügte sich einer
Praxis ein, die sich Selbstzweck war und mehr stets im Bestehenden verstrickte,
über das sie einmal hinaus wollte.«213
Besinnung auf Praxis beinhaltet für Adorno demnach immer die Frage da-
nach, welche Praxis sein soll. Dieser normative Begriff freier Praxis enthält auch
den unverzichtbaren Rest einer metaphysisch-theologischen Perspektive. Denn
erst eine Gestalt von Praxis könnte ihm, Adorno zufolge, gerecht werden, die den
»Schuldzusammenhang« hinter sich ließe, in den alle bisherige Praxis die Mensch-

211 Vgl. dazu Christoph Türcke, Gottesgeschenk Arbeit, in: Hamburger Adorno-Symposion,
hrsg. v. M. Löbig u. G. Schweppenhäuser, Lüneburg 1984, S. 87 ff.
212 Sein Motiv ist in diesem Zusammenhang »die Untersuchung des technisch längst
Möglichen (Abschaffung des Hungers, Minimierung sozialer Ungerechtigkeit etc.) von
den repressiven Formen gesellschaftlichen Fortschritts« (Brunkhorst, Adorno, a. a. O.,
S. 127).
213 Adorno, GS 20, S. 699. – Vgl. dazu: Elisabeth Lenk, Gegen das Verdikt über Phantasie
als Phantasterei, in: dies., Kritische Phantasie, München 1986, S. 11 ff.
66 3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis

heit geführt hat. Damit ist keine metaphysische Verstrickung in ein Seinsgeschick
gemeint, sondern »das Gleich um Gleich der Gewalt«214, das historisch im längst
geschehenen »Rückfall in die Barbarei«, in Auschwitz und Hiroshima also, kul-
minierte.215 Gelingende Praxis hat für Adorno die Dimension der Versöhnung von
Theorie und Praxis, von Geist und Natur, in sich aufzunehmen. Ganz zu sich selbst
könnte sie erst im Stande der Versöhnung kommen, und eben der ist Menschen aus
eigener Kraft nicht erreichbar. So bleibt gelingende Praxis als Versöhnung gleichsam
regulative Idee, beständiges Korrektiv der Praxis, die den Menschen möglich ist. 216
(3) Damit ist Adornos emphatische Idee von Praxis genau auf den Begriff
gebracht. Von ihr aus wird bei ihm die bestehende Form von Praxis der Kritik
unterzogen. Die Diskrepanz zwischen vernünftiger Einsicht und dem Handeln,
das ihr entspricht, ist laut Adorno der neuzeitlichen Subjektivität einbeschrieben,
die im cartesianischen Substanzendualismus von der Wirklichkeit abgetrennt
wird, auf die sie sich handelnd bezieht. Die Emanzipation des Subjekts von seiner
Definition durch theozentrische Ontologie bringt es, vermittelt durch den Verlust
der Objektbeziehung, zu sich selbst. »Je mehr das Subjekt zu einem für sich Seien-
den wird und von dem ungebrochenen Einklang mit vorgegebener Ordnung sich
distanziert, desto weniger sind Tat und Bewußtsein Eines.«217 Adorno rekonstruiert
die Genese moderner Subjektivität als einen ökonomisch vermittelten Prozess der
Selbstkonstitution durch Aneignung einer zum Material degradierten Objektivität;

214 Adorno, GS 10, S. 770.


215 Vgl. Adorno, GS 10, S. 764 f.
216 Dieses Element negativ-theologischer Reflexion wird in der neueren Diskussion des
Adorno’schen Praxisbegriffs nicht mehr als Ausflucht in apokalyptische Eschatologie
oder Negativismus abgetan, in deren Folge seine Philosophie zur Gebärde regrediere
oder gar in Mythologie zurückfalle, wie etwa noch bei Theunissen (siehe Michael
Theunissen, Negativität bei Adorno, in: Adorno-Konferenz 1983, hrsg. v. L. v. Friedeburg
u. J. Habermas, Frankfurt/M. 1983, S. 50f.), Habermas (siehe Jürgen Habermas, Theorie
des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt/M. 1981, S. 515 f.) oder Wellmer
(siehe Albrecht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Frankfurt/M.
1985, S. 164.) Bei Türcke heißt es dagegen: »Noch unter optimalen gesellschaftlichen
Bedingungen bliebe Praxis mit Mängeln geschlagen – und könnte doch Vorgeschmack
der Mangellosigkeit sein« (Türcke, Praxis und Praxisverweigerung nach Adorno,
a. a. O., S. 53). Den normativen Begriff von Praxis, der seines unverzichtbaren negativ-
theologischen Aspekts eingedenk ist, beschreibt Türcke als »Maximum« des Handelns:
als ein »Handeln, worin selbstbestimmte Vernunft, vernünftige Selbstbestimmung
sich äußert. Das erst wäre wahrhafte, d. h. dem menschlichen Vernunftvermögen
angemessene, menschenwürdige Praxis.« (Ebd., S. 50 f.) – Zur Kritik des Wechsels von
der Versöhnungs- zur Verständigungs-Orientierung siehe Thyen, Negative Dialektik
und Erfahrung, a. a. O., S. 248 ff.
217 Adorno, GS 6, S. 227.
3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis 67

als Prozess, in dem »die Welt, für Manufaktur und Industrie, zum qualitätslosen
Material der Bearbeitung wird, die ihrerseits nirgendwo anders als auf dem Markt
sich legitimiert.«218 Von daher kommt Adorno zu der paradoxen, von ihm als Frage
formulierten These, dass Praxis im umfassenden Sinn, wie sie zu Beginn unserer
Erörterung umschrieben wurde, als »naturbeherrschende Praxis in ihrer Indiffe-
renz gegens Objekt Scheinpraxis sei.«219 Ihr liegt der im klassischen Praxisbegriff
begründete Anspruch zugrunde, dass Praxis die gelungene Vermittlung von Sub-
jekt und Objekt sei – ein Anspruch, den die bloß zurichtende Verfügung über an
sich vermeintlich »qualitätsloses Material« nicht genügen könne, weil ein solcher
Zugriff auf das Objekt dieses eben gerade verfehle.
Diese Reflexion220 steht bei Adorno im Kontext seiner, von Lukács’ Verdingli-
chungsbegriff inspirierten, Theorie der Rationalisierung in der Moderne. Derzufolge
ist »abstrakte Subjektivität« durch einen »Erfahrungsverlust«221 gekennzeichnet,
welcher in der Abgeschnittenheit des transzendentalen Subjekts von der ihm empha-
tisch zugesprochenen Spontaneität gipfelt. Adorno hält dem, als bestimmte Negation
der Hypostasierung von Subjektivität, das Programm einer auf den »Vorrang des
Objekts« abzielenden Philosophie entgegen.222 In der zugespitzten These, dass alle
bisherige Praxis eigentlich Scheinpraxis sei, meldet sich ein doppelter Befund an:
dass Praxis ihrem eigenen Begriff noch nicht genüge – und dass diese unvollständige
Praxis zugleich die einzige ist, die es bislang gibt. Adornos Begriff der Scheinpraxis
ist somit in seiner extensiven Verwendung als dialektischer zu begreifen.223 In der
Charakterisierung bestehender Praxis, die hinter dem in ihr gesetzten Anspruch
darum zurückbleibt, weil sie nicht vernunftbestimmtes Handeln autonomer Indi-
viduen ist, wird die beschriebene Dialektik in der These pointiert: »Falsche Praxis
ist keine.«224 Wesentlicher Zug der falschen Praxis ist Adorno zufolge das Fehlen
authentischer Vermittlung von Theorie und Praxis in Form ihrer wechselseitigen
Durchdringung auf jeweils progrediertester Stufe. »Praxis ohne Theorie, unterhalb

218 Adorno, GS 10, S. 758.


219 Ebd.
220 Karl Heinz Haag hat ihr in seiner Kritik des Positivismus im Naturbegriff der
philosophischen Tradition ein systematisches Fundament gegeben; siehe Karl Heinz
Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, Frankfurt/M. 1983.
221 Adorno, GS 10, S. 760.
222 Vgl. Adorno, GS 6, S. 184 ff.; zum Erfahrungsbegriff bei Adorno vgl. Thyen, a. a. O.,
S. 213 ff. – Zu Adornos Verhältnis zu Lukács siehe unten, Kapitel 4.
223 Von seiner Verwendung im Kontext politischer Praxis wird noch die Rede sein.
224 Adorno, GS 10, S. 766.
68 3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis

des fortgeschrittensten Standes von Erkenntnis, muß mißlingen«225; Theorie, die


der durchsichtigen Beziehung auf Praxis – im Sinn emanzipatorischen gesellschaft-
lichen Handelns – entbehrt und bei sich selber bleibt, ist von Deformation nicht
ausgenommen, auch wenn ihr Praxisverzicht nicht selbst gewählt ist. »Praxis wird
aufgeschoben und kann nicht warten; daran krankt auch Theorie.«226
Adornos Kritik bestehender Praxis hat also zwei Dimensionen. Zum einen setzt
sie fundamental an am Konzept von Praxis als Handeln, das auf Naturbeherrschung
abzielt. Damit ist die theoretische Fundierung dieses Konzepts in der neuzeitlichen
Subjektphilosophie angesprochen, die am Leitfaden der Rationalitätskritik interpre-
tiert wird. Zum andern konstruiert sie die Sphäre des gesellschaftlichen Handelns
als überschattet von Heteronomie, die den Individuen verwehrt, freie Subjekte ihres
Handelns zu sein. Dieser Zustand wird bestimmt als »Depotenzierung einer Praxis,
welche den frei und autonom Handelnden voraussetzt, der nicht länger existiert.227
Beiden Dimensionen der Praxiskritik eignet eine totalisierende Perspektive, die
freilich für sich beansprucht, Totalität nicht, als Hypostasierung einer Denkkatego-
rie, auf die Realität zu projizieren, sondern der realen gesellschaftlichen Totalität 228
begreifend Rechnung zu tragen, die sich in ihrer Erscheinung als Mannigfaltigkeit
disparater Einzelphänomene zugleich verbirgt und enthüllt – letzteres spätestens
dann, wenn Individuen vermeidbares Leid zugefügt wird, dessen Grund, etwa in
Kriegen oder Hungerkatastrophen, als strukturelle Gewalt im Bewegungsprozess
gesellschaftlicher Formationen verankert ist.
Die Frage lautet, ob Adorno daraus eine – gleichsam als Wesensbestimmung
der »Ontologie des falschen Zustands«229 gefasste – prinzipielle Unmöglichkeit
von Praxis ableitet. Damit wäre nicht nur politisch verändernder Praxis der Bo-
den entzogen, sondern auch der moralphilosophisch zur Diskussion stehenden
Möglichkeit richtigen Handelns von Individuen, das an der – Adorno zufolge nur
negativ bestimmbaren – Idee des guten Lebens orientiert ist.

225 Ebd.
226 Adorno, GS 6, S. 242.
227 Adorno, GS 10, S. 772.
228 Fredric Jameson entfaltet in der Studie mit dem Titel Spätmarxismus. Adorno oder die
Beharrlichkeit der Dialektik (Hamburg 1991) seine Darstellung der kritischen Theorie
Adornos aus deren Begriff der gesellschaftlichen Totalität. Damit zeigt er zugleich, wie
wichtig die Marx’sche Theorie für Adorno ist, besonders die Analysen aus dem ersten
Band des Kapitals.
229 Adorno, GS 6, S. 22.
3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis 69

In Bezug auf politische Praxis ist diese Frage von vielen Interpreten bejaht wor-
den.230 Adornos Rede vom »schuldhaften Begriff von Praxis«231 lässt dies plausibel
erscheinen; ebenso sein Verdikt über die »Pseudo-Aktivität«232 des aktionistischen
Flügels der Studentenbewegung, deren »steigend illusionären Charakter […] unter
den gegenwärtigen Bedingungen«233 er vehement kritisierte. Und die berühmte
Passage aus der Negativen Dialektik, der zufolge Praxis »auf unabsehbare Zeit ver-
tagt«234 sei, kann als resignativer Rückzug auf eine praxisabstinente philosophische
Position gedeutet werden.235
Doch solche Auslegungen werden ihrem Gegenstand nicht gerecht. Sieht man
von simplen Interpretationsfehlern ab, 236 so greift der Vorwurf einer theoretischen
Sanktion des Praxisverzichts grundsätzlich zu kurz, weil er von den gegenläufigen
Motiven und den Differenzierungen absieht, die Adornos Reflexion über politische
Praxis kennzeichnen. Solche Kritik unterschlägt Adornos dialektische Bestim-
mung, »daß aus dem Bann, den Praxis um die Menschen legt, allein durch Praxis
hinauszugelangen ist, daß sie aber einstweilen zwangshaft als Praxis am Bann ver-
stärkend mitwirkt, dumpf, borniert, geistfern.«237 Adorno hat keine Ontologie des
Praxisverzichts gelehrt, sondern bestimmte Formen der Praxis in der gegenwärtigen
Gesellschaft abgelehnt.238 Diese Formen werden nicht im holistischen Rahmen einer
Verfallstheorie rundheraus verworfen, sondern in historisch-kritischer Perspektive

230 Z. B. von Axel Honneth, der im Hinblick auf die Dialektik der Aufklärung, aber auch
auf die späteren Schriften ihrer Autoren, die These aufstellt: »Horkheimer und Adorno
setzen die geschichtsphilosophische Kritik der Naturbeherrschung […] so radikal
an, daß sie jede Art politischer Praxis ihrerseits schon als eine Form des verfügenden
Handelns interpretieren und damit im Prinzip auch schon aus dem Horizont positiver
Alternativen ausschließen müssen.« (Axel Honneth, Kritische Theorie, in: Pipers
Handbuch der politischen Ideen, hrsg. v. I. Fetscher u. H. Münkler, Bd. 5, München-
Zürich 1987, S. 606.)
231 Adorno, GS 10, S. 762.
232 Ebd., S. 10, S. 771.
233 Adorno, GS 20, S. 39.
234 Adorno, GS 6, S. 15.
235 Vgl. Wolfgang Bonß u. Axel Honneth, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Sozialforschung als
Kritik, Frankfurt/M. 1982, S. 7 ff., wo die »resignative Rückkehr der Kritischen Theorie
zur Philosophie« (ebd., S.16) beklagt wird.
236 So etwa in der Lesart von Clemenz, der eine »von Adorno postulierte Vertagung von
Praxis« glaubt feststellen zu können, während doch Adorno diese Vertagung nun
wahrlich nicht postuliert, sondern konstatiert (Manfred Clemenz, Theorie als Praxis,
in: Neue politische Literatur, 13. Jg. [1968], S. 178).
237 Adorno, GS 10, S. 763.
238 Das hebt auch Carsten Schlüter hervor; vgl. Schlüter, a. a. O., S. 63 f.
70 3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis

(»einstweilen«) auf ihre Erfolgsaussichten überprüft. »Gegen die, welche die Bombe
verwalten, sind Barrikaden lächerlich«239, heißt es beispielsweise mit Blick auf die
Proteste der Achtundsechziger. Und Adorno formuliert dafür Begründungen. Auch
für ihn ist Politik der Bezugspunkt einer nicht-bornierten Praxis240 – aber zugleich
auch die Sphäre der Repression, der die Individuen von Seiten der gesellschaftli-
chen Totalität ausgesetzt sind, die durch die Kollektive repräsentiert wird. Dazu
kommt in seiner Sicht die aus den Handlungszwängen der Politik immer wieder
resultierende Tendenz zur Heteronomisierung der theoretischen Reflexion, die eine
von Theorie entkoppelte Praxis »zum Wahnhaften«241 verurteilt.
Wohl konstruiert Adorno seinen Begriff der Praxis aus der Perspektive ihrer
maximalen Gestalt, aber er scheut sich nicht, konkrete Anweisungen für reflektierte
Partizipation an gesellschaftlichen Lern- und Reformprozessen zu geben.242 Sein
Votum, »daß unter den gesellschaftlichen und technischen Bedingungen der Gegen-
wart verändernde Praxis überhaupt vorstellbar ist nur als gewaltlos und durchaus
im Rahmen des Grundgesetzes«243, ist als Rückzug auf bürgerlichen Reformismus
kritisiert worden.244 Gleichwohl enthält Adornos Votum den Bezug auf konkrete
Formen von Praxis, die zwar nicht expliziert, aber programmatisch im Sinne eines
radikaldemokratischen Konzepts entworfen werden.245 Daraus wird bei Adorno

239 Adorno, GS 10, S. 771.


240 Vgl. Adorno, GS 10, S. 764 f.
241 Adorno, GS 10, S. 10, 767.
242 Vgl. Theodor W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt/M. 1982. Brunkhorst
hat »eine wenigstens indirekte volkspädagogische Wirkung Adornos als Aufklärer« in
der Nachkriegszeit konstatiert, »die etwa der Alexander Mitscherlichs vergleichbar ist«
(Brunkhorst, a. a. O., S. 108). Zur Einschätzung der Bedeutung Adornos für eine kritische
Pädagogik der Gegenwart vgl. Fritz Hartmut Paffrath (Hrsg.), Kritische Theorie und
Pädagogik der Gegenwart, Weinheim 1987.
243 Adorno, GS 20, S. 399.
244 Das formulierte zuerst der radikale Flügel der Protestbewegung, der, wie Adornos
Schüler Krahl, »das Elend der Kritischen Theorie« leninistisch im »Fehlen der
Organisationsfrage« (Hans-Jürgen Krahl, Kritische Theorie und Praxis, in: ders.,
Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt/M. 1985, S. 294) zu erkennen glaubte
und noch auf ein konkretes revolutionäres Subjekt setzte, das aber schon als ein
»Utopisches« konzipiert war, nämlich – wie Detlev Claussen, Schüler von Adorno
und von Krahl, erläutert – als »eine sich aus ihren organisatorischen Zwangsformen
emanzipierende antiautoritäre Arbeiterbewegung« (Detlev Claussen, Hans-Jürgen
Krahl: Ein philosophisch-politisches Profil, in: Krahl, Konstitution und Klassenkampf,
a. a. O., S. 412).
245 Siehe dazu Adornos Eintreten für die Opposition gegen die Notstandsgesetze (GS
20, S. 296 f.) und seine Äußerungen zur Frage der Legitimität von gewaltlosem und
3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis 71

aber auch kein Programm, weil er sich bewusst ist, dass »Reformismus […] mit-
schuldig ist am Fortbestand des schlechten Ganzen«246. Seine auf eingreifende Kritik
abzielende theoretische Reflexion steht unter einer leitenden Frage, die praktisches
Interesse bekundet: »wie eine nicht repressive Praxis möglich sei, wie man durch
die Alternative von Spontaneität und Organisation hindurchsteuern könne«247.
Die politischen Konturen derartiger Praxis sah Adorno offenbar noch am ehesten
im Modell der Räterepublik angelegt, dem einzigen historischen revolutionären
Projekt, auf das er zustimmend angespielt hat.248
Man kann Adorno vorhalten, dass er es in diesem Punkt bei Andeutungen be-
lassen hat. Man kann ihm entgegenhalten, dass sein Verdikt über die politischen
Artikulationsformen der studentischen Protestbewegung zu summarisch ist und
nicht allen ihren Elementen und konkreten Folgen gerecht wird.249 Aber der Vor-
wurf der dogmatischen Festschreibung einer Unmöglichkeit von Praxis ist nicht
zu halten.250 Für die hier behandelte moralphilosophische Fragestellung bedeutet
das, dass es bei Adorno durchaus Hinweise auf eine konkrete Praxis gibt, die an
der normativen Idee von Praxis, der Verwirklichung von autonomer Vernunft und
vernünftiger Autonomie der Individuen, orientiert ist.
(4) Adorno zufolge ist Spontaneität – im Sinne einer revolutionstheoretisch
anvisierten »besseren Praxis«251, an der es auch angesichts der Absenz eines umwäl-
zenden Subjekts festzuhalten gelte – durch die herrschende Praxis dazu verurteilt,
Idee zu bleiben. Aber seine implizite Moralphilosophie vertritt damit doch keinen
Determinismus. Im Gegenteil ergeht an die Individuen die Aufforderung, Impulse

gewaltsamen politischen Widerstand (GS 20, S. 402 ff.). Adornos differenzierte Einstellung
zum Studentenprotest geht auch aus dem Rundfunkgespräch hervor, das Peter Szondi
im Oktober 1967 mit ihm führte; vgl.: Rundfunkgespräch mit Adorno über die »Unruhe
der Studenten«, in: Peter Szondi, Über eine »Freie (d. h. freie) Universität«, Frankfurt/M.
1973, S. 88 ff.
246 Adorno, GS 10, S. 770.
247 Adorno, GS 10, S. 777.
248 Vgl. Adorno, GS 8, S. 395 u. GS 10, S. 777. – Ein Projekt übrigens, in dem das Problem
der Spontaneität bekanntlich eine wichtige Rolle spielte. Zu Adornos Verhältnis zu den
Modellen politischer Selbstbestimmung in westlichen Demokratien siehe auch unten,
Kapitel 5.
249 Vgl. Türcke, Praxis und Praxisverweigerung nach Adorno, a. a. O., S. 57 f.; siehe aber
auch Leo Löwenthal, Adorno und seine Kritiker in: ders., Schriften Bd. 4, Frankfurt/M.
1984, S. 67 ff.
250 Ebensowenig die abwegige Behauptung, Adorno ›fordere‹ »die Abdichtung des Gedankens
gegenüber den Anforderungen der Praxis« (Clemenz, Theorie als Praxis, a. a. O., S. 180.)
251 Adorno, GS 6, S. 243.
72 3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis

eines moralisch orientierten Handelns, als Ergebnis freier Reflexion und Erfah-
rung, umzusetzen: »Fällige Praxis wäre […] die Anstrengung, aus der Barbarei
sich herauszuarbeiten«252, die, wie bereits angedeutet wurde, nach Adorno mit
den Namen Auschwitz und Hiroshima verbunden ist, den Kristallisationspunk-
ten geschichtlicher Irrationalität. Die »Barbarei« macht mit der Zerstörung der
Möglichkeiten kritischer Erfahrung zugleich deren Notwendigkeit deutlich – auch
als paradoxe Erfahrung ihrer zunehmenden Unmöglichkeit. Das ist der Punkt,
an dem Kritische Theorie vor dem Hintergrund des historischen Fehlschlagens
umwälzender gesellschaftlicher Praxis sich, ohne zu resignieren, auf philosophi-
sche Reflexion bezieht und Konturen einer negativen praktischen Philosophie
entwickelt.253 Sie geht dem falschen, »beschädigten« Leben auf den Grund, ohne
dabei doch die Unveränderbarkeit der Gesellschaft ihrer Gegenwart zu statuieren.
Adorno benennt die repressiven Elemente bestehender Formen von oppositioneller
Praxis, die diese der herrschenden Praxis anähneln, die sie bekämpfen will,254 und
kritisiert die Unterordnung der einzelnen unter Kollektive als repressiv.255 Er sieht
die regulative Idee einer durchsichtigen Vermittlung von Allgemeinem und Indi-
viduellem in der Gegenwart nur in individueller Reflexion aufbewahrt. Diese wird
in ihrer theoretischen und ästhetischen Gestalt zur »Statthalter[in] der Freiheit«256,
also zur Statthalterin gelingender Praxis.
Adorno fasst Autonomie des Geistes nicht als idealistische Selbstgenügsamkeit
des Denkens auf, sondern als erreichbaren Grad an Souveränität, den Denken er-
langen kann, wenn es sich auf seine eigene Unfreiheit besinnt, das heißt auf seine
Verflochtenheit mit den materiellen Bedingungen, auf denen es beruht. Theorie,
die sich nicht absolut setzt, aber sich auch umgekehrt nicht dem Zwang praktischer
Verwertbarkeit unterstellt, ist für Adorno Antizipation von Freiheit innerhalb der
realen Unfreiheit.257 Nur indem sie konsequent nicht-instrumentell bleibt, kann
sie dem objektiven Zweck gerecht werden, in welchem sie aufzugehen hätte: der

252 Adorno, GS 10, S. 769.


253 »Die Rückbildung der kritischen Gesellschaftstheorie«, stellt Claussen fest, »die
Gesellschaft vor Auschwitz unter dem Aspekt ihrer Veränderbarkeit beschrieb, führt
zu einer Philosophie, die aber nicht mehr wie in der Antike Lehre vom richtigen Leben
sein konnte.« (Detlev Claussen, Nach Auschwitz, in: Zivilisationsbruch, hrsg. v. D.
Diner, Frankfurt/M. 1988, S. 67.)
254 Vgl. Adorno, GS 10, S. 779.
255 Damit visiert er in seinem nachdrücklichen Votum für die Entfaltung des einzelnen,
wie Carsten Schlüter betont hat, »die Idee vorweggenommener Pluralität im falschen
Allgemeinen« an (Schlüter, Praxisverzicht und Kritik der Praxis, a. a. O., S. 70).
256 Adorno, GS 10, S. 763.
257 Vgl. Adorno, GS 6, S. 382.
3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis 73

vernünftigen Praxis einer mündigen Menschheit, in der die durch Herrschaft und
fremdbestimmte Produktion konstituierte Antithetik von Theorie und Praxis
aufgehoben werden müsste.
Genau darin ist Adorno zufolge die Dialektik der Kontemplation begründet,
von der bereits die Rede war. Adorno erkennt sie noch im von Marx proklamierten
Primat naturbeherrschender Praxis, das ihm zufolge bereits die Bedingungen für
die Befreiung von diesem Primat als verabsolutiertem enthält. »Das Telos der ihm
[sc. Marx] zufolge fälligen Praxis war die Abschaffung ihres Primats in der Ge-
stalt, welche die bürgerliche Gesellschaft durchherrscht hatte. Kontemplation wäre
möglich ohne Inhumanität, sobald die Produktivkräfte soweit entfesselt sind, dass
die Menschen nicht länger von einer Praxis verschlungen werden, die der Mangel
ihnen abzwingt und die dann in ihnen sich automatisiert. Das Schlechte an der
Kontemplation bis heute, der diesseits von Praxis sich genügenden, wie Aristoteles
erstmals als summum bonum sie entwickelt hatte, war, daß sie gerade durch ihre
Gleichgültigkeit gegen die Veränderung der Welt zum Stück bornierter Praxis:
daß sie Methode und instrumentell ward.«258 Legitim ist Theorie als Platzhalter
befreiender Praxis demnach, wenn sie den Spielraum nutzt, der ihr innerhalb
eines Zustands bleibt, den sie als veränderungsbedürftig erkennt. Das heißt also
dann, wenn sie »die Atempause zum Denken«259 nutzt, die ihr aufgezwungen wird.
Das bedeutet, dass sie an der substantiellen Erkenntnis eines ›unwahren‹ gesell-
schaftlichen Ganzen zu arbeiten hat.260 Adorno vertuscht die Aporie nicht, dass
aus dieser Lage theoretisch nicht hinauszugelangen, jedoch der praktische Ausweg
»dicht zugehängt«261 ist.
Neben der Theorie ist für Adorno die Kunst das ebenbürtige Medium der Erfah-
rung jener »Aporie der Praxis«262. Sie ist, als Ausdruck dieser Erfahrung in Form
von ästhetischem Verhalten und Verfahren, eine Gestalt von Praxis, die zugleich
deren Kritik impliziert. »Kunst ist nicht nur der Statthalter einer besseren Praxis
als der bis heute herrschenden, sondern ebenso Kritik von Praxis als der Herrschaft

258 Adorno, GS 6, S. 242. – Zum Gedanken, dass umfassende Emanzipation erst auf Basis
höchstentwickelter Produktivkräfte möglich wäre, siehe Löwenthal, a. a. O., S. 70.
259 Adorno, GS 6, S. 243.
260 Kritische Theorie ist daher, wie Christoph Türcke formuliert, »der Absurdität ausgesetzt,
daß die gesellschaftlichen Verhältnisse ebenso überreif zur Umwälzung wie immun
dagegen sind, daß sie ebenso gebieterisch das Praktischwerden kritischen Denkens
verlangen wie sie es verunmöglichen.« (Türcke, a. a. O., S. 51.)
261 Adorno, GS 10, S. 770.
262 Schlüter, a. a. O., S. 64.
74 3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis

brutaler Selbsterhaltung inmitten des Bestehenden und um seinetwillen.«263 Die


Konstruktion der ästhetischen Erfahrung in der Moderne ist bei Adorno auf die
Perspektive einer Selbst-Transzendierung von Praxis hin angelegt. Diese ist durch
den authentischen Ausdruck des Leidens im Kunstwerk vermittelt, das die Mög-
lichkeit der Erfahrung von sinnlichem und spirituellem Glück negativ bewahrt.
»Promesse du bonheur heißt mehr als daß die bisherige Praxis das Glück verstellt:
Glück wäre über der Praxis. Den Abgrund zwischen der Praxis und dem Glück
mißt die Kraft der Negativität im Kunstwerk aus.«264 Hier schließt sich die ästhe-
tische Praxisreflexion mit dem umfassenden Begriff von Praxis zusammen, der
über die Vorstellung einer autonom-vernünftigen, befreiten Menschheit hinaus in
die – strikt negativ formulierte – messianisch-utopische Dimension hineinreicht.
Für diese stehen die Begriffe einer Transzendierung des universalen Schuldzusam-
menhangs und der Versöhnung ein. Aber auch in diesem Horizont bleibt Kunst,
als gestaltete Emanzipation von Praxis, ein Stück emanzipatorischer Praxis. Als
deren Bestandteile sind Kunstwerke nach Adorno sowohl objektivierter nega-
tiv-geschichtsphilosophischer Befund über den Status des Individuums als auch
dessen widerständige Kraftquelle. An der Erfahrung ästhetischer Eigensinnigkeit
in Produktion und Nachvollzug von künstlerischen Gebilden – so kann man ein
zentrales Motiv von Adornos Ästhetik zusammenfassen – hat das Individuum ein
gesellschaftliches Modell des Nicht-Mitmachens.265
In der Kraft zum Nonkonformismus liegt der entscheidende Impuls, der Adorno
zufolge von praxiskritischer Reflexion, das heißt von nicht-funktionalistisch ver-
kürzter Theorie, erwartet werden kann. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass
Adornos Praxisbegriff an ein zugleich kritisches und normatives Totalitätskonzept
gebunden ist. Er hat am Universalitätsanspruch der Moralphilosophie teil, die ihre
klassische Form bei Kant erreicht, weil er auf eine umfassende Verwirklichung
gelingender Praxis abzielt, die spekulativ an der Idee der Versöhnung gemessen
wird. Die empirischen Hindernisse, die ihr mit dem Schein der Unüberwindlichkeit
entgegenstehen, veranlassen Adorno nicht, den emphatischen Begriff von Praxis zu
ermäßigen und das Niveau ihrer Realisierung tiefer anzusetzen. Er hält kontrafaktisch
daran fest und mobilisiert eine Idee von Praxis als umwälzender gesellschaftlicher
Tätigkeit, die sich eng an Marx anlehnt. Von seiner marxschen Fassung unterschei-
det Adornos Praxiskonzept die Wendung auf das theoretisch-reflexive und durch
ästhetische Erfahrung vermittelte Potential des Individuums, die dem historischen

263 Adorno, GS 7, S. 26.


264 Ebd.
265 Zur systematischen Verknüpfung von ästhetischer und moralphilosophischer Reflexion
siehe unten, Kapitel 9.
3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis 75

Befund von der Vakanz eines revolutionären Subjekts Rechnung trägt. Sie soll zur
Kraftquelle von Widerstand gegen die »normative Kraft des Faktischen« werden,
welcher durchaus Chancen zugesprochen werden, Veränderungen des Bestehenden
zu bewirken. Die Frage, ob Adornos Praxisbegriff diesem Konzept auch wirklich
standhält, wird mitunter mit dem Vorwurf verbunden, Praxis werde lediglich
beschworen,266 ohne konkret, das heißt ihrer Möglichkeit und der Gestalt ihrer
Vermittlung mit fortgeschrittener Theorie nach, untersucht zu werden. Auf jene
Frage kann hier aber nur hingewiesen werden, ebenso wie auf Adornos Verdikt
über die Formen oppositioneller Praxis seiner Zeit, die er, wie gesagt, nicht immer
gerecht beurteilte.267 Dies muss als Problem stehenbleiben, das in einem anderen
Zusammenhang zu erörtern wäre.
Was aber den Vorwurf der bloßen Beschwörung von Praxis betrifft, die im
Kontext der Kritischen Theorie ihrer realen Möglichkeit nach durchgestrichen
werde, sei hier nur der Hinweis darauf gegeben, dass Adorno keine verfallslogische
Geschichtsphilosophie vertritt, deren Begrifflichkeit für die geforderte verändernde
praktische Tätigkeit empirischer Subjekte nicht mehr offen wäre. Diese geschichts-
philosophische Geschlossenheit findet sich in Gesellschaftslehren, die – gegen die
erklärte Absicht – das historische Geschehen quasi-idealistisch aus einem Prinzip
herleiten wollen, wie etwa in Georg Lukács’ geschichtsphilosophischem System, in
dem das Proletariat historischen Fortschritt verbürgt. 268 Wenn die gesellschaftliche
Bewegung in der Geschichte durch den Rekurs auf ein teleologisch gesetztes Subjekt
abgeleitet wird, dann wird die wirkliche Tätigkeit der Menschen zum Akzidenz
herabgesetzt und ihre philosophische Benennung in der Tat bloß noch evokativ
und selbstwidersprüchlich. Gerade das aber ist, wie zu zeigen versucht wurde, bei
Adorno nicht der Fall.
Im Vorliegenden geht es um das Verhältnis des Praxisbegriffs zur Moralphiloso-
phie. Die Wendung auf das Individuum, die ebenso wie der Begriff des Widerstands
noch zu diskutieren sein wird, ist der systematische Ort der Rehabilitierung mo-
ralphilosophischer Motive, die im Traditionszusammenhang des Marxismus meist
ausgeblendet wurden. Die Erfahrung des Individuums ist es, in der sich Adorno
zufolge die Aporie der Praxis als Leiden niederschlägt. Adorno bringt das auf die

266 Vgl. Rüdiger Bubner, Was ist Kritische Theorie?, in: Philosophische Rundschau, 16. Jg.
(1969), Heft 3/4, S. 272; dort ist der Adressat der Kritik allerdings Horkheimer.
267 Vgl. dazu Türcke, a. a. O., S. 55 ff; siehe auch Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule,
München 1988, S. 676 ff.
268 Siehe dazu Brunkhorst, a. a. O., S. 196.
76 3 Der normative Begriff vernünftiger Praxis

unakademische Formel: »Praxis ist’s halt, wenn’s weh tut.«269 Ziel von Praxis ist
daher die »Negation des physischen Leidens«270, die nach Adornos Überzeugung
nur in einer vernünftig eingerichteten Gesellschaft möglich wäre. Die Rehabilitie-
rung des moralphilosophischen Motivs erfolgt bei Adorno indessen in kritischer
Absicht, die aber von der Intention geprägt ist, den Wahrheitsgehalt des Kritisierten
produktiv anzueignen. In dieser Konstellation ist auch seine Auseinandersetzung
mit Kant zu sehen, die im folgenden Kapitel untersucht werden wird.

269 Adorno, PM 2, 7. 5. 1963 (Theodor W. Adorno, Probleme der Moralphilosophie [1963],


in: ders., Nachgelassene Schriften, Abt. IV, Bd. 10, Frankfurt/M. 1996, S. 20).
270 Adorno, GS 6, S. 203.
Die mögliche Verwirklichung
der Menschheit: 4
Kritik und Rettung
der kantischen Moralphilosophie
4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

Bei Kant kommt die bürgerliche Moralphilosophie zu sich selbst. Adornos Ausein-
andersetzung mit Kants praktischer Philosophie ist von entscheidender Bedeutung,
denn an Kant wird die Dialektik des Versuchs aufgezeigt, das Pathos des mora-
lischen Sollens gegen die amoralische Wirklichkeit des Seins zu richten – gegen
eine gesellschaftliche Wirklichkeit, deren Amoralität in die moralphilosophischen
Kategorien einwandert und so die Verwirklichung eines Zustands, in dem Morali-
tät überhaupt erst möglich wäre, nicht nur von außen blockiert, sondern zugleich
auch von innen hintertreibt. Das arbeitet Adorno heraus, indem er Kant sowohl
immanent kritisiert, als auch im Lichte hegelscher und marxscher Motive betrachtet.

4.1 Die Kant-Kritik in Lukács’ Geschichte und


Klassenbewußtsein und ihre Rezeption bei Adorno
und Horkheimer
4.1 Die Kant-Kritik in Lukács Geschichte und Klassenbewußtsein
Zunächst ist in diesem Zusammenhang auf die Beziehung zwischen Adornos
Auseinandersetzung mit der praktischen Philosophie Kants und der Kant-Kritik
des frühen Lukács einzugehen. Die kantische Philosophie setzt sich nach Lukács
dem Widerspruch aus, die Totalität von Erkenntnis und damit die Identität von
Subjekt und Objekt im System konstruieren zu wollen, aber weder die Objektseite,
das heißt die Materie oder die Inhalte der Formen, aus sich heraus setzen noch die
Totalität denkend begründen zu können. Beides verhindere Kants Konzession an
das Ding an sich, das die objektive Grenze der menschlichen Erkenntnis zieht.
Damit reproduziere sie die Antinomie der bürgerlichen Klasse, die an der realen
Konstitution scheitern muss, weil sie die Voraussetzungen ihres gesellschaftlichen
Daseins als unbegriffene Schranke bestehen lässt. Darum kritisiert Lukács Kants

G. Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz, DOI 10.1007/978-3-658-11771-9_4,


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78 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

Ding-an-sich-Konzeption mit Hegel, der sie dialektisch aufzulösen beanspruchte,


und zugleich in Anknüpfung an Fichte.
Der Weg zur Praxis stelle die kantische Philosophie vor die Aufgabe, »das
Subjekt der ›Tathandlung‹ aufzuzeigen«271, das mit dem Objekt identisch ist. Das
führe Kant unweigerlich auf das Subjekt des ethischen Handelns, denn nur dort
sei die selbstbezügliche, identische Subjekt-Objekt-Struktur auffindbar, weil Er-
zeugendes, das Subjekt, und Erzeugtes, seine Handlung, in eins fallen. Zugleich
aber werde gerade daran die Unüberwundenheit des Dualismus von Subjekt und
Objekt deutlich, denn die verinnerlichte ethische Maxime des Subjekts sei der »ver-
standesfremden Wirklichkeit, der Gegebenheit«272, also dem Anderen des Subjekts,
schroff entgegengesetzt. Lukács kritisiert Kants Ethik unter dem leitenden Aspekt,
dass sie sich auf die Beschreibung und Interpretation »ethischer Tatbestände«273
im Bewusstsein der Individuen beschränkt.
Daraus folgt für ihn zunächst, dass Kants Bestimmung der moralischen Auto-
nomie das Moralische »in eine bloße – aufgefundene und nicht mehr als ›erzeugt‹
denkbare – Faktizität verwandelt«274. Entsprechend gelinge die Auflösung des Kon-
flikts zwischen Freiheit und Notwendigkeit nicht, denn die Aufteilung in Außenwelt
– den Zuständigkeitsbereich der Naturkausalität – und subjektive Innenwelt – die
ethische Sphäre, in der Freiheit herrschen soll – reduziere Freiheit auf eine bloße
»Beurteilung von inneren Tatbeständen«275, die in ihrer konkreten Realität kausal
determiniert, mithin unfrei bleiben. Aus diesem Scheitern des Versuchs, die dritte
Antinomie der Kritik der reinen Vernunft aufzulösen, folgt für Lukács ein ideologi-
scher Dualismus in der Konzeption des Subjekts. Die »Spaltung von Erscheinung
und Wesen« werde, »statt gelöst zu werden, statt in ihrer hergestellten Einheit die
Einheit der Welt begründen zu helfen, in das Subjekt selbst hineingetragen: auch
das Subjekt wird in Phänomenon und Noumenon gespalten, und der unaufgelöste,
unlösbare, als unlösbar verewigte Zwiespalt von Freiheit und Notwendigkeit ragt
in seine innerste Struktur hinein.«276 Weil daher alles Material, aller konkrete In-
halt der Handlungen des Subjekts nicht dessen eigenen Bestimmungen unterliegt,
sondern dem Bereich der kausal determinierten Phänomene entnommen ist, müsse

271 Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923 [Raubdruck, Amsterdam
1967], S. 136.
272 Ebd., S. 127.
273 Ebd., S. 137.
274 Ebd. – Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: ders., Werke in sechs Bänden,
hg. v. W. Weischedel, Band V, Darmstadt 1983, A 72.
275 Lukács, a. a. O., S. 137.
276 Ebd.
4.1 Die Kant-Kritik in Lucács’ Geschichte und Klassenbewußtsein 79

Kants Ethik »rein formell, inhaltslos«277 bleiben. Sie erzeuge ihre Gegenstände nicht
selbst, deshalb sei sie zur Reproduktion der ihr vorgegebenen, aus der Sicht des
Subjekts gleichzeitig unfreien und zufälligen, Gesetzmäßigkeiten der außerethi-
schen Sphäre verdammt und könne sich in dieser nicht »konkretisieren«278 und zur
Geltung bringen. Daher gelinge es Kants Ethik nicht, die Philosophie zur Praxis
zu führen; sie weise auf Kontemplation zurück. Das Ziel der Identität von Subjekt
und Objekt werde verfehlt.
Inwiefern Adorno an die Kritik des »Faktums der Vernunft« durch Lukács
anknüpft, ohne sie zu übernehmen, soll im weiteren Verlauf dieses Kapitels im
Kontext deutlich gemacht werden. Hier ist zunächst auf die Differenzen in der
Kritik an Kant und der idealistischen Philosophie einzugehen, die Lukács von
Adorno trennen. Das soll erstens anhand von Adornos früher Kritik an Lukács’
Versuch, das Problem des Dings an sich zu lösen, geschehen, und zweitens anhand
der Beziehung von Rationalität und Irrationalem und dem davon abgeleiteten
Verhältnis von Naturbeherrschung und Kontemplation.
Adorno entwickelt in seiner Antrittsvorlesung als Frankfurter Privatdozent im
Jahre 1931 das an Benjamin anschließende Konzept einer materialistischen Philoso-
phie als Deutung der intentionslosen Wirklichkeit, die Totalität nur noch vermittelt
durch die Konstellation von ephemeren, fragmentarischen Erscheinungen hindurch
zu begreifen hätte. Dort hält er es noch für möglich, »daß vor einer zureichenden
Konstruktion der Warenform das Ding an sich-Problem schlechterdings verschwän-
de«279. Er teilt also die Absicht von Lukács, kritisiert aber dessen Lösung. Während
Lukács das Problem durch den Aufweis seiner gesellschaftlichen Genesis für gelöst
und erledigt hält, entwirft Adorno eine von Benjamins Theorie des dialektischen
Bildes inspirierte Programmatik nachmetaphysischer Erkenntnis, derzufolge »die
geschichtliche Figur der Ware und des Tauschwerts gleich einer Lichtquelle die
Gestalt einer Wirklichkeit freilegte, um deren Hintersinn die Erforschung des
Ding an sich-Problems vergeblich sich mühte, weil sie keinen Hintersinn hat, der
von ihrem einmaligen und erstmaligen geschichtlichen Erscheinen ablösbar wä-
re.«280 Das soll heißen, dass die »Rätselgestalt«281 der Ware in adäquater, nämlich

277 Ebd.
278 Lukács, a. a. O., S. 138.
279 Adorno, GS 1, S. 337.
280 Ebd. – Zum Begriff des dialektischen Bildes bei Benjamin siehe Rolf Tiedemann,
Dialektik im Stillstand, Frankfurt/M. 1983, S.9–41; vgl. zur Rezeption bei Adorno
siehe ders., Begriff Bild Name. Über Adornos Utopie von Erkenntnis, in: Hamburger
Adorno-Symposion, hrsg. v. M. Löbig u. G. Schweppenhäuser, Lüneburg 1984, S. 67 ff.
281 Adorno, GS 1, S. 335.
80 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

konstellativ-dechiffrierender Erkenntnis sich selber auflösen und damit den Blick


auf die Scheinhaftigkeit der – Nietzscheanisch als »Hinterwelt«282 charakterisierten
– ahistorischen Verdoppelung der Welt freigeben würde. Die genetische Erklärung
des Problems vom Ding an sich werde demnach seinem »Wahrheitsgehalt«283 nicht
gerecht. Gleichwohl versteht Adorno diesen selbst noch als Durchgangsstufe zu einer
ideologiekritischen Auflösung des Problems. Dass dessen Wahrheitsgehalt freilich
auch in einem anderen Sinn verstanden werden kann, nämlich als Einspruch gegen
die Verabsolutierung des Subjekts der Erkenntnis und als erkenntnistheoretisches
Unterpfand eines »Vorrangs des Objekts«, wird implizit in der Dialektik der Auf-
klärung, explizit in der Negativen Dialektik dargelegt.
In der Dialektik der Aufklärung wird kritisiert, dass die moderne Rationalität,
wenn sie sich selbst absolut setzt und nicht mehr auf außer ihr selbst liegende
Zwecke reflektiert, tendenziell das intelligible Substrat der Dinge auflöst und durch
die zurichtende Projektion kalkulierender, naturbeherrschender instrumenteller
Vernunft ersetzt. Lukács kritisiert in Geschichte und Klassenbewußtsein hingegen,
dass der bürgerliche Rationalismus nicht weit genug geht und einen unauflöslichen
irrationalen Rest der Objekte von Erkenntnis bestehen lassen muss. 284 Er legt der
Philosophie das Scheitern des Identitätsprogramms zur Last und führt dies wider-
spiegelungstheoretisch auf die reale Ohnmacht der bürgerlichen Klasse zurück. Diese
Ohnmacht wiederum sei die Voraussetzung zum Übergang der gesellschaftlichen
Herrschaft an das Proletariat, das – gleichsam als identisches Subjekt-Objekt der
Geschichte – die Unwahrheit der bürgerlich-idealistischen Philosophie demons-
triere, indem es sich als die real wirkmächtige Tätigkeit erweist und damit die
idealistische Ideologie material transzendiere und jegliche Jenseitigkeit endlich
auflöse. Mit dieser Konstruktion wird Lukács zum Opfer »der undurchschauten
idealistischen Implikate«285 seiner Kritik. Die Dialektik der Aufklärung dagegen

282 Ebd.
283 Adorno, GS 1, S. 337.
284 »Die idealistischen Konsequenzen daraus sind […] klar: die Natur und deren
Eigenstrukturen verdunsten. Produktion wird ›reines Erzeugen‹. Das aber ist verkappter
Fichteanismus« (Alfred Schmidt in: Geschichte und Klassenbewußtsein heute, 1. Eine
Diskussion von 1969, Frankfurt/M. 1977, S. 9). Der Praxisbegriff des frühen Lukács
verwandelt, Schmidt zufolge, »den historischen Materialismus geradezu in einen –
›soziologisch‹ verkleideten – ›Erzeugungs‹-Idealismus« (Schmidt, Praxis, a. a. O., S. 126).
285 Schmidt, a. a. O., S. 8. – Dass Lukács in seiner Kritik am kantischen Ding an sich den
hegelschen Idealismus ungewollt restauriert, hat Karl Heinz Haag gezeigt; vgl. ders.,
Der Fortschritt in der Philosophie, a. a. O., S. 192 ff. – Der geheime Idealismus von
Geschichte und Klassenbewußtsein ist auch von der orthodox-marxistischen Lukács-
Kritik angegriffen worden, allerdings im Namen einer Beschwörung von ökonomischen
4.1 Die Kant-Kritik in Lucács’ Geschichte und Klassenbewußtsein 81

bereitet (teilweise entgegen ihrer ausformulierten Kant-Kritik) eine materialistische


Rettung der Intention vor, die bei Kant im Begriff des Dings an sich aufbewahrt ist,
denn sie zeigt, dass instrumentelle Rationalität das ›intelligible Substrat erschei-
nender Natur‹286 durch Projektion ersetzt.
Lukács wirft der rationalistisch-mathematisch orientierten Philosophie vor,
dass sie in Wahrheit die Welt gar nicht verändere, sondern kontemplativ bleibe.
Horkheimer und Adorno zeigen dagegen, dass die instrumentelle Vernunft Na-
tur und Gesellschaft zwar beständig verändert, aber in eins damit eine ›ewige
Wiederkehr des Gleichen‹ hervorbringt. Die Hypostasierung der Tätigkeit in
Gestalt von Produktivität, so kann man daran anknüpfend interpretieren, folgt
dem Zwang der Logik des Wertgesetzes, der Produktion von Produktivität, die
Voraussetzung der Verwertung des Werts und damit der Kapitalakkumulation
ist. Lukács’ Deutung sitzt ihr in dem Moment selbst auf, in dem er das Proletariat
affirmativ als Subjekt-Objekt der »Tätigkeit« einsetzt. Das Proletariat ist in seiner
Geschichtsphilosophie das Transzendentalsubjekt, die kommunistische Partei wird
zur materialisierten transzendentalen Synthesis der Organisation. 287
Zunächst könnte es erscheinen, als würde die Kant-Kritik in der Dialektik der
Aufklärung an Lukács anschließen, denn sie geht vom Motiv der Formalisierung
aus. Horkheimer und Adorno untersuchen im Kapitel über den Marquis de Sade
das instrumentelle Moment, welches ihrer Analyse zufolge aufklärerische Vernunft
in Gestalt einer Hypostasierung des Systems verkürzt, weil es die Reflexion auf
jegliche inhaltlich bestimmten Ziele abschneidet. Die Kritik der Formalisierung der
Rationalität hat bei ihnen aber nicht, wie bei Lukács, den Vorwurf der Ohnmacht
zur Grundlage. Vielmehr wird dargelegt, dass die sich selbst absolut setzende inst-
rumentelle Vernunft das konsequente Bewusstsein einer bürgerlichen Gesellschaft
ist, die sich zur falschen, scheinbar unveränderlichen Totalität zusammenschließt

und klassenspezifischen ›Kräften‹, deren dogmatische Statuierung selber wiederum eine


Variante des Idealismus darstellt – aber (im Unterschied zu Lukács) eine geistlose. So
etwa bei Dieter Kliche, Kunst gegen Verdinglichung, in: Materialien zur ästhetischen
Theorie Theodor W. Adornos, hrsg. v. B. Lindner u. W. M. Lüdke, Frankfurt/M. 1980,
S. 219 ff. (bes. S. 223–230).
286 Vgl. Haag, a. a. O.
287 Das Proletariat erscheint als »intelligible Gesamtpersönlichkeit«, die den »höchsten
Vermittlungspunkt« darstellt »in der transzendentalen Identität von Subjekt und
Objekt«. Die »empirifizierte Erscheinung« der Subjekt-Objekt-Identität »ist die politische
Führung, durch deren zentralistische Funktion sich die bewußte geschichtliche Aktion,
die Vermittlung von Mensch und Geschichte zur Klasse, vollzieht.« (Hans-Jürgen
Krahl, Zu Lukács: Geschichte und Klassenbewußtsein, in: ders., Konstitution und
Klassenkampf, a. a. O., S. 164) – Siehe zu Lukács’ Begriff des Proletariats auch Haag,
a. a. O., S. 192 ff.
82 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

und gegen Versuche, sie zu verändern, immer erfolgreicher abdichtet. Daran ist
freilich Horkheimer und Adorno zufolge nicht »die« Vernunft schuld, sondern
deren bürgerlich-kapitalistische Reduzierung auf ein Instrument der Selbsterhal-
tung. Anders als Lukács und anders als die irrationalistische Zivilisationskritik
arbeiten Horkheimer und Adorno dialektisch den Doppelcharakter des Kantischen
Vernunftbegriffs heraus: »Kants Begriffe sind doppelsinnig. Vernunft als das
transzendentale überindividuelle Ich enthält die Idee eines freien Zusammenlebens
der Menschen, in dem sie zum allgemeinen Subjekt sich organisieren und den Wi-
derstreit zwischen der reinen und empirischen Vernunft in der bewußten Solidarität
des Ganzen aufheben. Es stellt die Idee der wahren Allgemeinheit dar, die Utopie.
Zugleich jedoch bildet Vernunft die Instanz des kalkulierenden Denkens, das die
Welt für die Zwecke der Selbsterhaltung zurichtet und keine anderen Funktionen
kennt als die der Präparierung des Gegenstandes aus bloßem Sinnenmaterial zum
Material der Unterjochung.«288
Aus der instrumentell verkürzten Rationalität, so die These der Dialektik der
Aufklärung, lässt sich kein ethisches Prinzip gewinnen, weil sie gleichsam zweck-
neutral ist und daher immanent keine Reflexion auf Moralität begründen kann.
Instrumentelle Vernunft kann lediglich (so die Definition von Horkheimer) vorge-
gebenen Zwecken die erfolgversprechendsten Mittel zuordnen, 289 aber sie kann die
Zwecke nicht mehr autonom setzen und über Qualität oder Wahrheit moralischer
Urteile oder unmoralischer Tatbestände befinden. Die gesellschaftliche Funktion
der Moral besteht darin, einen legitimatorischen Rahmen für das Zusammenleben
atomisierter Individuen herzustellen. Und in dieser Funktion ist sie unverzichtbar,
wenn sich historisch die Scheinhaftigkeit der harmonisierenden Gesellschafts-
modelle der Aufklärung erweist, denen zufolge sich das richtige und vernünftige
gesellschaftliche Ganze aus den isolierten Bestrebungen der einzelnen, die ihre
partikularen Interessen verfolgen, von selbst ergeben soll. »Die Morallehren der
Aufklärung zeugen von dem hoffnungslosen Streben, an Stelle der geschwächten
Religion einen intellektuellen Grund dafür zu finden, in der Gesellschaft auszuhal-
ten, wenn das Interesse versagt. […] Die Theorien sind konsequent und hart, die
Morallehren propagandistisch und sentimental, auch wo sie rigoristisch klingen,
oder sie sind Gewaltstreiche aus dem Bewußtsein der Unableitbarkeit eben der Moral

288 Adorno, GS 3, S. 102 f. – Vgl. dagegen die Kantinterpretation von Karl Heinz Haag, der
die Grundzüge einer »negativen Metaphysik« bei Kant herausarbeitet, die das restriktive
Moment des Vernunftbegriffs in den Hintergrund treten lassen (Der Fortschritt in der
Philosophie, a. a. O., S. 67 ff.).
289 Vgl. Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, a. a. O., 1. Kapitel (S. 15 ff.).
4.1 Die Kant-Kritik in Lucács’ Geschichte und Klassenbewußtsein 83

wie Kants Rekurs auf die sittlichen Kräfte als Tatsache.«290 Hier wird Lukács’ Kritik
an der Setzung des Sittengesetzes als »Faktum der Vernunft« aufgegriffen. Hatte
Lukács diese jedoch als Zeugnis für die Resignation des kantischen transzenden-
talen Idealismus vor der Erzeugung und Konstitution des Irrationalen gedeutet, so
interpretieren Horkheimer und Adorno sie als Hypostasierung einer Idee, hinter
der sich Herrschaftsideologie verbirgt: »Es ist der übliche Versuch des bürgerlichen
Denkens, die Rücksicht, ohne welche Zivilisation nicht existieren kann, anders zu
begründen als durch materielles Interesse und Gewalt, sublim und paradox wie
keiner vorher, und ephemer wie sie alle.«291
Diese Kritik an Kant haben die Autoren der Dialektik der Aufklärung später mo-
difiziert. Horkheimer betonte das aufklärerisch-emanzipatorische Potential in der
Bestimmung des »moralischen Willens« bei Kant, das »in der Anstrengung zu einer
Verfassung der Welt« besteht, »die jedem Vernunftwesen so viel Freiheit gewährt,
wie sie mit der Freiheit aller übrigen gerade noch verträglich ist, das Maximum an
Freiheit.«292 Der vielgescholtene, auch von Lukács bemängelte Formalismus, der sich
in Kants Moralprinzip ausdrückt, sei doch wiederum »so inhaltlich, daß aus ihm die
Achtung jedes einzelnen, das gleiche Recht für alle, die Republik und der richtige
Zustand der Menschheit folgt.«293 Zwar sei das Subjekt der kantischen Philosophie
als bürgerlich zu dechiffrieren,294 aber dennoch trage seine, auf die Verwirklichung
individueller Freiheit gerichtete, Idee einer moralisch-vernünftigen Gesellschaft
»die Wahrheit des Sozialismus in sich«, die in den pseudosozialistischen Regimes
des Ostblocks pervertiert werde, gerade weil dort »dem Sozialismus sozusagen das
Kantische Erbe ausgetrieben«295 worden sei.

290 Adorno, GS 3, S. 104.


291 Ebd., S. 104 f.
292 Max Horkheimer, Kants Philosophie und die Aufklärung, in: ders., Gesammelte
Schriften Bd. 7, Frankfurt/M. 1985, S. 168.
293 Horkheimer, a. a. O., S. 170.
294 Vgl. Horkheimer, a. a. O., S. 168; ebenso in der Dialektik der Aufklärung, a. a. O., S. 102.
295 Horkheimer, a. a. O., S. 171. – Mit diesem Gedanken knüpft Horkheimer aber nicht an die
Morallehren des »ethischen Sozialismus« neukantianischer Prägung an. Diese verstanden
– wie etwa Karl Vorländer – Kants Ethik »als geeignete Ergänzung zur Marxschen
Theorie« (Matthias Lutz-Bachmann, Marx und Kant. Geschichtsphilosophische
Analogien in ihrem Denken, in: Krise und Kritik. Zur Aktualität der Marxschen
Theorie, hg. v. G. Schweppenhäuser, D. zu Klampen u. R. Johannes, Lüneburg 1987, S.78;
Hervorhebung: G.S.). Sie haben jedoch nicht die dialektische Aufhebung kantischer
Motive bei Marx herausgearbeitet.
84 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

Adorno macht in der Negativen Dialektik das verborgene materialistische Moment


bei Kant stark. Es bestehe in der »Rettung der intelligiblen Sphäre«296, die der bereits
diskutierten Liquidation eines an sich seienden Substrats der Gegenstände von Er-
kenntnis potentiell zuwiderläuft und die imstande wäre, der Ersetzung des Wesens
erscheinender Natur durch Projektionen naturbeherrschender instrumenteller
Vernunft, in der die Dialektik der Aufklärung nach Adorno mündet, entgegenzu-
wirken. Damit arbeite Kant auf die »geheime Utopie im Begriff der Vernunft«297
hin, die er aber zugleich auch untergrabe, nämlich durch die repressive Seite, die
die Begrenzung möglicher Erkenntnis auch habe. Sie resultiere aus der dogmati-
schen Gleichsetzung von Wahrheit mit naturwissenschaftlicher Axiomatik, die den
emphatischen Begriff von Erfahrung unterlaufe, da Erfahrung auf die Registrierung
identischer Merkmale am Gegenstand von Erkenntnis reduziert werde. 298 Adorno
bestimmt die Abhängigkeit des kantischen Erkenntnismodells einer Konstitution
des Materials durch die sinnlich-logischen Vermögen des Erkenntnissubjekts von
den Produktionsverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft ideologiekritisch als
Grund für die Defizite von Kants Vernunftbegriff.299
Hier knüpft Adorno also an Lukács an, doch er verändert die Stoßrichtung
der Kritik. Denn während Lukács ja das ideologische Moment des Kantischen
Kritizismus darin sah, dass die konstitutive Tätigkeit des Subjekts sich selbst be-
grenzen muss, liegt Adorno zufolge das Moment von Unwahrheit bei Kant in dem
entqualifizierenden Zugriff auf das Erkenntnismaterial, der seine Analogie an der
gesellschaftlichen Basis im Absehen von der Gebrauchswertseite produzierter Güter
zugunsten ihres Tauschwertcharakters hat. Und darin drückt sich nach Adorno
nicht die Ohnmacht aus, gesellschaftliche Verhältnisse zu formen, sondern, im
Gegenteil, die Tendenz zur Universalisierung instrumenteller Rationalität: »Die
permanente reductio ad hominem alles Erscheinenden rüstet Erkenntnis zu nach
Zwecken innerer und äußerer Herrschaft«300.
Adorno will durch die Kritik des ideologischen Moments der theoretischen
Philosophie Kants zu ihrem Wahrheitsgehalt gelangen. Entsprechend versucht er in
seiner Auseinandersetzung mit Kants praktischer Philosophie, durch die Kritik des
idealistischen Freiheitsbegriffs eine Bestimmung der Freiheit als Negation konkreter
Unfreiheit herauszuarbeiten und sich dem kritisch-emanzipatorischen Moment im
Begriff des intelligiblen Charakters anzunähern. Nicht die ungewollte Erneuerung

296 Adorno, GS 6, 377.


297 Adorno, GS 3, S. 103.
298 Vgl. Adorno, GS 6, S. 378 ff.
299 Vgl. ebd. S. 379 f.
300 Ebd., S. 380.
4.2 Adornos Kantinterpretation 85

eines geschichtsphilosophischen Idealismus im Begriff des klassenbewussten


Proletariats als Subjekt-Objekt der Geschichte, sondern die kritische Perspektive
einer möglichen Einlösung von Freiheit und Autonomie in einer Gesellschaft, die
das individuelle mit dem allgemeinen Interesse vernünftig und transparent zu
vermitteln hätte, ist der Horizont der Kant-Kritik, die Adorno in den Vorlesungen
über Probleme der Moralphilosophie und in der Negativen Dialektik entfaltet.

4.2 Adornos Kantinterpretation


4.2 Adornos Kantinterpretation
Im Folgenden wird zunächst, dem Aufbau der moralphilosophischen Vorlesungen
gemäß, die Freiheitsantinomie der spekulativen Vernunft thematisiert. Die von ihr
ausgehende Nötigung zum Übergang in die praktische Philosophie führt dann zu
einer Diskussion von Adornos Interpretation der paradigmatischen neuzeitlichen
Begründung von Ethik: der Einführung des Sittengesetzes. Anschließend geht es
um das Problem des Praktischwerdens der Vernunft, das Adorno zufolge in der
Postulatenlehre angelegt ist, in der eine Verwirklichung des Moralischen anvisiert
wird. Von da aus gelangt Adorno zu der für ihn zentralen Dialektik im Begriff des
intelligiblen Charakters.
Die Struktur der hier vorgelegten Darstellung folgt nicht dem Aufbau von
Adornos Vorlesungen oder dem des Kant-Kapitels aus der Negativen Dialektik.
Beabsichtigt ist eine Rekonstruktion unter systematischen Gesichtspunkten, die
am Leitfaden der Kritik und Rettung des Freiheitsbegriffs orientiert ist.

4.2.1 Die Freiheitsantinomie

Der zentrale Begriff in Adornos Kantinterpretation ist der der Freiheit. Systematischer
Ausgangspunkt ist Kants Bestimmung der Freiheit in der dritten Antinomie der
Kritik der reinen Vernunft. In der Antinomienlehre untersucht Kant die Widersprü-
che, in die sich die Vernunft notwendig verstrickt, wenn sie dem ihr immanenten
Totalitätsanspruch folgt und damit die Grenzen überschreitet, die Kant zufolge
ihrer Zuständigkeit gezogen sind. Systematisch-regelgeleitete Erkenntnis ist für uns
nur im Bereich der »Erscheinungen« möglich, während das »Ansich« der Gegen-
stände unserer Erkenntnis entzogen bleibt. Mit dieser Grenzziehung erkennt Kant
einerseits das Recht der empiristischen Kritik am metaphysischen Dogmatismus
an und möchte andererseits zugleich das Wahrheitsmoment der Metaphysik retten.
Während der Empirismus letztlich ein ansichseiendes Wesen erscheinender Natur
86 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

abstrakt negiert und die Objekte der Erkenntnis auf Produkte der subjektiven
Zurichtung reduziert, zeigt Kant, dass es das Ansich notwendigerweise gibt, aber
jeder Versuch der reinen Vernunft, es affirmativ zu bestimmen, scheitern muss.
Die Vermittlung des empiristischen Erfahrungsbegriffs mit dem Anspruch auf
Objektivität der Erkenntnis leistet die Kritik der reinen Vernunft, indem sie zeigt,
dass im erkennenden Subjekt apriorische reine Verstandesbegriffe, die Kategorien,
synthetische Urteile a priori ermöglichen, das heißt das Material der Erfahrung
vorgängig zu einem einheitlichen Zusammenhang verbinden. Die »transzendentale
Einheit der Apperzeption« stiftet die »Synthesis des Mannigfaltigen« 301 im Bereich
der »Erscheinung« und konstituiert damit die begrifflich strukturierte Erkenntnis
der Natur. Wenn die Vernunft aber darüber hinausgreift und beansprucht, Aussagen
über das zu machen, was jenseits des konstituierten Materials der Erfahrung liegt,
gerät sie in Antinomien. Reflektiert die Vernunft konsequent auf die »kosmologischen
Ideen«, die sie hervorbringt, dann kommt sie zu Thesen, die einander kontradikto-
risch entgegenstehen, aber zugleich, jede für sich, bewiesen werden können. Dieser
Widerspruch der Vernunft mit sich selbst tritt in der philosophischen Tradition
als Widerstreit zwischen ontologischem Dogmatismus und Empirismus hervor,
der, in Kants Worten, die vier kosmologischen Fragen zum Gegenstand hat: »ob
die Welt einen Anfang und irgendeine Grenze ihrer Ausdehnung im Raum habe,
ob es irgendwo und vielleicht in meinem denkenden Selbst eine unteilbare und
unzerstörliche Einheit, oder nichts als das Teilbare und Vergängliche gebe, ob ich
in meinen Handlungen frei, oder, wie andere Wesen, an dem Faden der Natur und
des Schicksals geleitet sei, ob es endlich eine oberste Weltursache gebe, oder die
Naturdinge und deren Ordnung den letzten Gegenstand ausmachen, bei dem wir
in allen unseren Betrachtungen stehenbleiben müssen«302.
Das Thema der dritten Antinomie der Kritik der reinen Vernunft ist der Wider-
streit zwischen Freiheit und Determinismus. Ihre Thesis lautet: »Die Kausalität nach
Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt
insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität aus Freiheit zur
Erklärung derselben anzunehmen notwendig.«303 Die Antithesis dagegen besagt:
»Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen
der Natur.«304
Die Pointe der Beweisführung in der dritten Antinomie besteht laut Adorno
nun darin, dass sowohl die Annahme einer ersten absoluten Ursache als auch deren

301 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. R. Schmidt, Hamburg 1976, B 139.
302 Ebd., B 491.
303 Ebd., B 472.
304 Ebd., B 473.
4.2 Adornos Kantinterpretation 87

Leugnung mit dem Kausalitätsprinzip in Konflikt geraten. Im ersten Fall sei der
Verzicht auf die Frage nach der Verursachung der ersten Ursache ein Verstoß gegen
den Universalitätsanspruch der Kausalität. Im zweiten Fall führe es zur Unvollstän-
digkeit der Kausalkette, wenn man keine erste Ursache annimmt, denn dann gibt es
nur abgeleitete, keine emphatische Kausalität.305 Die uneingeschränkte Geltung der
Universalität des Kausalzusammenhangs aber ist nach Kant die Voraussetzung eines
gesetzmäßigen Zusammenhangs der Natur und ihrer geordneten Erfahrung und
Erkenntnis. In dieser, wie Adorno hervorhebt, 306 impliziten Beweisführung Kants
wird die Annahme der transzendentalen Freiheit gerade aus der Naturkausalität
heraus begründet, weil diese andernfalls ungereimt wäre.307
Adornos Interpretation der dritten Antinomie ist der Versuch, »immanent zu
zeigen, daß die Kategorien der Freiheit und der Unfreiheit nicht nur, wie Kant
dargelegt hat, auf Antinomien führen, sondern daß sie durcheinander wechselseitig
vermittelt sind.«308
Kant argumentiert in der Beweisführung der Thesis mit dem Verweis auf einen
der Vernunft widersprechenden regressus ad infinitum, der unweigerlich eintrete,
wenn einerseits jedes Glied in der Kausalkette des Naturzusammenhangs seine
Ursache in einem vorhergehenden hat und andererseits das »Gesetz der Natur«
darin besteht, »daß ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache nichts geschehe«.
Gibt es nur Naturkausalität, dann läßt sich keine »Vollständigkeit der Reihe auf
der Seite der voneinander abstammenden Ursachen« angeben, und die behauptete
Universalität der Naturkausalität genügt ihrem eigenen Begriff nicht, weil sie in
ihrer »unbeschränkten Allgemeinheit« dann nicht bewiesen werden kann.
Dieser Beweis der Notwendigkeit, »transzendentale Freiheit«309 anzunehmen,
impliziert Adorno zufolge einen dialektisch-logischen Gedankengang, der über
Kants expliziten Begriff von Dialektik bereits objektiv hinausgelangt ist. »Er zeigt
[…], daß die Kausalität selbst […] in der Natur gar keinen Sinn hätte, wenn man
nicht den Begriff der Freiheit gleichzeitig einführt; das heißt die Kausalkette setzt die
Vollständigkeit der Gegebenheit der Bedingungen an, sonst verliert der Begriff der
Kausalität seinen Sinn. Auf der anderen Seite ist die Kausalität selber ein regressus
ad infinitum, und die Vollständigkeit, deren die Kausalkette bedarf, um bündig zu
sein, ist möglich nur, wenn gegenüber der Kausalkette ein ursprüngliches Moment
von Freiheit eingesetzt wird. Kausalität wäre überhaupt nur durch Freiheit möglich.

305 Vgl. Adorno, PM 2, 28. 5. 1963 (Nachgelassene Schriften, Bd. 10, a. a. O., S. 69 ff.).
306 Vgl. ebd. (Nachgelassene Schriften, S. 79)
307 Vgl. Adorno, PM 2, 16. 5. 1963 (Nachgelassene Schriften, Bd. 10, S. 61 ff.).
308 Adorno, PM 1, 12. 2. 1957.
309 Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., B 474.
88 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

Der Begriff der Notwendigkeit ist selber durch den Begriff der Freiheit vermittelt
und umgekehrt.«310 Damit wird jedoch Freiheit zur »Kausalität sui generis«311. Die
erkenntnistheoretische Annahme einer »Kausalität aus Freiheit« ist für Adornos
Interpretation von entscheidender Bedeutung, denn in ihr ist die Kontamination
von Freiheit und Notwendigkeit angelegt, die Kants praktischer Philosophie ihre
spezifische, dialektische Gestalt gibt.
Bevor nun gezeigt wird, wie Adorno aus der Vermittlung von Freiheit und Kau-
salität heraus den gesellschaftlichen Gehalt der dritten Antinomie zutage fördert, ist
die systematische Voraussetzung dieses Gedankengangs zu explizieren: die Kritik
des kantischen Kausalitätsbegriffs. Sie besteht im wesentlichen aus drei Elementen:
der Kritik an der subjektivistischen Hypostasierung der Kausalität, dem Nachweis
der formalen Unstimmigkeit ihrer Konstitutivität für das konstituierende Subjekt,
und schließlich dem Hinweis, dass das Kausalitätsprinzip hinter dem eigenen
Anspruch zurückbleibt.
Hatte der Leibniz-Wolff’sche Rationalismus Kausalität, gemäß dem Satz vom
zureichenden Grund, als eine mit innerer Notwendigkeit versehene Beziehung
verstanden, die den Dingen selbst innewohnt, zwischen denen das Verhältnis
von Ursache und Wirkung besteht, so verlegte Hume sie in die Sphäre des Sub-
jektiv-Psychischen, indem er sie als Produkt einer bloß konventionell bestimmten
Assoziationstätigkeit des erkennenden Subjekts aufwies, die auf die Gegenstände
der Erkenntnis projiziert wird. 312 Für Kant ist Kausalität dagegen eine Kategorie:
konstitutiv für die Erfahrung der Erscheinungen, weil sie die durchgängige Ord-
nung des Materials der Anschauung gemäß dem Einheitsprinzip des Denkens
stiftet. Kausalität ist also weder den Dingen an sich immanent noch rein äußer-
liche, subjektiv-konventionelle Verknüpfung von zwei aufeinanderfolgenden
Zuständen. Kant macht gegen Hume die Substantialität des Kausalverhältnisses
geltend. Er zeigt, dass es synthetische Urteile a priori gibt. Wissenschaftliche Er-
kenntnis erscheinender Natur wäre ohne den dadurch gestifteten gesetzmäßigen
Zusammenhang nicht zu haben. Aber dieser Zusammenhang selber ist bei Kant
das Produkt der Vernunft.
Hier setzt Adornos Kritik an, in der sich ein Hauptmotiv der Negativen Dialektik
ausdrückt: Kants Restituierung des Gedankens der Objektivität erscheinender Natur
sei zugleich deren potentielle Auflösung in die Konstitutionsprinzipien subjektiver
Vernunft. »Kausalität soll nicht in den Gegenständen und ihrem Verhältnis, statt

310 Adorno, PM 1, 12. 2. 1957.


311 Adorno, PM 2, 16. 5. 1963 (Nachgelassene Schriften Bd. 10, S. 63)
312 Zu Humes Kausalitätsbegriff vgl. die Darstellung von Kuno Fischer, Geschichte der
neuern Philosophie, Bd. 10: Francis Bacon und seine Schule, Heidelberg 1904, S. 500 ff.
4.2 Adornos Kantinterpretation 89

dessen lediglich in subjektivem Denkzwang entspringen. Daß ein Zustand mit


dem folgenden etwas Wesentliches, Spezifisches zu tun haben könnte, gilt auch für
Kant als dogmatisch.«313 Adorno will nicht hinter Kant zurückgehen und affirma-
tive Aussagen über das Ansich der Gegenstände und ihrer Relationen zueinander
einklagen, sondern auf die Problematik aufmerksam machen, die sich einstellt,
wenn das subjektive Einheitsprinzip, das der Struktur des Denkens notwendig
innewohnt, hypostasiert und dem, was nicht Denken ist, als Wesen zugesprochen
wird. »Bei Kant […] wird Kausalität zur Funktion subjektiver Vernunft, und damit
das unter ihr Vorgestellte immer dünner. Es zergeht wie ein Stück Mythologie.«314
Dass Vernunft »der Natur die Gesetze vorschreibt oder vielmehr das Gesetz, besagt
nicht mehr als Subsumtion unter die Einheit von Vernunft. Sie überträgt diese
Einheit, ihr eigenes Identitätsprinzip, auf die Objekte und unterschiebt sie dann
als deren Erkenntnis.«315
Kritisiert wird hier gemäß dem Postulat vom »Vorrang des Objekts«316 – dem
Kant, wie Adorno hervorhebt, von den Philosophen des Idealismus noch die
meiste Gerechtigkeit widerfahren lässt –317 die Reduzierung der Beschaffenheiten
der Erkenntnisobjekte selbst, die freilich immer nur durch das reflektierende
Subjekt hindurch zu haben sind, auf autonome Bestimmungen des Subjekts. Der
Punkt, an dem das autonome Denken seiner selbst ganz mächtig werde und als
Reflexion auf sich selbst und seine konstitutive Funktion die ontologischen Fesseln
der traditionellen Metaphysik abstreift, sei zugleich der Punkt, an dem es in die
Hypostasierung seiner selbst umschlägt: in subjektive Vernunft, nach Horkheimer
»die Fähigkeit, Wahrscheinlichkeiten zu berechnen und dadurch einem gegebenen
Zweck die richtigen Mittel zuzuordnen«318. Diese hat sich in der Neuzeit von ihrem
dialektischen Gegenpol zu lösen begonnen, nämlich vom Konzept einer objektiven
Vernunft, die in den Strukturen der Wirklichkeit selbst als deren Prinzip angelegt
sei. Als verabsolutierte ist die subjektiv-instrumentelle Rationalität so unwahr
wie die objektive der dogmatischen Metaphysik, an deren Stelle sie sich setzt.
Denn sie treibe noch den letzten Gedanken an eine der subjektiven Zurichtung
entzogene qualitative Bestimmtheit der Sachen selbst aus. Das Bedürfnis, Natur

313 Adorno, GS 6, S. 245.


314 Ebd., S. 245.
315 Ebd.
316 Ebd., S. 186.
317 Vgl. Ebd., S. 185. u. 272 – Siehe dazu Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, a. a. O.,
S. 67 ff. u. S. 160–163.
318 Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, a. a. O., S. 17.
90 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

zu beherrschen, verdränge schließlich dasjenige, sie zu erkennen, mit dem es von


jeher verbunden war.
Die Rationalitätskritik der Negativen Dialektik ist aber keine romantisierende,
sondern eine immanente. Sie zeigt, dass der Zusammenhang von Vernunft und
Herrschaft unausweichlich dazu führt, dass sich Herrschaft dem Denken aufprägt.
Der Gedanke kann sich seines Objekts nur im Begriff versichern. Zu Begriffen
kann das erkennende Subjekt nur kommen, indem es so weit von der Mannigfal-
tigkeit der Bestimmungen eines Gegenstands absieht, wie es nötig ist, wenn die
identisch bleibenden Eigenschaften des Objekts erkennbar werden sollen. Dieser
Abstraktionsvorgang reduziert das Objekt notwendigerweise auf die Merkmale
seiner Identität und vernachlässigt das nicht Identische an ihm. Autonomes
Denken kann daher Wesen und Erscheinung seiner Gegenstände auseinander-
halten. So kann es die durch begriffliche Vermittlung strukturierte Wirklichkeit
an dem in ihr verkörperten rationalen Anspruch messen und damit überhaupt
erst Kritik üben. Das ist die befreiende Kraft autonomen Denkens, die Adornos
Rationalitätskritik gerade nicht bestreitet. Denn sie ist die Voraussetzung dafür,
dass Denken auf seinen spezifischen Mangel reflektieren kann, den es aus eigener
Kraft nicht aufzuheben imstande ist. Denken zielt darauf ab, seine Gegenstände
durch Identifizieren in ihrem Wesen zu erkennen. Doch gerade das muss ihm durch
den Identifikationsvorgang selber, wie Adorno zeigt, misslingen. Es bleibt hinter
seinem Anspruch zurück, weil es seine Objekte immer nur als Exemplare von etwas
anderem, einem Allgemeinen, auffassen und bestimmen kann. Dann aber sagt es
nicht, was die Objekte selbst sind. Dass begriffliches Denken – und anderes gibt es
nicht – das nicht Identische an den Erkenntnisgegenständen nicht positiv bestim-
men kann, ist Ausdruck einer objektiven Aporie. Adornos ›Nichtidentisches‹ ist
dementsprechend kein affirmativer Begriff, dessen Gehalt jenseits der Grenzen von
Rationalität durch ›ganz andere‹, nicht-rationale Erkenntnisinstanzen dingfest zu
machen wäre. »Unmittelbar ist das Nichtidentische nicht als seinerseits Positives
zu gewinnen.«319 Es ist das negativ-begriffliche Resultat der bestimmten Negation
des Identitätsbegriffs. Diese Aporie, der konsequentes Denken nicht entgehen kann,
hat Adorno als den paradoxalen Fluchtpunkt seiner philosophischen Bemühung
beschrieben: »Philosophie ließe, wenn irgend, sich definieren als Anstrengung, zu
sagen, wovon man nicht sprechen kann: dem Nichtidentischen zum Ausdruck zu
helfen, während der Ausdruck immer doch es identifiziert.«320

319 Adorno, GS 6, S. 161.


320 Adorno, GS 5, S. 336. – Zur Interpretation des Begriffs des Nichtidentischen vgl.
Schnädelbach, Dialektik als Vernunftkritik, in: ders., Vernunft und Geschichte, a. a. O.,
S. 182 ff.; Thyen, a. a. O., S. 204 ff., Brunkhorst, a. a. O, S. 262 f. und meinen Aufsatz:
4.2 Adornos Kantinterpretation 91

Im Zusammenhang der kritischen Erörterung des Kausalitätsbegriffs bedeutet


das: Selbstreflektierendes Denken kann über die Subreption hinausgelangen, ver-
mittels derer es sein eigenes Kausalgesetz den Dingen unterschiebt, die es erken-
nen will – dann nämlich, wenn es sich die Intention auf eine »Präponderanz des
Objekts«321 zu eigen macht. »Würde Kausalität als eine – wie immer auch subjektiv
vermittelte – Bestimmung der Sachen selbst aufgesucht, so öffnete sich in solcher
Spezifikation, gegenüber dem unterschiedslos Einen reiner Subjektivität, die Per-
spektive von Freiheit. Sie gälte dem von Zwang Unterschiedenen.«322
Zur Kritik an der inhaltlichen Entleerung des Kausalitätsbegriffs, in der sich die
idealistische Tendenz zur objektlosen Innerlichkeit manifestiert, tritt bei Adorno ein
gewissermaßen immanent kritisches Argument. Gegen Hume hatte Kant zu Recht
geltend gemacht, dass das Bewusstsein gar nicht umhin könne, noch im Versuch
der Destruktion des Kausalitätsbegriffs Kausalität als seine eigene innere Form
zugrunde zu legen. Wenn aber das Subjekt als Konstituens immer schon der Kau-
salregel unterworfen ist, dann unterscheidet es sich darin nicht von den Konstituta;
das heißt, die Ungereimtheit liegt darin, dass schon für das Konstituierende die
Regel konstitutiv ist, die erst für das Konstituierte gelten soll. Aus dieser formalen
Unstimmigkeit ergibt sich die inhaltliche Konsequenz, dass reine Vernunft, nach
Kant Inbegriff der Freiheit, vorab immer schon mit Kausalität im Sinne von Un-
freiheit verschränkt ist. »Unterliegt bereits die Konstitution der Kausalität durch
die reine Vernunft, die doch ihrerseits die Freiheit sein soll, der Kausalität,« folgert
Adorno, »so ist Freiheit vorweg so kompromittiert, daß sie kaum einen anderen
Ort hat als die Gefügigkeit des Bewußtseins dem Gesetz gegenüber.«323
Die Eindimensionalität, die sich laut Adorno durch die Reduktion des Kausal-
verhältnisses auf das subjektive Gesetz des Denkens ergibt, führe schließlich dazu,
dass Kants Modell der Kausalketten hinter der Wirklichkeit zurückbleibt, die es
erklären will. Statt nur gleichsam ›vertikal‹ einzelne Kausalreihen zurückzuver-
folgen, hätte adäquate Erkenntnisbemühung der »Unendlichkeit des Verwobenen
und sich Kreuzenden«, die sich aus der prinzipiell unauflösbaren Verstricktheit
von einzelnen Ereignissen ergibt, »horizontal« nachzuspüren; Adorno spricht von
»Kausalnetzen« und verweist darauf, dass hier die »positive Unendlichkeit, der
die Kritik im Antinomienkapitel gilt«324, gewissermaßen ihr Fundament in der

Adornos Begriff der Kritik, in: Emanzipationstheorie und Ideologiekritik, a. a. O.,


S. 39 ff.
321 Adorno, GS 6, S. 184.
322 Ebd., S. 247.
323 Ebd., S. 246.
324 Ebd., S. 263.
92 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

Sache hat und unvermeidlich ist. Versucht das Denken, sie loszuwerden, indem
es die Forderung nach Einstimmigkeit, die für es selbst unverzichtbar ist, auf die
Gegenstände überträgt, dann kann es diese nicht mehr zureichend erklären. »Kein
Weg führt von seinem [sc. dem kantischen] Modell zu durchgeführten Kausalbe-
stimmungen. Weil er vom Kausalverhältnis lediglich als von einem Prinzip handelt,
denkt er an der prinzipiellen Verwobenheit vorbei. Bedingt ist dies Versäumnis
von der Verlagerung der Kausalität ins transzendentale Subjekt.«325
Dabei werden die sublimierten Realitätsgehalte, die sich im Begriff des Kausalen
sedimentiert haben, unterschlagen. Denn neben seiner rationalen Geltung hat dieser
Begriff auch die Seite seiner historischen, gesellschaftlich vermittelten Genesis. Mit
Durkheim verweist Adorno auf das »Generationsverhältnis«326, das der Vorstel-
lung von Kausalität gleichsam als Vorbild gedient habe. Indem Adorno deutlich
macht, dass die basalen gesellschaftlichen Strukturen, die stets Gewaltverhältnisse
waren, dem Denken nicht äußerlich bleiben und seine Begriffe bis ins Innerste
beeinflussen, ohne dass die Begriffe deshalb einfach widerspiegelungstheoretisch
darauf abzuziehen wären,327 will er zeigen, dass die konsequente Formalisierung des
Kausalitätsbegriffs, seine Entleerung vom inhaltlichen Bezug auf naturhafte und
historisch-gesellschaftlich vermittelte Wirklichkeit, selber gesellschaftlich bedingt ist.
Aus Kant-immanenter Sicht setzt sich Adornos Interpretation des Kausalitäts-
begriffs zwei erkenntnistheoretischen Einwänden aus. Der erste lautet, dass Kant
selbst in der Transzendentalen Deduktion die Hume’sche Subjektivierung der
Kausalität ja darum kritisiert, weil »die Wirkung mit der Ursache im Objekte (d.i.
notwendig) verbunden«328 sei. Andernfalls ließe sich der Grundgedanke der Kritik
der reinen Vernunft nicht halten, die nach Haag »einen objektiven Zusammenhang
der Natur in höchster Potenz«329 intendiert, der freilich nur negativ bestimmbar ist.
Begreift man mit Haag also die Kritik der reinen Vernunft als ein Stück »negativer
Metaphysik«, dann trifft die Kritik an der Ent-Objektivierung der Kausalität nicht zu.
Kant definiert zwar Kausalität vom Subjekt aus, denn er versteht sie als einen
regelhaften Verknüpfungsvorgang unseres Verstandes, der apriorische Erkenntnis
ermöglicht. Die Frage, wieso die derart erzeugte Regelhaftigkeit auch für die tat-
sächlichen Gegenstände gilt, beantwortet Kant, indem er Erkenntnis als Totalität
versteht, die dementsprechend durchgängig regelhaft verknüpft ist. Dieser Totalität
subjektiver Erkenntnis muss eine Objektivität gegenüberstehen, die in ihrer To-

325 Ebd.
326 Ebd., S. 264.
327 Vgl. ebd.
328 Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 168.
329 Haag, Der Fortschritt in der Philosophie, a. a. O., S. 75.
4.2 Adornos Kantinterpretation 93

talität wiederum nicht von jener produziert sein kann. Die Schnittstelle zwischen
der Totalität der Erkenntnis und der Totalität ihrer wirklichen Gegenstände ist die
Naturwissenschaft. Ihre regelgeleitete Naturerkenntnis und Naturbeeinflussung
indiziert die Angemessenheit verbindlicher (weil konsistenter) Erkenntnis an
ihre Gegenstände. Kant identifiziert nicht, wie der Marburger Neukantianismus,
Erkennen mit Erzeugen. Denn er fragt ja gerade nicht mehr metaphysisch nach
dem Hervorgang der Erkenntnisgegenstände, nach dem Grund ihres Seins. Der
Kritik der reinen Vernunft zufolge gibt der Geist der Natur das Gesetz nicht in
ontologischer Weise vor. Er untersucht vielmehr objektive Naturvorgänge, indem
er sie partikular reproduziert. Um dabei ihr Gesetz erkennen zu können, muss er
es zwar nach theoretischen Vorannahmen konstruiert haben, doch das ist nicht
gleichbedeutend damit, dass es durch subjektive Projektion ersetzt würde.
Ein weiterer Einwand lautet, dass Adorno den Doppelcharakter des Kausa-
litätsbegriffs nicht berücksichtigen würde.330 Dieser erfordere eine Bedeutungs-
unterscheidung von Naturkausalität und Kausalität aus Freiheit. Aus Kantischer
Sicht würde demzufolge erst die Unterschlagung der substantiellen Differenz von
empirischem und intelligiblem Bereich die These erlauben, dass Freiheit auf ihr
Gegenteil reduziert würde.331 Sicher wird Adorno Kant in erkenntnistheoreti-
scher Hinsicht hier nicht gerecht. Wer sich aber deshalb ganz auf einen orthodox
Kantischen Standpunkt zurückzieht, dem entgeht, dass Adornos Argumentation
gleichwohl die Problematik der Kantischen Konstruktion zu ergründen hilft, die
dann im Hinblick auf die Moralphilosophie wichtig wird.
Gerade in der Ausblendung der gesellschaftlichen Wirklichkeit drückt sich
nach Adorno der gesellschaftliche Gehalt der dritten Antinomie aus. Die Frage, ob
Freiheit oder Determinismus herrscht, lässt sich zwar beantworten, indem dargetan
wird, dass Freiheit denknotwendig ist und sich zugleich mit ihrem Gegenteil, der
durchgängig herrschenden Naturkausalität, auch vermitteln lassen muss. Doch
diese Antwort, die Kant in Gestalt der Lehre vom empirischen und intelligiblen
Charakter in der Auflösung der dritten Antinomie gibt, 332 reproduziert lediglich

330 Vgl. Carl Braun, Kritische Theorie versus Kritizismus, Berlin; New York 1983, S. 143 ff.
331 »Die intelligible Ursache aus Freiheit hat transzendentale und damit negative Bedeutung;
ihr Vorausgesetztsein heißt nicht, Kausalität werde bei Kant in letzter Instanz der
Subjektivität zugerechnet. Das intelligible Vermögen, das selbst als Ursache von
Erscheinungen aufgefaßt werden kann, bedarf der Kausalität der Erscheinungen in
der natürlichen Welt.« (Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung, a. a. O., S. 178).
332 »Es muß aber eine jede wirkende Ursache einen Charakter haben, d.i. ein Gesetz ihrer
Kausalität, ohne welches sie gar nicht Ursache sein würde. Und da würden wir an einem
Subjekte der Sinnenwelt erstlich einen empirischen Charakter haben, wodurch seine
Handlungen, als Erscheinungen nach beständigen Naturgesetzen im Zusammenhang
94 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

das Problem und vertagt seine Lösung. Kants Verdoppelung des Subjekts in phaino-
menon und noumenon erlaubt es zwar, die denknotwendige »absolute Spontaneität
der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von
selbst anzufangen«333, mit der Geltung des Kausalgesetzes zusammenzudenken, das
»durchgängige und gesetzesmäßige Einheit der Erfahrung«334 des Naturzusammen-
hangs gewährleistet – aber nur auf dem Boden des transzendentalen Idealismus.
Bezogen auf reale Subjekte, das heißt auf die Frage nach Freiheit oder Determina-
tion geschichtlich-gesellschaftlich situierter Individuen, bleibt der Dualismus der
Charaktere die Antwort schuldig. »Kant hat den Konflikt von Faktizität – ›Natur‹
– und Denknotwendigem – der intelligiblen Welt – dichotomisch geschlichtet.«335
Er trage zwar dem subjektiven Erfahrungsgehalt Rechnung, der in der Ambivalenz
von Freiheit und Unfreiheit besteht; das tue er jedoch in falscher Gestalt, nämlich
indem er die realen, gesellschaftlichen Bedingungen dieser ambivalenten Selbst-
erfahrung verschlüsselt und als transzendentale Gegebenheiten verabsolutiert.336
Losgelöst von der Reflexion auf die gesellschaftliche Bestimmtheit ihres Gegen-
stands bekommt die Frage nach Freiheit oder Determinismus daher einen im strengen
Sinn ideologischen Charakter: Sie ist Ausdruck des gesellschaftlich notwendigen
Scheins. In der frühen Vorlesung skizziert Adorno das Problem: »Die Antinomie
rührt daher, daß das je einzelne Individuum, das kein absolutes ist und den Schein
seiner Absolutheit selber nur der Struktur einer individualistischen Gesellschaft
verdankt, so behandelt wird, als ob es das Substrat von Freiheit und Unfreiheit
wäre; das aber ist die Unwahrheit, das heißt, die Annahme einer bloß individuellen
Freiheit als einer absoluten muß deshalb notwendig auf Widersprüche führen, weil
frei sich handeln läßt überhaupt nur in einer freien Gesellschaft, weil ein jedes, sei
es auch ein seinem eigenen Substrat nach scheinbar freies, Handeln dadurch, daß
es in diese Gesellschaft fällt, eben doch ein unfreies ist. Umgekehrt rührt die These

ständen, und von ihnen, als ihren Bedingungen, abgeleitet werden könnten, und also,
mit diesen in Verbindung, Glieder einer einzigen Reihe der Naturordnung ausmachten.
Zweitens würde man ihm noch einen intelligiblen Charakter einräumen müssen,
dadurch es zwar die Ursache jener Handlungen als Erscheinungen ist, der aber selbst
unter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit steht, und selbst nicht Erscheinung ist.
Man könnte auch den ersteren den Charakter eines solchen Dinges in der Erscheinung,
den zweiten den Charakter des Dinges an sich selbst nennen.« (Kant, Kritik der reinen
Vernunft, a. a. O., B 567).
333 Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., B 474.
334 Ebd., B 476.
335 Adorno, GS 6, S. 212.
336 Vgl. ebd. S. 258 ff. – Auf Adornos Auseinandersetzung mit der Lehre vom empirischen
und intelligiblen Charakter wird im Verlauf dieses Kapitels noch einzugehen sein.
4.2 Adornos Kantinterpretation 95

von der universalen Determiniertheit wesentlich daher, daß, solange der Gegensatz
zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen in der Gesellschaft nicht real
aufgehoben ist, das Individuum in der Tat sich an allen Stellen von der Gesellschaft
eingeschränkt und beengt, sich als Objekt und nicht als Subjekt erfährt.« Das be-
zeichnet Adorno als die »eigentliche Lösung des Determinismus-Problems« eine
Lösung, die selber wiederum ein Problem darstellt, aber »ein praktisches Problem
und kein theoretisches, […] in dem Sinn, […] daß von Freiheit nur gesprochen
werden kann als der real herzustellenden und nicht als von einem Gegebenen.«337

4.2.2 Das Sittengesetz

Der Übergang zum Problem der gesellschaftlichen Beziehung von Allgemeinem


und Besonderem338 und damit zum Status des Individuums, seinen Handlungen
und seinem Interesse ist zugleich der Punkt, an dem Adornos Auseinandersetzung
mit der erkenntniskritischen Erörterung des Verhältnisses von Kausalität und
Freiheit überleitet zur Betrachtung der Willensfreiheit und ihrer Beziehung auf das
Sittengesetz in der praktischen Philosophie Kants. Dort ist die Notwendigkeit, die
Lehre vom Sittengesetz einzuführen, systemimmanent begründet. Die Darlegung
der Denknotwendigkeit von Freiheit erfolgt in der theoretischen Philosophie
ex negativo und verlangt nach einer positiven Bestimmung der Freiheit, die als
Grundlage der Möglichkeit und Wirklichkeit von Moralität dienen kann. Damit ist
das Problem gestellt, das für die neuzeitliche Philosophie zentral ist: wie Vernunft
praktisch werden kann. Adorno verweist darauf, dass der immanent-moralphilo-
sophischen Erörterung dieses Problems eine historische Reflexion vorauszugehen
hat, die den in die moralphilosophischen Begriffe eingegangenen gesellschaftlichen
Gehalt transparent macht.
Die Freiheitsemphase der praktischen Philosophie der Neuzeit ist nicht zu
trennen vom politischen Interesse des Bürgertums an der Abschaffung feudaler
Privilegien und klerikaler Bevormundung. Vor diesem Hintergrund erst kann das
Individuum zum Subjekt der praktischen Philosophie werden, das auf sich selbst
reflektiert und seine Handlungen, zumindest potentiell, selbst bestimmt. Das ist
die Voraussetzung für die Formulierung des modernen Freiheitsbegriffs. »Ehe
das Individuum in dem für Kant selbstverständlichen, neuzeitlichen Sinn sich
bildete, der nicht einfach das biologische Einzelwesen sondern das durch dessen
Selbstreflexion als Einheit erst konstituierte meint […], ist es anachronistisch, von

337 Adorno, PM 1, 12. 2. 1957.


338 Vgl. ebd.
96 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

Freiheit, von realer wie von geforderter, zu reden.«339 Doch das Subjekt der prak-
tischen Philosophie ist zugleich auch Objekt der politischen: Das Individuum ist
frei nur als Bürger, das heißt als Bestandteil eines politischen Gefüges, das durch
Herrschaft gekennzeichnet ist. Daher sind in der theoretischen Konzeption des
neuzeitlichen Individuums Freiheit und Unfreiheit von Anfang an miteinander
verschränkt. Das ist Adorno zufolge der gemeinsame Nenner der politischen Phi-
losophie der Neuzeit – ob sie nun, wie in Hobbes’ Theorie des Absolutismus, die
gleichwohl schon genuin bürgerliche Züge trägt, im Namen des Determinismus
argumentiert;340 ob sie wie bei Rousseau die volonté générale artikulieren will341
oder, wie der Liberalismus, gegen die Einschränkungen zu Felde zieht, die die
freie Entfaltung der ökonomischen Eigendynamik im frühen Bürgertum behin-
dern. »Seit dem siebzehnten Jahrhundert hatte die große Philosophie Freiheit als
ihr eigentümlichstes Interesse bestimmt; unterm unausdrücklichen Mandat der
bürgerlichen Klasse, sie durchsichtig zu begründen. Jenes Interesse jedoch ist in
sich antagonistisch. Es geht gegen die alte Unterdrückung und befördert die neue,
welche im rationalen Prinzip selbst steckt. Gesucht wird eine gemeinsame Formel
für Freiheit und Unterdrückung«342.
Welche Art von »neuer Unterdrückung« ist es, die sich im rationalen Prinzip
versteckt, das der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegt? Die Antwort hat zwei
Aspekte. Zunächst ist darauf zu verweisen, dass die Grundlage von Adornos Re-
flexion die marxsche Analyse der basalen Struktur der bürgerlichen Gesellschaft
und ihres inneren Antagonismus ist.
Während im Feudalismus die zur gesellschaftlichen Reproduktion notwendige
Arbeit in personalen Abhängigkeitsverhältnissen, also vermittelt durch direkte
Herrschaft, verrichtet wurde, setzt die bürgerliche Gesellschaft Marx zufolge die
formale Freiheit und Gleichheit von Rechtspersonen voraus, deren Vergesellschaftung
auf Verträgen beruht; das heißt einerseits auf freier Übereinkunft, andererseits auf
der Tatsache, dass Sanktionsinstanzen vorhanden sind, die die Durchsetzung der
gegenseitigen Ansprüche institutionell gewährleisten. Diese Vergesellschaftungs-
form ist nun dadurch gekennzeichnet, dass ihre arbeitenden Mitglieder allesamt
Warenbesitzer sind, die miteinander in Tauschbeziehungen treten. Doch die Freiheit
und Gleichheit der Warenbesitzer, die diese Gesellschaft realisiert, ist zugleich auch
nur Schein. Die Abschaffung feudaler Privilegien und die Überwindung unmit-
telbarer Herrschaftsverhältnisse vollziehen sich historisch durch die gewaltsame

339 Adorno, GS 6, S. 218.


340 Vgl. ebd., S. 217.
341 Vgl. Adorno, GS 10, S. 780.
342 Adorno, GS 6, S. 213.
4.2 Adornos Kantinterpretation 97

Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln.343 Den Arbeitsvertrag,


das Kernstück der Vergesellschaftung, gehen zwei gleichberechtigte Warenbesitzer
freiwillig ein. Real sind sie jedoch alles andere als gleich. Mindestens einer von
ihnen ist nicht wirklich frei, weil er nur seine Arbeitskraft besitzt, die er mangels
anderer Waren verkaufen muss, während der andere darauf nicht angewiesen ist,
weil er über Produktionsmittel verfügt, die zur Herstellung von Waren nötig sind.
Andererseits ist aber auch letzterer nicht schlechthin frei, denn er muss Arbeitskraft
kaufen, um sein Kapital verwerten zu können. Die bürgerliche Gesellschaft, so
Marx, wird ihrer historischen Idee nicht gerecht, denn ihr Anspruch auf universale
Emanzipation, mit dem das Bürgertum seine politische Herrschaft erkämpft hatte,
wird eingezogen und das partikulare Interesse der Besitzbürger legt seine Maske
des universal-menschheitlichen Interesses ab. Freiheit und Gleichheit werden ein
Stück weit realisiert, aber nur formal – und damit bleiben sie auch scheinhaft. Oder
anders gesagt: Anstelle der alten Unfreiheit herrscht formale Freiheit, die durchs
Wertgesetz vermittelt und damit zugleich auch neue Unfreiheit ist.344 Darin folgt
Adorno Marx. In einer später gestrichenen Stelle aus dem Typoskript der Negati-
ven Dialektik hat er diesen Sachverhalt in seiner Beziehung auf Kants Ethik sehr
deutlich bezeichnet: Kant »hat Freiheit als Möglichkeit bestimmt und sie doch als
Wirkliches in der Wirklichkeit lokalisieren müssen, Sprecher jenes Bürgertums,
das die formale Garantie der Freiheit mit deren Verwirklichung verwechselt und in
einem geschichtlichen Augenblick verwechseln durfte, da die bürgerlichen Ideale
revolutionär für das gesellschaftliche Gesamtsubjekt einstanden, ihre Partikularität
noch nicht dem vierten Stand gegenüber«345 deklariert werden musste.
Zur werttheoretisch fundierten Bestimmung des Antagonismus der bürgerlichen
Gesellschaft tritt die Kritik an der Ambivalenz des mit dieser Gesellschaftsform
geschichtsmächtig gewordenen Prinzips rationaler Identität. Adorno verweist damit
auf den »geschichtsphilosophischen Gesamtprozeß der Subjektivierung«346. Der
Zuwachs an Rationalität bedeute phylogenetisch wie ontogenetisch immer auch
zunehmende Unterdrückung. Im Prozess der Behauptung gegen die äußere Natur
bildeten die Menschen ihre sich gegen das Diffuse, naturhaft Chaotische durchhal-
tende Identität heraus, mit deren Hilfe sie alle diffusen und naturhaften Regungen
in sich selbst einem Einheitsprinzip unterwerfen können. Naturbeherrschung
und Selbstbeherrschung, so die tiefenpsychologische und geschichtsphilosophi-

343 Vgl. Marx, Das Kapital, 1. Bd., a. a. O., S. 741 ff.


344 Zu Adornos Marx-Rezeption vgl. seine Texte »Reflexionen zur Klassentheorie« (GS 8,
S. 373 ff.) und »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?« (GS 8, S. 354 ff.).
345 Typoskript im Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt/M., Ts 15041.
346 Adorno, Philosophische Terminologie, a. a. O., Bd. 2, S. 302.
98 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

sche Konstruktion der Dialektik der Aufklärung, bilden sich in Wechselwirkung


heraus unter dem zunächst naturhaften äußeren Zwang, das Leben der Menschen
zu reproduzieren; ein Zwang, der sich als gesellschaftlicher fortsetzt und in den
Subjekten als Zwang zur Selbsterhaltung objektiviert, das heißt zur psychischen
Instanz wird.347 Diese psychische Instanz ist Adornos (an Nietzsche und Freud
anknüpfender) Reflexion zufolge der Brennpunkt des neuzeitlichen Rationalitäts-
prinzips, das erst in der entfalteten bürgerlichen Gesellschaft ganz herausgebildet
wird. Rationale Identität des Selbst sei die Grundlage der Herausbildung eines
Charakters und eines Willens – und damit sowohl Bedingung der Möglichkeit
der Selbstbehauptung, also Freiheit von äußerem Naturzwang, als auch virtuelle
Durchstreichung des Selbst, also Unfreiheit, die sich als äußerer und verinnerlichter
Naturzwang zweiten Grades ausdrückt. »Was sich […] in den Menschen, aus ihren
Reflexen und gegen diese, objektiviert hat, Charakter oder Wille, das potentielle
Organ der Freiheit, unterdrückt auch diese. Denn es verkörpert das herrschaftli-
che Prinzip, dem die Menschen fortschreitend sich selbst unterwerfen. Identität
des Selbst und Selbstentfremdung begleiten einander von Anbeginn«348. Vor dem
Hintergrund dieser zugleich sozialpsychologischen und -philosophischen Konst-
ruktion folgert Adorno für das moralphilosophische Problem von Willensfreiheit
und Determinismus: »Bedingung von Freiheit, ist Identität unmittelbar zugleich das
Prinzip des Determinismus. Wille ist soweit, wie die Menschen sich zum Charakter
objektivieren. Damit werden sie sich selbst gegenüber […] zu einem Äußerlichen,
nach dem Modell der auswendigen, der Kausalität unterworfenen Dingwelt.«349
Die dualistische Konstruktion des Individuums ist demnach also falsches
Bewusstsein, insofern sie von der gesellschaftlichen Bedingtheit absieht, die ihr
konstitutiv zugrunde liegt. Adorno hebt hervor, dass dies in der philosophischen
Reflexion nach Kant und Hegel zu ideologischen Konsequenzen geführt habe: »Die
intelligible Freiheit der Individuen wird gepriesen, damit man die empirischen
hemmungsloser zur Verantwortung ziehen, sie mit der Aussicht auf metaphysisch
gerechtfertigte Strafe besser an der Kandare halten kann.«350 Andererseits drücke
der Dualismus aber authentisch die reale Ambivalenz von Freiheit und Unfreiheit
aus, die den Individuen zunächst einmal unausweichlich vorgegeben ist, und er-
möglicht der Moralphilosophie »genuine Einsicht in Freiheit und Unfreiheit des

347 Vgl. Adorno, GS 3, S. 61 ff.


348 Adorno, GS 6, S. 216. – Auf Adornos eigene Fassung der Dialektik von Willen und
Freiheit geht das folgende Kapitel ein.
349 Adorno, GS 6, S. 216.
350 Ebd., S. 214.
4.2 Adornos Kantinterpretation 99

Lebendigen«351. Ebenso, wie Freiheit und Unfreiheit dialektische Momente sind,


die an ihrem Substrat, dem Individuum, niemals fein säuberlich voneinander
getrennt werden können, sei in Kants praktischer Philosophie das ideologische
und das authentische Moment nicht voneinander zu trennen. Beide verweisen
wechselseitig aufeinander und seien nur durch einander hindurch zu haben. Das
bestimmt den Gang von Adornos Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff
in Kants Moralphilosophie.
In deren Gefüge ist der Begriff des Willens von zentraler Bedeutung. Der Grund-
legung zur Metaphysik der Sitten zufolge ist der freie Wille nicht bestimmungslose
Willkür, sondern das Vermögen, im Hinblick auf vernünftig gesetzte Zwecke
spontan zu handeln.352 Insofern sind freier Wille und Vernunft bei Kant identisch.353
Der freie Wille kommt nach Kant erst in der Befolgung des Sittengesetzes zu sich
selbst. Es ist das Gesetz, das der Wille sich selbst gibt. Als formales Prinzip des
Willens ist es der kategorische Imperativ: »handle nur nach derjenigen Maxime,
durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde«354 . Dieser
Imperativ hat keinen außerhalb seiner selbst liegenden Zweck; er ist das Gebot, das
einzige Gesetz, dem nach Kant rein aus Pflicht gehorcht werden kann, nämlich aus
»Achtung fürs Gesetz«355 um seiner selbst willen. Nur dann ist der Wille frei von
Heteronomie und der Moralität fähig. Indem sich der Wille autonom bestimmt,
ist er guter Wille und damit Inbegriff des Moralischen.356 Kant betont, dass der
menschliche Wille niemals durchgängig vernunftbestimmt, sondern stets auch
»subjektiven Bedingungen (gewissen Triebfedern)«357 unterworfen ist. Diese fallen
in den Bereich der Naturnotwendigkeit, welcher der handelnde Mensch, als em-
pirischer Charakter, immer auch unterliegt. Freiheit als Bedingung von Moralität
wird erst da möglich, wo sich der Wille dieser heteronomen Bestimmtheit entziehen

351 Ebd.
352 »Der Wille wird als ein Vermögen gedacht, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich
selbst zum Handeln zu bestimmen.« (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in:
Ders., Werke in sechs Bänden, hg. v. W. Weischedel, Bd. IV, Darmstadt 1983, BA 63).
353 »Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d.
i. nach Prinzipien, zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen
von Gesetzen Vernunft erfodert wird, so ist der Wille nichts anderes als praktische
Vernunft.« (Kant, a. a. O., BA 36).
354 Ebd., BA 52.
355 Ebd., BA 14.
356 »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken
möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter
Wille.« (Kant, a. a. O., BA 1).
357 Ebd., BA 37.
100 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

und sich allein von der Vernunft bestimmen lassen kann: »was kann denn wohl
die Freiheit des Willens sonst sein, als Autonomie, d.i. die Eigenschaft des Willens,
sich selbst ein Gesetz zu sein?«358
In der neueren Diskussion ist der kategorische Imperativ vor allem aus der
Perspektive der begrifflichen Differenzierungen untersucht worden, die von den
analytisch ansetzenden Theorien der Ethik etabliert worden sind. Übereinstimmung
herrscht darüber, dass Kant hier das Modell einer deontologischen Moraltheorie
entworfen hat, deren unhintergehbare Errungenschaft in der Einsicht besteht,
dass moralische Verhaltensnormen universalisierbar und vernünftig begründbar
sein müssen. Meist wird hervorgehoben, dass der kategorische Imperativ mit der
Idee eines moralischen Konsensus in Verbindung gebracht werden kann. Strit-
tig sind dagegen vor allem die Fragen, in welchem Verhältnis der kategorische
Imperativ etwa zum Regelutilitarismus steht und ob Kant ein »naturalistischer
Fehlschluß« vorzuwerfen sei. Während utilitaristische Verallgemeinerungsprin-
zipien sich an den Interessen der Handelnden orientieren, zielt Kants Kriterium
der Verallgemeinerbarkeit ethischer Maximen einzig auf deren Konsistenz und
Denknotwendigkeit ab, das heißt darauf, ob sie in sich widerspruchsfrei sind und
hinreichende Bestimmungsgründe unseres Willens abgeben können. Daran knüpft
die Diskursethik an, die den kategorischen Imperativ allerdings zu einem formalen
Überprüfungsmaßstab für kontroverse Normendiskussionen depotenziert. 359 Der
Universalisierungsgrundsatz stellt den Versuch dar, das Verallgemeinerungsgesetz
des symbolischen Interaktionismus mit Kants streng deontologischem Sittengesetz
im Zeichen eines konsensorientierten »praktischen Diskurses« zu vermitteln. Dass
moralische Verhaltensnormen am Maßstab ihrer universalen Zustimmungsfähig-
keit mesbar sein müssen, kehrt auf dem Gebiet der politischen Theorie im Prinzip
der Gerechtigkeit als sozialer Fairness wieder.360 Die formalen Gesichtspunkte
der Verallgemeinerbarkeit und vernünftigen Begründbarkeit ethisch relevanter
Handlungen werden mitunter auch als inhaltlich bedeutsam erkannt.361
Was die in der neueren Diskussion vorgebrachte Kritik am kategorischen Im-
perativ betrifft, so ist im vorliegenden Zusammenhang der folgende Aspekt von

358 Ebd., BA 98.


359 Siehe dazu meinen Aufsatz: Die »kommunikativ verflüssigte Moral«. Zur Diskursethik
bei Habermas, in: Unkritische Theorie, hrsg. v. G. Bolte, Lüneburg 1989, S. 122.
360 Vgl. John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1991.
361 Der kategorische Imperativ kann, Patzig zufolge, sogar als mögliche »Richtschnur auch
für politische Entscheidungen« interpretiert werden (Günther Patzig, Der kategorische
Imperativ in der Ethik-Diskussion der Gegenwart, in: ders., Tatsachen, Normen, Sätze,
Stuttgart 1980, S. 175.)
4.2 Adornos Kantinterpretation 101

Interesse, der das Problem des naturalistischen Fehlschlusses betrifft. Kant sei ein
naturalistischer Fehlschluss unterlaufen, weil in der Grundlegung seine ursprüng-
liche Absicht, die Möglichkeit einer moralischen Grundnorm zu fundieren, sich
unversehens in eine andere Bemühung verwandle: nachzuweisen, dass diese Grund-
norm tatsächlich existiere, und diese Tatsache zu erklären.362 Kant deduziere »das
Sittengesetz aus dem allgemeinen Begriff des Vernunftwesens«; er stütze sich auf
eine metaphysische Wesensbestimmung, indem er die moralische Verpflichtung
auf die ›ungesellige Geselligkeit‹ des Menschen zurückführe und Ethik somit zwar
nicht durch »empirische Seinssätze«, wohl aber durch »Seinssätze der rationalis-
tischen Metaphysik«363 begründe. Demgegenüber sei es als Fortschritt anzusehen,
dass in der Kritik der praktischen Vernunft die Unbegründbarkeit der moralischen
Verpflichtung ausgesprochen werde, dass Kant also auf die Begründung dieser
unbeweisbaren Tatsache durch den Rekurs auf Metaphysik verzichte.364 Gleichwohl
gelinge es Kant nicht, »der Ethik ein rationales Fundament zu geben«365, weil er
einem notdürftig säkularisierten christlichen Platonismus verhaftet geblieben sei.
Diese Argumentation kann durchaus als Kontrastfolie für Adornos Rezeption des
kategorischen Imperativs betrachtet werden. Auch Adorno kritisiert die Erschlei-
chung der Faktizität des Sittengesetzes, die sich an die Stelle der Begründung seiner
Möglichkeit setzt. Aber er meint nicht, dass Kant der Versuch einer rationalen
Begründung der Ethik – auf Grund nicht-rationaler Restbestände seins Denkens
– misslungen sei. Adorno will vielmehr die Dialektik der bei Kant formal durchaus
erfolgreichen rationalen Begründung der Moral und der Ethik herausarbeiten. Dabei
argumentiert er nicht formal, sondern konkret geschichts- und gesellschaftsbezogen.
Insofern ist seine Auseinandersetzung mit Kants Moralphilosophie immer auch im
Zusammenhang mit seiner dialektischen Rationalitätskritik zu sehen. Um Adornos
Auseinandersetzung mit dem kategorischen Imperativ zu rekonstruieren, soll nun
seine Kritik am Kantischen Willensbegriff erörtert werden.
An Kants Bestimmung des Willens hebt Adorno zunächst ihren Charakter der
Verdinglichung hervor. Dass der Wille, als »Oberbegriff oder Einheitsmoment der
Handlungen, vergegenständlicht«366 ist, entspricht indessen auch, so Adorno, der

362 So argumentiert Ilting in Anknüpfung an George Herbert Moore, der Kants


Analogisierung von Sitten- und Naturgesetz moniert hat; siehe Karl-Heinz Ilting, Der
naturalistische Fehlschluß bei Kant, in: Rehabilitierung der praktischen Philosophie,
hrsg. v. M. Riedel, Bd. I, a. a. O., S. 122 f.
363 Ilting, Der naturalistische Fehlschluß bei Kant, a. a. O., S.124.
364 Vgl. ebd., S. 125.
365 Ebd., S. 128.
366 Adorno, GS 6, S. 236.
102 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

psychoanalytischen Einsicht, derzufolge geglückte Ich-Bildung einen bestimmten


Grad der Unterordnung diffuser Triebenergie unter die rationale Ich-Instanz vor-
aussetzt – also die individualpsychologische Seite der oben beschriebenen Dialektik
im Selbstbehauptungsprozess. »Die Vergegenständlichung der einzelnen Impulse
zu dem sie synthetisierenden und bestimmenden Willen ist ihre Sublimierung, die
gelungene, verschiebende, Dauer involvierende Ablenkung vom primären Triebziel.
Sie ist von der Rationalität des Willens bei Kant getreu umschrieben. Durch sie
wird der Wille ein anderes als sein ›Material‹, die diffusen Regungen.«367 Aber die
Kehrseite sei, dass die Identifizierung mit Vernunft dasjenige am Willen abschneidet,
was erst die Voraussetzung dafür abgeben könnte, dass Handlungen überhaupt real
werden und nicht nur gedachte Handlungen bleiben – nämlich das, was anders ist
als Vernunft. Denn »der Wille, aus dem alle der Vergegenständlichung sich versa-
genden Impulse als heteronom verbannt sind«368, könne gerade das nicht sein, was
er nach Kant zu sein hat: Träger der subjektiven Spontaneität. Daher könne die
postulierte Vermittlung der naturhaft-determinierten und intelligibel-freien Seite
des Subjekts gar nicht stattfinden, weil das Movens der Vermittlung, der Wille, mit
einem der beiden zu vermittelnden Momente in eins gesetzt wird.
Dem setzt Adorno seine eigene »dialektische Bestimmung« des Willens entge-
gen: »Er ist die Kraft des Bewußtseins, mit der es den eigenen Bannkreis verläßt
und dadurch verändert, was bloß ist; sein Umschlag ist Widerstand.«369 Gemeint
ist hiermit das Zusammenspiel von körperlich-impulshaften und rationalen Mo-
menten, das erst den Willen spezifisch ausmache. Dieses Zusammenspiel sei die
Umschreibung des nicht ableitbaren Phänomens, dass das Bewusstsein – welches, wie
Adorno mit Freud annimmt, genetisch aus körperlichen Impulsen hervorgegangen
ist – im Willensakt selber praktisch wird. Der Verweis auf die in der Geltung der
Bewusstseinstätigkeit – also des Denkens, das keinen anderen Gesetzen folgt als
seinen eigenen – untergegangene Genesis des Bewusstseins370 hat bei Adorno nicht
die Funktion eines kruden Ableitungsversuchs von Geist aus bloßer Natur. So eine
Ableitung kann nicht gelingen, weil sie, um überhaupt ableiten zu können, immer
schon voraussetzt, was erst herauskommen soll: das Denken. Dagegen heißt, die
Triebbasis des Denkens erkennen, ohne sie als den logischen Grund auszugeben,
aus dem es als Folge resultieren soll, im Menschen ein Lebewesen erkennen, in
dem Natur und Geist vermittelt sind – ohne dass die Vermittlung aus einem der
beiden Momente zwingend hergeleitet werden könnte. Diese Einsicht weist zurück

367 Ebd., S. 237.


368 Ebd., S. 234.
369 Ebd., S. 240
370 Vgl. ebd., S. 229.
4.2 Adornos Kantinterpretation 103

auf den Wahrheitsgehalt der Bestimmung des Menschen als animal rationale, die
in der Tradition meist in idealistische Dienste genommen worden ist. Adornos
Aneignung dieses Theorems erinnert an Nietzsches Überlegungen zum Verhältnis
von Instinkt und Denken, 371 ohne alle Konsequenzen zu teilen, die dieser daraus
zieht. Bei Adorno ist der Wille kein quasi-metaphysischer, sondern ein kritischer
Begriff. »Daß ohne Wille kein Bewußtsein ist, verschwimmt den Idealisten in
blanker Identität: als wäre Wille nichts anderes als Bewußtsein.«372
Doch unter geschichtsphilosophischem Aspekt erkennt Adorno gerade in der
Vergegenständlichung auch einen progressiven Gehalt der kantischen Willens-
lehre. Die Reduktion auf ein Einheitsmoment bewirke, dass Moralität nicht mehr
in einzelnen Handlungen aufgesucht wird, die stets das Moment des Zufälligen
haben und der Rationalität nie ganz kommensurabel sind. Stattdessen werde das
Subjekt als Ganzes zum spezifischen Exponenten von Moralität. Dadurch stünden
nicht partikulare Regungen zur Beurteilung, sondern die sich durchhaltende Iden-
tität der Person im Charakter. Darin erblickt Adorno die nach innen gewandte,
somit erst vollständige Abschaffung der Werkgerechtigkeit und gleichzeitig ein
Schritt in Richtung realer Autonomie des Individuums. »Das stand der Freiheit
bei. Moralisch wird das Subjekt für sich selber, kann nicht nach innerlich und äu-
ßerlich Partikularem, ihm Fremden gewogen werden. Durch die Etablierung der
vernünftigen Einheit des Willens als alleiniger sittlicher Instanz erlangt es Schutz
gegen die ihm von einer hierarchischen Gesellschaft angetane Gewalt, die – wie
noch bei Dante – seine Taten richtet, ohne daß deren Gesetz von seinem eigenen
Bewußtsein zugeeignet wäre. […] Verinnerlichung der Gesellschaft als ganzer tritt
anstelle der Reflexe einer ständischen Ordnung, deren Gefüge, je dichter es sich
gibt, desto mehr das an den Menschen Allgemeine zersplittert. Die Relegation der
Moral an die nüchterne Einheit der Vernunft war Kants bürgerlich Erhabenes, trotz
des falschen Bewußtseins in der Vergegenständlichung des Willens.«373
In dieser Reflexion klingen Motive aus Hegels Kritik der Moralität in der Phä-
nomenologie des Geistes an, die materialistisch gewendet sind. Ist jedoch in Hegels
Konstruktion das »moralische Selbstbewusstsein« durch den Verinnerlichungspro-
zess auf sich zurückgeworfen und damit unfähig, die Wirklichkeit zu verändern,
der es sich unter Berufung auf die »reine Pflicht«374 abstrakt entgegensetzt, so hebt

371 Vgl. dazu Christoph Türcke, Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der
Vernunft, Frankfurt/M. 1989, bes. S. 43 ff.
372 Adorno, GS 6, S. 229.
373 Ebd., S. 229.
374 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, a. a. O.,
Bd. 3, S. 441 ff.
104 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

Adorno hier den fortschrittlichen Aspekt der Verinnerlichung hervor. Gemeinsam


mit Hegel interpretiert er sie als Durchgangsstufe.
Adornos Kritik an Kant ist also auch insofern dialektisch, als sie in der verding-
lichenden Identifikation des Willens mit praktischer Vernunft ein produktives
Moment gewahrt. Entsprechend verfährt er bei der Untersuchung jenes weiteren
Problems von Kants Ethik, das bereits Lukács thematisiert hatte: der Bestimmung
des Sittengesetzes als Faktum.375 Wenn Freiheit, so Adornos Kritik, innerhalb des
kantischen Zwei-Welten-Dualismus als intelligible in der empirischen Welt vor-
handen sein soll, dann kann sie das nur, indem sie sich in ihr Gegenteil verkehrt.
Real existierende Freiheit ist nach Adorno immer auch mit Unfreiheit vermengt.
Daher werde Kants Idee der Freiheit selbst paradox. 376
Das Bewusstsein des Sittengesetzes, in dem sich die Freiheit des Willens aller-
erst erfüllt, ist für Kant ein »Faktum der Vernunft«377 – unableitbar und schlech-
terdings gültig. Dem Befund der Kritik der reinen Vernunft zufolge ist Freiheit
lediglich denknotwendig, außerhalb des Denkens aber nicht positiv aufzufinden.
Die Begründung der Freiheit durch das Sittengesetz in der Kritik der praktischen
Vernunft trägt dem nun ungewollt Rechnung, weil sie zirkulär bleibt: Sie geht davon
aus, »daß die Freiheit allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das
moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi der Freiheit sei.«378 Freiheit wird am
höchsten denkbaren Punkt festgemacht: an der Autonomie der Vernunft. Nichts
Kontingentes, Empirisches darf sich in ihre Bestimmung einschleichen. Doch
der Preis dafür ist hoch, denn damit ist zugleich ihre vollständige Entleerung
und Formalisierung gesetzt. Hier schließt sich die verdinglichende Vorstellung
des Willens als abstrakter Einheit mit der daraus folgenden Hypostasierung des
Sittengesetzes zusammen.
Die Abstraktheit in der Bestimmung der Freiheit als bloßer Identität des Willens
mit sich selbst ist ein zentrales hegelsches Motiv in der Auseinandersetzung mit

375 Zwar hat die Konstruktion des Sittengesetzes als Faktum die Aufgabe, über das
»strukturelle Defizit idealistischer Freiheitslehren« hinauszugelangen, das in der
grundsätzlichen Behauptung einer intelligiblen Freiheit in einer kausal determinierten
Welt zum Ausdruck kommt. »Daß aber gerade die Faktizität das Sittengesetz […]
zu einem nur nach den Formen der Anschauung und den Regeln des Verstandes
erfahrbaren, kausal determinierten Gegenstand werden läßt, hebt Adorno zufolge die
freiheitsverbürgende Funktion des Sittengesetzes wieder auf.« (Klaus Günther, Dialektik
der Aufklärung in der Idee der Freiheit, in: Zeitschrift für philosophische Forschung,
Bd. 39 [1985], Heft 2, S. 246)
376 Vgl. Adorno, GS 6, S. 230 f.; siehe dazu Günther, a. a. O., S. 247.
377 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., A 56.
378 Ebd., A 5 (Fußnote).
4.2 Adornos Kantinterpretation 105

Kants praktischer Philosophie. Hegel kritisiert, »daß diese Freiheit zunächst leer
ist, das Negative alles anderen; kein Band, nichts anderes verpflichtet mich. Sie ist
insofern unbestimmt; es ist die Identität des Willens mit sich selbst, daß er bei sich
ist. Was aber ist der Inhalt dieses Gesetzes [sc. des Sittengesetzes]? Hier sind wir
sogleich wieder bei der Inhaltslosigkeit. Denn es soll nichts anderes das Gesetz sein
als eben die Identität, die Übereinstimmung mit sich selbst, die Allgemeinheit. Das
formale Prinzip der Gesetzgebung kommt in dieser Einsamkeit in sich zu keinem
Inhalt, keiner Bestimmung. Die einzige Form, die dies Prinzip hat, ist die der Iden-
tität mit sich selbst. Das Allgemeine, das Sich-nicht-Widersprechen ist etwas Leeres,
das im Praktischen sowenig wie im Theoretischen zu einer Realität kommt.«379
An diese Reflexion knüpft Adorno implizit an. Bei ihm erhält sie jedoch eine
andere Wendung. Er macht deutlich, dass bei Kant aus dem idealistischen Ge-
häuse der Identifikation von Freiheit mit Vernunft, die zugleich die Resignation
vor der realen Unfreiheit des Außervernünftig-Empirischen ist, ein theoretischer
Gewaltstreich herausführen soll, der das, was Faktum im Kopf ist, auch als Dasei-
endes, immer schon reales Faktum setzt. Aber stattdessen führt er nur noch tiefer
in die idealistische Immanenz hinein: »Auf ihrer äußersten Spitze«, so Adorno,
»hat die Kantische Moralphilosophie einen prägnanten Widerspruch erreicht:
Kant sucht auf der einen Seite nach der Begründung des Sittengesetzes und seinen
notwendigen Bedingungen, und nachdem er alle heteronome, kausale Abhängigkeit
ausgeschlossen hat, ist die Begründung des Sittengesetzes die Freiheit. Aber man
kann diese Freiheit ihrerseits nirgends vorfinden. Wenn es sie aber nicht gäbe, gäbe
es auch kein Sittengesetz. Der Denkfehler ist leicht nachzuweisen. Aber wenn man
sich damit begnügen würde, würde man das Großartigste an Kants Philosophie
versäumen.«380 Denn der methodische Widerspruch verweist auf eine Aporie, 381 die
nicht aus inkonsequentem Denken resultiert, sondern authentischer Ausdruck der
aporetischen Struktur des Sachverhalts selber ist. Frei an Adorno anknüpfend, lässt
sich dieser Sachverhalt folgendermaßen charakterisieren: Der Begriff der Freiheit,
wie er bei Kant entfaltet ist, geht notwendig immer aufs Ganze. In der Realität
dagegen sind stets nur partikulare Elemente der Freiheit aufzufinden. Indem
Kant unbeirrt den universalen Charakter des Freiheitsbegriffs formuliert, gibt er
implizit die Anweisung, an seiner Verwirklichung zu arbeiten. Die Identifikation
von Freiheit und Autonomie der Vernunft beinhaltet also nicht nur – wie Lukács
kritisiert – idealistische Verinnerlichung, sondern vor allem auch die unnachgie-

379 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III,
in: ders., Werke, a. a. O., Bd. 20, S. 367 f.
380 Adorno, PM 1, 29. 1. 1957.
381 Vgl. Adorno, PM 1, 31. 1. 1957.
106 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

bigste Kritik an der nur partikular vernünftigen, heteronomen Realität, welche die
faktische Umsetzung des kategorischen Imperativs unmöglich macht.
Allerdings ist auch hier, wie im Fall des Kausalitätsbegriffs, die Frage zu stel-
len, ob Adorno Kants Idee des Faktums der Vernunft angemessen interpretiert.
Es gilt zu bedenken, dass Kants Rede vom Faktum der reinen Vernunft äquivok
ist und eine Deutung im Sinne des Genitivus subjectivus ebenso wie des Genitivus
objectivus erlaubt. Man hat darauf hingewiesen, dass Adorno diese Differenz nicht
berücksichtigt.382 Aus ihr ergibt sich, dass Kant das Sittengesetz sowohl als Faktum
für die Vernunft auffasst, nämlich in Gestalt des Bewusstseins vom Sittengesetz, als
auch als Faktum der Vernunft, nämlich als ihr apriorisches und einziges Gesetz.383
Verstehe man es jedoch als das einzige und apriorische Gesetz der Vernunft, das
sich im Bewusstsein vom Sittengesetz, das heißt im Faktum für die Vernunft, bloß
widerspiegele, dann seien sämtliche Probleme beseitigt, die sich für die Kritik der
praktischen Vernunft in diesem Zusammenhang stellen. Darüber hinaus sei dann
auch eine befriedigende Bestimmung des Verhältnisses von theoretischer und
praktischer Vernunft gegeben. Die spekulative reine Vernunft gebe sich durch die
Formulierung des ihr immanenten Gesetzes der Willensbestimmung selbst das
Fundament, auf dem sie praktisch werden kann. Daher könne von einem nicht
rational herleitbaren und insofern heterogen nötigenden Moment, das in der
Vorstellung von der Vorfindlichkeit des Sittengesetzes liege, keine Rede sein. Das
Problem solch einer Kant-Apologetik ist jedoch, dass sie die Zirkularität nicht the-
matisiert, mit deren Hilfe Kant Sittengesetz und Freiheit durch einander fundieren
will. Wenn es auch unbefriedigend bleibt, dass Adorno den Doppelcharakter des
Terminus »Faktum der Vernunft« nicht reflektiert, so spricht es doch für seine
Argumentation, dass sie an der Zirkularität ansetzt.384 Es gibt auch nach Adorno
bei Kant eine von Art naturalistischem Fehlschluss. Aber Adorno belässt es nicht
dabei, eine logische Inkonsistenz zu konstatieren; er macht vielmehr das gesell-
schaftliche Fundament zum Thema, also gleichsam den ontologischen Grund für
die logische Unstimmigkeit.
Adornos Kritik arbeitet sich an dem Ineinanderspielen von widersprüchlichen
Elementen des Freiheitsbegriffs ab. Vor allem ist es die Kontamination von Freiheit
und Gesetz, die er als drückendste Hypothek der kantischen Lehre kenntlich macht.
Gedacht ist diese Verbindung als Movens der Verwirklichung von Vernunft. Dazu

382 Vgl. Braun, a. a. O., S. 154 ff.


383 Für Braun ist Adornos kritische Argumentation gegenstandslos, weil sie das Sittengesetz
auf den Aspekt des Faktums für die Vernunft reduziere; vgl. Braun, a. a. O., S. 159.
384 Ähnlich wie Ilting konstatiert Adorno das Problem der Unableitbarkeit, aber seine
Bewertung des kantischen Lösungsversuchs ist eine andere als Iltings.
4.2 Adornos Kantinterpretation 107

bemerkt Adorno in der frühen Vorlesung: »In der Idee eines Gesetzes aus Freiheit
steckt eigentlich die Idee einer rationalen Gesellschaft, in der der Widerspruch
des Partikularen und des Allgemeinen versöhnt wäre. Die Instanz, die eine solche
Versöhnung zu bestimmen hätte, wäre die Vernunft, welche die eigentümliche
Qualität hat, daß sie sowohl die Substanz des je einzelnen Individuums ist, wie
andererseits eben doch auch das Allgemeine […]. Wäre nun in der Tat die Ver-
nunft in dieser radikalen Weise zu der Instanz gemacht, der die Versöhnung des
Partikularen und Allgemeinen obliegt, dann hätte sie zunächst einmal das reale
Unvereinbarsein von Gesetz und Freiheit auszusprechen. Die Vernunft wäre dann
nicht unmittelbar die gesetzgebende Instanz, sondern sie müßte […] einsehen, daß
eine jegliche derartige Gesetzgebung aus reiner Vernunft, soweit sie nicht die Ver-
änderung der gesamten Gesellschaft bereits voraussetzt, ein Moment der Willkür,
der Äußerlichkeit, Gewalt, Regression hat. Man kann dem die Formel geben, daß
die Vernunft nicht unmittelbar in einer unvernünftigen Welt das Gesetz aufrichten
kann«.385 Die problematische Verbindung von Freiheit und Gesetz sei in der affir-
mativen Bestimmung der Freiheit »als ein Daseiendes« angelegt, die für Kant durch
die »Gegebenheit des Sittengesetzes« verbürgt ist.386 In der Sphäre der Konkretion
der praktischen Vernunft führe dies dazu, dass Moral und Unfreiheit ineinander
übergehen. »Trotz der Auflösung der dritten Antinomie bleibt die Kantische Mo-
ralphilosophie antinomisch: sie vermag, gemäß der Gesamtkonzeption, den Begriff
der Freiheit einzig als Unterdrückung vorzustellen. Sämtliche Konkretisierungen
der Moral tragen bei Kant repressive Züge. Ihre Abstraktheit ist inhaltlich, weil sie
vom Subjekt ausscheidet, was seinem reinen Begriff nicht entspricht.«387
Was aus Freiheit erfolgen soll, die moralische Handlung, ist in Kants Lehre das
Resultat von Regeln, Nötigung, Vorschrift, Pflicht und Achtung fürs Gesetz.388
Voraussetzung für moralische Handlungen ist, heißt es in der Kritik der praktischen
Vernunft, »ein innerer, aber intellektueller Zwang«, eine »moralische Nötigung«389.
Diese Termini scheinen Adornos These ebenso zu bestätigen wie die gesamte
Vorstellungswelt der Beispiele, die Kant für die Bewährung des Sittengesetzes
gibt. Diese entbehren zunächst einmal, wie schon Horkheimer feststellte, eines
reflektierten Bezugs auf die gesellschaftlichen Antagonismen, die der Realgrund

385 Adorno, PM 1, 31. 1. 1957.


386 Adorno, GS 6, S. 252.
387 Ebd., S. 253.
388 Vgl. ebd. S. 231.
389 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., A 57.
108 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

der konstruierten Situationen sind. 390 Adorno betont, dass die Situationen, in
denen Freiheit sich zu bewähren habe, bei Kant »rigoros von ihrem empirischen
Gehalt gereinigt«391 sein. Vor allem aber seien sie in sich widersprüchlich. Zum
einen wird in ihnen vorausgesetzt, was sie doch erst begründen sollen, nämlich die
»Anerkennung des Kantischen Sittengesetzes«392; aus ihm gehe das Pathos hervor,
mit dem der unmoralisch Handelnde sich selbst der Unmoralität bezichtigt. Zum
anderen dokumentierten sie unfreiwillig die sachliche Notwendigkeit, die Kluft
zwischen Seiendem und Seinsollendem zu überwinden. Diese Notwendigkeit
zwinge Kant zu der Begründung des rein rationalen und formalen Sittengesetzes
durch empirisches Material, die er selber für unzulässig erklärt. An den Beispie-
len werde deutlich, »daß anders als durch empirische Subreption die Beziehung
zwischen dem formalen Sittengesetz und dem Dasein, und damit die Möglichkeit
des Imperativs, nicht darzutun gewesen wäre«393. Der kategorische Imperativ stelle
sich als eine nicht durchsichtig begründbare Vorschrift dar, der einzig und allein
darum gefolgt werden müsse, weil sie eine Vorschrift ist, nicht um eines plausiblen
Zwecks oder eines vernünftig zu begründenden Interesses willen. Dazu kommt
die schroffe Zurückweisung von Glückseligkeit, Neigung und Mitleid als Quellen
moralisch legitimierbarer Handlungen, an der sich die Kant-Kritik seit Schiller
entzündet hat, sowie das Adorno zufolge in der Kritik der praktischen Vernunft
gelegentlich aufscheinende »Strafbedürfnis«394. »Die Nötigung, die laut Kant vom
kategorischen Imperativ ausgeht, widerspricht der Freiheit, die in ihm als ihrer
obersten Bestimmung sich zusammenfassen soll. Nicht zuletzt darum wird der
aller Empirie entäußerte imperativ als ein keiner Prüfung durch die Vernunft
bedürftiges ›Factum‹ […] vorgeführt, trotz des Chorismos zwischen Faktizität und
Idee. Die Antinomik der Kantischen Freiheitslehre spitzt darin sich zu, daß ihr das
Sittengesetz unmittelbar für vernünftig gilt und für nicht vernünftig; vernünftig,
weil es sich auf reine logische Vernunft ohne Inhalt reduziert; nicht vernünftig,
weil es in seiner Gegebenheit zu akzeptieren, nicht weiter zu analysieren sei«395.
Doch die Verquickung von Freiheit und Moralität mit Repression und unableit-
barer Gegebenheit ist nur die eine Seite von Kants Moralphilosophie. Weder zieht

390 Vgl. Max Horkheimer, Materialismus und Moral, in: Zeitschrift für Sozialforschung,
Jg. 2 (1933), S. 169 ff.
391 Adorno, GS 6, S. 223.
392 Ebd., S. 224.
393 Ebd., S. 225.
394 Ebd., S. 257.
395 Ebd., S. 258.
4.2 Adornos Kantinterpretation 109

Adorno diese als Ganze darauf ab, 396 noch begnügt er sich damit, den repressiven
Aspekt bloß zu konstatieren. Die Aporien der kantischen Ethik werden vielmehr
als Spuren des objektiv aporetischen Charakters der Sachverhalte begriffen, von
denen sie handelt. Kants Stärke liegt darin, mit diesen Sachverhalten ihren pro-
blematischen Gehalt thematisch zu machen, auch wenn das meist verschlüsselt
geschieht. Diese Stärke sieht auch Adorno. Er legt es Kant nicht zur Last, dass
ihm die volle Einsicht in den gesellschaftlich vermittelten Charakter der Aporien
verstellt sei, sondern erklärt dies aus dem verborgenen gesellschaftlichen Gehalt
der Kantischen Theoreme.
Der Widerspruch, dass Freiheit einerseits Inbegriff des Vernünftigen sein soll
und zugleich, als Gegebenes, das Gegenteil emphatischer Vernünftigkeit ist, nämlich
bloß Daseiendes, hat Adorno zufolge zwei objektive Ursachen. Zum einen sei der
Widerspruch in der Rationalität selbst angelegt, die nicht auf sich selbst reflektie-
re. Adornos Kritik am idealistischen, auf Einheit zielenden Systemdenken lautet,
dass die Immanenz des Denkens als Autonomie des Geistes verabsolutiert wird,
das heißt, sie werde von der Beziehung auf die Gegenstände des Geistes abstrakt
getrennt, die eben nicht reine Hervorbringungen seiner selbst sind. Rationalität, so
Adornos auf die Dialektik der Aufklärung zurückverweisende These, wird dergestalt
auf ein Instrument der naturbeherrschenden Selbsterhaltung reduziert. Weil sie die
qualitative Besonderheit ihrer Objekte zu quantifizierbaren Merkmalen herabstufe
und in solcher Subsumtion des Mannigfaltigen unter ein formales Prinzip der
Einheit die reale Herrschaft im Geist reproduziere, deren Funktion sie ist, schlage
sie in Irrationalität um. Sie verdoppele die gesellschaftlich vermittelte Herrschaft
des Allgemeinen über das Besondere, einzelne.397

396 Das behauptet Braun zu Unrecht. Er nimmt außerdem an, Adornos Kritik des
Ineinanderspielens von Freiheit und Repression sei nichts als eine Neuauflage von
Schillers berühmtem Vorwurf, nur dass die Dichotomie von Pflicht und Neigung bei
Adorno mit Identität und Nichtidentität übersetzt werde (vgl. Braun, a. a. O., S. 133 ff.).
Man kann Braun zugutehalten, dass ihm Adornos Vorlesungsnachschriften nicht
vorlagen, die geeignet sind, vieles an Adornos Kantinterpretation zu verdeutlichen.
Gleichwohl bleibt Brauns Ansatz unproduktiv, weil er vorab davon ausgeht, dass mit
Kant »die inneren Schwierigkeiten der Konzeption Adornos zu überwinden« (a. a. O.,
S. 1) seien. Allzu offensichtlich geht es Braun von vornherein um »eine endgültige
Entscheidung zugunsten Kants« (a. a. O., S. 171); um diese herbeiführen zu können,
setzt er die Lehrstücke der Transzendentalphilosophie dogmatisch voraus und will sie
gegen jede mögliche Kritik abdichten.
397 Vgl. Adorno, GS 3, S. 30, S. 38 ff. u. S. 43 ff. – Man hat dieser Reflexion vorgeworfen, dass
sie die Erfahrung des Faschismus bzw. des Nationalsozialismus zum Anlass nähme, um
eine universalhistorischer Katastrophenvision zu konstruieren, die über dem Aspekt der
Kontinuität von Herrschaft die Seite des geschichtlichen Fortschritts vergessen mache
110 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

Selbstreflexion des Denkens heißt für Horkheimer und Adorno demgegenüber,


dass Denken den falschen Schein seiner Autonomie durchschaut und, indem es
das sublimierte Moment von irrationaler, gewaltsamer Herrschaft erkennt, das ihm
anhaftet, wirklich autonom wird: als »Eingedenken der Natur im Subjekt«398. Ohne
solche »Selbstbesinnung« bleibt die Freiheit der Rationalität im Bann der Unfreiheit,
der sie zwar immer schon ein Stück weit entragt, die sie jedoch, als unreflektierte
Rationalität, stets auch reproduziert. Das ist nach Adorno der Realgrund für die
Verquickung von Freiheit und Unfreiheit im Denken. Die formale Logik, die den
Widerspruch nicht dulden kann, dass etwas zugleich durch seinen Begriff und durch
sein Gegenteil bestimmt ist, bleibt ihm zufolge hinter dem objektiv dialektischen
Sachverhalt zurück. »Diese Antinomik ist nicht dem Philosophen aufzubürden:
die reine Konsequenzlogik, willfährig der Selbsterhaltung ohne Selbstbesinnung,
ist an sich verblendet, unvernünftig.«399
Auf den Gegenstand von Moralphilosophie bezogen, erweist sich zudem das
Ineinanderspielen von Freiheit und Unfreiheit erst recht nicht als ein Denkfehler
von Kant, sondern als vorweggenommene Beschreibung der wirklichen Ambivalenz
von Autonomie und Heteronomie, der die Individuen in der entfalteten bürgerlichen
Gesellschaft ausgesetzt sind. In ihr ist individuelle Freiheit, wie Adorno hervorhebt,
durch die Entgegensetzung gegen andere Individuen definiert. Die eingeschränk-
te Rationalität der Selbsterhaltung manifestiert sich darin, dass Freiheit auf den
egoistischen Kampf um partikulare Zwecke reduziert wird, die die Individuen in
einer Gesellschaft konkurrierender einzelner als ihre eigenen betrachten. In dieser
Gesellschaft sind die partikularen Interessen nicht mit dem universalen Interesse
versöhnt; stattdessen herrscht die Fremdbestimmung aller Individuen durch ein
Gesetz, das von ihnen selbst hervorgebracht wird und doch unbegriffen wie ein
schicksalhaftes Verhängnis über ihnen schwebt. Die Freiheit des Individuums »ist

(siehe etwa Axel Honneth, Von Adorno zu Habermas. Zum Gestaltwandel kritischer
Gesellschaftstheorie, in: Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen
Potential der Kritischen Theorie, hrsg. v. W. Bonß u. a. Honneth, Frankfurt/M. 1982,
S. 87). Dagegen ist einzuwenden, dass in der Dialektik der Aufklärung der Faschismus
als Kulminationspunkt eines gesellschaftlichen Bewegungsgesetzes begreifbar wird,
dessen Kennzeichen die reale Subsumtion von Mannigfaltigem unter ein Einheitsprinzip
ist: der Subsumtion von Lohnarbeit unter das Kapital. Das heißt, der geschichtlich-
gesellschaftliche Fortschritt und seine Manifestationen werden im Licht dessen
betrachtet, das, seit der Mitte des letzten Jahrhunderts, tatsächlich als universales
Gesetz global wirkmächtig wurde und mit dem Fortschritt zugleich sein Gegenteil
realisierte. Vom Fluchtpunkt des Geschichtsverlaufs aus werden die falsche Totalität
und ihre Elemente im Bewusstsein konstruiert.
398 Adorno, GS 3, S. 59.
399 Adorno, GS 6, S. 258
4.2 Adornos Kantinterpretation 111

primär die eines solchen, der eigene Zwecke verfolgt, die in den gesellschaftlichen
nicht unvermittelt aufgehen; soweit koinzidiert sie mit dem Prinzip der Individuation.
Freiheit dieses Typus hat sich der naturwüchsigen Gesellschaft entrungen; innerhalb
einer zunehmend rationalen erlangte sie einige Realität. Zugleich jedoch blieb sie
inmitten der bürgerlichen Gesellschaft Schein nicht weniger als die Individualität
überhaupt. Kritik an der Willensfreiheit wie am Determinismus heißt Kritik an
diesem Schein. Über den Kopf der formal freien Individuen setzt das Wertgesetz
sich durch. Unfrei sind sie, nach der Einsicht von Marx, als seine unwillentlichen
Exekutoren […]. Was Freiheit produzierte, schlägt in Unfreiheit um. Frei war das
Individuum als wirtschaftendes bürgerliches Subjekt, soweit vom ökonomischen
System Autonomie gefordert wurde, damit es funktioniere. Damit ist seine Autono-
mie im Ursprung schon potentiell verneint. […] Nicht weniger als die Freiheit des
bürgerlichen Individuums, ist auch die Notwendigkeit seines Handelns Zerrbild.
Sie ist nicht, wie der Gesetzesbegriff es erheischte, durchsichtig, sondern trifft jedes
Einzelsubjekt als Zufall, Fortsetzung mythischen Schicksals.«400
In Kants Moralphilosophie findet Adorno bereits die nachdrücklichsten Impulse
zur Kritik an der faktischen Aushöhlung der emphatischen Begriffe Freiheit und
Notwendigkeit sowie an der Depotenzierung des Individuums in der individu-
alistischen, durch das Wertgesetz bestimmten Gesellschaft. So vor allem in der
Formulierung des kategorischen Imperativs, die sowohl auf die Zweck-Mittel-Di-
alektik reflektiert, die die Individuen in der modernen Gesellschaft beherrscht, als
auch einen antizipatorischen Begriff der Menschheit impliziert: »Handle so, daß
du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen,
jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest. «401 Adorno bemerkt
dazu in der frühen Vorlesung: »Das Pathos von Kant besteht wesentlich darin, eine
Gesellschaft zu kritisieren, in der alles zum Mittel wird und in der nichts mehr
Zweck ist.«402 Die universale Fungibilität als zweite Natur der Individuen ist nach
Horkheimer das Kennzeichen einer verabsolutierten instrumentellen Vernunft
in der Moderne. Das wird von Adorno mit marxscher Begrifflichkeit präzisiert:
»Der von Kant entscheidend urgierte Unterschied von Mittel und Zweck ist ge-
sellschaftlich, der zwischen Subjekten als der Ware Arbeitskraft, aus denen Wert

400 Ebd., S. 259 f.


401 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, a. a. O., BA 66 f. – Diese Formulierung des
kategorischen Imperativs ist als inhaltliches Korrektiv der formalistischen Diskursethik
vorgeschlagen worden; siehe dazu Matthias Lutz-Bachmann, Praktischer Diskurs und
sittliche Vernunft. Rückfragen an die Diskursethik von Jürgen Habermas, in: Begründung
von Ethik, hg. v. B. Irrgang u. M. Lutz-Bachmann, Würzburg 1990 (S. 98–116).
402 Adorno, PM 1, 24. 1. 1957.
112 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

herauszuwirtschaften ist, und den Menschen, die noch als solche Ware die Subjekte
bleiben, um derentwillen das gesamte Getriebe in Gang gesetzt ist, das sie vergißt
und nur beiher befriedigt.«403 Adorno macht Kants Insistenz auf Autonomie als
spezifische Bedingung von Moralität für die Kritik an einem gesellschaftlichen
Zustand fruchtbar, der die Verwirklichung von Moralität verhindert, weil er alles
zu heteronom bestimmten Mitteln für einen einzigen Zweck macht, der weder
rational – im Sinne unverkürzter Rationalität – begründbar noch moralisch zu
rechtfertigen ist: der Kapitallogik der Verwertung des Werts.
Aus dieser Perspektive lässt sich nun folgender Gedankengang über das Verhältnis
von Kant und Marx anstellen, der Adornos Hinweis aufnimmt und weiterverfolgt.
Das Gesetz der Kapitalverwertung hat scheinbar einige Gemeinsamkeiten mit dem
kantischen Gesetz, dem aufgrund seiner reinen Form gehorcht werden muss, un-
abhängig von der Materie und deren empirischen Bedingungen, die seinen Inhalt
ausmachen. Es gilt nur vermittels seiner Form, denn es ist ganz gleichgültig, an
welchen produzierten Waren sich der Mehrwert kristallisiert.404 Das Kapitalgesetz
ist nicht, wie das Kausalgesetz, naturhaft, sondern ist insofern ein Gesetz »für alle
vernünftigen Wesen«405, als es von Menschen gemacht ist und durch deren Tätigkeit
aufrechterhalten wird. Es ist allgemein und verlangt unbedingten Gehorsam, das
heißt, es duldet keine Ausnahmen. Davon kann sich nicht nur jeder eine Vorstellung
machen, der sich gerne der Notwendigkeit verweigern würde, seine Arbeitskraft
(direkt oder indirekt) dem Produktionsprozess zur Verfügung zu stellen und in
Ermangelung von Subsistenzmitteln zugrunde gehen müsste. Gleiches gilt auch etwa
für Betriebe in der Alternativszene, die ohne kapitalistisches Profitinteresse Güter
produzieren wollen und entweder untergehen oder ihre Prinzipien aufgeben; und
auch für ganze Volkswirtschaften in Osteuropa, die, um auf dem kapitalistischen
Weltmarkt konkurrieren zu können, ihre Produktionsweise grundlegend verändern
– und dabei noch nicht einmal große Erfolgsaussichten haben. Und das Kapital-
verhältnis ist schlechthin universal, denn sofern es einmal umfassend etabliert ist,
gilt es unabhängig von der Verschiedenheit der Nationen und Kulturen. Aber es
gibt vor allem entscheidende Differenzen: Das Kapitalgesetz ist zwar ein Stück weit
geschichtlich realisierte Vernunft, aber als partikulare Rationalität zugleich auch
irrational, denn es hat vernünftig nicht zu rechtfertigende Gewaltverhältnisse zur
Voraussetzung, die (wie bereits erwähnt), in Gestalt der Trennung der Arbeitenden
von den Arbeitsmitteln, am geschichtlichen Beginn der Entfaltung kapitalistischer
Produktion über das Eigentum an Geld und Produktionsmitteln entschieden haben

403 Adorno, GS 6, S. 254.


404 Vgl. Marx, Das Kapital, 1. Bd., a. a. O., S. 200 ff.
405 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., A 57.
4.2 Adornos Kantinterpretation 113

und als institutionalisierte Zwangsgewalt in der bürgerlichen Gesellschaft für die


Aufrechterhaltung der bestehenden Wirtschaftsweise sorgen. Und es ist insofern
irrational, als es zwar die Mittel hervorbringt, mit denen Leiden und Elend global
abgeschafft werden könnten, zugleich aber diese Abschaffung dauerhaft verhindert,
weil es keine Zwecke kennt, die außerhalb seiner selbst liegen. Es ist nicht autonomes,
sondern »automatisches Subjekt«406. So ist es als gesellschaftliches Bewegungsgesetz
der Inbegriff der Heteronomie: von vernünftigen Wesen, aber ohne Bewusstsein
und nicht aus freien Stücken, in die Welt gesetzt und in Gang gehalten; manifes-
tierte Rationalität, aber zugleich, als naturwüchsiges Verhältnis, irrational. In der
Vertauschung von Zweck und Mittel ist es das größte Hindernis für Freiheit und
moralische Autonomie. Dieses gesellschaftliche Bewegungsgesetz ist freilich nicht
durch Moralphilosophie zu verändern, aber die moralphilosophische Reflexion ist
eine zentrale Voraussetzung seiner Kritik, die auf befreiende Praxis zielt.
Zurück zur Betrachtung von Adornos Auseinandersetzung mit Kant: Die In-
sistenz auf der Idee verwirklichter Freiheit und Autonomie bewahrt, als normative
Basis der kritischen Theorie, den produktiven Impuls von Kants Moralphilosophie
verändernd auf. In diesem Zusammenhang sind Adornos Bemerkungen in der
Frankfurter Vorlesung von 1957 besonders aufschlussreich. »Wenn Marx später
einmal von der sozialistischen Gesellschaft als einem Verein freier Menschen ge-
sprochen hat, ist das vielleicht der Punkt, an dem er und Engels sich als die Erben
der deutschen klassischen Philosophie haben betrachten dürfen, weil ein Verein
freier Menschen nichts anderes ist als jene Menschheit, welche das Substrat der
Kantischen Moralphilosophie ausmacht. Wenn eine Moralphilosophie wie die
Kantische als Ideologie kritisiert wird, wäre das Verhältnis der Wahrheit zu dieser
Ideologie nicht einfach das, sie zu verwerfen, sondern sie zu verwirklichen. […] Wenn
man den Gedanken von der möglichen Verwirklichung der Menschheit auf Kant
anwendet, so muß man ihm zugestehen, daß er bemerkt hat, daß das Partikulare
und das Allgemeine in der Gesellschaft auseinanderweisen. […] Die Aufgabe wäre
[…], nicht durch einen den Verhältnissen der realen Menschen äußerlichen Zwang
die Menschen zusammenzuzwingen […], sondern eine Ordnung des menschlichen
Lebens zu finden, in der den Menschen nichts Äußerliches angetan wird, in der sie
nicht als Dinge behandelt werden, als Objekte, sondern als Subjekte.«407
Aber die Rettung seiner Moralphilosophie ist nur durch die Kritik an Kant
hindurch zu gewinnen. Denn – wie Adorno in unausdrücklicher Anspielung auf
die Kant-Kritik des jungen Marx betont – bei Kant ist zugleich die Tendenz zur
resignativen Selbstgenügsamkeit der Moralität angelegt. Seine Ethik hat auch die

406 Marx, Das Kapital, 1. Bd., S. 169.


407 Adorno, PM 1, 31. 1.1957.
114 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

Seite, dass »das moralische Bewußtsein, die sich selbst gesetzgebende Vernunft,
sich selbst zu ihrem eigenen Zweck wird, weil sie in Wirklichkeit daran verzwei-
felt, außerhalb ihrer selbst irgendwelche Zwecke in der Realität verwirklichen zu
können. Das ungeheure Pathos des befreiten Bürgers verschränkt sich mit dem
Gefühl der Ohnmacht. Diese Doppelschlächtigkeit ist dem Kantischen Bewußtsein
tief eingesenkt.«408
Das macht Adorno auch an der objektiven Ambivalenz im Begriff des Gewissens
deutlich. Für Kant ist es die »Stimme des Sittengesetzes«409, die mit absoluter Au-
torität spricht. »Jeder Mensch hat Gewissen,« heißt es in der Metaphysik der Sitten,
»und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt
im Respekt (mit Furcht verbundene Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze
in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht,
sondern es ist seinem Wesen einverleibt. Es folgt ihm wie sein Schatten, wenn er
zu entfliehen gedenkt.«410 Durch die »furchtbare Stimme«411 des Gewissens ist ge-
währleistet, dass die im Begriff der Pflicht implizierte »objektive Nötigung durchs
Gesetz«412 im Subjekt wirkt. Mit dem Wissensstand, den die Psychoanalyse etabliert
hat, lässt sich das Gewissen der Genesis nach als verinnerlichte Repräsentationsform
des gesellschaftlichen Zwangs entschlüsseln, der den heranwachsenden Individuen
unvermeidlich zugefügt wird. Als Überich ist es unverzichtbarer Bestandteil der
Konstitution von Kultur und zugleich, als psychisches Anpassungsinstrument,
ein wesentlicher Faktor der Aufrechterhaltung des falschen Bestehenden.413 Dieser
Sachverhalt ist Adorno zufolge heimliche Grundlage der Autorität des kategorischen

408 Adorno, PM 1, 24. 1.1957. – Vgl. dazu Marx u. Engels, Die deutsche Ideologie, in: Marx/
Engels, Werke Bd. 3, S. 176 f.
409 Adorno, GS 6, S. 267.
410 Kant, Metaphysik der Sitten, a. a. O., A 99.
411 Ebd.
412 Ebd., A 98.
413 Zur dialektischen Kritik am psychoanalytischen Begriff des Überichs, die Adorno in
diesem Zusammenhang vorträgt, vgl. GS 6, S. 268–271. – Warum diese Kritik allerdings
nicht an Freud durchgeführt wird, sondern an Ferenczi (der auch noch unkorrekt zitiert
wird), ist nicht recht ersichtlich (vgl. GS 6, S. 270, Zitat Fußnote 52, und Sandor Ferenczi,
Bausteine zur Psychoanalyse, Bd. 3, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1984 [unveränderter
Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1938]). Vielleicht greift Adorno ja darum auf Ferenczi
zurück, weil dieser, im Unterschied zu Freud, so weit geht, die Destruktion des Überichs
zu fordern. – Aus psychoanalytischer und theoriegeschichtlicher Sicht wird Adornos
Psychoanalyserezeption untersucht in der Studie von C.E. Scheidt, Die Rezeption der
Psychoanalyse in der deutschsprachigen Philosophie vor 1940, Frankfurt/M. 1986,
S. 86 ff. (Abweichend vom Titel der Arbeit und dem sonstigen Vorgehen des Autors,
wird dort Adornos Interpretation der Psychoanalyse dort auch nach 1940 diskutiert.).
4.2 Adornos Kantinterpretation 115

Imperativs. »Die Zwangszüge, die Kant der Freiheitslehre eingräbt, wurden am realen
Gewissenszwang abgelesen. Die empirische Unwiderstehlichkeit des psychologisch
existenten Gewissens, des Überichs, verbürgt ihm, wider sein transzendentales
Prinzip, die Faktizität des Sittengesetzes, die es doch für Kant als Begründung der
autonomen Moral ebenso disqualifizieren müßte wie den heteronomen Trieb.«414
Dass durch unbewussten Rekurs auf Empirisch-Faktisches transzendentale Stringenz
erschlichen wird, gilt demnach nicht nur für den Inhalt, sondern auch für die Form
des Sittengesetzes. Der kategorische Imperativ erweist sich in dieser Hinsicht für
Adorno als noch einmal – im psychoanalytischen Sinne des Wortes – rationalisiertes
Über-Ich avant la lettre: »Konstitutiv auf faktisches Dasein bezogen ist nicht nur
aller spezifische Inhalt des Sittengesetzes sondern auch seine vermeintlich reine,
imperativische Form. Sie setzt ebenso die Verinnerlichung der Repression voraus,
wie daß die feste, identisch sich durchhaltende Instanz des Ichs bereits entwickelt
ist, die von Kant, als notwendige Bedingung der Sittlichkeit, verabsolutiert wird.« 415
Falsch ist aus dieser Sicht aber nur die Verabsolutierung der Ich-Instanz, nicht
die Idee des Gewissens als solche. Denn wie die Psychoanalyse gezeigt hat, können
die Individuen, sofern ihre Ich-Bildung geglückt ist, die Gesellschaft an dem Ideal
messen, das sie, vermittelt durch deren Zwang, zu ihrem eigenen gemacht haben.
Dadurch sind sie imstande, autonom zu urteilen und sowohl die gesellschaftliche
Realität zu kritisieren als auch die Idee eines besseren Zustands aus dieser Kritik
zu entwickeln. Das Gewissen wird so zur Instanz subjektiven Widerstands gegen
gesellschaftlich erzwungene Unfreiheit und damit Träger eines Freiheitspotentials.
»Kritik des Gewissens«, heißt es daher bei Adorno, »visiert die Rettung solchen
Potentials, doch nicht im psychologischen Bereich sondern in der Objektivität eines
versöhnten Lebens von Freien.«416
Genau diese Objektivität aber – in der Adorno zufolge auch das Wahrheitsmoment
der kantischen Abweisung der Psychologie besteht – ist in Kants Entwurf angelegt.
Adorno leitet sie aus der zuletzt zitierten Fassung des kategorischen Imperativs ab,
indem er den Doppelsinn im Begriff der Menschheit herausarbeitet. Zum einen
ist dieser ontologische Wesensbestimmung der daseienden Menschen, humanitas,
zum anderen klassisch-aufklärerischer Vorgriff auf ein Potential, das erst die zu sich
selbst gekommene Gattung als vernunftbestimmte und solidarisch handelnde ver-
wirklichen könnte – »Idee des Menschseins« und »Inbegriff […] aller Menschen«417.
Damit schließen sich in Adornos Deutung die Zweck-Mittel-Reflexion und der

414 Adorno, GS 6, S. 276 f.


415 Ebd., S. 268.
416 Ebd., S. 271.
417 Ebd., S. 255.
116 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

emphatische Menschheitsbegriff zusammen: »jeder Einzelne sei als Repräsentant


der vergesellschafteten Gattung Mensch zu achten, keine bloße Funktion des
Tauschvorgangs.«418 So kann Adorno mit großer Plausibilität die Seite der (Bloch
hätte gesagt: konkreten) Utopie in dieser Formulierung des kategorischen Impe-
rativs herausarbeiten: »Das ›Princip der Menschheit als Zwecks an sich selbst‹ […]
ist, aller Gesinnungsethik zum Trotz, kein bloß Inwendiges, sondern Anweisung
auf die Verwirklichung eines Begriffs vom Menschen, der als soziales, wenngleich
verinnerlichtes Prinzip seinen Ort nur in jedem Einzelnen hat.«419
Von hier aus zeigt sich, dass Adornos Kritik am subjektiv-rationalen Charakter
des Sittengesetzes keineswegs dessen vollständige Negation intendiert, sondern als
bestimmte Negation des Aspekts falscher Einheit von kategorischem Imperativ und
selbsterhaltender Vernunft zu verstehen ist. Mit dieser dialektischen Korrektur will
Adorno den emanzipatorischen Gehalt von Kants Moralphilosophie zur Geltung
bringen, die gerade im Aspekt der Differenz beider aufbewahrt ist. »Der Vorwurf,
in der Objektivität des Sittengesetzes spreize einzig die subjektive Vernunft zum
Absoluten sich auf, wäre subaltern. Kant spricht, fehlbar und entstellt, aus, was
gesellschaftlich mit Grund zu fordern wäre. Solche Objektivität ist solange nicht
in die subjektive Sphäre, nicht die der Psychologie und nicht die der Rationalität,
zu übersetzen, sondern existiert zum Bösen und Guten getrennt von ihr fort, bis
besonderes und allgemeines Interesse real zusammenstimmen. Das Gewissen ist
das Schandmal der unfreien Gesellschaft.«420
In der Stellung zum Begriff des Glücks macht Adorno sogar auf Seiten der
Identifikation von kategorischem Imperativ und subjektiver Rationalität eine
Tendenz aus, eben diese Identifikation hinter sich zu lassen. Einerseits erklärt
Kant bekanntlich, im Gegensatz zur Antike, die Glückseligkeit für untauglich,
als Moralprinzip zu dienen, weil sie nicht formales, sondern materiales Prinzip ist
und somit den Willen unter die Heteronomie des »unteren Begehrungsvermögens«
bringen würde421 – vor allem aber, weil sich aus dem Prinzip der Glückseligkeit
keine erfahrungsunabhängigen, universalisierbaren Regeln ableiten lassen.422
Andererseits wird das Glück, vermittelt durch den Begriff der Glückswürdigkeit,
durchaus nicht abstrakt negiert; Tugend »als die Würdigkeit glücklich zu sein« ist
»oberste Bedingung«423 des höchsten Guts, das als Vereinigung von Tugend und

418 Ebd., S. 254.


419 Ebd., S. 255.
420 Ebd., S. 272.
421 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., A 40 f.
422 Vgl. ebd., A63 f.
423 Ebd., A 198.
4.2 Adornos Kantinterpretation 117

Glückseligkeit gedacht wird. Schopenhauer wirft Kant daher die implizite Reha-
bilitierung der Glückseligkeit vor: »Freilich, wenn man es streng nehmen wollte;
so hätte auch Kant den Eudämonismus mehr scheinbar, als wirklich aus der Ethik
verbannt. Denn er läßt zwischen Tugend und Glücksäligkeit doch noch eine geheime
Verbindung übrig, in seiner Lehre vom höchsten Gut, wo sie in einem entlegenen
und dunklen Kapitel zusammenkommen, während öffentlich die Tugend gegen
die Glücksäligkeit ganz fremd thut.«424 Diese von Schopenhauer spöttisch getadelte
Verbindung zählt Adorno zu den starken Seiten von Kants Ethik.
Dass Kant nun die moralischen Zentralbegriffe Gut und Böse nicht zur Grund-
lage des Moralprinzips macht, das heißt, dass er das Sittengesetz nicht aus einer
ontologischen Bestimmung des Guten im Gegensatz zum Bösen ableitet, sondern
vielmehr diese Begriffe durch das Sittengesetz hindurch bestimmt,425 interpretiert
Adorno als eine nominalistisch inspirierte Rückführung auf das Subjekt, die gerade
durch die Fundierung der moralischen Begriffe in subjektiver Vernunft etwas Ob-
jektives vorbereitet. Den stets gesellschaftlich vermittelten und nur gesellschaftlich
zu realisierenden Glücksanspruch der Individuen, den moralischer Rigorismus
und Formalismus ja zunächst hintertreiben, muss Kant sozusagen durch die
Hintertür wieder hineinlassen. »Indem er […] die moralischen Kategorien an der
selbsterhaltenden Vernunft befestigt, sind sie nicht länger durchaus unvereinbar
mit jenem Glück, gegen das Kant sie so hart exponierte. Die Modifikation seiner
Stellung zum Glück im Fortgang der Kritik der praktischen Vernunft sind keine
nachlässigen Konzessionen an die Tradition der Güterethik; vielmehr, vor Hegel,
Modell einer Bewegung des Begriffs. Moralische Allgemeinheit geht, gewollt oder
ungewollt, zur Gesellschaft über.«426

424 Arthur Schopenhauer, Über die Grundlage der Moral, in: Zürcher Ausgabe Bd. 6, S. 157
f.
425 Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., A 110. – Adorno spricht von einer
›stringenten Kritik‹ an der »Ontologie von Gut und Böse als von ansichseienden Gütern«
(GS 6, S. 283).
426 Adorno, GS 6, S. 257. Vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., A 62. – Bei
den Passagen, auf die Adorno im Zusammenhang der »Modifikation« der »Stellung
zum Glück« anspielt, dürfte es sich um die folgenden handeln: A 166 f., A 198 ff. u. A
234 ff. – Die Aspekte des Glücksbegriffs und ihre Rolle in Adornos Moralphilosophie
werden im letzten Kapitel untersucht.
118 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

4.2.3 Die Postulatenlehre

Die immanente Konsequenz des Übergangs zu einer Beziehung auf den gesell-
schaftlichen Gehalt moralphilosophischer Theoreme hat Adorno zufolge ihren
systematischen Ort in Kants Postulatenlehre. Als Postulate bezeichnet Kant drei
leitende Ideen, die zwar nicht bewiesen werden können, aber eine denknotwendige
Voraussetzung für das Funktionieren der Ethik darstellen. »Diese Postulate sind
die der Unsterblichkeit, der Freiheit, positiv betrachtet (als der Kausalität eines
Wesens, so fern es zur intelligibelen Welt gehört), und des Daseins Gottes.«427
Diese Annahmen sind die Grundlage der inneren Stimmigkeit des kategorischen
Imperativs, denn durch sie wird gewährleistet, dass ihm überhaupt sinnvoll Folge
geleistet werden kann; sie stellen die Verbindung zum »höchsten Gut« her. Ohne
die Annahme der Unsterblichkeit der Seele lässt sich der Aufstieg zur »völlige[n]
Angemessenheit der Gesinnungen zum moralischen Gesetze«428 nicht denken, denn
diese Angemessenheit käme, als »Heiligkeit«429, sterblichen Wesen nicht zu; da sie
aber gleichwohl, in Gestalt der Sittlichkeit, »praktisch notwendig gefodert wird«430,
muss sie als Zielpunkt eines unendlichen Progresses gedacht werden, was eben die
»ins Unendliche«431 fortdauernde Existenz der Seele voraussetzt. Kants Darlegung
der Denknotwendigkeit der Freiheit für die Wirkmächtigkeit des Sittengesetzes
ist bereits zur Sprache gekommen. Die »Existenz Gottes« schließlich verbürgt für
Kant die »Möglichkeit des höchsten Guts«432. Das wirkliche Zusammenstimmen
von Sittlichkeit und Glückseligkeit für die Menschen ist ihm zufolge im morali-
schen Gesetz selber nicht angelegt. Erst die Annahme einer Instanz, die als eine
von der Natur unterschiedene oberste »Ursache der gesamten Natur«433 die Ver-
nunftbestimmtheit mit der Naturbestimmtheit des Subjekts vermitteln und damit
die Realisierung von moralischem Handeln ermöglichen kann, erlaubt die in sich
stimmige Vorstellung des höchsten Guts, das heißt »der genauen Übereinstimmung
der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit«434. Ohne diese Vorstellung lässt sich nach
Kant die Verwirklichung der Moralität nicht denken, woraus für ihn folgt: »es

427 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., A 238.


428 Ebd., A 219.
429 Ebd., A 220.
430 Ebd.
431 Ebd.
432 Ebd., A 224.
433 Ebd., A 225.
434 Ebd.
4.2 Adornos Kantinterpretation 119

ist moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen«435. Die Postulate sind
also Voraussetzung des Sittengesetzes – und zugleich erhalten sie erst durch das
Sittengesetz Realität. Denn nur durch das Sittengesetz erweist sich, so Kant, dass
den drei Begriffen auch Objekte entsprechen,436 die aber nicht an sich, sondern eben
nur vermittelt durch ihre Denknotwendigkeit für das Sittengesetz beweisbar sind.
Diese Zirkularität wird bei Adorno nicht thematisiert. Aber er interpretiert
die Konstruktion der Postulatenlehre als Konzession an die Notwendigkeit, in
der ethischen Reflexion über den reinen Formalismus und die Reduktion des
Sittengesetzes auf subjektive Rationalität hinauszugehen und inhaltliche Vorgriffe
auf ein richtiges Leben zu machen – wenn auch verschlüsselt. »Die das Subjekt
transzendierenden Postulate der praktischen Vernunft, Gott, Freiheit, Unsterb-
lichkeit, implizieren Kritik am kategorischen Imperativ, der reinen subjektiven
Vernunft. Ohne jene Postulate könnte er gar nicht gedacht werden, wie sehr auch
Kant das Gegenteil beteuert; ohne Hoffnung ist kein Gutes.«437 Die in diesem Zu-
sammenhang missverständliche Formulierung »wie sehr auch Kant das Gegenteil
beteuert«, ist im Hinblick auf die Gesamtkonstruktion der Kantischen Ethik zu
interpretieren. Dass die Postulate denknotwendig sind, ist ja Kants These; also
will er auch nicht den kategorischen Imperativ ohne sie denken. Adorno möchte
aber anscheinend darauf hinaus, dass schon die Formulierung des kategorischen
Imperativs in der Grundlegung, zu der Kant zufolge die Annahme der Postulate
ja keineswegs notwendig sein soll, inhaltliche Implikationen birgt, die dann erst
in der Postulatenlehre der Kritik der praktischen Vernunft transformiert hervor-
gelassen werden, damit der Schein einer rein formal-apriorischen Begründbarkeit
des kategorischen Imperativs gewahrt bleibt.
Zudem drückt das Postulat der Unsterblichkeit Adorno zufolge auch ein Moment
von kritisch-materialistischem Protest gegen das Skandalon der unwiderruflichen
Endlichkeit aus. Dieser Protest ist gerade darum eine wesentliche Triebkraft des
emanzipatorischen Bestehens auf einer humanen Einrichtung der Welt ist, weil er
über die Welt, wie sie ist, weit hinauszielt: »Daß keine innerweltliche Besserung
ausreichte, den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; daß keine am Unrecht
des Todes rührte, bewegt die Kantische Vernunft dazu, gegen Vernunft zu hoffen.«438
An dieser Stelle wird zumindest im Ansatz auch deutlich, dass Adorno im Hin-
blick auf das Problem des Todes aber keiner abstrakten Utopie seiner vermeintlichen
Überwindung das Wort redet. Es verhält sich nicht so, dass Adorno gegen die

435 Ebd., A 226.


436 Vgl. ebd., A 243.
437 Adorno, GS 6, S. 272.
438 Ebd., S. 378
120 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

Endlichkeit der Menschen eine kontrafaktische Perspektive aufrichten will, die den
Tod als Abzuschaffendes denkt, wogegen Horkheimer den Gedanken der Hoffnung
auf Transzendierung der radikalen Endlichkeit säkularisiert zur »Solidarität der
Sterblichen«.439 Eher scheinen Horkheimer und Adorno einander in diesem Punkt
zu ergänzen. Gerade weil der Tod nicht zu umgehen ist, so könnte man Adornos
Intention umschreiben, ist das – sich zur humanen Solidarität endlicher Wesen
entfaltende – Eingedenken der unwiderruflich und wider alle Vernunft Unterge-
gangenen das Einzige, was wir ihm entgegensetzen können. Wie bei Horkheimer
wird die negativ-radikale Utopie eines Sieges über den Tod zum Stachel, der die
säkularisierte Gestalt des Utopischen, die »innerweltliche Besserung«, überschüssig
und somit wirksam bleiben lässt.
In einer Formulierung aus der Metaphysik der Sitten entdeckt Adorno den
Vorgriff auf eine Gesellschaft, in der die Versöhnung des allgemeinen mit den be-
sonderen Interessen durch die Überwindung des Antagonismus möglich geworden
wäre. Kant bestimmt dort die Rechtmäßigkeit einer Handlung als Verträglichkeit
der sich in ihr manifestierenden Willensfreiheit mit der eines jeden anderen han-
delnden Subjekts.440 »Der Satz des späten Kant, die Freiheit eines jeden Menschen
müsse nur insoweit eingeschränkt werden, wie sie die Freiheit eines anderen
beeinträchtigt […], chiffriert einen versöhnten Zustand, der nicht nur über dem
schlecht Allgemeinen, dem Zwangsmechanismus der Gesellschaft wäre, sondern
auch über dem verstockten Individuum, in welchem jener Zwangsmechanismus
sich wiederholt.«441 Hier stellt sich die Frage, ob Adorno nicht in Widerspruch zu
seinen eigenen Prämissen gerät, wenn er den Freiheitsbegriff, dem in der zitierten
Passage von Kant Ausdruck gegeben wird, uneingeschränkt positiv bewertet.
Denn dieser deckt sich genau mit jener bürgerlichen Vorstellung von Freiheit, die
der frühe Marx in seiner Betrachtung der Menschenrechtsdeklaration kritisiert:
»Freiheit ist also das Recht, alles zu tun und zu treiben, was keinem anderen scha-
det. Die Grenze, in welcher sich jeder dem anderen unschädlich bewegen kann, ist
durch das Gesetz bestimmt, wie die Grenze zweier Felder durch den Zaunpfahl

439 Vgl. Gunzelin Schmid Noerr, Das Eingedenken der Natur im Subjekt. Zur Dialektik von
Vernunft und Natur in der Kritischen Theorie Horkheimers, Adornos und Marcuses,
Darmstadt 1990, S. 231 ff., bes. S. 266.
440 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, a. a. O., A 33: »Eine jede Handlung ist recht, die oder
nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach
einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann etc.«.
441 Adorno, GS 6, S. 279. Vgl. dazu Horkheimers Kant-Interpretation, auf die eingangs
verwiesen wurde.
4.2 Adornos Kantinterpretation 121

bestimmt ist. Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich
zurückgezogener Monade.«442
Marx’ Befund geht dahin, dass sich diese Freiheit der bürgerlichen Monaden
sehr gut mit dem unfreien Gesamtzustand der antagonistischen Gesellschaft
verträgt, ja dass er eine von deren ideellen Voraussetzungen ist. Gerade auf die
Passagen der Kritik der politischen Ökonomie, in denen das gezeigt wird, beruft
sich Adorno aber immer wieder. Dass er nun aus Kants Version des ideologischen
bürgerlichen Freiheitsbegriffs, dessen Voraussetzung die Hypostasierung des
verhärteten monadischen Individuums ist, die Chiffre einer versöhnten Gesell-
schaft herausliest, könnte als Inkonsistenz bezeichnet werden. Andererseits darf
man aber nicht den Wahrheitsgehalt von Kants Formulierung übersehen, wenn
er auch in Verbindung mit einem falschen Moment steht. Wenn die Vision der
bürgerlichen Freiheit wirklich realisiert wäre, hätte das zur Voraussetzung, dass
der gesellschaftliche Antagonismus vorher überwunden worden sein muss. Die
realen Bedingungen für die Unfreiheit liegen in einem Bereich, der dem Zugriff
von Recht und Moral in der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft entzogen ist:
in der ökonomischen Sphäre, in der die Logik der Verwertung und Akkumu-
lation herrscht. Die unkritisierte Herrschaft des Ökonomischen müsste durch
politisches Handeln emanzipierter, ihrer selbst als gesellschaftliches Subjekt
bewusster Menschen beendet werden. Das Unwahre an diesem Freiheitsbegriff
besteht in dem Absehen davon, dass es seine Voraussetzungen selber sind, die
seine Verwirklichung verhindern. Nicht die Idee der Freiheit – die nicht mehr
uneingeschränkte Willkür des jeweils Stärksten wäre, sondern solidarisches
Miteinander von vernunftgeleiteten Individuen – ist ideologisch, sondern die
Vorstellung, dass sie sich auf dem Boden der antagonistischen bürgerlichen Ge-
sellschaft in die Wirklichkeit überführen lasse. Das heißt, Kants Diktum ist, wenn
man es so interpretiert, Wahrheit in falscher Gestalt. Da »chiffrieren« bekanntlich
bedeutet, etwas verschlüsselt auszudrücken, wäre es also nicht inkonsistent, wenn
Adorno Kant zugutehält, dass dieser objektiv einen richtigen Zustand anvisiert,
auch wenn er vom Weg dorthin keinen angemessenen Begriff hat. Ideologiekritik
heißt ja gerade, diese Ambivalenz an den jeweils fortgeschrittensten Gestalten
des Bewusstseins herauszuarbeiten. »Das Wirken einer wahren Kritik der Ge-
sellschaft besteht nicht darin, die Ideale zum alten Eisen zu werfen, sondern sie
zu verwirklichen. Man könnte mit Übertreibung sagen: der Sinn der Kritik an

442 Karl Marx, Zur Judenfrage, in: Marx/Engels, Werke Bd. 1, a. a. O., S. 364.
122 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

Ideologie ist, die Ideologie ernst nehmen, sie verwirklichen, zu ihrer eigenen
Wahrheit bringen, und nicht, sie einfach negieren.«443
Eine Stelle aus Adornos Minima Moralia unterstützt diese Interpretation. Dort
wird auf Kants Schrift Zum ewigen Frieden verwiesen. Adorno deutet die Idee
des ewigen Friedens wird als begrifflich-abstrakter Stellvertreter des Vorscheins
eines versöhnten Zustands – nicht nur der Menschen, sondern auch der Natur:
»Keiner unter den abstrakten Begriffen kommt der erfüllten Utopie näher als der
vom ewigen Frieden.«444 Diese Interpretation befindet sich dann im Einklang mit
Kants Intentionen, wenn man seine Geschichtsphilosophie als Konkretion seiner
Ethik versteht. Konkretion bedeutet hier eine Perspektive der Verwirklichung des
emphatischen Autonomieanspruchs der praktischen Philosophie.445 Ewiger Friede
wäre für Kant ein Stück Realisierung der Moralität. Die Idee eines moralischen
Fortschritts in der Geschichte ist bei Kant freilich darum auch problematisch,
weil sie angesichts der immanenten Widersprüche seiner Geschichtsphilosophie
postulativ bleibt. Adornos Interpretation ist dieser Widersprüchlichkeit bei Kant
eingedenk, akzentuiert aber immer wieder emphatisch die gleichsam überschüs-
sigen Potentiale, um sie einer Theorie zueignen zu können, deren Idee Autonomie
und Emanzipation ist.446

4.2.4 Der intelligible Charakter

In der Entfaltung der Dialektik des intelligiblen Charakters konzentriert sich


Adornos Kantkritik. Zunächst arbeitet er die immanenten Probleme in dessen
Konstruktion heraus, die sich ihm als Unstimmigkeiten erweisen.

443 Adorno, PM 1, 31. 1. 1957. – Zu Adornos Ideologiebegriff siehe GS 8, 457 ff. und GS
10, 537 ff.; siehe auch Kurt Lenk, Problemgeschichtliche Einleitung, in: ders. (Hrsg.),
Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie, Frankfurt/M., New York 1984, S. 13 ff.
444 Adorno, GS 4, S. 177.
445 Kants Geschichtsphilosophie ist, unter regulativem Aspekt, die Kritik des »vergangenen
und gegenwärtigen Abschnitt[s] der Menschheitsgeschichte als Teil der Naturgeschichte«,
denn diese ist ihm zufolge »noch nicht von vernünftigen menschlichen Zwecksetzungen
beherrscht.« (Matthias Lutz-Bachmann, Geschichte und Subjekt, Freiburg 1988, S. 66).
446 Auch Lutz-Bachmann verweist auf Kants »entscheidenden Beitrag zur Konzeption« einer
»der Emanzipation verpflichteten Theorie der Geschichte« (Lutz-Bachmann, Geschichte
und Subjekt, a. a. O., S. 104). – Vgl. zu diesem Thema auch Willi Oelmüller, Kants Beitrag
zur Grundlegung einer praktischen Philosophie der Moderne, in: Rehabilitierung der
praktischen Philosophie Bd. II, a. a. O., S. 521 ff.
4.2 Adornos Kantinterpretation 123

Das Grundproblem von Kants Ethik ist der Dualismus der Welten. Die Ver-
mittlung zwischen der »Sinnenwelt« und der »intelligiblen Welt« muss zustande
gebracht werden, damit »der Mensch, als zu beiden Welten gehörig«447, moralisch
handelndes Subjekt sein kann. Diese Vermittlung zwischen »dem Dasein und dem
Sittengesetz«448 soll die Lehre vom intelligiblen Charakter leisten und damit die
Idee der Freiheit retten. »Der Nachweis, der Charakter gehe weder in Natur auf
noch sei er ihr absolut transzendent […], soll die prekäre Vermittlung besorgen.«449
Gegenüber Kant macht Adorno geltend, dass »Motivationen« notwendig sind, um
den menschlichen Willen zum Handeln zu bestimmen; diese jedoch »haben ihr
psychologisches Moment«450.
Adorno bezieht sich hier implizit auf Schopenhauer. An anderer Stelle nennt er
ihn als Gewährsmann, der gegen Kant geltend gemacht habe, dass Motivationen
eine Art innerer Kausalität darstellen.451 Das ist eine Anspielung auf Schopen-
hauers Begriff der Motivation, die als »die durch das Erkennen hindurchgehende
Kausalität«452 bezeichnet wird; eine Kausalität, die unser Handeln bestimmt.
Adorno verwendet den Motivationsbegriff in diesem Zusammenhang aber auch
im Sinne der Wundtschen Willenspsychologie und ihrer späteren Modifikationen
durch kognitive Handlungstheorien. Deren Fragestellung zielt auf die psychischen
Wirkmechanismen ab, die im Menschen den Übergang von Denken und Handeln
ermöglichen und wirklich werden lassen.453
Angesichts der Ausblendung der Motivationsproblematik bleibt Kants Versuch,
»den scheinbaren Widerspruch zwischen Naturmechanismus und Freiheit […]
aufzuheben«454, antinomisch. Er führt zu immanent widersprüchlichen Formulie-
rungen wie der von einer »intelligiblen Existenz«455 des Subjekts oder der von einer
»Spontaneität des Subjekts als Ding an sich selbst«456. Adorno moniert daran, dass
Kant, um seine Grundlage der Moral zu retten, zusammenzwingt, was kontradik-

447 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., A 155.


448 Adorno, GS 6, S. 283.
449 Ebd., S. 284.
450 Ebd.
451 Vgl. Adorno, PM 2, 28. 5. 1963 (Nachgelassene Schriften Bd. 10, S. 79).
452 Arthur Schopenhauer, Preisschrift über die Freiheit des Willens, Zürcher Ausgabe,
a. a. O., Bd. 6, S. 70.
453 Vgl. dazu den Artikel »Motivation«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.
6, Sp. 218 ff.
454 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., A 174.
455 Ebd., A 175.
456 Ebd., A 178.
124 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

torisch entgegengesetzt ist, nämlich Intelligibilität und Dasein in der Zeit, und dass
er affirmativ bestimmen will, was sich der Kritik der reinen Vernunft zufolge unse-
rer positiven Erkenntnis entzieht. Auf diese Weise »erschleicht« Kant, so Adorno,
für den bloß empirischen Sachverhalt, dass der Wille sich vom Sittengesetz leiten
lässt, »überempirische Autorität«457. Trotz der immanenten Widersprüche hält
Kant demzufolge an seiner Konstruktion fest, weil »ohne intelligiblen Charakter
moralisches Handeln in der Empirie, Einwirkung auf diese unmöglich wäre und
damit die Moral. Er muß verzweifelt um das sich bemühen, was der Grundriß des
Systems verhindert.«458
Darum bleibt Adorno zufolge unklar, was der intelligible Charakter ist und
wie sein Verhältnis zum empirischen zu denken sei. Wenn er, in der Tradition des
platonischen Chorismos, radikal unterschieden ist von der Welt der Phänomene,
dann würde er in dem Moment seinem Begriff nicht gerecht werden, da er in diese
eingreift und insofern auch der Kausalität unterliegen würde. Würde er dagegen,
um diese Ungereimtheit zu vermeiden, von vornherein als nicht schlechthin von
der Erscheinungswelt getrennt gedacht, dann würde er erst recht in Widerspruch
zu sich selbst treten.459 So drücke sich in den objektiven Aporien des intelligiblen
Charakters die Dialektik des Verhältnisses von Rationalität und Natur – bei Kant:
mundus intelligibilis und mundus sensibilis – aus. Adorno konstruiert diese Dia-
lektik im Rückgriff auf ein Verhältnis von Genesis und Geltung der Rationalität,
das in seiner genetischen Hypothese an Freuds Theorie des psychischen Apparats
angelehnt ist. »Daß Vernunft ein anderes als Natur und doch ein Moment von
dieser sei, ist ihre zu ihrer immanenten Bestimmung gewordene Vorgeschichte.
Naturhaft ist sie als die zu Zwecken der Selbsterhaltung abgezweigte psychische
Kraft; einmal aber abgespalten und der Natur kontrastiert, wird sie auch zu deren
Anderem.«460
Vor diesem Hintergrund versucht Adorno, die Intention auf den Begriff zu
bringen, die hinter den problematischen Bestimmungen des intelligiblen Cha-
rakters steckt. Dessen Begriff steht ihm zufolge für »die Einheit der Person«461.
Während die transzendentale Einheit der Apperzeption, das oberste Prinzip der
theoretischen Philosophie, für die Integration der Erscheinungen zuständig sei,
bestehe die Aufgabe der Einheit der Person, des obersten Prinzips der praktischen
Philosophie, in der Integration diffuser Impulse, Triebenergie und ähnlicher

457 Adorno, GS 6, S. 284.


458 Ebd., S. 284 f.
459 Vgl. ebd. S. 285 f.
460 Ebd., S. 285.
461 Ebd., S. 287.
4.2 Adornos Kantinterpretation 125

Regungen. Das wird bei Kant präzisiert durch die Unterscheidung zwischen der
»Person«: das Subjekt im Hinblick auf seine Zugehörigkeit zur »Sinnenwelt«,
und der »Persönlichkeit«: dasselbe Subjekt im Hinblick auf seine Zugehörigkeit
zur »intelligibelen Welt«. »Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanism
der ganzen Natur«462 erlangt das Subjekt als Persönlichkeit, indem die Person
unterworfen wird. Für Adorno jedoch gilt: »Persönlichkeit ist die Karikatur von
Freiheit«463. Das heißt: Was eine unfreie Gesellschaft an Freiheit zulässt, ist durch
den verinnerlichten Identitätszwang entstellt, ohne den es doch noch nicht einmal
dieses Stück Freiheit gäbe. Die Aufgabe, sowohl der transzendentalen Synthesis
als auch des intelligiblen Charakters, sei daher Subsumtion des Besonderen,
Mannigfaltigen unter ein Identitätsprinzip. Adornos These lautet: Kant »dürfte
den intelligiblen Charakter am ehesten als starkes Ich sich vorgestellt haben, das
alle seine Regungen vernünftig kontrolliert«464. Damit aber wird die »bürgerliche
Affirmation der Persönlichkeit an sich auf Kosten ihres Inhalts«465 als ethisches
Prinzip inthronisiert: »Die formale Leistung der Integration« – die auf uneinge-
standenen inhaltlichen Prämissen beruht –, »die sedimentierte Beherrschung der
inneren Natur, usurpiert den Rang des Guten.«466 Das hat zwei Konsequenzen: die
protestantisch-gesinnungsethische Verabsolutierung der Persönlichkeit unabhängig
von den Handlungen, in denen sie sich manifestiert, und das Umschlagen des in-
telligiblen Charakters in »unfreiwillige Irrationalität«467. Adornos Kritik entzündet
sich daran, dass der intelligible Charakter in der Zone der Indifferenz zwischen
Natur und Freiheit, wenn er als rein formales Integrationsprinzip gefasst wird,
schließlich zu »einem irrational Soseienden«468 wird; dass er »jene zweite Natur,
als welche die Gesellschaft ohnehin die Charaktere ihrer sämtlichen Angehörigen
stanzt«, in seinem Begriff noch einmal »verdoppelt«469, und dadurch kaum mehr
von blindem »Schicksal«470 zu unterscheiden sei.
Dagegen setzt Adorno seinen eigenen Versuch, das wahre Wesen des intelligiblen
Charakters zu begreifen. »Wollte man es wagen, dem Kantischen X des intelligiblen
Charakters seinen wahren Inhalt zu verleihen, der sich gegen die totale Unbe-

462 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., A 155.


463 Adorno, GS 6, S. 294.
464 Ebd., S. 289.
465 Ebd., S. 288.
466 Ebd., S. 289.
467 Ebd., S. 290.
468 Ebd.
469 Ebd., S. 291.
470 Ebd., S. 290.
126 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

stimmtheit des aporetischen Begriffs behauptet, so wäre er wohl das geschichtlich


fortgeschrittenste, punktuell aufleuchtende, rasch verlöschende Bewußtsein, dem
der Impuls innewohnt, das Richtige zu tun.«471 Was Kant als verbürgte Aktualität
konzipiert, wird von Adorno in den Status der Potentialität zurückübersetzt. Der
intelligible Charakter ist für ihn nicht die immer schon vorhandene Grundlage der
Moralität, sondern, um wiederum ein Wort von Bloch zu gebrauchen, gleichsam
ein Noch-nicht-Seiendes, das nur vereinzelt und ephemer ins Dasein tritt. »Er ist
die konkrete, intermittierende Vorwegnahme der Möglichkeit, weder fremd den
Menschen noch mit ihnen identisch.«472 »Möglichkeit« hat hier einen Doppelsinn.
Gemeint ist zum einen die Möglichkeit von moralischem, das heißt nicht-instru-
mentellem, Handeln in der bestehenden Gesellschaft, in der richtiges Handeln
nicht durchgängiges Prinzip, sondern stets nur vereinzeltes und verschwindendes
Moment sein kann. Zum anderen ist ein Vorgriff auf die konkrete Utopie eines ge-
sellschaftlichen Zustands gemeint, in dem die Voraussetzungen für solches Handeln
präsent wären: als durchsichtige Vermittlung des besonderen mit dem allgemeinen
Interesse. Im bestehenden ›falschen Leben‹ ist diese Möglichkeit blockiert.
Adorno zieht eine Parallele zwischen dem »reinen Willen« und dem intelligiblen
Charakter: Beide stehen dafür ein, dass die Subjekte nicht in ihrer Bestimmtheit
durch den natürlichen und psychologischen Kausalzusammenhang aufgehen,
sondern stets zugleich (wenn auch in einem eingeschränkten Sinn) freie, selbstän-
dige Produzenten der Verhältnisse sind, in denen sie leben. Darin ist objektiv die
Möglichkeit aufbewahrt, dass diese Verhältnisse im Ganzen einmal nicht mehr
heteronom, sondern autonom gestaltet werden könnten. Hier ist der systematische
Ort für die wohl zentrale Kategorie von Adornos Kant-Kritik: das »Hinzutretende«.
Der Begriff steht bei Adorno zunächst für das nicht in Rationalität aufzulösen-
de, naturhaft somatische Moment, ohne das keine Praxis möglich wäre: für den
Übergang vom Bewusstsein zur tatsächlichen Handlung, ein Übergang, der weder
reines Bewusstsein ist noch bloß bewusstloser Teil des Naturzusammenhangs. »Die
Entscheidungen des Subjekts schnurren nicht an der Kausalkette ab, ein Ruck er-

471 Ebd., S. 292. – Hier schwingt eine Reminiszenz an Benjamins geschichtsphilosophische


Thesen mit. Dort wird die Aufgabe des historischen Materialismus als das festhaltende
Begreifen der ›vorbeihuschenden‹, ›aufblitzenden‹ historischen Erinnerung im
»Augenblick einer Gefahr« bezeichnet. Damit ist eine Aneignung der Geschichte
anvisiert, die Voraussetzung verändernder Praxis wäre – und auch als theoretische
Tätigkeit nur in Verbindung mit dem Impuls gelingen kann, der auf revolutionäre Praxis
abzielt (vgl. Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte
Schriften, hg. v. R. Tiedemann u. H. Schweppenhäuser, Bd. 1.2, Frankfurt/M 1980,
S. 695).
472 Adorno, GS 6, S. 292.
4.2 Adornos Kantinterpretation 127

folgt.«473 Das »Hinzutretende, Faktische, in dem Bewußtsein sich entäußert«474, wird


von Kant cartesianisch-rationalistisch ganz dem Bewusstsein zugeschlagen. Die
materiale Realisierung der Freiheit vom Naturzusammenhang, der Ȇbergang des
Willens in Praxis«475, bedarf aber der Vermittlung mit dem, was nicht Bewusstsein
ist. »Der Impuls, intramental und somatisch ineins, treibt über die Bewußtseins-
sphäre hinaus, der er doch auch angehört. Mit ihm reicht Freiheit in die Erfahrung
hinein«476 – und zwar ganz elementar, denn ohne die Basis körperlicher, ›motori-
scher Reaktionsformen‹477 gäbe es überhaupt keinen Willen, weil sich das Subjekt
gar nicht an seinen Objekten abarbeiten könnte. Das wird Adorno zufolge in der
bereits diskutierten Identifikation mit Vernunft unterschlagen. Vor-Vernünftiges
hat in Kants Konstruktion keinen Platz; zunächst einmal, so Adorno, ist aber das
Hinzutretende »Impuls, Rudiment einer Phase, in der der Dualismus des Extra-
und Intramentalen noch nicht durchaus verfestigt war«478.
Aber mit dem Begriff des Hinzutretenden ist noch mehr gemeint als diese
elementare Voraussetzung für Praxis überhaupt. »Wahre Praxis, der Inbegriff
von Handlungen, welche der Idee von Freiheit genügten«479, wäre nach Adorno
das Zusammenspiel von vernünftiger Reflexion und Handeln zu einem richtigen
Handeln.480 Abgezielt ist also auf eine emphatische Bestimmung des adäquaten
Verhältnisses von Theorie und Praxis. In diesem Sinne ist das Hinzutretende die
Spontaneität, die nicht nur reines Bewusstsein wäre.481 Der Begriff bezeichnet
demnach zugleich die elementare Grundlage jeder Praxis und die Antizipation
geschichtlich verändernder Praxis, die dem Begriff der revolutionären Spontaneität
verwandt ist und zudem, als ihr »Phantasma«, die »Versöhnung von Geist und
Natur«482 gedanklich aufbewahrt.

473 Ebd., S. 226. – Mit dem Begriff des Hinzutretenden bewegt sich Adorno auf einem Gebiet,
das Scheler in seiner Kant-kritischen Begründung der Ethik weitläufig bearbeitet hat;
siehe das Kapitel über den Begriff der Person in Max Scheler, Der Formalismus in der
Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch eines ethischen Personalismus, Bern
u. München 1980, II. Teil, Kapitel VI.
474 Ebd.
475 Ebd., S. 228.
476 Ebd.
477 Ebd., S. 229.
478 Ebd., S. 227.
479 Ebd., S. 228.
480 Das wurde im vorangegangenen Kapitel dargestellt.
481 Vgl. ebd., S. 228 f.
482 Ebd., S. 228.
128 4 Die mögliche Verwirklichung der Menschheit

Freiheit, Hinzutretendes, reiner Wille und intelligibler Charakter stehen bei


Adorno für das emanzipatorische Potential einer anderen Praxis ein. Allesamt sind
sie indessen nur negativ zu bestimmen. »Freiheit ist einzig in bestimmter Negation
zu fassen, gemäß der konkreten Gestalt von Unfreiheit.«483 Diese perpetuiert sich als
konstante Verhinderung der besseren Möglichkeit. »Die Trennung des intelligiblen
vom empirischen Charakter […] wird erfahren an dem äonenalten Block, der vor den
reinen Willen, das Hinzutretende sich schiebt: äußere Rücksicht aller erdenklichen
Art, vielfach subaltern irrationale Interessen der Subjekte falscher Gesellschaft;
generell das Prinzip des partikularen Eigeninteresses, das jedem Individuum ohne
Ausnahme in der Gesellschaft, wie sie ist, sein Handeln vorschreibt, und der Tod
aller ist.«484 Um zu präzisieren, was die Aktualisierung richtigen Handelns immer
wieder verhindert, muss hier ergänzt werden, dass es für – den darin konsequent
Marx folgenden – Adorno das partikulare Eigeninteresse als Funktion der Hetero-
nomie des Wertgesetzes ist, das uns zur zweiten Natur geworden ist.
»Am Ende«, folgert Adorno, »wäre der intelligible Charakter der gelähmte
vernünftige Wille.«485 Er wendet so das affirmative Prinzip der Kantischen Ethik
um in eine Negationsbestimmung, die aus der unnachgiebigen Kritik der beste-
henden Negativität resultiert. Als solche schlägt sie aber nicht Hegelisch um in
neue Positivität. »Als Möglichkeit des Subjekts ist der intelligible Charakter wie
die Freiheit Werdendes, kein Seiendes.«486 In dieser Hinsicht wird Kants Defizit,
die Unbestimmtheit des intelligiblen Charakters, zum Vorzug: zur Weigerung,
affirmativ auszumalen, was sich allein negativ-utopisch umschreiben lässt. Der
intelligible Charakter »wäre verraten, sobald er dem Seienden durch Deskription,
auch die vorsichtigste, einverleibt würde. Im richtigen Zustand wäre alles […] nur
um ein Geringes anders als es ist, aber nicht das Geringste läßt so sich vorstellen,
wie es dann wäre.«487 Hier nähert sich Adorno dem Benjaminschen Motiv des Mes-
sianismus. Aber er gerät nicht in die Aporien, die eine theologische Vereinnahmung
der Konzeption des intelligiblen Charakters unweigerlich mit sich bringen würde.
Denn der »Wahrheitsgehalt der Lehre vom Intelligiblen«488 ist nicht abgelöst
von der Verstrickung ins Empirische zu haben. Einerseits Stellvertreter einer Uto-
pie, steht er doch andererseits nicht unvermittelt dem Schuldzusammenhang der

483 Ebd., S. 230.


484 Ebd., S. 293.
485 Ebd.
486 Ebd., S. 293 f.
487 Ebd., S. 294.
488 Ebd., S. 293 (Kolumnentitel).
4.2 Adornos Kantinterpretation 129

Realität gegenüber; er trägt deshalb auch dessen Spuren des Unwahren.489 Der im
vorliegenden Zusammenhang zentrale Befund der »Metakritik der praktischen
Vernunft« lautet: Der Versuch, Freiheit positiv zu bestimmen, muss in einer unfreien
Gesellschaft in Aporien enden. Was daraus für Adorno folgt, soll im folgenden
Kapitel untersucht werden.

489 Vgl. ebd., S. 294.


Die Universalität des Freiheitsbegriffs:
Adornos dialektische Bestimmung 5
der Freiheit
5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs
5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs

Titel und Untertitel des Kapitels »Freiheit. Zur Metakritik der praktischen Vernunft«
aus der Negativen Dialektik lauten in den früheren Fassungen des Typoskripts:
»Determinismus. Paraphrasen zu Kant«490. Wird zunächst der Akzent deskriptiv
auf die faktische Abwesenheit von Freiheit gelegt, die Anlass einer Kant-Interpre-
tation ist, welche mit Understatement als »Paraphrase« bezeichnet wird, so kündigt
der Übergang zum späteren Titel Adornos Interesse an, die immanente Kritik des
antinomischen Freiheitsbegriffs bei Kant mittels einer über Kant hinausgehenden
Interpretation zur Grundlage eines eigenen, programmatischen und antizipierenden,
Begriffs von Freiheit zu machen.
Adorno diskutiert das Freiheitsproblem vor dem Hintergrund der traditionellen
Kontroverse über Freiheit und Determinismus, die er ideologiekritisch auf ihren
sozialen Gehalt bezieht.491 Dabei geht er von der Zurückweisung der These Schlicks
aus, dass kontrakausale Freiheit ein »Scheinproblem« sei, nämlich eine auf sprach-
lichen Verwechselungen beruhende Unterstellung, die behauptet, dass es Freiheit
nur dort gebe, wo die Geltung der Naturgesetze suspendiert sei.492
Wie schon in der sozialphilosophischen Kant-Deutung offensichtlich wurde,
umfasst Adornos Freiheitsbegriff immer zugleich den theoretisch-individuellen
Aspekt und den praktisch-politischen Aspekt. Das trägt der traditionellen philo-
sophischen Arbeit am Begriff der Freiheit Rechnung. Wäre Freiheit philosophisch
nicht zu erweisen, gäbe es auch keine Freiheit des Handelns, und Moralphilosophie
wäre gegenstandslos. Die kategoriale Unterscheidung von Sein und Sollen, die

490 Ts 15136 im Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt/M.


491 Vgl. Adorno, GS 6, S. 260.
492 Vgl. Moritz Schlick, Wann ist der Mensch verantwortlich, in: U. Pothast (Hrsg.), Seminar:
Freies Handeln und Determinismus, Frankfurt/M. 1978, S. 157 ff.; zur Diskussion und
Kritik der These vom Scheinproblem vgl. Ulrich Pothast, Die Unzulänglichkeit der
Freiheitsbeweise, Frankfurt/M. 1987, S. 145 ff.

G. Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz, DOI 10.1007/978-3-658-11771-9_5,


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132 5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs

den Begriff von Freiheit voraussetzt, steht in einem objektiven Verhältnis zu ihrer
tatsächlichen Differenz. Nur wenn wir erkennen, dass etwas sein soll, können
wir hinausgelangen über das, was ist. Die deterministische Leugnung jeglicher
Freiheit widerspricht der eigenen Voraussetzung dieser Leugnung, denn die ist
ohne Freiheit des begreifenden Denkens vom Mechanismus der Naturkausalität
nicht zu haben. Rationalität ist verwirklichte Freiheit vom Naturzwang. Zugleich
ist sie nach Adorno, der hier Kants Freiheitsantinomie materialistisch zuspitzt, als
gesetzmäßig verfasste rationale Identität aber auch transformierte Verdoppelung
des Naturzwangs. Auf gesellschaftlich-praktischem Gebiet ist die Reproduktion
des Lebens der Menschen verwirklichte Freiheit vom Naturzusammenhang und
gleichzeitig dessen veränderte Wiederherstellung: in Gestalt eines naturwüchsigen
Vergesellschaftungsgesetzes, das als falsche Totalität des Allgemeinen die Indivi-
duen unter sich zusammenzwingt. Das ist der Kern von Adornos sozialphiloso-
phischem Verständnis der Freiheitsantinomie. Er denkt die beiden Aspekte der
theoretisch-individuellen und der praktisch-gesellschaftlichen Freiheit in einem
Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit.
Dass »Freiheit nur durch den zivilisatorischen Zwang hindurch, nicht als retour à
la nature real werden kann«493, steht für Adorno fest. Zunächst ist nun seine Fassung
dieser Dialektik auf dem Gebiet des ersten Aspekts zu untersuchen.
Frei ist das Subjekt nur als eines, das mit Rationalität begabt ist, die seinen Willen
bestimmt. Aus der Heteronomie der diffusen, naturhaften Triebregungen führt nur
die rationale Identität des denkenden Subjekts heraus, das sich in der Unterscheidung
von äußerer Natur ebenso wie von seiner inneren Natur konstituiert, indem es sich
als von den einzelnen Impulsen unterschiedenes Substrat derselben erfährt. Ohne
Naturbeherrschung gäbe es für die Menschen keine Freiheit. Naturbeherrschung
aber ist Zwang; und insofern ist Freiheit substantiell mit ihrem Gegenteil verbunden.
Doch die Seite der Identität von Freiheit und Zwang ist nicht alles, denn zugleich
erlaubt erst die phylogenetisch und ontogenetisch erreichte Freiheit der rationalen
Identität die Bestimmung dessen, was dieser Identität nicht subsumierbar ist. Ohne
Identität kein Nichtidentisches.
Wenn Adorno die Identität von Freiheit und Herrschaft kritisiert, die sich
in Kants Formulierung des Sittengesetzes auch als introjizierte Gestalt der Idee
politischer Freiheit durch Selbstgesetzgebung präsentiert, wie sie von Rousseau

493 Adorno, GS 6, S. 150.


5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs 133

postuliert wurde,494 dann tut er dies nicht, um zur Entkoppelung beider Elemente
im Namen eines diffusen Anarchismus der Impulse aufzufordern.495
Nach Klaus Günther sind es drei systematische Gesichtspunkte, unter denen
Adorno die Seite der Identität von Freiheit und Repression untersucht. Die spe-
kulativ-materialistische (wie im vorigen Kapitel bereits gesagt wurde, an Freud
anschließende) These, derzufolge sich Vernunft als konstitutive Bedingung von
Subjektitvität genetisch von der triebenergetischen Naturbasis des Menschen ab-
gezweigt habe, wendet Adorno gegen die Verleugnung dieses Sachverhalts, die er
der idealistischen Lehre von der Autonomie der Vernunft vorhält. Die autonome
Vernunft, die, als das Andere der Natur, ihrer genetischen Verbindung mit ihrem
Anderen nicht mehr eingedenk ist, nimmt nach Adorno selber quasi-naturhafte
Züge an, weil sie undialektisch vergisst, dass sie aus einem Mittel zum Zweck
der Selbsterhaltung erst zu einem autonomen Medium der (Selbst-) Reflexion
geworden ist.496 Der zweite Gesichtspunkt ist, wie Günther darlegt, die Engfüh-
rung von Freiheit und Identität, die Adorno der Subjektphilosophie vorwirft.
Die Subordination des Objekthaft-Nichtidentischen unter das subjektive Prinzip
identifizierenden Denkens sieht Adorno als Strukturgesetz, das er, wie Günther
zeigt, im Freiheits-Kapitel der Negativen Dialektik an drei Manifestationen im
Denken Kants kritisiert: dem Dualismus der Antinomienlehre, der abstrahierenden
Verallgemeinerung, die der Konstruktion des kategorischen Imperativs zugrunde
liegt, und der Lehre vom Sittengesetz als Faktum der Vernunft.497 Und schließlich
führt Adorno die Indifferenz von Freiheit und Repression auf die »konstruktiven
Zwänge […] des idealistischen Systemdenkens«498 zurück. Er interpretiert Kants
Dualismus der Welten auf der Folie des Cartesianischen Substanzendualismus und
kritisiert die Substantialisierung der – in der Kritik der reinen Vernunft analytisch

494 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1986, S. 17.


495 Diesem Missverständnis scheint Pothast erlegen zu sein, dessen Interpretation der
Kantkritik aus der Negativen Dialektik suggeriert, Adorno reduziere das Sittengesetz
vollständig auf »die verinnerlichte Norm einer unterdrückerischen Gesellschaft« (Pothast,
Die Unzulänglichkeit der Freiheitsbeweise, a. a. O., S. 302); vgl. dagegen Adorno, GS 6,
S. 272 (siehe oben, Kapitel 4). – Klaus Günther hat gezeigt, dass Adorno vielmehr der
unreflektierten Einheit von Freiheit und Herrschaft, die er an Kants Autonomiebegriff
konstatiert, die Reflexion dieser Identität entgegenhält, die er zur Bedingung der
Einsicht in die Differenz von Freiheit und Herrschaft macht (vgl. Günther, Dialektik
der Aufklärung in der Idee der Freiheit, a. a. O.).
496 Vgl. Adorno, GS 6, S. 285.
497 Vgl. Günther a. a. O., S. 242–248 (siehe dazu die entsprechenden Ausführungen im
vorigen Kapitel).
498 Günther, a. a. O., S. 248 (im Original kursiv).
134 5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs

durchgeführten – Trennung von Vernunft und Wirklichkeit, die sich in der Rede
von den zwei Reichen anmeldet, in die, der Kritik der praktischen Vernunft zufolge,
die Welt zerfalle. Aus der Notwendigkeit, beide Welten auf dem Weg über eine Ge-
setzmäßigkeit der Konstitution der Erscheinungen durch das erkennende Subjekt
miteinander zu vermitteln, folgt nach Adorno die Verquickung von Freiheit und
Herrschaft. »Freiheit heißt bei Kant soviel wie die reine praktische Vernunft, die
ihre Gegenstände sich selbst produziert […]. Die darin implizierte absolute Auto-
nomie des Willens wäre soviel wie absolute Herrschaft über die innere Natur.«499
Hier drängt sich der Verdacht einer Ontologisierung von Kants Vernunftkritik auf.
Dagegen könnte aber geltend gemacht werden, dass Adorno Kants Intention auf
Verwirklichung der Vernunft stark macht, und die würde sich bei der Annahme
eines strikt ontologischen Dualismus ja von vornherein ausschließen.500
Die kritische Untersuchung der Identität von Freiheit und Herrschaft führt
Adorno indessen im Namen ihrer Differenz durch.501 Wie in der Dialektik der
Aufklärung die objektive Ambivalenz im Vernunftbegriff zu bestimmen versucht
wurde – nämlich zwischen den Polen des instrumentalistischen Systemzwangs im
Dienste verabsolutierter Selbsterhaltung und der Utopie rationaler Solidarität einer
befreiten Menschheit als ganzer502 –, so geht es Adorno also um die Befreiung des
nichtrepressiven Gehalts des Freiheitsbegriffs.
Dabei scheut er nicht davor zurück, die Dissoziation des empirischen Subjekts
als einen möglichen Aspekt von Freiheit zu betrachten.503 Wenn Adorno (mit An-

499 Adorno, GS 6, S. 253. – Siehe dazu Günther, a. a. O., S. 248–250.


500 Vgl. dazu Adorno, GS 6, S. 377 ff.; zum Problem der »Ontologisierung Kants« siehe
Thyen, a. a. O., S. 154 f. und die metakritischen Bemerkungen zu Adornos Kritik an
Kants Kausalitätsbegriff im 4. Kapitel der vorliegenden Arbeit.
501 »[E]rst die Befreiung der Vernunft zu ihrer eigenen Genesis«, so fasst Günther Adornos
Intention zusammen, »läßt das im Identitätszwang nur verborgene repressive Verhältnis
von Allgemeinem und Besonderem zum Ausdruck kommen und eröffnet so die
Perspektive auf einen nicht-repressiven Freiheitsbegriff.« (Günther, a. a. O., S. 235.)
502 Vgl. Adorno, GS 3, S. 102 f.; siehe dazu oben, Kapitel 4.
503 Für Adorno ist, so Günther, »das in seinen Handlungen mit sich identisch bleibende
Subjekt ebensowohl eine Antizipation der Freiheit wie das dissoziierte, das im
herkömmlichen Sinne gar kein zurechnungsfähiges Subjekt mehr ist.« (Günther, a. a. O.,
S. 252) Ich halte Günthers Formulierung allerdings für zu steil, denn das in seiner Identität
zerfallene, unzurechnungsfähige oder gar schizophrene Subjekt ist für Adorno gerade
nicht positive Antizipation emphatischer Freiheit, sondern negatives Aufscheinen des
Zwangscharakters der bestehenden, immer schon deformierten Gestalt von Freiheit
und als solches Gegenstand der kritischen Reflexion. Der Zwangscharakter scheint
insofern negativ auf, als deutlich wird, was wir uns antun müssen, um uns als Subjekt
identisch durchzuhalten. Doch das Misslingen der Unterordnung diffuser Impulse
5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs 135

klängen an Schopenhauer) fragt, ob wirklich freie Menschen nicht auch vom Willen
befreit sein könnten, dann zielt er nicht darauf ab, die rationale Selbstbestimmung
des Individuums, als die wir seine mögliche Freiheit verstehen, pauschal unter
Herrschaftsverdacht zu stellen und damit zu diskreditieren. Er kritisiert vielmehr,
wie Günther zu Recht betont, »die deontologische Verabsolutierung des reinen
Willens«504, der von allem Inhalt entleert wird und insofern zu einem formalen,
verdinglichten Instrument besinnungsloser Selbsterhaltung geworden ist.
Adornos Argumentation läuft darauf hinaus, dass in der Geschichte der Un-
freiheit unsere Vorstellung einer möglichen Freiheit beschädigt worden ist. Wir
können demzufolge noch gar nicht sagen, worin Freiheit im emphatischen Sinn
eigentlich bestehen würde. Darum erweitert er den Freiheitsbegriff versuchswei-
se, aber gleichsam spiegelbildlich oder negativ: Er streicht alles weg, was sich am
traditionellen Freiheitsbegriff der Philosophie, aber auch der Alltagssprache, als
Spur von Herrschaft erweisen lässt. Von daher erschließt sich eine Dimension des
Freiheitsbegriffs, die – in ihrer Zuspitzung der Kritik an der individual-psychischen
Verinnerlichung gesellschaftlich vermittelter Herrschaftsverhältnisse – ein starkes
anarchistisches Element besitzt. »Vielleicht wären freie Menschen auch vom Wil-
len befreit; sicherlich erst in einer freien Gesellschaft die Einzelnen frei. Mit der
äußeren Repression verschwände, wahrscheinlich nach langen Fristen und unter
der permanenten Drohung des Rückfalls, die innere.«505
Die Problematik dieser Spekulation liegt auf der Hand: Die permanente Drohung
des Rückfalls hinter den eminent entfalteten Entwicklungsstand der Zivilisation,
den diese Vision einer freien Gesellschaft voraussetzen müsste, würde ja stets einen
unhintergehbaren Realgrund für jene Leistungen des Triebverzichts darstellen,
die von antiutopischen Kulturtheorien, wie der Freud’schen, doch wohl zurecht
als unverzichtbar konstitutiv für ein elaboriertes Zusammenleben der Menschen
bestimmt worden sind. Dass Freiheit ohne reflektierte, vernünftige Subjektivität
nicht denkbar und nicht möglich ist, weiß Adorno. Aber – und darauf will er offen-
bar hinaus – wir können nicht sagen, wie realisierte Freiheit tatsächlich aussehen
würde. Denn bislang ist sie stets nur partikular verwirklicht und hinter ihrem Begriff
zurückgeblieben. Adorno fragt, ob ein denkbares Maximum an Freiheit vielleicht

unter ein Einheitsprinzip des Charakters, also die Abwesenheit einer Kontinuität des
Selbstbewusstseins, ist deshalb für Adorno nicht schon Freiheit im antizipierenden
Sinne. Zwar bezeichnet er (wie im vorangegangenen Kapitel bereits zitiert wurde)
»Persönlichkeit« als »die Karikatur von Freiheit« (Adorno, GS 6, S. 294). Aber deren
abstrakte Negation hätte er sicherlich nicht zum Ideal authentischer Freiheit erklärt.
504 Günther, a. a. O., S.237.
505 Adorno, GS 6, S. 261.
136 5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs

auch dadurch gekennzeichnet sein würde, dass sich freie Menschen sogar noch von
psychischen Zwangsmomenten befreien könnten, die uns unverzichtbar erscheinen.
Er stellt diese Frage vor den Hintergrund einer radikalisierten Dialektik von
Freiheit und Zwang, die er als »Aporie« kennzeichnet. »Frei sind die Subjekte, nach
Kantischem Modell, soweit, wie sie ihrer selbst bewußt, mit sich identisch sind; und
in solcher Identität auch wieder unfrei, soweit sie deren Zwang unterstehen und
ihn perpetuieren. Unfrei sind sie als nichtidentische, als diffuse Natur, und doch
als solche frei, weil sie in den Regungen, die sie überwältigen – nichts anderes ist
die Nichtidentität des Subjekts mit sich –, auch des Zwangscharakters der Identität
ledig werden.«506
Immer auch unfrei in der Freiheit, frei nur in der Unfreiheit – aus dieser von
Kant herstammenden, problemgeschichtlich im Rahmen der Subjektphilosophie
angesiedelten Aporie, die dem antinomischen Verhältnis von Freiheit und Naturk-
ausalität Rechnung trägt, will Adorno nicht durch theoretische Gewaltstreiche
ausbrechen. Er gibt Statthalter der Freiheit an, und er beschreibt eine Perspektive des
Aufbrechens der Totalität von Unfreiheit. Diese Perspektive entwickelt er vermöge
der Erweiterung des Freiheitsbegriffs in sozialphilosophischem Zusammenhang;
sie fällt insofern in den zweiten Aspekt unserer Betrachtung. Bevor wir uns ihm
zuwenden, gilt es jedoch zu untersuchen, wie Adorno die Momente von Freiheit
in der Unfreiheit bestimmt.
Es handelt sich, wie aus der zitierten Aporie hervorgeht, einerseits um die rati-
onale, selbstreflektierte Identität des Subjekts, und andererseits um seine Impulse
und Regungen, denen es ausgesetzt ist. Dass Adorno die rationale Identität des
Subjekts als Bedingung der Möglichkeit von vernünftiger Autonomie nicht in Zweifel
zieht, wurde bereits mehrfach angeführt. Moralisches Handeln, das Adorno, der
vorliegenden Interpretation zufolge, in gesellschaftlicher Praxis aufgehoben sehen
will, ist ohne Rationalität und freie Selbstbestimmung nicht zu denken. Was aber
verbirgt sich hinter dem Begriff der »Regungen«, die die Subjekte »überwältigen«?
Adorno greift hier auf Aspekte des Freiheitsbegriffs bei Schelling und Nietzsche
zurück, die er transformiert.
Schelling bestimmt die Subjektivität als Verbindung von naturhaftem Drang,
der sich als Wille äußert, und Verstand, der dem besinnungslosen Willen Form
gibt. Schelling zufolge ist »der Eigenwille der Kreatur, der […] noch nicht zur
vollkommenen Einheit mit dem Licht (als dem Prinzip des Verstandes) erhoben
ist […], bloße Sucht oder Begierde, d. h. blinder Wille«507. Dem »blinden und

506 Adorno, GS 6, S. 294.


507 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Über das Wesen der menschlichen Freiheit,
Stuttgart 1983, S. 76.
5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs 137

unfreien« Willen verleiht der Verstand »Besinnung und Freiheit«508. Menschliche


Freiheit ist für Schelling erst auf der Grundlage der Subjektivität als Einheit von
Natur und Verstand möglich. Aber er bestimmt er den Willen als ein Stück Na-
turkraft, die als solche wesentliches Moment von Freiheit ist, und damit wendet
er sich gegen die Auffassung, dass Freiheit in der ausschließlich vernunftgeleiteten
Selbstbestimmung des reinen Willens bestehe. Für Schelling, so Walter Schulz, ist
es »verfehlt […], den Menschen als reines Vernunftwesen einem übersinnlichen
Kosmos zuzuordnen. Wird Freiheit als Autonomie im Sinne einer formalen jederzeit
möglichen Selbstbestimmung gedacht und wird von dieser Freiheitskonzeption
her der Mensch bestimmt, dann verkürzt man das Wesen des Menschen und das
Wesen der Freiheit.«509
Ist das irrational-naturhafte Element erst einmal in die Bestimmung der Frei-
heit hineingenommen, dann ist es nur noch ein Schritt zur Entzifferung der
Willensfreiheit als Zwangsmechanismus. Nietzsche, bei dem der Schelling’sche
Drang durch Schopenhauers blind-triebhaften Weltwillen hindurch als Wille zur
Macht hypostasiert wird, erkennt in der Identität des Subjekts mit sich, die sich
im freien Willensakt manifestiert, die Nichtidentität, den inneren Widerstreit dif-
fuser Gefühle und kommandierender Gedanken.510 Als Einheit, als »Komplex von
Fühlen und Denken«, ist der Wille selbst aber wiederum ein Drittes: der »Affekt
des Kommandos«511. Identität des Subjekts kommt für Nietzsche durch die Unter-
werfung der inneren Natur zustande; daraus resultiert jedoch keine Freiheit des
Willens, sondern der Triumph der stärksten Triebe und Affekte, die die Vernunft
bis in ihr Innerstes bestimmen.512 Konsequent destruiert Nietzsche das Problem
der Freiheit oder Determiniertheit des Willens als metaphysische Fiktion, an der
aufzuklären ist, dass es nur »starken und schwachen Willen«513 gibt. Freiheit wird
auf den menschlichen »Trieb nach Macht«514 reduziert.
Adorno liest Schelling und Nietzsche sozusagen gegen den Strich. Er knüpft an
ihre analytischen Einsichten an, die den Blick dafür öffnen, dass naturhaft-soma-

508 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, zitiert nach Walter Schulz, Die Wandlungen des
Freiheitsbegriffs bei Schelling, in: ders., Vernunft und Freiheit, Stuttgart 1981, S. 44.
509 Schulz, Die Wandlungen des Freiheitsbegriffs bei Schelling, a. a. O., S. 51.
510 Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: ders., Gesammelte Werke, hg,
v, K. Schlechta, München1977, Bd. 2, S. 581 f.
511 Nietzsche, a.a O, S. 582.
512 Vgl. a. a. O., S. 582 f.
513 Nietzsche, a. a. O., S. 585.
514 Nietzsche, Nachlaß, Werke Bd. 3, S. 857.
138 5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs

tische Elemente stets konstitutiver Bestandteil des Willensakts sind.515 Mit Freuds
Kategorien des psychischen Apparats unternimmt Adorno die Reflexion auf das
Verhältnis von Triebnatur und Ich im Subjekt. Er schließt an Nietzsches Modell des
handelnden Individuums als eines durch Kommando zusammengehaltenen Ensem-
bles divergenter Regungen an, aber er übernimmt nicht dessen herrschaftsapologe-
tische Konsequenzen. Zugleich plädiert er jedoch auch nicht für die Suspendierung
des Ichs. Er will zeigen, dass die Kraft des Ichs genetisch mit einem »vor-ichlichen
Impuls« zusammenhängt und stets auf ihn bezogen bleibt, weil die Autonomie des
Ichs solange zum Scheitern verurteilt ist, wie die bloß verdrängten »vor-ichlichen
Impulse« destruktiv wiederkehren und das Ich neurotischer Fremdbestimmtheit
unterwerfen. »Das dämmernde Freiheitsbewußtsein nährt sich von der Erinnerung
an den archaischen, noch von keinem festen Ich gesteuerten Impuls. Je mehr das
Ich diesen zügelt, desto fragwürdiger wird ihm die vorzeitliche Freiheit als chao-
tische. Ohne Anamnesis an den ungebändigten, vor-ichlichen Impuls, der später
in die Zone unfreier Naturhörigkeit verbannt ist, wäre die Idee von Freiheit nicht
zu schöpfen, welche doch ihrerseits in der Stärkung des Ichs terminiert.«516
Die Nietzsche’schen ungebändigten Affekte und Regungen, die auf der Basis
von Schellings Natur-Drang den Menschen bestimmen und zugleich ihn zum Be-
stimmen befähigen, nämlich zunächst über sein Inneres und dann über das, was er
nicht ist – diese Impulse sind nach Adorno die gattungs- und individualhistorisch
notwendige Folie, auf der sich zivilisationsgeschichtlich die Idee der Freiheit als
Freiheit von Natur herausbildet. Adorno teilt Nietzsches genealogische Annahme,
derzufolge sich der Begriff der Freiheit gleichsam am Modell gesellschaftlicher
Herrschaft herausbildet, die in der Differenz von Freien und Unfreien zum Ausdruck
kommt. Aber er folgt Nietzsche nicht in der Verwerfung des Begriffs. Diese Diffe-
renz ist zentral für seine Auseinandersetzung mit Nietzsches Moralkritik, die noch
untersucht werden wird. Aus dem Nachweis der Genesis des Begriffs leitet Adorno
nicht die abstrakte Negation seines Geltungsanspruchs her. 517 »Die Universalität des
Freiheitsbegriffs […], an dem auch die Unterdrückten partizipieren, wendet sich
umschlagend gegen Herrschaft als Modell von Freiheit.«518 Adornos Kritik setzt
bei der Verflüchtigung des kontrafaktischen Potentials im Freiheitsbegriff an, die
er als Folge der idealistischen Setzung von Freiheit als Gegebenheit ansieht, denn

515 Vgl. Adorno, GS 6, S. 228.


516 Adorno, GS 6, S. 221.
517 Vgl. zu Nietzsche meine Studie: Nietzsches Überwindung der Moral, Würzburg 1988,
bes. Teil II und III, S.51 ff. Zu Adornos Auseinandersetzung mit Nietzsches Moralkritik
siehe unten, Kapitel 8.
518 Adorno, GS 6, S. 220.
5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs 139

solche Hypostasierung bei gleichzeitiger realer Erfahrung von Unfreiheit bewirkt


ihm zufolge, dass Freiheit »zur Idee sublimiert«519 wird. Sie verliert ihre Kraft »als
polemisches Gegenbild zum Leiden unterm gesellschaftlichen Zwang«520. Dieser
Argumentation liegt die Ideologiekritik der Verinnerlichung des Freiheitsbegriffs
als Komplement zum Scheitern des universalistischen Anspruchs auf Verwirkli-
chung gesellschaftlicher Freiheit zugrunde, wie sie etwa Marcuse in den Studien
über Autorität und Familie entfaltet hat.521
Bevor der hier wiederum anklingende zweite Aspekt des Freiheitsbegriffs dis-
kutiert wird, kann jetzt der systematische Ort bestimmt werden, den der »Impuls«
in Adornos Freiheitskonzept hat. Die Formulierung der Dialektik von Ich-Ratio-
nalität und Impulsen steht der Aporie von Freiheit nahe, die den Ausgangspunkt
der vorangegangenen Überlegungen gebildet hatte. »Einzig wofern einer als Ich,
nicht bloß reaktiv handelt, kann sein Handeln irgend frei heißen. Dennoch wäre
gleichermaßen frei das vom Ich als dem Prinzip jeglicher Determination nicht
Gebändigte, das dem Ich, wie in Kants Moralphilosophie, unfrei dünkt und bis
heute tatsächlich ebenfalls unfrei war. […]. Über das am Ich Entscheidende, seine
Selbständigkeit und Autonomie kann nur geurteilt werden im Verhältnis zu sei-
ner Andersheit, zum Nichtich. Ob Autonomie sei oder nicht, hängt ab von ihrem
Widersacher und Widerspruch, dem Objekt, das dem Subjekt Autonomie gewährt
oder verweigert; losgelöst davon ist Autonomie fiktiv.«522 Hier wird deutlich, dass
Autonomie der normative Maßstab von Adornos Reflexionen ist. Die Kritik an der
Unterwerfung der inneren Natur im Prozess der Herausbildung eines freien Ichs
geschieht im Namen der Freiheit, die solange zerstört wird, wie das unvermittelt
Unterworfene zwanghaft wiederkehrt.
Adorno würde am rationalistischen Postulat: »Wo Es war, soll Ich werden« nicht
den Autonomieanspruch kritisieren, sondern das Fehlschlagen dieses Anspruchs,
das unvermeidlich ist, wenn Autonomie auf Herrschaft verkürzt wird und sich
somit selbst durchstreicht. Intendiert ist ein erweiterter, nicht-repressiver Auto-
nomiebegriff.523

519 Adorno, GS 6, S. 222.


520 Ebd.
521 Herbert Marcuse, Ideengeschichtlicher Teil, in: Studien über Autorität und Familie, 2.
Aufl., Lüneburg 1987, S. 136 ff.
522 Adorno, GS 6, S. 222.
523 Zu Recht stellt Brunkhorst daher fest: »Vom ›Musikstil der Freiheit‹, dessen Partei
Adorno in jungen Jahren ergreift und der sein Freiheitsverständnis auch in praktischen
Fragen prägt, bis zum Kant-Kapitel der Negativen Dialektik kreist sein Denken um
die Autonomie des Subjekts. Dabei verhält es sich zugleich affirmativ und kritisch zu
Kants Freiheitslehre. Frei ist das Subjekt in Adornos Perspektive, wenn es sich selbst
140 5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs

Die Dialektik von Rationalität und Impuls kehrt bei Adorno an zentraler Stelle
wieder, wenn es nämlich um den Ort geht, den die moralische Intuition ihm zufolge
zwischen den Polen der systematischen, prinzipienorientierten Moralphilosophie
auf der einen Seite und der Moralkritik auf der anderen erhält.
Zunächst gilt es den Zusammenhang zu explizieren, in dem wir an Adornos
Überlegungen heute anknüpfen können. Moralkritik, die ideologiekritisch ansetzt,
vermag nicht die humane Dignität des moralisch inspirierten Einspruchs gegen Un-
recht und Leiden aufzulösen. Als unhintergehbarer Fundus von kritisch gewendeter
Erfahrung ist dieser Einspruch der legitime Erbe traditioneller moralphilosophischer
Tradition. Ebenso, wie moralischer Protest unverzichtbares Movens wirklichkeits-
verändernden Handelns ist, gilt es, sich der theoretischen Einsicht in die objektive
Gesetzmäßigkeit eines gesellschaftlichen Zustands zu stellen bzw. diese Einsicht
stets aufs neue hervorzubringen, der sich gegen die eigene humane Veränderung
immunisiert hat und den moralischen Einspruch faktisch zu jenem ohnmächtigen
Postulieren erniedrigt, als das ihn die Ideologiekritik der Moral entlarvt.
In der Bewegung zweier Extreme durch einander hindurch sieht Adorno den
Ort von Moral heute. Das eine Extrem ist der »Impuls«, die ›spontane Regung‹, die
auf die Tatsache der Existenz von Folter und Konzentrationslagern reagiert. Er hat
seine Authentizität gerade an seiner ›ungeduldigen‹, jähen Intuition, die auf unver-
zügliche Abschaffung unmoralischer Zustände dringt.524 Das andere Extrem ist die
schmerzhafte theoretische Anstrengung, die »durchschaut, warum es gleichwohl
unabsehbar weitergeht.«525 Theoretisches Bewusstsein, das den Schwierigkeiten
wenigstens begreifend standhält, die sich der praktischen Wirkmächtigkeit von mo-
ralisch geleiteter Kritik gebieterisch in den Weg stellen, und der sich aus Humanität
und Solidarität speisende Impuls, inhumane und ungerechte Zustände aufgrund
ihrer Unerträglichkeit für die von ihnen Betroffenen nicht hinzunehmen, müssen
in Adornos Modell von Moralität zusammenkommen. Durchsichtig miteinander
zu vermitteln sind sie indessen nicht. Solange das praktisch-impulsive Moment
zur Ohnmacht verurteilt ist aus Gründen, die sich nur unverkürzter Reflexion er-

seine Gesetze gibt, aber stark genug ist, um zu den selbst gegebenen Gesetzen auf
Distanz zu gehen und seinen Erfahrungshorizont dem Schellingschen Freiheitsdrang
der Triebe und Impulse, ›die das Ich überwältigen‹, zu öffnen. Adorno hält an Kants
starkem Begriff der Autonomie eines unbedingten moralischen Sollens fest […], gibt
ihm aber eine freudianisch-materialistische Lesart […], und diese Lesart ermöglicht
ihm die Einbeziehung einer durch Schelling und Nietzsche beeinflußten Idee impulsiver
Freiheit in den übergreifenden Rahmen eines rationalistischen Freiheitsverständnisses.«
(Hauke Brunkhorst, Theodor W. Adorno. Dialektik der Moderne, a. a. O., S. 25.)
524 Vgl. Adorno, GS 6, S. 281.
525 Adorno, GS 6, S. 282.
5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs 141

schließen, lebt die Fähigkeit zum Einspruch gegen das, was im emphatischen Sinn
der Idee von Moralität widersprechend genannt werden kann, ausschließlich im
produktiven Gegensatz beider Seiten. Vor diesem Hintergrund ist auch Adornos
Polemik gegen die prinzipienphilosophische Aufstellung von Werten, aus denen
theoretisch stringent ein moralisches System abzuleiten sei, 526 zu verstehen. Adorno
bekämpft die theoretische Rationalisierung des moralischen Impulses, weil er die
Intuition, Inhumanität wegzuschaffen – eine Intuition, die nicht ausschließlich
rational, aber mit Rationalität vereinbar ist – als eine nicht nur legitime, sondern
auch notwendige Instanz ansieht, die es gegen bestehende Irrationalität aufzurichten
und als solche in eine reflektierte Kritik aufzunehmen gilt. Die restlose Auflösung
des Impulses in theoretische Grund- und Lehrsätze der Moral würde einen Schein
von Rationalität erzeugen, der dann auch wieder auf die Irrationalität zurückstrahlt,
von der man unterstellt, dass man sie allein kraft der rationalen moralischen Ar-
gumentation verändern könnte. Damit wäre sie aber immer schon aufgewertet.527
Auch an dem hier kurz untersuchten Status des Impuls-Begriffs wird noch einmal
die Differenz zwischen Adornos Freiheitskonzeption und den irrationalen Elementen
der Bestimmung der Freiheit bei Schelling und Nietzsche deutlich. Der Rekurs auf
Natur ist bei Adorno immer einer auf bereits reflektierte Natur. Schelling akzentuiert
den irrationalen Drang, der dann wiederum dem formenden Verstand untergeord-
net wird, damit Freiheit sei. Nietzsche spricht der menschlichen Rationalität diese
formende Kraft gerade ab und setzt die Vernunft herab zu einer Erscheinungsweise
des Willens zur Macht, der den Rang eines metaphysischen Prinzips einnimmt. 528
Schelling muss zur Rettung der Freiheit auf Gott zurückgreifen,529 Nietzsche löst sie
voluntaristisch auf. Adorno will demgegenüber auf die wechselseitige Integration
von Freiheit als Autonomie und Freiheit als Impuls hinaus.
Das führt nun zur Untersuchung des zweiten, praktisch-politischen Aspekts
von Freiheit bei Adorno. Impuls und Autonomie können für ihn keine affirmativen
Begriffe sein in einer Gesellschaft, die nach seinen Worten im Ganzen unfrei ist.
Gesellschaftstheoretisch folgt Adorno, wie schon mehrfach ausgeführt wurde, der

526 Vgl. Adorno, GS 6, S. 281.


527 Auf die zentrale Bestimmung des »Schauplatz[es] von Moral heute« (Adorno, GS 6,
S. 282) werde ich im Hinblick auf ihre systematische Bedeutung für Adornos negative
Moralphilosophie noch ausführlich eingehen (siehe unten, Kapitel 9).
528 Vgl. zu Nietzsches Kritik am freien Willen meine Studie, a. a. O., S.26 ff. – Dass der
Komplex »Wille zur Macht« bei Nietzsche allerdings auch anders interpretiert werden
kann, nämlich als ein bloß dem Anschein und der Intention nach metaphysisches
Prinzip, das sich jedoch ständig selber dementiert und deshalb gerade nicht sein kann,
was es sein möchte, ist die These von Türcke, Der tolle Mensch, a. a. O.; vgl. S. 124 ff.
529 Vgl. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit, a. a. O., S. 77.
142 5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs

marxschen Kritik und deren Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft als einer,
die als ganze von einem verselbständigten Produktions- und Verwertungsgesetz
beherrscht wird, was sich Adorno zufolge sowohl in der Irrationalität der weltweiten
politischen Konflikte als auch in der Heteronomie aller Individuen niederschlägt.
Erst »in einer von der Anarchie der Warenproduktion geheilten Gesellschaft«530
könnten wir, das ist Adornos Überzeugung, folgenreiche Überlegungen über die
Freiheitsidee und ihre Realisierung anstellen.
Marx’ Kritik an der formalen Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft, die zwar
die alte Unfreiheit des Feudalismus abgeschafft, aber neue Unfreiheit hergestellt
hat, ist die Grundlage von Adornos Vorstellung inhaltlicher Freiheit, deren in-
dividuell-psychische Seite im Vorangegangenen behandelt wurde. Negiert wird
eine »Gesellschaft, nach deren eigenem Begriff die Beziehungen der Menschen in
Freiheit begründet sein wollen, ohne daß Freiheit bis heute in ihren Beziehungen
realisiert wäre«531. Schon das Konzept individueller Autonomie hat nach Adorno
den Makel der unlösbaren historisch-genetischen Verknüpfung mit dem Prinzip
formaler Selbsterhaltung, die borniert alle qualitativen, nicht-formalen Zwecke
ignoriert, auf die Selbsterhaltung inhaltlich zu beziehen wäre. Es reproduziert
damit immer auch das gesellschaftlich heteronome Prinzip des abstrahierenden
Wertgesetzes.532 Aber noch nicht einmal dieses Konzept kann uneingeschränkte
Geltung beanspruchen. Formale Freiheit streicht sich selber durch.533
Im Zusammenhang mit der Adorno’schen Auseinandersetzung mit Kants
Freiheitsbegriff wurde bereits diskutiert, wie Adorno an die marxsche Kritik der
Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft anknüpft, ohne Marx in seiner Negation der
bürgerlich-individualistischen Freiheit ganz zu folgen. Nun gilt es zu untersuchen,
wie sich seine eigenen Bestimmungen der Freiheit in einer »befreiten Gesellschaft«
zu denjenigen von Marx verhalten. Adorno vertritt, wie gesagt, einen strikt negati-
ven Begriff von Freiheit. Das entspricht seiner mit dem adoptierten theologischen
Motiv des Bilderverbots illustrierten Weigerung, eine affirmative, ausgemalte Utopie

530 Adorno, GS 4, S. 86.


531 Adorno, GS 6, S. 95.
532 Vgl. Adorno, GS 6, S. 259.
533 So argumentiert auch der frühe Habermas: »Wenn […] Marx […] der politischen
Ökonomie nachweisen konnte, daß der freie Verkehr der Privateigentümer untereinander
einen chancengleichen Genuß der persönlichen Autonomie für alle Individuen
notwendig ausschließt, so hatte er zugleich den Beweis geliefert, daß den formalen
und generellen Gesetzen der bürgerlichen Privatrechtsordnung die prätendierte
Gerechtigkeit ökonomisch versagt bleiben muß.« (Jürgen Habermas, Naturrecht und
Revolution, in: ders., Theorie und Praxis, Frank furt/M. 1971, S. 115)
5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs 143

antizipierter Gesellschaftszustände zu geben. 534 Deren Konstruktionsfehler erkennt


Adorno darin, dass sie durch unvermeidliche Reproduktion des Bestehenden in
wesentlichen Teilen gerade ihren utopischen Charakter einbüßt.
Freiheit ist für Adorno stets bestimmte Negation konkreter gesellschaftlicher
Unfreiheit. In dieser Fassung berührt sich sein Freiheitsbegriff in zweierlei Hinsicht
mit dem des späten Marx. Auch dieser verzichtet auf eine affirmative Bestimmung
der klassenlosen Gesellschaft. Das hat ihm den Vorwurf eingetragen, es sich zu leicht
gemacht und die nachfolgenden Generationen mit dem Problem allein gelassen zu
haben, wie eine sozialistische Gesellschaft institutionell und politisch zu installieren
wäre.535 Die Marx-Interpretation der Kritischen Theorie erkennt indessen gerade
in dieser Zurückhaltung die theoretischen Stärken: Verzicht auf Projektion und
antizipierende Würdigung der möglichen autonomen Entscheidungen von befreiten
Subjekten statt Verlängerung bestehender Herrschaftsstrukturen in neuem Gewand.
Marx umschreibt die Idee einer befreiten Gesellschaft auf dem Wege der Kritik
des ambivalenten Charakters der Freiheit vergesellschafteter Individuen unter
Bedingungen der ökonomiekritisch analysierten Heteronomie. Wenn er sich also
einen »Verein freier Menschen« vorstellt, »die mit gemeinschaftlichen Produkti-
onsmitteln arbeiten und ihre vielen individuellen Arbeitskräfte selbstbewußt als
eine gesellschaftliche Arbeitskraft verausgaben«536, und diese Vorstellung an die
Bedingung knüpft, dass der gesellschaftliche Reproduktionsprozess »als Produkt
frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter und planmäßiger Kont-
rolle steht«537, dann gibt er Bestimmungen, deren Wesen die Negation bestehender
Produktionsverhältnisse ist. Diese Bestimmungen können nach wie vor Maßstab
der Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen sein, die durch einen Reprodukti-
onsprozess gekennzeichnet sind, den die Menschen nicht selbstbewusst und frei
kontrollieren können – sei es, weil sie Objekte profitorientierter Warenproduktion
sind, sei es, weil sie Objekte von Parteiherrschaft und einer diktatorischen Kom-
mandowirtschaft gewesen sind, die sich vom Wertgesetz nie emanzipieren konnte
und aufgrund immanenter wie konkurrenzbedingter Gründe (im Maßstab der
sogenannten Weltwirtschaftsordnung) nicht funktioniert hat.

534 Zum Motiv des Bilderverbots bei Kant und Adorno vgl. Brunkhorst, a. a. O., S. 52 u.
168.
535 Udo Bermbach z. B. moniert in seinem Aufsatz »Defizite marxistischer Politik-Theorie«
den »bloß negativen Politik-Begriff« bei Marx (Udo Bermbach, Defizite marxistischer
Politik-Theorie, in: Politische Vierteljahresschrift, 24. Jg., 1983, S. 17).
536 Marx, Das Kapital, 1. Bd., in: Marx/Engels, Werke Bd. 23, S. 92.
537 A. a. O., S. 94.
144 5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs

Der andere Berührungspunkt von Marx und Adorno ist, dass sich beide ge-
sellschaftliche Freiheit nicht als Auflösung des »Reichs der Notwendigkeit« in ein
idealisiertes »Reich der Freiheit« vorstellen. Die Lehre vom Sozialismus als »Sprung
der Menschheit aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit«538,
das gleichbedeutend mit totalisierter Naturbeherrschung, also eigentlich in sich
widersprüchlich ist, stammt von Engels. Marx, dem sie immer wieder fälschlich
unterschoben wird,539 begreift das Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit – das
heißt auch: von Naturbasis und Geistbestimmtheit der Menschen – gerade nicht so,
als würde den Menschen im Stande gesellschaftlicher Freiheit die Transzendierung
ihrer Naturbasis ermöglicht. Die Vorstellung des Sprungs erweist sich als Variante
des idealistischen Scheins, der den Individuen vorgaukelt, sie könnten sich von
ihrer materiellen Basis loslösen. Dabei wird die Unabdingbarkeit wie auch immer
gearteter Arbeit ebenso ignoriert wie die radikale Endlichkeit der Menschen als
Naturwesen. In der Kritik der Scheinhaftigkeit dieser Verheißung treffen sich der
bürgerliche Skeptizismus und der historische Materialismus. 540
Marx geht von der Annahme aus, dass sich der Bereich des Naturzwangs zwar
verkleinern lässt, aber immer bestehen bleibt. Wenn er damit Naturbeherrschung
als Konstante menschlicher Vergesellschaftung festschreibt, so steckt darin nicht
die Parteinahme für die hemmungslose Ausbeutung unserer natürlichen Le-
bensgrundlagen, wie – nicht nur von Marx-Kritikern – oft interpretiert wurde.541
Man kann Marx’ Ausführungen über das Verhältnis von Natur und Freiheit im
Gegenteil auch für eine Kritik an der modernen Hybris in Anspruch nehmen, die
Natur vollständig dienstbar und die Menschen zu uneingeschränkten Herren über
sie machen will.542 Dabei ist es wichtig, den Unterschied zwischen Beherrschung
und Ausbeutung nicht einzuebnen.

538 F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, in: Marx/Engels,
Werke Bd. 20, S. 264.
539 So noch bei Pothast, a. a. O., S. 286.
540 Vgl. dazu Alfred Schmidt, Schopenhauer und der Materialismus, in: ders., Drei Studien
über Materialismus, München-Wien 1977, S. 21 ff.
541 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik kritisiert zurecht, »daß die meisten Marxisten und
Marxismen die Naturproblematik bei Marx nicht nur übersehen, sondern – viel
schlimmer – Marx mit der von ihm kritisierten Politischen Ökonomie verwechselt
haben, so daß die totale Naturausbeutung zu ihrem stolz verkündeten Ziel wurde«
(Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Auch richtige Fragen können zu falschen Antworten
führen, in: Natur und Marxistische Werttheorie, hrsg. v. H. Immler u. W. Schmied-
Kowarzik, Kassel 1986, S. 49).
542 Schmied-Kowarzik hat gezeigt, »daß die Marxsche Theorie in ihren Potenzen noch gar
nicht voll ausgelotet und ausgeschöpft ist und daß sie uns gerade auch für die theoretische
5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs 145

»Das Reich der Freiheit« beginnt für Marx »in der Tat erst da, wo das Arbeiten,
das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der
Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion.«543
Aus der Perspektive Kritischer Theorie ist hierin bereits folgendes angelegt: Die
Vorstellung realisierter Freiheit darf nicht als totale Herrschaft der Menschen über
die Natur und auch nicht als vollständige Aufhebung von Arbeit gefasst werden.
Ersteres würde eine Aufhebung der emphatischen Freiheitsidee implizieren, weil
Freiheit mit Herrschaft identifiziert wäre. Letzteres bliebe falscher idealistischer
Schein, weil die Auseinandersetzung mit der Natur, auch unter befriedeten Be-
dingungen, stets Lebensbasis der Menschen bleibt. Entsprechend wäre Adorno
zufolge Freiheit »ungeschmälert herzustellen einzig unter Bedingungen entfessel-
ter Güterfülle«544; aber deren Sicherstellung ist es ja eben, die die Permanenz der
naturbedingten Notwendigkeit als Grundlage des »Reichs der Freiheit« anzeigt. 545

Durchdringung und die praktische Bewältigung der ökologischen Krise behilflich


zu sein vermag.« (a. a. O., S. 47) Vgl. auch Schmied-Kowarzik, Das gesellschaftliche
Verhältnis des Menschen zur Natur, Freiburg, München 1984.
543 Marx, Das Kapital, Dritter Band, in: Marx/Engels, Werke Bd. 25, S. 828. »Wie der
Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein
Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in
allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner
Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse;
aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit
in diesem Gebiet kann nur darin bestehn, daß der vergesellschaftete Mensch, die
assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln,
unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden
Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer
menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt
dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche
Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber
nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung
des Arbeitstags ist die Grundbedingung.« (Ebd.) – Vgl. dazu Schmidt, Der Begriff der
Natur in der Lehre von Marx, a. a. O., S. 138 f., und Heinz Paetzold, Neomarxistische
Ästhetik Bd. II, Düsseldorf 1974, S. 120 f.
544 Adorno, GS 6, S. 218; siehe dazu die entsprechenden Ausführungen oben, Kapitel 3.
545 Es ist also gleich doppelt falsch, wenn Pothast Adorno unter Anspielung auf Marx
folgendermaßen referiert: »In ihrem vollen Sinn kann Freiheit erst in einer Gesellschaft
realisiert werden, in der der Zwang zur Arbeit für Zwecke der Selbsterhaltung abgeschafft
ist, einer Gesellschaft also, die den von Marx ins Auge gefaßten Sprung der Menschheit
vom Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit vollzogen hat.« (Pothast, a. a. O.,
S. 305.) Abgeschafft sehen möchte Adorno nicht Arbeit, sondern »Mangel«, und mit
ihm »die Notwendigkeit von Unterdrückung« (Adorno, GS 16, S. 537).
146 5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs

Wenn wir nun sagen, dass Adorno einen negativen Begriff von Freiheit hat, ist
damit etwas anderes gemeint als der Begriff negativer Freiheit. Darunter wird die
bloße Abwesenheit von äußerem Zwang verstanden, als die die liberalistische poli-
tische Philosophie in der Nachfolge von Hobbes Freiheit begreift. Während dieses
Freiheitsverständnis nicht mehr angibt, als dass in einem freiheitlichen politischen
Gemeinwesen die Individuen tun und lassen dürfen, was sie wollen, umfasst der
positive Begriff von Freiheit, wie er in der Tradition von Rousseau und Marx ver-
treten wird, die inhaltlich-konkret gefasste gesellschaftliche Selbstbestimmung
aller Individuen. Taylor hat in seiner Diskussion dieser beiden Freiheitsbegriffe
aus der Perspektive der analytischen Philosophie die immanenten Defizite des
Konzepts negativer Freiheit aufgezeigt.546 Adorno würde in dieser Hinsicht in der
Tradition der Theoretiker »positiver Freiheit« stehen. Aber sein Freiheitsbegriff ist
ex negativo formuliert, und das gewährleistet, dass er den Aporien entgeht, in die
sich ein positiver Freiheitsbegriff dann verstrickt, wenn er beansprucht, affirmative
Bestimmungen von Freiheit geben zu können und sie den Individuen gleichsam
aufzwingt. Adornos negativ gefasster Begriff der Freiheit trägt damit auch dem
Wahrheitsgehalt des formalen Zugriffs in ihrer Kantischen Bestimmung Rechnung.547
Den Gemeinsamkeiten in der systematischen Umschreibung realisierter gesell-
schaftlicher Freiheit bei Marx und Adorno stehen aber auch Differenzen gegen-
über, nämlich im Hinblick auf ihren historischen Aspekt. Für Adorno steht die
Diagnose der Depotenzierung von Freiheitspotentialen in der »verwalteten Welt«
im Vordergrund. Weil in der bürgerlichen Gesellschaft umfassende Emanzipation
systembedingt blockiert ist, kann nicht »die ganze Freiheit« verwirklicht werden,
und das bewirkt, dass das theoretische Bewusstsein, worunter Adorno die dieser
Gesellschaft zugehörige Philosophie versteht, nur ein »Zerrbild«548 von Freiheit

546 Vgl. Charles Taylor, Der Irrtum der negativen Freiheit, in: ders., Negative Freiheit? Zur
Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt/M. 1988, S. 118 ff.
547 Helmut Dubiel hat beschrieben, wie bei Adorno ein klassisches Theorem der politischen
Philosophie zugleich aufgenommen und negiert wird: »Einerseits wird die negative
Wirklichkeit kritisiert durch die Beschreibung ihres Positivs in Gestalt einer Utopie.
Andererseits verbietet sich Adorno in Nachahmung des jüdischen Bilderverbots und
der Marxschen visionären Abstinenz die Ausmalung der Utopie. Er beschreibt nur
Momente, deren Ganzes erst eine Utopie wäre. Diese Momente sind die mit Phantasie
verlängerten Linien einer als negativ erfahrenen Wirklichkeit.« (Helmut Dubiel, Identität
und Institution. Studien über moderne Sozialphilosophien, Düsseldorf 1973, S. 53).
548 Adorno, GS 6, S. 32.
5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs 147

besitzt. Doch dieses »Zerrbild« der Freiheit ist die einzige Gestalt der Verwirkli-
chung ihrer Idee.549
Für Adornos Konstruktion der Moralphilosophie bedeutet das bisher Heraus-
gearbeitete, dass Freiheit einen negativ formulierten Maßstab für eine normativ
begründete Kritik darstellt. Freiheit ist und ist nicht: Sie ist zwar, wie Adorno im
Einklang mit der Tradition hervorhebt, vorhanden, als »Moment«, »ohne das so
etwas wie richtiges Leben gar nicht gedacht werden kann«550. Zugleich ist sie aber
auch nur indirekt vorhanden, nämlich in der Kritik ihrer Abwesenheit in konkreten
gesellschaftlichen Lebensverhältnissen. Aus dieser Negation des Negativen resultiert
für Adorno keine Positivität. Die bestimmte Negation der Unfreiheit, die Adorno
postuliert und durchführt, verwirklicht zwar Freiheit, aber wiederum nur partiku-
lar, als Gedankenfreiheit. Bedingung realisierter oder realisierbarer Moralität aber
ist erst reale Freiheit. Das betrifft die historische Möglichkeit oder Unmöglichkeit,
Moralität aus ihrer abstrakt antithetischen Stellung zur Wirklichkeit zu befreien;
ein Problem, das bei Hegel zentral ist und das Adorno von ihm übernimmt. Das
wird im folgenden Kapitel eingehend untersucht werden.
Für Adorno »hat die Frage der Moral eine geschichtliche Komponente in dem
Sinn, dass sie abhängt von dem Maß an realer Freiheit, die den Menschen gelassen
ist.«551 Die Chancen der Moral sind nach Adornos Diagnose freilich gering: »Der
Versuch, den individuellen Anspruch auf Freiheit mit dem Anspruch auf eine rich-
tige Verfassung des Ganzen zu vereinen, ist in der Welt, in der wir leben, radikal

549 Brunkhorst betont, dass Adornos Gesellschaftskritik sich durchaus auf die Ansätze einer
humanen, befreienden Praxis stützt, die in dem gesellschaftlichen Zusammenhang, der
für ihn zwar das »unwahre Ganze« ist, gleichwohl vorhanden sind. Bei Adorno kommen
demnach zwei Quellen der Kritik zusammen: die immanente Kritik der ökonomisch
bedingten Blockaden universaler Freiheit und die Anknüpfung an das »in der kulturellen
Moderne verkörperte […] Rationalitätspotential«. Denn Adornos Kritik stützt sich
»auch auf den affirmativen Bezug zum bereits verwirklichten kulturellen Fortschritt
der Entmythologisierung, die in der Moderne institutionalisierten Ideen individueller
Selbstverwirklichung und demokratischer Selbstbestimmung.« (Brunkhorst, a. a. O.,
S. 127) Das erlaubt Adorno sowohl die Kritik an der Verklärung und Verfälschung des
Potentials fortschreitender Aufklärung in der »affirmativen Kultur« (Horkheimer),
als auch, dieses Rationalitätspotential im Sinne der Fundierung einer regulativen
Freiheitsidee fruchtbar zu machen. – Auch im Lichte dieser Argumentation zeigt sich,
dass Clemenz zu kurz greift, wenn er unterstellt: »Der Begriff rein negativer Freiheit
fällt in sich zusammen; ohne positive keine negative Freiheit.« (Clemenz, Theorie als
Praxis?, a. a. O., S. 191) In der Polemik gegen die »Haltlosigkeit des Begriffs negativer
Freiheit« (ebd.) scheint sich ein autoritäres Bedürfnis zu Bahn zu brechen, das das
progressive Gewand Lügen straft, in dem sie daherkommt.
550 Adorno, PM 2, 7. 5. 1963 (Nachgelassene Schriften Bd. 10, S. 16).
551 Adorno, PM 1, 15. 11. 1956.
148 5 Die Universalität des Freiheitsbegriffs

ausgeschlossen.«552 Oberflächlich gelesen ließe sich daraus folgern, dass Adornos


kapitalismuskritische Gesellschaftsdiagnostik in Fatalismus umschlägt. Doch das
trifft nicht zu, denn Adorno schließt ja erstens keineswegs aus, dass es Ansätze
von individueller und gesellschaftlicher Freiheit gibt. Vorerst ausgeschlossen ist
nach seinem Befund der Versuch einer gesellschaftlichen Vermittlung von Allge-
meinem und Besonderem im Sinne eines rationalen Vergesellschaftungsprinzips,
das individuelle Freiheit und Autonomie sowohl zur Voraussetzung als auch zum
immer wieder neu hergestellten Resultat hätte. Und das Gelingen dieser Vermitt-
lung hält Adorno zweitens »in der Welt, in der wir leben«, für ausgeschlossen.
Diese Einschränkung ist wichtig, denn sie bedeutet auch: in einer Welt, von deren
virtueller Veränderbarkeit er überzeugt ist.553 Das Problem der Vermittlung von
Individuum und Allgemeinem in einer nicht-repressiven gesellschaftlichen Tota-
lität und Adornos Einschätzung von deren gegenwärtiger Blockiertheit wird im
Kapitel über die moralphilosophische Dialektik des Individuums behandelt. Hier
sollte herausgearbeitet werden, dass in der Rekonstruktion von Adornos impliziter
Moralphilosophie sein negativ formulierter Freiheitsbegriff, der sich sowohl auf
Willensfreiheit als auch auf Handlungsfreiheit und politische Freiheit bezieht, zent-
rale Bedeutung besitzt. Bevor sich die Untersuchung aber der Individuationstheorie
zuwendet, wird im Folgenden zunächst Adornos Kritik an Hegels Behandlung des
Moralitätsproblems betrachtet.

552 Adorno, PM 1, 6. 12. 1956.


553 Das wurde in Kapitel 3 dargelegt.
Aufhebung der Moralität:
Adornos Hegelinterpretation
6 Aufhebung der Moralität
6
6 Aufhebung der Moralität

An Kants Moralphilosophie kritisiert Hegel in der Phänomenologie des Geistes die


Verabsolutierung des Sollensstandpunkts. Kants Bestimmung der moralischen
Handlung als einer, die aus Pflicht erfolgt, also Produkt der im Sittengesetz zu sich
selbst kommenden vernünftigen Autonomie des Willens ist, setzt Hegel zufolge
die Selbstbestimmung der reinen Innerlichkeit abstrakt der äußeren Wirklichkeit
entgegen. Das »moralische Bewußtsein«554 ist für Hegel der »seiner selbst gewisse
Geist«555. Dessen Vorbild ist über weite Strecken Kants Moralphilosophie.556 In der
Konstruktion der Phänomenologie des Geistes erscheint Kants Moralphilosophie
als Durchgangsstufe des endlichen Geistes zwischen Aufklärung und Religion.
Nach Hegel ist sie durch einen grundlegenden Widerspruch gekennzeichnet.
Dessen Entfaltung bestimmt den Gedankengang des Moralitätskapitels: Mora-
lität strebt paradox ihre Aufhebung an, indem sie sich konsequent ihren eigenen
Bestimmungen gemäß entfaltet. Die »moralische Weltanschauung«557 postuliert
beständig einen Zustand, der ihre Negation beinhaltet, weil in ihm das wäre, was
ihr zufolge sein soll. Auf den ihr eigenen widersprüchlichen Charakter reflektiert
die Moralphilosophie nach Hegel jedoch nicht, sondern treibt sich in der Wider-
sprüchlichkeit herum. Kants Postulatenlehre macht die Moralität zur unendlichen
Aufgabe; zu »einer Aufgabe, die Aufgabe bleiben und doch erfüllt werden, einer

554 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: ders., Werke Bd. 3,
Frankfurt/M. 1970, S. 443.
555 Hegel, a. a. O., S. 441.
556 Gleichwohl muss man folgendes bedenken: »Die Darstellung konstruiert eine Ethik, die
so philosophiehistorisch nicht vorgelegen hat und ihre bestimmte Gestalt nicht weniger
dem immanenten Fortgang der ›Phänomenologie des Geistes‹ als der Anlehnung an
Kant und Fichte verdankt.« (Roland Pelzer, Studien über Hegels ethische Theoreme,
in: Archiv für Philosophie Bd. 13 [Heft 1–2], S. 10.)
557 Hegel, a. a. O., S. 442.

G. Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz, DOI 10.1007/978-3-658-11771-9_6,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
150 6 Aufhebung der Moralität

Moralität, die nicht Bewußtsein, nicht wirklich mehr sein soll.«558 Das moralische
Bewusstsein kommt Hegel zufolge nicht über die »Antinomie der moralischen Wel-
tanschauung«559 hinaus, die darin besteht, »daß das Gelten der Pflicht ein Jenseits
des Bewußtseins ist und umgekehrt nur in ihm stattfindet«560. Das Steckenbleiben
in dieser Antinomie führt Hegel auf die hypostasierte Dualität von Moralität und
Wirklichkeit zurück. Hegel kritisiert also am Motiv des Sollens »die Äußerlichkeit
als das Verabsolutieren eines Moments gegen den Kontext, von dem her es allein
sinnvoll sein kann, konkreter: die Hypostasierung eines reinen, von der Bestimmtheit
getrennten Wesens« und intendiert »die Aufhebung der Innerlichkeit des reinen
Wesens für das Bewußtsein«561.
Dabei umgeht Hegel allerdings den kantischen Willensbegriff, wenn er Pflicht
und empirische Wirklichkeit aufeinander bezieht und in ein statisches Verhält-
nis bringt.562 Die kritisierte Dualität von Moralität und Wirklichkeit folgt somit
auch Hegels Konstruktion, deren Aufweis der Ohnmächtigkeit des moralischen
Standpunkts nicht frei vom Interesse ist, zu beweisen, dass die jeweils bestehende
Realität einer vom Subjekt ausgehenden Kritik immer überlegen ist; der Kritik
eines Subjekts, das sich zunächst auf die Autonomie seines Willens besinnt, um
von dort aus praktische Veränderung möglich werden zu lassen.
Roland Pelzer hat dies in seiner bei Adorno geschriebenen Doktorarbeit über
Hegels ethische Theoreme folgendermaßen formuliert: »Da die Pflicht dieser Dar-
stellung zufolge nicht kantisch einen aus Achtung vor ihr sich bestimmenden
Willen, sondern unmittelbar eine Praxis fordert, die den für praktische Moralität
konstitutiven Gegensatz von Realität und Pflicht überwinden soll, wird zum Ziel
der Moral ihre eigene Abschaffung, die Immoralität […], ein Widerspruch, der
bei Kant in der Unendlichkeit des moralischen Progresses, die es zur Erreichung
dieses Zieles nicht kommen lassen will, sich schlecht verberge. Zwischen statischer
Nichtübereinstimmung und statischer Übereinstimmung wird die Forderung
von Praxis qua Praxis als einem in Theorie Unauflöslichen, das den Übergang
bewerkstelligen soll, aufgelöst durch den Hinweis, daß Praxis nur sich selbst
widersprechend zum perennierenden Prinzip werden kann.«563 Gleichwohl trifft

558 Hegel, a. a. O., S. 447.


559 Hegel, a. a. O., S. 464.
560 Ebd.
561 Brigitte Bitsch, Sollensbegriff und Moralitätskritik bei G. W. F Hegel, Bonn 1977, S. 178
f. (im Original kursiv).
562 Das hat Roland Pelzer gezeigt; siehe unten, Anm. 10.
563 Pelzer, a. a. O., S. 10 f. Pelzers Studien über Hegels ethische Theoreme sind in vielerlei
Hinsicht eine zuverlässige Quelle, aus der Adornos eigene Stellung zur hegelschen
6 Aufhebung der Moralität 151

Hegels Kritik Kant insofern, als dessen Begriff verwirklichter Moralität, die Idee des
höchsten Gutes, nicht anders als durch das Postulat der Existenz Gottes verbürgt
sein soll; also durch eine Instanz, die die Sphäre der Welt als einer durch Gesetze
konstituierten Natur mit der Sphäre der moralischen Zwecke, die ihr gegenüber-
steht, zu vermitteln hat.564 Kommt in der Konstruktion der Moralitätskritik in der
Phänomenologie des Geistes also der Wahrheitsgehalt von Kants Bestimmung des
selbstgesetzlichen Willens durch das Sittengesetz zu kurz, der in der darin ange-
legten Perspektive vernünftiger, wirklichkeitsverändernder Praxis besteht,565 so
wird doch zu Recht das letztendliche Verbleiben im Dualismus von Moralität und
Realität kritisiert, das die Angewiesenheit der Vorstellung realisierter Moralität
auf göttliche Transzendenz indiziert.
Während in der Phänomenologie des Geistes mithin aus der Perspektive einer
real herzustellenden Versöhnung der Wirklichkeit des endlichen Daseins mit
dem moralischen Selbstbewusstsein die Hypostasierung des letzteren kritisiert
wird, verschiebt sich in der Kritik des Sollens, die die Logik formuliert, der Akzent
zugunsten der idealistischen Aufhebung des endlichen Daseins in der Unend-
lichkeit des Absoluten.566 »Die Kantische und Fichtesche Philosophie gibt als den
höchsten Punkt der Auflösung der Widersprüche der Vernunft das Sollen an, was
aber vielmehr nur der Standpunkt des Beharrens in der Endlichkeit und damit
im Widerspruche ist.«567 Ein moralisches Hinausgehen über das endliche Dasein
lässt Hegel zufolge dieses Dasein ebenso unverändert bestehen, wie umgekehrt
das so verstandene Hinausgehen selber seine eigene Unmöglichkeit in sich trägt,

Moralitätskritik erschlossen werden kann. Das wird nicht nur aus dem gesamten
Duktus und den Verweisen auf Adorno bei Pelzer deutlich, sondern umgekehrt auch
daraus, dass Adorno in der späten moralphilosophischen Vorlesung auf die »Studien«
als auf eine gewissermaßen paradigmatische Interpretation verweist: »Roland Pelzer
hat in einer bei mir geschriebenen […] Dissertation […] eingehend entwickelt, daß der
scheinbare Fortschritt, den Hegel über Kant darstellt, und seine Kritik an der Kantischen
Moralphilosophie in Wirklichkeit eben tatsächlich den ›powers that be‹, der Repression,
zugute kommt«. Pelzer habe, so Adorno weiter, »gegenüber der Hegelschen Kritik an
der Kantischen Moralphilosophie, und, wenn man so sagen darf, an Moralphilosophie
überhaupt, […] eine Metakritik vollzogen, die dann im Zusammenhang des dialektischen
Denkens […] eine Rettung der moralischen Norm gegenüber der mit ihr eben nicht
identischen, unvereinbaren sozialen Realität darstellt.« (Adorno, PM 2, 23. 7. 1963;
Nachgelassene Schriften Bd. 10, S. 246).
564 Vgl. hierzu Pelzer, a. a. O., S. 13 f. sowie die Diskussion von Adornos Interpretation der
Postulatenlehre in Kapitel 4.
565 Siehe oben, Kapitel 3.
566 Vgl. dazu Pelzer, a. a. O., S. 28.
567 Hegel, Wissenschaft der Logik I, in: ders., Werke Bd. 5, S. 148.
152 6 Aufhebung der Moralität

weil es stets negativ auf das bezogen bleibt, worüber es hinausgehen will, und das
ihm als realer Widerstand gegenübersteht. Die im Sollen implizierte Möglichkeit
moralischen Handelns wird in der Dialektik von Schranke und Sollen einerseits
als im Sollen immer schon Mitgesetztes, und andererseits als durch das Sollen
selbst Verhindertes bestimmt: »Du kannst, weil du sollst – dieser Ausdruck […]
liegt im Begriffe des Sollens. Denn das Sollen ist das Hinaussein über die Schranke;
die Grenze ist in demselben aufgehoben, das Ansichsein des Sollens ist so identi-
sche Beziehung auf sich, somit die Abstraktion des Könnens. – Aber umgekehrt
ist es ebenso richtig: Du kannst nicht, eben weil du sollst. Denn im Sollen liegt
ebensosehr die Schranke als Schranke; jener Formalismus der Möglichkeit hat an
ihr eine Realität, ein qualitatives Anderssein sich gegenüber, und die Beziehung
beider aufeinander ist der Widerspruch, somit das Nicht-Können oder vielmehr
die Unmöglichkeit.«568 Die »unendliche Aufgabe« wird der Kritik der Logik zur
»schlechten Unendlichkeit«, denn das »perennierende Sollen«569 als Hinausgehen
über die Schranke des endlichen Daseins löst den Widerspruch nicht auf, indem
es sich in die »affirmative Unendlichkeit«570 aufhebt, welche für Hegel die durch-
gängig in sich selbst vermittelte Bewegung des Geistes, das Absolute, ist, sondern
es verharrt in der abstrakten Negation des Daseins, dem es den Verweis auf ein an
sich seiendes Jenseits entgegenhält. Weil dieses Jenseits aber notwendig jenseitig
bleiben muss, ist das Sollen ohnmächtig und unwahr.
Die schlechte Unendlichkeit des Sollens verabsolutiert – als Prozess »des Quan-
titativen ins Unendliche«571 – den Gegensatz von menschlicher Vernunft und Natur.
Während vernünftige Selbstbestimmung des Willens nach Hegel immer schon
qualitative Vermittlung von Ich und Natur in dem Sinne ist, dass das Ich sich an
der inneren Natur, die die Materie seines Willens ist, abarbeitet und sich von ihr
zu befreien sucht, fasst die Moralität Natur und Sittengesetz, das heißt Sinnlich-
keit des Willens und reinen Willen, quantitativ, »als vollkommen selbständig und
gleichgültig gegeneinander«572, auf. Der Moralität zufolge soll ihre eigene Macht
»immer größer«, die der Natur aber »immer kleiner« werden; zur substantiellen
Vermittlung beider kann es nicht kommen. »Die völlige Angemessenheit […] des
Willens zum moralischen Gesetze wird in den ins Unendliche gehenden Prozeß
verlegt, d. h. als ein absolutes unerreichbares Jenseits vorgestellt, und eben dies solle
der wahre Anker und der rechte Trost sein, daß es ein Unerreichbares ist; denn

568 Ebd., S. 144 f.


569 Ebd., S. 155.
570 Ebd., S. 156.
571 Ebd., S. 264.
572 Ebd., S. 268.
6 Aufhebung der Moralität 153

die Moralität soll als Kampf sein; dieser aber ist nur unter der Unangemessenheit
des Willens zum Gesetze, dieses damit aber schlechthin ein Jenseits für ihn.«573
Der Frage, inwieweit Hegel hier Kants Moralphilosophie gerecht wird oder ihre
Intentionen und ausgeführte Gestalt verfehlt, soll hier nicht nachgegangen werden,
denn es ging um die Vergegenwärtigung der Argumentationsstruktur seiner Mora-
litätskritik. Angemerkt sei nur, dass Hegel jedenfalls die inhaltlichen Forderungen
der Vernunft unterschlägt, die in Kants Lehre von der Bestimmung der Menschen
als Zwecke an sich selbst impliziert sind. Kants praktische Philosophie lässt sich,
wie bereits mehrfach festgestellt wurde, keinesfalls auf die abstrakt-formalistisch
bleibende Kritik am vorhandenen Dasein reduzieren. Sie ist verbunden mit den
aufklärerischen Gehalten seiner politischen Philosophie, die die Interpretation
zulassen, dass Moralität einzig in einer vernünftigen, fortschrittlichen politischen
Verfassung der Gesellschaft wirklich werden könnte.574
Andererseits trifft Hegel aber eine problematische Seite bei Kant, wenn er das
antagonistische Verhältnis kritisiert, in das Moral und Natur zueinander gesetzt
werden. Inwiefern der »Kampf« zwischen Pflicht und Neigung das Resultat gesell-
schaftlicher Antagonismen ist, die prinzipiell veränderbar wären, ist in Kants Ethik
nicht reflektiert. Auch in dieser Hinsicht steht Adornos Kantkritik in der Tradition
der hegelschen, wenn sie die Verewigung des Zwangscharakters normativer Gebote
bzw. des Sittengesetzes schlechthin als unbewusste theoretische Verlängerung
gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse entschlüsselt, die Kants idealistischen
Freiheitsbegriff desavouiert.575 Doch Kants Moralphilosophie geht darin nicht
auf. Sie erlaubt vielmehr eine metaphysische Reflexion auf den Konflikt zwischen
Moralität und Natur, der nicht völlig auf seinen – immer auch vorhandenen –
gesellschaftlichen Hintergrund reduzierbar ist; auf einen Konflikt also, der eine
Gestalt des Verhältnisses von Geist und Natur ist, die sich beide nicht idealistisch
durch Vermittlung ineinander auflösen lassen. Darin erkennt Adorno das Recht
Kants gegen Hegels kritischen Einspruch.
Bereits in der Logik kritisiert Hegel die »Ohnmacht, über den qualitativen
Gegensatz des Endlichen und Unendlichen Meister zu werden und die Idee des
wahrhaften Willens, die substantielle Freiheit, zu fassen«576. Deren Bestimmung
ist Gegenstand der Philosophie des Rechts. Während ihr zufolge die Moralität »die

573 Ebd.
574 Siehe oben, Kapitel 4. – Vgl. dazu Pelzer, a. a. O., S. 30; zu Kants politischer Philosophie
im Zusammenhang mit seiner Ethik vgl. die in Kapitel 4 angeführten Arbeiten von
Lutz-Bachmann und Oelmüller.
575 Siehe oben, Kapitel 4.
576 Hegel, a. a. O., S. 269.
154 6 Aufhebung der Moralität

Innerlichkeit des Willens«577 darstellt, ist der Zustand der Sittlichkeit die reali-
sierte »Idee der Freiheit, […] der zur vorhandenen Welt […] gewordene Begriff der
Freiheit.«578 Das moralphilosophische Thema der Willensfreiheit wird bei Hegel
anhand der Manifestationen des Willens traktiert; während dieser im abstrakten
Recht sein äußeres Dasein findet, gelangt er in der Moralität zu seinem bloß inne-
ren Dasein, um in der Sittlichkeit schließlich seine ganze Wirklichkeit zu finden.
Die Sittlichkeit vermittelt äußeres und inneres Dasein miteinander und gibt dem
Willen sowohl seine subjektive, also innerlich-gewusste, aber formell und abstrakt
bleibende Freiheit, als auch seine objektive, sich in äußeren gesellschaftlichen
Verhältnissen ausdrückende Freiheit, und bezieht beide, als Einheit von Vernunft
und Wirklichkeit in Gestalt gesellschaftlicher und staatlicher Institutionen, stets
schon aufeinander.
Gegen den bei Kant konstatierten Widerspruch, dass Freiheit und Unfreiheit
zugleich bestehen, und Freiheit damit durch Verinnerlichung nicht zu sich selbst,
das heißt zu ihrer vollen Wirklichkeit, kommen kann, besteht Hegel darauf, dass von
Freiheit nur dann die Rede sein könne, wenn sie sich in Geschichte und Gesellschaft
realisiert. Moralität, die Sphäre der inneren Freiheit, ist für die Rechtsphilosophie
nur ein »Durchgangsstadium im Prozeß der Erreichung äußerer Freiheit«579, das
historisch als »Recht der subjektiven Freiheit« den »Wende- und Mittelpunkt in
dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit«580 ausmacht. Die Ver-
innerlichung der Freiheit kommt auf der Schwelle zur europäischen Neuzeit mit
der Reformation zu ihrem fortgeschrittensten Selbstbewusstsein und wird der
Rechtsphilosophie zufolge in der Sphäre der substantiellen Sittlichkeit aufgehoben
und damit verändert aufbewahrt, indem sich der Wille hier wieder der äußeren
gesellschaftlichen Wirklichkeit zuwendet.
Die Sittlichkeit, in der sich die vollständige Verwirklichung der Freiheit konsti-
tuiert, kommt indessen erst im Staat zu sich selbst: »Der Staat ist die Wirklichkeit
der konkreten Freiheit«581 und damit »das sittliche Ganze«582. Er folgt genetisch,
der idealistischen Konstruktion des Hegel’schen Systems gemäß zugleich deren
Resultat und Grund bildend, 583 auf die bürgerliche Gesellschaft; auf das »System

577 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Werke Bd. 7, S. 171.
578 Ebd., S. 292.
579 Herbert Marcuse, Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der
Gesellschaftstheorie, Darmstadt u. Neuwied 1982, S. 178.
580 Hegel, a. a. O., S. 233.
581 Ebd., S. 406.
582 Ebd., S. 403.
583 Ebd., S. 397.
6 Aufhebung der Moralität 155

der Bedürfnisse«584 also, das als »Kampfplatz des individuellen Privatinteresses


aller gegen alle«585 aus eigener Kraft nicht imstande ist, das einigende Band um
seine in ihm zusammengeschlossenen widerstreitenden Elemente zu erhalten, weil
deren Interesse, damit aber die partikulare Selbsterhaltung in Gestalt der sich ent-
faltenden kapitalistischen Ökonomie, das Bewegungsgesetz des Ganzen bestimmt,
und nicht sittliche Vernunft. In der bürgerlichen Gesellschaft bleibt die Freiheit als
Willkür ohnmächtig, nämlich bloß partikulare Freiheit. Allgemeinheit, in der die
besonderen Interessen harmonisch aufgehen würden, kann sich nicht herstellen,
weil die gesellschaftliche Basis das antagonistische Verhältnis der Individuen zu-
einander, die Konkurrenz ist.586
Hegel hält, wie Marcuse gezeigt hat, kritisch daran fest, »daß eine wahre Gesell-
schaft, die das freie Subjekt ihres eigenen Fortschritts und ihrer Reproduktion ist,
nur als eine solche verstanden werden kann, die bewußte Freiheit materialisiert.
Der völlige Mangel einer solchen Freiheit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft
bringt diese sogleich um die Würde einer endgültigen Verwirklichung der Ver-
nunft.«587 Doch Hegel setzt der bürgerlichen Gesellschaft den Staat als die höchste
Verwirklichung der Vernunft entgegen und erklärt sie als in ihm aufgehoben.
Der Staat ist die Negation der Negativität der bürgerlichen Gesellschaft. Daher
ist diese – trotz ihres Mangels an Sittlichkeit – vom Resultat her betrachtet, das
ja aus ihr hervorgeht, auch schon sittlich. Hier schlägt Hegels Kritik der morali-
schen Innerlichkeit in Affirmation gesellschaftlicher Unfreiheit um. Der Staat ist,
außerhalb des Gebäudes der idealistischen Konstruktion, ein Autoritätsgefüge,
das Produktions- und Zirkulationsverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft in
ihrem Bestand sichert. Deren Antagonismen bleiben bestehen, und die Individuen
werden der Zwangsgewalt des Staates unterworfen, der in der Rechtsphilosophie
durch nichts Geringeres legitimiert wird als durch den »Gang Gottes in der Welt«
und »die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft«588. Innerhalb des

584 Ebd., S. 346.


585 Ebd., S. 458.
586 In seiner Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft »gelingt Hegel eine Thematisierung
der auf Willkürfreiheit, Besitzindividualismus, Tausch und Vertrag gegründeten
bürgerlich-liberalen Gesellschafts- und Staatsidee, die zugleich erstmals eine
weltgeschichtliche Distanzierung dieser Verwirklichung der sittlichen Idee möglich
machte.« (Karl-Otto Apel, Kant, Hegel und das aktuelle Problem der normativen
Grundlagen von Moral und Recht, in: ders., Diskurs und Verantwortung. Das Problem
des Übergangs zur postkonventionellen Moral, Frankfurt/M. 1990, S. 82.)
587 Marcuse, a. a. O., S. 183.
588 Hegel, a. a. O., S. 403; vgl. dazu Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie.
Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: Marx/Engels, Werke Bd. 1, a. a. O., S. 201 ff. u.
156 6 Aufhebung der Moralität

idealistischen Systems ist der Staat freilich mehr als ein empirisch-historisches
Gebilde. Er ist »absoluter Staat«589 in dem Sinne, dass in ihm der »wirkliche und
organische Geist […] eines Volkes sich […] durch das Verhältnis der besonderen
Volksgeister hindurch […] in der Weltgeschichte zum allgemeinen Weltgeiste
wirklich wird und offenbart«590.
In der Bestimmung des Staats als »das sittliche Universum«591 greift Hegel auf
die antike Idee der Ethik zurück und beansprucht implizit, mit seinem Begriff
der Sittlichkeit zugleich eine Ethik zu besitzen, die Elemente der griechischen
Ethos-Ethik mit der beginnenden Reflexion der Subjektivität in sich und dem
Selbstbestimmungsanspruch des vernünftigen freien Willens vermittelt, durch
die die moralischen Theorien des Christentums und der Neuzeit gekennzeichnet
sind.592 Das ist Hegels Antwort auf die Krise des Praxisverständnisses, welche die
neuzeitliche Philosophie kennzeichnet. 593 Nicht Restauration des Polis-Ideals ist
dabei Hegels Ziel, wie konservative Interpreten oft suggerieren, 594 sondern der
Anspruch, die objektive Vernünftigkeit des wirklichen Lebenszusammenhangs der
Individuen dadurch unter Beweis zu stellen, dass gezeigt wird, wie die Elemente
des Staats, also seine Bürger und Institutionen, durchgängig miteinander vermittelt
sind und sich gegenseitig produzieren. Der Staat wird damit zur causa finalis der
Gattungs- und Individualgeschichte.595
Hegels Kritik an der Unwahrheit des Insistierens auf dem, was bloß sein soll, zielt
also darauf ab, die substantielle Sittlichkeit des Staates als authentische Realisierung
der konkreten, vernunftgeleiteten Selbstbestimmung des freien Willens zu erweisen.

Marcuse, a. a. O., S. 190 ff.


589 Karl Heinz Haag, Hegels idealistische Dialektik, in: ders., Philosophischer Idealismus,
Frankfurt/M. 1967, S. 39.
590 Hegel, a. a. O., S. 88.
591 Ebd., S. 26.
592 Vgl. Ritter, Moralität und Sittlichkeit, a. a. O., S. 334 ff.
593 Siehe oben, Kapitel 2.
594 Zur neoaristotelischen Hegel-Interpretation vgl. Schnädelbach, Was ist Neoaristotelismus,
a. a. O., S. 42, sowie Karl-Otto Apel, Kann der postkantische Standpunkt der Moralität
noch einmal in substantielle Sittlichkeit aufgehoben werden? Das geschichtsbezogene
Anwendungsproblem der Diskursethik zwischen Utopie und Regression, in: ders.,
Diskurs und Verantwortung, a. a. O., S. 127. – Allerdings spricht auch Apel davon, dass
Hegel »das gelebte Ethos einer menschlichen Gemeinschaft im Sinne der aristotelischen
Ethik« im Auge gehabt habe (Kant, Hegel und das aktuelle Problem der normativen
Grundlagen von Moral und Recht, in: ders., a. a. O., S. 81).
595 Das zeigt Gerhard Bolte, Staatsidee und Naturgeschichte. Zur Dialektik der Aufklärung
im Hegelschen Staatsbegriff, Lüneburg 1991, S. 84 ff.
6 Aufhebung der Moralität 157

Das verleiht seiner Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit apologetische Züge. Doch
darin geht der Begriff der Sittlichkeit nicht auf, denn sein spekulativer Anspruch
gibt ihm einen Doppelcharakter. »Jener geht dahin«, schreibt Roland Pelzer, »in
Geltung befindliche Sitte zwar um ihres unentbehrlichen substantiellen, quasi naiven
Moments willen unabgeleitet vorauszusetzen, ebenso aber sie als verbindliche zu
erweisen, insofern sie an der Vernunft des Wirklichen, nämlich an dessen Charakter
als Realität des Begriffs der Freiheit teilhabe; er öffnet sie damit objektiv der Kritik,
wo immer die Wirklichkeit jenem Begriff, der bei Hegel als realisierter die ›sittliche
Idee‹ heißt, nicht genügt und als unfrei zu erweisen ist.«596 Zwar identifiziert Hegel
also in seiner Resakralisierung des Staates Möglichkeit und Wirklichkeit, indem er
dem Moralischen nur in soweit Substantialität zugesteht, wie es sich als faktische
Sittlichkeit bewährt,597 aber er lässt zugleich auch noch Raum für die Differenz
beider, aus der heraus einerseits – Hegels Intention entsprechend – Moralität als
unrealisiert und somit selbstwidersprüchlich kritisiert werden kann, andererseits
aber auch – entgegen der hegelschen Absicht – die Defizite der nur vermeintlich
substantiellen Sittlichkeit in den Blick gerückt werden können.
Hier setzt auch Adornos Auseinandersetzung mit Hegels Moralkritik an. Ihm
zufolge gelingt es Hegel, das Scheinhafte bürgerlicher Moralphilosophie aufzudecken:
ihre Prämisse einer hypostasierten Individualität. In den Soziologischen Exkursen
wird es als »ein wesentliches Interesse« von Hegels Kritik an Kants praktischer
Philosophie bezeichnet, »daß in der Moralphilosophie bei Kant die gesellschaftliche
Vermittlung zugunsten der abstrakten Subjektivität der moralischen Einzelperson
allzusehr vernachlässigt werde.«598 Indem Hegel die durchgängige Vermitteltheit des
Individuums mit dem gesellschaftlichen Ganzen durchsichtig macht, depotenziert
er das Individuum nicht bloß, sondern macht zunächst einmal den Weg frei für die
Einsicht in seine objektive Abhängigkeit und die Brüchigkeit seiner Identität. Das
Individuum gehört sich nicht selbst, sondern ist Bestandteil des gesellschaftlichen
Funktionszusammenhangs; es ist wesentlich bestimmt durch Arbeit, die ihm als
»abstrakte Arbeit«599 erscheint. Dieser seiner Bestimmtheit durch anderes steht seine
Selbsterfahrung als sich selbst gehörender, durch den eigenen Charakter definierter

596 Pelzer, a. a. O., S. 42. – Die bei Hegel ebenso vorhandene gegenläufige Tendenz, die in
der falschen Aufhebung der Freiheit besteht, hat Schnädelbach herausgearbeitet; vgl.
Herbert Schnädelbach, Hegels Theorie der subjektiven Freiheit, Frankfurt/M. (Diss.)
1965.
597 Vgl. dazu Brunkhorst, Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 316.
598 Institut für Sozialforschung (Hg.), Soziologische Exkurse. Nach Vorträgen und
Diskussionen, Frankfurt/M. 1956, S. 44.
599 Hegel, a. a. O., S. 352.
158 6 Aufhebung der Moralität

Person gegenüber. Die Diskontinuität bzw. der Bruch zwischen diesen beiden Seiten
ist für die Moderne wesentlich, und Autonomie erweist sich als etwas, was noch
gar nicht realisiert werden kann – als Utopie. »Dadurch aber«, so Adorno, »wird
das rein moralische Handeln, in dem das Individuum ganz und gar sich selbst zu
gehören und sich selbst das Gesetz zu geben wähnt, zweideutig, zum Selbstbetrug.«600
Die selbstbezügliche moralische Innerlichkeit überhöht das Individuum, sieht
von seinem ihm immanenten Antagonismus ab und setzt es als Instanz richtigen
Handelns, damit aber des Praktischwerdens der Vernunft selbst, absolut.
Daraus entsteht Adorno zufolge, der in dieser Argumentation Motive von He-
gel, Marx und Freud verbindet, ein doppelter Trug. Dieser stellt sich einerseits auf
Seiten des Subjekts dar als »Übergang des reinen moralischen Selbstbewußtseins
zur Heuchelei«601; andererseits ist er der objektive Schein, der in der moralphiloso-
phischen Suggestion besteht, dass die Erkenntnis und das Gewissen der Individuen
deren richtiges Handeln verbürgen würden. Adorno schließt sich dem Hegel der
Phänomenologie des Geistes an und stellt die Verbindung her zwischen dessen
aufklärerischer Kritik selbstgenügsamer moralischer Innerlichkeit, die in heuchle-
rischen Immoralismus umschlägt, und der moralisch inspirierten Destruktion des
Ressentiments bei Nietzsche. Es ist vor allem die von Hegel betriebene Auflösung
des Dualismus von Moralität und Realität, die Adorno aufnimmt. Er erkennt darin
das Potential einer authentischen Aufhebung der moralphilosophischen Reflexion
in verändernde gesellschaftliche Praxis, welche die Lebensumstände der Menschen
menschlich machen will, und stellt sich damit in die linkshegelianische Tradition in
ihrer marxschen Form. Hegels Moralitätskritik enthält nach Adorno die Einsicht,
dass die Intentionen der avancierten Moralphilosophie, nämlich der kantischen,
erst in einer versöhnten Totalität der konkreten gesellschaftlichen Wirklichkeit zu
sich selbst kämen, in der sie zugleich ihre Gestalt verändern würden. Ist die eman-
zipatorische Dimension von Kants Autonomieethik im Begriff einer Menschheit
mitgesetzt, die ihrer selbst mächtig wäre, so verlangt dieser Begriff gelingende
Praxis als Bedingung seiner Realisierung602 – damit aber die von Hegel zurecht
geforderte Auflösung der moralischen Innerlichkeit, in welche die Ethik bei Kant
als Individualethik gebannt bleibt.
In dieser Interpretation wird zugleich deutlich, wie Adorno Hegels Perspektive
für seine eigene Kritik moralischer Prinzipienphilosophie fruchtbar macht. Will
Moralphilosophie aus theoretischen Prinzipien richtiges Handeln ableiten, dann sitzt
sie dem aus der Schöpfungstheologie ererbten idealistischen Trug auf, demzufolge

600 Adorno, GS 5, S. 291.


601 Ebd., S. 291.
602 Siehe dazu das Kapitel über Adornos Praxisbegriff.
6 Aufhebung der Moralität 159

der Geist autark Natur aus sich heraus produzieren könne. Adornos moralphilo-
sophische Reflexion ist darin dialektisch-materialistisch, dass sie das Moment von
Praxis, sowohl individueller als auch gesellschaftlicher, in seiner Unableitbarkeit
aus moralischen Prinzipien erkennt. Die Vermittlung des Praxis-Moments mit
dem geistig-begrifflichen Moment kann ihm zufolge nicht durch die Hypostase des
Letzteren geleistet werden. Ebenso, wie in der einzelnen Handlung des Individuums
ein Moment unableitbarer Spontaneität zur intellektuellen Zwecksetzung hinzu-
treten muss,603 kann die Verwirklichung des Moralischen nicht aus ihrem Begriff
deduziert werden. Vor diesem Hintergrund bewahrt Adorno Hegels Moralitätskritik
vor dem naheliegenden Einwand, nichts weiter zu sein als die notwendige Vorstufe
zur apologetischen Sittlichkeitslehre. Bei Hegel »bricht bereits die Erkenntnis durch,
dass das Moralische sich keineswegs von selbst versteht, dass das Gewissen rich-
tiges Handeln nicht gewährleistet […]. Hegel verfolgt einen Impuls der radikalen
Aufklärung weiter. Er setzt das Gute dem empirischen Leben nicht als abstraktes
Prinzip, als sich selbst genügende Idee entgegen, sondern bindet es dem eigenen
Gehalt nach an die Herstellung eines richtigen Ganzen – an eben das, was in der
Kritik der praktischen Vernunft unter dem Namen der Menschheit auftritt.« 604
Adorno macht sich das antisubjektivistische Element in Hegels ethischer The-
orie zu eigen. Ihm erweist sich die Überhöhung des Subjekts in der bürgerlichen
Philosophie als Komplement seiner realen Depotenzierung. Subjektivität als
erkenntnistheoretisches und moralphilosophisches Prinzip ist stets abstrakte Sub-
jektivität, die von der Erfüllung dessen, was in ihr als Versprechen formuliert ist,
abgesperrt bleibt. Dem Subjekt der idealistischen Philosophie wird die Konstitution
der Sphäre der Objekte aufgebürdet und ihm damit die Möglichkeit zu emphatisch
verstandener Erfahrung des Objektiven gerade unmöglich gemacht, weil diese laut
Adorno erst einer Philosophie erreichbar wäre, die dem Subjekt erlauben würde,
sich gemäß dem Postulat vom »Vorrang des Objekts« diesem zu überlassen und in
solcher Erfahrung erst ganz zu sich selbst zu kommen.605
Dem entspricht es, so die implizite Grundlage von Adornos Reflexionen zu He-
gels Moralitätskritik, dass die Hypostasierung des Subjekts in der Ethik repressive
Konsequenzen hat: Im subjektivistischen Moralverständnis herrscht die Ideologie
des Glücksverzichts. Das Subjekt, auf das alles ankommt, weil es allein aus sich
heraus das allgemeine Gute verwirklichen muss, hat seine besonderen Interessen

603 Das wurde im Kontext des Begriffs des »Hinzutretenden« in Kapitel 4 bereits ausgeführt.
604 Adorno, GS 5, S. 291.
605 Zur Diskussion des Adorno’schen Subjektivitätsbegriffs vgl. Thyen, Negative Dialektik
und Erfahrung, a. a. O., S.132 ff. sowie meinen Aufsatz über Adornos Begriff der Kritik,
a. a. O.
160 6 Aufhebung der Moralität

zurückzustellen. In der Arbeitsmoral der protestantischen Neuzeit kommt das


sehr deutlich zum Ausdruck. Die Kehrseite der Rückwendung aufs Subjekt ist das
Misslingen des Projekts einer Gesellschaft als Subjekt ihres eigenen Bewegungs-
prozesses. Der Anspruch der einzelnen auf Glück und ein »richtiges Leben« könnte
nur verwirklicht werden, indem ihre Vereinzelung in »richtiger Praxis« aufge-
hoben würde. Als schlechten Ersatz erhalten sie in der bürgerlichen Gesellschaft
abstrakte, weitgehend folgenlos bleibende moralische Autonomie zugesprochen.
In diesem Konzept bleiben die ethischen Bestimmungen nur für das Individuum
verpflichtend, nicht für die ihm dualistisch entgegengesetzte gesellschaftliche To-
talität.606 Adorno findet nun bei Hegel – wobei er offenbar den frühen meint – die
theoretischen Mittel der Kritik an der bürgerlichen Individualmoral begründet.
»Zur bürgerlichen Verherrlichung des Bestehenden gehört immer auch der Wahn
hinzu, daß das Individuum, das rein Fürsichseiende, als welches im Bestehenden
das Subjekt sich selbst notwendig erscheint, des Guten mächtig sei. Ihn hat Hegel
zerstört. Seine Kritik an der Moral ist unversöhnlich mit jener Apologetik der Ge-
sellschaft, welche, um sich in ihrer eigenen Ungerechtigkeit am Leben zu erhalten,
der moralischen Ideologie des Einzelnen, seines Verzichts auf Glück bedarf.«607
Gleichwohl übersieht Adorno nicht das gegenläufige affirmative Moment in
Hegels eigenwilliger Interpretation der praktischen Philosophie. Zunächst kriti-
siert er »die erledigende Gebärde, mit welcher Hegel im Widerspruch zur eigenen
Einsicht stets wieder das Individuelle traktiert« 608. Die daraus hervorgehende
»Vergötzung des Staats«609 ist Adorno zufolge »ein notwendiger Gewaltstreich«610,
mit dem die immanent fortschreitende dialektische Bewegung des Widerspruchs
stillgestellt wird, um ihr Resultat, die absolute Identität, zu retten. Wie Marcuse
hebt Adorno aber an der Rechtsphilosophie hervor, dass sie die bürgerliche Gesell-
schaft als »antagonistische Totalität« begreifbar macht, die sich »einzig durch ihre
Antagonismen hindurch am Leben«611 erhält, die sie nicht versöhnen kann. Der
Versuch, dennoch eine Theodizee des Bestehenden zuwege zu bringen, also den
immanenten Übergang der Hegel’schen Staatsphilosophie in Ideologie, erweist sich
für Adorno als spiegelverkehrte Aufbewahrung des Begriffs eines richtigen Zustands
der Gesellschaft; gleichsam als ein zu früh für erfüllt ausgegebener Anspruch, den
Kritik sich erneut anzueignen hat. Hegel hat demnach »die Welt, deren Theodizee

606 Vgl. Adorno, GS 5, S. 292.


607 Ebd., S. 292.
608 Adorno, GS 4, S. 15.
609 Adorno, GS 5, S. 274.
610 Ebd., S. 275.
611 Ebd., S. 274.
6 Aufhebung der Moralität 161

sein Programm bildet, zugleich auch in ihrer Ganzheit, ihrem Zusammenhang


als einen Schuldzusammenhang denunziert […]. Noch der falsche Anspruch, sie
sei gleichwohl die gute, enthält in sich den legitimen, es solle die tatsächliche Welt
nicht bloß in der ihr entgegenstehenden Idee, sondern leibhaftig zur guten und
versöhnten werden.«612
Im impliziten Versöhnungsanspruch vollendet sich das bürgerliche Programm
der Herstellung einer vernünftigen Totalität der Gesellschaft, das der bürgerlichen
Soziologie in der auf Hegel folgenden Epoche verloren geht und in der kritisch-ma-
terialistischen Theorie von Marx in die nachdrückliche Suche nach den immanenten
Ursachen übergeht, aufgrund derer die entfaltete bürgerliche Gesellschaft dem
Programm ihrer Theoretiker nicht gerecht werden kann.613 Unversöhnt bleiben in
der Gesellschaft, die durch Antagonismen gekennzeichnet ist, die besonderen mit
den allgemeinen Interessen. Dieser zentrale Konflikt erscheint als der zwischen
Individuum und gesellschaftlich Allgemeinen und ist von entscheidender Rele-
vanz für moralphilosophische Überlegungen, weil die Stellung zu ihm, die sich in
ethischen Systemen mehr oder weniger verborgen ausdrückt, auch über den realen
Status des Individuums, dem Subjekt der Ethik, Auskunft gibt.
Kant stellt das Individuum ins Zentrum seiner Gesinnungsethik. Damit konzipiert
er es angemessen qua autonomes Individuum und hypostasiert es zugleich, weil er von
seiner realen heteronomen Vermitteltheit absieht. Hegels Aufhebung der Moralität
ist demgegenüber vom Erfahrungsgehalt durchdrungen, dass das Individuum aus
eigener Kraft die Realität kaum verändern kann, die ihm heteronom entgegentritt.
Aber Hegel wendet diese Erfahrung affirmativ. Er kritisiert nicht die Blockade des
vernünftigen Willens durch unvernünftige Verhältnisse, sondern gibt diese als
adäquate Verwirklichung von jenem aus. Damit heißt er auch die gesellschaftliche
Repression gut, welcher die Individuen ausgesetzt sind, die soziale Zwangsmecha-
nismen produzieren, denen sie wie einem Naturverhängnis ausgeliefert sind, weil
sie kein adäquates Bewusstsein davon haben. Damit ist, so Adorno, die Grundlage
des Übergangs von moralphilosophischer in politische Theorie bezeichnet. »Indem
Hegel den Begriff des Moralischen ins Politische erweitert, löst er ihn auf.« 614 Diese
Auflösung ist unwahr, weil sie theoretisches Konstrukt bleibt, dem keine wirkliche
Vermittlung beider Sphären in der Welt entspricht – eine Vermittlung, die freilich
das Moralische nicht in dem Sinne auflösen würde, dass sie es abstrakt negierte.
Ist das Moralische theoretisch ohne Rest in Politisches aufgelöst, dann wird die

612 Ebd., S. 276.


613 Vgl. dazu Marcuse, Vernunft und Revolution, a. a. O., Teil II, S. 223 ff. sowie Gerhard
Hauck, Geschichte der soziologischen Theorie, Reinbek bei Hamburg 1984.
614 Adorno, GS 10, S. 764 f.
162 6 Aufhebung der Moralität

Spontaneität des Individuums noch einmal begrifflich so herabgesetzt, wie sie es


unter Bedingungen gesellschaftlicher Fremdbestimmtheit sowieso schon ist, und
damit ihre Verwirklichungsmöglichkeit weiter eingeschränkt.
Aus diesem Grunde enthält sich Adornos praktischer Freiheitsbegriff einer affir-
mativen Fassung und entzieht sich so einer Verwendung für den Gesellschaftszustand
der Gegenwart.615 Der Proklamation verwirklichter Freiheit entspricht aus dieser
Perspektive die Annahme, wir könnten auf den Gedanken der Moralität verzichten,
weil sein Gehalt in der politischen Sittlichkeit erfolgreich und ohne Rest aufgehoben
sei. Daher bleiben die Antipoden Kant und Hegel auf moralphilosophischem Gebiet
für Adorno solange gleichberechtigte Exponenten von Wahrheit und Unwahrheit,
bis die gesamtgesellschaftliche Tendenz selber eine Richtung annehmen würde, die
die Versöhnung von Besonderem und Allgemeinem praktisch intendiert. »Kants
Moral- und Hegels Rechtsphilosophie repräsentieren zwei dialektische Stufen des
bürgerlichen Selbstbewußtseins von Praxis. Beide sind, gespalten nach den Polen
des Besonderen und des Allgemeinen, die jenes Bewußtsein auseinanderreißt, auch
falsch; beide behalten so lange gegeneinander recht, wie nicht in der Realität eine
mögliche höhere Gestalt von Praxis sich enthüllt«616.
Adorno lässt es aber nicht bei der Unentschiedenheit bewenden. Er bleibt ent-
schiedener Hegelkritiker. Die in der Rechts- und Geschichtsphilosophie entfaltete
Machtapologie, die über die Individuen und ihre Erfahrung von der Übermäch-
tigkeit des gesellschaftlich wie geschichtlich Allgemeinen souverän hinweggeht, ist
Adorno zufolge, wie bereits angedeutet wurde, ideologisch. Seine Parteinahme für
das Individuum lässt ihn letztlich doch eindeutig gegen Hegels bloß prätendierte
Versöhnung von Individuum und Totalität argumentieren; so etwa in der Kritik
an Hegels Subsumtion des subjektiven Gewissens unter die Norm der objektiven
Sittlichkeit in Gestalt der positiven Rechtsnorm. 617 Adorno verbindet hier ein
anarchistisches Argument mit einem marxistischen – nämlich den Widerstand
gegen Herrschaft und die ideologiekritische Aufdeckung des bürgerlichen Herr-
schaftsinteresses – und bringt beide in einer Denkbewegung zusammen, die der
Dialektik der Aufklärung entstammt. In den Rechtsnormen steckt demzufolge ein
formales Äquivalenzprinzip, das, in Adornos Worten, die säkularisierte Gestalt des
Mythos zur Norm erhebt und sich als instrumentelle Vernunft zur vergeistigten
Gestalt realer gesellschaftlicher Gewalt macht. Diese Interpretation des formalen
Rechts begegnete uns bereits in Adornos Aristoteles-Interpretation.618 »Schon der

615 Das wurde im vorangegangenen Kapitel herausgearbeitet.


616 Adorno, GS 10, S. 765.
617 Vgl. Adorno, GS 6, S. 394.
618 Siehe oben, Kapitel 2.4.
6 Aufhebung der Moralität 163

bloßen Form nach, vor Klasseninhalt und Klassenjustiz, drückt es Herrschaft, die
klaffende Differenz der Einzelinteressen von dem Ganzen aus, in dem sie abstrakt
sich zusammenfassen.«619 Die Rationalität des Rechts ist für Adorno auch darum
scheinhaft, weil in ihr nicht hinreichend auf die irrationalen Gewaltverhältnisse
reflektiert wird, die es zur Voraussetzung hat und deren es zu seiner Durchsetzung
ständig bedarf. Recht ist demnach vermittelte Gewalt und insofern humaner als die
unmittelbare der Diktaturen; aber es bleibt die Zwangsinstanz, die das Individuum
dem Ganzen unterordnet. Gleichwohl plädiert Adorno nicht für eine affirmative
Lehre vom Naturrecht, dem er – wie Ernst Bloch620 – lediglich einen kritischen
Status dem positiven Recht gegenüber zuerkennt.
Im Zusammenhang dieser Untersuchung ist Adornos Kritik an Hegels Rechts-
philosophie als Votum für die Stärkung der Sphäre des Individuums und seiner
Handlungen zu interpretieren. Adorno will das Individuum stärken gegen den
wachsenden Zugriff der durch Institutionen vermittelten Vorherrschaft des falschen
gesellschaftlichen Allgemeinen; vorausgesetzt, dies wäre überhaupt möglich, da
doch das Individuum ihm zufolge in sich selber als gesellschaftlich Vermitteltes
und nicht bloß als äußerlich ›Beeinflusstes‹ zu begreifen ist. Darin drückt sich die
Intention aus, Hegels Auflösung der Moral – und der Moralphilosophie – noch
einmal zu problematisieren. Das unauflösbare Substrat von Moralphilosophie ist
der einzelne. Das verleiht moralphilosophischer Reflexion nach ihrer hegelschen
Destruktion neue Dignität. Gleichwohl findet sich bei Adorno keine Apologie des
Individuums, die ja voraussetzen würde, dass Individualität zu ihrem Recht ge-
kommen sei. Hegels Wahrheitsgehalt ist ihm zufolge darin zu sehen, dass er einer
Verklärung der individualistischen Gesellschaft entgegenarbeitet und, wenn auch in
falscher Gestalt, die Erkenntnis vom faktischen Ende des Individuums vorbereitet.

619 Adorno, GS 6, 305.


620 Vgl. Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt/M. 1977.
Die Vormacht des Allgemeinen:
Zur moralphilosophischen Dialektik 7
des Individuums
7 Die Vormacht des Allgemeinen
7 Die Vormacht des Allgemeinen

Im Widerstreit des – im besten Falle – reinen, guten Willens der Individuen und
der »Vormacht des Allgemeinen«621 kommt ein basaler Antagonismus zum Aus-
druck. Der Begriff des Individuums, seine historische Entfaltung und die sich darin
manifestierende Dialektik von utopisch-humanem Potential und ideologischer
Verbrämung seiner tatsächlichen Degradation ist für Adornos Werk zentral; so
auch für seine Moralphilosophie.
Voraussetzung von Adornos dialektischer Individuationstheorie ist der Begriff
des Individuums bei Marx, dessen historischer Materialismus, mit den Worten
Alfred Schmidts, »das mit dem Übergang zur bürgerlichen Neuzeit weltgeschicht-
lich, weil universell werdende Zusammenwirken der Individuen untersucht.« 622 Der
materialistischen Anthropologie der Deutschen Ideologie zufolge sind die konkreten
Individuen Grundlage der geschichtlich-gesellschaftlichen Entwicklung. In ihrem
materiellen Reproduktionsprozess werden die Individuen wesentlich zu dem, was
sie sind: nämlich durch die Produktionsverhältnisse, in denen sie stehen. Diese
wiederum sind gekennzeichnet durch Organisation der Produktivkräfte eines
Verbandes von Individuen nach dem Stand der Arbeitsteilung und den Formen
des Eigentums an allem, was zur Produktion vonnöten ist, die der gesellschaft-
lichen Arbeit jeweils zugrunde liegen. Zwischen der tatsächlichen Funktion der
Individuen für die gesellschaftliche Totalität und ihrem Bewusstsein davon besteht
nach den Autoren der Deutschen Ideologie ein Bruch, der die reale Grundlage für
die theoretische Hypostasierung oder Depotenzierung des Individuums ist. »Die
gesellschaftliche Gliederung und der Staat gehen beständig aus dem Lebensprozeß
bestimmter Individuen hervor; aber dieser Individuen, nicht wie sie in der eigenen
oder fremden Vorstellung erscheinen mögen, sondern wie sie wirklich sind, d. h. wie

621 Adorno, GS 6, S. 306.


622 Schmidt, Praxis, a. a. O., S. 119.

G. Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz, DOI 10.1007/978-3-658-11771-9_7,


© Springer Fachmedien Wiesbaden 2016
166 7 Die Vormacht des Allgemeinen

sie wirken, materiell produzieren, also wie sie unter bestimmten materiellen und
von ihrer Willkür unabhängigen Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen
tätig sind.«623
In der bürgerlichen Gesellschaft erscheint der Bruch zwischen dem realen Status
des Individuums und seinem ideologischen Begriff als Diskrepanz zwischen der
zentralen Rolle, die ihm der gesellschaftliche Produktionsprozess als Warenbe-
sitzer zuweist, und seiner tatsächlichen Subordination – der eines Besitzers und
Verkäufers von Ware – unter die ihm logisch und ontologisch vorgeordneten
Gesetzlichkeiten der Warenproduktion und des Marktes. Die Kritik der politi-
schen Ökonomie zeigt, dass das Individuationsprinzip in seiner entfalteten Form
unabdingbare Voraussetzung einer warenproduzierenden Gesellschaft ist, weil
nur das Individuum, das sich selbst gehört, Tauschverträge eingehen kann. In dem
gesellschaftlich tragenden, dem Arbeitsvertrag, findet freilich die Entmächtigung
des produzierenden Individuums, das kein Eigentümer von Produktionsmitteln ist,
statt, dessen Arbeitskraft dem Kapital subsumiert wird. Aber auch das Individuum
als Privateigentümer von Produktionsmitteln fungiert als ausführende Instanz der
ihm übergeordneten Verwertungslogik des Werts. Das bringt Marx im Begriff der
»ökonomischen Charaktermasken der Personen« 624 zum Ausdruck. Aufeinander
bezogen sind die Individuen wesentlich durch das Verhältnis der Konkurrenz. Der
Klassengegensatz setzt sich nach Marx bis in das Prinzip der Individuation hinein
fort und macht es zu dem der antagonistischen Vereinzelung. Die Individuen,
deren Emanzipation von überkommenen Bindungen die bürgerliche Gesellschaft
betreibt, werden nicht zu autonomen Subjekten ihres Lebensprozesses, sondern zu
Objekten eines schicksalhaften ökonomischen Bewegungsgesetzes, das im Zyklus
von Konjunktur und Krise ihr Leben bestimmt. Und das gilt noch heute, wenn
auch viele Individuen dabei ein erträglicheres Leben führen können als zur Zeit
von Marx, sofern sie das Glück haben, nicht in einem der zahlreichen Elendsgebiete
der Welt zu leben.625

623 Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, a. a. O., S. 25.


624 Marx, Das Kapital, Bd. 1, a. a. O., S. 100.
625 »Noch ist die Menschheit verstrickt in Naturgeschichte. Sie bringt zwar ihren historischen
Prozeß selbst hervor, ›aber nicht‹ – wie der späte Engels, anspielend auf eine Formulierung
Kants sich ausdrückt – ›mit Gesamtwillen nach einem Gesamtplan‹; dem kollektiven
Intellekt nicht unterworfen, nimmt jener Prozeß Züge eines mythischen Verhängnisses
an, eines blinden, seinen Agenten entfremdeten Naturgeschehens. Marx wirft […] eine
erdumspannende, ökumenische Frage auf. Sie bedarf dringend der Lösung. Ob sie freilich
mit den bis heute entwickelten planwirtschaftlichen Instrumentarien zu bewältigen
ist, steht dahin.« (Alfred Schmidt, Die in Naturgeschichte verstrickte Menschheit, in:
7 Die Vormacht des Allgemeinen 167

Adornos Theorie des Individuums nimmt ihren Gegenstand aus der Perspektive
seiner Auflösung in den Blick. Verhalf das Individuationsprinzip am Beginn der
Neuzeit der modernen Wirtschafts- und Vergesellschaftungsweise zum Durchbruch,
so steht die Moderne selbst im Zeichen der Rückbildung des Individuums. Im
Unterschied zur kulturkonservativen Klage über den Verfall von ehedem besseren
Zuständen, die es zu restaurieren gelte, begreift Adorno die »Vernichtung des In-
dividuellen«626 aber als Resultat der Dialektik der Individualität selber. Diese dem
Begriff des Individuums einbeschriebene historische Dialektik, die in den theo-
retischen Arbeiten aus dem Kreis des Instituts für Sozialforschung, vor allem von
Horkheimer, entfaltet wurde, fasst Adorno folgendermaßen zusammen: »Was zu
Beginn des neuen Zeitalters mit den Menschen sich zutrug, wiederholt sich heute
[…] mit umgekehrtem Akzent. Als die freie Marktwirtschaft das Feudalsystem
verdrängte und des Unternehmers wie des freien Lohnarbeiters bedurfte, bildeten
sich diese Typen nicht nur als berufliche, sondern zugleich als anthropologische;
Begriffe, wie der der Selbstverantwortung, des Vorblicks, des sich selbst genügenden
Einzelnen, der Pflichterfüllung, aber auch starrer Gewissenszwang, die verinner-
lichte Bindung an Autoritäten, stiegen auf. […] Heute nun verlieren Konkurrenz
und freie Marktwirtschaft gegenüber den zusammengeballten Großkonzernen und
den ihnen entsprechenden Kollektiven mehr und mehr an Gewicht. Der Begriff
des Individuums, historisch entsprungen, erreicht seine historische Grenze.«627
Die innere Konstitution des Individuums wird in der Gegenwart, so Ador-
no, nach wie vor von dessen Gegenpol, der Organisation des gesellschaftlichen
Ganzen, bestimmt, aber in einer entgegengesetzten Richtung. Gegen dualistische
Auffassungen, die das Individuum der Gesellschaft abstrakt entgegenstellen und
es entweder als Residuum reiner Subjektivität oder als deformiert durch eine ihm
äußerlich bleibende Gewalt der sozialen Objektivität auffassen, macht Adorno
mit Hegel und Marx die wechselseitige Vermitteltheit beider Seiten geltend. Die-
se Vermitteltheit begreift er freilich nicht als gelungen, sondern als eine, die im

Krise und Kritik, hg. v. G. Schweppenhäuser, R. Johannes u. D. zu Klampen, Lüneburg


1987, S. 11 f.)
626 Adorno, GS 4, S. 15.
627 Adorno, GS 8, S. 450. – Vgl. dazu Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen
Vernunft, a. a. O., darin: Aufstieg und Niedergang des Individuums, S. 124 ff.; Artikel
»Individuum«, in: Soziologische Exkurse, hrsg. v. Institut für Sozialforschung, a. a. O.,
S. 40 ff.; Hermann Schweppenhäuser, Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation, in:
ders., Vergegenwärtigungen zur Unzeit. Gesammelte Aufsätze und Vorträge, Lüneburg
1986, S. 42 ff.; Rainer Habermeier, Theodor W. Adorno: Die Rettung des Individuellen,
in: Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Gegenwart IV, hrsg. v. J.
Speck, Göttingen 1981, S. 147 ff.
168 7 Die Vormacht des Allgemeinen

Antagonismus besteht, das heißt als »die gegenwärtige Gestalt des gesellschaftli-
chen Widerspruchs«628. Die Richtung, die die gesellschaftliche Reproduktion der
geschichtsphilosophischen Tendenz von Individuation heute vorgibt, ist Adorno
zufolge seine Depotenzierung zu reiner Fungibilität im Verwertungsprozess. Das
Funktionieren der Ökonomie erheischt demnach nicht mehr freie Entscheidungs-,
sondern Anpassungsfähigkeit und rasches Reagieren. Je mehr der einzelne zum
beliebig austauschbaren Posten im Gesamtgefüge wird, desto mehr wird indessen
der Schein des freien Individuums erzeugt. Die »Selbsttäuschung der individu-
alistischen Gesellschaft«629, die im nominalistischen Begriff des Individuums in
der neuzeitlichen Philosophie und in seiner liberalistischen Verabsolutierung
angelegt ist,630 wird notwendiges Komplement ihrer Transformierung in ein fal-
sches Kollektiv. Die »ökonomisch entsprungene Autonomie«631 des Individuums
findet ihre falsche Vollendung als Verabsolutierung der Vereinzelung des Ein-
zelnen, die Verrat an den eigensten Interessen begeht, indem sie das Partikulare
hypostasiert, während erst ein vernünftiges gesellschaftliches Allgemeines dieses
Interesse vertreten könnte und so in der Überwindung der falschen, ökonomisch
determinierten Gestalt von Individuation sein utopisches Ideal zu entbinden
imstande wäre. Die rettende Wiederherstellung der in der bürgerlichen Gesell-
schaft erreichten Elemente autonomer Individualität ist daher für Adorno die
unverzichtbare Bedingung zur Herstellung einer Gesellschaft, die Individuation
in einer solidarischen Menschheit zu verwirklichen hätte und damit die bürgerli-
che Gestalt des Individuums transzendieren würde, die gegenwärtig lediglich im
Prozess der Zerstörung begriffen ist.
Adornos Theorie des Individuums verbindet soziologisch-ökonomische mit
moralphilosophischen Aspekten. In der Einschätzung der ökonomischen Ursachen
der Vergesellschaftungsmechanismen im Spätkapitalismus, die es nun zu betrachten
gilt, folgt Adorno zunächst weitgehend der Analyse, die Horkheimer und Pollock in
den Dreißiger und Vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelten. In einigen
entscheidenden Punkten weicht er aber auch davon ab.
In der ökonomischen Diskussion im Institut für Sozialforschung über die
Entwicklung des Kapitalismus vertrat Grossmann die orthodox marxische These,
dass die aufgrund seiner Verwertungs- und Akkumulationsgesetzlichkeiten stetig

628 Adorno, GS 8, S. 453.


629 Adorno, GS 8, S. 452.
630 »Die Monaden-Lehre enthält das Modell für die individualistische Auffassung des
konkreten Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft«. (Soziologische Exkurse, a. a. O.,
S. 41).
631 Adorno, GS 4, S. 262.
7 Die Vormacht des Allgemeinen 169

steigende organische Zusammensetzung des Kapitals – das heißt die Verringerung


des Anteils an lebendiger Arbeitskraft zugunsten des Anteils an Produktionsmitteln,
die gemeinsam die »technische Zusammensetzung« des Kapitals darstellen – zu
einem relativen Sinken der Profitmasse führt, selbst wenn diese absolut gesehen
steigt, weil der Mehrwertanteil an den einzelnen produzierten Waren umso ge-
ringer wird, je kleiner der Anteil der in ihnen verkörperten Arbeitskraft ist. Diese
Entwicklung führt nach Marx zum tendenziellen Fall der Profitrate, der zwar von
systemimmanenten entgegenwirkenden Ursachen zeitweilig aufgehalten wird,
letztlich aber zum Zusammenbruch des Kapitalismus aufgrund seines eigenen
Bewegungsgesetzes – geschichtsphilosophisch: zur Negation der Negation – führen
muss. Grossmann nahm die unverminderte Wirkmächtigkeit dieses Gesetzes an
und erwartete demzufolge von den immanenten Widersprüchen des kapitalistischen
Systems die greifbare Möglichkeit produktiver gesellschaftlicher Sprengkraft. 632
Das Ausbleiben des Zusammenbruchs und die Übernahme der politischen
Herrschaft durch Faschismus und Nationalsozialismus erklärten Neumann und
Kirchheimer mit der »Kontinuitätsthese, der zufolge das faschistische System –
auch in seiner entwickelten kriegskapitalistischen Gestalt – die dem hochmono-
polistischen Kapitalismus adäquate politische Organisationsform sei.«633 Pollock
versuchte zu zeigen, dass der Kapitalismus durchaus imstande ist, seine immanente
Krisentendenz zu überwinden und sich, transformiert zum Staatskapitalismus, am
Leben zu erhalten. Die ökonomische Eigengesetzlichkeit wird Pollock zufolge in
der neuen Phase des Kapitalismus partiell suspendiert und durch kapitalistische
Planwirtschaft ersetzt. Ihm und Horkheimer zufolge beherrscht in der Spätphase
des Kapitalismus nicht mehr die Ökonomie die Politik, sondern es gilt der Primat
der Politik über die Ökonomie. Die Monopolisierungstendenz des liberalistischen

632 Vgl. Marx, Das Kapital, Dritter Band, a. a. O., S. 221 ff.; Henrik Grossmann, Das
Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Leipzig 1929;
ders., Die Wert-Preis-Transformation bei Marx und das Krisenproblem, in: Zeitschrift
für Sozialforschung, Jg. 1 (1932), S. 55 ff.; Giacomo Marramao, Zum Verhältnis von
politischer Ökonomie und Kritischer Theorie, in: Ästhetik und Kommunikation, Jg.
11 (1973), Heft 4, S. 79 ff.; Helmut Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische
Erfahrung, Frankfurt/M. 1978. – Einen guten Überblick über den Diskussionsstand zu
diesem Thema und eine Interpretation der Adorno’schen Rezeption der ökonomischen
Diskussion gibt Carsten Schlüter, Adornos Kritik der apologetischen Vernunft, Würzburg
1987, S. 557 ff.
633 Helmut Dubiel u. Alfons Söllner, Die Nationalsozialismusforschung des Instituts für
Sozialforschung, in: Max Horkheimer, Friedrich Pollock u. a., Wirtschaft, Recht und
Staat im Nationalsozialismus, hrsg. v. H. Dubiel u. a. Söllner, Frankfurt/M. 1981, S. 16.
170 7 Die Vormacht des Allgemeinen

Kapitalismus mündet in den autoritären Staat.634 Dort ist der Kampf der verschie-
denen politischen und wirtschaftlichen Interessengruppen um gesellschaftliche
Herrschaft institutionalisiert. Der einzelne zählt in der »Racketgesellschaft« nur
noch kraft seiner Zugehörigkeit zur jeweiligen machtausübenden Gruppe, der er
sich vermittels mimetischer Regression anzuverwandeln gezwungen ist.
Adorno hat sich diesem Erklärungsmodell in den 1940er Jahren zunächst
angeschlossen. Das gilt zunächst für die Dialektik der Aufklärung, insofern in
ihr die Rackettheorie des Staatskapitalismus zum Tragen kommt; 635 aber es gilt
auch für seine eigenen Schriften aus jener Zeit. Adorno spricht in den posthum
publizierten Reflexionen zur Klassentheorie 1942 vom »Prozeß der Liquidation der
Ökonomie«636, in dem das geschichtsübergreifende Prinzip herrschaftlicher Gewalt
am Ende der liberalen Phase des Kapitalismus zu sich selbst kommt. Daraus zieht er
eine folgenschwere Konsequenz für das Verhältnis von ökonomischem Bewegungs-
gesetz und gesellschaftlicher Herrschaft. Er wendet sich gegen die Ableitung der
jeweiligen Form von Klassenherrschaft aus den ökonomischen Verhältnissen der
gesamtgesellschaftlichen Reproduktion und kehrt die Beziehung um: Herrschaft
manifestiert sich historisch in je wechselnder Gestalt und bedient sich dabei der
ökonomischen Gesetze, die ihr am dienlichsten sind. Diese Abgrenzung von der
ökonomischen Kontinuitätsthese zugunsten der These einer Kontinuität von Herr-
schaft besitzt, als negativ-emanzipationstheoretische Konstruktion der Historie,
große kritische Kraft. Unübersehbar ist die Verwandtschaft mit Benjamins Ge-
schichtstheorie.637 Aber mit der Universalisierung von Herrschaft geht zugleich auch
eine Einbuße an historischer Trennschärfe einher. »Nicht haben die Tauschgesetze
zur jüngsten Herrschaft als der historisch adäquaten Form der Reproduktion der

634 Vgl. Friedrich Pollock, Die gegenwärtige Lage des Kapitalismus und die Aussichten
einer planwirtschaftlichen Neuordnung, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 1 (1937),
S. 8 ff.; ders., Staatskapitalismus, in: Horkheimer, Pollock u. a., Wirtschaft, Recht und
Staat im Nationalsozialismus, a. a. O., S. 81 ff. sowie Max Horkheimer, Autoritärer Staat,
in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 5, Frankfurt/M. 1987, S. 293 ff.
635 Diesem Aspekt kann ich im vorliegenden Rahmen nicht nachgehen. Verwiesen sei auf
die theoriegeschichtliche Verschiebungstendenz in den ersten beiden Textvarianten
der Dialektik der Aufklärung, welche die Spannung zwischen »klassisch-marxistischer
und staatskapitalismustheoretischer Erklärung des Faschismus« dokumentieren; vgl.
dazu Willem van Reijen u. Jan Bransen, Das Verschwinden der Klassengeschichte in
der »Dialektik der Aufklärung«, in: Horkheimer, Gesammelte Schriften Bd. 5, a. a. O.,
S. 453 ff.
636 Adorno, GS 8, S. 385.
637 Vgl. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, a. a. O.; siehe dazu Rolf Tiedemann,
Historischer Materialismus oder politischer Messianismus? in: ders., Dialektik im
Stillstand, Frankfurt/M. 1983, S. 99 ff.
7 Die Vormacht des Allgemeinen 171

Gesamtgesellschaft geführt, sondern die alte Herrschaft war in die ökonomische


Apparatur zuzeiten eingegangen, um sie, einmal in voller Verfügung darüber, zu
zerschlagen und sich das Leben zu erleichtern.«638 Diese Formulierung läuft Gefahr,
zu unterschlagen, dass Herrschaft in ihrer modernen Form ja erst mit der weltum-
spannenden, universalen Ausbreitung des Kapitalverhältnisses universal werden
konnte. Erst durch die ökonomische Entwicklung hindurch kann Herrschaft ihre
lokalen Begrenzungen sprengen und sich strukturell umfassend etablieren – um
dann selbst wiederum die ökonomische Tendenz zu beeinflussen. Wenn Herrschaft
in der Geschichte aber nach Belieben diese oder jene Form annehmen könnte, wäre
sie von einer ontologischen Invariante kaum noch zu unterscheiden. Immanent
ist die Dialektik von Herrschaft und ökonomischer Formbestimmtheit in den
Reflexionen wohl auch angelegt, aber sie wird nicht expliziert.
Die Gefahr, diese Dialektik unterzubewerten, wohnt der Theorie des Staats-
kapitalismus inne, zu der Adorno in der Folgezeit ein distanzierteres Verhältnis
eingenommen hat, ohne freilich das kritische Potential der Rackettheorie auf
phänomenologischer Ebene zu leugnen. In den Minima Moralia charakterisiert
er das Verhältnis von Kapitalismus und Faschismus orthodox marxistisch. Hitler
ist demzufolge in gewisser Hinsicht tatsächlich bloßes Werkzeug der monopolis-
tischen Kapitalkonzentration gewesen. Deren Exponenten hätten ihn benutzt, um
ihre »industrielle Zurückgebliebenheit« aufzuholen und durch Kriegspolitik den
Umstand zu kompensieren, dass sie zunächst von »imperialistischen Machtposi-
tionen«639 ausgeschlossen waren.640 Demnach ist Hitler die List der irrationalen
Vernunft gewesen und der Faschismus notwendige Konsequenz des Kapitalismus
– der damit gleichzeitig modifiziert wird.641

638 Adorno, GS 8, S. 381.


639 Adorno, GS 4, S. 117.
640 Zur historiographischen Analyse des Verhältnisses von Nationalsozialismus und
kapitalistischem Wirtschaftsinteresse vgl. George W. F. Hallgarten u. Joachim Radkau,
Deutsche Industrie und Politik, Frankfurt/M. 1986, S. 225 ff.
641 Dass Pollocks Auffassung, der Nationalsozialismus sei eine qualitativ neue Ordnung,
mit Neumanns Kontinuitätsthese keineswegs unvereinbar ist, betonen Dubiel und
Söllner: »Der im Faschismus sich bekundende Funktionszuwachs der Politik, die in den
postfaschistischen Theorien sich fortsetzte, erscheint so als Entwicklungsprodukt des
Kapitalismus selber, als eine Tendenz, die in der staatlichen Bürokratie ihr Mittel und in der
Wirtschaftsplanung ihr Ziel hat.« (Dubiel u. Söllner, Die Nationalsozialismusforschung
des Instituts für Sozialforschung, a. a. O., S.18) Man darf darüber aber nicht die Probleme
und Schwachstellen der Pollock’schen Staatskapitalismustheorien übersehen, auf die
ich im vorliegenden Rahmen aber nicht näher eingehen kann.
172 7 Die Vormacht des Allgemeinen

Die Rackettheorie zeigt, wie sehr die Gesellschaft durch Kräfte bestimmt wird,
die ausschließlich partikulare Zwecke verfolgen. Adorno schließt sich diesem
Befund an.642 Bei ihm ist die Rackettheorie offensichtlich auch literarisch-künst-
lerisch inspiriert.
In Brechts Darstellung des Faschismus in Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo
Ui wird das Bild der vorfaschistischen Gesellschaft und des Faschismus als Tum-
melplatz von Gangsterbanden entworfen.643 Adorno hat diese Darstellung später
als politisch motivierte, unbeabsichtigte Verharmlosung kritisiert: »Das wahre
Grauen des Faschismus wird eskamotiert; er ist nicht länger ausgebrütet von der
Konzentration gesellschaftlicher Macht, sondern zufällig wie Unglücksfälle und
Verbrechen. […] Die Lächerlichkeit, der Ui überantwortet wird, bricht wider alle
Dialektik dem Faschismus die Zähne aus«.644 Diese ästhetische Kritik ließe sich
auch modifiziert gegen die Theorie der Geschichte als einer von Rackets vorbringen.
Insofern, als die Rackettheorie Elemente der Priestertrugstheorie aufnimmt, stellt
sich die Frage, ob nicht das spezifische Vermitteltsein des Nationalsozialismus durch
die objektive ökonomische Tendenz zu sehr in den Hintergrund tritt. Dann aber
verhielte es sich so, dass die Vorstufe zum Nationalsozialismus verharmlost und die
Gefahr seiner Wiederkehr unfreiwillig unterschätzt wird. Denn unter bestimmten
Umständen unterliegt diese offenbar nicht dem bewussten subjektiven Willen der
Herrschenden, sondern objektiven ökonomischen Faktoren.645
Das gesellschaftstheoretische Problem des Racketmodells besteht indessen darin,
dass in Verbindung mit seiner geschichtsphilosophischen Universalisierung, die
ökonomische Eigengesetzlichkeit unterbewertet wird. Die nachfaschistische Gestalt
des Kapitalismus kann durch eine Theorie der Rackets, sofern sie die ökonomische
Logik außer Kraft setzen, nicht erklärt werden. Dieser Problematik ist sich Adorno
bewusst gewesen. In späteren Schriften hat er die Gefahr einer abstrakten Negation
der genuin ökonomischen Bewegungsgesetze stets vermieden. Das Verhältnis von
Herrschaft und Ökonomie wird dialektisch formuliert: »Weiter«, heißt es 1968, »wird
Herrschaft über Menschen ausgeübt durch den ökonomischen Prozeß hindurch.«646

642 Vgl. etwa Adorno, GS 4, S. 50.


643 Bertolt Brecht, Gesammelte Werke Bd. 4, Frankfurt/M. 1982, S. 1719 ff.
644 Adorno, GS 11, S. 417.
645 Die Naturmetaphorik des berühmten Wortes aus Brechts Ui impliziert ja in gewissem
Sinn, dass unter bestimmten Bedingungen der Wille auch der unheilstiftenden
Herrschenden nicht frei ist: »Daß keiner uns zu früh da triumphiert – /der Schoß ist
fruchtbar noch, aus dem das kroch!« (Brecht, a. a. O., S. 1835).
646 Adorno, GS 8, S. 360.
7 Die Vormacht des Allgemeinen 173

Ausdrücklich wird von Adorno das Theorem von tendenziellen Fall der Profitrate
anerkannt; ihm zufolge bringt dieses Erkenntnismodell das Wesen der gegenwär-
tigen Gesellschaft deutend647 auf den Begriff, auch wenn dieses Wesen sich dem
Begreifen entzieht. Das »heute bis zur Unkenntlichkeit sich versteckende Marxische
Zusammenbruchsgesetz, das aus der Tendenz der sinkenden Profitrate deduziert
war«, sei trotz seiner scheinbaren Überwundenheit in Kraft, denn die nötigen
Anstrengungen, es zu überwinden, zeugen für Adorno von seiner Wirkmächtig-
keit: »Seine Milderungen wären ihrerseits aus ihm abzuleiten, systemimmanent
vorgezeichnete Anstrengungen, die systemimmanente Tendenz abzubiegen oder
aufzuschieben. Keineswegs steht fest, daß das auf die Dauer möglich ist; ob nicht
jene Anstrengungen schließlich doch das Zusammenbruchsgesetz wider ihren
eigenen Willen exekutieren.«648 Bezieht sich dies auf den für Adorno offenen Aus-
gang des gegenwärtigen gesellschaftlichen Prozesses, so gilt ihm zufolge für den
historischen Stand der gesellschaftlichen Individuation entsprechend ihre Vermit-
teltheit mit ökonomischen Gesetzen. Die innere Struktur des Individuums wird
bei Adorno mit der Kategorie der »organischen Zusammensetzung« beschrieben,
die dem theoretischen Zusammenhang des Gesetzes vom tendenziellen Fall der
Profitrate entnommen ist.649
Der Anstieg des konstanten Kapitalteils gegenüber dem variablen, das heißt die
von den Erfordernissen der Akkumulation erzwungene zunehmende Ersetzung
von Arbeitskraft durch Maschinerie, wird bei Adorno zur kritischen Metapher
für die ansteigende innere Bestimmtheit des Individuums durch ihm ursprüng-

647 Analog zu seinem frühen, auf Benjamin zurückgehenden, Programm von »Philosophie
als Deutung« hat Adorno in seinen letzten soziologischen Arbeiten die Relevanz der
»Deutung« auch in dieser Wissenschaft betont; vgl. GS 8, 315 ff.
648 Adorno, GS 8, S. 320.
649 Marramao und Schlüter erkennen in Adornos ökonomischen Ausführungen den
gelungenen Versuch, die Theoreme von Grossmann und Pollock miteinander zu
vermitteln, wobei sie Grossmann gegen die Kritik der dogmatischen Hypostasierung
des Zusammenbruchsgesetzes in Schutz nehmen und Pollock zugute halten, dass seine
marginale Behandlung des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate nicht auf dessen
abstrakte Negation hinausläuft, sondern die Theorie des Staatskapitalismus vielmehr
auch die Aufgabe bekommt, zu erklären, wie diesem Gesetz auf sehr lange Sicht wirksam
entgegengesteuert werden könne. Adornos Position kennzeichnet Schlüter wie folgt:
»Durch sein Überleben und die hierfür erforderlichen Modifikationen bestätigt der
Kapitalismus das Zusammenbruchsgesetz, das sich so als sein verborgenes Wesen – da
er durch den politischen Interventionismus allein sich noch aufrecht erhielt – zeigt.«
(Schlüter, a. a. O., S. 578) Für die Gegenwart kann freilich kaum davon gesprochen
werden, dass die bestehende Weltwirtschaftsordnung »allein« durch politischen
Interventionismus erhalten werde.
174 7 Die Vormacht des Allgemeinen

lich äußere Faktoren, nämlich die Erfordernisse der Warenproduktion und des
Verwertungsprozesses, zu deren Mittel es geworden ist, anstatt ihnen souverän zu
gebieten. Nach Adorno zerfällt das Subjekt, das zum Objekt der ihm entfremdeten
Arbeitsprozesse degradiert ist, innerlich in zwei Bereiche, die er mit den Katego-
rien Mittel und Zweck beschreibt. Um sich selbst zu erhalten, also das substantiell
Zweckhafte des eigenen Daseins realisieren zu können, muss das Subjekt sich immer
auch ein Stück weit instrumentell verhalten. Nimmt aber der instrumentelle Cha-
rakter des Subjekts überhand, so geht es sich selbst verloren. Die gesellschaftliche
Subordination des einzelnen, des Besonderen, unter ihm fremde Zwecke, deren
Grundlage die Subsumtion von Lohnarbeit unter das Kapital ist, setzt sich, so
Adorno, in den psychischen Apparat der Individuen hinein fort. »Es wächst die
organische Zusammensetzung des Menschen an. Das, wodurch die Subjekte in sich
selber als Produktionsmittel und nicht als lebende Zwecke bestimmt sind, steigt
wie der Anteil der Maschinerie gegenüber dem variablen Kapital.« 650 Das heißt, die
Individuen wissen und erfahren sich tendenziell immer weniger als die eigentli-
chen Zwecke, denen die gesellschaftlichen Veranstaltungen einmal dienen sollten,
sondern ordnen sich dem, was ihnen als die ihr Leben bestimmende Heteronomie
entgegentritt, bereits auf der Ebene ihrer psychischen Konstitution unter, ohne
dass es dazu noch äußerer Anpassungsmaßnahmen bedürfte. »Die Substitution
der Zwecke durch die Mittel ersetzt die Eigenschaften in den Menschen selbst«651,
heißt es an anderer Stelle. Anknüpfend an Lukacs’ Kritik der Verinnerlichung der
kapitalistischen Verdinglichung, die zur versachlichenden Verfügung des Subjekts
über seine eigenen verkäuflichen Eigenschaften führt, beschreibt Adorno die Po-
tenzierung dieses Sachverhalts zum negativ-anthropologischen Merkmal. »Längst
handelt es sich nicht mehr um bloßen Verkauf des Lebendigen. Unterm Apriori der
Verkäuflichkeit hat das Lebendige als Lebendiges sich selber zum Ding gemacht,
zur Equipierung. Das Ich nimmt den ganzen Menschen als seine Apparatur bewußt
in den Dienst. Bei dieser Umorganisation gibt das Ich als Betriebsleiter so viel von
sich an das Ich als Betriebsmittel ab, daß es ganz abstrakt, bloßer Bezugspunkt
wird: Selbsterhaltung verliert ihr Selbst.«652
Der Topos der sich verunmöglichenden Selbsterhaltung, der Zweckrationalität,
die als verabsolutierte gerade nicht mehr fähig ist, auf die Zwecke an sich selbst zu
reflektieren und sich damit – zumindest was das Subjekt betrifft, um dessen Zwe-
cke es geht – in ihr Gegenteil verkehrt, wird in den Minima Moralia, wie Schmidt

650 Adorno, GS 4, S. 259 f.


651 Adorno, GS 10, S. 772.
652 Adorno, GS 4, S. 261. – Siehe dazu Schweppenhäuser, Das Individuum im Zeitalter
seiner Liquidation, a. a. O., S. 53 ff.
7 Die Vormacht des Allgemeinen 175

formuliert, als Weiterführung der bei Marx angelegten »Erfahrung« ausgedrückt,


»daß die materielle Produktion, die im Dienste des unmittelbaren Lebens der Men-
schen zu stehen hätte, sich aus einem Mittel in einen absoluten Zweck verkehrt.«653
Die Konsequenzen aus dieser Zweck-Mittel-Verkehrung finden sich bei Adorno im
Hinblick auf die Dimension der moralphilosophischen Problematik untersucht, die
in ihnen steckt. Diese Dimension lässt sich in einer Frage herauspräparieren, die
Adorno zwar nicht stellt, die aber der systematischen Konstruktion zugrunde liegt,
der seine moralphilosophischen Überlegungen folgen: Wie kann ein Individuum,
das im beschriebenen Sinne durch ökonomisch determinierte Momente der Verge-
sellschaftung heteronom bestimmt ist, Adressat von theoretischen Reflexionen sein,
die sich sowohl auf das »beschädigte Leben« selbst beziehen, als auch auf dessen
Subjekte, und zwar in kritischer Absicht? Oder anders: Wie kann Adorno die He-
teronomie in der Metaphorik der »organischen Zusammensetzung des Menschen«
als gewissermaßen anthropologisch verankert beschreiben, und zugleich seine
Kritik der solchermaßen charakterisierten gesellschaftlichen Verhältnisse und ihrer
Substrate, der Individuen, im Horizont des Gedankens der Autonomie entfalten?
Die Antwort scheint nahezuliegen, dass Adorno damit schlicht in einen Selbstwi-
derspruch geraten ist. Demnach würde entweder seine Diagnose des gegenwärtigen
Zustands der Individuation und der gesellschaftlichen Totalität stimmen; dann wäre
seine moralisch-kritische Intention ohnmächtig und im Grunde überflüssig. Sie
könnte durch die (relativistische oder zynische) Deskription des gesellschaftlichen
Mechanismus ersetzt werden. Oder Adornos moralischer Impuls der Kritik am
beschädigten Leben, der implizit den Subjekten dieses Lebens zumutet, den Impuls
auch als solchen zu begreifen und umzusetzen, bestünde zurecht; doch dann könnte
sein Befund vom Zustand des Individuums nicht stimmen, denn dieser Befund
würde ja gerade die Fähigkeit ausschließen, jenen Impuls zu begreifen.
Dass dieser Selbstwiderspruch jedoch nur ein scheinbarer ist, wird deutlich, wenn
man sich die Intention der Minima Moralia vergegenwärtigt. Sie wollen den Zerfall
des Individuums notieren, um dem Individuum die Kraft vor Augen zu führen,
die sich aus der Einsicht in diesen Zerfall ergeben kann. Das Individuum im Sinne
einer letzten irreduziblen Gegebenheit erweist sich als Trug, wenn in ihm selbst
die Gesellschaft und ihr historisch-ökonomisch vermitteltes Bewegungsgesetz als
seine eigentliche verborgene Substanz aufgewiesen werden kann. Diese Entdeckung
aber befreit das Individuum auch, indem es ihm seine Unfreiheit zeigt – nämlich
von der Zumutung, aus eigener Kraft moralisch handeln zu müssen, während
ihm das in Wahrheit nicht unmittelbar möglich ist. Das einzusehen heißt nicht,
das Individuum geschichtsphilosophisch »jenseits von Gut und Böse« anzusiedeln

653 Schmidt, Adorno – ein Philosoph des realen Humanismus, a. a. O., S. 36.
176 7 Die Vormacht des Allgemeinen

und ihm einen Freibrief zur Willkür auszustellen. Es bedeutet vielmehr, dem
Individuum durch die schonungslose Offenlegung seiner Unfreiheit die Freiheit
in Erinnerung zu rufen, die ihm die Moralphilosophie als Eigenschaft zuspricht,
während sie doch erst herzustellen wäre. Die theoretische Freiheit zur Einsicht in
die eigene Unfreiheit und die moralische Kraft zur Einsicht in die Beschränktheit
der Kraft zum moralischen Handeln wachsen uns aber erst in dem Moment zu, in
dem der ideologische Schleier zerrissen ist, der uns Autonomie als zweifelsfreie
Gegebenheit vorgaukelt.
Die Erfahrung der Depotenzierung von Individualität ist in dieser Hinsicht
ein Doppeltes: die (historisch vermittelte) Voraussetzung der unverzerrten theo-
retischen Erkenntnis der Wahrheit über das Individuum und die Voraussetzung
für die Perspektive einer praktischen Gegenbewegung zu dieser Depotenzierung.
Anders können im Zusammenhang der Erörterung von Adornos negativer Mo-
ralphilosophie die folgenden Sätze kaum interpretiert werden, denen zufolge das
Individuum heute »an Fülle, Differenziertheit, Kraft ebensoviel gewonnen« habe,
»wie es andererseits von der Vergesellschaftung der Gesellschaft geschwächt und
ausgehöhlt wurde. Im Zeitalter seines Zerfalls trägt die Erfahrung des Individuums
von sich und dem, was ihm widerfährt, nochmals zu einer Erkenntnis bei, die von
ihm bloß verdeckt war, solange es als herrschende Kategorie ungebrochen positiv
sich betätigte.«654
Wenn philosophische Anthropologie im traditionellen Sinn der Versuch ist,
den Menschen als Gattungswesen zu bestimmen, wobei von der »gesellschaftlichen
Formbestimmtheit« (Marx) abgesehen wird, dann ist bei Adorno nicht sensu stricto,
sondern senso allegorico von anthropologischen Befunden zu reden.655 Adornos

654 Adorno, GS 4, S. 16. – Der Bezug auf »das ›klassische‹ bürgerliche Individuum – dessen
Idee zwar noch nie realisiert wurde, an dessen Zenit als einem historischen Höhepunkt
der Emanzipation es aber kritisch festzuhalten gilt« (Schlüter, Praxisverzicht und Kritik
der Praxis, a. a. O., S. 69), macht die Grundlage von Adornos Individuationstheorie
noch einmal deutlich. »Die kritische Theorie der ›Minima Moralia‹«, heißt es dazu bei
Carsten Schlüter, »wendet sich […] nicht mehr an ein vorausgesetztes Allgemeines, die
Fiktion eines revolutionären gesellschaftlichen Gesamt-Subjekts, dem etwa objektives
Klassenbewußtsein zugerechnet werden könne, sondern stellt sich wieder in eine
selbstkritische bürgerliche Tradition.« (Ebd.)
655 Breuer hat Adornos Überlegungen zu diesem Gebiet treffend als paradoxe »Anthropologie
ohne Anthropos« charakterisiert (Stefan Breuer, Adornos Anthropologie, in: ders.,
Aspekte totaler Vergesellschaftung, a. a. O., S. 50). Vgl. zum Begriff der Anthropologie:
Max Horkheimer, Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie, in: Zeitschrift für
Sozialforschung Bd. 4, S. 1 ff., Heinz Paetzold, Der Mensch, in: Martens u. Schnädelbach
(Hg.), Philosophie, a. a. O., S. 440 ff., sowie in bezug auf den Status anthropologischer
Reflexionen bei Adorno: Schmidt, Adorno – ein Philosoph des realen Humanismus,
7 Die Vormacht des Allgemeinen 177

Anstrengung besteht darin, die bestehende Verfassung des Menschen zu begreifen,


um mögliche andere, die von ihr blockiert werden, eingedenkend festzuhalten, und
als Perspektiven einer zukünftigen Praxis zu beschreiben, der ein normativ-kriti-
sches Fundament eigen zu sein hätte.656 Die Kluft zwischen den faktisch gegebenen
Möglichkeiten von Praxis und der theoretisch bestimmbaren Gestalt vernünftiger,
menschenwürdiger Praxis ist der Ort von Adornos negativer Moralphilosophie.657
Ein wesentliches Instrument dieser Blockierung erkennt Adorno in der Kultur-
industrie, deren Funktion im Hinblick auf das Individuum er als dessen Konfor-
mierung bezeichnet. Die Kritik der kulturindustriellen Produkte zielt ab auf deren
restlos vom Tauschwert bestimmten Charakter, dem das Moment von ästhetischer
Autonomie abgeht, das Kunstwerke kennzeichnet. Im Gegensatz zu authentischen
Kunstwerken, deren kritische Kraft dazu angetan ist, die Negativität des bestehen-
den Zustands erfahrbar werden zu lassen, schwört Kulturindustrie die Menschen
auf diesen Zustand ein. Anders als konservative Kulturkritik beklagt Adorno aber
nicht den vermeintlichen Verfall der Kultur als solcher; er kritisiert vielmehr die
Unterdrückung von deren humanem Potential. Während der Begriff der Kultur die
Zielbestimmung universaler Humanisierung in sich trug, die auch die Implikation
einer Aufhebung der bestehenden Gestalt von Kultur in den Blick rückt, arbeitet
Kulturindustrie laut Adorno an der Zementierung von »Abhängigkeit und Hörigkeit
der Menschen«, indem sie »Anti-Aufklärung«658 betreibt. Hier ist der systematische
Ort, an dem sich Adornos Kritik der Kulturindustrie mit seiner Theorie des Indi-
viduums trifft. Die normative Grundlage seiner Kritik ist die nicht-formale Idee
autonomer Individualität als Bedingung der Möglichkeit demokratischer Verge-

a. a. O., S. 27 ff. und Heinz Paetzold, Marxismus und philosophische Anthropologie,


in: prima philosophia, Bd. 2 (1989), Heft 1, S. 71 ff. (bes. S. 96 ff.).
656 Das hebt auch Schlüter hervor: »Sachlich ist die wachsende organische Zusammensetzung
des Menschen adäquat zur wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals
eingeführt und damit, besonders im Horizont der Marx-Interpretation Adornos,
als eine Entwicklung gedacht: Tendenz und Wirklichkeit dominierend – aber
nicht auschließlich. Die Tendenz zur universalen Verdinglichung, imgleichen der
Verblendungszusammenhang ist nicht ohne Rest.« (Schlüter, a. a. O., S. 74)
657 Der Impuls, der sein Denken bestimmt, besteht darin, wie Paetzold formuliert,
»den Zwiespalt aufzudecken zwischen dem Umstand einerseits, daß die bestehende
Gesellschaft alle Mittel zur Emanzipation der Menschen bereithält, und zwischen
dem Tatbestand andererseits, daß die Macht der bestehenden Gesellschaft dazu führt,
die emanzipatorischen Möglichkeiten stillzustellen, also zu blockieren« (Paetzold,
Marxismus und philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 96 f.). Das Zitat bezieht sich
auf die Dialektik der Aufklärung, gilt aber gleichermaßen auch für die Philosophie
Adornos.
658 Adorno, GS 10, S. 345.
178 7 Die Vormacht des Allgemeinen

sellschaftung, die nach wie vor aussteht und durch die Pseudo-Demokratisierung
der Kulturgüter, welche sich als Funktion ökonomischer Verwertungslogik erweist,
beständig hintertrieben wird. Kulturindustrie »verhindert die Bildung autonomer,
selbständiger, bewußt urteilender und sich entscheidender Individuen. Die aber
wären Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft, die nur in Mündigen sich
erhalten und entfalten kann.«659
Die blockierende Macht der bestehenden Gesellschaft konserviert die Unver-
söhntheit von Allgemeinem und Besonderem. Diese Unversöhntheit tritt auf als
Konflikt sowohl zwischen dem Interesse des Individuums und den Ansprüchen, die
von seiten der Totalität her an es ergehen, als auch zwischen den Einzelinteressen als
solchen. Damit bleibt die Realgrundlage von Moralphilosophie bestehen, denn, mit
Adornos Worten: »Dieser Widerspruch zwischen Allgemeinem und Besonderem ist
es, der […] die gründende Antinomie des Moralischen bestimmt.«660 Wer aus dieser
Antinomie herausspringt und das Eigeninteresse zur Basis der Moral machen will,
entgeht ihr nicht: Das betont Adorno an der zitierten Stelle und verweist auf Nietz-
sche.661 – Wie Adorno dies an der inneren Brüchigkeit von Nietzsches Moralkritik
nachzuweisen sucht, wird im folgenden Kapitel herausgearbeitet.

659 Ebd. – Vgl. dazu Adorno, GS 3, S. 141 ff. Siehe auch Detlev Claussen: Fortzusetzen.
Die Aktualität der Kulturindustriekritik Adornos, in: F. Hager u. H. Pfütze (Hg.), Das
unerhört Moderne, a. a. O., S. 134 ff.
660 Adorno, PM 1, 4. 12. 1956.
661 Vgl. ebd.
Ein Wort für die Moral:
Nietzsches Moralkritik bei Adorno
8 Ein Wort für die Moral
8

8.1 Die Nietzsche-Interpretation der Dialektik


der Aufklärung
8.1 Die Nietzsche-Interpretation der Dialektik der Aufklärung
Eine Untersuchung von Adornos Interpretation der Kritik Nietzsches an der Mo-
ralphilosophie ist auf den zweiten Exkurs der Dialektik der Aufklärung als auf ihren
Ausgangspunkt verwiesen, auch wenn man davon auszugehen hat, dass der Autor
dieses Exkurses Horkheimer ist.662 Nicht nur Adornos wiederholte Bekundungen,
dass beide Autoren für jeden Teil des Buches gemeinsam einstanden,663 sondern
auch die deutliche Verwandtschaft mit Adornos späteren Nietzsche-Interpreta-
tionen macht eine Vergegenwärtigung der wesentlichen Gesichtspunkte dieses
Nietzsche-Bildes erforderlich.
Dem Juliette-Kapitel liegt die These zugrunde, dass eine formalistisch verkürzte
Vernunft, die sich in aufklärerischer Systemphilosophie manifestiert, nicht imstande
ist, ihre eigenen Morallehren in einem emphatischen Sinn zu begründen.664 Die
Emanzipation der Rationalität von allen heteronomen Vorgaben gipfelt in einem
instrumentellen Kalkül, das objektiv zu den harmonisierenden Morallehren der
bürgerlichen Gesellschaft in Widerspruch tritt, weil seine innere Logik nur dem
Prinzip naturbeherrschender Selbsterhaltung verpflichtet ist. Die wirkmächtige

662 Leo Löwenthal berichtet, dass »der Aufsatz über Sade in der Dialektik der Aufklärung
im wesentlichen Horkheimers Werk« ist (Leo Löwenthal, Erinnerungen an Theodor W.
Adorno, in: Adorno-Konferenz 1983, a. a. O., S. 395). Siehe dazu auch den auf Adornos
Mitteilungen zurückgehenden Bericht von Rolf Tiedemann, von dem im Anhang der
Edition der Dialektik der Aufklärung in der Horkheimer-Ausgabe die Rede ist (vgl.
Gunzelin Schmid Noerr, Nachwort des Herausgebers, in: Max Horkheimer, Gesammelte
Schriften Bd. 5, Frankfurt/M. 1987, S. 430).
663 Vgl. etwa Adorno, GS 3, S. 9.
664 Siehe oben, Kapitel 4.

G. Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz, DOI 10.1007/978-3-658-11771-9_8,


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180 8 Ein Wort für die Moral

Durchsetzung wertneutraler instrumenteller Vernunft lässt das Postulat der Mo-


ralität zu ohnmächtiger Ideologie herabsinken. In dieser Konstellation werden
Denker wie de Sade und Nietzsche, die die Prinzipien und obersten Werte der
Moralphilosophie als ängstlich am Leben erhaltenen schlechten Schein entlarven
und die Selbst-Desillusionierung des Bürgertums vorantreiben, zu negativen
Statthaltern einer besseren Wahrheit. Sie bekämpfen die wunschgeleiteten Lügen
moralphilosophischer Apologeten und geben in ihrem Kultus der Grausamkeit ein
– damals noch überzeichnetes, angesichts von Faschismus und Nationalsozialis-
mus dagegen fast harmloses – Bild von der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Indem
Nietzsche mit einer Geisteshaltung, in der Verzweiflung und Triumph ineinander
übergehen, Destruktivität, Naturbeherrschung und Herrenmoral feiert, spricht
er aus, dass die bestehende Gesellschaft (nicht nur zu seiner Zeit) dadurch weit
mehr gekennzeichnet ist, als bürgerliche Aufklärung wahrhaben will. Vermöge
ihres deskriptiven Wahrheitsgehalts, der sich gegen die eigene normative Intention
kehrt, kann seine Parteinahme für Unterdrückung auch von der entgegengesetzten
Intention in Anspruch genommen werden: von der illusionslosen Parteinahme für
einen Zustand, in dem Unterdrückung abgeschafft wäre.
Die Basis dieser Konstruktion ist der doppelte Vernunftbegriff, den die Dialek-
tik der Aufklärung formuliert.665 Vernunft ist demzufolge nicht nur, in Gestalt des
instrumentellen Denkens, Organon der Naturbeherrschung. Sie bewahrt zugleich
auch die Utopie einer freien Vergesellschaftung der Menschen und einer Versöh-
nung von Mensch und Natur.666

665 Siehe oben, Kap. 4.


666 Vgl. Adorno, GS 3, S. 102 f. u. S. 110. – Im Hinblick auf den »Doppelsinn« des
Vernunftbegriffs, den die Dialektik der Aufklärung in kritischer Auseinandersetzung
mit Kant entfaltet, hat Herbert Schnädelbach eingewandt, dass es zur Fundierung
normativer Leitideen nicht ausreiche, wenn die selbstreflexive Dimension von Rationalität
gegen deren naturbeherrschende, reduzierte Gestalt ins Spiel gebracht werde: »Den
universalistischen Sinn der Leitbegriffe bürgerlicher Moral, die auch die der Kritischen
Theorie sind, kann man, nachdem die Moralkritik von Hegel, Marx und Nietzsche erst
einmal in der Welt ist, nur dann rekonstruieren, wenn man mit Kant in der Vernunft
selbst die Idee des freien und solidarischen Zusammenlebens der Menschen als nicht
wegdenkbare Elemente aufweist; das bloße Eingedenken an die Mechanismen, Folgen
und Kosten naturbeherrschender Rationalisierung reicht hier nicht zu.« (Schnädelbach,
Max Horkheimer und die Moralphilosophie des deutschen Idealismus, a. a. O., S. 71) Nach
Schnädelbach macht diese Begründungsschwierigkeit eine kommunikationstheoretische
Reformulierung der Grundlage kritischer Theorie plausibel. Demgegenüber würde ich
aber geltend machen, dass die Dialektik der Aufklärung im Begriff des Eingedenkens mehr
intendiert und leistet als eine negative Bilanzierung der Folgekosten naturbeherrschender
Rationalität. Sie zeigt, dass Vernunft mehr ist als instrumentelle Kalkulation, weil in
ihr die Begriffe von Freiheit und Solidarität aufbewahrt sind; das heißt, dass Vernunft
8.1 Die Nietzsche-Interpretation der Dialektik der Aufklärung 181

Auch wenn es etliche Stellen im Text gibt, die dies suggerieren, sofern man sie
isoliert betrachtet: Die Reduktion von Vernunft auf ein zweckneutrales Instrument
wird in der Dialektik der Aufklärung nicht teleologisch konstruiert. Es wird nicht
behauptet, dass es sich um eine mit innerer Notwendigkeit eintretende Entwicklung
handele, die das wahre Wesen der Vernunft enthüllen würde. Diese Entwicklung
wird vielmehr entziffert als Resultat gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse. Die
»Macht, an der Vernunft zuschanden wurde«667, wird beim Namen genannt: »Mit
der Entfaltung des Kapitalismus, in dem die Herrschaft privater Gruppen über den
Wirtschaftsapparat die Menschen spaltet, erwies die von Vernunft identisch fest-
gehaltene Selbsterhaltung, der vergegenständlichte Trieb des individuellen Bürgers
sich als destruktive Naturgewalt, die von der Selbstzerstörung gar nicht mehr zu
trennen war.«668 Die »geheime Utopie im Begriff der Vernunft«669 wandert dieser
Konstruktion zufolge in der Epoche nach der Französischen Revolution – einer
Epoche, in der sich zeigte, dass das Bürgertum sein universalistisches Emanzipa-
tionsversprechen bricht – in die Bereiche der Kunst und der Philosophie ein, um
dann bei Marx als rational formulierte Freiheitsutopie wieder hervorzutreten.
Zwar firmiert sie dort gerade nicht unter dem Titel der Utopie, aber im weiteren
historischen Verlauf wird sie dem undogmatischen Blick rasch als solche kenntlich.
Diese Utopie muss einer positivistisch verkürzten Aufklärung irrational erscheinen,
denn sie reflektiert auf Zwecke, die jenseits von deren Horizont liegen. Dass die
»Idee eines Vereins freier Menschen« zu einer »als Mythos denunzierten Utopie« 670

immer auch eine utopische Dimension hat, die es neu zu erschließen gilt – und zwar
vermittelt durch die Moralkritik von Hegel, Marx und Nietzsche. Dieser nachdrückliche
Vernunftbegriff wird in der Dialektik der Aufklärung zugleich mit und gegen Kant
entfaltet, weil instrumentell-repressive und selbstreflexiv-utopische Züge als dialektische
Momente im Begriff der Vernunft selbst angesehen werden, die nicht voneinander
abgelöst werden dürfen. Das wird im Kontext von Adornos Nietzsche- und Kant-
Interpretationen noch deutlicher als bei Horkheimer.
667 Adorno, GS 3, S. 109.
668 Ebd., S. 110 (mit der Variante »Kapitalismus« statt »Wirtschaftssystem«); vgl. Max
Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische
Fragmente, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Bd. 5, a. a. O., S. 113, Fußnote. –
An etlichen anderen Stellen ist auch in der späteren Fassung noch vom »Kapitalismus«
die Rede; vgl. etwa Adorno, GS 3, S. 134.) Derartige Formulierungen sind gut geeignet,
Missverständnisse zu vermeiden, wie sie die metaphorische Rede von der »Krankheit
der Vernunft« (Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, a. a. O., S. 164)
provozieren können.
669 Adorno, GS 3, S. 110.
670 Ebd.
182 8 Ein Wort für die Moral

geworden ist, gilt heute vielleicht sogar noch mehr als zur Zeit der Abfassung der
Dialektik der Aufklärung.671
Als argumentative Pointe der Kritik bürgerlicher Moralphilosophie, wie sie der
zweite Exkurs der Dialektik der Aufklärung formuliert, kann man also Folgendes
herauspräparieren: Ein Zustand, in dem gesellschaftliche Antagonismen aufhebbar
wären, das heißt Moralität verwirklicht und der Antagonismus zwischen Menschen
und Natur durch solidarische Praxis befriedet werden könnte, ist die emphatische
Zielvorstellung einer Vernunft, die es mit ihrem Praktischwerden ernst meint. For-
malisierte instrumentelle Rationalität, die auf das Prinzip der Selbsterhaltung, die
Basis der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Produktionsverhältnisse, reduziert
ist, schneidet diese inhaltliche Zielvorstellung aber zugleich ab. Daher kann aus ihr
keine Moralbegründung abgeleitet werden, denn die setzt immer auch inhaltliche
Reflexion voraus.
Die Dialektik der Aufklärung bestimmt hier präzise den Punkt, an dem Vernunft
in einen Widerspruch mit sich selbst gerät. Problematisch ist dabei allerdings, dass
das Prinzip der Widerspruchsfreiheit, das sich hier als unabdingbar für eine imma-
nente Vernunftkritik erweist, selber undialektisch nur als Ausdruck der Reduktion
von Vernunft auf »systematische Einheit« 672 kritisiert wird. Die Emphase, mit der
Kant den »Widerstreit der Vernunft mit sich selbst« zu überwinden trachtet, ist an
dieser Stelle seine Stärke und müsste einer dialektischen Kritik als solche zuwach-
sen.673 Gleichwohl bleibt die These fruchtbar, dass jede Begründung von Moral zur
Ohnmacht und Unstimmigkeit verurteilt ist, die ihr Moralprinzip auf derselben
Grundlage errichtet, welche seine Verwirklichung hintertreiben muss, und nicht
kritisch darauf reflektiert, dass sie das tut, sowie darüber hinaus auch darauf, dass
sie zunächst gar nicht anders kann, als diese Basis in Anspruch zu nehmen; wobei
so eine Reflexion bereits der erste Schritt wäre, über den Widerspruch hinaus zu
gelangen. Wenn Nietzsches »intransigente Kritik der praktischen Vernunft« 674 der
Dialektik der Aufklärung zufolge also die »Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein

671 Im Hinblick auf diesen Aspekt der Dialektik der Aufklärung zeigt sich, dass sie nicht
als Antikritik der marxschen Theorie zu interpretieren ist, wie dies zum Beispiel
Albrecht Wellmer versucht hat (vgl. Albrecht Wellmer, Kritische Gesellschaftstheorie
und Positivismus, Frankfurt/M. 1969, S. 128 ff.). Bei allen Differenzen zu Marx muss
die Dialektik der Aufklärung doch als eine Theorie verstanden werden, die die Kritik
der politischen Ökonomie durch Vernunftkritik zu ergänzen versucht.
672 Adorno, GS 3, S. 101; vgl. ebd., S. 100 f.
673 Auf die spätere Modifikation der Kant-Kritik bei Horkheimer und Adorno wurde ja
bereits in Kapitel 4 hingewiesen. Die Kritik bezieht sich allerdings nicht auf das Prinzip
der Widerspruchsfreiheit.
674 Adorno, GS 3, S. 113.
8.1 Die Nietzsche-Interpretation der Dialektik der Aufklärung 183

grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen, nicht vertuscht«675, dann


trifft sie, der hier herausgearbeiteten Lesart folgend, nicht die Vernunft schlechthin,
sondern die, die nicht mehr kritisch auf sich selbst reflektiert.
Diese Position setzt sich dem Vorwurf aus, dass sie nicht auf gesellschaftliche
oder politische Perspektive hinweisen kann, die das Bestehende praktisch zu
transzendieren vermöchten; aber sie betreibt keinen Vernunftdefaitismus.676 Die

675 Adorno, GS 3, S. 140. – Hier klingt der atheistische Nihilismus aus Dostojewskis Die
Brüder Karamasow an; aber die Inspirationsquelle von Horkheimers These, dass aus der
Vernunft kein »grundsätzliches Argument gegen den Mord« vorgebracht werden könne,
ist eine Stelle aus Tolstojs Anna Karenina. Im achten Teil lässt Tolstoj Lewin eine von
Schopenhauer beeinflusste Einsicht gewinnen. Sie soll den Gegensatz von geoffenbarter
Religion und vernünftigem Wissen markieren und bezeichnet zugleich die religiöse
Wende innerhalb des Romans: »Die Vernunft hat den Existenzkampf entdeckt und
jenes Gesetz, das mir nahelegt, alle umzubringen, die mich bei der Befriedigung meiner
Wünsche stören. Das ist eine Schlussfolgerung der Vernunft. Aber seinen Nächsten
zu lieben kann die Vernunft nicht fordern, weil es unvernünftig ist.« (Leo N. Tolstoj,
Anna Karenina, München 1981, S. 951) Hier ist bereits der Horkheimer’sche Gedanke
von der bürgerlichen Kälte instrumenteller Vernunft artikuliert. Die Reflexion auf das
gegenläufige dialektische Moment des emphatischen Vernunftbegriffs fehlt allerdings,
denn dieser muss bei Tolstoj zugunsten der Offenbarung demissionieren.
676 Habermas beurteilt das anders: »Die Dialektik der Aufklärung wird dem vernünftigen
Gehalt der kulturellen Moderne, der in den bürgerlichen Idealen festgehalten
(und mit ihnen auch instrumentalisiert) worden ist, nicht gerecht«, weil sie (u. a.)
»die universalistischen Grundlagen von Recht und Moral« unterschätzt, »die in
Institutionen der Verfassungsstaaten, in Formen demokratischer Willensbildung, in
individualistischen Mustern der Identitätsbildung auch eine (wie immer verzerrte und
unvollkommene) Verkörperung gefunden haben«. (Jürgen Habermas, Der philosophische
Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S. 137 f.) Dem muss aber
entgegenhalten werden, dass diese Errungenschaften in der Dialektik der Aufklärung
gerade nicht abstrakt negiert werden, sondern vielmehr durch Selbstreflexion gegen
ihre Selbstzerstörung verteidigt werden sollen. Das heißt aber eben nicht, sie zu
»unterschätzen«, doch es setzt voraus, dass aufgezeigt wird, warum die bürgerliche
Gesellschaft mit der Durchsetzung ihrer Errungenschaften, das heißt vor allem Vernunft,
Menschenrechten und Demokratie, deren umfassende Verwirklichung zugleich auch
verhindert. Dementsprechend vertrete ich die These, dass nicht, wie Habermas fälschlich
behauptet, »sarkastische Zustimmung zum ethischen Skeptizismus« (ebd., S. 136) der
Kern der Nietzsche-Interpretation in der Dialektik der Aufklärung ist, sondern der
Versuch, Nietzsches Kritik für eine Selbstkorrektur der Moralphilosophie fruchtbar zu
machen. Und Habermas’ These, dass Horkheimer und Adorno sich der Grundlage ihrer
eigenen Kritik berauben, wenn sie dem Urteil de Sades und Nietzsches partiell zustimmen,
weil dann »die Ideologiekritik nichts zurück [behält], woran sie appellieren könnte«
(ebd., S. 143), ist zu entgegnen, dass das normative Fundament von Ideologiekritik im
Sinne der kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno – das nicht mehr in einem
(objektivistischen) Vertrauen auf ein revolutionäres Subjekt bestehen kann, welches
184 8 Ein Wort für die Moral

»qualitativ neue Idee von Aufklärung« der Dialektik der Aufklärung ist an einge-
denkende, selbstreflexive Vernunft gebunden.677
Die im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung wichtigsten Begriffe der
Nietzsche-Interpretation in der Dialektik der Aufklärung sind die der Herrenmoral,
des Mitleids und des Übermenschen.
Ein wesentliches Motiv von Nietzsches Moralkritik ist, dass sie den Zusammen-
hang von Moral und Herrschaft ans Licht bringt. In Jenseits von Gut und Böse wird
Moral zugleich historisch und psychologisch als die zentrale Instanz bestimmt, die
den Prozess von Zivilisation und Ich-Bildung ermöglicht: »Moral« wird »als Lehre
von den Herrschafts-Verhältnissen verstanden, unter denen das Phänomen ›Leben‹
entsteht.«678 Nietzsches antiidealistische Ableitung jeglicher Gestalt von Moral aus
ihrer gesellschaftlichen Funktion legt ihren essentiellen Zusammenhang mit äußerer
und innerer Naturbeherrschung bloß, aufgrund dessen Moral nie frei ist von einem
irrationalen Restbestand, den ihre rationalistischen und idealistischen Begrün-
dungsversuche notgedrungen verleugnen. »Jede Moral ist […] ein Stück Tyrannei
gegen die ›Natur‹, auch gegen die ›Vernunft‹: das ist aber noch kein Einwand gegen
sie […]. Das Wesentliche und Unschätzbare an jeder Moral ist, daß sie ein langer

naturgesetzlich aus der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen


entspringt – nicht in totalisierender Vernunftkritik besteht, sondern im Nachweis des
Selbstwiderspruchs der Rationalität, der von einzelnen Subjekten reflektiert werden
kann und damit prinzipiell nicht unüberwindbar bleiben muss. – Alfred Schmidt hat
gezeigt, dass die Autoren der Dialektik der Aufklärung den »Ausbruch des Menschen
aus seinem selbstgeschmiedeten Käfig« (Schmidt, Aufklärung und Mythos im Werk
Max Horkheimers, a. a. O., S. 217) für möglich halten: nämlich auf dem Wege einer
Reflexion, die den Fetischismus der an die bestehenden ökonomischen Verhältnisse
gebundenen selbsterhaltenden Vernunft durchschaut. Diese Reflexion ist zwar nicht
unmittelbar gesellschaftlich wirkmächtig, aber sie schließt keineswegs deterministisch
aus, dass solche Wirkung möglich wäre. »Weltverändernde Praxis sieht Horkheimer
in der Dialektik [der Aufklärung] abhängig weniger von materiellen Bedingungen als
von theoretischer Reflexion, die geeignet ist, Aufklärung zu emanzipieren vom falschen
Absolutum blinder Herrschaft.« (Ebd., S. 219)
677 Die Rede vom »verfallstheoretischen Blick der Dialektik der Aufklärung« (Helmut Dubiel,
Herrschaft oder Emanzipation? Der Streit um die Erbschaft der kritischen Theorie,
in: Zwischenbetrachtungen – Im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60.
Geburtstag, hg. v. A. Honneth, T. McCarthy, C. Offe u. a. Wellmer, Frankfurt/M. 1989,
S. 509) unterschlägt also, dass die Dialektik der Aufklärung den Verfallsprozess ja nicht
ausschließlich finalistisch konstruiert. Sie benennt »entgegenwirkende Ursachen«, die
ihn aufzuhalten imstande wären. Und sie begreift die eigene theoretische Diagnose als
eine solche entgegenwirkende Ursache, die sie in dem diagnostizierten Prozess geltend
macht.
678 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, in: Ders., Werke Bd. 2, a. a. O., S. 583.
8.1 Die Nietzsche-Interpretation der Dialektik der Aufklärung 185

Zwang ist«679. Moral ist Nietzsche zufolge die unverzichtbare Legitimationsgrundlage


gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse im Großen wie im Kleinen, auf deren Basis
Repression und Menschheitsfortschritt sich unzertrennlich voneinander entwickeln.
Mit einer Herangehensweise, die zugleich spekulativ und ideologiekritisch ansetzt,
versucht Nietzsche in der Genealogie der Moral, die historisierende Frage nach
»Ursprung« und »Herkunft« der christlich geprägten abendländischen Moral zu
beantworten,680 indem er die Grenzscheide zwischen den beiden welthistorischen
Idealtypen gesellschaftlicher Machtausübung als Übergang vom Hellenismus zum
jüdisch-christlichen Weltbild begreift: der Herrschaft einer Herrenrasse grund-
besitzenden und kriegführenden Adels einerseits, die »ritterlich-aristokratische
Werturteile«681 als normative Legitimationsgrundlage hervorbringt, und die Herr-
schaft ressentimentgeladener Priesterkasten andererseits, die den Geist als Waffe
der Schwachen gegen die Starken in die Welt bringen und die moralischen Werte
in Richtung auf die ›asketischen Ideale‹ 682 umkehren. Indem der »Sklavenaufstand
in der Moral«683 die »Umwertung« der »Herrenmoral« einleitet, also Stärke und
Macht als das Böse, Ohnmacht und Leiden dagegen als das Gute definiert, initiiert
er Nietzsche zufolge den Prozess der Dekadenz, dessen historisches Resultat, den
›europäischen Nihilismus‹, erst eine erneute »Umwertung aller Werte«684 wenden
könnte, als deren Protagonisten Nietzsche sich selbst versteht.
In der Dialektik der Aufklärung wird Nietzsches Konstruktion unter dem Dop-
pelaspekt einer retrospektiven Verklärung von Herrschaft und Gewalt und einer
Kritik der Gegenwart betrachtet. Dabei werden ihre apologetischen Züge ans Licht
gebracht. In Nietzsches »Vorurteil fürs Große« drücke sich »das geheime Credo aller
Herrschenden«685 aus. Zugleich akzentuieren Horkheimer und Adorno aber auch
die Gebrochenheit des »Kultus der Stärke«686 bei Nietzsche. Seine Polemik gegen die
Deformiertheit der Schwachen ist der Dialektik der Aufklärung zufolge stets auch
als verschlüsselte, ja ihrer selbst nicht bewusste Kritik an den Unterdrückungsver-
hältnissen zu verstehen, die die Beherrschten zu dem machen, was sie sind. Daher
begreift die Dialektik der Aufklärung das Verhältnis des Nationalsozialismus zu

679 Ebd., S. 645.


680 Vgl. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, in: Ders., Werke Bd. 2, a. a. O.,
S. 761 ff.
681 Ebd. S. 779.
682 Vgl. ebd., S. 839 ff.
683 Ebd., S. 780.
684 Ebd., S. 897.
685 Adorno, GS 3, S. 120.
686 Ebd., S. 110.
186 8 Ein Wort für die Moral

Nietzsche als paradoxe Realisierung bestimmter Nietzsche’scher Topoi, die zeigt,


wie unwahr Nietzsches oberflächliche Identifikation mit der Macht ist. Die para-
doxe Realisierung hilft der Kritik, die Wahrheit derjenigen nonkonformistischen,
aufklärerischen Momente zu entziffern, die in der Tiefenstruktur seines Werks
enthalten sind. »Als Einspruch gegen die Zivilisation vertrat die Herrenmoral ver-
kehrt die Unterdrückten: der Haß gegen die verkümmerten Instinkte denunziert
objektiv die wahre Natur der Zuchtmeister, die an ihren Opfern nur zum Vorschein
kommt. Als Großmacht aber und Staatsreligion verschreibt sich die Herrenmoral
vollends den zivilisatorischen powers that be, der kompakten Majorität, dem
Ressentiment und allem, wogegen sie einmal stand. Nietzsche wird durch seine
Verwirklichung widerlegt und zugleich die Wahrheit an ihm freigesetzt, die trotz
allem Jasagen zum Leben dem Geist der Wirklichkeit feind war.«687 Hier wird Nietz-
sches idiosynkratischer Widerwille gegen die bürgerliche Gesellschaft als Index
der Kritik daran verstanden, dass diese Gesellschaft hinter ihren Versprechungen
zurückbleibt – eine Kritik, die sich in der höhnischen Parteinahme für krasse,
vorbürgerliche Herrschaftsverhältnisse ausdrückt und damit die Sehnsucht nach
einem richtigen Zustand in den verzweifelten und zugleich triumphierenden Kult
der Idee des falschen verkehrt.
Auch Nietzsches Kritik des Mitleids wird in der Dialektik der Aufklärung aus
der Perspektive dessen interpretiert, was der Faschismus daraus gemacht hat.
Mitleid ist für Nietzsche eine zur Tugend umgefälschte, lebensverneinende Sünde.
»Das Mitleiden […] erhält, was zum Untergange reif ist, es wehrt sich zugunsten
der Enterbten und Verurteilten des Lebens, es gibt durch die Fülle des Mißratenen
aller Art, das es im Leben festhält, dem Leben selbst einen düsteren und fragwür-
digen Aspekt. Man hat gewagt, das Mitleiden eine Tugend zu nennen (– in jeder
vornehmen Moral gilt es als Schwäche –), man ist weitergegangen, man hat aus
ihm die Tugend, den Boden und Ursprung aller Tugenden gemacht – nur freilich
[…] vom Gesichtspunkt einer Philosophie aus, welche nihilistisch war, welche die
Verneinung des Lebens auf ihr Schild schrieb.«688 Das Wahrheitsmoment in Nietz-
sches Urteil über das Mitleid, das bei Schopenhauer zur einzigen und zureichenden
Grundlage aller Moral erklärt wird, erkennen Horkheimer und Adorno darin, dass
Mitleid als Prinzip potentiell immer die unmoralischen und falschen Verhältnisse
verewigen hilft, gegen deren Symptome es sich in der besonderen Handlung wendet.

687 Adorno, GS 3, S. 121. – Zur psychoanalytischen Untermauerung des Aspekts der


›Denunziation der wahren Natur der Zuchtmeister‹ siehe z. B. die Analysen zu den
Charakterstrukturen Himmlers und Hitlers in Erich Fromm, Anatomie der menschlichen
Destruktivität, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 337 ff. u. S. 415 ff.
688 Nietzsche, Der Antichrist, in: Ders., Werke Bd. 2, a. a. O., S. 1168.
8.1 Die Nietzsche-Interpretation der Dialektik der Aufklärung 187

Das helfende Eintreten für das Individuelle mache das Mitleid zur praktizierten
Humanität; gleichzeitig aber resigniere es vor dem Allgemeinen und verbleibe in
schlechter Partikularität. Das resümiert Adorno in seiner späteren Frankfurter
Vorlesung folgendermaßen: »So ist […] die Parole gegen das Mitleid eine bloß ab-
strakte Negation der Schopenhauerschen Mitleidsethik, und die Probe darauf hat
das Dritte Reich, haben überhaupt die totalen Staaten gemacht in einer Weise, vor
der es Nietzsche mehr geschauert hätte als jedem anderen. Auf der anderen Seite
muß man auch hier sagen, daß die Kritik Nietzsches an der Moral des Mitleids auch
ihr Richtiges hat, weil in dem Begriff des Mitleids ja stillschweigend der negative
Zustand der Ohnmacht, in dem der Bemitleidete sich befindet, aufrechterhalten,
sanktioniert wird. Es wird nicht daran gerührt, daß der Zustand geändert werden
müßte, in dem es Mitleid Erregendes gibt, sondern dieser Zustand wird – indem
er wie bei Schopenhauer […] in die Moral als deren Hauptgrund hineingenommen
wird – hypostasiert und als ewiger […] hingenommen«.689
Nietzsches Argument wird in der Dialektik der Aufklärung noch einmal gewen-
det: Hatte Nietzsche kritisiert, dass das Mitleiden das zum Untergang verurteilte
Einzelne »erhält«, so zeigen Horkheimer und Adorno, dass es vielmehr »das Gesetz
der universalen Entfremdung«690 konserviert, nämlich ein gesellschaftliches Bewe-
gungsgesetz, das in einem ganz anderen Sinne lebensverneinend ist, als Nietzsche
meint. Mitleid ist also bestimmt zu negieren, das heißt, die Kritik hat sich seinen
Wahrheitsgehalt zu eigen zu machen. Der besteht darin, dass es zum einen ein Impuls
moralischen Verhaltens ist und zum anderen auch in seiner Beschränkung immer
noch besser ist als gar nichts. Von da aus ist zu zeigen, dass Mitleid als Fundament
insofern aporetisch ist, als es Umstände des Zusammenlebens hypostasiert, unter
denen es allerdings ohne Mitleid kaum auszuhalten wäre.691 Stattdessen wird das
Mitleid bei Nietzsche abstrakt negiert. Darin drückt sich, um wieder auf die Dar-
stellung der Argumentation in der Dialektik der Aufklärung zurückzukommen,
die objektive Intention bürgerlicher Philosophie aus, die Elemente des Denkens
auszutilgen, die sich der Formalisierung der Vernunft entziehen; zu ihnen zählt das
Mitleiden »gleichsam als das sinnliche Bewusstsein der Identität von Allgemeinem
und Besonderen«692. Zwar steckt auch in der Bloßstellung des Mitleids das nega-

689 Adorno, PM 2, 25. 7. 1963 (Nachgelassene Schriften Bd. 10, S. 257 f.). Vgl. auch Adorno,
GS 3, S. 123.
690 Adorno, GS 3, S. 123.
691 Ähnliche Überlegungen dürften für die Marx‘sche Beurteilung des Mitleidsmotivs
bei Schopenhauer bestimmend gewesen sein. Vgl. dazu die Darstellung von Franziska
Kugelmann, zitiert bei Schmidt, Drei Studien über Materialismus, a. a. O., S. 7.
692 Adorno, GS 3, S. 123.
188 8 Ein Wort für die Moral

tive Bekenntnis »zur Revolution« 693, die gesellschaftliche Verhältnisse zu schaffen


hätte, in denen man des Mitleids nicht mehr bedürfte. Aber seine Denunziation
als Schwäche weist den Weg zum »Lob der Macht«: »Die faschistischen Herren der
Welt haben die Perhorreszierung des Mitleids in die der politischen Nachsicht und
den Appell ans Standrecht übersetzt«694.
Der Fluchtpunkt von Nietzsches Moralkritik ist die Antizipation des Ȇber-
menschen«, der die Tugenden der christlichen Moral überwunden hätte. Er wird
als Verkörperung eines kommenden Menschentypus nach der erneuten »Umwer-
tung aller Werte« vorgestellt, dessen ethisches Prinzip der lebensbejahende »Wille
zur Macht« wäre, der sich nicht mehr vor sich selbst verstecken müsste, sondern
ungebrochen hervortreten könnte.695 Die Dialektik der Aufklärung versucht nun,
eine Gemeinsamkeit aufzudecken zwischen dem Willen des »Übermenschen«
und dem moralischen Willen, der sich in der praktischen Philosophie Kants sein
eigenes Gesetz, das Sittengesetz, gibt. Beide Morallehren, so ließe sich diese Argu-
mentation interpretieren, gehen vom Verlust des göttlichen Prinzips aus. Bei Kant
»schwimmt« Gott, mit den Worten Heines, »unbewiesen in seinem Blute«696, bei
Nietzsche ist er »unter unseren Messern verblutet«697. Angesichts dessen machen
sich Nietzsche und Kant an die »Rettung Gottes«698. Was dabei herauskommt, ist
aber eben nicht Gottes Rettung, sondern die Inthronisierung der Menschen »als
Herren«699. Die Gemeinsamkeit soll also darin bestehen, das sowohl Kant als auch
Nietzsche nach dem neuzeitlichen Verlust des göttlichen Gesetzes als unhinter-
gehbarer Legitimationsbasis normativer Ethiken dessen apodiktische Geltung in
ein transformiertes Moralprinzip hinüberretten wollen. Die kantische vernünftige
Autonomie des Willens und der Machtwille Nietzsches konvergieren für Hork-
heimer und Adorno im Drang nach »Unabhängigkeit von äußeren Mächten«,

693 Ebd.
694 Ebd.
695 Siehe zum Begriff des »Übermenschen«: Nietzsche, Also sprach Zarathustra, a. a. O.,
S. 279 f.; vgl. zum Begriff »Wille zur Macht«: Ders., Jenseits von Gut und Böse, a. a. O.,
S. 601 und Ders., Nachlaß, in: Ders., Werke Bd. 3, a. a. O., S. 738, wo der »Wille zur
Macht« als verborgenes Prinzip aller bisherigen Moral bezeichnet wird.
696 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in:
Ders., Sämtliche Werke in 12 Bänden, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1981, Bd. 5, S. 604.
697 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, in: Ders., Werke Bd. 2, a. a. O., S. 127.
698 Adorno, GS 3, S. 135.
699 Adorno, GS 3, S. 19.
8.1 Die Nietzsche-Interpretation der Dialektik der Aufklärung 189

nach »unbedingter Mündigkeit«, dem »Wesen der Aufklärung«700 – und in ihrem


despotischen Charakter.701
So erhellend der Gedanke ist, dass Nietzsches antimythologisch intendierte
Destruktion der Gottesidee in eine neue Mythologie des »höheren Selbst«702 um-
schlägt, so problematisch ist die Engführung von Kant und Nietzsche. Um die
Kontinuität herauszuarbeiten, die formalistische Aufklärung, deren Autonomie-
anspruch kein transzendentes Prinzip dulden kann, in instrumentelle Vernunft
umschlagen lässt, die schließlich jedem heteronomen Zweck dienen kann, wird
im hier zur Diskussion stehenden Abschnitt des Textes das gegenläufige Moment
unterbewertet, das Kants Moralphilosophie von Nietzsches Ethik der »Umwer-
tung« radikal unterscheidet: das emanzipatorische Potential der Lehre von der
Autonomie als Gehalt des Sittengesetzes.703 Nietzsches Vision eines zukünftigen
»freien« Zustands der Welt ist weit entfernt vom Begriff einer »Menschheit, in der
die Individuen einander »jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel«
behandeln könnten. Wie weit, wird deutlich an einem für Nietzsche ohne Zweifel
sehr wichtigen Aspekt des Übergangs zu der vermeintlich höheren Daseinsform:
»Dem Menschen die Zukunft des Menschen als seinem Willen, als abhängig von
einem Menschenwillen zu leben und große Wagnisse und Gesamt-Versuche von
Zucht und Züchtung vorzubereiten, um damit jener schauerlichen Herrschaft des
Unsinns und Zufalls, die bisher ›Geschichte‹ hieß, ein Ende zu machen – der Unsinn
der ›größten Zahl‹ ist nur seine letzte Form –: dazu wird irgendwann einmal eine
neue Art von Philosophen und Befehlshabern nötig sein, an deren Bilde sich alles,
was auf Erden an verborgenen, furchtbaren und wohlwollenden Geistern dagewesen
ist, blaß und verzwergt ausnehmen möchte. Das Bild solcher Führer ist es, das vor
unsern Augen schwebt«704. Die Züchtung neuer Menschen unter dem Kommando
der Philosophen-Führer entspringt wohl kaum dem Bedürfnis nach universaler
Mündigkeit. Sie ist nicht die Konsequenz des Autonomiebegriffs, sondern seine
Verkehrung ins Gegenteil, die keineswegs zwangsläufig aus diesem Begriff selbst
heraus erfolgen musste.
Darin freilich, dass Nietzsches Moralkritik nicht einfach die ungebrochene
Apologie von Herrschaft ist, als die sie erscheinen kann, sondern eine gegenläufige

700 Adorno, GS 3, S. 135.


701 Vgl. ebd.
702 Friedrich Nietzsche, Nachlass, zitiert in: Adorno, GS 3, S. 135.
703 Wenn Braun die These der engen Verwandtschaft von Nietzsche und Kant kritisiert,
muss ich ihm ausnahmsweise einmal zustimmen (vgl. Braun, Kritische Theorie versus
Kritizismus, a. a. O., S. 165).
704 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, a. a. O., S. 661.
190 8 Ein Wort für die Moral

Substruktur aufweist, die rationale und befreiende Momente aufbewahrt, ist der
Dialektik der Aufklärung zuzustimmen. Den negativen Aufklärern de Sade und
Nietzsche wird die – auch vor sich selbst – verborgene Intention attestiert, »die Utopie
aus ihrer Hülle zu befreien, die wie im Kantischen Vernunftbegriff in jeder großen
Philosophie enthalten ist: die einer Menschheit, die, selbst nicht mehr entstellt, der
Entstellung nicht mehr bedarf. Indem die mitleidlosen Lehren die Identität von
Herrschaft und Vernunft verkünden, sind sie barmherziger als jene der moralischen
Lakaien des Bürgertums.«705 Hinzuzufügen ist allerdings, dass dabei der Blick auf
den Aspekt der Nichtidentität von Vernunft und Herrschaft nicht verstellt werden
darf, wie das im Juliette-Exkurs der Dialektik der Aufklärung zuweilen geschieht.

8.2 Adornos Nietzsche-Deutung


8.2 Adornos Nietzsche-Deutung
Analog zur Dialektik der Aufklärung charakterisiert Adorno in den 1942 geschriebe-
nen Reflexionen zur Klassentheorie das Umschlagen von Kritik inhumaner Zustände
in prinzipielle Affirmation der Inhumanität bei Nietzsche, das noch als Affirmation
der Unwahrheit mehr kritisches Potential enthalte als die vordergründig bleibende
Kritik, die im Namen der Humanität zur Apologie einer Gesellschaft wird, welche
real die Universalisierung von Humanität verhindert. Aus Nietzsches Radikalität,
das zeigt Adornos Interpretation, können zugleich sein Wahrheitsgehalt und seine
ideologischen Momente abgeleitet werden. »›Was fällt, das sollt ihr stoßen.‹ Der
Satz Nietzsches spricht als Maxime ein Prinzip aus, daß die reale Praxis der Klas-
sengesellschaft definiert. Maxime wird es bloß gegen die Ideologie der Liebe in der
Welt von Haß: Nietzsche gehört der Tradition jener bürgerlichen Denker seit der
Renaissance an, die aus Empörung über die Unwahrheit der Gesellschaft zynisch
deren Wahrheit als Ideal gegen das Ideal ausgespielt und mit der kritischen Gewalt
der Konfrontation jener anderen Wahrheit geholfen haben, die sie am grimmigsten
als die Unwahrheit verhöhnen, in die sie von der Vorgeschichte verzaubert ist.«706
Demnach leistet Nietzsche einen Beitrag zur Entzauberung der Ideen von Freiheit,
Gerechtigkeit und Humanität in dem Sinne, dass er ihre verkürzte und verfälschte
Gestalt, die aber ihre einzig gegebene ist, in ihrer ganzen Falschheit denunziert. Er
schüttet dabei zwar das Kind mit dem Bade aus. Denn er plädiert dafür, sich von
jenen Begriffen endgültig zu verabschieden und den Gedanken ihrer Verwirklichung

705 Adorno, GS 3, S. 140.


706 Adorno, GS 8, S. 386 f. – Bei Nietzsche heißt es: »was fällt, das soll man auch noch
stoßen!« (Also sprach Zarathustra, a. a. O., S. 455).
8.2 Adornos Nietzsche-Deutung 191

als ressentimentgeleitete Illusion der zu kurz Gekommenen zu durchschauen. Damit


redet er den Unterdrückern das Wort. Aber gerade dadurch, dass Nietzsche dieses
tut, trägt er auch zu der kritischen Erkenntnis bei, wie sehr die progressiven und
emanzipatorischen Ideen in der Neuzeit tatsächlich illusionären Charakter haben.
Und das lässt seine zynische Apologie der Herrenmoral noch einmal in sich gebro-
chen erscheinen.707 An gewissen Punkten seiner Betrachtung von »Spengler nach
dem Untergang« rekurriert Adorno auf Nietzsche und beschreibt, wie der Faschis-
mus »das Unwahre an einer Humanität, die sich zum Maß der Welt erklärt, ohne
verwirklicht zu sein, zur Rechtfertigung absoluter Unwahrheit und Inhumanität
erhebt.«708 Was auf den ersten Blick als Gemeinsamkeit mit Nietzsche erscheinen
könnte, ist die Differenz ums Ganze: Während Nietzsches Moralität in der Wei-
gerung besteht, die Welt, wie sie ist, als moralisch zu bezeichnen, und lieber den
Begriff des Moralischen opfert, als ihn durch die Affirmation seiner misslungenen
Verwirklichung zu verraten, tritt das Unmoralische der faschistischen Herrenmoral
nicht nur als theoretische Erledigung des Gedankens der Moralität hervor, sondern
vor allem als praktische Erledigung von deren potentiellen Subjekten.
In den Minima Moralia begreift Adorno Nietzsches Amoralismus als Resultat
seiner moralisch inspirierten Kritik am ideologischen Moralisieren – ein Resultat,
das als hypostasierte Lehre selber ideologische Züge annimmt. Nietzsches Histori-
sierung der Moral wird bei Adorno noch einmal historisiert. Und sie wird vor allem
mit jener gesellschaftstheoretischen Reflexion zusammengebracht, die bei Nietzsche
ausgeblendet ist. Ein materialistisch reflektierter Begriff der »Substantialität«709 und
der Erkenntnisstand der Kritik der politischen Ökonomie sind die Grundlage, auf
der Adorno Nietzsches Plädoyer für die Herrenmoral als zeitbedingt und »dem
Verdikt der Geschichte«710 verfallen entziffert. Der historische Sinn von Nietzsches
Parteinahme für die Starken besteht demzufolge in dem Versuch, angesichts des

707 Die innere Gebrochenheit noch der scheinbar affirmativsten Theoreme bei Nietzsche,
wie etwa das vom »Willen zur Macht«, das der Intention nach ein quasi-metaphysisches
Ursprungsdogma ist, hat Christoph Türcke in seinem Buch Der tolle Mensch. Nietzsche
und der Wahnsinn der Vernunft herausgearbeitet; siehe etwa S. 118 ff.
708 Adorno, GS 10, S. 55.
709 Adorno, GS 4, S. 106. – In der Rechtsphilosophie bestimmt Hegel die ›objektive Sittlichkeit‹
als »die Substantialität oder das allgemeine Wesen der Individuen« (Hegel, Grundlinien
der Philosophie des Rechts, S. 294); ein Wesen, das ihnen durch die objektive Gestalt ihrer
Gesellschaft vorgegeben ist und sich in ihren »Pflichten« (ebd., S. 297) darstellt. Adorno
versteht unter »Substantialität« ebenfalls die historische Wirkmächtigkeit normativer
Sätze; freilich ohne Hegels geistmetaphysische Herleitung dieser Wirkmächtigkeit, die
ja vielmehr aus herrschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen herrührt.
710 Adorno, GS 4, S. 106.
192 8 Ein Wort für die Moral

Verlusts der Geltung religiöser Normensysteme (von dem ja schon in der Dialektik
der Aufklärung die Rede ist), die gesellschaftliche Beschränkungen durch mora-
lisch legitimierte Ge- und Verbote absichern, eine hierarchische Verteilung der
gesellschaftlichen Güter zu gewährleisten, die nicht im Überfluss vorhanden sind.
Weil Nietzsche sich den Einsichten der Kritik der politischen Ökonomie versperrt,
muss er, so Adorno, den bestehenden Mangel in der bürgerlichen Gesellschaft seiner
Zeit als unabänderliche Gegebenheit hinnehmen. Er macht daraus eine Ontologie
vom Recht des Stärkeren, der sich nehmen darf, was er braucht. Dem Starken ent-
hüllen sich die moralischen Regelsysteme als Maßnahmen der Schwachen, die von
deren Interessen im Lebenskampf diktiert sind. Eine solche Rationalisierung des
Mangels ist nun durch die Entfaltung der Produktivkräfte in der Gegenwart ebenso
obsolet geworden wie die ungleiche und mangelhafte Versorgung mit Gütern selbst
es wäre, die sich dem Antagonismus der bürgerlichen Gesellschaft verdankt. Hier
lässt sich eine Verbindung herstellen zu Adornos Rezeption der Horkheimerschen
»Rackettheorie«:711 In einem Zustand gesellschaftlicher Produktivkraftentfaltung,
der eine allgemeine gerechte Bedürfnisbefriedigung erlauben würde, sind es ihr
zufolge die Kämpfe der mächtigsten Interessengruppen, die jener im Wege stehen
und quasi-archaische Verhältnisse des Mangels konservieren.
Die reale Entwicklung der Produktivkräfte entzieht also nach Adorno Nietz-
sches Amoralismus das Fundament und lässt ihn zur »Lüge«712 werden, wenn er
als sozialdarwinistische Rechtfertigungsideologie auftritt. »Amoralität predigen
ward zur Sache derselben Darwinisten, die Nietzsche verachtete, und die den bar-
barischen Kampf ums Dasein krampfhaft als Maxime proklamieren, gerade weil
es seiner nicht mehr bedürfte.«713 Die zentralen Topoi »Tugend der Vornehmheit«
und »asketisches Ideal« werden von Adorno eigenwillig umakzentuiert, damit die
Substanz der kritischen Intention gerettet werden kann, die er Nietzsche zuspricht.
Die »Tugend der Vornehmen« müsste sich demzufolge in die Fähigkeit verwan-
deln, sich von der Heteronomie des Eigentumsprinzips emanzipieren zu können.
Sie würde als solche mit dem asketischen Ideal zusammenfallen, das heute als
Negation des Profitinteresses aufzutreten hätte. »Die Tugend der Vornehmheit
wäre längst nicht mehr, vor den anderen das Bessere sich zu nehmen, sondern des
Nehmens überdrüssig zu werden und die schenkende Tugend real zu üben, die bei
Nietzsche einzig als vergeistigte vorkommt. Die asketischen Ideale schließen heute
ein größeres Maß an Widerstand gegen den Wahnsinn der Profitökonomie ein als

711 Siehe oben, Kapitel 7.


712 Adorno, GS 4, S. 106.
713 Ebd., S. 107.
8.2 Adornos Nietzsche-Deutung 193

vor sechzig Jahren das sich Ausleben gegen die liberale Repression.«714 Ungeklärt
bleibt hier freilich, wie Adorno Nietzsches Topos des asketischen Ideals eigentlich
versteht. Im Kontext des hier kommentierten Aphorismus der Minima Moralia
muss der Eindruck entstehen, als sei das asketische Ideal Nietzsches eigenes. Das
komplizierte und in sich widerspruchsvolle Verständnis dieses Motivs bei Nietzsche
selbst bleibt unerwähnt. Dadurch wird die Sache nicht klarer. Nietzsche verhält sich
ja nicht affirmativ zum asketischen Ideal. Er kritisiert es als Ressentimentprodukt
des ohnmächtigen Machtwillens der Geistigen, mit dem Denken und Reflexion
in die Welt kommen. Es ist zugleich Ursprung der Religion und ihrer Überwin-
dungsstufe, der Philosophie. Nietzsche lässt keinen Zweifel daran, wie hoch er die
Resultate des asketischen Ideals, und damit es selbst, bewertet. Insofern ist das
asketische Ideal Bild, Ausdruck und Grund der Zerrissenheit und Gebrochenheit
des Willens zur Macht.
Die Transformation des asketischen Ideals in ein Element des Widerstands
gegen die kapitalistische Ökonomie stellt für Adorno die legitime Gestalt dar, in
der heute an Nietzsche angeknüpft werden könnte. Um ihren Nonkonformismus
zu bewahren, müsste die Kritik gleichsam die Stoßrichtung ändern: Sie müsste zur
punktuellen, fragmentarischen Antizipation des richtigen Handelns in der falschen
gesellschaftlichen Totalität werden, während sie bei Nietzsche »der normalen Welt
die Maske des Bösen entgegenkehrte, um die Norm das Fürchten vor ihrer eigenen
Verkehrtheit zu lehren.«715 Diesem Gedanken liegt implizit die Einsicht zugrunde,
dass Moral in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation in dem Sinne irre-
levant geworden ist, dass sie auch ihre ideologische Funktion verloren hat. Diese
wird heute kaum mehr benötigt, weil sich das Funktionieren gesellschaftlicher
Herrschaftsmechanismen nicht mehr über die psychische Verinnerlichung von
Geboten absichert, sondern in allgemeiner Konformität der Individuen, die ihren
geistig-moralischen Überbau im Glauben an universale Fungibilität findet und
daran, dass heteronom vorgegebene Zwecke nahezu jedes Mittel heiligen. Insofern
ist gegen die falsche Aufhebung des Moralischen sein Wahrheitsgehalt geltend zu
machen. Daher trägt der Aphorismus, der hier untersucht wurde, den program-
matischen Titel »Ein Wort für die Moral«.
Damit ist der Tenor von Adornos Metakritik der Moralkritik bei Nietzsche
angegeben: Er besteht im Vorwurf der abstrakten Negation der Moral. Die Begriffe

714 Ebd. – Diese Sicht stimmt mit Nietzsches anti-bourgeoiser Auffassung von Vornehmheit
in gewisser Hinsicht durchaus überein: »Sich nicht auf den Handel verstehen ist
vornehm«, heißt es etwa in Aphorismus 308 der Morgenröte. Gedanken über die
moralischen Vorurteile (Werke in drei Bd., Bd. 1, S. 1191 [im Original kursiv]).
715 Ebd.
194 8 Ein Wort für die Moral

»abstrakte« und »bestimmte Negation« werden von Adorno nicht im reinen Sinn der
hegelschen Terminologie verwendet, sondern in einem zugleich eingeschränkten
und erweiterten Verständnis. Sie entstammen zwar Hegels Metaphysik, in der sie
die Bewegung des Geistes bezeichnen, verbleiben aber nicht in deren idealistischem
Bannkreis. Das Verhältnis des Gedankens zu seinem Gegenstand kann nach wie vor
eines sein, das dem Gegenstand jeden Wahrheitsgehalt abspricht und ihn darum
womöglich zu Unrecht völlig verwirft – oder eines, das den Gegenstand kritisiert,
ohne seine Wahrheitsmomente zu verleugnen, die es sich vielmehr zu eigen macht
und präzise zu formulieren versucht, was am zur Verhandlung stehenden Gegen-
stand falsch ist und was richtig. Solche Kritik ist bestimmte Negation, ohne dass
sie vorgeben würde, die Position hervorzubringen, und ohne dass sie in den idea-
listischen Wahn zurückfallen müsste, der Begriff selber wäre autonomes Subjekt.
Die bestimmte Negation der Moral, um die es Adorno geht, soll nicht auf ihre
Abschaffung hinauslaufen. Vielmehr will er zeigen, wann und inwiefern Moral
selber zwangsläufig unmoralisch wird. Was aber hat man sich unter dem von
Adorno intendierten Verfahren der »bestimmten Negation« vorzustellen? Sie ist ein
Verfahren der Kritik, welches weiß, »daß, wenn man einem als negativ Erkannten
ein Anderes entgegensetzt, in dem Anderen das Negierte in einer neuen Form
enthalten sein muß«716. Gemeint ist damit nicht, wie oben angedeutet wurde, die
idealistische Stiftung neuer Positivität wie bei Hegel, sondern eine Negation der
Negation im Marx’schen Sinn.
Von Adorno kann man also lernen, dass es hieße, »abstrakte Negation« des
Idealismus zu betreiben, wenn man sich den reflektierten Gebrauch der Termini
abstrakte und bestimmte Negation verbieten würde, weil sie bei Hegel idealistische
Implikationen haben. Es hieße, zu leugnen, dass es in unserer Gesellschaft Wesen
und Erscheinung zu unterscheiden gibt, weil dies Zentralkategorien der idealisti-
schen Logik sind. Im Denken und in der Sprachregelung der Politik gehört es ja
zum falschen guten Ton, auf Wesensbestimmungen zu verzichten. Wenn man nicht
vom »Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit« spricht, sondern von »Sozialpart-
nerschaft«, trägt man dazu bei, die »bestimmte Negation« von realen Verhältnissen
zu blockieren, die praktisch zu verändern wären. So wird die ideologische Seite
des Idealismus bestätigt.
Die traditionelle Moralphilosophie in ihrer abstrakt-idealistischen Gestalt
negiert die geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen, mit denen sie
zusammenhängt. Diese Negation wird bei Adorno wiederum negiert, damit der

716 Theodor W. Adorno, in: Theodor W. Adorno, Max Horkheimer u. Hans-Georg Gadamer,
Über Nietzsche und uns. Zum 50. Todestag des Philosophen, in: Max Horkheimer,
Gesammelte Schriften Bd. 13, hrsg. v. G. Schmid Noerr, Frankfurt/M. 1989, S. 116.
8.2 Adornos Nietzsche-Deutung 195

produktive Gehalt der Moralphilosophie in einer kritischen Theorie der Moral


aufgehoben werden kann.
Adorno zufolge verwirft Nietzsche also die Gehalte der abendländischen Moral-
philosophie insgesamt, ohne dabei zwischen ihren ideologischen und ihren wahren
Aspekten zu unterscheiden. Die unvermeidliche Folge dieses Verfahrens ist, dass
Nietzsches eigene Wertsetzungen diejenigen moralischen Gebote mit umgekehrten
Vorzeichen reproduzieren, die er ausgelöscht wissen will. In der Vorlesung Proble-
me der Moralphilosophie von 1963 bringt Adorno gegen Nietzsche vor, »daß er bei
der abstrakten Negation« der »bürgerlichen Moral […] stehen geblieben ist, und
daß er nicht […] aus dem Austrag der einzelnen moralischen Probleme, denen
er gegenüber sich fand, zu einer Formulierung der Ideen richtigen Lebens kam,
sondern […] dem seinerseits nun wieder eine positive Moral gegenübergehalten
hat, die eigentlich nichts anderes ist als das bloße negative Spiegelbild der Moral,
die er […] verworfen hat.«717
Gegen dieses Argument ließe sich einwenden, dass Nietzsche seine Kritik
nicht zu Unrecht als »die Selbstaufhebung der Moral«718 begreift, deren Movens
ein Begriff von »Moralität«719 ist, der sich nicht korrumpieren lassen will und mo-
ralische Impulse gegen ihre Instrumentalisierung und Ideologisierung verteidigt.
Das Projekt der »Selbstüberwindung der Moral«720 legt die Annahme nahe, dass
Moralphilosophie gerade nicht pauschal verworfen werden soll, sondern dass es
Nietzsche um die Rettung der negatorischen Kraft geht, wie sie etwa in den kritischen
Betrachtungen der nonkonformistischen französischen Moralisten aufbewahrt ist.
Nietzsches »Immoralismus« wäre demnach die Konsequenz seiner Moralität.721 Diese
Intention ist ja auch von Adorno selber in dem oben interpretierten Aphorismus
hervorgehoben worden.
Adornos These von der abstrakten Negation der Moral steht aber dann nicht in
Widerspruch zur Dialektik von Nietzsches Moralkritik, wenn sie auf die Durchfüh-
rung bezogen wird, die bei Nietzsche vom Programm unterschieden werden muss.

717 Adorno, PM 2, 25. 7. 1963 (Nachgelassene Schriften Bd. 10, S. 255 f.).
718 Friedrich Nietzsche, Morgenröte, in: Ders., Werke Bd. 1, a. a. O., S. 1015.
719 Ebd.
720 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, a. a. O., S. 598.
721 »Als eine Fortsetzung der christlich-protestantischen Tradition hat Nietzsche auch
seinen eigenen ›Immoralismus‹ empfunden«, schreibt Löwith; »auch er ist noch eine
letzte Frucht am Baume der christlichen Moral. ›Sie selbst zwingt als Redlichkeit zur
Moralverneinung‹ – die philosophische Selbstvernichtung der christlichen Moral
ist noch ein Stück ihrer eigensten Kraft.« (Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der
revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg 1986, S. 396
f.).
196 8 Ein Wort für die Moral

Und vor allem bewährt sich die These dann, wenn sie präzisiert wird, indem man
die Destruktion moralphilosophischer Theoreme bei Nietzsche in den Blick rückt.
Im Folgenden sollen einige Belege dafür gebracht werden, die den Sachverhalt we-
nigstens grob skizzieren. Sie orientieren sich an Nietzsches Rezeption derjenigen
Vertreter der moralphilosophischen Tradition, die auch Adorno zum Gegenstand
seiner Kritik macht.
Nietzsches Urteil über das sokratische Erbe in der Moralphilosophie ist eine Vari-
ante der Absage an den ethischen Intellektualismus. Die »bizarrste« »Gleichsetzung
von Vernunft = Tugend = Glück«722, die er als den Kern sokratischen Philosophierens
versteht, ist für ihn ein »Mißverständnis«723. Die theoretisch-reflexive Bemühung
um adäquate Erkenntnis der Wirklichkeit, die in dem Impuls zu ihrer Veränderung
mündet, den Anspruch also, die gesellschaftliche Wirklichkeit vernünftig zu ge-
stalten und in vernunftgemäßer Praxis die Basis menschlichen Glücks zu schaffen,
wird als Symptom der »decadence« verbucht. Die beginnende Vernunftemphase
ist für Nietzsche lediglich regressive Unterdrückung vitalistischer Instinkte; denn:
»so lange das Leben aufsteigt, ist Glück gleich Instinkt.«724 Ebenso kennzeichnet
er Platons Ideenlehre nominalistisch als »Erfindung vom reinen Geiste und vom
Guten an sich«725 und führt die daraus abgeleitete Ethik darauf zurück, dass Platon
»an Gut und Böse wie an Weiß und Schwarz«726 geglaubt habe. Nietzsches Kritik
der platonischen Ethik bleibt allerdings nicht bloß abstrakt negativ. Sie versucht
die objektive Differenz zwischen antiker Ontologie und modernem Wissen zu
bestimmen, die darin bestehe, dass der Antike das Bewusstsein der »Historie der
moralischen Empfindungen«727 fehlt, worunter sich die Einsicht in die geschicht-
lich-gesellschaftliche und psychologische Ambivalenz des Moralischen verstehen
lässt, deren Aufdeckung Nietzsches Thema ist. In der aristotelischen Bestimmung
der Tugend als mesotes sieht Nietzsche die »Herabstimmung der Affekte auf
ein unschädliches Mittelmaß, bei welchem sie befriedigt werden dürfen«728. Die
fortschrittlichen, humanisierenden Elemente dieses Tugendbegriffs, die Adorno
herausarbeitet, verkennt Nietzsche. Für ihn brechen sich im »Aristotelismus der

722 Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: Ders., Werke Bd. 2, S. 953.


723 Ebd., S. 995.
724 Ebd., S. 956.
725 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, a. a. O., S. 566.
726 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: Ders., Werke Bd. 1, a. a. O., S. 989.
727 Ebd., S. 988 f.
728 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, a. a. O., S. 654. – Siehe oben, Kapitel 2.
8.2 Adornos Nietzsche-Deutung 197

Moral«729 die »Instinkte der decadence«730 Bahn, die zum Nihilismus führen. – Am
wenigsten Gerechtigkeit lässt Nietzsche (wie bereits im Zusammenhang der Dis-
kussion der Thesen aus dem Juliette-Exkurs angesprochen wurde) schließlich Kants
Moralphilosophie widerfahren. Die Darlegung des kategorischen Imperativs wird als
»Tartüfferie«731 und der Begriff der intelligiblen Freiheit als »Unsinn«732 abgekanzelt.
Alles, was »Kant als Moralist«733 hervorgebracht habe, also vor allem die Begriffe
der Pflicht und der Tugend, seien »Hirngespinste, in denen sich der Niedergang,
die letzte Entkräftigung des Lebens, das Königsberger Chinesentum ausdrückt.«734
Dennoch schmälert die sachliche Unangemessenheit dieser Polemiken nicht die
Bedeutung von Nietzsches Einsichten in den Zusammenhang von Moralität und
Repression, der Kants Ethik einbeschrieben ist. Indirekt verweist Nietzsche damit
laut Adorno auf das »Moment des Heteronomen inmitten der sogenannten Kanti-
schen Autonomie«735. Es finden sich also bei Nietzsche ohne Zweifel substantielle
Gesichtspunkte, die in eine immanent ansetzende Kritik an Kant aufgenommen
werden müssen, auch wenn er selbst diese nicht leistet. In unserem Zusammenhang
geht es aber eben darum, dass sich Nietzsche nicht den – wenn auch mitunter ver-
borgenen – Wahrheitsgehalt der Theoreme aneignet, die er untersucht, weil er sie
zum Gegenstand einer gleichsam ›vor-marxschen‹ Ideologiekritik macht.736 Vom
Verhältnis zu Schopenhauers willensverneinender Mitleidsethik war ja bereits die
Rede.737 Insofern ist Adornos Einschätzung des Sachverhalts zuzustimmen. Nietzsche

729 Nietzsche, ebd.


730 Nietzsche, Nachlaß, in: Ders., Werke Bd. 3, a. a. O., S. 735.
731 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, a. a. O., S. 570.
732 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, a. a. O., S. 977.
733 Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, in: Ders., Werke Bd. 2, a. a. O., S. 1171.
734 Ebd., S. 1171 f.
735 Adorno, PM 2, 20. 6. 1963 (Nachgelassene Schriften Bd. 10, S. 124).
736 Eine ausführliche Darlegung des Verhältnisses von Nietzsche zur kantischen Ethik
kann im vorliegenden Rahmen nicht erfolgen. Zur Verdeutlichung verweise ich auf
meine Studie Nietzsches Überwindung der Moral, a. a. O., in der ich Nietzsches Kritik
am Begriff der Willensfreiheit diskutiert habe; vgl. ebd., S. 26 ff. – Siehe aber zum
Verhältnis von Rationalitätskritik und Moralkritik bei Nietzsche auch Klaus Günther,
Das Bedürfnis nach Normativität, in: Der Sturz der Idole, hrsg. v. P. Rippel, Tübingen
1985, S. 89 ff., der in einer immanenten Rekonstruktion die Stärken von Nietzsches
Moralkritik subtil herausarbeitet.
737 Nietzsches Anknüpfen an Schopenhauer weist im Ganzen freilich keine abstrakt negative,
sondern vielmehr eine dialektische Struktur auf. »Nietzsche feiert ›Schopenhauer als
Erzieher‹ […], wendet aber dessen Ethik der Verneinung des Willens zum Leben ins
Positive: in eine Ethik der Lebensbejahung, die in seinem Spätwerk zur Metaphysik
des ›Willens zur Macht‹ ausgestaltet wird. Die reduktive Figur des Argumentierens
198 8 Ein Wort für die Moral

ersehnt einen Zustand – und versucht, für seine Verwirklichung zwingende Gründe
aus dem geschichtlichen Verlauf seiner Gegenwart heraus anzugeben –, in dem
»das eigentliche Herrenrecht, Werte zu schaffen«738, wieder Geltung hat. In seinem
Kultus der Vornehmheit und der Tugenden einer neuen aristokratischen Moral739
ist die Kritik bestehender Moralvorstellungen in eine von ihm begrüßte Vision
gesellschaftlicher Unrechts- und Gewaltverhältnisse umgeschlagen, die freilich als
eine um die Privilegien philosophierender Herrscherkasten vermehrte schlechtere
Alternative zum Bestehenden bezeichnet werden muss. Mit Recht kritisiert Adorno
an Nietzsches Umwertungsperspektive den – objektiv kraftlosen – Wunsch, »feudale
Normen«740 zu reaktivieren. Er benennt als ein Moment der Dialektik, der Nietz-
sches Moralkritik unterliegt, was Lukács als Wesen des ganzen Nietzsche ausgibt:
die Verfallenheit an ein schlechtes »romantisches Ideal«, das im Kapitalismus zur
Ohnmacht verurteilt ist, ihn aber hinterrücks sogar stärkt, weil es Herrschaft und
Ausbeutung, ja Sklaverei feiert.741 Die antibürgerlichen Herren-Werte, mit denen
Nietzsche sich von der geistigen und kulturellen Atmosphäre des aufkommenden
deutschen Imperialismus absetzen will, sind Adorno zufolge »bloße Repristinationen,
Erneuerungen, ein romantisches Ideal, das unter der Herrschaft des Profits ganz
und gar ohnmächtig ist. Sie kommen aber dieser Herrschaft des Profits zugleich
auch zugute, denn der Mensch, der da als der Herrenmensch von Nietzsche gefeiert
wird […], würde heute nichts anderes sein als […] der Industrieritter. Mit anderen
Worten, […] gerade diese neuen Werte, die dem expansiven Wilhelminischen nach-
siebziger Reich sich entgegengestellt haben, sind gegen ihren eigenen Willen, aber
objektiv die Ideologie des expansiven Imperialismus geblieben.«742 Deshalb verwirft
Adorno Nietzsche freilich nicht; anders als Lukács, dessen Nietzsche-Interpretation

übernimmt er ebenfalls von Schopenhauer: die Destruktion der Selbstherrlichkeit und


Selbstgenügsamkeit des Geistes durch den Nachweis der durchgängigen Abhängigkeit
vom ›Willen zum Leben‹ liegt bei Schopenhauer wie bei Nietzsche der normativ-ethischen
Wendung zur Willensverneinung oder Lebensbejahung theoretisch voraus.« (Herbert
Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus,
Freiburg, München 1974, S. 78.)
738 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, a. a. O., S. 734.
739 Vgl. Nietzsche, ebd., S. 727–756.
740 Adorno, PM 2, 25. 7. 1963 (Nachgelassene Schriften, a. a. O., S. 257).
741 Vgl. etwa Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, a. a. O., S. 729 u. S. 702.
742 Adorno, PM 2, 25. 7. 1963 (Nachgelassene Schriften Bd. 10, S. 257). – Adorno spielt hier
implizit und zustimmend auf die Nietzsche-Kritik von Lukács an, über die er sich in
seinen publizierten Schriften lustig zu machen pflegte. Siehe dazu Georg Lukács, Die
Zerstörung der Vernunft, Bd. II, Darmstadt und Neuwied 1983, 3. Kapitel: Nietzsche
als Begründer des Irrationalismus der imperialistischen Periode, S. 7 ff.
8.2 Adornos Nietzsche-Deutung 199

für ihn geradezu ein Schulbeispiel abstrakter Negation gewesen dürfte. Vielmehr
versucht er, noch in Nietzsches Irrtümern einen rationalen Kern aufzuspüren.743
Adorno zufolge steckt – und damit wird an die Argumentation der Dialektik der
Aufklärung erinnert – in den »Brutalitäten der Nietzscheschen Moralphilosophie,
die ich, weiß Gott, nicht verteidigen möchte […], jedenfalls soviel an Wahrheit drin,
daß in einer Gesellschaft, die auf Gewalt und Ausbeutung wesentlich gegründet ist,
die unrationalisierte, die sich einbekennende und sich ins Gesicht schauende […]
Gewalt immer noch unschuldiger ist als die, die sich als das Gute rationalisiert.«744
An anderer Stelle weist Adorno auf den ironisch-mehrdeutigen Charakter der
Darstellung bei Nietzsche hin und betont, dass auf dieser Grundlage Nietzsches
Konzept eines »befreiten Menschen« im spiegelverkehrten Bild des noch nicht
befreiten, nämlich von der »Lüge« und der »konventionellen Moral« beherrschten
Menschen, erscheint, dem er Konturen verleihen will, indem er die Zerschlagung der
Konvention postuliert. Daraus folgert Adorno: »Das Leitbild der Freiheit erscheint
hinter dem vordergründigen Kultus der Unterdrückung.«745 Adorno entfaltet also
die Mehrschichtigkeit und Ambivalenz von Nietzsches Philosophie, die auf dem
Boden abendländischer Rationalität diese beständig in Frage stellt, ohne sie je ganz
zu verabschieden – lange bevor die poststrukturalistische Lesart sich durchgesetzt
hat, die ebenfalls Nietzsches Ambiguität ins Zentrum des Diskurses stellt, aber zur
ontologisierenden Überhöhung dessen tendiert, was bei Adorno ideologiekritisch
analysiert wird.746
Das systematisch zentrale Argument von Adornos Metakritik der Nietzsche-
schen Moralkritik ist, dass Nietzsche mit seiner Bestimmung der Sklavenmoral
dem falschen Schein jener gesellschaftlichen Gewaltverhältnisse aufsitzt, die er
doch wie kaum ein anderer bis in den psychischen Mikrokosmos hinein aufdeckt.
Was bei Nietzsche vitalistisch als genuine Manifestation des Machtwillens, also
ontologisch substantiell, vorgestellt und damit hypostasiert wird, wäre aus der
Perspektive möglicher Herrschaftsfreiheit noch einmal als notwendiger Schein zu
entmystifizieren. »Nietzsche hat verkannt, daß die von ihm kritisierte sogenannte
Sklavenmoral in Wahrheit immer Herrenmoral, nämlich die von Herrschaft den

743 Damit knüpft Adorno an den Grundgedanken seines Nietzsche-Aphorismus aus der
Minima Moralia an, der oben untersucht wurde.
744 Adorno, PM 2, 25. 7. 1963 (Nachgelassene Schriften Bd. 10, S. 258).
745 Adorno, Horkheimer u. Gadamer, Über Nietzsche und uns, a. a. O., S. 115.
746 Siehe dazu etwa den Sammelband: Nietzsche aus Frankreich, hrsg. v. W. Hamacher,
Frankfurt/M., Berlin 1986; zum Verhältnis Nietzsches zur neueren französischen
Philosophie siehe auch Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O.,
S. 104 ff.
200 8 Ein Wort für die Moral

Unterdrückten aufgezwungene, gewesen ist. Wäre seine Kritik so konsequent,


wie sie sein müßte und wie sie es doch nicht ist – weil er eben selber im Bann der
bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse steht, weil er bei den Menschen auf
den Grund dessen geschaut hat, was sie geworden sind, aber nicht der Gesellschaft
auf den Grund geschaut hat, die sie dazu gemacht hat –, dann müßte diese Kritik
umschlagen auf die Bedingungen, welche die Menschen determinieren, welche sie,
welche einen jeden von uns zu dem gemacht haben, was wir sind.«747
Adornos Nietzsche-Interpretationen aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg
können also durchaus als das theoretische Unterfangen bezeichnet werden, die
Grundzüge des Deutungsrahmens aus der Dialektik der Aufklärung beizubehalten,
in entscheidenden Punkten jedoch zu präzisieren und von Missverständlichkeit
zu befreien.748

747 Adorno, PM 2, 25. 7. 1963 (Nachgelassene Schriften Bd. 10, S. 258 f.). Vgl. auch Adorno,
GS 4, S. 210. – Die Kritik der Hypostasierung moralphilosophischer Topoi, die sich
einem dialektisch-materialistisch ansetzenden Denken als historisch-gesellschaftlich
gewordene und damit veränderbare erweisen, hat im Falle von Nietzsche ihre besondere
Berechtigung, denn sein Werk ist ansonsten ja gerade durch die entgegengesetzte
Denkbewegung gekennzeichnet, die auf dem Gebiet der Moralphilosophie an bestimmten
Stellen gegen ihren Autor zu ihrem Recht gebracht werden muss. Alfred Schmidt stellt
hierzu fest: »Nietzsches Erkenntnistheorie ist eine radikale Kritik jeglicher Hypostasen«
(Alfred Schmidt, Zur Frage der Dialektik in Nietzsches Erkenntnistheorie, in: Nietzsche,
hrsg. v. J. Salaquarda, Darmstadt 1980, S. 134).
748 Dass es angebracht und notwendig ist, zwischen der Nietzsche-Interpretation der
Dialektik der Aufklärung und der im engeren Sinne Adorno’schen sorgfältig zu
unterscheiden, zeigt sich ex negativo anhand der bereits mehrfach erwähnten Studie
von Braun über Adornos Kantkritik. Braun identifiziert umstandslos die Position der
Dialektik der Aufklärung mit derjenigen der Negativen Dialektik. So lässt sich dann die
verkürzt und einseitig referierte Kritik des späteren Adorno an der kantischen Ethik auf
die ebenfalls verkürzt präsentierten Thesen der Dialektik der Aufklärung verrechnen.
(Vgl. Braun, a. a. O., S. 130, S. 139, S. 146, S. 151, S. 161 u. S. 163–165.)
… »versuchen, so zu leben, daß man
glauben darf, ein gutes Tier gewesen 9
zu sein«: Umrisse einer negativen
Moralphilosophie
9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

Adornos Moralphilosophie hat zwei zentrale Themen. Es sind die Reflexion auf die
Möglichkeit eines richtigen Lebens heute und der »neue kategorische Imperativ«.
Das erste Thema findet sich in den Minima Moralia: »Es gibt kein richtiges Le-
ben im falschen.«749 Oft wird dieser Satz so interpretiert, als habe Adorno mit ihm
den Verzicht auf eine ausgeführte Ethik rechtfertigen wollen. Die Weigerung der
Kritischen Theorie, ungebrochen an die »bürgerliche« Moralphilosophie anzuknüp-
fen, deren Verstricktheit in die ökonomischen Bedingungen einer heteronomen,
herrschaftlichen Gesellschaft Horkheimer in der Zeitschrift für Sozialforschung
untersuchte,750 wird dann als Defizit aufgefasst: als resignatives Ausweichen vor
dem Problem, Kriterien zur Rechtfertigung von Normen eines menschenwürdigen
Zusammenlebens positiv ausweisen zu müssen, mit deren Hilfe den kritisierten
Verhältnissen eine konkrete Perspektive der Veränderung entgegengesetzt werden
könne.751 Der aus solchen Überlegungen abgeleitete Vorwurf eines »resignativen
Fatalismus«752 übersieht jedoch, dass Adorno dem Problem, das in der gegenwär-
tigen akademischen Terminologie mit dem Begriff der Normativität bezeichnet
wird, keineswegs ausgewichen ist.

749 Adorno, GS 4, S. 43.


750 Vgl. Horkheimer, Materialismus und Moral, a. a. O.
751 So etwa bei Clemenz: »Die bestehenden Normen werden insgesamt verworfen, zugleich
aber auch die Möglichkeit positiver normativer Aussagen geleugnet. Damit ist aber die
Möglichkeit rationaler Diskussion der in Frage stehenden Normen, ebenso der Praxis,
prinzipiell bestritten. Wo ich nicht bereit bin, praktische Lösungen vorzuschlagen und
normativ zu begründen, kann ich nur noch resignativ auf die Utopie verweisen oder
allenfalls über die philosophische Begründung meiner Haltung diskutieren.« (Clemenz,
Theorie als Praxis, a. a. O., S. 192) Warum diese Auslegung zu kurz greift, soll auf den
folgenden Seiten deutlich gemacht werden.
752 Carl-Friedrich Geyer, Aporien des Metaphysik- und Geschichtsbegriffs der Kritischen
Theorie, Darmstadt 1980, S. 174.

G. Schweppenhäuser, Ethik nach Auschwitz, DOI 10.1007/978-3-658-11771-9_9,


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202 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

In der Forschungsliteratur wurde das zwar bemerkt, aber nicht zum Gegenstand
ausführlicher Untersuchung.753 Wenn Adorno den Schein der Möglichkeit zerstören
will, dass wir als einzelne »richtig«, dass heißt moralisch gerechtfertigt, handeln
und leben können in einem gesellschaftlichen Ganzen, das, wie die Erfahrung nicht
erst seit Auschwitz zeigt, nicht die moralphilosophische Intention auf ein richti-
ges Leben als Totalität verwirklicht – wenn Adorno diesen Schein also bekämpft,
dann tut er das offensichtlich, indem er einen moralischen Maßstab in Anspruch
nimmt. Dieser Maßstab wird bei ihm selten expliziert. Er soll im folgenden her-
ausgearbeitet werden, und zwar durch die Interpretation vor allem dreier Quellen,
in denen Adorno noch am ehesten »die Karten auf den Tisch«754 legt. Das sind der
erste Teil der Vorlesung Probleme der Moralphilosophie aus dem Wintersemester
1956/57 sowie Abschnitte aus den Minima Moralia und aus der Negativen Dialektik.

753 Siehe Thyen, Negative Dialektik und Erfahrung, a. a. O., S. 12 u. S. 285 (sowie S. 262 f.
mit Bezug auf Horkheimer und Marcuse). Siehe auch Brunkhorst, Theodor W. Adorno,
a. a. O., S. 40 f. u. ö. und Schurz, Ethik nach Adorno, a. a. O. – Brunkhorst hat die
Lesart, aus dem Satz »Es gibt kein richtiges Leben im falschen« resultiere moralischer
Relativismus, plausibel zurückgewiesen. Es gehe Adorno nicht darum, die moralische
Gleichgültigkeit eines jeglichen Handelns in einem global als falsch gekennzeichneten
Gesamtzustand zu postulieren. Er wolle vielmehr die Erfahrung ausdrücken, dass
individuelle Handlungen stets in einen gesellschaftlichen Zusammenhang verstrickt
sind, dessen Maß an Freiheit und Moralität darüber entscheiden, wie sie ethisch zu
beurteilen sind (vgl. Brunkhorst, Theodor W. Adorno. Dialektik der Moderne, a. a. O.,
S. 40 f.) »Das aufgelöste Rätsel des Satzes vom fehlenden richtigen Leben im falschen
ist«, schreibt Brunkhorst an anderer Stelle, »daß es überhaupt kein richtiges Leben
gibt, weil das richtige Leben das Nichtidentische ist, von dem es keine letzte und
endgültige Beschreibung gibt. Mit dieser Einsicht hebt die negative Dialektik auch das
Wahrheitsmoment der materialistischen Skepsis von Schopenhauer bis Horkheimer in
sich auf.« (Hauke Brunkhorst, Vom richtigen Leben im falschen, in: Die Unnatürlichkeit
der Natur. Über die Sozialität der Natur und die Natürlichkeit des Sozialen, hrsg. v.
M. Lutz-Bachmann u. G. Schmid Noerr, Frankfurt/M. 1991, S. 150) Abgesehen von
der erkenntnistheoretischen Problematik, die sich ergibt, wenn man Brunkhorsts
thesenhaftes Urteil umkehrt – dann hieße es nämlich: das Nichtidentische ist das
richtige Leben, was sicher nicht Adornos erkenntniskritischen Intentionen entspricht
– ist diese Charakteristik im Zusammenhang der Moralphilosophie sehr treffend.
754 Adorno, GS 6, S. 9.
9.1 Die Problematik der Normen 203

9.1 Die Problematik der Normen


9.1 Die Problematik der Normen
Dem Begriff der Norm ist seine Äquivokation, auch im moralischen Zusammenhang,
nicht äußerlich. Die Momente der vernünftigen Selbstbestimmung des Handelns
nach rationaler Einsicht und der Fremdbestimmtheit durch festgelegte Richtlinien
gehen in ihm ineinander über. In der Soziologie wird dementsprechend zwischen
»idealer Norm« und »sozialer Norm« unterschieden. Die Normen industrieller
Produktion und die Normen, die zusammen mit den Werten gymnasialen Oberstu-
fen-Lehrstoff darstellen, sind, ebenso wie die gültigen Rechtsnormen, Produkte und
Ausdruck gesellschaftlicher Setzung. Die Berufung auf Normen auf dem Gebiet der
praktischen Philosophie ist für Adorno vielfach ein Anzeichen dafür, dass sie in der
Gegenwart ihre Wirkmächtigkeit verloren haben und zum Gegenstand mehr oder
weniger ohnmächtiger Beschwörung geworden sind. Die Restauration überholter
konventioneller Normen, die dem objektiven gesellschaftlichen Entwicklungsstand
nicht mehr entsprechen, kritisiert er in der Vorlesung Probleme der Moralphilo-
sophie an Arnold Gehlen und Helmut Schelsky;755 in seinem berühmten Essay
Sexualtabus und Recht heute greift er in der Tradition von Karl Kraus den repres-
siven Charakter bürgerlicher Sittlichkeitsnormen in der Ära der bundesdeutschen
Restauration an.756 Bereits in den Studien zum autoritären Charakter weist Adorno
Ende der 1940er Jahre den sozialpsychologischen Zusammenhang zwischen der
»Bindung an konventionelle Normen«757 und der Anfälligkeit für autoritäre und
faschistische Propaganda nach. Konformität mit bestehenden Normensystemen,
die ungeprüft übernommen und als Vorurteile verinnerlicht werden, ist demnach
ein Wesensmerkmal des autoritären Charakters, der zudem durch die Stillstellung
der Gewissensinstanz, der Errungenschaft bürgerlicher Moralsozialisation also, und
durch die komplementäre Neigung zur moralistischen Rationalisierung unmora-
lischen Handelns gekennzeichnet ist – vor allem in Gestalt des antisemitischen
autoritären Charakters.758 Dergestalt unreflektiertes normengeleitetes Handeln,
das sich fremdbestimmen lässt, würde bei Lawrence Kohlberg den Stufen zwei bis
vier zuzuordnen sein.759
Vernünftige und selbstbestimmte Normativität hingegen, wie sie im Begriff der
Autonomie impliziert wird, ist der potentiell emanzipatorische Gehalt vor allem

755 Vgl. Adorno, PM 1, 20. 11. 1956. – Zur Kritik am »Kultus der Werte« siehe PM 2, 9. 7.
1963 (Nachgelassene Schriften Bd. 10, S. 180).
756 Vgl. Adorno, GS 10, S. 533 ff.
757 Adorno u. a., Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M. 1980, S. 47.
758 Vgl. ebd., S.144 f., S. 139 u. ö.
759 Vgl. Lawrence Kohlberg, Essays on Moral Development, Vol. I, San Francisco 1981.
204 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

der kantischen Moralphilosophie, als deren Erben Adorno den historischen Mate-
rialismus anerkennt,760 auch wenn dieser sich dezidiert antimoralistisch verhält. In
seiner Nachfolge meldet die Kritische Theorie ihren eigenen normativen Anspruch
an, den Horkheimer als das »Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen
Unrechts«761 bezeichnet. Adorno geht es nun darum, auf dem Gebiet der Moral-
philosophie folgendes zu zeigen: Weder können stimmige, mit unbedingtem Gel-
tungsanspruch verbundene Normen für das moralische Verhalten des Individuums
unter den bestehenden gesellschaftlichen Bedingungen aufgestellt werden, noch
ist es möglich, individuelle Verhaltensnormen unmittelbar »an den Normen eines
richtigen Ganzen«762 auszurichten. Führt der erste Weg zur Einebnung der kritischen
Differenz zwischen dem, was ist und dem, was sein soll, so endet der zweite in der
Sackgasse ohnmächtigen Postulierens, das im hegelschen Sinne abstrakt bleibt:
ohnmächtiger Protest der Tugend gegen den Weltlauf. Hier stellt sich die Frage,
wie Adorno das uneingeschränkte Festhalten an den normativen Prämissen seiner
Theorie – also das Interesse an der Abschaffung von Leiden und Unrecht, oder: an
der Verwirklichung unverkürzter Humanität – mit der erklärten Unmöglichkeit
vermittelt, normative Richtlinien des Handelns aufzustellen.
Der Versuch, diese Frage zu beantworten, muss Adornos unausdrücklicher,
meist nur angedeuteter Kritik moralischer Prinzipienphilosophie nachgehen. Sie
richtet sich gegen den Anspruch, aus einem Moralprinzip das ihm entsprechende
Handeln, ja einen ihm entsprechenden Gesamtzustand, ableiten zu wollen. Insofern
teilt Adorno Hegels Vorbehalt gegen »ein oberstes Moralprinzip […], wie es jetzt
genannt wird und woran man etwas Leeres hat, indem man alles zu haben glaubt«763.
Aber er rekurriert nicht auf eine substantielle Sittlichkeit. Adornos Reflexionen liegt
die Einsicht zugrunde, dass die Suche nach einer letztbegründeten Grundlage der
Moral, also nach der Sphäre absoluter Ursprünge auf dem Gebiet der praktischen
Philosophie, notwendig in Aporien führt. Der affirmative Nachweis eines Prinzips
der Moral unterschlägt stets die innere Widersprüchlichkeit des Moralischen, die
sich aus der Dialektik von allgemeinem und besonderem Interesse ergibt, welche

760 Siehe oben, Kapitel 3.


761 Max Horkheimer, Traditionelle und Kritische Theorie, in: ders., Kritische Theorie.
Eine Dokumentation, hrsg. v. A. Schmidt, Bd. II, Frankfurt/M. 1968, S. 190. – In der
Originalfassung des Aufsatzes wird die normative Instanz kritischer Theorie noch
»das Interesse an der Aufhebung der Klassenherrschaft« genannt (Max Horkheimer,
Traditionelle und kritische Theorie, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 6 [1937],
S. 292).
762 Adorno, PM 1, 6. 12. 1956.
763 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II,
in: Werke Bd. 19, Frankfurt/M. 1971, S. 106.
9.1 Die Problematik der Normen 205

die gesellschaftliche Basis von Moral ist. Diese Dialektik, die zuerst in der prakti-
schen Philosophie des französischen Materialismus artikuliert wurde,764 ist nach
Adorno in die moralischen Kategorien selber eingewandert. Darum ist es ihm auch
nicht um einen soziologisierenden Reduktionismus zu tun. Er begreift moralphi-
losophische Reflexion als objektive geistige Bewegung, die dennoch von dem in
ihr abgelagerten, geschichtlich-gesellschaftlichen Gehalt nie abzutrennen ist. Der
Rang moralphilosophischer Theoreme dürfte sich für Adorno daran bemessen
haben, in welchem Maße sie durch ihre konsequente immanente Durchführung
hindurch gesellschaftlichen Gehalt transportieren.
Konkret heißt das, dass Adorno in moralischen und moralphilosophischen
Systemen dem antagonistischen Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem
nachspürt. Er erkennt in den klassischen moralischen Geboten auf der einen Seite
die Resultate der Anforderungen, die die gesellschaftliche Totalität stellt, etwa im
Tötungsverbot; und auf der anderen Seite entschlüsselt er sie als verinnerlichte
Resultate der Anforderungen von gesellschaftlich partikularen Interessen, etwa, mit
Max Weber, in der protestantischen Arbeitsmoral und ihrer historischen Genese.765
Indem nun die Herrschaft partikularer Interessen sich historisch durch Kollektive
hindurch manifestiert, werden besondere und allgemeine Ansprüche undurchschau-
bar vermischt. Dem Aufweis des Ineinanderspielens von apologetisch-ideologischen
Inhalten und solchen, die von sich aus zur Freisetzung individueller Autonomie in
einem befriedeten Ganzen tendieren, sind Adornos Analysen der paradigmatischen
moralphilosophischen Entwürfe gewidmet, die im Vorangehenden rekonstruiert
und untersucht wurden. Seine eigene Position gewinnt Adorno aber nicht in Ge-
stalt eines Gegenentwurfs, eines eigenen ethischen Systems, sondern vor allem in
Gestalt der Kritik dieser Entwürfe. Sie ist freilich nicht voraussetzungslos, sondern
von dem normativen Interesse geleitet, von dem die Rede war.
Aus ihm ergibt sich Adornos »Doppelstellung zur Moral«. In der Vorlesung Pro-
bleme der Moralphilosophie expliziert er sie so: »daß wir das moralisch Allgemeine
so weit zu akzeptieren haben, wie es auf der einen Seite durchsichtig ist in seiner
Beziehung auf die verwirklichte Menschheit […] und auf der anderen Seite durch-
sichtig ist in bezug auf die Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums, und
daß dagegen alle Moral, soweit sie unterdrückend und repressiv ist […], zur Kritik
steht.«766 Adorno hat hierbei keine säuberliche Trennung der emanzipatorischen

764 Vgl. dazu Günther Mensching, Totalität und Autonomie. Untersuchungen zur
philosophischen Gesellschaftstheorie des französischen Materialismus, a. a. O., 6.
Kapitel, S. 178 ff.
765 Vgl. Adorno, PM 1, 4. 12. 1956.
766 Adorno, PM 1, 6. 12. 1956
206 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

Lehrstücke von den repressiven im Sinn. Dass dergleichen nicht durchführbar wäre,
weiß er. Er trifft eine analytisch-konstruktive Unterscheidung, die dem dialekti-
schen Kern klassisch-moralphilosophischer Argumente gerecht werden will, denn
er ist davon überzeugt, dass ein jedes eben durch die dialektische Verschränkung
dieser zwei Seiten gekennzeichnet ist; dann jedenfalls, wenn es sich am Anspruch
authentischer Erkenntnis messen lässt. Diese dialektische Struktur ins Bewusstsein
zu rufen, heißt noch nicht, sie auflösen zu können. Aber erst im Bewusstsein der
Unmöglichkeit, der »Antinomie des Moralischen«767 zu entgehen, sieht Adorno
einen Weg zur kritischen Aneignung ihres Wahrheitsgehalts.
Sein Maßstab der Kritik an Moral und Moralphilosophie ist, sie an ihrem eige-
nen Anspruch zu messen; die Frage zu stellen, inwieweit sie ihrem Begriff gerecht
werden. Für die Antike bedeutet das, dass er der Problemstellung nachgeht, ob die
theoretische Vermittlung der entstehenden Individualität mit der Totalität der Polis
gelingt, bzw. warum sie nicht gelingen kann. Bei Kant wird zweierlei thematisiert:
das Ineinander von Freiheit und Repression unter Bedingungen neuzeitlicher
Verinnerlichung und die sozialphilosophische Perspektive universaler Autono-
mie, die in sich selbst gebrochen ist. In der Kritik am abstrakt Postulativen einer
hypostasierten Moralität folgt Adorno Hegel, um ihm wiederum die Hypostasis
einer nur vermeintlich substantiellen gesellschaftlichen Sittlichkeit vorzuhalten.
Und Nietzsches Kritik der idealistischen Abtrennung des Moralischen von seiner
herrschaftsgeschichtlichen Abstammung geht zentral in Adornos moralphiloso-
phische Reflexionen ein. Das hindert ihn jedoch nicht daran, den schwachen Punkt
von Nietzsches Moralgenealogie bloßzulegen: die Verrechnung des normativen
Geltungsanspruchs gegen die äußeren und inneren Gestehungskosten seiner Ge-
nesis, also, in Adornos Worten, die »abstrakte Negation der Moral«.
An keiner Stelle hat Adorno sein eigenes theoretisches Verhältnis zum Problem
der Moral so offen entfaltet wie am Ende der Vorlesung Probleme der Moralphi-
losophie von 1956/57. Es ist auch als klare Explikation des Verhältnisses der Kri-
tischen Theorie im Sinne Adornos zur Moralphilosophie interpretierbar. Darum
soll auf diese längere Passage ausführlich eingegangen werden. Moral, heißt es
dort, ist »ungeschieden« sowohl »Unterdrückung, Repression insofern, als sie den
Menschen positiv Freiheit zuspricht und sie für alles zur Verantwortung zieht«,
als auch, nämlich »als Kritik an dem, was die Menschen tun, Repräsentantin einer
kommenden Freiheit […]. Daraus folgt, daß die Moral selbst in sich widerspruchs-
voll ist insofern, als sie gleichzeitig immer Freiheit und Unterdrückung meint. Das
bestimmt nun aber auch die Haltung, die […] der Denkende anzunehmen hat: er

767 Adorno, PM 1, 4. 12. 1956


9.1 Die Problematik der Normen 207

muß sowohl für als [auch] gegen die Moral sein.«768 Adorno fügt erläuternd hinzu,
dass er nicht auf ein, die Widersprüche scheinbar ausgleichendes, »Sowohl-als-auch«
hinauswill, sondern »daß dieser Widerspruch vermittelt ist, daß er in der Moral
selber ausgetragen werden muß, daß er in der bestimmten Negation der Moral […]
zu finden ist. Demnach würde Kritik an der Moral nicht etwa heißen, daß man
freiweg eine sogenannte Gegenmoral vertritt. […] Es wird also bei einer wirklichen
Kritik der Moral, die gleichzeitig positiv insofern ist, als in ihrer Negation selbst
ein Hinweis auf das Bessere beschlossen ist, nicht dabei bleiben können, daß man
die Moral einfach verwirft, abschafft […], sondern daß man sie mit ihrem eigenen
Begriff konfrontiert, daß man die Frage aufwirft: ist die Moral moralisch, genügt
sie Prinzipien, die sie in sich selbst enthält.«769
Diese moralphilosophische Reflexion verzichtet darauf, ein eigenes neues
Moralprinzip aufzustellen. Sie macht sich die humanitären, egalitären und uni-
versalistischen Intentionen der Typen von Moralphilosophie zu eigen, an denen sie
sich abarbeitet. Das tut sie nicht im Sinne einer bloßen Beschwörung allgemein-hu-
manitärer Ideale, sondern auf dem Wege einer spezifischen, dialektisch-philoso-
phischen Aneignung. Dabei befindet sich Adorno sozusagen in einer doppelten
Frontstellung. Er will jene Intentionen vor dem Vergessenwerden ebenso retten,
wie er sie gegen ihre falsche Ausführung verteidigen will. Gleichzeitig soll gezeigt
werden, dass in ihnen selber bereits, vermöge ihres unvermeidlich antagonistischen
Charakters, der Grund dafür gelegt ist, dass sie sich gegen sich selber kehren. Der
kategorische Imperativ, das war Adornos These, ist beides: radikal gewordene
subjektiv-instrumentelle Rationalität und Vorgriff auf eine im objektiven Sinne
vernünftig gewordene, befriedete Menschheit. Diese Konstruktion ist bei Adorno
insofern stimmig, als er nicht von Moralphilosophie die Lösung realer Konflikte
erhofft. Getreu den Prämissen der frühen Kritischen Theorie geht er vielmehr davon
aus, dass nur durch gesellschaftliche Bewegung die ethischen Intuitionen in ihrer
Ambivalenz einmal so zum Austrag gebracht werden könnten, dass sie nicht mehr
bloß Reproduktion heteronomer Vergesellschaftungsverhältnisse wären, sondern
Gegenstände autonomer – und zwar individueller und kollektiver – Reflexion.
Wie verstellt diese Perspektive Adorno erscheint, wurde bereits diskutiert; dass er
sie gleichwohl nicht aufgibt, wurde ebenfalls erörtert und ist hier noch einmal in
seiner Bedeutung für die Konstruktion seiner Moralkritik in Erinnerung zu rufen.
Zwar hält Adorno die Chancen für eine Verwirklichung des Moralischen in der
»verwalteten Welt« für blockiert. Aber er zieht daraus nicht den Schluss, dass es
überhaupt keine Möglichkeit mehr gebe, die Gehalte zu retten, die in den morali-

768 Adorno, PM 1, 26. 2. 1957.


769 Ebd.
208 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

schen Intuitionen aufbewahrt sind. Statt dessen erfolgt eine vorsichtige Aufwertung
des Privaten. Es mag überraschen, wenn der oft als ›Negativist‹ gescholtene Adorno
vorschlägt, »in den engsten Beziehungen der Menschen so etwas wie Modelle ei-
nes richtigen Lebens zu erstellen«770. Mit den Modellen eines richtigen Lebens ist
aber nicht gemeint, dass es in den Nischen unserer Gesellschaft heile moralische
Welten geben würde, Privatsphären also, in denen sich gute Menschen bewähren
könnten und sollten. Adorno will keine »abstrakten Normen« aufrichten. Er erwägt
vielmehr folgende Perspektive: In Beziehungen zwischen Subjekten, die reflektiert
und immerhin doch partiell frei und selbstbestimmt gestaltet werden können,
müsste es möglich sein, wenigstens ein Stück weit auszubrechen aus dem Zwangs-
mechanismus des verabsolutierten Selbsterhaltungsinteresses, das nach wie vor
gesellschaftlich bestimmend ist. Das bedeutet: Sofern es irgend möglich ist, sollte
man so miteinander umgehen, »wie man dem eigenen Erfahrungsbereich nach
sich vorstellen könnte, daß das Leben von befreiten, friedlichen und miteinander
solidarischen Menschen beschaffen sein müßte.«771
Wie schon im Zusammenhang der moralphilosophischen Implikationen der
Individuationstheorie wirft Adornos moralphilosophisches Konzept auch hier
eine heikle Frage auf. Einerseits will er zeigen, wie blockiert Freiheit und Selbst-
bestimmung sind. Andererseits wird den Individuen zugemutet, sich zu verhalten,
als sei dies nicht der Fall. Doch das ist nicht ein Widerspruch von Adornos Kon-
zept, sondern ein moralisches Grundproblem schlechthin. Moral ist immer eine
Zumutung. Der Nachweis, dass richtiges Handeln gesellschaftlich blockiert ist,
erledigt ja keineswegs deterministisch den moralischen Anspruch. Er korrigiert
lediglich dessen idealistische Überschätzung. Das Konzept der Modelle eines
richtigen Lebens wird im Modus seiner eigenen Problematisierung vorgetragen. Es
soll nicht festes Dogma oder positive Norm sein; vielmehr ist es sich seines äußerst
prekären Charakters bewusst. Adornos Programm »eines stellvertretenden, fra-
gilen, fragwürdigen Lebens« weiß um die »Ohnmacht eines solchen Versuchs«772.
Er will kein neues Ideal verkünden, sondern bescheiden an die Möglichkeiten von
Humanität erinnern. Widerstand gegen den Autonomieverlust des einzelnen, ge-
gen das »objektive Ende der Humanität«773 können wir nur leisten, wenn wir uns

770 Adorno, PM 1, 29. 11. 1956.


771 Ebd.
772 Ebd.
773 Adorno, GS 4, S. 41.
9.1 Die Problematik der Normen 209

beständig bemühen, um die »letzten Möglichkeiten, humane Zellen im inhumanen


Allgemeinen zu bilden«774.
Adorno spricht dem Subjekt die Fähigkeit zur Gerechtigkeit und Solidarität
nicht ab. Sie werden bei ihm zu Verhaltensweisen aus dem Bereich der »politischen
Ethik«, die allerdings programmatisch bleibt: »was Moral heute vielleicht überhaupt
noch heißen darf«, sagt er in der späteren der Frankfurter moralphilosophischen
Vorlesungen, »das geht über an die Frage nach der Einrichtung der Welt – man
könnte sagen: die Frage nach dem richtigen Leben wäre die Frage nach der richtigen
Politik, wenn eine solche richtige Politik selber heute im Bereich des zu Verwirkli-
chenden gelegen wäre«775. Dass es bei diesen Andeutungen bleibt, mag drei Gründe
haben. Erstens handelt es sich bei dem Zitat um eine Randbemerkung, die über
den systematischen Kontext hinausweist, der in der Vorlesung behandelt wird.
Zweitens hat Adorno die Frage nach den konkreten praktischen Möglichkeiten
einer im unverkürzten Sinne rationalen Einrichtung der Gesellschaft in anderen
Zusammenhängen ausführlich reflektiert.776 Drittens muss darauf hingewiesen
werden, dass es Adorno im Zusammenhang der Überlegungen zur Idee eines »stell-
vertretenden Lebens« eben primär um das Problem der subjektiven Moralität, um
das Verhalten des einzelnen, geht. Damit bewegt er sich im Problemhorizont des
Brecht’schen Theaterstücks vom »guten Menschen von Sezuan«, das veranschau-
licht, wie in einer unvernünftigen, antagonistisch eingerichteten Gesellschaft die
subjektive Anständigkeit mit dem Untergang bestraft wird. Doch daraus wird kein
Aufruf zur subjektiven Unanständigkeit.
Die Denkfigur, die dem Programm eines »stellvertretenden Lebens« zugrunde
liegt, das im »falschen Leben« ebenso wenig ein »richtiges« ist wie irgendeine andere
Lebensform, aber doch wohl durchaus beanspruchen könnte, weniger falsch zu sein
– diese Denkfigur kann als die des Paradoxes bezeichnet werden. Das Paradox, nicht
moralisch handeln zu können, sich aber dem Postulat danach nicht entziehen zu
dürfen, wird jedoch nicht ontologisch dekretiert als conditio humana im falschen
Zustand. Dem Paradox liegt das Bedürfnis nach seiner Auflösung zugrunde, deren
der Denkende qua Denkender allein doch nicht mächtig ist. Dementsprechend
interpretiert Adorno seinen Satz, von dem das vorliegende Kapitel ausging, selber

774 Adorno, GS 4, S. 33. – Auch aus der Perspektive, die sich jetzt durch die Interpretation
dieser Passage erschlossen hat, ist Brunkhorst daher zuzustimmen, wenn er davon
spricht, dass Adorno »dem Subjekt […] einen moralischen Standpunkt jenseits bloßen
Selbstinteresses« zuspricht, aufgrund einer unaufgebbaren »Idee egalitärer Gerechtigkeit
und anamnetischer Solidarität« (Brunkhorst, Vom richtigen Leben im falschen, a. a. O.,
S. 167), an der er festhält, auch wenn sie in seinen Schriften nur negativ formuliert wird.
775 Adorno, PM 2, 25. 7. 1963 (Nachgelassene Schriften Bd. 10, S. 262).
776 Siehe oben, Kapitel 3.
210 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

als Ausdruck einer Verstrickung. »›Es gibt kein richtiges Leben im falschen‹ sagt
nichts anderes, als daß alle Versuche, inmitten [der] Realität der Forderung der
Gerechtigkeit nachzukommen, notwendig terminieren im Unrecht gegen einzelne
andere, oder im Unrecht, daß der einzelne gegen sich selber begeht.«777
Für diesen Sachverhalt steht bei Adorno das Theorem einer »Verstrickung in
den universalen Schuldzusammenhang«778. Damit ist aber selbstverständlich keine
durch die Erbsünde begründete moraltheologische Dogmatik einer vollendeten
Sündhaftigkeit des Lebendigen gemeint. Der »Schuldzusammenhang« ist nicht
gott- oder naturgegeben. Er ist von den Menschen selbst produziert, die ihm zugleich
ausgeliefert sind. Die religiöse Transzendenz des »Schuldzusammenhangs« erweist
sich als Projektion. Schuld laden wir uns und den nachfolgenden Generationen
auf, indem wir uns selbst um die eigenen Möglichkeiten betrügen, ein selbstbe-
stimmtes Leben zu führen. Schuldig werden wir gegenüber den Untergegangenen,
weil deren Leiden und Tod uns doch objektiv dazu verpflichtet, endlich Vernunft
in die Geschichte zu bringen. Insofern negiert Adorno nicht den Gedanken der
Transzendenz, aber er befreit ihn aus seiner theologischen Hülle. Paradox wie-
derum kann nach Adorno allein die Einsicht, dass sich Schuld und Unrecht stets
nur durch unser individuelles Handeln hindurch aufrechterhalten, helfen, diesen
Zustand zu ertragen und ihm erkennend gegenzusteuern. Auch auf dem Gebiet
der praktischen Philosophie geht es Adorno um ein konsequentes Bewusstsein
der Negativität (im Sinne eines bestehenden Nichtseinsollenden). Dass er in der
Negativität selbst ihr Anderes negierend aufzeigen zu können glaubt, gilt in diesem
Zusammenhang ebenfalls. Auch hier unterscheidet sich Adornos Position also
vom radikalen Negativismus durch die zwei Aspekte, die Theunissen für Adornos
Erkenntniskritik hervorgehoben hat: »daß er an der Möglichkeit eines Anderen
festhält und daß er diesem darüber hinaus auch Wirklichkeit zuspricht, und zwar
Wirklichkeit in der bestehenden Welt«779.
Diese Wirklichkeit kann nach Adornos Auffassung aber keineswegs verbürgt
werden mit Hilfe einer theoretischen, methodisch hieb- und stichfesten Absiche-
rung.780 Mehr als einen moralischen »Impuls« will er nicht angeben, wenn nach der
Instanz des »stellvertretenden« richtigen Handelns gefragt wird. In der Negativen
Dialektik heißt es dazu: »Moralische Fragen stellen sich bündig […] in Sätzen
wie: Es soll nicht gefoltert werden; es sollen keine Konzentrationslager sein […].

777 Adorno, PM 1, 6. 12. 1956.


778 Ebd.
779 Theunissen, Negativität bei Adorno, a. a. O., S. 50.
780 Das wird denn auch von Interpreten der Negativen Dialektik beklagt; vgl. Theunissen,
ebd., S. 50 ff.
9.1 Die Problematik der Normen 211

Bemächtigte aber ein Moralphilosoph sich jener Sätze und jubelte, nun hätte er
die Kritiker der Moral erwischt: auch sie zitierten die von Moralphilosophen mit
Behagen verkündeten Werte, so wäre der bündige Schluß falsch. Wahr sind die
Sätze als Impuls, wenn gemeldet wird, irgendwo sei gefoltert worden. Sie dürfen
sich nicht rationalisieren; als abstraktes Prinzip gerieten sie sogleich in die schlechte
Unendlichkeit von Ableitung und Gültigkeit.«781
Wie bereits im Kapitel über den Freiheitsbegriff gezeigt, wird hier kein ethischer
Irrationalismus propagiert.782 Moral ist für Adorno – ebenso wie für Horkheimer
und Schopenhauer – Impuls, kein Produkt von Rationalisierung. Aber es ist der
Rationalität deshalb nicht äußerlich, denn (das wird noch zu zeigen sein) das
Motiv des Impulses bezeichnet bei Adorno ein Zusammenspiel von rationaler
und somatisch-mimetischer Sphäre. Adorno unternimmt die Anstrengung, die
Grundlage von Moralität im Begriff der Humanität normativ auszuweisen. Aber
das zielt nicht auf die Verkündigung eines hypostasierten »Werts«. Das wäre für
Adorno ein Eingeständnis, dass der vermeintlich substantielle und gültige Wert
in Wahrheit längst bedeutungslos und nichtig geworden ist. Außerdem darf die
normative Grundlage von Humanität nicht jenem Ideal unterworfen werden, das
Adorno für fragwürdig hält: dem Ideal einer stringenten Deduzierbarkeit im Sinne
instrumenteller Rationalität und einem damit verbundenen Anspruch auf unbe-
dingte Gültigkeit, der gleichermaßen hybrid wie ohnmächtig ist. Damit würde es
gerade um seinen Geltungsanspruch gebracht werden. Der moralisch-normative
Impuls ist demzufolge schutzlos und nicht aus der Autorität einer verdinglichten
Vorstellung von Rationalität allein herzuleiten. Er ist das prekäre Produkt des
zivilisationsgeschichtlich errungenen Rationalitätsfortschritts, aber gebunden an
die Sphäre dessen, was in Adornos materialistischer Philosophie als Bereich des
Mimetischen und der auf leibhafter Erfahrung beruhenden humanen Solidarität
zu bezeichnen wäre.
Nach Adorno befinden sich moralischer Impuls und theoretisch-reflexives
Begreifen unmoralischer Zustände insofern in einem aporetischen Verhältnis, als

781 Adorno, GS 6, S. 281.


782 So der Vorwurf von Braun, der vom »Appell Adornos an die Wahrheit ethischer
Imperative« (Braun, Kritische Theorie versus Kritizismus. Zur Kant-Kritik Theodor
W. Adornos, a. a. O., S. 158) spricht, hinter dem sich nichts anderes verberge als eine
»Inthronisierung der Irrationalität«, die obendrein auch noch selbstwidersprüchlich sei,
weil sie »selbst Rationalität beansprucht« (ebd., S. 159). Adornos Kritik instrumentell
verkürzter Vernunft wird hier zu einem Plädoyer für die Irrationalität erklärt. Ähnlich,
und genauso wenig überzeugend, argumentiert Clemenz, der Adorno einen resignativen
»Dezisionismus des moralischen Urteils« (Clemenz, Theorie als Praxis, a. a. O., S. 191)
vorhält.
212 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

jede der beiden Reaktionsweisen für sich genommen ins Leere läuft. Erst im Zu-
sammenwirken des auf Veränderung drängenden Impulses und der theoretischen
Besinnung auf die Hindernisse, die seiner Umsetzung gebieterisch im Wege stehen
und eine moralisch geleitete Praxis des isolierten Individuums blockieren, sieht
Adorno die Chance von Moralität. Dieses Zusammenwirken der aporetischen Ele-
mente kann für ihn freilich solange nur die Gestalt eines reflektierten Widerspruchs
haben, wie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit »das partikulare Interesse und die
Menschheit auseinanderweisen«783. Das widersprüchliche Zusammenwirken von
›spontaner Regung‹ und ›theoretischem Bewußtsein‹ ist, so Adorno, »angesichts
der realen Ohnmacht aller Einzelnen, der Schauplatz von Moral heute.«784
Aus dieser Bestimmung des normativen Maßstabs kritischer Theorie könnte
eine kontextualistische Position herausgelesen werden. In der Tat hätte Adorno
darauf insistiert, dass moralische Wertungen, die von den historischen und ge-
sellschaftlichen Lebensgrundlagen der Menschen absehen, in ihrem Anspruch
auf unbedingte und überzeitliche Gültigkeit als ideologisch zu bezeichnen sind.
Aber der relativistische Verzicht auf den, nicht historistisch oder soziologisierend
aufzulösenden, kritischen Anspruch reflektierter Normativität – ein Verzicht also,
den Situationsethiken implizit postulieren – wäre für Adorno ebenso falsches
Bewusstsein. Grundlage situationsrelevanter Normativität, die im widersprüchli-
chen Ineinander von Impuls und Reflexion zum Zuge kommen soll, kann nur das
Interesse an der Abschaffung von Leiden sein, hinter das wir nicht zurückgehen
dürfen. Plakativ und verkürzt gesagt, ist die normative Basis der Adorno’schen
Moralphilosophie identisch mit dem Programm seines realen Humanismus.785 Sie

783 Adorno, GS 16, S. 19.


784 Adorno, GS 6, S. 282.
785 Dieser Begriff findet sich bei Adorno vor allem im Zusammenhang musiktheoretischer
Überlegungen; zuerst wohl 1930, wenn er von einer zukünftigen ästhetischen Praxis,
im Zustand einer befreiten Menschheit, als von einer »Kunst des realen Humanismus«
spricht (Adorno, GS 17, S. 139). Zuletzt wird der Begriff noch in der Berg-Monographie
verwendet (vgl. Adorno, GS 13, S. 332, wo »Wozzeck« als »das erste Modell einer Musik
des realen Humanismus« charakterisiert wird. (Vgl. zur Geschichte des Begriffs und
seiner Bedeutung für Adorno: Schmidt, Adorno – ein Philosoph des realen Humanismus,
a. a. O.) Während Adorno durchaus zustimmend »das Maß des Humanen« (Adorno,
GS 4, S. 28) als Grundlage seiner Kritik der Barbarisierung des modernen Lebens in
Anspruch nimmt, hat er gegen den neutralisierend affirmativ gebrauchten Begriff der
Humanität begründete Einwände (darauf weist auch Schmidt hin, vgl. a. a. O., S. 27). In
der späten Vorlesung heißt es dazu, dass er den Begriff »ungern« gebrauche, »denn er
gehört zu den Ausdrücken, die die wichtigsten Sachen, auf die es ankäme, dadurch, daß
sie ausgesprochen werden, dingfest machen und verfälschen.« (Adorno, PM 2, 25. 7. 1963;
Nachgelassene Schriften Bd. 10, S. 250 f.) Das wird mit der anschließenden ironischen
9.2 Der kategorische Imperativ nach Auschwitz 213

vertritt nicht affirmativ den Kontextualismus,786 sondern verfährt negativ, indem sie
den Anspruch kritisiert, aus theoretischen Moralprinzipien das ethische Handeln
der Individuen ableiten zu können. Anders könnte auch der folgende Satz nicht
verstanden werden: »Kritik an der Moral gilt der Übertragung von Konsequenzlogik
aufs Verhalten der Menschen; die stringente Konsequenzlogik wird dort Organon
von Unfreiheit.«787

9.2 Der kategorische Imperativ nach Auschwitz


9.2 Der kategorische Imperativ nach Auschwitz
Vor diesem Hintergrund ist auch die zweite zentrale moralphilosophische The-
matik zu interpretieren, die in der Negativen Dialektik formuliert wird. Sie bringt
die grundsätzliche normative Reflexion und die historische Situationsbezogenheit
ethischer Probleme zusammen (1). Dabei verbindet sie die Unverzichtbarkeit mo-
ralischer Grundsätze mit der Einsicht in die Unmöglichkeit, ein axiomatisches
Moralprinzip aufzustellen (2). Und sie enthält wesentliche Hinweise auf den Status,
den Adorno dem Problem der Begründung moralischer Sätze zuerkennt (3).
Es geht um seine Variante des kategorischen Imperativs: »Hitler hat den Menschen
im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr
Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts
Ähnliches geschehe. Dieser Imperativ ist so widerspenstig gegen seine Begründung
wie einst die Gegebenheit des Kantischen. Ihn diskursiv zu behandeln, wäre Frevel:
an ihm läßt leibhaft das Moment des Hinzutretenden am Sittlichen sich fühlen.«788

Bemerkung (genau in dem Sinne, wie Schmidt, a. a. O., S. 27, vermutet) versehen: »Ich
habe den Begründern der humanistischen Union, als sie mich aufgefordert haben,
einzutreten, gesagt: ›Ich würde, wenn ihr Club eine inhumane Union hieße, vielleicht
bereit sein einzutreten, aber in eine, die sich selbst humanistisch nennt, könnte ich nicht
eintreten.‹« (Adorno, PM 2, 25. 7. 1963; Nachgelassene Schriften Bd. 10, S. 251) Worum
es Adorno geht, ist die Position einer »in sich reflektierten Humanität«, die ebenso »ein
Moment von Unbeirrbarkeit« enthalten muss, wie auch »Selbstkritik« und »vor allem
das Bewußtsein der eigenen Fehlbarkeit«. (Ebd.) – Vgl. zum Begriff der Fehlbarkeit
Günther, Dialektik der Aufklärung im Begriff der Freiheit, a. a. O., S. 253 ff.
786 Vgl. zur Abgrenzung von einer kontextualistischen Interpretation der Kritischen Theorie
auch Günther, a. a. O., S. 234.
787 Adorno, GS 6, S. 281.
788 Ebd., S. 358.
214 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

(1) Die Vermittlung eines normativen Fundaments mit dem Element der Histori-
zität kommt hier darin zum Ausdruck, dass ein neues Gesetz der Moral formuliert
wird, das im Gegensatz zu seiner Gestalt bei Kant an eine singuläre, historische
und soziale, Konstellation gebunden ist. Das hat zur Folge, dass ein kategorischer
Imperativ, bei Kant Ausdruck von Freiheit und moralischer Autonomie, den
Menschen »aufgezwungen« wird, ohne sich doch dadurch, also durch seinen
heteronomen Charakter, selbst ad absurdum zu führen. Kants Formulierung des
kategorischen Imperativs, so Claussen, »setzt Autonomie unter Abstraktion von
allen geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen. Kants Satz lokalisiert sich am
Übergang von der Vorgeschichte zur menschlichen Geschichte, die […] für Kant nur
auf der Grundlage einer bürgerlichen Gesellschaft denkbar ist. Adorno formuliert
den kategorischen Imperativ nach dem Ende der bürgerlichen Entwicklung, die zu
einer weltgeschichtlichen Katastrophe geführt hat.«789 Die begründete bürgerliche
Zuversicht, Autonomie als Vergesellschaftungsprinzip freier Individuen realisieren
zu können, ist dem Bewusstsein gewichen, dass es heute nur noch darum gehen
kann, die umfassende Fremdbestimmtheit der Menschen durch ihr antagonisti-
sches gesellschaftliches Verhältnis so weit zu bekämpfen, wie es irgend möglich
ist. Der kategorische, bedingungslos gebietende und nur um seiner selbst willen
bestehende Geltungsanspruch des kategorischen Imperativs soll bei Kant durch
seine Formalität gewährleistet sein. Bei Adorno kommt er dadurch zustande, dass
seine Formulierung verbunden ist mit der geschichtlichen Erfahrung und dem
Interesse an der Abschaffung von Leiden. »Nur im ungeschminkt materialistischen
Motiv überlebt Moral.«790
(2) Damit ist auch schon darauf verwiesen, aus welchen Gründen Adorno sich
weigert, ein affirmatives Moralprinzip aufzustellen. Jede positiv formulierte ethische
Maxime, gleich ob sie inhaltlich auf gutes Leben oder formal auf richtiges Handeln
bezogen ist, prallt von der katastrophalen geschichtlichen Wirklichkeit ab, die sich
in Auschwitz manifestiert hat. Adorno geht, gemäß den Überlegungen, die eingangs
diskutiert wurden, davon aus, dass wir nicht sagen können, was sein soll, sondern
nur noch, was nicht sein darf.791 Ex negativo formuliert, kann normativ-kritischen

789 Claussen, Nach Auschwitz, a. a. O., S. 57.


790 Adorno, GS 6, S. 358.
791 Darum ist auch die aus dem Bereich der Erziehungswissenschaft vorgebrachte
Lesart problematisch, die in Adornos neuem kategorischen Imperativ »ein positives
Prinzip formuliert« sieht (Jürgen Oelkers, Rezension: Andreas Gruschka, Negative
Pädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik, Heft 2/1990, S. 279 ff.). Es mag zwar aus
der Sicht erziehungswissenschaftlicher und erziehungspraktischer Erfordernisse
vielversprechend erscheinen, die Negative Dialektik als Grundlage einer positiven Ethik
zu interpretieren: »Daraus entsteht freilich Ethik, nicht etwa nur Kritik« (Oelkers, ebd.).
9.2 Der kategorische Imperativ nach Auschwitz 215

Sätzen aber gleichwohl ein emphatischer Geltungsanspruch zukommen, der


allerdings kein »unbedingter« ist. Er ist bedingt durch den Zustand der Realität,
die, im moralischen Sinne, zu verändern wäre – und im Interesse an einer solchen
Veränderung, hinter das wir nicht zurückgehen können. Dieses Interesse ist also
nicht noch einmal aus etwas anderem ableitbar.
(3) Kritische Theorie nimmt hier ein selbstevidentes, am Begriff der herzustel-
lenden befriedeten Menschheit orientiertes Motiv materialistischer Moralphiloso-
phie in Anspruch.792 Adornos emphatische Zurückweisung der Frage nach einer
diskursiven Begründbarkeit des kategorischen Imperativs fußt auf keiner Wert-
oder Güterethik, sondern vielmehr auf der Anstrengung, die Aporetik ethischer

Aber es trifft Adornos Intentionen nicht. Denn hier wird der Sachverhalt außer Acht
gelassen, dass Adornos Satz nicht mehr als eine negative Zielbestimmung enthält. – Eine
Adorno ähnelnde Umkehrung, die Fokussierung des Nichtseindürfenden anstelle des
Seinsollenden, nimmt auch Günther Anders vor.
792 Ähnliches hat übrigens Günther Anders geltend gemacht. Der Unterschied zu Adornos
Motiv ist freilich der ausdrückliche Rekurs auf den unverzichtbaren Wert der Erhaltung
der Welt und der Menschengattung angesichts ihrer drohenden Selbstvernichtung. Auch
für Anders entzieht sich die moralische Notwendigkeit, die Vernichtung zu verhindern,
einer moralphilosophischen Begründbarkeit. Die »moralische Erforderlichkeit von
Welt und Mensch ist selbst moralisch nicht mehr begründbar.« (Günther Anders,
Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I, München 1987, S. 323 [im Original kursiv].)
Anders befindet sich in diesem Punkt in Übereinstimmung mit der Auffassung
von Ethik in der analytischen Philosophie. Gegen den Anspruch auf eine ethische
Letztbegründung argumentiert er, dass die »Frage […], welchen Sinn es haben solle, daß
es eine Menschheit gebe und nicht vielmehr keine, […] für die ›praktische Vernunft‹
[…] uninteressant« ist. »Den Moralisten geht sie nichts an. Er begnügt sich mit dem
Vorletzten. Und er kann von Glück sagen, wenn er für die vorletzte Stufe etwas
ausrichtet.« (Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. II, München
1987, S. 390; im Original teilweise kursiv). Hält Adorno angesichts von Auschwitz die
geschlossenen Begründungszusammenhänge traditioneller Ethiken für ohnmächtig,
so erscheinen sie Anders angesichts der atomaren Selbstvernichtungsdrohung eitel und
überflüssig. Anders, der ebenso wie Adorno diejenige Formulierung des kategorischen
Imperativs bei Kant, die die universale instrumentelle Reduktion des Menschen der
Kritik unterzieht, als progressives und befreiendes Versprechen der bürgerlichen
Philosophie liest (ebd., S. 25), ist allerdings, wie Brumlik ausführt, »letzten Endes einer
Güterethik verpflichtet […], die das Fortleben der Menschheit unter allen Umständen
als höchstes Gut ansetzt« (Micha Brumlik, Günther Anders. Zur Existentialontologie
der Emigration, in: Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, a. a. O., S. 147). Anders’
Geschichtsphilosophie impliziert laut Brumlik eine negativ formulierte Güterethik:
»Das höchste Gut besteht nunmehr darin, daß das größte Übel, die Vernichtung, nicht
eintreten wird.« (S. 138.) Brumliks These, die Philosophie von Günther Anders ließe
sich als eine »naturalisierte Existentialontologie« (S. 113) bezeichnen, ist freilich strittig,
und der Irrationalismus-Vorwurf (S. 141) geht m. E. ganz daneben.
216 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

Prinzipienphilosophie aufzuweisen und negativ-materialistisch zu transzendieren.


Dabei ist allerdings die Frage nach dem Begriff von Begründung zu stellen, den
Adorno seinen Ausführungen implizit zugrunde zu legen scheint. Seine Kritik des
diskursiven Begründungsanspruchs muss sich, wenn sie stichhaltig sein soll, von
moralischem Irrationalismus und Intuitionismus abgrenzen lassen.
Tatsächlich weigert sich Adorno, seinen moralischen Imperativ an Kriterien
diskursiver, das heißt argumentativer, Begründbarkeit zu messen. Anscheinend
tut er das nicht, weil er glaubt, für ihn ließen sich keine rationalen Gründe be-
nennen. Eher soll gesagt werden, dass die Anforderung logisch unanfechtbarer
Begründbarkeit, ohne die ein moralischer Imperativ keine Geltung beanspruchen
könne, dem Gehalt des Adorno’schen Satzes und seiner Erfahrungsgrundlage
Hohn spräche, also selber moralisch unhaltbar wäre. Daher erscheint Adorno der
Begründungsanspruch als »Frevel«. Das bedeutet: Eine diskursive Begründung
wäre möglich; aber angesichts der offen zutage liegenden Unsäglichkeit des von
Menschen produzierten Leidens wäre es vermessen, zu verlangen, dass wir die
Forderung nach seiner Abschaffung erst eigens mit diskursiver Kunst legitimieren
müssten. Berufungsinstanz ist für Adorno »das Moment des Hinzutretenden am
Sittlichen«, das hier eine doppelte Bedeutung hat: Es steht, wenn es als das zum
Begriff und zur Maxime Hinzukommende verstanden wird, für das »Leibhafte«,
hier also für die »Unmittelbarkeit« gequälter und gemordeter Individuen; und es
steht für das moralische Motiv des Widerstands, das als solches nicht theoretisch
deduziert und erzeugt werden kann, sondern praktisch hinzutreten muss. Aus dieser
Überlegung folgt, dass theoretisches Begründen allein nicht zureicht, um Adornos
neuen kategorischen Imperativ zu fundieren, aber es folgt daraus nicht, dass er
grundsätzlich mit theoretischer Begründung unverträglich wäre oder gar dadurch
geschwächt oder verfälscht würde. Im Gegenteil lassen sich sehr wohl gute Gründe
für diesen Imperativ formulieren, was Adorno ja schließlich auch selbst tut; ebenso,
wie Marx seinen (bereits erwähnten) anthropologisch-emanzipationstheoretischen
»kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen
der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches
Wesen ist«793, plausibel ökonomiekritisch begründen konnte.
Wenn Adorno nun seinen Imperativ als »ebenso widerspenstig gegen seine
Begründung wie einst die Gegebenheit des Kantischen« bezeichnet, spielt er auf
die Zirkularität an, mit der bei Kant das zu begründende Sittengesetz als Grund
seiner selbst gesetzt ist. Hier ist daran zu erinnern, dass für Adorno die Aporetik
der Annahme des Sittengesetzes als »Faktum der Vernunft« eine objektive ist.794 Sie

793 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, a. a. O., S. 385.
794 Siehe oben, Kapitel 4.
9.2 Der kategorische Imperativ nach Auschwitz 217

legt Zeugnis ab von der Vergeblichkeit des Versuchs, eine logisch widerspruchsfreie
Grundlegung von Moralität inmitten einer antagonistischen Wirklichkeit geben
zu wollen. Analog setzt der Imperativ, eine Wiederholung von Auschwitz zu ver-
hindern, die Gültigkeit des in ihm aufbewahrten normativ-kritischen Maßstabs
bereits voraus. Doch es bleibt fraglich, wieso sich Adornos Imperativ eigentlich
dem Begründen überhaupt entziehen soll.
Adorno scheint sich in diesem Zusammenhang wieder der These aus der Di-
alektik der Aufklärung anzunähern, die von instrumenteller Vernunft behauptet,
diese könne kein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorbringen.795 Doch
erstens ist die These nicht ganz triftig, denn auch aus der Perspektive instrumen-
teller Rationalität lassen sich Argumente vorbringen, die den Mord im Hinblick
auf universalisierbare Nützlichkeitskriterien ablehnen, womit also auch ein grund-
sätzlicher Anspruch verbunden wäre. Zweitens ist die, aus der Sicht dieser These
zu unterstellende, Identifizierung von diskursivem Begründungsanspruch und
instrumentell verkürzter Rationalität problematisch. Wenn man jeden Versuch,
den moralisch inspirierten negativen kategorischen Imperativ zu begründen, als
instrumentelle Reduktion seines Erfahrungsgehalts bezeichnete, würde man das
Kind mit dem Bade ausschütten. Denn auch die Kritik am subsumtionslogischen
Deduktionsverfahren, die in der Tat, angesichts der Existenz von Konzentrati-
onslagern, als unanfechtbar abgesicherte Grundlage von Ethik ihre Ohnmacht
erweist, steht ja immer in einem entfalteten Begründungszusammenhang, ohne
den Theorie nicht zu denken ist.
Aber auch wenn Adornos Zurückweisung diskursiver Begründung lediglich
darauf beruht, dass er von der unabweisbaren Evidenz einer normativen Deutung
bestimmter Situationen ausgeht – und von der Evokation des bei Horkheimer aus
der angelsächsischen Philosophie übernommenen »moralischen Gefühls«, die sie
hervorrufen –, selbst dann bleibt, wie gesagt, ungeklärt, was daran der Begrün-
dungsfähigkeit (in einem nicht-instrumentellen Sinn) geradezu zuwiderlaufen
solle. Am ehesten plausibel erscheint die Interpretation, dass Adorno unterstellt,
»Begründung« werde in der selbstgenügsam betriebenen Moralphilosophie796
verstanden im Sinne von »Grundlegung«, womit ein intellektueller Erkenntnis-
grund in einen Realgrund umgefälscht würde. Dann würde sich seine Kritik gegen
idealistische Auffassungen richten, die meinen, mit einem Moralprinzip zugleich
die Grundlage und hinreichende Bedingung für moralisches Handeln zu besitzen
und sich in dieser Hinsicht einer metabasis eis allo genos schuldig machen. Gegen
diese Interpretation ließe sich dann allenfalls noch einwenden, dass wir unter »Be-

795 Vgl. Adorno, GS 3, S. 140; siehe oben, Kapitel 4.


796 Vgl. Adorno, GS 6, S. 281.
218 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

gründen« gewöhnlich nicht »Erzeugen« verstehen, sondern »Legitimieren«. Hier


könnte dann noch einmal an Adornos einleuchtendes Argument erinnert werden,
dass eine Legitimierung des moralischen Einspruchs gegen Leid, Unterdrückung
und Vernichtung von Menschen nicht nur überflüssig wäre, sondern schon falsch.
Denn sie erachtete die Verhältnisse und ihre Exponenten, die das Abzuschaffen-
de verursachen, einer abwägenden, unparteilichen Diskussion für würdig. Und
darin ist Adorno zuzustimmen: Was sich in ethischen Abhandlungen trefflich zu
kunstgerechten und brillanten Widerlegungen ethischer Skeptiker eignet, wird
angesichts des realen Grauens und seiner Opfer harmlos.
Betrachtet man die Problematik, die mit Adornos Begriff der Begründung ver-
bunden ist, im Zusammenhang mit den Intentionen des Begründungsdiskurses in
der gegenwärtigen praktischen Philosophie, dann wird vielleicht noch deutlicher,
worauf es Adorno vermutlich ankommt. Ethische Begründungsfragen beziehen
sich auf die Begründung von Moralprinzipien. »Die Frage nach dem Grund«, so
Steinvorth, »kann in der Ethik in zweifacher Weise verstanden werden. Ein morali-
sches Urteil läßt sich begründen durch Anführung eines Moralprinzips; in dem Fall
bezieht sich die Begründung auf eine bestimmte Handlung oder Handlungsweise.
Es läßt sich aber auch begründen durch Anführung eines Grundes dafür, ein Mo-
ralprinzip anzuerkennen; in dem Fall bezieht sich die Begründung nicht auf eine
bestimmte Handlungsweise, sondern auf die Moral überhaupt: darauf, daß man
überhaupt bereit ist, moralisch zu handeln.«797 Allein der letzte Fall, also die Frage
nach der Begründung der Verbindlichkeit eines Moralprinzips, ist Gegenstand der
ethischen Begründungsproblematik. Der analytischen Philosophie zufolge ist es
logisch unzulässig, wenn man als Grund für die Verbindlichkeit eines Moralprin-
zips wiederum einen moralischen Grund angibt. Daraus wurde aber mitunter der
unzulässige Schluss gezogen, dass es gar keine Begründungsmöglichkeit gebe.798
Dagegen stellen neoaristotelische Ethiken Moralprinzipien auf die Grundlage einer
güterorientierten praktischen Urteilskraft, und kantianisierende deontologische
Ethiken – wie die Diskursethik – leiten die Verbindlichkeit ihrer Moralprinzipien
aus formal-universalistischen Verallgemeinerungsregeln her.799
Adorno möchte aber kein Moralprinzip aufstellen und dieses in seiner Verbind-
lichkeit begründen. Im Zentrum von Adornos Moralphilosophie steht ein negativ
formulierter kategorischer Imperativ. Negativ formuliert heißt, dass gesagt wird,
was zu unterbleiben habe: Es wird gesagt, was nicht sein soll. Es wird auch nicht
positiv gesagt, wie das Nichtseinsollende zu verhindern ist. Seine Evidenz bezieht

797 Steinvorth, Klassische und moderne Ethik, a. a. O., S. 50.


798 Vgl. ebd., S. 46 f.
799 Siehe dazu ebd., S. 45–61.
9.2 Der kategorische Imperativ nach Auschwitz 219

dieser Imperativ aus historischer Erfahrung. Er kann systematisch keine andere


Berufungsinstanz in Anspruch nehmen als den moralischen Impuls. Dieser wird
seinerseits expliziert im Kontext einer materialistischen Theorie der Erfahrung von
Leiden, welches sich spontan umsetzt und reflektiert. Sie bildet, zusammen mit der
Solidarität des »moralischen Gefühls« und dem theoriegeleiteten Interesse an der
Idee einer nicht-affirmativ formulierten Utopie der Abschaffung gesellschaftlichen
Leidens, den normativen Kern von Adornos Philosophie.
Die Frontstellung gegen prinzipienphilosophische Ansätze wird bei Adorno
klar herausgearbeitet. Gleichwohl wird die Zurückweisung des Begründungsan-
spruchs nicht uneingeschränkt plausibel. Denn die Frage bleibt offen, wieso jede
diskursive Begründung stets auf die »schlechte Unendlichkeit« von »Ableitung und
Gültigkeit«800 hinauslaufen müsse und a priori zur Rationalisierung801 in Gestalt
von ethischer Prinzipienphilosophie werde. Die Frage ist, ob mit dem Anspruch
auf Begründbarkeit auch der auf Universalisierung zurückgewiesen werden soll,
denn wenn ein moralischer Satz sich seiner theoretischen Begründung entzieht,
dann kann schwerlich seine normative Verbindlichkeit für alle behauptet werden.
Das aber widerstritte Adornos unmissverständlich akzentuierter Intention, Kritik
der Moralphilosophie aus Interesse am richtigen Leben zu betreiben – das heißt,
theoretisch dazu beizutragen, dass der Begriff einer befreiten Menschheit aus
selbstbestimmten Individuen sich nicht im gleichen Maße verflüchtigt, wie die
Chancen für konkrete Praxis in diesem Sinne zu verschwinden drohen. Doch diese
Unklarheit muss nicht als strukturelle Aporie bezeichnet werden. Wie dargelegt
wurde, ist es sehr wohl möglich, die untersuchten Passagen auf dem Wege einer
rational-argumentativen Rekonstruktion mit Adornos durchgängigen normativen
Intentionen zu verbinden. Adornos Position setzt nicht auf begriffslose moralische
Intuitionen; und sie kann klar von irrationalistischen Moralbegründungen abge-
grenzt werden, die auf begriffslosen Evidenzen oder auf Autoritäten fußen. – Auf
einen weiteren, vermutlich entscheidenden Aspekt des Themas einer Begründung
des Moralischen wird am Schluss dieses Kapitels noch einzugehen sein: Dort wird
es um die These gehen, dass Adornos Konzept auf eine Artikulation moralischer
Erfahrung hinausläuft.

800 Adorno, GS 6, S. 281.


801 Vgl. ebd.
220 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

9.3 Widerstand, Glück


9.3 Widerstand, Glück
Negative Moralphilosophie dispensiert nicht von der Verpflichtung, die Dialektik
zwischen moralischem Impuls und kritischer Reflexion auszutragen. Moral wird,
ebenso wie Moralphilosophie, nicht abstrakt negiert. An der Idee einer – freilich
nicht-affirmativ formulierten – normativen Verbindlichkeit wird festgehalten.802
Adornos Konzept des moralischen Widerstands steht im Zusammenhang mit der
Vorstellung eines prekären »stellvertretenden Lebens«. »Man sollte«, heißt es in der
Vorlesung Probleme der Moralphilosophie von 1956/57, »soweit es nur irgend möglich
ist, so leben, wie man in einer befreiten Welt glaubt leben zu sollen, gleichsam durch
die Form der eigenen Existenz, mit all den unvermeidbaren Widersprüchen und
Konflikten, die das nach sich zieht, versuchen, die Existenzform vorwegzunehmen,
die die eigentlich richtige wäre. Dieses Bestreben ist notwendig zum Scheitern
und zum Widerspruch verurteilt, aber es bleibt nichts anderes übrig, als diesen
Widerspruch bis zum bitteren Ende durchzumachen. Die wichtigste Form, die das
heute hat, ist der Widerstand«803.
Diese Konzeption steht dem existentialistischen Gedanken einer freien Setzung
des eigenen existierenden Selbst nur scheinbar nahe. Denn im Gegensatz dazu betont
Adorno, dass sie sich eben nicht ungebrochen durchführen lässt. Der Begriff des
Widerspruchs verweist darauf, dass es sich um eine negativ formulierte Konzeption
handelt. Der reflektierte Widerspruch zwischen Vernunft und Praxis wird, indivi-
duell wie gesellschaftlich, konkret nur als Widerstand. Darunter versteht Adorno
zunächst im allgemeinen Sinne die Weigerung, dem konformistischen Imperativ des
Mitmachens zu folgen, der als charakteristisch für einen Gesellschaftszustand gilt,
der in der Terminologie der späten Kritischen Theorie »verwaltete Welt« heißt. 804

802 Micha Brumlik meint, dass für Adorno (ebenso wie für Horkheimer) »das Aufstellen
moralischer Forderungen selbst bereits eine Konzession an unmenschliche Zustände
bedeutet hätte« (Brumlik, Günther Anders. Zur Existentialontologie der Emigration,
a. a. O., S. 144 f.) Der zweite Exkurs der Dialektik der Aufklärung legt eine solche Deutung
nahe, aber nicht der »neue kategorische Imperativ« von Adorno. So unmenschlich
abstraktes Moralisieren für Adorno gewesen wäre, so unvermeidlich ist es zugleich, dass
die Forderung nach Abschaffung unmenschlicher Zustände auch als eine moralische
Forderung auftritt. Adorno predigt keine Moral und stellt keine Tugendlehre auf. Das
würde ja voraussetzen, dass Menschen hier und jetzt im emphatischen Sinne moralisch
handeln können. Und auf der anderen Seite wird das Problem gesellschaftlicher
Veränderung nicht zurückgestuft zu einem bloß moralischen Problem. (Dies wollten
die Vertreter der in der Einleitung erwähnten, orthodox marxistischen Position einer
anti-moralphilosophischen Gesellschaftskritik – nicht zu Unrecht – verhindern.)
803 Adorno, PM 1, 28. 2. 1957.
804 Ähnlich Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. II, a. a. O., S. 139 ff.
9.3 Widerstand, Glück 221

Nicht mitmachen heißt für Adorno aber nicht Selbstaufgabe. Denn wann immer
Widerstand im nachdrücklichen Sinne nicht möglich ist »und wir auf unsere eigene
Schwachheit und die Übermacht der Verhältnisse Rücksicht nehmen müssen, sollten
wir wenigstens versuchen, dort, wo wir mitmachen müssen, nicht ganz mitzuma-
chen und es ein bißchen anders tun als die, die es von ganzem Herzen betreiben.« 805
Zwischen den polaren »klassischen« Postulaten der Selbsterhaltung und des rigo-
ristischen, opferfreudigen Altruismus siedelt Adorno den moralischen Widerstand
des vergesellschafteten Individuums an. Sein Spektrum reicht vom Mentalreservat
bis zur widerständigen Handlung. Auch wenn Adorno darauf nicht eingeht, ist
doch der Bezug deutlich auf die naturrechtliche Lehre vom erlaubten Widerstand
gegen tyrannische Staatsgewalt, die Kant ablehnt, weil der »Widerstand des Volks«
gegen den Souverän nur als gesetzlich sanktionierter rechtens sein könne, was
aber selbstwidersprüchlich wäre und daher undenkbar sei.806 Aus der Perspektive
des rationalen Naturrechts und des kategorischen Imperativs erklärt Kants Schü-
ler Erhard dagegen, nachdem er die »moralische Möglichkeit einer Revolution«
dargetan hat, deren politische Möglichkeit folgendermaßen: »eine Revolution
ist rechtmäßig, wenn durch sie eine offenbare Beleidigung der Menschenrechte
aufgehoben werden soll.«807
Adorno diskutiert den Widerstandsbegriff freilich nicht im rechtsphilosophischen
Kontext, sondern zieht ihn im Hinblick auf seine Relevanz für die Moralphilosophie
heran. Er verweist auf den Widerstand gegen das Naziregime, der Statthalter der
Moralität in einer Zeit gewesen sei, die nachhaltig den unmoralischen Konformis-
mus der Täter und Mitläufer zur moralischen Norm verkehrt hat. Das manifestiere
sich spiegelverkehrt noch in der späteren Diffamierung des antifaschistischen
Widerstands, der als Verrat bezeichnet wurde.808 Adorno zufolge ist die Situation
der »Männer vom 20. Juli« »der Schauplatz der moralischen Dialektik heute« 809.
Das »irrationale Moment des moralischen Handelns« – also in Adornos Sinne:
das impulsiv-moralische Moment – sei demzufolge das Nicht-anders-Können
gewesen, die Notwendigkeit des Widerstands, auch gegen das eigene Interesse an
der Selbsterhaltung und ohne Rücksicht auf die Folgen für andere.

805 Adorno, PM 1, 28. 2. 1957.


806 Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, a. a. O., B 203 ff.
807 Johann Benjamin Erhard, Über das Recht des Volks zu einer Revolution, in: ders., Über
das Recht des Volks zu einer Revolution und andere Schriften, hrsg. v. H. G. Haasis,
Frankfurt/M. 1976, S. 52. – Siehe zum Widerstandsgedanken im Naturrecht Bloch,
Naturrecht und menschliche Würde, a. a. O., S. 47 ff.
808 Vgl. Adorno, PM 1, 15. 11. 1956.
809 Adorno, PM 2, 7. 5. 1963 (Nachgelassene Schriften Bd. 10, S. 20).
222 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

Dass »die Kraft des Moralischen, der Gedanke der Menschheit heute über-
gegangen ist an den Widerstand«810, macht Adorno am «positive[n] Aspekt des
Widerstands« fest, der »die eigentliche Substanz des Moralischen«811 sei. Dieser
Aspekt ist ihm zufolge in Kants Autonomiebegriff angelegt. Nach Kant können die
heteronomen Faktoren konventionelle Sittlichkeit, Religion oder Eudaimonie nicht
Grundlage der Moral sein, sondern ausschließlich die aus vernünftiger Selbstbestim-
mung resultierende Selbstgesetzgebung des Subjekts im Blick auf das allgemeine
Gesetz. Kants Bestimmung der Moralität weist also ein antikonventionelles Moment
auf. Darin sieht Adorno eine potentielle Quelle des Widerstands. Denn der stellt
sich, im Namen eines vernünftigen Allgemeinen, dem falschen gesellschaftlichen
Allgemeinen entgegen, welches von Normen verkörpert wird, die nicht aufgrund
ihrer objektiven Vernünftigkeit, sondern bloß kraft ihrer Faktizität in Geltung sind.
Diese gleichsam subkutane Tendenz zum Widerstand im Gedanken subjektiver
Autonomie, in der Freiheit und moralische Pflicht zusammenkommen, hebt Adorno
an Kant sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht hervor. Seine
Ausführungen hierzu können als Ergänzung seiner Interpretation der Ambivalenz
von befreienden und repressiven Zügen von Kants »bürgerlicher« Moralphiloso-
phie gelesen werden. »Frei bin ich nur insofern, wie ich vernunftgemäß handle,
und da diese Gesetzmäßigkeit der eigenen Vernunft bei Kant zusammenfällt mit
dem Begriff der Pflicht, so ergibt sich als der Kern dieser Anschauung die These,
dass die Freiheit und die Pflicht eigentlich miteinander koinzidieren. Das ist die
Grundkonzeption der Kantischen Moralphilosophie. Das Moment des Widerstands
ist hier insofern mitgesetzt, als alle konventionellen Momente, das, was nicht im
strengen Sinn vom Subjekt selbst bestimmt wird, als Rechtsgrund des Sittlichen von
Kant ausgeschlossen wird. Sich selbst das Gesetz geben, heißt, das Gesetz nicht von
der äußeren Realität empfangen, sondern es im Widerstand dagegen überwinden.
[…] Daß bei Kant im Begriff der Autonomie der Gedanke des Widerstands bereits
mitgedacht ist, bedarf insofern einer Einschränkung, als bei ihm der Gedanke der
Autonomie mit dem der Allgemeinheit unproblematisch zusammenfällt. Es ist ihm
noch nicht beigekommen, daß die Vernunft, die zum richtigen Verhalten bringt,
im Gegensatz stehen könnte nicht nur zu den Institutionen, sondern auch zu all
dem, was allgemein überhaupt für vernünftig gehalten wird, und daß dadurch
gerade die Allgemeinheit, um die es ihm geht, in der hoffnungslosen Vereinzelung
kann aufbewahrt werden. Kant ist eben darin der Repräsentant des Bürgertums,
der […] sich noch dessen versichert weiß, daß die […] Interessen der Klassen
mit den Interessen der Einzelnen harmonieren. Erst nachdem diese Gleichheit

810 Adorno, PM 1, 15. 11. 1956.


811 Adorno, PM 1, 20. 11. 1956.
9.3 Widerstand, Glück 223

erschüttert wurde, ist das Problem des Widerstands in der prägnanten Form, in
der wir es heute damit zu tun haben, gestellt worden.«812 Diese ideologiekritische
Deutung zeigt, dass die Einschränkung der Möglichkeit, an Kant anzuknüpfen,
nicht zur Erledigung des Kant’schen Gedankens führt. Im Gegenteil: Bei Kant, so
lassen sich Adornos Ausführungen interpretieren, ist zwar die Reflexion auf das
Auseinandertreten des allgemeinen und des besonderen Interesses in der bis heute
andauernden Form der Vergesellschaftung noch nicht angelegt – sehr wohl aber
das begriffliche Rüstzeug, mit dem es möglich wird, den Widerstreit zu erkennen
und einer Kritik zu unterziehen, die auch moralisch begründet ist.
Der emphatische Begriff des Widerstands konkretisiert zudem die negative
Bestimmung der Freiheit qua Kritik ihrer Negation in den bestehenden gesell-
schaftlichen Verhältnissen. »Konkret wird Freiheit an den wechselnden Gestalten
der Repression: im Widerstand gegen diese.«813 Auch die Fähigkeit zur Liebe für
Adorno an die Kraft zum Widerstand gebunden. Im deformierten gesellschaftlichen
Ganzen könne zwar in der Liebe zweier Menschen objektiv die Möglichkeit eines
besseren Lebens repräsentiert werden. Aber diese Möglichkeit könne nicht »als
friedliche Enklave, sondern nur im bewußten Widerstand« 814 realisiert werden.
Das heißt: Sie kann nur realisiert werden in der bewussten Intention, sich den
universell unser Leben bestimmenden instrumentellen Kriterien der Fungibilität
zu entziehen, die der Produktions- wie der Zirkulationssphäre entstammen.
Die Fähigkeit zum Widerstand ist Adorno zufolge die Bedingung für die Fä-
higkeit, die Glücksmöglichkeiten zu realisieren, die im »beschädigten Leben« dem
Individuum, gleichsam als Statthalter unverkürzten Glücks, noch verbleiben. Glück,
im nachdrücklichen Sinne von Glückseligkeit die Zielvorstellung antiker Ethiken,
ist seither in vielfältiger Bestimmung zum Gegenstand moralphilosophischer Refle-
xion geworden. Als subjektiver Erlebniszustand oder als Besitz glücksverbürgender
Güter verstanden, tritt Glück in idealistisch ausgerichteten Philosophien hinter
deontologisch oder spirituell verstandene Verbindlichkeit zurück. Verbindlich-
keit stellt bei Kant und Hegel den einzig zureichenden Bestimmungsgrund einer
ethischen Spekulation dar, allerdings auf je unterschiedliche Weise. Bei Kant wird
abgezielt auf die formale und universale Geltung des Sittengesetzes einer autonomen
Vernünftigkeit des Willens. Bei Hegel geht es um die geschichtsmächtige Objek-
tivation der allgemeinen Vernunft durch die Individuen hindurch. Individuelles
Glück ist für Kant eine heteronome Handlungsorientierung des Subjekts und daher
untauglich zur Bestimmung der Gesetzlichkeit sittlichen Handelns. Für Hegel ist

812 Ebd.
813 Adorno, GS 6, S. 262. – Siehe oben, Kapitel 5.
814 Adorno, GS 4, S. 193.
224 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

Glück ein kontingentes Moment. Das Individuum selbst ist nur, als zu negierendes
Besonderes, die notwendige Durchgangsstufe des Allgemeinen.
Der Vorrang der individuellen und somatischen Dimension dagegen verbindet
Adornos Bestimmung des Glücks mit der materialistischen Philosophie. Diese ten-
diert, wie Schmidt formuliert, »dazu, sinnliches Glück dem der Einsicht – ohne es zu
bestreiten – voranzustellen, Leiden primär als physisches Leiden zu bestimmen.«815
Adornos Begriff des Glücks ist freilich differenzierter. Adorno unterscheidet zwischen
der subjektiven Fähigkeit zum Glück und seiner objektiven Möglichkeit. Darüber
hinaus läßt sich bei ihm eine positive Bestimmung des Glücks von einer negativen
abgrenzen. Subjektive wie objektive Kriterien und Bestimmungen des Glücksbe-
griffs sind bei Adorno ineinander verschränkt. Die subjektive, auf die Individuen
bezogene Bestimmung des Glücks bei Adorno, die zugleich von seiner positiven
Charakterisierung ausgeht, hat, wie Schmidt für seinen Materialismus insgesamt
festhält, »eine triebnaturalistische Komponente«816. Sie betont, dass »alles Glück
auf sinnliche Erfüllung abzielt und an ihr seine Objektivität gewinnt.«817 Idee und
Urbild des Glücks speisen sich nach Adorno vom Zustand pränataler Bedürfnisbe-
friedigung818 und von der Erfahrung sexueller Lust, die alle Instrumentalisierung
überschreitet, weil in ihrem Austausch die funktionale Bestimmung des Tauschs
durch die erfüllte Intention des Aufgehens im geliebten Anderen überschritten
und utopisch überboten wird.819 Sind mithin sexuell-erotische Erfahrungsgehalte
die Basis seines Glücksbegriffs, so beschränkt Adorno ihn doch nicht darauf. Das
Glück unreglementierter geistiger Tätigkeit ist für ihn ebenso Repräsentant eines
utopischen Zustands,820 wie es darauf verweist, dass wir unter den gegenwärtigen
Bedingungen der gesellschaftlichen Lebensreproduktion, im »falschen Leben«, gar
nicht im emphatischen Sinne glücklich sein können. Und es verweist darauf, dass
sich Glück auch nicht positiv bestimmen lässt, weil eine begriffliche Bestimmung
des Glücks immer nur negativ an den Kennzeichen und Ursachen seiner Abwesen-

815 Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a. a. O., S. 139.
816 Alfred Schmidt, Begriff des Materialismus bei Adorno, in: Adorno-Konferenz 1983,
hg. v. L. v. Friedeburg u. J. Habermas, Frankfurt/M. 1983, S. 24.
817 Adorno, GS 6, S. 202.
818 »Glück ist nichts anderes als das Umfangensein, Nachbild der Geborgenheit in der
Mutter.« (Adorno, GS 4, S. 124).
819 Vgl. Adorno, GS 4, S. 37 ff. und S. 196 ff.
820 »Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Menschheit. Die
universale Unterdrückungstendenz geht gegen den Gedanken als solchen. Glück ist er,
noch wo er das Unglück bestimmt: indem er es ausspricht. Damit allein reicht Glück
ins universale Unglück hinein.« (Adorno, GS 10. 2, S. 798 f.)
9.3 Widerstand, Glück 225

heit ansetzen kann. Abwesend ist Glück nach Adorno, weil die gesellschaftlichen
Lebensbedingungen seine Realisierung verhindern.
Für Adorno ist »die Frage nach der Objektivität des Glücks«821 verbindlich.
Diese Frage, die Marcuse zufolge Hegels Kritik am Eudaimonismus motivierte,822
ist, wie Schmidt gezeigt hat, seit Marx an die »gesamtgesellschaftliche Struktur
geknüpft«823. Aus dieser Perspektive würde Glück erst als »verwirklichte Idee der
Menschheit«824 vollends seinem Begriff gemäß werden. Das setzt gesellschaftlich
selbstbestimmtes Handeln voraus, auf dem höchsten Stand des entfalteten Wissens
und technischen Könnens freier Menschen und gemäß der Marx’schen Maxime
»Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!«825 Adorno ist
in dieser Frage dem historischen Materialismus verpflichtet. Mit der Vision einer
»Entfaltung der Produktivkräfte« allein ist es indessen für Adorno nicht getan. Er
weist daraufhin, dass »substantielleres Glück als das individuelle«826 zwar, historisch
betrachtet, daran gebunden scheint, aber nicht ohne weiteres daraus hervorgeht. Die
geschichtsphilosophische Dialektik von Fesselung und Entfaltung der Produktiv-
kräfte besteht für ihn darin, dass der Fortschritt industrieller Naturbeherrschung
zwar die Möglichkeiten überindividuellen, das heißt gesellschaftlichen Glücks
vergrößert, aber zugleich auch in weitere Ferne rückt, indem er, dem Wertgesetz
folgend, die Menschen seiner blinden, ziellosen Prozessualität unterwirft. Adorno
begreift daher »Humanität als Utopie«827. Für ihn gilt: »Nicht bloß die objektive
Möglichkeit – auch die subjektive Fähigkeit zum Glück gehört erst der Freiheit
an.«828 Bis dahin ist das uns gesellschaftlich »verordnete Glück«829 Scheinbefrie-
digung. Sie betrügt uns um das Beste, was uns noch bleibt: um die Erfahrung der
Diskrepanz zwischen dem, was möglich wäre und dem, was ist. Hier erfüllt die
Kulturindustrie, heute mehr noch als zur Zeit ihrer theoretischen Bestimmung
in der Dialektik der Aufklärung, als subjektive Gratifikation für das verdrängte
Leiden an der Zurichtung der Individuen für den Betrieb der Kapitalverwertung,
ihre Funktion des Massenbetrugs.

821 Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a. a. O., S. 144.
822 Vgl. Marcuse, Zur Kritik des Hedonismus, a. a. O., S. 56.
823 Schmidt, a. a. O., S. 194.
824 Ebd., S. 195.
825 Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in: Marx/Engels, Werke, Bd. 19, Berlin
1982, S. 21.
826 Adorno, GS 6, S. 301.
827 Adorno, GS 4, S. 86.
828 Ebd., S. 160.
829 Ebd., S. 67.
226 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

Man kann den subjektiv-objektiven Aspekt des Adorno’schen Glücksbegriffs


also dergestalt auf seinen positiv-negativen Aspekt beziehen, dass beide in eine
Konstellation zueinander treten, in der sich alle vier Momente untereinander wech-
selseitig erhellen. Die subjektive Glückserfahrung bildet die Grundlage der positiven
Bestimmung des Glücks, leitet aber insofern zur Notwendigkeit eines objektiven
Glücksbegriffs über, als sie an der Beschränktheit der Glücksmöglichkeit, also an
der negativen Bestimmung des Glücks, ihre Grenze findet.
Über den Begriff des Glücks finden zentrale Motive aus der ethischen Tradi-
tion Eingang in Adornos moralphilosophisches Konzept. Die idealistische Lehre
von der Glückseligkeit als dem höchsten Ziel eines humanen Lebens wird durch
eine reflektierte Aufnahme materialistisch-hedonistischer Theoreme korrigiert.
Mit letzteren insistiert Adorno darauf, dass ein Glück keines ist, dem die Per-
spektive auf sinnliche Lust »verstellt«830 wäre. Adorno stimmt hier mit Marcuse
überein, der am Hedonismus die Kritik an der idealistischen »Verinnerlichung
des Glücks« hervorhebt und feststellt: »Sofern in dem materialistischen Protest
des Hedonismus ein sonst verfemtes Stück menschlicher Befreiung aufbewahrt
ist, ist er mit dem Interesse der kritischen Theorie verbunden.«831 Freilich nicht
dann, wenn er als Ideologie des Genusses und der »repressiven Entsublimierung«
zur Apologie unfreier Gesellschaften wird. Auf der anderen Seite lässt sich zwar
keine Verbindung herstellen zwischen Hegels Verdikt über das Glück und dessen
Adorno’scher Bestimmung. Aber Adorno bestimmt Glück nur negativ, durch die
Kritik seiner gesellschaftlichen Deformation hindurch. Darum trägt er in ideolo-
giekritisch transformierter Gestalt dem Wahrheitsmoment der Hegel’schen Kritik
an der Hypostasierung individueller Empfindungszustände Rechnung. Zugleich
aber steckt darin der Gedanke einer Korrektur der schlechten Verneinung des
individuellen Glücksanspruchs, die aus Hegels Verdikt folgt. Diese Korrektur ist
implizit bereits enthalten in Marx’ Kritik an der Loslösung des gesellschaftlichen
Reichtums von seiner objektiv-allgemeinen Vernunftbestimmung, die auf größt-
mögliche Glücksentfaltung frei assoziierter Produzenten zielt.832 Und schließlich
ist es wohl kaum zu weit hergeholt, wenn man in Adornos Glückskonzeption
Spuren des Kant’schen höchsten Guts erkennt, in dem (subjektive) Glückseligkeit
mit (objektiver) Glückswürdigkeit zusammenzustimmen hätten. Wie bei Kant

830 Adorno, GS 6, S. 202.


831 Marcuse, Zur Kritik des Hedonismus, a. a. O., S. 57.
832 Vgl. dazu Schmidt, Zum Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie, a. a. O.,
S. 183 ff.
9.4 Moralische und ästhetische Erfahrung 227

Glückseligkeit Gegenstand unserer Hoffnung ist,833 ist sie für Adorno unverbürgt
und auf befreiende Praxis verwiesen.

9.4 Moralische und ästhetische Erfahrung


9.4 Moralische und ästhetische Erfahrung
Statthalter utopischen Glücks und Repräsentant seiner Möglichkeit im Bestehenden
zugleich ist nach Adorno das ästhetische Glücksversprechen. Adornos norma-
tiv-kritischer Ästhetik zufolge konvergieren in gelungenen Kunstwerken – der
Dialektik von Mimesis und Konstruktion, dem Strukturgesetz des Kunstwerks,
entsprechend – Momente sinnlichen und geistigen Glücks. Das tun sie entweder
so, dass jene gleichsam die Basis von diesen bilden, 834 oder so, dass die Dominanz
des konstruktiv-geistigen Elements, in seiner Absage an den falschen Schein
unmittelbarer Präsenz sinnlicher Glückserfüllung, gerade durch das Versagen
negativ an der Wahrheit des sinnlich-mimetischen Glücksmoments festhält. Wenn
Adorno sagt: »Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird«835, heißt
dies, dass das Glücksversprechen um des Glücks willen gebrochen wird, weil die
Prätention seiner Einlösung durch Kunst inmitten einer das Glück verhindernden
Wirklichkeit den unbedingten Wahrheits- und Geltungsanspruch des Versprechens
verraten würde. Insofern können Kunstwerke, die auf die Dimension sinnlichen
Glücks Verzicht leisten und sich negativ zur Wirklichkeit verhalten, gerade in
ihrer »unnachgiebigen Absage an das Kinderglück« zur »Allegorie scheinlos
gegenwärtigen Glücks«836 werden. Ihm bleibt Kunst verpflichtet, indem sie seine
Absenz bekundet: »Weil alles Glück am Bestehenden und in ihm Ersatz und falsch
ist, muß sie das Versprechen brechen, um ihm die Treue zu halten.« 837 In der Mo-
derne verschwinden laut Adorno tendenziell die utopischen Momente, die in der
Wirklichkeit selber vorhanden sind und von Kunstwerken mimetisch als Bürgen
des Glücksversprechens aufgenommen werden können. Kunst wird asketisch um
des Glücks willen, das auch sinnliches ist; sie wird negativ, um den Gedanken eines
Positiven zu bewahren. Das auf sinnlich-unmittelbare Befriedigung ausgerichtete
Glücksverlangen der Menschen jedoch, das – wie Adorno betont: berechtigterweise
– an der stofflichen Basis der promesse du bonheur festhält, wird von den Instanzen

833 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, a. a. O., B 833.


834 Vgl. Adorno, GS 7, S. 412.
835 Ebd., S. 205.
836 Ebd., S. 197.
837 Ebd., S. 461.
228 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

der Kulturindustrie ausgebeutet und mit Scheinbefriedigungen abgespeist. Insofern


schließen sich die moralischen und die ästhetischen Erfahrungsdimensionen des
Individuums zusammen.
Adorno bezieht also ästhetische Erfahrung hier zunächst in zweifacher Hinsicht
auf seine ethischen Reflexionen. Kunstwerke haben eine moralische Dimension, denn
sie suchen nach Bildern des richtigen Lebens und helfen, das falsche zu kritisieren,
indem sie dessen Bilder liefern. Unter diesem Aspekt deutet Adorno Kunstwerke
als genuin verfahrende Auseinandersetzungen mit der Frage nach dem richtigen
Leben. Und Rezeption von Kunst hat eine moralische Komponente, nämlich die
Frage nach dem richtigen Leben und den Verrat an dieser Frage in der Welt der
Kulturindustrie. Diesen moralischen Implikationen der Rezeption von Kunst bzw.
deren Surrogaten gilt Adornos Kritik.
Das Verhältnis von Ethik und Ästhetik wird in der philosophischen Diskussion
seit den 1980er Jahren neu zu bestimmen versucht. Die fortgeschrittene und weiter
fortschreitende Auflösung von traditionellen Lebenszusammenhängen durch ein
als destruktiv erfahrenes gesellschaftliches Bewegungsgesetz hat dazu geführt, dass
inzwischen auch die Moderne totgesagt wurde – also die Epoche, die durch den
Auflösungsprozess gekennzeichnet ist und in der wir uns nach wie vor befinden. Der
Wunsch, eine neue Epoche einzuläuten, täuscht darüber hinweg, dass die Basis der
westlichen Gesellschaftsformationen sich prinzipiell nicht verändert hat. Mit Bürgers
immer noch aktuellen Worten: »Sicherlich lassen sich gegenüber der Gesellschaft
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tiefgreifende ökonomische, technische und
soziale Veränderungen beobachten, die dominierende Produktionsweise jedoch ist
die gleiche geblieben: private Aneignung kollektiv produzierten Mehrwerts.«838 Der
postmoderne Diskurs bestätigt ungewollt die gesellschaftlichen Bewegungsgesetze,
die er ignoriert oder nur mit neuen Namen versieht. In diese Konstellation gehören
auch die Bemühungen, Sinnkrisen und Verbindlichkeitsverlust durch ästhetisch
orientierte Ethik-Restaurationen zu bekämpfen. Gerade das ist es, was Adorno
nicht intendierte: der Versuch, »eine philosophische Ethik mit Hilfe der Ästhetik
zu rehabilitieren«839. Adorno war bekanntlich der radikalen ästhetischen Moderne

838 Peter Bürger, Das Altern der Moderne, in: Adorno-Konferenz, a. a. O., S. 177.
839 Günther, Das gute und das schöne Leben, in: Ethik und Ästhetik, hrsg. v. G. Gamm
u. G. Kimmerle, a. a. O., S. 14. – Klaus Günther hat gezeigt, dass die Vertreter einer
durch ästhetische Erfahrung ergänzten prämodernen Ethik des guten Lebens, das nach
Kategorien der Erzählbarkeit (bei Maclntyre) oder der ästhetischen Perzeption (bei
Nussbaum) bestimmbar und organisierbar sein soll, eine fragwürdige Analogisierung
von Ethik und Ästhetik betreiben. Zudem fallen sie zurück hinter das in der modernen
Moralphilosophie formulierte Problem der Universalisierung und blenden den in der
Moderne, sowohl moralphilosophisch als auch ästhetisch, zentralen Gedanken der
9.4 Moralische und ästhetische Erfahrung 229

verpflichtet. Zu deren Formgesetz gehört der »Verzicht auf ästhetisch bruchlose


Einheit in einer Welt, welche Kontinuität und Totalität nur als Farce gestattet«840.
Aus dieser Position ergeben sich aus heutiger Sicht entschiedene Optionen für eine
kritische, »moderne« Normativität, auch im außerästhetischen Bereich.841
Die Untersuchung des Zusammenhangs von Ethik und Ästhetik bei Adorno
muss daher auch seine Kritik der falschen Relation beider Bereiche in den Blick
nehmen. Er hat sie modellhaft im Falle Kierkegaards expliziert.842 Die Ästhetisie-
rung, Signatur von Kierkegaards Philosophie, hängt, so Adorno, zusammen mit
dem Rückzug in »objektlose Innerlichkeit«843, in der allein die ethische Person
sich soll entfalten und betätigen können, nämlich in der Privatheit der bürgerli-
chen Individualität. Adorno kommt zu dem Ergebnis, dass bei Kierkegaard der
philosophische Zugriff, der die Wirklichkeit ästhetisiert, mit der gesellschaftli-
chen Machtlosigkeit des ethischen Zugriffs korrespondiert. Deren Subjekt, die
moralische Person, vermag nichts über die Gestaltung der Verhältnisse einer
beginnenden hochkapitalistischen Gesellschaft. »Indem Kierkegaard die gesell-
schaftliche Frage verleugnet, verfällt er dem eigenen gesellschaftlichen Standort.
Er ist der des Privatiers in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.«844
Nach Adorno arrangiert sich Kierkegaards Ethik mit der gesellschaftlichen »Un-

Autonomie aus (vgl. Günther, a. a. O., bes. S. 28 ff.). Die literarischen Bezugspunkte, an
denen die neoaristotelisch inspirierte, substantialisierte Erzählbarkeit eines individuellen
Lebenszusammenhanges oder die postulierte Identität von moralischem Handeln
und Kunstwerk modellhaft illustriert werden, sind solche, die nicht teilhaben an den
Errungenschaften einer ästhetischen Moderne. Deren Authentizität erweist sich daran,
dass sie den objektiv-realen Zerfall gesellschaftlicher und individueller Identität in ihr
eigenes Konstruktionsprinzip konstitutiv aufnimmt. Das bedeutet etwa, dass integrale
Erzählstrukturen aufgebrochen und Kontinuitäten und Identitäten, oft schockhaft,
zerschlagen werden. Damit erweisen sich integrale oder gar ethisch sinnstiftende
Modelle als bloße Suggestion (vgl. dazu Günther, a. a. O., S.33 f.).
840 Adorno, GS 13, S. 349.
841 Siehe dazu auch Brunkhorst, Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 200 und 224 f. – Zur
Differenz von Adornos Philosophie zum Diskurs der Postmoderne siehe Fredric
Jameson, Spätmarxismus. Adorno oder die Beharrlichkeit der Dialektik, a. a. O. Jameson,
demzufolge das Konzept »Postmoderne« nichts anderes als eine Chiffre für die kulturelle
Logik des Spätkapitalismus ist (siehe Jameson 1986), zeigt, dass die ideologischen
Irrtümer der Postmoderne mit Adornos Gesellschaftstheorie einer triftigen Kritik
unterzogen werden können.
842 Vgl. Adorno, GS 2.
843 Adorno, GS 2, S. 46.
844 Ebd., S. 71.
230 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

moral und Unvernunft«845. Die Kehrseite der Innerlichkeit ist ein geheimer, aber
objektiv determinierter Zynismus gegenüber gesellschaftlich bedingtem Unrecht
und Leiden. Weil die »autonome Ethik der absoluten Person« relativ ist auf die
»bürgerliche Klassenlage«846 in einer antagonistischen Gesellschaft, erweist sie
sich als Gegenteil dessen, was sie sein will.
Die Vermittlungsschritte der Analyse nachzuzeichnen, würde zu weit vom Gang
dieser Untersuchung abführen. Als ein Resultat von Adornos Überlegungen soll
hier festgehalten werden, dass Kierkegaards Ethik »gegenstandslos«847 ist, weil sie
aus der Verdinglichung der kapitalistischen Vergesellschaftung in ein fiktives Reich
flieht, in dem der ethischen Person nur insoweit die Möglichkeit des Handelns
vorbehalten bleiben soll, wie sie sich unmittelbar zu ihrem »Nächsten« verhält.
Das ist nach Kierkegaard das einzige ethische Verhältnis, das zwischen Subjekten
möglich ist. Intersubjektive Beziehungen – im Sinne größerer gesellschaftlicher
Zusammenhänge und des Heraustretens aus der unmittelbaren Beziehung zum
gegenwärtigen, vereinzelten Nächsten – bleiben ausgeblendet. Sie werden lediglich
etwa als bloß quantitative Beziehungen von Massen-Atomen kritisiert. Weil sie aus
der Verdinglichung in die scheinhafte Innerlichkeit flieht, ist Kierkegaards private
Ethik eines »konkret-sinnvollen Lebens schlechte und trügerische Klassenmoral.«848
Entsprechend hält Adorno auch die Ästhetisierung der Philosophie für ohnmächtig,
weil Kierkegaard keine dem fortgeschrittensten künstlerischen Entwicklungsstand
seiner Zeit angemessenen ästhetischen Verfahren anwendet.849
Das bisher Erörterte sollte deutlich machen, dass es Adorno auf das Zusam-
menspiel des Wahrheitsgehalts von moralphilosophischer Reflexion und gestal-
teter ästhetischer Erfahrung ankommt. Dieses Zusammenspiel erscheint als
Entsprechung oder Konvergenz verschiedener geistiger Verfahren, die sozusagen
eine gemeinsame Grundschicht haben. Die Grundschicht ist das Bewusstsein der
Nichtidentität von Seiendem und Seinsollendem. Der Wahrheitsgehalt geht aus
der Anstrengung hervor, in beiden Bereichen den Gegenständen der begrifflichen
Bestimmung oder der künstlerischen Formung mit jeweils progrediertesten Mit-
teln einen Ausdruck zu verleihen, der ihnen so angemessen wie möglich ist. Dabei

845 Ebd., S. 73
846 Ebd., 2, S. 72.
847 Ebd., S. 75.
848 Ebd. – Die Frage nach der Angemessenheit von Adornos Kritik an Kierkegaard würde
eine eigene Studie verdienen; sie kann im vorliegenden Rahmen nicht untersucht werden.
849 »Kierkegaards ästhetische Figuren sind einzig Illustrationen seiner philosophischen
Kategorien, die sie fibelhaft verdeutlichen, ehe sie begrifflich zureichend artikuliert
sind.« (Adorno, GS 2, S. 14 f.).
9.4 Moralische und ästhetische Erfahrung 231

befinden sich beide Bereiche nach Adorno in einem Verhältnis der wechselseitigen
Beeinflussung. Moralische Erfahrung und ihre gesellschaftstheoretisch belehrte
philosophische Reflexion sind auf die Fähigkeit des Subjekts verwiesen, Wahr-
nehmungen zu machen. Diese gehören in einem doppelten Sinn der ästhetischen
Sphäre an: zunächst im umfassenden Sinne der aisthesis überhaupt, dann im
engeren Sinne der Fähigkeit zur Wahrnehmung künstlerischer Produkte. Hinzu
kommt als weiterer Aspekt, dass ästhetisch-künstlerische Arbeit, wenn sie sich
an einem radikalen Wahrheitsanspruch misst, notwendig teilhat an normativen,
moralischen Reflexionsprozessen.
Der Rekurs auf Ästhetik im moralphilosophischen Zusammenhang hat aber noch
eine weitere, systematisch wichtige Funktion. Er kann zeigen, dass bei Adorno eine
Zusammenführung ästhetischer und ethischer Erfahrungsgehalte stattfindet, die
expliziert werden muss, damit die Kategorie des moralischen Impulses erst ganz
erhellt werden kann. Und umgekehrt ist im moralischen Impuls dessen ästhetische
Dimension aufzudecken, damit das Verhältnis von Moralphilosophie und Ästhetik
bei Adorno verständlich wird.
Im moralischen Impuls situiert Adorno, wie wir gesehen haben, das Ineinander-
spielen und Zusammenwirken von leibhafter Erfahrung und Reflexion. Während das
reflexive Moment hier in den Bereich der Moralphilosophie fällt, ist das ästhetische
für das Geschehen der leibhaften Erfahrung zuständig, weil Ästhetik dieses als
einzige philosophische Disziplin explizieren kann. Ästhetik hat es sowohl mit der
sinnlich vermittelten Erfahrung überhaupt als auch mit der des Künstlerischen zu
tun. In der Moderne ist sie befreit von ihrer klassisch-bürgerlichen Beschränkung
auf die Rezeption des Schönen, vor allem des Kunstschönen, und nimmt damit
zugleich Motive ihres disziplinären Ursprungs als Theorie reflektierter Sinnlichkeit
wieder auf.850 Ordnet man nun bei Adorno die Reflexion der Moralphilosophie zu
und die leibhafte Erfahrung der Ästhetik, so zeigt sich, dass im Ganzen des mora-
lischen Impulses die Reflexion dadurch klare Konturen gewinnt, dass die Ästhetik
in die Konstruktion eingeführt wird. Dann lässt sich nämlich Adornos Theorie des
moralischen Impulses so interpretieren: Nur wer ästhetische Erfahrungen machen
kann, kann moralphilosophische Reflexion überhaupt fundieren. Somatisches
Erleben – und auch mimetische Erfahrung – können somit als unverzichtbare

850 Siehe dazu Heinz Paetzold, Ästhetik des deutschen Idealismus. Zur Idee ästhetischer
Rationalität bei Baumgarten, Kant, Schelling, Hegel und Schopenhauer, Wiesbaden
1983. Zum Begriff der ästhetischen Erfahrung als »Einheit von Sinnlichkeit und
Reflexion« siehe ders., Ästhetik der neueren Moderne. Sinnlichkeit und Reflexion in
der konzeptionellen Kunst der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 55 f.
232 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

Bestandteile des moralischen Impulses konzeptualisiert werden. Sie sind nicht


kognitivistisch aufzulösen.851
Die bürgerliche Ästhetik hatte die Vermittlung von Ethik und Ästhetik in der
Erfahrung des Naturschönen aufgesucht. Nach Kant gibt es ein moralisches Interesse
am Naturschönen. Die Verwandtschaft der ästhetischen und der intellektuellen
Urteilskraft, die dem Geschmack und dem moralischen Gefühl zugeordnet werden,
ist nach Kant konstitutiv für die Wahrnehmung des Naturschönen.852 Doch diese
Vermittlung von Ethik und Ästhetik bleibt formal. Sie geht von einer Trennung der
Zuständigkeitsbereiche im erkennenden und wahrnehmenden Subjekt aus. Wenn
man die ästhetischen Implikationen transparent macht, zeigt Adornos Lehre vom
moralischen Impuls dagegen, dass in der ethischen Erfahrung selber eine ästhetische
Komponente stecken muss, damit sie sich überhaupt entfalten kann. Ästhetische
Erfahrung, verstanden als »Einheit von Sinnlichkeit und Reflexion«853, ist also für
moralische Erfahrung und ihre philosophische Theorie unabdingbar.
Im Gegensatz zur klassischen Ästhetik, die die Berührung von Ethik und Ästhetik
einzig in den Bereich des Naturschönen verlegte, kann man mit Adorno moralphi-
losophisch relevante Einsichten sowohl in der Erfahrung des Naturschönen als auch
in der des Kunstschönen aufsuchen. In ästhetischer Erfahrung ist ihm zufolge der
imaginative Vorgriff auf einen Zustand der Versöhnung von Mensch und Natur
möglich, in dem der quasi-naturhafte Zwang instrumentalistischer Herrschaft
gebrochen und Natur, als humanisierte, in zwanglose Kommunikation mit den
Menschen als ihren Bestandteilen treten könnte. Im Begriff der Kulturlandschaft
aktiviert Adorno ästhetische Naturwahrnehmung im Zeichen einer materialistischen
Kritik am Naturbegriff bei Kant und Hegel.854 Die Utopie der Versöhnung wird
freilich nicht affirmativ beschrieben. Sie wird negativ bestimmt und steht damit
ein für die bestimmte Negation eines gewaltsamen Verhältnisses zur äußeren wie
inneren Natur. Das Versprechen eines geglückten Lebens, das Adorno aus den
Chiffren befriedeter Natur herausliest, ist im Lichte der gegenwärtigen Diskussion
über eine neue Naturästhetik nach wie vor aktuell.855

851 Hier liegt ein Berührungspunkt mit Horkheimers Begriff des moralischen Gefühls
und seiner partiellen Rehabilitierung des Mitleidsmotivs in den Überlegungen zu
Materialismus und Moral; siehe Horkheimer, Materialismus und Moral, a. a. O., S. 182 ff.
852 Vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, a. a. O., § 42.
853 Vgl. Paetzold, a. a. O.
854 Siehe Adorno, GS 7, S. 101 ff.; vgl. dazu Heinz Paetzold, Neomarxistische Ästhetik, Bd.
II, Düsseldorf 1974, S. 26 ff.
855 Vgl. Gernot Böhme, Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt/M. 1989, S. 19
f. u. S. 38 ff. – Böhme meint, »die Natur« sei bei Adorno »der Träger des subversiven
Potentials«; auf dieser Basis solle eine »Rehabilitierung der Naturästhetik« (ebd.,
9.4 Moralische und ästhetische Erfahrung 233

Das Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und normativer Kritik soll nun an-
hand der Interpretation eines moralphilosophischen Schlüsseltextes von Adorno,
dem Aphorismus »Die Wahrheit über Hedda Gabler« aus den Minima Moralia,
herausgearbeitet werden. Sein Thema ist das Verhältnis von Ästhetizismus und
Gesellschaftskritik im neunzehnten Jahrhundert. Adornos These lautet, dass der
Ästhetizismus objektiv als eine Reaktionsbildung des bürgerlichen Selbstbewusstseins
auf das Urteil angesehen werden kann, das die Kritik der politischen Ökonomie
über die bürgerliche Gesellschaft spricht. Nach Adorno misst die marxsche Theorie
die Form der Vergesellschaftung in der kapitalistischen Gesellschaft am Maßstab
von deren Prinzipien; sie konfrontiert sie »wie ökonomisch so moralisch mit ihren
eigenen Normen«856. Marx bleibt zwar ebenso ungenannt wie die Exponenten des
Ästhetizismus, als die etwa Poe, Baudelaire oder Wilde angeführt werden könnten.
Doch offenkundig wird hier auf Passagen wie die im Kapital angespielt, in der Marx
die falsche Verwirklichung der normativen Begriffe Freiheit, Gleichheit, Eigentum
und Selbstinteresse in der kapitalistischen Zirkulationssphäre untersucht, die ironisch
als »wahres Eden der angebornen Menschenrechte«857 charakterisiert wird. Nimmt

S. 19) stattfinden, die aber misslingen müsse, weil Adorno im »Bann der bürgerlichen
Ästhetik« (ebd., S. 22) bleibe. Adorno setze deren Fehler fort, aus der Perspektive des
an der Gesellschaft leidenden Städters Natur zur Gegenutopie zu verklären. Natur
gerate ihm daher »zum Anderen schlechthin«, »zum außergesellschaftlichen Bild der
Versöhnung« (ebd., S. 45). Daraus folge, dass er »über die Natur selbst überhaupt nichts
mehr zu sagen« wisse, weil sie eben »für ihn nur der schlechthin unerreichbare Topos
des Außergesellschaftlichen« (ebd., S. 23) sei. – Ich würde zustimmen, wenn gesagt
wird, dass Adorno das Naturschöne als illustrativen Vorgriff auf eine Versöhnung des
Nichtidentischen deutet, aber ich denke nicht, dass Adorno in »Natur« ein ungebrochenes
»Bild der Versöhnung« oder einen »Träger des subversiven Potentials« sah. Nach meiner
Lesart konstatiert Adorno in der Distanzierung unserer Gesellschaft von Natur die
Naturverfallenheit der Gesellschaft. Gesellschaft ist bei ihm nicht das Andere der Natur,
sondern ›zweite Natur‹, ihre modifizierte Fortsetzung. Erst die Humanisierung der Natur
wäre vielleicht imstande, das Versprechen der Versöhnung einmal annäherungsweise
einzulösen (vgl. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: Marx/
Engels, Werke, Ergänzungsband, 1. Teil, Berlin 1981, S. 536). Natur ist für Adorno
nicht ein positives Anderes, das gegen gesellschaftliche Rationalität ausgespielt wird.
Eher könnte man sagen, Adorno kritisiert, dass sich in der Rationalität noch zu viel
Natur unbegriffen fortschreibt, nämlich als die Kehrseite ihrer Verleugnung. – Siehe
dazu auch: Gunzelin Schmid Noerr, Ein nicht naturalistischer Begriff zweiter Natur,
in: Die Unnatürlichkeit der Natur, a. a. O., S. 44 ff., der »Adornos kritischen Begriff der
zweiten Natur« (a. a. O., S. 49) untersucht.
856 Adorno, GS 4, S. 103.
857 Marx, Das Kapital, Erster Band, a. a. O., S. 189. Vgl. auch die Kritik der Formulierung der
Menschenrechte im Lichte der Deformation der Menschen, die Marx im Rahmen seiner
Emanzipationstheorie in Zur Judenfrage entfaltet (a. a. O., S. 347 ff.). Es ist vermutlich
234 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

die sozialistische Kritik, Adornos Interpretation zufolge, die proklamierten Ideale


der Vergesellschaftung ernst und spielt sie gegen die verstümmelte und verkehrte
Gestalt aus, die sie in der gesellschaftlichen Wirklichkeit annehmen, so gibt dage-
gen im Ästhetizismus das bürgerliche Bewusstsein seine eigenen Prinzipien auf.
Adorno unterscheidet zwei grundsätzliche künstlerische Haltungen, die auf die
Herausforderung der materialistischen Kritik reagieren: eine lügenhaft-apologetische
(zu denken wäre hier wohl an Konzepte der Kunstreligion) und eine radikale, die
konsequent »das Prinzip selber« verwirft, »an dem die Gesellschaft gemessen wird,
also ihre eigene Moral.«858 Exemplifiziert wird letzteres an einer selber wiederum
künstlerisch gestalteten Allegorie des Ästhetizismus, an Ibsens Hedda Gabler.
Adorno deutet Heddas Aufbegehren gegen die, die es gut mit ihr meinen, deren
kleinbürgerliche Borniertheit jedoch Heddas ästhetisch kultivierten und hoch-
fliegenden Ansprüchen nicht genügen kann, als Revolte des Schönen gegen das
deformierte Prinzip des Guten. Er grenzt die »Güte« von dem »Guten« ab. Dieses
steht für das moralische Prinzip, das objektiv die Perspektive eines »menschenwür-
digen Zustands«859 enthält, während jene die resignativ-tröstende Privatisierung
des moralischen Prinzips bedeutet, auf dessen umfassende Realisierung nunmehr
verzichtet wird. Weil Güte »das moralische Prinzip vom gesellschaftlichen abtrennt
und in die private Gesinnung verlegt«860, wird sie aber auch in sich selber falsch.
Nach Adorno ist die Haltung der Güte gekennzeichnet durch die Einebnung der
Distanz zwischen den Individuen. Damit wird dem einzelnen der letzte Schutzraum
genommen, der durch Distanz immer noch gewährt wird. Unter Bedingungen des
falschen Lebens wird Distanz, Merkmal gesellschaftlicher Entfremdung, zur letzten
Zuflucht nonkonformistischer Individualität. »Nur Fremdheit ist das Gegengift
gegen Entfremdung.«861 Wird die Distanz zerstört, ist Entfremdung nicht beho-
ben, sondern besiegelt. Wenn Nähe, Verbundenheit und Harmonie vorgetäuscht
werden, ist den Menschen auch noch die Möglichkeit genommen, die Erfahrung
der Vereinzelung und der individuellen Differenzen zu machen. Als »ohnmächtige

nicht überflüssig, in diesem Zusammenhang noch einmal daran zu erinnern, dass


die marxsche Kritik nicht auf abstrakte Negation, auf Erledigung der normativen
Implikationen der Menschenrechte aus ist. Sie führt den Widerspruch vor Augen,
dass die theoretische Formulierung der Menschenrechte und die Verhinderung ihrer
praktischen Umsetzung Resultate desselben gesellschaftlichen Bewegungsgesetzes sind.
858 Adorno, GS 4, S. 103.
859 Ebd.
860 Ebd.
861 Ebd.
9.4 Moralische und ästhetische Erfahrung 235

Utopie des Schönen«862 tritt daher nach Adorno die ästhetische Erfahrung gegen
das bürgerliche Justemilieu an, indem sie im Kultus singulärer Gelungenheit die
Partikulariät emphatisch gegen gesellschaftliche Allgemeinheit ausspielt. »Das
Schöne […] steht gegen die Moral«863.
Adorno entfaltet hier die Dialektik des ästhetizistischen Immoralismus. Das
Schöne erhebt die letztlich naturhafte Besonderheit zur Norm. Es rebelliert insofern,
das muss erläuternd hinzugefügt werden, mit Recht gegen das Allgemeine, als in
der bürgerlichen Gesellschaft Allgemeinheit stets auf der verborgenen Grundlage
der Herrschaft von partikularen Interessen beruht. Das Allgemeine kann sich
selber also nicht durchsichtig werden und bleibt daher das falsche. Unwahr ist
das ästhetizistische Prinzip jedoch darum, weil es mit dem falschen Allgemeinen
zugleich jegliche Idee des Allgemeinen durchstreicht. Es blockiert die Möglichkeit,
versöhnend über den Bannkreis des naturhaften Daseins hinauszugelangen. Wenn
Kritische Theorie die unwahre Allgemeinheit in der herrschaftlichen, entfremdeten
Vergesellschaftung als Verdoppelung von Naturzwang transparent machen kann,
dann kann sie dies ebenso am Kult des Schönen zeigen, der dem Naturzwang
verhaftet bleibt.
Nun ließe sich gegen diese Argumentation der Einwand vorbringen, dass der
Ästhetizismus ja gerade nicht die schlicht naturhafte, sondern im Gegenteil einzig
die kultivierte Schönheit affirmiert. Adorno spricht an anderer Stelle von »Bau-
delaires Rebellion der Dichtung gegen Natur als gesellschaftliches Reservat.«864
Doch darin liegt eben die vermittelte Verdoppelung der Naturhaftigkeit: Die kul-
tivierende, verfeinernde Veranstaltung dient dazu, etwas raffiniert zu verklären,
das sich natürlichem Zufall verdankt, nämlich Gestalt, Wuchs, Proportionen des
Körpers und dergleichen. Das Bewusstsein der Ambivalenz im Verhältnis des
Besonderen zum Allgemeinen ist im Ästhetizismus selber angelegt. Darauf geht
Adorno im hier untersuchten Text allerdings nicht ein. »Du schenkst nach Zufall
Unheil aus und Wonne/ Und herrschst ob allem und legst keinen Grund«865, heißt
es in Baudelaires Hymne an die Schönheit. Zufall und Herrschaft kennzeichnen die
irrationale Qualität dessen, was hier mythologisch verklärt wird.
Spitzt sich die vernichtende Kritik bürgerlicher Güte im Namen des Schönen zu
jenem »Bekenntnis zum Bösen«866 zu, das so charakteristisch ist für die klassische

862 Adorno, GS 4, S. 104.


863 Ebd.
864 Adorno, GS 11, S. 29.
865 Charles Baudelaire, Die Blumen des Bösen, übertragen v. C. Schmid, Frankfurt/M.
1981, S. 38.
866 Adorno, GS 4, S. 104.
236 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

literarische Moderne, dann drückt sich auch dort wieder eine Ambivalenz aus, die
Adorno auf den Begriff bringt. Das Votum für das Böse ist gleichzeitig »Vorbote
der Barbarei« und »Maske des Guten«.867 Diesen Gedanken nimmt Adorno später
noch einmal auf: »Es ist denkbar, dass angesichts des Unrechts, das die Moral den
Menschen antut, das Unmoralische, das Böse gleichsam zum Statthalter des Besse-
ren wird, so wie es in unzähligen literarischen Konzeptionen des 19. Jahrhunderts
dargestellt worden ist (Poe, Gide, l’immoraliste, etc.).«868 Wie der idiosynkratische
Hass gegen das Hässliche und gegen die bürgerliche Wohlanständigkeit, deren
Erscheinungsweise das Hässliche bisweilen ist, in irrem, barbarischen Mord gipfelt,
beschreibt etwa Poes Erzählung Das verräterische Herz.869 Aus der Destruktion
der falschen Gestalt des Guten kann die Option für das Böse jedoch auch negative
Wahrheit und Würde beziehen. Denn sie bekennt offen ein, was die Normen der
bürgerlichen Gesellschaft leugnen, damit es im Verborgenen umso durchgreifender
praktiziert werden kann. Implizite Grundlage dieser Reflexion ist die Differenz
zwischen individueller böser Tat und der anonymen »Bosheit« des Prinzips, das
die gesellschaftlichen Beziehungen der Individuen in der Moderne strukturell
bestimmt. Dieses »böse Prinzip« kann interpretiert werden als die kapitalistische
Subsumtion von lebendiger Arbeit. Denn die ebnet nicht nur qualitativ bestimmte
intersubjektive Beziehungen herrschaftlich und instrumentalisierend ein, sondern
kann auch als Basis der antagonistischen Vereinzelung bezeichnet werden, auf der
das entfesselte individuelle Böse aufblüht.
Die Pointe von Adornos Ausführungen ist nun der Gedanke, dass auf dem Um-
weg über die »abstrakte Negation«870 der Moral – die er ja auch Nietzsche vorhält
– eine Wahrheit ans Licht gebracht werden kann. Wenn die Auflehnung im Namen
der Schönheit die Unterdrückung anprangert, der diese als Besonderes insofern
ausgesetzt ist, als in unserer Gesellschaft das Besondere stets mit vermittelter oder
unvermittelter Gewalt dem herrschenden Allgemeinen untergeordnet wird, dann
wird sozusagen der Finger auf die Wunde gelegt. Es wird nämlich indirekt gezeigt,
dass noch im Kern der Moral selbst Unterdrückung steckt. Dieses Argument spielte
bereits im Zusammenhang der Untersuchung der Konzeption von Normativität
eine Rolle. »Indem Antimoral das Unmoralische der Moral, Repression, verwirft,
macht sie zugleich ihr innerstes Anliegen sich zu eigen: daß mit jeder Beschränkung

867 Ebd.
868 Adorno, PM 1, 26. 2. 1957.
869 Vgl. Edgar Allan Poe, Werke Bd. II, Olten 1966, S. 746 ff.
870 Adorno, GS 4, S. 104.
9.4 Moralische und ästhetische Erfahrung 237

auch jede Gewalt verschwände.«871 Doch die »Antimoral« des Ästhetizismus hat
davon selber keinen adäquaten Begriff.872
An diesem Punkt gelingt es Adorno zu zeigen, dass sich Methode und Resultate
der von ihm postulierten und durchgeführten immanenten Kritik auch dort be-
währen, wo sie mit der extremen Gegenposition, einem in Adornos Terminologie
»abstrakt negativen« Vorgehen, konfrontiert werden. Dass diese Gegenposition
freilich keine Sache des willkürlich gewählten Standpunkts ist, erfahren wir in
diesem Zusammenhang ebenfalls. Nach Adorno ist es nicht möglich, die Negati-
vität der bürgerlichen Gesellschaft konsequent zu begreifen, wenn die »Immanenz«
dieser Gesellschaft nicht auch im Bewusstsein transzendiert wird. Diesen Schritt
kann das bürgerliche Selbstbewusstsein, zumal in seiner ästhetisch ausgerichteten
Reflexionsform, aufgrund seiner eigenen Voraussetzungen nicht vollziehen; er
gelingt erst dem historischen Materialismus. »Darum fallen in der Tat die Motive
der unnachgiebigen bürgerlichen Selbstkritik zusammen mit den materialistischen,
welche jene zum Bewußtsein ihrer selbst bringen.«873 Adorno verknüpft hier also
zwei Sphären, die der marxistischen Orthodoxie zufolge einander konträr gegen-
überstehen: ›bürgerliche Dekadenz‹ und sozialistische Kritik. Er erkennt Kunstwerke
und ästhetische Erfahrung als ebenbürtige, wenn auch andersgeartete, Quellen
philosophischer Erkenntnis der Gesellschaft und ihrer moralischen Problematik an.
Darum kann er ästhetische und theoretische Erkenntnis wechselseitig füreinander
fruchtbar machen, auch auf dem Gebiet der Moralphilosophie.
Ästhetische Erfahrung wird, wie diskutiert wurde, bei Adorno in dreifacher
Hinsicht zu einer Grundlage moralischer Reflexion: In Kunstwerken können Aus-
einandersetzungen mit der Frage nach dem richtigen Leben stattfinden. Auch die
Rezeption von Kunstwerken ist nicht loszulösen von moralischen Implikationen.874
Und über den Bereich der Kunst hinaus ist ästhetische Erfahrung grundsätzlich
konstitutiv für das Ineinanderspielen von leibbezogen-mimetischer Erfahrung und
Reflexion im moralischen Impuls.

871 Ebd., S. 104 f.


872 Adorno charakterisiert sie als »bürgerlich säkularisierte Gestalt der Verblendung des
Heros aus der Tragödie« (Adorno, GS 4, S. 104).
873 Ebd., S. 105.
874 Weil für ihn die Rezeption unter moralphilosophischem Aspekt ebenso relevant ist
wie die Produktion von Kunstwerken, ist es auch folgerichtig, wenn Adorno in einer
Schallplattenrezension betont, dass Hörer, die Beethovens Musik als »entfaltete Wahrheit«
rezipieren wollen, »unter einer Art moralischer Verpflichtung« (Adorno, GS 19, S. 538)
stünden, sich mit der Interpretation durch René Leibowitz auseinanderzusetzen, die
für Adorno paradigmatisch »Beethoven im Geist der Moderne« (ebd., S. 535) zum
Ausdruck bringt.
238 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

Ästhetische Erfahrung ist aber noch in einer vierten Hinsicht auf den ethischen
Bereich bezogen. Dieser Aspekt steht ebenfalls nicht im Zusammenhang mit
Kunst. Er betrifft die subjektive Wahrnehmung intersubjektiver Beziehungen im
gesellschaftlichen Mikrokosmos.875 Weil unter Bedingungen bürgerlicher Kälte
in einer antagonistischen Gesellschaft das Subjekt seine ›bösen‹ Handlungen wie
Rache oder Mitleidlosigkeit gar nicht mehr als seine eigene moralische Deformation
erfahren kann, plädiert Adorno für eine, an Proust geschulte, Sensibilisierung für
die moralische Dimension scheinbar nichtiger Delikte im Kleinen, nämlich in der
Region des Takts und des ›guten Tons‹. Dort ist dem Subjekt sein Handeln gewis-
sermaßen noch kommensurabel. An Verfehlungen in diesem Bereich »lernen wir
mit dem Moralischen umgehen, es bis in die Haut hinein – als Erröten – spüren,
dem Subjekt es zueignen, das auf das gigantische Sittengesetz in sich so hilflos
blickt wie auf den gestirnten Himmel, den jenes schlecht nachahmt.«876 Wenn
das Sittengesetz wie eine zweite Natur dem Subjekt heteronom gegenübersteht,
bleibt als Residuum moralischer Distinktionsfähigkeit Adorno zufolge nur noch
die Sphäre subjektiver Innervationen übrig. Doch auch die ist alles andere als
unfehlbar. Sie kann Erfahrungen bereitstellen, die allerdings der Korrektur durch
eine Reflexion bedürfen, welche sich am normativen Maßstab der Kritik orientiert.
Nicht die Idiosynkrasie gegen die »minimalen Verstöße«877, Taktlosigkeiten und
Verletzungen im Alltagsleben allein ist es also, die den Weg zur moralisch folgen-
reichen Erfahrung schafft. Denn »die Gesellschaft [hat] gegen Unmenschlichkeit
gar nichts, gegen falsches Benehmen um so mehr einzuwenden.«878 Wichtig ist
die Reflexion darauf, dass wir an unseren eigenen Innervationen im Bereich des
Benehmens und des Umgangs im Alltagsleben Modelle moralischer Erfahrung
haben, in denen wir immerhin noch eine Vorstellung davon bekommen können,
was richtiges und falsches Handeln aus subjektiver Perspektive bedeuten könnte,
wenn denn überhaupt etwas davon abhängen würde. Erst diese Reflexion macht
es möglich, den Mikrokosmos des Subjekts als Stellvertreter des moralischen Kos-
mos zu begreifen. Damit ist aber zugleich die Reflexion auf universale, kritische
Normativität gesetzt und der Mikrokosmos auch transzendiert. Insofern »vermag

875 »Adornos Interesse«, schreibt Heinz Paetzold, »gilt den gesellschaftlich produzierten
Verstümmelungen der Humanität. Nicht allein die nach außen gewendeten
Verhaltensweisen beschädigt die kapitalistische Gesellschaft, sondern auch die Gesten
des zwischenmenschlichen Verkehrs.« (Paetzold, Marxismus und philosophische
Anthropologie, a. a. O., S. 98.)
876 Adorno, GS 4, S. 203 f.
877 Ebd., S. 203.
878 Ebd.
9.5 Die Artikulation moralischer Erfahrung 239

der, dessen moralischer Impuls aufs ganz Äußerliche, die fetischisierte Konvention
anspricht, im Leiden an der unüberwindlichen Divergenz von innen und außen,
die er in ihrer Verhärtung festhält, das Allgemeine zu ergreifen, ohne sich selber
und die Wahrheit seiner Erfahrung darüber zu opfern.«879
Ohne – im weitesten Sinn – ästhetische Erfahrungen keine Normativität; aber
ohne reflektierte Normativität auch keine Erfahrungen, die sich an einem kritischen
Wahrheitsanspruch messen lassen. Der Verweis auf den moralischen Mikrokosmos
kann keinen Ausweg aus der Aporie der Moral im »falschen Leben« zeigen. Er ist
im Zusammenhang zu sehen mit dem Konzept eines »stellvertretenden Lebens«.
Das wiederum ist untrennbar verbunden mit einer der wichtigsten Formulierungen
der historisch reflektierten Adorno’schen Moralität: mit dem Postulat, »den ideo-
logischen Missbrauch der eigenen Existenz sich zu versagen und im übrigen privat
so bescheiden, unscheinbar und unprätentiös sich zu benehmen, wie es […] die
Scham darüber gebietet, dass einem in der Hölle noch die Luft zum Atmen bleibt.«880

9.5 Die Artikulation moralischer Erfahrung


9.5 Die Artikulation moralischer Erfahrung
Hier wird die Erfahrung dessen artikuliert, der den Vernichtungslagern entgehen
konnte. Es ist die Verstricktheit, wie Adorno sagen würde, in einen objektiven
Schuldzusammenhang. Die zitierte Passage fokussiert die Grundthemen von Adornos
Moralphilosophie: die Unmöglichkeit eines »richtigen Lebens« in einer falschen
Totalität und den kategorischen Imperativ, eine Wiederholung des Unausdenkli-
chen zu verhindern. Die negative Moralphilosophie unternimmt den Versuch einer
Gratwanderung. Adorno will keine ›neue Moral‹ aufstellen, denn seine historisch
ansetzende Ideologiekritik der Moral kommt zu dem Ergebnis: »Selbst die Normen,
welche die Einrichtung der Welt verdammen, verdanken sich deren eigenem Un-
wesen. Alle Moral hat sich am Modell der Unmoral gebildet und bis heute auf jeder
Stufe wiederhergestellt.«881 Aber er weiß, dass Kritische Theorie der Normativität
bedarf und insofern das Erbe der Moral anzutreten hat. Und das ist nach Adorno
möglich, weil Moral keineswegs nur ideologischen, herrschaftsstabilisierenden
Charakter hat, sondern »den Gesellschaftszustand selbst angreifen«882 kann. In

879 Adorno, GS 4, S. 204.


880 Ebd., S. 29.
881 Ebd., S. 210.
882 Adorno, GS 8, S. 263.
240 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

Ethik steckt »kraft der Antithese des Seinsollenden zum Seienden«883 verändernde
Kraft. Adorno will sie aktualisieren und der Kritischen Theorie zueignen, indem er
sie dem Missbrauch der Hypostasierung des moralischen Impulses zu affirmativen
ethischen Systemen entreißt.
Systemkritik ist aber für Adorno nicht gleichbedeutend mit unsystematischem
Denken. In dem für die Konstruktion seiner Philosophie als ganzer bedeutsamen
Text Der Essay als Form884 wird das Programm eines theoretischen Verfahrens
formuliert, das sich nicht an einem fixierten System orientiert, dessen Begriffe
sich, gleich ob deduktiv oder induktiv, äußerlich zum Material verhalten, das es zu
erschließen gilt, sondern das seine immanente Logizität als Verfahren entwickelt,
indem es sich den Objekten seiner theoretischen Arbeit anmisst. Insofern ist das
Verfahren nicht unsystematisch. Es ist anhand von angebbaren Kriterien orga-
nisiert, die in der Auseinandersetzung mit dem untersuchten Gegenstand selbst
gewonnen werden, und nicht als schon fertige Kategorien verstanden werden, denen
der Gegenstand wie einem Maßstab unterworfen wird.
Im Hinblick auf die Thematik dieser Untersuchung lässt sich nun die These
formulieren, dass es einen gemeinsamen systematischen Fluchtpunkt gibt, auf den
sich Adornos moralphilosophische Reflexionen beziehen lassen. Es ist der Versuch
der Artikulation moralphilosophischer Erfahrung. Im Essay soll die Artikulation
von Erfahrung ihre erkenntnisstiftende Form, die sie für Adorno einem metho-
disch-formalen, wissenschaftlichen Erkenntnisideal überlegen macht, darum ge-
winnen können, weil der Essay imstande ist, durch das Eindringen in substantielle
geistige Gebilde eine Konkretion von Erfahrung zu ermöglichen. Entsprechend kann
man in den Elementen von Adornos negativer Moralphilosophie, die kein Prinzip
aufstellen will, aber gleichwohl prinzipiell ansetzt, die Arbeit an der Artikulation
der moralischen Erfahrung erkennen, die für Adorno offenbar den Vorrang gehabt
hat vor einem auf Geltungsfragen bezogenen ethischen Begründungsverfahren.
Das Fehlen einer Theorie der Begründung und der Geltung moralischer Sätze
oder Normen wäre, aus dieser Perspektive betrachtet, daher nicht als Defizit zu
bewerten. Es hat – paradox formuliert – seinen systematischen Ort. Es wäre dann
nicht mehr nur als eine unbeabsichtigte Leerstelle anzusehen, sondern als Ergebnis
einer theoretischen Entscheidung, die ihrerseits begründungsfähig ist. Darin ließe
sich der Schritt vom »Schulbegriff« der Philosophie zu ihrem »Weltbegriff« im
Sinne Adornos erkennen. Der Hintergrund dafür ist darin zu sehen, dass Erfah-

883 Ebd., S. 272.


884 Vgl. Adorno, GS 11, S. 9 ff.
9.5 Die Artikulation moralischer Erfahrung 241

rung für Adorno Erfahrung von Auschwitz bedeutet.885 Die Fixiertheit auf formale
Begründungsverfahren wäre für ihn angesichts dessen sicherlich eine Fortsetzung
des instrumentellen Bannes gewesen.886
Die philosophische Intention einer Artikulation moralisch relevanter Erfahrung
kann als das Unabgegoltene bezeichnet werden, das den Gehalt von Adornos Moral-
philosophie ausmacht. Diese Intention hat sich in seiner eingreifenden, auf aktuelle
Probleme der Gegenwart gerichteten Essayistik manifestiert. Dem geistigen Kampf
gegen gesellschaftliche Heteronomie, gegen Tabus und Borniertheiten, gegen die
Reaktualisierung von verdrängtem faschistoiden und faschistischem Potential und
gegen die Unterhöhlung politischer Demokratisierung durch ökonomische Bewe-
gungsgesetze liegt bei Adorno das Interesse an Autonomie und Freiheit zugrunde.
Das verweist auf die Sphäre der Konkretion und Artikulation der moralischen
Erfahrung, der Form, die sie in seinen Essays gewinnt. Sie ist in der vorliegenden
Studie nicht berücksichtigt worden, weil ihre Fragestellung zunächst einmal darauf
abzielte, deren Grundlagen unter primär systematischen Aspekten zu erschließen.
Eine erneute Lektüre der Essays von Adorno, die hier nur programmatisch ange-
regt werden kann, könnte, dieser Grundlagen eingedenk, Adorno als moralischen
Essayisten oder als essayistischen Moralisten entdecken, dessen moralphiloso-
phische Argumentationsbasis freilich nicht intuitiv oder evokativ bleibt, sondern
argumentative Stringenz aufweist. So betrachtet steht Adorno in einer Tradition,
zu der Montaigne, die französischen Moralisten und die aufklärerischen Essayisten
des Rationalismus ebenso gehören wie Nietzsche. Entscheidend ist dabei aber die
ideologiekritische Reflexion, die aktualisierte und zugleich unverzerrte Marx’sche
Spur in Adornos Denken. Nicht zuletzt das würde der Verwechselung mit den
»moralisierenden Kritikern« bzw. »kritisierenden Moralisten« vorbeugen, welche
die kritische Theorie des 19. Jahrhunderts zur Polemik herausforderten, weil sie

885 »Erfahrung soll nicht heißen, persönliche Erfahrung des Augenzeugen, sondern
Erfahrung des Bewußtseins«, schreibt Detlev Claussen. »Diese Erfahrung des
Bewußtseins hat Adorno zum Ausgangspunkt gesellschaftskritischer Wahrnehmung
gemacht.« (Claussen, Grenzen der Aufklärung, a. a. O., S. 10 f.) – Ist nach Auschwitz noch
eine politische Moral möglich? Die Frage stellt Alfons Söllner in einem Vortrag an der
Universität Lüneburg am 8. 7. 1991. Diese Fragestellung korrespondiert mit Adornos
moralphilosophischen Intentionen. »Nur in der Reflexion auf Auschwitz könnte der
Bann gebrochen werden, den eine entfesselte instrumentelle Vernunft über die Kultur der
Moderne verhängt hat« (Helmut Dubiel, Kommentar zu Leo Löwenthals »Individuum
und Terror«, in: Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, a. a. O., S. 29).
886 »Auschwitz erzwingt ein Erinnern ohne Begründung, eine andere, neue Form des
Nachdenkens über gesellschaftliche Beziehungen.« (Claussen, Grenzen der Aufklärung,
a. a. O., S. 24.)
242 9 Umrisse einer negativen Moralphilosophie

nicht Kritik auf der Basis eines moralischen Interesses an freier Selbstbestimmung
der Menschen übten, sondern es bei moralischer Entrüstung beließen.
Erkennt man also das Fortwirkende der moralphilosophischen Arbeit Adornos
in der Intention auf die Artikulation moralischer Erfahrung, die sich ebenso an
systematischen Motiven orientiert wie an konkret-individueller Erfahrung, in der
sich geschichtlich-gesellschaftliche Objektivität kristallisiert, dann lohnt es sich,
zu fragen, ob dieses Programm und die Ansätze seiner Durchführung nicht als
Korrektur einer Moralphilosophie fruchtbar gemacht werden könnte, die sich nur
noch auf geltungsbezogene Begründungsfragen beschränkt.
Indem systematische und (philosophie-) historische Aspekte miteinander ver-
bunden wurden, sollte deutlich gemacht werden, dass die systematisch zentrale
Kategorie des moralischen Impulses, die in der Negativen Dialektik nicht frei von
Missverständlichkeit bleibt, konkretisiert werden kann, wenn man sie in den Zu-
sammenhang des fragmentarischen Ganzen von Adornos Moralphilosophie stellt.
Die Dialektik der Moralität, das Ineinanderspielen von kritischen und repressiven
Momenten, entfaltet sich bei Adorno als ein Bestandteil der Dialektik von Ratio-
nalität und von Aufklärung.
Das Programm von Adornos negativer Moralphilosophie möchte ich, soweit es
sich rekonstruieren ließ, als Variation des Einleitungssatzes der Negativen Dialektik
formulieren: Moralphilosophie erhält sich am Leben und erheischt immanente Kritik,
solange die praktische Verwirklichung ihrer universalistisch-emanzipatorischen
Gehalte versäumt wird. Analog zur Kritik metaphysischer Ursprungsphilosophie
gibt es bei Adorno Elemente einer Kritik moralischer Prinzipienphilosophie. Sein
Gegenentwurf intendiert nicht etwa eine »materialistische Ethik« im Sinne einer
Ethik, die den idealistischen Prinzipien materialistische entgegenhält.887 Er zielt
erst recht nicht ab auf eine neue »materiale Wertethik« im Sinne Schelers. Er hat
vielmehr die konsequente Reflexion der Aporie zum Thema, in die das philoso-
phische Bewusstsein gerät, wenn einerseits gilt, dass Prinzipienethik unwahr ist,
weil sie suggeriert, es könne doch ein »richtiges Leben im falschen« geben, und
andererseits auch gilt, dass eine abstrakte Negation der Moralphilosophie, die
dogmatisch deren Überflüssigkeit in einer ökonomisch und politisch veränderten
Gesellschaft behauptet, ebenso unwahr ist. Wer von Aporien in Adornos negativer
Moralphilosophie spräche, hätte also nicht Unrecht. Aber er würde sie damit nicht
kritisieren, sondern charakterisieren. Denn man darf nicht verkennen, dass es

887 In diesem Sinne hat Friedrich Albert Lange den Begriff geprägt. Vgl. Friedrich Albert
Lange, Geschichte des Materialismus, hrsg. v. A. Schmidt, Bd. 1, Frankfurt/M. 1974,
S. 37 f. und dazu: Schmidt, Der Begriff des Glücks in der materialistischen Philosophie,
a. a. O., S. 147.
9.5 Die Artikulation moralischer Erfahrung 243

sich nicht um Aporien handelt, die inkonsequentes oder negativistisches Denken


subjektiv zu verantworten hätte, sondern um objektive.
Nach Adorno bleibt dem einzelnen »an Moralischem nicht mehr übrig, als
wofür die Kantische Moraltheorie […] nur Verachtung übrig hat: versuchen, so
zu leben, daß man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein.«888 Darin ist ein
Doppeltes ausgedrückt. Es gibt eine Verpflichtung, das Wenige, das wir an Morali-
schem verwirklichen können, auch zu verwirklichen. Und es gibt die durch nichts
verbürgte Hoffnung, dass jenes Wenige nicht ein für allemal alles bleiben muss.
Wenn wir Adornos Motive ernst nehmen, dann sollten wir erwägen, ob es nicht
sinnvoll ist, statt der Frage »Warum sollen wir moralisch sein?« zunächst einmal
andere Fragen zu stellen: Warum und inwiefern ist Moral unmoralisch? Warum
(bzw. wann) ist Unmoral moralisch? Warum geht es nicht ohne Moral, aber auch
nicht mit ihr? Und was bedeutet es, dass wir diese Widersprüche begreifen müssen,
sie aber nicht stehen lassen dürfen?

888 Adorno, GS 6, S. 294.


Literaturverzeichnis
Literaturverzeichnis
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1. Unveröffentlichte Texte von Adorno


Adorno, Theodor W.: Probleme der Moralphilosophie. Vorlesung, gehalten im Wintersemester
1956/57 an der Universität Frankfurt, Typoskript (228 Seiten) im Theodor W. Adorno
Archiv, Frankfurt/M. (Im Text zitiert als: PM 1 mit dem Datum der jeweiligen Vorlesung.)
Adorno, Theodor W.: Probleme der Moralphilosophie. Vorlesung, gehalten im Sommerse-
mester 1963 an der Universität Frankfurt, Typoskript (226 Seiten) im Theodor W. Adorno
Archiv, Frankfurt/M. (Im Text zitiert als: PM 2 mit dem Datum der jeweiligen Vorlesung.)
Adorno, Theodor W.: Typoskript Nr. 15136 im Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt/M.
Adorno, Theodor W.: Typoskript Nr. 15041 im Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt/M.
Für die Genehmigung zur Verwendung von Zitaten aus diesen Quellen im Frankfurter Theodor
W. Adorno Archiv danke ich Rolf Tiedemann.

2. Weitere Schriften von Adorno


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1970–1986 (Zitate aus den Gesammelten Schriften werden im Text durch Angabe von
Band und Seitenzahl nachgewiesen. Die Zahl vor dem Komma gibt den Band an, die
Zahl nach dem Komma die Seite.)
Adorno, Theodor W.: Probleme der Moralphilosophie (1963), hg. v. T. Schröter, in: T. W.
Adorno, Nachgelassene Schriften, Abt. IV, Bd. 10, Frankfurt/M. 1996
Adorno, Theodor W.: Philosophische Terminologie. Zur Einleitung, hrsg. v. R. zur Lippe,
Bd. I u. II, Frankfurt/M. 1973 u. 1974
Theodor W. Adorno u.a.: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt/M. 1980
Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit, hrsg. v. G. Kadelbach, Frankfurt/M. 1982
Adorno, Theodor W., Max Horkheimer u. Hans Georg Gadamer: Über Nietzsche und uns.
Zum 50. Todestag des Philosophen (1950), in: M. Horkheimer, Ges. Schriften, Bd. 13,
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