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KG, Wiesbaden
ISBN Print: 9783447109581 — ISBN E-Book: 9783447197250
Diskurse der Arabistik
Herausgegeben von
Hartmut Bobzin und Angelika Neuwirth
Band 25
2018
Harrassowitz Verlag · Wiesbaden
2018
Harrassowitz Verlag · Wiesbaden
Vorwort ............................................................................................................... IX
1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen ............................ 1
1.1 Fragestellung ............................................................................................. 1
1.1.1. Die Verortung der Ethikfrage in der islamischen Theologie................. 1
1.1.2. Kontroversen der islamischen Ethikdebatte .......................................... 5
1.1.3. Die vorzügliche Ethik und die Frage der Rezeption
des griechischen Erbes .......................................................................... 8
1.2. Erkenntnistheoretische Grundfragen ........................................................ 11
1.2.1. Die ethischen Wurzeln der islamischen Rechtstheorie:
entstanden aus dem Konflikt der Interpretationen ................................ 11
1.2.2. Die Ethikfrage im Lichte der maqāṣid-Theorie: šarīʿa, fiqh, aḫlāq...... 18
1.2.3. Glaubensorientierte Lebensführung im Verhältnis
von Anerschaffenheit (fiṭra) und Vernunft (ʿaql) ................................. 22
1.2.4. Aš-Šāṭibīs Ethik im Verhältnis von Pflicht und Ausrichtung ............... 27
1.3. Zur Methodenfrage .................................................................................. 31
1.3.1. Das ethische Prinzip der Fürsorge als Ort zur Begründung der Pflicht. 31
1.3.2. Die Frage von Hierarchie und Organisation im Verhältnis
von maqāṣid und aḥkām ....................................................................... 32
2. Grundfragen rationaler Begründbarkeit der Moraltheologie der šarīʿa .. 35
2.1. Offenbarungsintention als Begründungsort moralischer Pflicht .............. 35
2.1.1. Diskursethische Argumentation im Verhältnis zur rationalen
Urteilsfindung ....................................................................................... 35
2.1.2. Rechtliche Analogie, Absicht und diskursethische Moralbegründung . 44
2.1.3. Moralnormen im Kontext teleologischer Begründungsansätze ............ 56
2.2. Moralbegründung der maqāṣid im Lichte der theologischen
Hermeneutik ............................................................................................. 62
2.2.1. Von expliziter Bedeutung zum impliziten Aufforderungsakt –
Absicht im Spannungsfeld zwischen Wille und Grund ........................ 62
2.2.2. Die rhetorischen Wurzeln von aš-Šāṭibīs diskursethischer
Moralbegründung ................................................................................. 67
2.2.3. Zur Verstrickung von Finalität und Kausalität bei der ethischen
Urteilsfindung ....................................................................................... 71
2.2.4. Schlussbetrachtung ............................................................................... 74
3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung ...................................... 77
3.1. Vorbemerkungen: Maṣlaḥa – ein historischer Überblick ......................... 77
3.1.1. Maṣlaḥa als Prinzip deduktiven Schließens .......................................... 78
3.1.2. Maṣlaḥa als Schöpfungsprinzip ............................................................ 79
6.4. Perspektiven und Ausblick: aḥkām und der moderne Begriff der
Gerechtigkeit ............................................................................................ 186
Diese Arbeit erwuchs dem aus der aktuellen Umbruchphase der Islamischen
Theologie entspringenden dringenden Desiderat, die erkenntnistheoretischen Grund-
lagen der islamischen Ethik- und Moraltheorie epistemologisch zu erforschen und
ihre methodischen Wurzeln theologisch und ethisch zu ergründen. Die Auswahl des
spätmittelalterlichen Rechtstheorie-Werks al-Muwāfaqāt von Abū Isḥāq Ibrāhīm ibn
Mūsā aš-Šāṭibī1 (gest. 790/1388) als Ausgangspunkt dieser Fragestellung verortet
die hier durchgeführte Diskussion methodisch und theoretisch im genealogischen
Prozess der Relektüre und Rekonstruktion der islamischen Tradition in der
Moderne. Dies zieht eine tiefgreifende Reflexion über die moderne Auffassung bzw.
Rezeption theologischer Grundbegriffe aus dem islamischen Erbe unmittelbar nach
sich.
Dabei werfen die hier diskutierten Themen eine Vielzahl kontroverser Fragen
auf, die Gegenstand zahlreicher Studien und außerordentlich komplexer Debatten
waren. Was diese Arbeit bei der Erörterung von ethischen und moralischen Grund-
fragen wie Freiheit, Verantwortung, Tugend und Gemeinwohl aber zunächst interes-
siert, ist nicht die formale Aufstellung der islamischen Normativität hinsichtlich
ihrer praktischen Anwendung, die zweifellos einen besonderen Stellenwert in der
lebhaften aktuellen Diskussion um das Verhältnis zwischen theologisch-ethischen
und zivilrechtlichen bzw. institutionellen Verhaltensnormen des modernen Staates
einnimmt. Im Folgenden geht es vielmehr um eine epistemologische Auseinander-
setzung mit den den praktischen Moralnormen zugrunde liegenden tiefgreifenden
wissenschaftstheoretischen Ideen sowie mit den Denkvoraussetzungen ihrer ideen-
geschichtlichen Entwicklung und mit ihrer Verortung in moderne Denkprozesse.
Dies sind Themenbereiche, die traditionell, wenn auch nur ansatzweise, Disziplinen
wie dem ʿilm uṣūl al-fiqh (Rechtstheorie) und dem ʿilm al-aḫlāq (Ethik) untergeord-
net waren.
Motiviert ist dieser methodische Vorgang durch den Kerngedanken, dass die ei-
gentlichen Herausforderungen für die heutige islamische Ethik primär das gestörte
Verhältnis zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs der Gelehrsamkeit und dem
volksislamischen Diskurs betreffen. Denn auf der einen Seite konnte sich der wis-
1 Abū Isḥāq Ibrāhīm ibn Mūsā aš-Šāṭibī, geboren in Granada und nicht in Xàtiva, wie sein Name
eigentlich zu verstehen gibt, ist einer der bedeutendsten spätklassischen Vertreter der
westislamischen Mālikiyya, für die Granada die damalige Hauptstadt war. Der Autorität Mālik
ibn Anas (gest. 179/796) folgend, verdankt aš-Šāṭibī seinen bedeutenden Rang auch seinem
Werk al-Muwāfaqāt über das zielgerichtete Verständnis des Gesetzes und dessen
Auswirkungen auf die Rechtsableitung. (Vgl. Muḥammad aṭ-Ṭāhir ibn ʿĀšūr: Maqāṣid aš-
Šarīʿa al-islāmiyya, neue Auflage, Kairo 2005, S. 38.)
senschaftliche Diskurs der Gelehrsamkeit seit dem Beginn der postklassischen Phase
(um das 7./13. Jh.) über die Kolonialphase hinweg bis zum Scheitern des Anschlus-
ses an die Moderne in der islamischen Glaubensgemeinschaft kaum Gehör verschaf-
fen. Demgegenüber steht auf der anderen Seite ein volksislamischer Diskurs, dessen
Auswüchse von einem passiven, resignierten, mit Aberglaube behafteten Bruder-
schaftsdenken bis hin zu einem organisierten, politisch orientierten, militanten Ge-
dankengut reichen.
Ein Versuch zur Ausarbeitung einer angewandten Moralnormativität im Islam
wäre heute insofern nicht nur verfrüht, sondern er wäre einerseits theoretisch und
methodisch kaum durchführbar, und andererseits würde er sozialwissenschaftlich
und theologisch kaum über die Stufe einer Symptombehandlung hinausgehen. Be-
legt wird dies nicht zuletzt durch das Scheitern zahlreicher Reformvorhaben des
praktischen islamischen Rechts, welche seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts in den
islamischen Ländern in Gang gesetzt wurden und sich auf oberflächliche und mit-
unter formale Änderungsvorschläge beschränkten.
Begründet ist der hier angelegte theoretische Rahmen der Relektüre islamisch-
theologischer Tradition dadurch, dass jegliche moderne Auseinandersetzung mit
dem praktischen islamischen Moral- und Normensystem nur dann Anspruch auf
Kohärenz, Plausibilität und Allgemeingültigkeit erheben kann, wenn die ihr zugrun-
deliegenden theoretischen Prinzipien und Grundsätze ideengeschichtlich herausge-
arbeitet und im Lichte moderner Denkansätze epistemologisch neugelesen bzw.
neudefiniert werden. Die Notwendigkeit einer theoretischen Auseinandersetzung mit
dem theologischen Erbe des Islams ist nicht zuletzt darin erkennbar, dass alle theo-
logischen Fachdisziplinen von der Hadith-Wissenschaft über die Koranexegese bis
hin zur Rechtswissenschaft sich Methoden und Ansätzen bedient haben, die dem
weltlichen bzw. menschlichen Wissen entsprungen sind.
Der heutige Versuch einiger der Islamischen Theologie zugerechneter pseudo-
wissenschaftlicher Ansätze, jeglichen epistemologischen Einfluss des antiken Den-
kens auf die islamische Tradition auszublenden oder gar abzustreiten, führte zu einer
verheerenden Ambiguität zwischen dem Heiligen und dem Profanen im kollektiven
Bewusstsein der Gläubigen. Außerdem trug er dazu bei, die selbstständige Urteils-
findung und die Rolle der menschlichen Vernunft beim Verstehen des Gottesworts
einzuschränken.
Dass die der Koran- und Hadith-Exegese inhärenten sprachtheoretischen und
analytischen Begriffe zum einen hellenistische Hintergründe haben und zum ande-
ren das Produkt einer ingeniösen, diachronischen und diskursorientierten rationalen
Reflexion waren, wird in der islamischen Gelehrsamkeit kaum bestritten. Ebenso
wenig waren die in der griechischen Philosophie verankerten erkenntnistheoreti-
schen Wurzeln der grundlegenden Begriffe der Rechtstheorie wie etwa manṭiq (Lo-
gik), qiyās (Syllogismus) und ʿilliyya (Kausalität) im islamischen theologischen
Diskurs umstritten, deren Entwicklung durch die islamische Philosophie das euro-
päische Denken von der Aufklärungsepoche bis heute maßgeblich geprägt hat. Zent-
rale analytische Begriffe der Moderne wie Argumentation, Abwägung, rationale
Begründung und Deliberation lassen sich bis in die Blütezeit der islamischen Theo-
logie im 3./9. Jahrhundert zurückverfolgen, was die Arbeit der Relektüre heute in
einer ideengeschichtlichen Herangehensweise verorten lässt.
Das der vorliegenden Arbeit als Grundlage dienende hermeneutische Potenzial
der Rechtstheorie speist sich auch aus ihrer Nähe zur Tugendlehre, die im Laufe
ihrer Entwicklung zu einer theologischen Ethik über ein vollendetes Konzept der
Handlungstheorie verfügte. Leider hatte die von der Tugendlehre entwickelte Ethik
kaum Einfluss auf den Prozess der Normableitung in der Rechtstheorie. Ausge-
nommen sind lediglich Rechtstheorien, die dem Ansatz der maqāṣid zuzurechnen
sind. Die Besonderheit der auf die Intention bzw. Zielsetzung des Gotteswortes
ausgerichteten Rechtstheorie offenbart sich in ihrer von ethischen Maximen ausge-
henden Normableitung. Der Schlussstein ethischer Ausrichtung der Offenbarung ist
nach aš-Šāṭibī die Glückseligkeit der Gläubigen im Dies- und im Jenseits. Diesem
Verständnis nach geschieht die moralische Urteilsfindung im Koran nicht durch eine
unmittelbare Unterteilung koranischer Aussagen gemäß der fünf bekannten Rechts-
normen, nämlich Verbot, Gebot, Verwerfung, Empfehlung und Erlaubnis. Vielmehr
geht es bei einer Normableitung um eine rationale Reflexion über das Verhältnis
zwischen Moral- und Rechtsnorm sowie ethischer Maxime, die aus den Offenba-
rungsquellen abgeleitet wird.
Aš-Šāṭibīs Grundthese zur Begründung moralisch-theologischer Pflichten lautet:
Die Moral- und Rechtsnormen sind im Lichte der von Vernunft und Glaube festge-
legten ethischen Ausrichtung aus den Offenbarungsquellen abzuleiten. Ihre Frage-
stellung ist rituelles bzw. weltliches Handeln unter dem Aspekt von sittlich und
theologisch Schädlichem oder Nützlichem. Das Wissen um ein moralisches Urteil
zielt nach aš-Šāṭibīs intentionalem Ansatz nicht auf die Festlegung seiner Umset-
zungsart ab, sondern auf die vernunftorientierte Plausibilisierung des ihm zugrunde
liegenden Werts und seine Übertragung in die entsprechende Pflichtform.
Wie die Disziplinen Koranexegese (tafsīr) und Koranwissenschaften befasste
sich ab dem 3./9. Jahrhundert auch die islamische Rechtstheorie mit der Koranher-
meneutik. Sie entwickelte dabei eine eigenständige Auslegungsmethodik, in deren
Mittelpunkt die Ableitung von Rechts- und Moralnormen aus der Offenbarung
stand, und die bis heute als vielversprechend für die praktische Orientierung der
Exegese gilt. Die Bedeutungsanalyse der tafsīr-Wissenschaft deutete hingegen ab
dem Beginn des 4./10. Jahrhunderts auf die Etablierung des theologischen Sinns in
den koranischen Denkinhalten hin und vernachlässigte somit das hermeneutische
Potenzial einer am Sprachwandelprozess orientierten, diachronischen und glaubens-
orientierten semantischen Ableitung theologischer Fachbegriffe.
Im Lichte der Frage nach der verbindlichen Ableitung von Rechts- und Verhal-
tensnormen aus dem Koran entwickelten sich bereits in der frühislamischen Exegese
die Grundzüge hermeneutischen Denkens über komplexe Offenbarungsinhalte. So
gelten die Auslegungen von ʿAbdallāh ibn ʿAbbās (gest. 68/687), ʿAlī ibn Abī Ṭālib
(gest. 40/661), Ubayy ibn Kaʿb (gest. 30/651) und ʿAbdallāh ibn Masʿūd (gest.
32/652), auf die die gesamte exegetische Tradition zurückgeht, für eine Vielzahl
präskriptiver Koranverse als richtungsweisend.
Die exegetischen Überlegungen von ʿAbdallāh ibn ʿAbbās galten primär dem
Abweichungsprozess, der in Folge des semantischen Wandels einzelner Wörter von
den bei den Arabern damals anerkannten sprachkonventionellen Bedeutungen zu
glaubensorientierten theologischen Fachtermini zu einer neuen Wahrnehmung fakti-
scher Lebensrealität führte.
So wurden Ideen des Glaubens, die den Menschen damals kaum zugänglich wa-
ren, stufenweise ins Bewusstsein der Gemeinschaft eingeführt. Dieser semantische
Abweichungsprozess verlief in den Anfängen der glaubensstiftenden Offenbarungen
lexikalisch am Beispiel neuer religiös belegter Verwendungsweisen einzelner Be-
griffe wie etwa zakāt (Almosenabgabe), ṣālāt (Gebet) und ḥaǧǧ (Pilgerfahrt).
Die mit dem neuen Glauben einhergehende Umwandlung des empirischen Selbst
erlangte ihren Höhepunkt bei dem Aufruf zum Umdenken, das beispielhaft in der
theologischen Bedeutung des Wortes zakāt ihren Ausdruck findet. Dieses Wort, das
vor der Offenbarung vor allem „Vermehren“ bedeutete, nahm im Koran nun die
Bedeutung „großzügige Abgabe an Bedürftige“ an.
Im Koran sind sowohl die konventionelle Bedeutung (Q 9:103) als auch der the-
ologische Inhalt des Wortes zakāt (Q 2:110) belegt. Der Verhältnisbestimmung
beider Bedeutungsebenen galt das Interesse der früheren Koranexegese.
„Nimm von ihrem Besitz ein Almosen, mit dem du sie rein machst und läu-
terst, und bete für sie, denn dein Gebet ist für sie eine Beruhigung! Allah ist
Allhörend und Allwissend.“ (Q 9:103)2
In diesem Vers wird ṣalāt im Sinne von Bittgebet und zakāt im Sinne von Reinheit
(auch ein Begriff der Emphase) verwendet. Die theologischen Bedeutungen finden
sich in Pflichtversen wie z.B.:
„Und verrichtet das Gebet und entrichtet die Abgabe. Und was ihr für euch
selbst an Gutem vorausschickt, werdet ihr bei Allah finden. Was ihr tut, sieht
Allah wohl.“ (Q 2:110)
Das hermeneutische Potenzial der frühen Koranexegese zeigt sich in einer Frage, die
das Wesen und den ethischen Sinn der Offenbarung offenkundig zu machen verhilft,
nämlich: Wie kann man etwas vermehren, indem man es ausgibt?
Die von der Hermeneutik gelieferte Antwort auf diese Frage herrührend aus dem
Sufismus, dass nur die Liebe durch Ausgabe vermehrt werden könne, zieht zwei
grundlegende Hypothesen zum Koran nach sich: erstens, dass die koranische Spra-
che eine Sprache der (Nächsten-)Liebe und Fürsorge sei, die eine bedingungslose
Überwindung des Selbst erfordere; zweitens, dass sich ein angemessenes und theo-
2 Q = Qurʾān. Die Koranzitate stammen, wenn nicht anders angegeben, aus: Abdullah Frank
Bubenheim/Nadeem Ata Elyas: Der edle Qur’ān und die Übersetzung seiner Bedeutungen in
die deutsche Sprache, Medina 2004.
logisch relevantes Verständnis des Korans nicht mit der Umschreibung seiner Spra-
che der Liebe in eine Sprache des Gesetzes vereinbaren lasse. 3
Diese Idee lässt sich mit Hilfe einer Vielzahl früherer Deutungen von ʿAbdallāh
ibn ʿAbbās bestätigen. So wird das Wort ẓulm in Q 31:13 als Ungerechtigkeit gegen-
über sich selbst gedeutet und auf diese Weise dem Unglauben gleichgestellt. Indem
die Gefühlsneigung (hawā) über den gläubigen Willen gestellt wird, entsteht eine
Beigesellung Gottes (širk), die als Ungerechtigkeit gegenüber sich selbst von
ʿAbdallāh ibn ʿAbbās bezeichnet wird. Auch hierbei ergibt sich ein hermeneutischer
Zugang, der eine Reflexion über das Verhältnis zwischen Selbstliebe und Selbst-
schätzung in der Offenbarung hervorruft.
Diese vielversprechende Verhältnisbestimmung zwischen der Offenbarung und
der aus ihrem besonderen Sprachgebrauch ausgehenden ethischen Botschaft trat im
Prozess der Kanonisierung der Exegese schon ab dem 3./9. Jahrhundert wieder in
den Hintergrund.
Aufgrund der Wandelbarkeit der Denkvoraussetzungen in der Exegese, deren
Methodik sich historisch an den sich ständig verändernden Vollzugszusammenhän-
gen im Leben der Gläubigen orientierte, ist es unabdingbar, dass die moderne nor-
mative Koranhermeneutik heute die Tradition in ihrer theologischen und methodi-
schen Bandbreite rezipiert, und zwar von den Anfängen der Überlieferungsexegese
(tafsīr bi-l-maʾṯūr) mit ihren Hauptvertretern ʿAbdallāh ibn ʿAbbās und Muǧāhid ibn
Ǧabr (gest. 104/722) über die Etablierungsphase bei Abū Ǧarīr aṭ-Ṭabarī (gest.
310/923) bis hin zur Blütezeit der rational-theologischen Koranauslegung bei az-
Zamaḫšarī (gest. 538/1143) und ar-Rāzī (gest. 606/1210).
Zugleich sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die aufgrund der
veränderten Lebensrealität und dem damit einhergehenden Einfluss der Politik auf
die Theologie ab dem 3./9. Jahrhundert eingetretene Pluridisziplinarität, allem Posi-
tiven zum Trotz, zu einer Verschlossenheit in den theologischen Wissenschaften
geführt hat, allen voran in der traditionellen Koranexegese.
Die Einzelbereiche der Koranwissenschaften wie Offenbarungsanlässe, Abroga-
tion, Vieldeutigkeit, mekkanische und medinensische Suren etc. haben dem Ver-
ständnisprozess in der Geschichte zwar den methodischen Unterbau geliefert, doch
eine tiefgreifende gegenseitige theoretische Befruchtung zwischen Koranwissen-
schaft und Koranexegese ist ausgeblieben. Während sich die klassische Exegese
zunehmend auf die Überlieferung tradierter Untersuchungsmethoden konzentrierte,
entwickelte die Rechtstheorie einen herausragenden hermeneutischen Ansatz, dessen
Relevanz für den Lebensvollzug der Gläubigen immer mehr an Bedeutung gewann.
So hat unter anderem al-Ġazālī (gest. 505/1111) in seinem Werk al-Mustaṣfā die
analytischen Begriffe herausgearbeitet, die den präskriptiven Charakter einzelner
Koranverse argumentativ und handlungstheoretisch plausibel nahelegen.
3 Vgl. ausführlicher Mohammed Nekroumi/Arnulf von Scheliha: „Klug sein angesichts der
Unergründlichkeit des Lebens“. In: Silke Lechner/Heide Stauff/ Mario Zeißig (Hg.): Deutscher
Evangelischer Kirchentag, München 2016, S. 101-110.
kurs aufholen und den Anschluss an die moderne wissenschaftliche Debatte finden
kann.
Ein Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, sich einer solchen Aufgabe kritisch und
interdisziplinär zu stellen. Deshalb versucht sie, die Denkvoraussetzungen und die
damit einhergehenden konnotativen Argumentationsvorgänge erkenntnistheoretisch
zu untersuchen und ihre Kohärenzprinzipien hermeneutisch zu hinterfragen, um so
Wege und Perspektiven für neue, zeitgemäße hermeneutische Ansätze auszuloten.
Diese Arbeit besteht nebem dem Vor-und Schlusswort aus sechs Kapiteln. Das
erste skizziert kurz die Fragestellung der Arbeit und befasst sich darüber hinaus mit
den konzeptionellen Grundsätzen von aš-Šāṭibīs Rechtstheorie. Zum einen geht es
um die historische und wissenschaftstheoretische Verortung der maqāṣid-Theorie
innerhalb benachbarter Fachdisziplinen, zum anderen um ihren normativen Charak-
ter und ihre Stellung gegenüber den klassischen rechtstheoretischen Ansätzen. Dabei
wird im Zuge einer Diskussion fachspezifischer Grundbegriffe wie šarīʿa (göttliche
Rechtsordnung), fiqh (positives Recht), ʿaql (Vernunft) und fiṭra (Anerschaffenheit)
der hermeneutische Charakter dieser ethisch ausgerichteten Rechtstheorie aufge-
zeigt. Sowohl hinsichtlich der Rechtstheorie als auch mit Blick auf die Tugendlehre
muss ausgewiesen werden, inwiefern die maqāṣid-Theorie als eine eigenständige
Disziplin betrachtet werden kann, in der der theoretische Rahmen hervorgebracht
wird, um Elemente der Rechtstheorie und Grundsätze der Tugendlehre in einer
umfassenden Ethiktheorie zu vereinen. Dieses erste Kapitel will Argumente für die
Abhängigkeit zwischen dem deontologischen Gesichtspunkt der šarīʿa und dem
teleologischen Charakter der Offenbarung liefern. Die von aš-Šāṭibī der Offenba-
rung zugeschriebenen drei Arten der Zielsetzung ethischer Urteilsfindung weisen
den Weg zu einer ausgewogenen Verhältnisbestimmung zwischen Moralpflicht und
ethischer Ausrichtung als Ort des Tugendhaften. Diese Zielsetzungen, genannt
maqāṣid, sind durch ihren teleologischen Charakter gekennzeichnet. Während die
sogenannten ḍarūriyyāt (notwendige Maximen, die auf den Schutz des Glaubens,
des Lebens, der Fortpflanzung bzw. der Familie, von Eigentum sowie der intellektu-
ellen Fähigkeit abzielen) auf die Regelung des moralischen Verhaltens ausgerichtet
sind, sind die ḥāǧiyyāt bedürfnisbezogene und die taḥsīniyyāt an der Wohlfahrt
orientierte Maxime und im Bereich der Tugenden anzusiedeln. Die ḥāǧiyyāt impli-
zieren nach aš-Šāṭibī diejenigen normativen Aspekte, die fakultativ sind, um die
Härten der Pflichten zu mildern, sodass dem Gottesgebot ohne Kummer oder Un-
gemach gefolgt werden kann. Aš-Šāṭibī stellt sie hierarchisch unter die ḍarūriyyāt-
Maximen und nennt hierfür die Einzelheiten des Handelsrechts als Beispiel. Die
taḥsīniyyāt-Maximen, die dem Wohlbefinden der Gläubigen dienen sollen, werden
wiederum den ḥāǧiyyāt-Maximen untergeordnet.
Im zweiten Kapitel wird, ausgehend von den vorangegangenen Ausführungen,
das Verhältnis zwischen Vernunft und Glaube beim Verständnis der Offenbarung
eingehend diskutiert. Diese Auseinandersetzung betrifft vor allem die Frage ratio-
naler Begründung der Moral- und Rechtsnormen der šarīʿa, was eine umfassende
hermeneutische Reflexion über die Schlüsselbegriffe von aš-Šāṭibīs maqāṣid-Theo-
rie hervorrief, die seiner Begründbarkeitstheorie zugrunde liegen, wie etwa causa
(ʿilla), Absicht (niyya), Motiv (ġaraḍ) und Anlass (sabab). Im Lichte der modernen
Auffassung von Handlung und Ereignis wird aš-Šāṭibīs Argumentation aus der
Perspektive des Begründungsdenkens philosophischer Ethik betrachtet. Schwer-
punkt dieses zweiten Kapitels ist das Verhältnis zwischen Begründen und Verstehen
bei der Ableitung der Moralnormen aus dem Gotteswort.
Hieran anknüpfend widmet sich das dritte Kapitel der wirksamen Aufgabe des
islamischen Ethos in der Gestaltung des Gemeinwesens. Verdeutlicht wird dies
durch die Ausarbeitung des teleologischen Charakters der Offenbarung als eine
Botschaft, deren ethische Ausrichtung dem deontologischen Gesichtspunkt Sinn und
Orientierung verleiht. Der teleologische Charakter führt zunächst in das Verhältnis
zwischen den ethischen Maximen und dem Gemeinwohl (maṣlaḥa) als Schlussstein
der ethischen Ausrichtung ein. Dabei liegt im ersten Abschnitt der Akzent auf den
Diskussionszusammenhängen hinsichtlich der Entstehung des Werturteils, sowohl in
der islamischen Theologie als auch in der philosophischen Ethik. Neben einer Be-
trachtung hermeneutischer Fragen zum Verhältnis von theologischen und rationalen
Auffassungen zu Tugend und Gemeinwohl wird versucht zu erschließen, was es mit
den Begriffen Sünde, Vergebung, Begierde und Willen im Prozess der Verstrickung
in der Handlungsrealität auf sich hat. Mit der Konzipierung einer an der modernen
Ethik orientierten Verhältnisbestimmung zwischen den von aš-Šāṭibī ausgearbeite-
ten verschiedenen ethischen Maximen untereinander erfolgt im vierten Kapitel ein
Erweiterungsentwurf der hermeneutischen Tragweite jeder ethischen Kategorie im
Hinblick auf ihr Verhältnis zu den anderen. Hierbei wird ausgehend von der Ma-
xime des „Schutzes des Selbst“ der Begriff der ethischen Selbstheit eingeführt und
in seiner Relation zu den Maximen „Schutz des Glaubens“, „Schutz des Geistes“,
„Schutz der Familie“ und „Schutz des Besitzes“ theologisch-hermeneutisch defi-
niert.
Das fünfte Kapitel widmet sich den Eigenschaften der theologischen Moral- und
Rechtsnormen, genannt al-aḥkām aš-šarʿiyya. Gegenstand des ersten Abschnitts ist
aš-Šāṭibīs Konzeption der Pflichtnormen (al-aḥkām at-taklīfiyya) und ihr Verhältnis
zur ethischen Ausrichtung.
Im sechsten Kapitel werden die sogenannten konventionellen Normen unter-
sucht. Dabei wird zunächst das wahre Wesen dieser Normen als konstitutive Regeln
diskutiert. Dieser innovative Begriff offenbart den tiefgreifenden Charakter von aš-
Šāṭibīs Moraltheorie, insofern die konstitutiven Regeln dem Urteil den ihm fehlen-
den Umfeldsrahmen hinzufügen. Pflichtakte werden somit aus zwei Perspektiven
gedacht: einerseits aus dem sprechhandlungstheoretischen Gesichtspunkt und ande-
rerseits aus dem situativen und kontextualen Zusammenhang der Sprechakte. In
diesem Abschnitt liegt der Akzent allerdings auf der Frage der Zurechnung im
Lichte des kausalen Handlungsumfelds. So werden die Begriffe sabab (Anlass) und
musabbab (Wirkung/Ergebnis) hinsichtlich ihres hermeneutischen Potenzials unter-
sucht und anhand von aš-Šāṭibīs Ausführungen diskutiert.
an der einen oder anderen Stelle zum Nachdenken brachten, wenn auch nicht all ihre
Anregungen Eingang in das finale Manuskript finden konnten. Herrn Farid Sulei-
man möchte ich ebenso für seine Geduld sowie seine sorgfältige Lektoratsarbeit und
Endformatierung danken.
1.1 Fragestellung
1.1.1. Die Verortung der Ethikfrage in der islamischen Theologie
In der heutigen lebhaften Diskussion um die islamische Ethik stößt man in der
Fachliteratur kaum auf Studien, die sich ideengeschichtlich und epistemologisch,
mit Blick auf die ganze Bedeutungstiefe ethischer Begriffe und mit dem Wandel des
normativen Konzepts der šarīʿa in den unterschiedlichen Epochen der islamischen
Geistesgeschichte aus hermeneutischer Sicht befassen. Auslöser der modernen De-
batte um Bedeutung und Anliegen des Begriffs šarīʿa war die Frage nach der Be-
ständigkeit und Allgemeingültigkeit göttlicher Ge- und Verbote. Damit rückt seit
Beginn des 20. Jahrhunderts die maqāṣid-Theorie zunehmend ins Interesse islami-
scher Theologen. Das arabische Wort maqāṣid bedeutet allgemein „Ziele“, und es
meint hier explizit die Ziele der šarīʿa bzw. die Intentionen des Gesetzgebers, wel-
che in der Rationaltheologie als erschließbarer Ausdruck des göttlichen Willens
verstanden werden.
Die Leitfiguren der islamischen Reformbewegung wie Muḥammad ʿAbduh,
Muḥammad aṭ-Ṭāhir ibn ʿĀšūr, Muḥammad ʿAllāl al-Fāsī u.a. waren der festen
Überzeugung, dass die ethischen Weisungen des Korans, die von der islamischen
Rechtsmethodik systematisiert wurden, eine gute Grundlage für eine theologisch
fundierte und zeitgemäße Auslegung der Quellen der šarīʿa bilden.1 Als Forschungs-
thema wurde die Frage der islamischen Ethik in der Postmoderne in Verbindung mit
moraltheologischen und sozialethischen Lebensfragen bislang fast nur im Rahmen
einzelner Beiträge behandelt, die weder wissenschaftliche Kontinuität noch theolo-
gische Fundierung erlangten. Die erwähnenswerten Entwürfe zur ethischen Aus-
richtung der šarīʿa können in zwei Kategorien geteilt werden:
a) Einmalige Aufsätze: Dazu gehören u.a. die Arbeiten von Kevin Reinhardt, 2 Wer-
ner Zager3 und Norman Calder.4
Ältere Arbeiten wie die von Tilman Nagel, 11 Joseph Schacht12 und Harald Motzki13
über islamisches Recht gehen auf den Untersuchungsgegenstand eher historisch ein
und präsentieren ein knappes theoretisches und methodisches Gerüst für die Leit-
frage islamischer Lebensführung im Lichte der Offenbarung. Es gibt somit – trotz
steigenden Interesses an einer zeitgemäßen Definition des islamischen Ethos – keine
umfassende und in ihrer Methodik überzeugende Studie zur islamischen Ethik- bzw.
Moraltheorie. Obwohl der Schlüsselbegriff šarīʿa von der Rechtstheorie als Schöp-
fungsordnung betrachtet wird und damit unmittelbar im Bereich der moralischen
Gesetzlichkeit bzw. in der Ordnung des Gemeinwesens angesiedelt ist, sind nach
wie vor nur Teilaspekte einer theologischen Ethik14 ausgearbeitet, die sich grund-
legenden Fragen nach Wesen und Ausrichtung der lex dei (šarʿ Allāh) als
einheitsstiftender Begründungsort aller Gesetzlichkeiten von den „Naturgesetzen“
über die „logischen Gesetze“ bis hin zur „moralischen bzw. sittlichen Rechtsset-
zung“ stellt.15 Von solchen definitorischen Fragen und den damit verbundenen er-
kenntnistheoretischen Auseinandersetzungen sind die heutigen Studien zu Wesen
5 Muhammad Khalid Masud: Islamic Legal Philosophy. A Study of Abū Isḥāq al-Shāṭibī’s Life
and Thought, Islamabad 1977.
6 Bernard G. Weiss: The Spirit of Islamic Law, Athens (Georgia, USA) 2003.
7 Wael B. Hallaq: An Introduction to Islamic Law, Cambridge/New York 2009; ders.: Shari’a.
Theory, Practice, Transformations, Cambridge/New York 2009; ders.: The Origins and
Evolution of Islamic Law, Cambridge/New York 2005; ders.: Authority, Continuity, and
Change in Islamic Law, Cambridge/New York 2001.
8 Mohammed Arkoun: Rethinking Islam. Common Questions, Uncommon Answers, Boulder
1994.
9 Aḥmad ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šāṭibī, 5. Aufl., Herndon 1995.
10 Nasr Hamid Abu Zaid: Mafhūm an-naṣṣ. Dirāsa fī ʿulūm al-qurʾān, Beirut/Casablanca 1990.
11 Tilman Nagel: Das islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001.
12 Joseph Schacht: An Introduction to Islamic Law, Oxford 1966.
13 Harald Motzki: Die Anfänge der islamischen Jurisprudenz. Ihre Entwicklung in Mekka bis zur
Mitte des 2./8. Jahrhunderts, Wiesbaden 1991.
14 Der Begriff „Theologische Ethik“ wird in dieser Arbeit lediglich als eine deutsche Wiedergabe
der hier angenommenen extensiven Auffassung der Disziplin der uṣūl al-fiqh verwendet, der die
maqāṣid-Theorie als methodologische Grundlage dient. Die ethische Dimension der
islamischen Rechtstheorie intentionaler Prägung geht aus der dem Begriff qaṣd
(Absicht/Intention) inhärenten Nähe zu grundlegenden ethischen Kategorien wie etwa
Gewissen und Verantwortung hervor. Diese Übersetzung lässt sich insofern begründen, als es
nach Johannes Fischer in der christlichen Theologie „keine fixen Standards gibt, an denen
Beiträge zu dieser Disziplin sich messen lassen und vor denen sie ausgewiesen werden
müssen“. Fischer überlässt die fachspezifische Definition der „Theologischen Ethik“ „mehr
oder weniger der individuellen Kreativität“. (Vgl. Johannes Fischer: Theologische Ethik.
Grundwissen und Orientierung, Stuttgart/Berlin/Köln 2002, S. 8.)
15 Vgl. hierzu Friedrich W. Graf: Moses Vermächtnis, München 2006, S. 24.
und Anliegen islamischer Ethik als unabdingbarer Bestandteil der šarīʿa maßgeblich
geprägt. Von Interesse ist hier vor allem die Zuordnung von sittlicher Normenset-
zung und ethischem Werturteil. Versteht man den fiqh (islamische Normenlehre) als
diejenige wissenschaftliche Disziplin, „die den Anspruch des Glaubens an die sittli-
che Lebensführung zum Gegenstand hat“,16 so hebt man die durch ihre
Entwicklungsgeschichte fortwährende Wandlung dieser Disziplin von einer „Nor-
menlehre“ zu einem „Erkenntnisprozess“ hervor.
Problematisch bleibt bei der Diskussion um die islamische Ethik die Annäherung
von Rechtsetzung und moralischem Werturteil. Für den marokkanischen Denker
Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī korrespondiert die griechisch inspirierte „Ethik“ mit der
islamisch-theologischen Unterdisziplin ʿilm al-aḫlāq (Tugendlehre),17 die sich, trotz
der bedeutenden Werke, die sich damit befassten, zu keiner eigenständigen Wissen-
schaft etablieren konnte. ʿIlm uṣūl al-fiqh könne nicht als ʿilm al-aḫlāq betrachtet
werden, da dieser Wissenschaftsbereich sich seit dem 3./9. Jahrhundert zu einer rein
normativen Wissenschaft entwickelt habe, deren Hauptanliegen es gewesen sei,
ethische Kategorien wie Freiheit, Verantwortung und Tugend in einer festen Syste-
matik von konkreten Rechtsbestimmungen und Normen auszuarbeiten. 18
Die Frage nach der ethischen Implikation der šarīʿa und ihrer rationalen Begrün-
dung ist bis heute sowohl theologisch als auch sozialethisch und gesellschaftspoli-
tisch relevant. Zur islamischen Ethikdebatte gehört seit dem Ende des 13./19. Jahr-
hunderts neben der Kritik an dem vermeintlich anachronistischen Straf- und Privat-
recht der šarīʿa auch die Klage, dass ʿilm uṣūl al-fiqh den Grundprinzipien von ʿilm
al-aḫlāq kaum Platz einräume und in ihrer Rechtsordnung der Unterschied zwischen
Göttlichem und Weltlichem, Sündhaftem und Strafrechtlichem auf der Vernunft-
ebene nicht immer klar auszumachen sei. Von daher lasse sich, so al-Ǧābirī, die
Forderung nach einer Neudefinition des Geltungsbereichs des šarʿ Allāh und nach
einer Neuorientierung der moralisch-ethischen Auslegung des Korans aus der Per-
spektive vernünftiger Ordnungsfähigkeit begründen. 19
Diese Fragestellung ist, zumindest was die islamische Tradition angeht, nicht
neu. Sie findet sich in der Rationaltheologie 20 der späten klassischen Phase was al-
Ǧābirī auch einräumt und weshalb er die Ethik als einen interdisziplinären Wissen-
schaftsbereich bezeichnet, welcher fachübergreifend, in allen theologischen Feldern,
von der Exegese über den fiqh bis hin zu Philosophie und Mystik, vertreten war.
16 Konrad Hilpert: „Moraltheologie“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., 10 Bde.,
Freiburg 1993-2001, Bd. 7, 1998, S. 462-467.
17 Siehe zu Vertiefung des Begriffs ʿilm al-aḫlāq Mohammed Arkoun: Der Islam. Annäherung
einer Religion, Heidelberg 1999, S. 235.
18 Vgl. Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-ʿarabī, Beirut 2012, S. 11-21.
19 Vgl. ebd., S. 14.
20 Bei den hier deckungsgleich verwendeten Begriffen „Rationaltheologie“ und „systematische
Theologie“ handelt es sich in dieser Arbeit um ungefähre Wiedergaben des Terminus ʿilm al-
kalām. Im weiteren Verlauf wird „Rationatheologie“ als Übersetzung bevorzugt.
Die islamische Rationaltheologie hat seit ihrer Entstehung versucht, die mora-
lisch-theologischen Vorstellungen ins Verhältnis zum rationalen Denken zu setzen
und damit hermeneutische Brücken zwischen Glaube und Vernunft einerseits sowie
religiösem und weltlichem Ethos andererseits zu bauen. Während die islamische
Rechtstheorie darauf abzielte, das menschliche Handeln ausgehend von den Glau-
bensgrundsätzen zu ordnen, trugen die Rationaltheologie und auch die Mystik durch
ihre Suche nach dem „wirklich“ Guten im Prozess ihrer Beschäftigung mit dem ʿilm
al-aḫlāq zum Grundverständnis des Verhältnisses von Glaube und Vernunft bei. 21
Weil die rechte Glaubenserkenntnis (ʿirfān) nach al-Ǧābirī der Vernunft
(burhān) nicht entbehren könne, könnten ʿilm uṣūl al-fiqh und ʿilm al-aḫlāq einan-
der nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Daher ruft er dazu auf, unter Rückgriff auf
die Errungenschaften aller theologischen Disziplinen eine eigenständige islamische
Ethik zu erarbeiten, die neben der Tugendlehre auch ʿilm uṣūl al-fiqh und die prakti-
sche Normenlehre umfasse und dabei die besonderen Fragen der Moderne berück-
sichtige. Dies setze die Verortung der theologischen Ethik im Kontext von Rationa-
lität und Wissenschaftlichkeit voraus. Nach al-Ǧābirī könne ein solches Unterneh-
men nur gelingen, wenn es zu einer Wiederbelebung der traditionellen Rationalthe-
ologie und der damit einhergehenden Rehabilitation von burhān komme, der durch
die Vorherrschaft von ʿirfān in den Hintergrund geraten sei.
Als herrschende Kulturform der islamischen Aufklärungsepoche drängte sich
nach al-Ǧābirī die Rationalität, insbesondere in den Zeiten Ibn Rušds (lat. Averroes,
gest. 595/1198), durch die ihr zugeschriebene ordnende Funktion jeglicher theologi-
scher Reflexion auf. Ihr argumentatives Potenzial speiste sich aus der Grundmaxime
ethischer Urteilsfindung, die das Moralische gleichermaßen als eine Sache des Wis-
sens und des Glaubens begriff. Bei der Auseinandersetzung von Vernunft und Of-
fenbarung im Streben nach ethisch-theologischer Urteilsfindung sieht al-Ǧābirī Ibn
Rušds ethisches Denken als Krönung einer genealogischen Entwicklung philosophi-
scher Reflexion zum Verhältnis von ʿirfān und burhān bzw. von der Situierung der
Moral und ihrer Begründung.22
21 Als richtungsweisend für die Rationaltheologie galten u.a. folgende Werke: Muḥammad ibn
ʿUmar az-Zamaḫšarī: al-Minhāǧ fī uṣūl ad-dīn, hg. von Sabine Schmidtke, Stuttgart 1997; Abū
l-Ḥusayn al-Baṣrī: Taṣaffuḥ al-adilla, hg. von Sabine Schmidtke/Wilfred Madelung, Wiesbaden
2006; Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī: Kitāb an-nafs wa-r-rūḥ wa-šarḥ quwāhumā, hg. von Muḥammad
Ṣaġīr Ḥasan al-Maʿṣūmī, Islamabad 1968. Im Bereich der Mystik wurden die Spätwerke al-
Ġazālīs und die Traktate Ibn ʿArabīs (gest. 638/1240) meist der Ethik zugeordnet. In der
Rechtstheorie galten die exklusiv der Ethik zugeschriebenen Werke von Miskawayh (gest.
421/1030), Ibn al-Muqaffaʿ (gest. 139/756) und Ibn Sīnā (gest. 428/1037) als eigenständige
Arbeiten, denen eher eine ergänzende Funktion zur etablierten Normenlehre zugewiesen wurde.
22 Die Aussöhnung von Offenbarung und Vernunft bei Ibn Rušd geschieht in Anlehnung an al-
Fārābīs (gest. 339/950) Theorie der Emanation und als Reaktion auf die in der Spätphase von
al-Ġazālīs theologischem Denken formulierte Skepsis gegenüber der Philosophie und der damit
verbundenen natürlichen Ethik. Diese Auseinandersetzung zwischen rationalem Wissen und
Glaubenserkenntnis war zuvor von zahlreichen islamischen Philosophen geprägt worden. So
zog z.B. al-Kindī (gest. 259/873) die Offenbarung der Philosophie als Wissensquelle vor,
Das ethische Urteilen ist somit als Produkt methodisch geordneten Nachdenkens
über die Frage nach dem wirklich Guten anzusehen, bei dem der durch das Zusam-
menwirken von Glaube und Vernunft hervorgerufene Prozess der Selbstauslegung
als Grundbedingung ethischen Werturteils in Gang gesetzt wird. Die zentrale Frage-
stellung in al-Ǧābirīs epistemologischem Vorhaben, die für die vorliegende Arbeit
eine wichtige Anregung war, lautet: Wie ist es historisch und theologisch zu erklä-
ren, dass sich ʿilm uṣūl al-fiqh ab einem bestimmten Zeitpunkt als glaubensorien-
tierte Moralvorstellung vom ʿilm al-aḫlāq als aus den Offenbarungsquellen rational
erschlossene Tugendlehre theoretisch wie methodisch abgrenzte, sodass eine un-
überwindbare epistemologische Kluft zwischen den beiden Disziplinen entstand und
sich das Bild der šarīʿa als rigide Normenlehre durch setzte, d.h. die Betonung ihres
deontologischen Charakters gegenüber ihrem teleologischen?
Die vorliegende Studie will diese Frage beantworten, indem sie aus der überwäl-
tigenden Fülle ethischer Ansätze im Islam und vor dem Hintergrund einer interdis-
ziplinären Relektüre von aš-Šāṭibīs maqāṣid-Theorie, basierend auf seinem Monu-
mentalwerk al-Muwāfaqāt, das Konzept einer an der Offenbarungsintention orien-
tierten praktischen Ethik zu entwickeln sucht. In Anlehnung an al-Ǧābirī und ausge-
hend von der spätislamischen Rechtstheorie am Beispiel von aš-Šāṭibīs maqāṣid-
Theorie werden im Rahmen dieser Arbeit Kategorien einer theologischen Ethik aus
der Perspektive der islamischen Normenlehre erarbeitet, was einen Beitrag leisten
soll zu einer erkenntnistheoretischen Annäherung zwischen ʿilm uṣūl al-fiqh und
ʿilm al-aḫlāq. Dadurch soll einem wichtigen Ziel der zeitgenössischen islamischen
Theologie näher gekommen werden, nämlich der Errichtung einer islamisch-theolo-
gischen Ethik als eigenständige Disziplin.
während nach Abū Bakr ar-Rāzī (gest. 313/925) Gott den Menschen mit seinem Verstand
erschaffen habe, mit dem er die Wahrheit erkennen könne. Al-Fārābī sah nach platonischem
Vorbild die Offenbarung und die Philosophie, wie die Welt der Ideale und die materielle
Wirklichkeit bei Platon, als zwei Ausdrucksformen derselben Wahrheit und gelangte damit zum
ethischen Konzept des Idealstaats (al-madīna al-fāḍila) als Oberbegriff menschlicher
Gemeinwohlideale. Durch Ibn Bāǧǧa (lat. Avempace, gest. 532/1138) kam al-Fārābīs
Auseinandersetzung mit Platon und Aristoteles erstmals nach Andalusien, womit die Frage der
Transzendenz neu aufgeworfen wurde. Neue Maßstäbe zur Begründung ethischer
Urteilsfindung setzte Ibn Ṭufayl (gest. 581/1185) durch sein Werk Ḥayy ibn Yaqẓān, in dem er
die Geschichte von einem Kind erzählt, das auf einer verlassenen Insel aufwächst und durch
eigene geistige Anstrengungen die Philosophie als vernunftgemäße Gottesschau entdeckt, um
danach selbstständig das von Gott gewollte moralische Verhalten zu finden. (Vgl. Ṭaha ʿAbd
ar-Raḥmān: Suʾāl al-aḫlāq, 5. Aufl., Casablanca 2013, S. 29-55.)
23 Laut ʿAbdallāh al-ʿArwī begann diese Denkströmung Anfang des 20. Jh. mit Muḥammad
ʿAbduh in Ägypten. Dieser Tendenz werden weitere islamische Denker zugeordnet wie: Majid
Fakhr: Ethical Theories in Islam, Leiden u.a. 1991; Fazlur Rahman: „Some Key Ethical
Concepts of the Qurʾan“, in: Journal of Religious Ethics 11 (1989), S. 170-185; ʿAbdallāh al-
ʿArwī: Mafhūm al-ʿaql, Beirut 1996, S. 23-63; Khaled Abou El Fadl: Reasoning with God.
Rationality and Thought in Islam, Oxford 2002, S. 173.)
24 Diese Tendenz lässt sich selbst in verschiedene Strömungen teilen. Beispielhaft sind hier
folgende Autoren: Muḥammad ʿAmmāra: al-Islām wa-ḥuqūq al-insān. Ḍarūrāt lā ḥuqūq, Kairo
1989; Rahman: „Some Key Ethical Concepts“.
25 Vgl. Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmān: Taǧdīd al-manhaǧ fī taqwīm at-turāṯ, Casablanca 2012, S. 93, 110.
26 Ebd., S. 386.
27 Ebd., S. 270.
Ethik begründet liegt und inwiefern die klassische Rechtstheorie als eine Ablei-
tungsquelle moderner ethischer Reflexion fungieren kann. Letztere Frage dient der
vorliegenden Arbeit als Hintergrund und zählt zu den Gründen, wieso der maqāṣid-
Theorie von aš-Šāṭibī als eine weitgefasste Rezeption der traditionellen Rechtstheo-
rie gegenüber anderen theologisch-ethischen Ansätzen der Vorzug gegeben wird, da
sie sich eines weiteren Glaubens- bzw. Vernunftverständnisses bedient.
1.1.3. Die vorzügliche Ethik und die Frage der Rezeption des griechischen
Erbes
Eine Ethikforschung, wie man sie aus den modernen lateinischen oder angelsächsi-
schen Quellen kennt, ist im islamisch-theologischen Erbe nach al-Ǧābirī nur ansatz-
weise vertreten. Ausgenommen davon seien Schriften von Miskawayh, Ibn Abī
Uṣaybiʿa (gest. 668/1270), Ibn Bāǧǧa, ar-Rāġib al-Iṣfahānī (gest. nach 409/1018),
al-Māwardī (gest. 450/1058), al-Ġazālī und wenigen anderen.
Die islamische Rezeption der griechischen Ethik, innerislamisch zunächst als die
Übernahme eines fremden Erbes betrachtet, war laut al-Ǧābirī von Anfang an davon
getrübt, dass der traditionellen islamischen Theologie eine eigene Moraltheorie
fehlte, was für kontroverse Diskussionen sorgte. 31
Die islamische Relektüre griechischer Ethik als „Ethik der Glückseligkeit“,32 die
hauptsächlich in der Unterdisziplin der Tugendlehre stattfand, war stets beherrscht
von einer universellen Wertediskussion zwischen dem persischen Erbe, stellvertre-
tend für die ethische Gehorsamkeit, dem arabischen Erbe, stellvertretend für die
ethischen Tugenden, und dem mystischen Erbe, stellvertretend für die ethische
Vergänglichkeit, das nach al-Ǧābirī die Ausarbeitung einer eigenständigen Disziplin
der Ethik maßgeblich verhinderte. Was das islamische Erbe angeht, das dem Koran
entstammt, so habe es bis auf einige Ausnahmen kaum Einfluss auf die Bildung
einer arabisch-islamischen Ethiktheorie in der klassischen Epoche gehabt.
Al-Ǧābirī zufolge spiegelte sich der geringe Einfluss des islamischen Erbes bei
der Entwicklung einer eigenständigen Ethikdisziplin in der Methode praxisorien-
tierter fiqh-Gelehrter wieder, die jenen Teilen der šarīʿa, die sich mit ethischem
Verhalten befassen, nur eine oberflächliche Rolle zuwiesen, sodass sie keinen Ein-
gang in die Normenlehre fanden. Gekennzeichnet durch ihren spärlichen Inhalt
beschränkten sich die ethischen Bereiche in der früheren fiqh-Wissenschaft lediglich
auf psychosoziale Aspekte und wurden in den dazugehörigen Unterdisziplinen kaum
systematisiert. Das Bedürfnis der Islamisierung griechischer Ethik sei grundsätzlich
auf die Erfordernisse des Zusammenlebens verschiedener Kulturen in der islami-
schen Gesellschaft zurückzuführen, welche den Prozess der Bildung einer Wertege-
meinschaft vorantrieben und die Entwicklung einer islamischen Ethik somit not-
wendig machten.
Die Auseinandersetzung mit der griechischen Ethik, die ihren Höhepunkt mit der
Übersetzung der monumentalen Nikomachischen Ethik von Aristoteles erreichte,
verdankte al-Ǧābirī die Ausarbeitung ethischer Begriffe, wie etwa des Fachterminus
„ethisches Gewissen“ (al-qalb), dessen Wurzeln man bis zum 3./9. Jahrhundert
verfolgen kann. Hierzu ist der Theologe und Mystiker al-Ḥāriṯ al-Muḥāsibī (gest.
243/857) zu erwähnen, der von einem „ethischen Gefühl“ und vom „Herz“ im Sinne
von Gewissen sprach.33 Das gleiche gilt für die in der islamischen Moralphilosophie
des 5./11. Jahrhunderts weitverbreitete sogenannte „Theorie der Mitte“, die besagt,
dass die Tugend die Mitte zwischen den beiden Übeln sei. Unter Rückgriff auf
Aristoteles’ mesotes-Lehre argumentierte al-Ġazālī in seinem Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn:
„Das Gelobte ist die Mitte und sie ist die Tugend, während die beiden Ränder
verdammte Schlechtigkeiten sind [...]. Die Mitte wird mit dem Namen der
Weisheit ausgezeichnet, die Grundlagen der Ethik und ihre Wurzeln lassen
sich in vier Eigenschaften unterteilen: Weisheit, Mut, Rechtschaffenheit und
Gerechtigkeit.“34
Der aus der Spannung zwischen den verschiedenen kulturbedingten Wertesystemen
der Muslime entsprungene Impuls zur praktischen Vernunft führte die muslimischen
Ethiker zum Rückgriff auf die griechische Tradition und insbesondere auf das Erbe
Galens, dessen Definition der Ethik fast allen bekannten islamischen Ethik-Werken
als Grundlage diente.35
Für die meisten muslimischen Ethiker ist es zwar unumstritten, dass eine islami-
sche Relektüre der griechischen Ethik stattgefunden hat, jedoch sorgte die Wieder-
gabe hellenistischer Begriffe in islamischen Kategorien immer wieder für heftige
Kontroversen, wie etwa die Zuordnung der griechischen Ethik zur islamischen Tu-
gendlehre. Diese Zuordnung bedeutete einen Widerspruch in der Reihenfolge der
Prioritäten des Allgemeinen und des Spezifischen insofern, als sich die islamische
Tugendlehre ausschließlich mit jenen Regeln moralischen Verhaltens befasste, die
im Gegensatz zu den notwendigen fiqh-Normen eher im Bereich des Fakultativen
angesiedelt waren. So wurde die islamische Tugendlehre zeitweise von der Idee
beherrscht, ethisches Handeln lediglich als Bewahren der vollkommenen bzw. nob-
33 Vgl. auch Abū ʿAbdallāh al-Ḥāriṯ ibn Asad al-Muḥāsibī: al-ʿAql wa fahm al-Qurʾān, Beirut
1971, S. 272f. (Vgl. ebenfalls die dt. Übersetzung und Analyse von Berenike Metzler: Den
Koran verstehen. Das Kitāb Fahm al-Qurʾān des Ḥāriṯ b. Asad al-Muḥāsibī, Wiesbaden 2016,
S. 34.)
34 Abū Ḥāmid al-Ġazālī: Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, hg. von Hans Bauer, 40 Bde., Halle 1961, Bd. 3, S.
54. Einen ähnlichen Standpunkt vertrat laut al-Ǧābirī auch ar-Rāġib al-Iṣfahānī bereits vor al-
Ġazālī in seinem Traktat aḏ-Ḏarīʿa ilā makārim aš-šarīʿa. (Vgl. al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-
ʿarabī, S. 10.)
35 Al-Ǧābirī hervor, dass sich einige berühmte muslimische Ethiker, wie etwa al-Iṣfahānī,
Miskawayh, und al-Ġazālī, ausdrücklich auf die Definition Galens stützen, der die Ethik als
einen Zustand der Seele bezeichnet, „die den Menschen dazu aufruft, Taten zu verrichten, ohne
dabei zu überlegen und ohne die Wahl zu haben“. (Vgl. al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-ʿarabī,
S. 11, 322f.)
len Handlungen (faḍāʾil, Sg.: faḍīla) anzusehen. Die eigentliche Bedeutung des
Begriffs faḍīla, der sich in der Tradition im Sinne von „nobles bzw. vorzügliches
Verhalten“ etablierte, offenbart ein kaum überwindbares theoretisches Paradoxon
bei der Definition der Ethik, wenn man an der griechischen Auffassung des Begriffs
festhält, nämlich im Sinne der Ausrichtung auf das gute Leben. Im Wort faḍīla
schwingt der ursprüngliche semantische Gehalt der Wortwurzel f-ḍ-l „Überschuss,
Überfluss“ mit, was mitunter darauf hindeutet, dass es sich dabei um „überschüssi-
ges“ bzw. „überflüssiges“ ethisches Verhalten handelt. Hierzu vermerkt ʿAbd ar-
Raḥmān zu Recht:
„Die Tugend (al-faḍīla) kommt sprachlich von ‚Überschuss‘, und der Über-
schuss ist mehr als das, was man benötigt, bzw. das, was nach Befriedigung
des Bedürfnisses übrig geblieben ist.“36
Dabei muss man entgegenhalten, dass Ethik für das menschliche Leben als unver-
zichtbar gilt.
Hier kommt ein weiterer zentraler Denkinhalt islamischer Moralvorstellung zum
Ausdruck, der die Fragestellung dieser Arbeit wesentlich mitbeeinflusst hat. Die von
den fuqahāʾ (Juristen) häufig angewandte Methode moralischer Urteilsfindung, die
eine Einschränkung von ʿilm al-aḫlāq in den vorzüglichen Taten des Menschen
vertrat, war am Ausschluss der Rechtstheorie von dem Ethikdiskurs maßgeblich
beteiligt. Nichts in der Etymologie oder in der Geschichte erfordert jedoch die von
den fuqahāʾ vorgenommene Unterscheidung zwischen ʿilm uṣūl al-fiqh und ʿilm al-
aḫlāq. Die Leitfragen theologischer Ethik waren stets zentrale Bestandteile der
Rechtstheorie und der Rationaltheologie. Auch verkörperte die maqāṣid-Theorie den
Höhepunkt des Zusammenwirkens von Rechtstheorie und Moralphilosophie, wobei
die Prinzipien der Ethik zum Maßstab für den Schlussstein ethischer Ausrichtung in
der fiqh-Wissenschaft, dem „Gemeinwohl“, erhoben wurden. Bei dieser Hypothese
stützt sich ʿAbd ar-Raḥmān auf den prophetischen Hadith: „Ich wurde entsandt, um
die Tugenden zu vervollkommnen“,37 um klarzustellen, dass die Entsendung des
Propheten (sas) nicht nur zur Vervollständigung, die nicht zwingend erforderlich
erscheint, sondern vielmehr für die notwendige Angelegenheit der Errichtung des
ethischen Selbst erfolgte, was zu den notwendigen Zielen der šarīʿa gehört.
Die bisher genannten Argumente für die Unterscheidung von Rechtstheorie und
Ethik sind für die aktuelle Fragestellung durchaus von Bedeutung: die Mehrdeutig-
keit des Begriffs aḫlāq, die methodische Unabgeschlossenheit der islamischen
Ethiktheorie, die Vermischung von arabischen und griechischen Traditionen sowie
36 ʿAbd ar-Raḥmān: Suʾāl al-aḫlāq, S. 53. Diese Bedeutung findet man in der arabischen
Grammatik wieder, in der das Wort fuḍla als freie bzw. verzichtbare Verb-Ergänzung im
Gegensatz zu ʿumda als enge bzw. unverzichtbare Verb-Ergänzung verstanden wird. (Vgl.
Mohammed Nekroumi: Interrogation, Polarité et Argumentation. Vers une Théorie Structurale
et Enonciative de la modalité en arabe classique, Hamburg 2003, S. 85-88.)
37 Muḥammad ibn Ismāʿīl al-Buḫārī: al-Adab al-mufrad, hg. von Muḥmmad ʿAbd al-Qādir ʿAṭā,
Beirut 1990, S. 90.
der Einschluss ethischer Maximen in eine Dialektik von Teleologie und Deontolo-
gie. Diese Argumente scheinen jedoch nicht genug, um das Vorhaben einer Annähe-
rung zwischen Ethik und Rechtstheorie ins Abseits zu stellen. Die Gegenargumente
treffen lediglich auf eine eingeschränkte Auffassung von Rechtstheorie zu – eben
auf jene, die die Aufgabe von ʿilm uṣūl al-fiqh auf die Ableitung der Pflichtnormen
reduziert.
38 Ähnlich unterschied Ibn al-Ḥāǧib (gest. 646/1248-9) in seinem einzigen Werk zur
Rechtstheorie zwischen dem ʿilm uṣūl al-fiqh und dem ʿilm al-ǧadal. Er nutzte denselben
dialektischen Hintergrund, um die Prinzipien des sogenannten tarǧīḥ (Abwägung) bei der
Klassifizierung der Intentionsarten festzulegen. Schon in dieser frühen Phase wurde der
Koraninterpretation ein offizieller intentionalistisch-methodischer Rahmen gegeben.
39 Vgl. ʿAbd al-Malik ibn ʿAbdallāh al-Ǧuwaynī: al-Burhān fī uṣūl al-fiqh, hg. von ʿAbd al-
ʿAẓīm ad-Dīb, 2 Bde., 2. Aufl., Kairo 1980, Bd. 2, S. 923-964.
40 Eine der wichtigsten Phasen in der Entstehung der Intentionstheorie stellte laut Aḥmad ad-Dīb
der Ansatz al-Ǧuwaynīs dar. Seit der postklassischen Ära war sein Hauptwerk al-Burhān für
die Rechtsgelehrten die Hauptquelle der Rechtswissenschaft, wie es zuvor nur das ar-Risāla
von aš-Šāfiʿī (gest. 204/820) in seiner Funktion als Referenzbuch für die Nachkommen
gewesen war. Schon al-Ǧuwaynīs Vater hatte einen Kommentar zu ar-Risāla verfasst, der laut
al-Ġazālī eine Wende mit Blick auf den Einflussbereich dieses Werkes auf die weitere
Entwicklung der Rechtstheorie darstellt. Dass das Werk al-Burhān einen so großen Einfluss auf
die spätere Wissenschaft von uṣūl al-fiqh gewann, ist vor allem al-Ǧuwaynīs Schüler al-Ġazālī
zu verdanken. Auch der Begriff maqāṣid kann auf al-Ġazālī und al-Ǧuwaynī zurückgeführt
werden. Al-Ǧuwaynī war einer der ersten, der diesen Begriff und einige seiner Synonyme wie
aġrāḍ (Ziele) in seinen Analysen bewusst und sinngemäß einsetzte. Die Ableitung von Ver-
und Geboten aus dem Koran ist nach al-Ǧuwaynī ohne die Berücksichtigung von maqāṣid
kaum vorstellbar. (Vgl. al-Ǧuwaynī: al-Burhān, Bd. 2, S. 294f.)
41 Schon Ende des 3./9. Jh. untersuchte al-Ḥakīm at-Tirmiḏī (gest. 318/936) die Gründe und Ziele
der Vorschriften der šarīʿa und gelangte so zum Begriff maqāṣid, der in zwei Werken von ihm
erwähnt wird: im übertragenen Sinne in al-Ḥaǧǧ wa-asrāruhu (Die Pilgerfahrt und ihre
Geheimnisse) und im eigentlichen Sinne in aṣ-Ṣalāt wa-maqāṣiduhā (Das Gebet und seine
Zwecke). At-Tirmiḏī geht in seiner Argumentation jedoch weniger hermeneutisch als mystisch
vor, indem er sich bei der Definition ethischer Maximen primär auf seine Intuition beruft. So
fasst er z.B. die rationalen Ziele, die hinter dem Ritualgebet stehen sollen, als
Erscheinungsbilder individueller Gotteserfahrung auf. (Vgl. Abū ʿAbdallāh Muḥammad ibn
ʿAlī al-Ḥakīm at-Tirmiḏī: as-Ṣalāt wa-maqāṣiduhā, hg. von Ḥusnī Naṣr Zaydān, Kairo 1965,
S. 12.)
42 Es scheint, als sei al-Ǧuwaynī tatsächlich der Urheber der fünfteiligen Kategorisierung der
maqāṣid und der ʿilal šarīʿa. (Vgl. ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šāṭibī,
S. 49.) Auf diese Kategorisierung wird später noch im Detail eingegangen.
5./11. Jahrhunderts durch den Einfluss von kalām-Wissenschaft auf fiqh zum Angel-
punkt von uṣūl al-fiqh.
Im Zuge der Diskussion um die Bedeutung rationaler Werturteile (gut und böse)
im Prozess der Normableitung aus dem Koran griffen al-Ġazālī und aš-Šīrāzī auf die
rationaltheologischen Abhandlungen des berühmten Universalgelehrten al-Bāqillānī
(gest. 403/1013) zurück, sodass ab dem frühen 5./11. Jahrhundert Elemente der
philosophischen Ethik in die theologisch-hermeneutische Argumentation über Moral
und Ethik miteinflossen.43
Obwohl überzeugter Ašʿarit, war al-Bāqillānī ein Anhänger des raʾy-Ansatzes, in
dem die Vernunft Vorrang vor der Offenbarung hat. 44 Seine Abhandlungen haben
dadurch einen tiefen hermeneutischen und textanalytischen Charakter, in dem weder
Konzepte der theologischen Ethik, die Intentionstheorie eingeschlossen, noch
Grundsätze der praktischen Moral zu finden sind.45 Seine sprachwissenschaftliche
Kompetenz und seine tiefgründige Rhetorik verleihen seinen Analysen zum Koran
einen literarischen Aspekt, dessen Einfluss weit über das 5./11. Jahrhundert hinaus-
reichte.
Die Zurückhaltung der Rationaltheologen, Ideen der praktischen Moral anzu-
sprechen, geht darauf zurück, dass das Verhältnis zwischen Rechtstheorie und
Rationaltheologie als interdisziplinär aufgefasst wurde. Der Weg, den die Rechts-
gelehrten einschlugen (ṭarīqat al-fuqahāʾ), war von einer spekulativen Auffassung
der Vernunft geprägt, während die Vernunft in der Herangehensweise der Rational-
theologen (ṭarīqat al-mutakallimīn) lediglich eine methodische Reflexionsebene
war.46
43 Al-Bāqillānīs Werk at-Taqrīb wa-l-iršād fī tartīb ṭuruq al-iǧtihād gilt bis heute als
Referenzquelle zum Verhältnis von Rationaltheologie und Rechtstheorie. (Vgl. Abū Bakr
Muḥammad ibn aṭ-Ṭayyib al-Bāqillānī: at-Taqrīb wa-l-iršād aṣ-ṣaġīr, hg. von ʿAbd al-Ḥamīd
ibn ʿAlī Abū Zunayd, 3 Bde., Beirut 1993-1998.)
44 Für eine allgemeine Betrachtung seiner Methodik siehe Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī (gest.
911/1505): al-Itqān fī ʿulūm al-qurʾān, Beirut (Nachdruck), o.J. (im Anhang Iʿǧāz al-Qurʾān
von al-Bāqillānī).
45 Dennoch wurde ihm, genau wie al-Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār (gest. 415/1024), später vorgeworfen,
übertrieben philosophisch-ethische und sprach-logische Elemente in ihre rechtstheoretischen
Abhandlungen integriert zu haben, obwohl al-Bāqillānīs Beitrag zur Etablierung der Intentions-
theorie als wesentlicher Bestandteil der Rechtstheorie weder von einem uṣūl-Wissenschaftler
noch von einem faqīh bestritten werden kann. (Vgl. Muṣṭafā ʿAbd ar-Rāziq: Tamhīd li-tārīḫ al-
falsafa al-islāmiyya, Kairo 1966, S. 249.)
46 Als Rationaltheologen wurden bei Ibn Ḫaldūn (gest. 808/1406) vor allem die Ašʿariten al-
Ǧuwaynī und Abū Ḥāmid al-Ġazālī sowie die Muʿtaziliten ʿAbd al-Ǧabbār und Abū l-Ḥusayn
al-Baṣrī (gest. 436/1044) als Anhänger der taʿlīl-Theorie, genannt. Sie unterschieden in ihren
Werken zwischen der Rechtstheorie (ʿilm uṣūl al-fiqh) und dem positiven Recht (fiqh). Hierbei
wird deutlich, dass es keine kategorische Trennung zwischen den Schulen der ahl ar-raʾy und
der ahl al-hadith gab, sondern in beiden Schulen iǧtihād praktiziert wurde. Ibn Ḫaldūn sieht
jedoch die Vernunft lediglich als Instrument im Verständnisprozess der Überlieferung und
kritisiert somit offensichtlich den apriorischen Vernunftbegriff der Muʿtazila (Vgl. al-
Muqaddima, hg. von Alī ʿAbd al-Wāḥid, Kairo 1962, Bd. 1, S. 350ff, und Bd. 3, S. 992-1110
Während die Verbindung zwischen ʿilm uṣūl al-fiqh und fiqh nie bestritten
wurde, teilte sich kurz nach al-Bāqillānī ʿilm uṣūl al-fiqh in zwei Strömungen: Auf
der einen Seite gab es Rechtsgelehrte, die sich den Inhalten der Rationaltheologie
und der philosophischen Ethik bedienten, um theoretische Grundsätze ethischer
Urteilsfindung unter Rückgriff auf Vernunft und Glaube zu definieren, und auf der
anderen Seite entwickelte sich eine praktisch orientierte Rechtsmethodik, deren
Anhänger von den Grundlagen der Dogmatik ausgingen, um zu einer kontextualen
Normableitung zu gelangen.
Diese letztgenannten fuqahāʾ hielten den Bezug zwischen der Rechtstheorie und
dem positiven Recht aufrecht und konnten so jedem theoretischen Prinzip eine rein
rechtliche Ausarbeitung zuordnen. Die Überzeugungskraft dieser Wissenschafts-
definition von uṣūl al-fiqh im 5./11. Jahrhundert wird nachvollziehbar, wenn man
beispielsweise das Wek Kitāb maʿrifat al-ḥuǧaǧ aš-šarʿiyya des Ḥanafiten Abū l-
Yusr al-Bazdawī (gest. 493/1100) mit dem Werk al-Mustaṣfā von al-Ġazālī
vergleicht. Es ist anzunehmen, dass die Gründer des „Weges der Rationaltheologen“
die wichtige Rolle von ʿilm uṣūl al-fiqh im Bereich der Koranwissenschaften er-
kannten und erfolgreich versuchten, die Perspektiven dieser Disziplin zu erweitern.
Dabei beschränkten sie sich nicht mehr nur auf die Rechts- und Moralnormen (al-
aḥkām aš-šarʿiyya), wenn sie über die Theorie der „Rechtsfindungsgrundsätze“
reflektierten.
Hierbei ging es nicht nur um inhaltliche und methodische, sondern auch um
politische Beweggründe, da durch die Etablierung des „Weges der Rational-
theologen“ die politisch sehr einflussreichen Juristen geschwächt werden sollten.
Alles in ʿilm uṣūl al-fiqh, und so auch die Lehren an sich, waren Mittel, um die
Herrschaft der Juristen über die Gemeinschaft zu sichern und zu stärken. Wer nicht
zu den Juristen (fuqahāʾ muǧtahidūn) gehörte, wurde aus der Gruppe ausgeschlos-
sen, deren einheitlich vertretene Meinung in einer Frage aufgrund der Quelle des
iǧmāʿ für alle nachfolgenden Generationen verbindlich ist.
Die Rationaltheologen hofften, dass ihnen durch ihre Nutzung von ʿilm uṣūl al-
fiqh ebenfalls die machtvolle Bezeichnung als muǧtahidūn zukommen würde, um in
die Gruppe der ahl al-ḥall wa-l-ʿaqd (die Gruppe derer, die die Macht besaßen, eine
Bestätigung oder eine Anfechtung eines Gesetzentwurfs institutionell durchzusetzen)
aufgenommen zu werden.47 Sie konnten dieses Ziel erreichen, indem sie die
praktische fiqh-Ausübung durch einen muǧtahid als absurd bezeichneten. Ein
muǧtahid ist nach ihrer Auffassung ein Gelehrter, der dadurch besonders qualifiziert
sei, dass er die Methoden der Wissenschaft der uṣūl al-fiqh anwende, um
sowie Bd. 3, S. 1035ff.). Zum rationaltheologischen Begründungsansatz siehe auch Ibn ʿᾹšūr:
at-Taḥrīr wa t-tanwīr, Tunis, 1984, Bd. 1, S. 379-381, sowie Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī:
Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, Casablanca/Beirut 1993, S. 138ff.
47 Vgl. Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, S. 134 sowie Bernhard G. Weiss:
„Interpretation in Islamic Law: The Theory of Ijtihād“, in: The American Journal of
Comparative Law 26 (1978), S. 199-212.
48 Vgl. Abū l-Ḥaǧǧāǧ Yūsuf ibn Muḥammad al-Miklātī (gest. 626/1229): Lubāb al-ʿuqūl fī r-radd
ʿalā l-falāsifa fī ʿilm al-uṣūl, hg. von Ahmed Alami-Hamedane, Philosophische Fakultät Fes
2012, S. 409.
49 Vgl. al-Ǧuwaynī: al-Burhān, Bd. 1, S. 295 (für das arab. Original siehe unten, S. 217); zum
Werk al-Ǧuwaynīs vgl. auch Tilman Nagel: Die Festung des Glaubens. Triumph und Scheitern
des islamischen Rationalismus im 11. Jahrhundert, München 1988.
50 Diese Analyse entstammt dem Kapitel al-Qiyās (Die Analogie). Die Unterscheidung der
verschiedenen maqāṣid und ʿilal zielte darauf ab, die Durchführbarkeit der Analogie bei der
Gesetzgebung zu überprüfen. (Vgl. al-Ǧuwaynī: al-Burhān, Bd. 2, S. 923-964.)
51 Die folgende Aufstellung basiert auf Mohammed Nekroumi: „Koraninterpretation im Kontext
intentionalistischer Rechtstheorien. Zu argumentativen und kommunikationstheoretischen
Aspekten göttlicher Offenbarung in Šāṭibīs (gest. 780/1388) maqāṣid-Theorie“, in: Mohammed
Nekroumi/Jan Meise (Hg.): Modern Controversies in Qur’anic Studies, Berlin 2009, S. 153-
196.
57 Al-Ġazālī legte besonderen Wert auf die feinen Unterschiede zwischen diesen Kategorien,
wobei er stets darauf hinwies, dass die Formulierung und Klassifizierung von Moral- und
Rechtsnormen (al-aḥkām aš-šarʿiyya) nach Priorität dem iǧtihād (selbständige Urteilsfindung)
des Gelehrten überlassen ist. Die Besonderheit seines Ansatzes liegt jedoch darin, dass er die
Intentionen als Bestandteil der dem Text gehörenden Situationsfaktoren zurechnet, was die
Voraussetzungen für die Entstehung einer neuen Auffassung der Rechtsableitung
hervorbrachte. (Vgl. Abū Ḥāmid al-Ġazālī: al-Mustaṣfā min ʿilm al-uṣūl, 2 Bde., Damaskus
o.J., Bd. 1, S. 286-293, 325.)
58 Fischer: Theologische Ethik, S. 78.
59 Vgl. al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-ʿarabī, S. 8; Fischer: Theologische Ethik, S. 78.
Dass die šarīʿa ohne ethische Implikationen kaum vorstellbar wäre, legt bereits ihre
von den fiqh-Gelehrten festgelegte Zielsetzung nahe, die zentralen Bereiche des
Lebens und Daseins im Sinne Gottes zu regeln. 61 Aš-Šāṭibī verdeutlicht den
Anspruch auf umfassende Geltung, den die göttliche Weltordnung im Islam mithin
erhebt, wie folgt:
„Das Festlegen von Gesetzmäßigkeiten dient indes dem Wohlergehen der
Menschheit, sowohl für die Gegenwart als auch für die Zukunft“.62 „Und ich
meine mit ‚Wohlergehen‘ [alles] das, was sich auf die ‚Praxis‘ des
menschlichen Lebens und die Vollkommenheit seines Daseins bezieht, sowie
dass er ohne Ausnahme zu dem befähigt wird, was ihm beim Nachgehen
seiner geistigen und körperlichen Bedürfnisse hilft, damit er ein erfülltes
Leben führt.“63
Aš-Šāṭibī erinnert durch seine Theorie der Zielsetzungen theologischer Ethik daran,
dass die Offenbarung zum Leben gehört, bevor sie sich ins Exil der Schrift begibt.
Šarʿ (die moralische Instanz) bedeutet den Eintritt Gottes durch Gesetze und
Verordnungen in die Welt, mit dem Ziel, einen Weg (šarīʿa)64 zu Ihm aufzuzeigen.
Der Wegweiser im Bereich zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen ist das
Streben nach richtigem Verstehen (fiqh).65 Der Prozess des Verstehens fügt der
bloßen Handlungsvorschrift des Verbots bzw. Gebots die fehlende moralische
Beurteilung hinzu. Eine korrekte moralische Beurteilung setzt jedoch eine genaue
Kenntnis von Gottes Willen im Bereich des menschlichen Lebens voraus, wohl
wissend, dass die aus dem fiqh-Prozess entstandene Erkenntnis bei der Urteilsfin-
dung lediglich relative Gewissheit erlangen kann.66
Eine selbstständige Auslegung der Quellen setzt daher die Notwendigkeit eines
vermuteten Wissens67 voraus. Die Gewissheit liegt eher im moralischen Handeln als
Gemeinschaften. [Dies alles regelt die šarīʿa] in einer Art und Weise, die die Lösung der
Probleme, die Abwehr von Verwirrung und die Behebung von Schwierigkeiten und
Beständigkeiten auf dem richtigen Weg und im höchsten Ideal garantiert.“ (Nagel: Das
islamische Recht, S. 3.)
62 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 4.
63 Ebd., Bd. 2, S. 20. Für den arabischen Wortlaut siehe unten, S. 217.
64 Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes šarīʿa, nämlich „Weg zur Tränke“, schwingt in dem
Fachterminus aber noch mit, da šarīʿa hier auch als „Weg zum Heil“ verstanden wird.
65 Laut Reinhardt ist mit fiqh im Allgemeinen der Prozess gemeint, der zu „Verständnis und
Erkenntnis“ in einer Entscheidung führt und der sich bei der Urteilsfindung mit der Ableitung
der Rechtsnormen aus den Textquellen befasst und als ʿilm uṣūl al-fiqh, aber auch als
„Rechtstheorie“ oder „Fundamentwissenschaft“ bezeichnet wird. (Vgl. A. Kevin Reinhart:
„Islamic Law as Islamic Ethics”, in: Journal of Religious Ethics 11/2 (1983), S. 186-203.)
66 Eine absolute Sicherheit des in den Dingen Verborgenen ist nach aš-Šāfiʿī einzig und allein das
Vorrecht Gottes (Calder: „Ikhtilāf and Ijmāʿ in Shāfiʿi’s Risāla”, S. 78).
67 Als „Wissen“ werden in der theologischen Tradition Kenntnisse bezeichnet, die „von Gott den
Menschen übermittelt, unumstößlich wahr sind“ (Nagel: Das islamische Recht, S. 13). In
seinem theologischen Traktat al-Wāḍiḥ unterteilt Ibn ʿAqīl (gest. 513/1119) das Wissen in drei
Bereiche: „Ein Bereich, der nur durch die Vernunft erkennbar ist, […] ein Bereich, der nur
durch die Offenbarung erkennbar ist […], und ein Bereich, der gleichermaßen durch
Offenbarung und Vernunft erkennbar ist.“ Abū l-Wafāʾ ibn ʿAqīl: al-Wāḍiḥ fī uṣūl al-fiqh, 5
Bde., Beirut 1999, Bd. 1, S. 64.
im Wissen, das unvollkommen, von Endlichkeit gekennzeichnet und immer nur ein
Versuch ist, das Verborgene eines Handlungsziels zu antizipieren.68 Die gewonnene
Beurteilung (ḥukm) am Ende dieses vom Glauben geleiteten Erkenntnisprozesses
wird untermauert durch den Rückgriff auf die vier auf Offenbarung gegründeten
Fundamente (uṣūl) und ist daher wahrhaftig und moralisch gültig.
Welche Rolle bei der Ableitung von Rechtsnormen die Vernunft spielt, klang bei
der Hierarchie der normativen Quellen sowie bei der Stellung des Menschen in
Bezug auf die Offenbarung schon an. 69 Anders als in der Rationaltheologie, in der es
um die Symmetrie des Verhältnisses zwischen Vernunft und Offenbarung im
Prozess der Erkenntnis ging, beschränkten sich die Rechtstheoretiker auf die
Funktion der Vernunft als Weg zur Gottesintention und als Instanz zur Beurteilung
der irdischen Tugenden.70 Fortan waren viele Rechtsgelehrte der Ansicht, dass die
Qualität moralischen Handelns in seinem Vollzugszusammenhang durch den
„gesunden Menschenverstand“ hinsichtlich weltlichen Werturteils erkennbar sei. 71
68 Die Rechtsableitung aus den Textquellen wird nicht jedem Einzelnen nach Gutdünken erlaubt.
Seine zugrunde liegende Methodik ist durch die Wissenschaft der uṣūl al-fiqh bestimmt, in
deren Werken die vier Hauptsäulen der Rechtstheorie, nämlich die normativen Quellen (al-
adilla aš-šarʿiyya), die Struktur der Rechtsnormen (binyat al-ḥukm aš-šarʿī), die interpretative
Methodik der Ableitung von Gesetzen (manhaǧ al-istiqrāʾ) sowie die selbständige
Urteilsfindung (iǧtihād) erläutert werden, die der faqīh neben den Hilfswissenschaften wie etwa
Sprachwissenschaft, Logik und Argumentation beherrschen soll. (Vgl. Norman Calder/M. B.
Hooker: „Sharīʿa“, in: EI2, URL: http://referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaedia-
of-islam-2/sharia-COM_1040?s.num=185&s.start=180, letzter Zugriff: 16.02.2017.)
69 Vgl. u.a. Birgit Krawietz: Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam,
Berlin 2002, S. 87ff.
70 Der Frage, inwiefern eine Verbindung zwischen Verstand und Offenbarung geschaffen wird,
sodass die göttliche Ordnung nicht einfach Glaubenssache des Einzelnen wird, widmet sich
grundsätzlich die Theologie. (Vgl. u.a. George Makdisi: Religion, Law and Learning in
Classical Islam, Hampshire/Brookfield 1991, S. 62.)
71 Im 3./9. Jh. spalteten sich die islamischen Gelehrten in solche, die davon ausgingen, dass
genügend Wissen zur Beurteilung moralischen Verhaltens vorhanden sei, und jene, die wieder
verstärkt auf die eigentlichen Quellen, also auf die oben genannten Quellen der islamischen
Rechtswissenschaft, zurückgreifen wollten. Zwei wenig strukturierte Bewegungen herrschten
im 3./9. Jh. vor: zum einen „die Leute der Tradition“ (ahl al-ḥadīṯ), denen Mālik b. Anas
vorstand und die ihren Sitz in Medina hatten, zum anderen die „Anhänger der Ratio“ (aṣḥāb ar-
raʾy), angeführt von Abū Ḥanīfa (gest. 150/767) und seinen zwei großen Begleitern Abū Yūsuf
(gest. 182/798) und aš-Šaybānī (gest. 189/805), deren Schule in Kufa dominierte. Diese Teilung
bleibt allerdings schematisch, da die Entstehung und Entwicklung des maqāṣid-Ansatzes eher
bei denen zu beobachten war, die zu den aṣḥāb as-sunna gerechnet wurden. Aš-Šāfiʿī änderte
die Differenzierung der Schulen nach „lokalen Merkmalen“ in eine Unterscheidung nach
„personellen Merkmalen, wonach die ersten die „Anhänger von Mālik“ und die zweiten die
„Anhänger von Abū Ḥanīfa“ genannt wurden. Aš-Šāfiʿīs Einrichtung der Wissenschaft der uṣūl
al-fiqh hatte eher mit der Art und Weise zu tun, wie in diesem Zusammenhang die
Rechtsvorstellungen rivalisierten und sich aus dieser konfliktreichen Situation herauskris-
tallisierten. (Vgl. u.a. Krawietz: Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam,
S. 64-69.)
72 Den Überlegungen dieses Abschnitts dient folgender Aufsatz als Grundlage: Nekroumi: „Die
theologisch-ethische Ausrichtung der Scharia zwischen Gottesrecht und Gemeinwohl“. Bei
dem Begriff fiṭra handelt es sich um die gute Veranlagung des Menschen, die auch als Hang
zum Guten gedeutet wird. In diesem Sinne wird Anerschaffenheit definiert.
73 Das klare Bekenntnis der Rechtsgelehrten zum Vorrang der Offenbarung gegenüber der
Vernunft wird oft auf die in der Spätphase der mündlichen Überlieferung herrschende Skepsis
und das Misstrauen gegenüber dem menschlichen Verstand zurückgeführt, die aus der Furcht
des aufgrund schwacher Überlieferungsketten hervorgerufenen spekulativen Denkens
entstanden. (Vgl. al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-ʿarabī, S. 11-13.)
74 Laut ʿAbd ar-Raḥmān lässt nicht der Verstand den Menschen unterscheiden [was
unterscheiden; oder ist die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier gemeint?], sondern die
Ethik. Sie sei dem Menschen angeboren und prägender als der Verstand, den auch Tiere haben.
Sie sei unvergänglich. Der Verstand sei unbeständig, und daher könne man sich nicht auf ihn
stützen. Folglich sei der Verstand nicht unabhängig. ʿAbd ar-Raḥmāns Einwand betrifft die
Gelehrten, die den Verstand als Verantwortungsträger sehen, im Gegensatz zu denen, die die
Handlung verantwortlich machen, weil sie der Theorie der Philosophen zustimmten, die den
Verstand als einziges Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und Tier ansahen, von dem
der Mensch profitiert. Er sagt: „Warum kann es nicht sein, dass das Vermögen des Verstandes
des Menschen dasselbe Auffassungsvermögen ist, wie die Tiere es auch besitzen, das sie zu
ihrem Futterplatz führt und das ihnen hilft, zwischen Nützlichem und Schädlichem zu
unterscheiden. Weiterhin zeigt es ihnen den kürzesten Weg zu ihrem Schlafplatz, selbst wenn sie
mehrere Versuche benötigen. Es ist wirklich erstaunlich, dass die muslimischen Gelehrten als
Besonderheit des Menschen nur den Verstand hervorheben.“ (Vgl. Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmān:
Suʾāl al-ʿamal, Casablanca 2012, S. 80f.)
Sinnhaftigkeit seines Daseins sehen. Hier wird mit der Vorstellung der Anerschaf-
fenheit als Dreh- und Angelpunkt ethischer Ausrichtung die „Entzweiung“ von
Offenbarung und Vernunft zunächst aufgehoben. Im Gegensatz zur Lesart der
deterministischen Rationaltheologie, die in der Anerschaffenheit einen Gegenpol zur
Vorherbestimmung sieht, weist Ibn ʿĀšūr in Anlehnung an aš-Šāṭibīs maqāṣid-
Begriff auf die Äußerung Gottes hin, die die „anerschaffene Unschuld“ als Gottes
Schöpfungsplan nennt.75
„So richte dein Gesicht aufrichtig zur Religion hin als Anhänger des rechten
Glaubens, – (gemäß) der natürlichen Anlage Allahs, in der Er die Menschen
erschaffen hat. Keine Abänderung gibt es für die Schöpfung Allahs. Das ist
die richtige Religion. Aber die meisten Menschen wissen nicht.“ (Q 30:30)
Aš-Šāṭibīs fiṭra-Begriff entspringt keiner fatalistischen Deutung göttlichen Wirkens
in der Welt, sondern einer dynamischen Idee, der zufolge jede Urteilsfindung das
Produkt eines Abwägungsprozesses ist, bei dem Glaube und Vernunft gleicher-
maßen beteiligt sind. So lässt sich aš-Šāṭibīs Ethik, trotz seines Bekenntnisses zur
Ašʿariyya, nur schwer in eine der bekannten rationaltheologischen Denkströmungen
einordnen.76
Laut den Verfechtern der Willensfreiheit in der islamischen Rationaltheologie,
wie etwa al-Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār, hat der Mensch von seiner Geburt an die
Fähigkeit (ahliyya), Gottvertrauen anzunehmen.77 Diese Fähigkeit besitze er, weil
Gott den Menschen, sofern er bei „gesundem Verstand“ sei, mit einer instinktiven
Vernunft und einem Gewissen geschaffen habe. Wird die menschliche
Empfindlichkeit berührt, wenn es um moralisches Wissen geht, so sei es die Pflicht
des Menschen, nach seinem von Gott gegebenen moralischen Gewissen zu handeln.
Werde einem mündigen Erwachsenen ein Anlass gegeben, moralisch zu handeln,
dann solle er dies tun, und zwar nicht, weil er dazu aufgefordert sei, sondern gemäß
der ethischen Verantwortung, die ihm auferlegt wurde.
Der Philosoph Ibn Sīnā unterscheidet allerdings zwischen instinktiver und
wahrhafter Veranlagung, wobei er nur der letzteren den Begriff fiṭra zuspricht und
sie mit der Vernunft gleichsetzt. Die wahrhafte Veranlagung (fiṭra) manifestiere sich
78 Ibn Sīnā: Kitāb an-Naǧāt, hg. von Majid Fakhry, Beirut 1985, S. 99. Dass fiṭra mit dem
Verstand identifizierbar sei, wurde bereits von einigen Theologen des 3. Jh. betont. In diesem
Zusammenhang hebt al-Ḥāriṯ al-Muḥāsibī (gest. 243/857) das schöpfungstheologische
Verhältnis zwischen fiṭra und ʿaql hervor, indem er erläutert: „So erwählte Er Adam und seine
Nachkommenschaft und nahm von ihnen den Bund (mīṯāq) entgegen, indem Er ihnen einen
zufriedenen Verstand anerschuf“. (Siehe dt. Übersetzung und Analyse von Berenike Metzler:
Den Koran verstehen, S. 25, sowie al-Muḥāsibī: al-ʿAql wa fahm al-Qurʾān, S. 264).
79 Van Ess verweist darauf, dass der Theologe al-Ḥasan al-Baṣrī (gest. 110/728) einer der ersten
Verfechter der Willensfreiheit war, die den fiṭra-Begriff mit dem Urmonotheismus
gleichsetzten, um der prädestinatianischen Auslegung von Q 30:30 Einhalt zu gebieten, da die
Willensfreiheit des Menschen kaum mit einer vorherbestimmten, anerschaffenen „guten“ Natur
vereinbar zu sein scheine. (Vgl. van Ess: Zwischen Hadith und Theologie, S. 106.)
80 Um die Frage zu umgehen, wie der Unglaube vorherbestimmt sein kann, wenn der Mensch von
Natur aus gläubig und gut ist, sahen sich die prädestinatianischen Theologen wie z.B. aš-
Šaybānī (gest. 189/805) und Ibn al-Mubārak (gest. 181/797) dazu gezwungen, die fiṭra auf
einen bestimmten Zeitpunkt (Erlangen der Verstandesreife) oder eine bestimmte Gruppe (die
Zeitgenossen des Propheten) einzuschränken. (Vgl. ebd., S. 107f.)
81 So betont die islamische Exegese z.B., dass die im Koran erzählten Prophetengeschichten nur in
einem bestimmten Sinne retrospektiv zu verstehen sind. Einzig nach der Sicht des
identifizierten Erzählers scheinen die überlieferten Begebenheiten sich einstmals abgespielt zu
haben. Im Koran finden sich unter den in der „Quasi-Vergangenheit“ der Erzählstimme
überlieferten Geschichten Entwürfe, Erwartungen und Antizipationen, mit deren Hilfe die
Figuren der Erzählung durch die Wahrnehmung der sogenannten ʿibar (Lebensweisheiten) sich
auf ihre sterbliche Zukunft hin ausrichten. (Vgl. u.a. Muḥammad Aḥmad Ḫalaf Allāh: al-Fann
al-qaṣaṣī fī l-qurʾān al-karīm, Kairo 1999; Alan Jones: „Narrative Technique in the Qurʾān and
in Early Poetry“, in: Journal of Arabic Literature 25/3 (1994), S. 185-191.)
Diese beiden Aspekte lassen sich eindeutig in der von dem frühen Rationaltheo-
logen Ġaylān ad-Dimašqī (gest. 114/732) postulierten Definition von fiṭra erkennen,
in der diese als primäre und angeborene Gotteserkenntnis von der durch die
Offenbarung vermittelten „erschaffenen Unschuld“ unterschieden wird. 82 In Ġaylāns
theologischen Überlegungen nimmt der Verstand einen besonderen Platz bei der
Ergründung anerschaffener Gotteserkenntnis ein – eine Position, die man in der
späteren muʿtazilitischen Theologie wiederfindet.83 In ihrer Gleichsetzung der fiṭra
mit dem Verstand als Mittel zur Erkenntnis der göttlichen Schöpfungsordnung
scheint die intentionale Rechtsauslegung den muʿtazilitischen Ansichten recht nah.
Die spätere Rechtstheorie lehnte die muʿtazilitische Idee einer rationalen Theologie
und einer natürlichen Ethik jedoch vehement ab, da der Verstand in der
Rechtstheorie des fiqh eine ziemlich nuancierte Funktion zugeteilt bekommt, die
sein Hauptbetätigungsfeld in der Vorstellungswelt der Offenbarungsbotschaft
einschränkt.84
Aš-Šāṭibīs Ethikbegriff zufolge gehorcht der Verstand Gott von sich aus, da
dieser den Menschen zu Gott wende und der Mensch nur durch ihn die an ihn
gerichtete Rede Gottes wahrnehmen könne. 85 Die Grenzen menschlicher Vernunft
gegenüber der transzendentalen Offenbarungswelt ergäben sich dem Zwang der
leiblichen und erdhaften Verfasstheit, dem die menschliche Handlungsrealität
unterworfen sei, wie der folgende Hadith darstellt: „Kullukum li-Ādam wa-Ādam
min turāb“ (Ihr Menschen stammt allesamt von Adam ab, und Adam ist aus Erde
entstanden).86
Nach aš-Šāṭibīs ašʿaritischer Sichtweise missachtet der Mensch die Pflichten der
šarīʿa nicht aufgrund seines Vernunftsdenkens, sondern weil er, eigenen Regungen
folgend, Gottes Absicht mit seinem Schöpfungswerk missversteht und den Sinn der
göttlichen Ordnung aus dem Blick verliert. Doch durch die glaubende Erkenntnis,
82 Dies würde bedeuten, dass die von Ibn ʿAsākir (gest. 571/1176) postulierte Zweideutigkeit der
fiṭra (Vgl. ʿAlī ibn al-Ḥasan ibn ʿAsākir: at-Tārīḫ al-kabīr, 5 Bde., Damaskus 1927, Bd. 3, S.
177-179) eine paraphrastische Beziehung zwischen Q 30:30 und dem berühmten Hadith „Jedes
Kind wird im Stand der fiṭra geboren; erst seine Eltern machen es zu einem Juden, Christen
oder Magier“ (Muḥammad ibn Ismāʿīl al-Buḫārī (gest. 256/870): Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, 9 Bde.,
Vaduz 2000, Bd. 1, S. 254, Nr. 1374) von vornherein ausschließt. (Vgl. van Ess: Zwischen
Hadith und Theologie, S. 106.)
83 Vgl. ʿAbd al-Ǧabbār: Šarḥ al-uṣūl al-ḫamsa, S. 67ff.; az-Zamaḫšarī: al-Minhāǧ, 1997, S. 17f.
und 27f.
84 Zum Vernunftbegriff vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 55 und S. 61. Hierauf wird im
Folgenden analytischen Teil noch detailliert eingegangen.
85 Das bedeutet mitunter, dass die šarīʿa nicht einfach einen Akt des Bekenntnisses des Gläubigen
verlangt und nur Kraft des Glaubens für ihn gilt. Der Weg zu Gott muss in Folge dessen im
Verstand unmittelbar oder mittelbar verankert sein. (Vgl. u.a. Nagel: Das islamische Recht, S.
13-15.)
86 Vgl. Abū Dāwūd: Sunan Abī Dāwūd, Beirut o.J., Bd. 4, S. 492, Hadith-Nr.: 5118. Die
philosophischen Ursprünge dieser Idee finden sich bereits in Aristoteles’ Definition
menschlicher Handlung als eine dem Zwang unserer Verankerung in der Erde unterworfenen
mimèsis (Nachahmung) (Vgl. Paul Ricoeur: Soi-même comme un autre, Paris 1990, S. 185).
87 Nagel: Das islamische Recht, S. 12. Die Übersetzungs- bzw. Erklärungsansätze zum Begriff
fiṭra in der deutschen Orientalistik sind so vielfältig wie die islamischen Traditionen, auf die sie
sich berufen. Während die einen Begriffe wie „Veranlagung“, „kindliche Unschuld“ und
„anerschaffene Art“ (vgl. van Ess: Zwischen Hadith und Theologie, S. 101-106) verwenden,
ziehen andere eigenständige Termini wie z.B. „Hingeschaffenheit“ vor (vgl. Nagel: Das
islamische Recht, S. 12). Es geht hier jedoch nicht darum, den Begriff fiṭra zu definieren,
sondern um die Relation zwischen Absichtstheorie und fiṭra.
88 In der Tradition zeichnen sich zwei grundlegende Tendenzen ab. Die erste geht davon aus, dass
der Mensch aufgrund einer inneren, in seiner Natur liegenden „Veranlagung“ und Befähigung
moralisch handeln muss, während die zweite meint, dass der Mensch aufgrund eines von außen
gegebenen „Auftrags“ bzw. gemäß der ihm auferlegten „Verpflichtung“ (taklīf) moralisch
handeln muss. (Vgl. u.a. Ibn ʿAsākir: at-Tārīḫ al-kabīr, Bd. 3, S. 176f.)
89 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 4, S. 143ff.
90 Ali Benmakhlouf: Averroès, Paris 2004, S. 208; ders.: L’identité, une fable philosophique, Paris
2011, S. 160.
91 Diese drei Kategorien sind die raison d‘être der Moraltheologie, und deshalb soll deren
Hierarchieordnung im Hinblick auf das Eingreifen auf das praktische Leben unberührt bleiben
(vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 7ff.)
92 Die philosophische Konvention neigt dazu, in Anlehnung an die aristotelische Definition der
sogenannten Eupraxie (gutes Handeln) den Begriff der Ethik für die Ausrichtung auf ein
erfülltes Leben vorzubehalten. Die Eupraxie ist somit „selbst ein Ziel“ (Aristoteles:
Nikomachische Ethik VI, hg. und übers. von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a.M. 1998, Bd. 6,
S. 34-45), wogegen die poièsis und die entsprechende poetische Wissenschaft „ein Ziel
außerhalb ihrer selbst hat“ (vgl. Aristoteles: Aristoteles' Nikomachische Ethik. WBG, 3.
Auflage, 2013, S. 24ff.) Die Abhandlungen von Wolfhart Pannenberg (Grundfragen
systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967) spiegeln auf hervorragende
Weise den Einfluss des aristotelischen Erbes auf die christliche Theologie wider. Das Werk
Ethical Theories in Islam von Majid Fakhry geht hingegen nicht ausführlich auf den Vergleich
zwischen islamischen und griechischen Quellen ein.
93 Der in dieser Arbeit verwendete Begriff des „relationalen“ Status basiert auf der
kausaltheoretischen These der sogenannten „Akzidenzien“. Unter Akzidenz (ʿaraḍ) versteht
man jede veränderliche Eigenschaft eines sonst gleichbleibenden Trägers („Substanz“ oder
„Essenz“, arab.: ǧawhar). In der ašʿaritischen Sichtweise nimmt Gott den jeweils momentanen
Zustand der Welt zum Anlass (occasio), um den nächsten Zustand zu erschaffen. (Vgl.
Dominik Perler/Ulrich Rudolph: Occasionalismus. Theorien der Kausalität im arabisch-
islamischen und im europäischen Denken, Göttingen 2000, S. 116.) Als Ergänzung zu Perler
und Rudolph ist zu sagen, dass die Ašʿariten mit der Idee der Akzidenz ihre Annahme
untermauern wollten, dass Gottes Allmacht nicht in die handlungsinterne Kausalität der
Menschen interveniert, die durch ihre Verstrickung in interaktive Handlungen für das
Hervorrufen von Eigenschaften wie „gute“ oder „böse“ Neigungen verantwortlich sind.
94 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 136.
95 Dabei handelt es sich um eine Eigenschaft, die nach Hegel aus dem „unpolemischen Begriff“
der Religion entspringt. (Vgl. Matthias Häussler: Der Religionsbegriff in Hegels
Phänomenologie des Geistes, München 2008, S. 116f.)
96 Vgl. Ibn Rušd: Tahāfut at-tahāfut, hg. von Maurice Bouyges, Beirut 1930, S. 519; Anke von
Kügelgen: Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zu einer Neubegründung des
Rationalismus im Islam, Leiden 1994. Bei aš-Šāṭibī finden sich indirekte Hinweise auf die
Standpunkte der Rechtswissenschaft hinsichtlich der Philosophie (vgl. al-Muwāfaqāt, Bd. 3, S.
281.)
Aristoteles’ Konzept des „Seins“ dem islamischen Denken jede Dimension von
Transzendenz und Gemeinschaft entzogen.97
Jenseits der von der griechischen Philosophie entlehnten Paradoxa von Subjekt
vs. Objekt und real vs. irreal wollte aš-Šāṭibī aus rechtstheoretischer Sicht die
rationaltheologische Grundmaxime seiner Ethik klarstellen, indem er betonte, dass
jede Erkenntnis mit einem Glaubensakt beginne.98 Die Handlung und ihr Gesetz
seien lediglich äußere Manifestationen des Glaubens. Der Koran wirft durch seine
Einheitslehre (tawḥīd) ein philosophisches Existenz-Prinzip auf, das sich mit den im
damaligen Andalusien verbreiteten aristotelischen Erkenntnisgattungen wie der des
„Seins“ und des „Faktums“ nicht umfassen lasse. 99
Aš-Šāṭibīs Rechts- und Ethiktheorie beruft sich unmissverständlich auf eine
Theologie der Tat und nicht des Seins. Dem Schöpfungsakt steht ein Glaubensakt
97 Aristoteles unterscheidet in seiner Kategorienlehre zehn Seinsweisen: die Substanz, die das
Primäre, das Identifikationsgebende und das Aussagende, d.h. das Selbst-sein, ist, und die neun
Akzidenzien, welche die Sekundären sind, die einen Träger (die Substanz) brauchen, nicht
beschreibend und nicht aussagend sind sowie nicht für sich selbst stehen können. In Anlehnung
an die Lehre von Aristoteles postuliert Ibn Rušd, der von aš-Šāṭibī nur an wenigen Stellen im
al-Muwāfaqāt-Werk erwähnt wird, die Substanz als den Grundbaustein des Seins und hält
somit bewusst Abstand zur Transzendenz. Entsprechend der Einteilung der Wissenschaften
gliedert Ibn Rušd auch das Objekt des Erkennens in fünf Teile, das in ebendiese zerfällt: „Das
Objekt, seine Arten, deren Akzidenzien, die Prinzipien der Substanz und die Postulate der
Einzelwissenschaften.“ (Vgl. Max J. H. Horten: Die Metaphysik des Averroës, Frankfurt a.M.
1960, S. 209.) Daraus folgend geht die Definition des Begriffs des „Seienden“ mit Prädikaten
einher, die beinhalten, dass er weder univok noch äquivok, sondern analog zu verstehen ist und
sich mit dem ordo logicus, den geistigen Inhalten und dem ordo ontologicus decken muss.
Somit muss das Seiende, um sich als solches zu definieren, „das Wahre (das Sein im
Verstande) und dasjenige, das außerhalb des Geistes existiert (das logische und ontologische
Sein)“ sein. (Vgl. Horten: Die Metaphysik des Averroës, S. 9; al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-
ʿarabī, S. 257ff. und S. 315.)
98 Hier sieht man eine gewisse Ähnlichkeit zu Hegels Kritik am dichotomen Denken des
Verstands, woraus sich nach Jean-Claude Wolf einige interessante Perspektiven ergeben:
„nämlich ein Denken, das Glaube und Vernunft, Endliches und Unendliches nicht nur trennt,
sondern auch die Beziehung dieser Pole begrifflich variiert.“ Wolf erläutert diese Idee
folgendermaßen: „Eine Dichotomie oder (Disjunktion) [sind die Klammern auch im Original?
sie erscheinen mir hier sinnlos] ist eine Zweiteilung, in der die unterschiedenen Teile
beziehungslos auseinander fallen. Eine begriffliche Unterscheidung wird zur begrifflichen
Trennung. Was als Beziehung der getrennten Begriffe übrig bleibt, ist das Verhältnis der
abstrakten Negation, der Paradoxa der „Beziehung der völligen Beziehungslosigkeit“. (Vgl.
Jean-Claude Wolf: „dass der Mensch durch Erkennen unsterblich ist – Hegels Deutung der
Erzählung vom Sündenfall“, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 58/2
(2011), S. 453-470.)
99 Ibn Rušd hingegen vermittelt zwischen der Transzendenz und der materiellen Welt, die in
einem Verhältnis der Diskontinuität zueinander stehen, das Bewegung als eine zeitlose
Tätigkeit annimmt, die aber in der materiellen Welt als eine zeitlich erscheinende Form auftritt.
(Vgl. Mohammed Nekroumi: „Die Frage des Seienden im Horizont von Ibn Rušds (Averroes’)
Vernunftbegriff“, in: Milad Karimi/Mouhanad Khorchide (Hg.): Islamische Gelehrte neu
gelesen, Freiburg, 2015, S. 127-148.)
gegenüber, und jedem Wissen geht der Glaube voraus. Zwischen Wissen und Tat
sowie zwischen Glaube und Gesetz kann es keine Dualität geben, da das Wissen
durch die Tat auf den Glauben abzielen soll.100 Aš-Šāṭibīs Alternative zu den
philosophischen Dichotomien bestand nicht etwa darin, die Funktion der Vernunft
bei der Normableitung zu neutralisieren. Vielmehr ging es ihm darum zu zeigen,
dass der Gegenstand rationaler Überlegung nicht das Wesen Gottes ist, sondern die
Erkenntnis der Wahrheit in der göttlichen Offenbarung.
Mit seiner transzendentalen Vorstellung zu Mensch und Gesellschaft, die durch
die Idee der Absicht hervorgerufen wird, kam aš-Šāṭibī gleichwohl der Sicht Ibn
ʿArabīs über die in der wohlverwahrten Tafel (al-lawḥ al-maḥfūẓ) verborgene
„Wahrheit Gottes“101 ganz nah. Er bemängelte in der Mystik jedoch das totale
Ausblenden des sozialen Charakters, der aufgrund der im Seinspantheismus 102
implizierten exzessiven Profundität zur Entfremdung eines Teils der Gemeinschaft
führe und der zwischenmenschlichen Dimension fundamentaler Glaubensinhalte wie
„Fürsorge“ und „Gemeinwohl“ innerhalb des Sozialgefüges kaum Platz lasse.
Die Ausblendung des Gemeinschaftsbegriffs in der Mystik prangert auch al-
Ǧābirī an, und er führt sie auf die Ausschaltung des Verstands in der mystischen
Ethik zurück, die bedingungslos mit dem individuellen Verhalten gleichgesetzt wird.
Aš-Šāṭibī distanzierte sich jedoch nur von jener Tendenz in der Mystik, die das
Erlangen der Erkenntnis ausschließlich von der individuellen Erfahrung abhängig
macht, die durch Begriffe wie Herz, Gewissen, Sehnsucht, Verlangen, Liebe,
Leidenschaft, Anziehung, Vergänglichkeit und Einheit zum Ausdruck gebracht
wird. In seinen Ausführungen zum ʿaql-Begriff im Kapitel adilla aš-šarʿiyya hebt
aš-Šāṭibī aber nicht die Unterscheidung zwischen Begriffen „Herz“ und „Verstand“
als Urteilskraft hervor, wohl wissend, dass der Koran an mehreren Stellen vom Herz
im Sinne eines Erkenntnisweges spricht.103
1.3.1. Das ethische Prinzip der Fürsorge als Ort zur Begründung der Pflicht
In aš-Šāṭibīs Abhandlung zu Gegenstand und Anliegen von maqāṣid lassen sich
zwei moraltheologische Positionen unterscheiden, die seinerzeit um die richtige
Deutung ethischer Intentionalität konkurrierten und die im Zentrum des methodolo-
gischen Aufbaus dieser Arbeit stehen: Der von aš-Šāṭibī vertretenen traditions-
reichen Haltung, welche die Absichtsanalyse mit Kausalerklärung gleichsetzt, wird
die ẓāhiritische Theorie gegenübergestellt, die jegliche Rationalisierung göttlichen
Wirkens auf die Welt ablehnt.
Im Zentrum von aš-Šāṭibīs Argumentation steht die Hypothese von ar-Rāzī, der
zufolge der absichtliche Charakter göttlichen Wirkens auf die Welt mit einem ihm
entsprechenden Typ der Kausalerklärung verknüpft werden soll. Im Verhältnis
zwischen Gott und Mensch wird so dem teleologischen Aspekt gegenüber dem
deontologischen der Vorzug gegeben. Es wird methodisch zu klären sein, wie der
Ašʿarit ar-Rāzī offensichtlich für die Vorstellung der Muʿtazila plädiert, die es
vehement ablehnt, dem göttlichen Handeln Willkür und Verwerfung zuzuschreiben
– eine Frage, der sich aš-Šāṭibī ausführlich widmet.
Eine weitere methodische Hürde, die diese Arbeit zu überwinden versucht,
besteht darin, den Umstand zu hinterfragen, dass sich sowohl die Verfechter als auch
die Gegner der Begründungstheorie auf dieselben normativen Quellen aus dem
Koran berufen, die die Offenbarung als raḥma (Erbarmen Gottes, Q 16:89, 2:29
etc.), yusr (Erleichterung) und tasḫīr (Dienstbarmachung [der Schöpfung]) beschrei-
ben, um das sog. taʿlīl-Prinzip ausdrücklich zu befürworten oder abzulehnen.
Aus einer modernen theologischen Perspektive betrachtet stellt die von ar-Rāzī
und aš-Šāṭibī auf der Basis der Barmherzigkeit Gottes konzipierte Verbindung
zwischen maqāṣid und aḥkām eine methodische und theologische Herausforderung
dar, die nur durch eine hermeneutisch und theologisch fundierte Reflexion über die
Zusammenhänge zwischen Deontologie als Verpflichtungscharakter und Rational-
1.3.2. Die Frage von Hierarchie und Organisation im Verhältnis von maqāṣid
und aḥkām
Den Abschluss der Arbeit bildet die Frage nach dem Verhältnis zwischen maqāṣid
und aḥkām, welche die Gliederung der Arbeit insgesamt durchzieht und inhaltlich
maßgeblich prägt. Die der Arbeit als Organisationsprinzip dienende Unterscheidung
zwischen maqāṣid und aḥkām basiert auf einer bestimmten Auffassung des
Verhältnisses von Ethik und Moral in der modernen Hermeneutik, der zufolge die
Ethik für die Ausrichtung auf ein erfülltes Leben und die Moral für die
Artikulierung dieser Ausrichtung in Normen vorbehalten bleibt.108 Diese Unterschei-
dung dient dem Ziel, das Primat der ethischen Ausrichtung, in Form von maqāṣid,
gegenüber der moralischen Verpflichtung, und in Form von aḥkām, zu begründen.
Nach diesem Schema lässt sich die theologisch-ethische Ausrichtung der šarīʿa
in Anlehnung an aš-Šāṭibīs maqāṣid-Theorie auf zweierlei Weise bestimmen: zum
einen von ihrem transzendentalen, glaubensorientierten Streben nach eschatolo-
gischem Heil, dem sie primär dient, und zum anderen von ihrem moralisch-sittlichen
Anspruch her, den Muslimen praktische Orientierung für ihr Leben und Handeln
anzubieten. Dass Transzendenz und Immanenz, Jenseits und Diesseits, von der
Absicht des Gesetzgebers durchzogen und miteinander verbunden sind, kann man an
aš-Šāṭibīs maqāṣid-Ansatz eindeutig erkennen. Die thematische Aufteilung seines
Werks zeigt unmissverständlich, dass die aḥkām für die Artikulation ethischer
Prinzipien in Form von Praktiken vorzubehalten sind, zumal der europäische Begriff
„Moral“, genauso wie das ḥukm-Konzept, deontisch durch den Verpflichtungs-
charakter der Norm definiert wird. Aš-Šāṭibī drückt seine methodischen Vorzüge
dadurch aus, dass er die aḥkām offenkundig durch die maqāṣid einschließen lässt.109
Aus hermeneutischer Sicht ist die Relation zwischen maqāṣid und aḥkām
vergleichbar mit der Relation zwischen den Zielen eines Gläubigen und seinen
tatsächlichen Handlungen, die er einsetzt, um diese zu erreichen. Durch den
Hinweis, dass die deontische Natur der aḥkām der teleologischen Perspektive der
maqāṣid untergeordnet ist, verringert aš-Šāṭibī den Abstand zwischen wuǧūb
(Sollen) und wuǧūd (Sein), was auf eine klare Abgrenzung zwischen Beschreiben
und Vorschreiben in der Offenbarung drängt.
Somit gibt es mehrere Möglichkeiten, den hermeneutischen Gesichtspunkt im
Rahmen dieses Ansatzes einzuführen. Zunächst zeichnet sich zwischen den maqāṣid
und den einzelnen Entscheidungen des Menschen eine Art hermeneutischer Zirkel
ab. Hiermit verhält es sich wie mit einem Text (sprich dem Koran), indem das
Ganze und der Teil in Bezug zueinander verstanden werden. Der intentionalistische
Ansatz fügt der bloßen Idee der Bedeutung jene der Bedeutung für jemanden hinzu
und umfasst dadurch Glaubensinhalte wie Fürsorge und Barmherzigkeit als
unabdingbare Bestandteile der ethischen Ausrichtung.
Die maqāṣid-Theorie lässt das Primat der Ethik gegenüber der Moral bzw. der
Ausrichtung gegenüber der Norm unmissverständlich zu, insofern die moralischen
Normen bloß als Sachmomente im ethischen Urteil gelten, die dem Prozess
rationaler Reflexion über die Offenbarungspräskription untergeordnet werden
sollen.110 Auf der Ebene der ethischen Ausrichtung kann der Schutz der fünf oben
genannten notwendigen Maximen nur gewährleistet werden, wenn sie sich nicht in
einer Gegensatzbeziehung befinden, da sie sich, so aš-Šāṭibī, ergänzen und
miteinander interagieren. Nun stellt sich aber die Frage, wie sich die Verhältnisse
zwischen den zu schützenden ethischen Maximen im Spannungsfeld aus weltlichem
und eschatologischem Heil zusammensetzen.
Beim ethischen Urteilen gilt es nach aš-Šāṭibīs maqāṣid-Ansatz, eine Hierarchie
der oben genannten fünf ethischen Maximen aufzuweisen, die auf einem
Organisationsprinzip beruhen, das die spezifische Natur jeder Absichtskategorie und
ihr Verhältnis zu den anderen Kategorien gleichermaßen berücksichtigt. Aus
theologisch-hermeneutischer Sicht besteht eine an aš-Šāṭibīs maqāṣid-Ansatz
orientierte Herausarbeitung islamisch-theologischer Ethik – wie von einigen
zeitgenössischen Theologen wie al-Ǧābirī, Abu Zaid und Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmān
angedeutet – darin, die Geltungsbereiche der Maximen dahingehend auszuweiten,
dass die in Koran und Hadith verankerten Züge eines Weltethos herangezogen
werden.
Ähnlich wie die Maxime zum Schutz des Verstandes, die auf die Idee der
Verantwortung hinausläuft, beschränkt sich z.B. die Maxime zum Schutz des Selbst
nicht auf das allgemein von den fuqahāʾ hervorgehobene koranische Gebot „und
tötet nicht die Seele, die Allah verboten hat (zu töten), außer aus einem
rechtmäßigen Grund“ (Q 6:151). Diese Maxime sollte vielmehr auf ein Gebot
ausgeweitet werden, das dem Oberbegriff der Fürsorge und der Überwindung des
Selbst untergeordnet wird, der unter anderem aus dem folgenden Gebot hervorgeht:
„Und Er ist es, Der euch aus einem einzigen Wesen/Selbst hat entstehen lassen“ (Q
4:1, 6:98). Die Relektüre von aš-Šāṭibīs Begriff des Selbst (nafs) zieht zwangsläufig
eine Diskussion um die ethische Selbstheit in der islamischen Rationaltheologie
nach sich. Eine solche Definition des Begriffs nafs setzt eine erkenntnistheoretische
Rekonstruktion des gesamten traditionellen Denkmusters voraus, was die vorliegen-
den Abhandlungen in Gang zu setzen ersuchen.
Dabei stellt, wie in der Einführung des al-Muwāfaqāt besprochen, die Thematik der
Begründbarkeit der šarīʿa sowohl in der Rationaltheologie als auch in der
Rechtstheorie eine der schwerwiegendsten Kontroversen dar. Die Tatsache, dass
sich aš-Šāṭibī in dem soeben erwähnten Zitat bezüglich des taʿlīl-Begriffs auf die
Position der Muʿtazila beruft, bedeutet keineswegs, dass er sich die iʿtizāl-
Theologie5 zu Eigen macht. Vielmehr geht es dabei um ein accord de principe, der
den Beginn einer systematischen Widerlegung des Begründungskonzeptes der
Muʿtazila darstellte.
Dass das Wort Gottes zum Wohlergehen der Menschen herabgesandt worden sei,
ließe sich, so aš-Šāṭibī, primär durch die Auslegung offenbarter Quellentexte selbst
bestätigen. Der rationalen Inferenz, die aus dem Handlungsumfeld faktischen
Lebensvollzugs hervorgeht, komme dabei eine bedeutende Schlüsselrolle zu:
„Und falls die [Methode der] Induktion dieses ebenfalls beweise und sie in
diesem Fall auch nützlich für die Wissenschaft sei, so können wir
entschlossen feststellen, dass der Sachverhalt für alle Bereiche der šarīʿa
[allgemein] gültig ist, wenn feststeht, dass der Gesetzgeber mit den
Rechtsvorschriften auf die Wahrung des dies- und jenseitigen Wohlergehens
abziele.“6
zahlreichen Hinweise auf die Theologen kommen bei aš-Šāṭibī häufig im Kontext komplexer
Kontroversen vor. Jedoch vermeidet er es in den meisten Fällen, sich mit deren Ideen oder
Standpunkten auseinanderzusetzen. Ihm sind durchaus die Grenzen, sich nicht intensiv mit der
Rationaltheologie zu beschäftigen, bewusst, die man der Rechtswissenschaft in der Geschichte
gesetzt hat. Die ausführlichste Diskussion, die sich aš-Šāṭibī mit den Theologen erlaubt, findet
in der Einleitung des maqāṣid-Bandes statt und zählt nicht mehr als zwei Seiten. (vgl. ebd., Bd.
2, S. 4.)
5 Unter dem Begriff iʿtizāl-Theologie versteht man im Allgemeinen jene theologische Reflexion,
in der der apriorischen Vernunft gegenüber der Überlieferungsquelle Vorzug gegeben wird.
Dieser Grundsatz wird jedoch in dieser Abhandlung hinterfragt. (Vgl. al-Ǧābirī: al-ʿAql al-
aḫlāqī al-ʿarabī, S. 170-172.)
6 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 5 (Siehe den arab. Wortlaut unten, S. 217). Die Zielsetzung
des Schöpfers zur Bewahrung des Glaubens, des Lebens, der Fortpflanzung und Familie, des
Eigentums und der intellektuellen Fähigkeit werden nach aṭ-Ṭāhir ibn ʿĀšūr (vgl. Ibn ʿĀšūr:
Maqāṣid aš-šarīʿa al-islāmiyya, S. 77f.) auch induktiv durch Textquellen der mekkanischen
Suren belegt, wie etwa Q 6:151: „Sag: kommt her! Ich will euch verlesen, was euer Herr
verboten hat: Ihr sollt Ihm nichts beigesellen, und zu den Eltern gütig sein; und tötet nicht eure
Kinder aus Angst vor Armut - Wir versorgen euch und auch sie; und nähert euch nicht den
Abscheulichkeiten, was von ihnen offen und was verborgen ist, und tötet nicht die Seele, die
Allah verboten hat (zu töten), außer aus einem rechtmäßigen Grund! Dies hat Er euch
anbefohlen, auf dass ihr begreifen möget.“ und in Q 60:12: „O Prophet, wenn gläubige Frauen
zu dir kommen, um dir den Treueid zu leisten, dass sie Allah nichts beigesellen, nicht stehlen,
keine Unzucht begehen, ihre Kinder nicht töten, keine Verleumdung vorbringen, die sie vor
ihren (eigenen) Händen und Füßen ersinnen, und sich dir nicht widersetzen in dem, was recht
ist, dann nimm ihren Treueid an und bitte Allah für sie um Vergebung. Gewiss, Allah ist
Allvergebend und Barmherzig.“
Implizit galt die mit Berufung auf das Induktionsverfahren zum Ausdruck gebrachte
Kritik aš-Šāṭibīs an die Muʿtazila in erster Linie ihrem Rationalitätsbegriff, dem
zufolge der Mensch als vernunftbegabtes Wesen per se die Fähigkeit hat, die von
Gott geschaffene Lebenswelt eigenmächtig zu ordnen und in die ewige Wahrheit der
Schöpfung Einsicht zu erhalten. Aš-Šāṭibīs transzendentalem Induktionsverständnis
gemäß geht die diskursethische7 Deutung der Offenbarungstexte jeglicher
zweckrationaler Normenbegründung voraus. Gleichwohl hält er eine Letztbegrün-
dung theologischer Rechtsnormen durch transzendentaldiskursive und handlungs-
theoretische Reflexion für möglich, indem er auf das „Apriori der Auslegung“
verweist:
„Der Gesetzgeber hat eine ausführliche Erklärung in Bezug auf die
[vordergründigen] Motive und die [hintergründigen] Weisheiten gegeben, die
der Aufstellung der Gesetzgebung hinsichtlich der Sitten und Bräuche als
Hintergrund dienen. [Doch] das Meiste, was durch den Einbezug des Hand-
lungsumfeldes begründet wird, würde im Fall einer rationalen Betrachtung
angenommen.“8
So stimmt aš-Šāṭibī einerseits der muʿtazilitischen These der Existenz einer Logik
ethischer Begriffe zu, der man sich rational denkend nicht entziehen kann.
Andererseits widmen sich die von ihm mit Rückgriff auf Autorität und
allgemeingültige Verbindlichkeit der Textquellen in Erwägung gezogenen Einwände
gleichermaßen der instrumentalen Auffassung des Wohlergehens. Diese Auffassung
entspricht dem muʿtazilitischen Rationalitätskonzept und ging dem Averroes-
Konzept burhān voraus, das dem modernen Begriff „Zweckrationalität“ 9 nahe
kommt, der jedoch mit ihm nicht deckungsgleich ist. Der Rationalitätsauffassung der
Muʿtazila zufolge, schöpfe der Mensch aus seiner angeborenen rationalen Begabung
das Vermögen zum zielgerichteten und nützlichen Denken und Handeln, sodass er
7 Die Bezeichnung „diskursethisch“ wird hier in Anlehnung an den der islamischen Rhetorik
entsprungenen Begriff ḫaṭāba (was so viel wie „normative Redekunst“ bedeutet) verwendet,
deren kommunikativ-argumentative Rationalität die gesamte islamische Ethiktradition prägt.
Wie in der Erzähltheorie geht die insgesamt normativ orientierte islamische Rhetorik davon aus,
dass der ḫaṭāba-Begriff, der nach Ibn Ḫaldūn als syllogistische Argumentationskunst definiert
wird, grundsätzlich moralisch aufgeladen ist. (Vgl. Ibn Ḫaldūn: al-Muqaddima, hg.von Ḥuǧr
ʿĀṣī, Beirut 1991, S. 308.)
8 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 233. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 217.
9 Mit dem modernen Begriff „Zweckrationalität“, der nach Max Weber eine gewisse Dominanz
des instrumentalistischen Denkens impliziert, ist hier lediglich das zielgerichtete Denken ge-
meint. Auf die islamische Tradition übertragen, handelt es sich beim Begriff „Zweckrationali-
tät“ um eine Charaktereigenschaft der theologisch geprägten Wertrationalität (vgl. Max Weber:
Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 566f). Der spätentwickelten
umstrittenen abendländischen terminologischen Unterscheidung zwischen Rationalität und Ver-
nunft kann in diesem Zusammenhang nicht Rechnung getragen werden. Daher werden in den
vorliegenden Ausführungen beide Begriffe als Synonyme verwendet.
Schäden und Nutzen intuitiv und naturgemäß erkennen könne.10 Im Unterschied zur
muʿtazilitischen Ethiktheorie erhebt aš-Šāṭibī jedoch nicht den Anspruch, selbst mit
einer der Offenbarung untergeordneten spekulativen Vernunft eine Letztbegründung
von Moral- und Rechtsnormen leisten zu können. Dem moraltheoretischen
Universalisierungsgrundsatz der Normenlehre verpflichtet, der der Diskursargu-
mentation gegenüber der apriorischen Vernunftreflexion Vorrang gewährt, kommt
aš-Šāṭibī der modernen diskursethischen Rationalitätsauffassung nahe. 11 Eine
deontologische Letztbegründung der Moral- und Rechtsnormen, wie man sie aus der
praktischen fiqh-Wissenschaft kennt, lässt sich daher im maqāṣid-Ansatz kaum
erkennen. Im Gegensatz zur islamischen philosophischen Ethik, die sich
grundlegend einem reinen handlungstheoretischen Rationalitätsverständnisses
bedient, geht der maqāṣid-Ansatz von einer Konsenstheorie der Wahrheit aus, die
sich an der glaubenden Erkenntnis von Gottes Willen als Letztprinzip ethischer
Begründung orientiert.
Das enge muʿtazilitische Rationalitätsverständnis, das in der Tradition der
Rechtstheorie schon früh auf Kritik stieß, wird in aš-Šāṭibīs maqāṣid-Ansatz in
Richtung auf den der Normenlehre zugrundeliegenden diskursethischen Vernunft-
begriff geöffnet, demzufolge Moral- und Rechtsnormen in begründbare und
unbegründbare unterteilt werden. So werden Verhaltensnormen, die dem praktischen
Lebensvollzug des Menschen entspringen, der sittlichen Urteilsfindung zugeordnet
(aḥkām al-ādāt wa-l-muʿāmalāt) und als rational begründbar durch die ethischen
Werturteile des Nutzens und des Schadens erklärt:
„Über die šarīʿa ist bekannt, dass sie für das Wohlergehen der Menschheit
errichtet wurde und dass die Verpflichtung im Allgemeinen entweder dazu da
ist, einen Schaden abzuwenden, einen Nutzen zu ziehen oder aber beides
zusammen.“12
Aš-Šāṭibī argumentiert für seine Theorie teleologischer Moralpflichtbegründung
diskursethisch und handlungstheoretisch, indem er impliziert, dass, wenn sich das
10 Diese Idee geht auf den Universalgelehrten al-Ǧuwaynī zurück, der klarstellt: „Es ist
unbestritten, dass die Vernunft das Vermeiden jeglichen Unheils und das Erlangen möglichen
Nutzens anstrebt. Und die Ablehnung dessen ist jenseits jeglicher Vernunft, weil dies eigentlich
das Recht des Menschen ist.“ (al-Ǧuwaynī: al-Burhān fī uṣūl al-fiqh, Bd.1, S. 91.)
11 Der moderne Begriff der „Diskursethik“ geht auf Jürgen Habermas‘ und Karl-Otto Apels
Theorie der kommunikativen Rationalität zurück, der zufolge das zweckrationalistische Denken
lediglich eine untergeordnete Form kommunikativer Rationalität sei, da zielgerichtetes Handeln
stets kommunikatives Argumentieren zur Voraussetzung habe. Im Unterschied zu Habermas
schließt Apel eine diskursethische Letztbegründung der Moral nicht grundsätzlich aus. (Vgl.
Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1988, Bd. 1,
S. 532 sowie Karl-Otto Apel: „Rationalitätskriterien und Rationalitätstypen. Versuch einer
transzendentalpragmatischen Rekonstruktion des Unterschieds zwischen Vernunft und
Verstand“, in: Axel Wüstehube (Hg.): Pragmatische Rationalitätstheorien. Studies in
Pragmatism, Idealism und Philosophy of Mind, Würzburg 1995, S. 41.)
12 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 145. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 218.
Handeln jedes Gläubigen auf das Wohlbefinden der Gemeinschaft ausrichte, jedes
Gemeinschaftsmitglied als potentiell Handelnder für sich das Recht auf das
Wohlergehen voraussetze. Die aus der ethischen Maxime des „Schutzes des Selbst“
hervorgehende Transitivität (des Seins) dient demnach dazu, dieses Recht auch
anderen Gläubigen der Diskursgemeinschaft zuzugestehen. Diesem Deutungsmuster
liegt eine Auffassung des Glaubens zugrunde, nach der dem Interesse des Einzelnen
mit Berufung auf die aus dem Begriff des Eingottglaubens hervorgehende
Gemeinschaftsstimme, von Fall zu Fall Einhalt geboten werden kann. Dass das
teleologische Moralkonzept aš-Šāṭibīs die Aporien instrumentaler Begründungs-
theorien zu überwinden versucht, sieht man darin, dass der Schwerpunkt seiner
normativen Moralbegründung nicht auf die Rechtfertigung ethischer Zielsetzungen
gesetzt wird, sondern vielmehr auf dem Verfahren der Abwägung von Handlungs-
möglichkeiten und den damit verbundenen Handlungszielen liegt.
Ar-Rāzīs Idee einer theologisch-rationalen Zielsetzung moralischer Pflicht
folgend, plädiert aš-Šāṭibī dafür, die ethische Ausrichtung einem Überlegungspro-
zess zu unterziehen, wobei sich die Definition letzter Handlungsziele primär an der
Unterscheidung zwischen weltlichen und gottesdienstlichen Pflichten orientiert. Die
fundamentale Zielsetzung der gottesdienstlichen Handlungen sind nach aš-Šāṭibī
Gottesverehrung und die Einhaltung von vorgeschriebenen Handlungsrahmen. Die
erste normative Quelle dafür liefert, ihm zufolge, unter anderem auch die [Methode
der] Induktion. Demnach sind viele Pflichten aus dem Bereich der gottesdienstlichen
Handlungen, hinsichtlich ihrer Struktur, ihres Ausmaßes und ihrer Zeitvorgaben,
sowie ihrer Voraussetzungen nicht rational begründbar.13
Deutlich wird nach dieser Aussage, dass die mit der rituellen Praxis verbundenen
Handlungen keine rationalen Handlungen im eigentlichen Sinne sind und somit
nicht den inhärenten Abwägungsprozessen unterworfen werden sollen, die für
weltliche Handlungen gelten.14 Dabei kann das Argument der instrumentalen
Vernunft, die rituelle Praxis habe kein weiteres Ziel außer sich selbst, hier nicht
greifen, da selbst gemeinnützige Handlungen im Koran, deren Ziel nachvollziehbar
zu sein scheint, von jeglicher Begründung absehen. So heißt es z.B. in Q 76:9: „Wir
speisen euch nur um Allahs Angesicht willen. Wir wollen von euch weder Belohnung
noch Dank.“
Ohne prinzipiell auszuschließen, dass rituelle Praktiken bestimmte für den
Menschen erschließbare Weisheiten implizieren können, lässt die Diskursethik aš-
Šāṭibīs die Möglichkeit einer Begründung gottesdienstlicher Handlungen offen. Die
(uṣūl) anzusehen.22 Aš-Šāṭibī geht sogar so weit, dass er die fünf ethischen
Grundmaximen der Offenbarung, als Kernelemente der Ethik, von dem Prozess der
Abrogation (an-nasḫ) ausnimmt, da sie ein Bestandteil der kulliyāt bilden, die
grundsätzlich von der Abrogation nicht betroffen sind. Die Abrogation, die durch
die medinensischen Suren des Korans ausgeführt wurde, zielte ausschließlich darauf
ab, das Nebensächliche (ǧuzʾiyyāt) der mekkanischen Koransuren detaillierter
auszuführen. Interessant an aš-Šāṭibīs Ansatz ist seine Aussage, dass die Abrogation
der kulliyāt textuell nicht möglich sei.23
Bemüht um eine ethisch-normative Eingrenzung des Abrogationsbegriffs geht
aš-Šāṭibī detailliert auf die Unterscheidung zwischen dem Prozess der Spezifizie-
rung (taḫṣīṣ) und dem Vorgang der Abrogation (nasḫ) ein. Dabei widmet er sich der
Frage nach dem moralischen Sinn der Abrogation, die seinem Verständnis nach in
der Hervorhebung der in den mekkanischen Suren verankerten theologischen Werte
und Tugenden, wie Fürsorge, Gerechtigkeit, Geduld, Versöhnlichkeit, Dankbarkeit
und Treue, begründet liegt. Diese Werte macht er zum Hauptkriterium einer argu-
mentativen Verhältnisbestimmung zwischen den thematisch in Relation stehenden
Offenbarungen, die eine paraphrastische oder textuelle Zugehörigkeit suggerieren.
So erschwert er zugleich bewusst die Anwendung des herkömmlichen Abrogations-
verfahrens. Dabei sollen bei der diskursiv-normativen Verhältnisbestimmung unter-
schiedlicher Koranverse, die ähnliche moralische Denkinhalte aufweisen, zwei me-
thodische Grundsätze in der Analyse herangezogen werden.24 Auf textueller Ebene
setzt aš-Šāṭibī daher eine umfassende Induktion voraus, in deren Rahmen eine syste-
matische und vergleichende Quellenuntersuchung zum normativen Gegenstand voll-
zogen wird. Auf der theologisch-moralischen Ebene müssen die aus den Textquellen
rational erschlossenen ethischen Prinzipien sowohl in der Hypothesenstellung als
auch bei der Formulierung der angestrebten Zielsetzung im selben Maße wie die
Offenbarungsquellen bei der Normenableitung herangezogen werden. Diese zum
Umdenken über die Funktion von nasḫ verleitende Herangehensweise entspringt aus
aš-Šāṭibīs Vorstellung der Hierarchie von normativen Quellen, die er ausführlich im
kitāb al-adilla erläutert:
„Die Rechtsquellen sind von zweierlei Art: Die erste geht auf die [schrift-
liche] Überlieferung zurück, während die zweite der reinen Vernunft (ar-raʾy
al-maḥḍ) zugeordnet wird. Diese Unterteilung gilt ausschließlich für die
Kategorisierung der Rechtsquellen. Ansonsten ist bei der Ableitungen von
den Rechtsnormen jeder Teil vom anderen abhängig.“25
Bei der genaueren Betrachtung von aš-Šāṭibīs Skepsis gegenüber der herkömm-
lichen Definition von nasḫ ist festzustellen, dass er die Relevanz dieses Begriffs für
die Rechtstheorie allmählich in Frage stellt. Dies wird deutlicher in den Koran-
belegen, die seiner Untersuchung als Textgrundlage dienen. Im Zuge seiner Analyse
umstrittener Abrogationsfälle, die er nicht als solche anerkennt, widmet er sich der
Ausarbeitung des Begriffs „Spezifizierung“, dem er gegenüber der Abrogation
offensichtlich Vorrang gibt. Seine Zurückhaltung hinsichtlich des Begriffs nasḫ
rührt von der Befürchtung her, dass die reichhaltige Welt der Offenbarung durch
eine einfache syllogistische und zum Teil willkürliche Herangehensweise verarmt
und auf ein knappes Gerüst deontologischer Rechtssätze reduziert wird.
Mit der Annahme, dass die universellen Maximen ethischen Verhaltens grund-
sätzlich im Koran und insbesondere in den mekkanischen Suren verankert sind, will
aš-Šāṭibī keineswegs die Gültigkeit der medinensischen Suren oder des Hadith be-
streiten, sondern lediglich der Intentionstheorie einen fundamentalen, ursprüngli-
chen Charakter verleihen, eine Frage, die er am Anfang der Diskussion über die ra-
tionale Begründung des Rechts im Vorfeld klärt.
Diese differenzierte Haltung zum Koran könnte unter Umständen als Versuch
ausgelegt werden, die Kluft zwischen der etablierten Rationaltheologie als eine
Wissenschaft, die die Wirklichkeit aus der Perspektive des Korans unter dem Ge-
sichtspunkt der Wahrheit befragt, und dem der Rechtstheorie inhärenten Ethikver-
ständnis, bei dem der Verantwortungsaspekt des Glaubens im Mittelpunkt steht.26
Dadurch soll gezeigt werden, dass Rationaltheologie und Ethik sich gleicher-
maßen auf eine dem Glauben entspringende Befragung der Wirklichkeit berufen.
Nach einer Feststellung ar-Rāzīs geht es in der ethischen Urteilsfindung um einen
vom Koran angeleiteten Umgang mit jenen widerspruchsvollen Formen von Ver-
nunft, wie sie sich in den Debatten der Rationaltheologie zeigten.27 Sein Argument
für die Annäherung von Vernunft und Glaube stützt sich auf die theologische An-
nahme, dass Gott den Menschen in einer Weise erschaffen habe, dass er in morali-
schen Kategorien der Vernunft denke und ihn infolgedessen zu den von der Offen-
barung beabsichtigten ethischen Maximen rechtleitet.28
26 Vgl. Hans Bauer: Die Dogmatik al-Ghazali's nach dem II. Buche seines Hauptwerkes, Halle
a.d.S. 1912, S. 67.
27 Vgl. ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 291. Viel eindeutiger lässt sich diese Annahme bei der
Exegese von Koranversen zeigen, in denen sich die Prophezeiung unter erkennender Teilnahme
an der Weltwirklichkeit als wahr erweist, wie etwa in der koranischen Geschichte von Moses
und dem Weisen. (Vgl. Q 18:65-70)
28 Vgl. Lenn Evan Goodman: „Did al-Ghazali Deny Causality?“, in: Studia Islamica 47(1978), S.
89ff.
einer Begriffsanalyse beherrscht, die die Thematik von verschiedenen Seiten dieser
facettenreichen Fragestellung beleuchtet. Die Antwort auf die Frage, ob aš-Šāṭibī
eine logisch-rationale Letztbegründung theologisch-moralischer Pflichten für
möglich hält, hängt nicht zuletzt davon ab, wie die Imprägnierung von Vernunft
durch Glauben in der islamischen Rechtstheorie gedacht wurde. Mit dieser
Fragestellung ging eine weitgefasste Auseinandersetzung zum Begriff taʿlīl einher,
die eine umfassende Untersuchung des gängigen Analogie-Konzepts hervorrief.29
Die Bedeutung des Begriffs taʿlīl lässt sich auf die Verwendung des Wortes
ʿilla30 sowohl in der früheren Korangrammatik als auch in der klassischen
Rechtstheorie zurückführen. Van Ess fasst in seiner Erkenntnislehre die juristische
Bedeutung von ʿilla wie folgt zusammen: ʿIlla ist „das Merkmal (waṣf), das einer
Sache oder Handlung seine juristische Qualifikation (ḥukm), ob erlaubt oder
verboten, verleiht“.31
Der Begriff ʿilla (causa) spielt bei der Aufstellung der vierten Rechtsquelle qiyās
insofern eine grundlegende Rolle, als er die Verbindung zwischen propositio minor
und conclusio im Rahmen des Analogieschlusses deduktiv herstellt. Es handelt sich
um eine zur Begründung des ḥukm aus dem expliziten Quellentext entnommene
29 Eine Vielzahl analytischer Abschnitte des Kapitels al-Maqāṣid ist – wenn auch nicht
systematisch – der Diskussion des Begriffs taʿlīl (Begründbarkeit) gewidmet. Bei der
Verwendung des analytischen Begriffs des taʿlīl bedient sich aš-Šāṭibī der reichhaltigen
Tradition der Rechtswissenschaft. (Vgl. Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī,
S. 153ff.)
30 Der von den Theologen entwickelte Terminus ʿilla stand im Mittelpunkt ihrer philosophischen
Überlegungen bezüglich der ontologischen causa auf der Suche nach der Realität des
Verhältnisses zwischen Schöpfer und Schöpfung (maʿlūl: Wirkung). (Vgl. u.a. Ǧamāl ad-Dīn
Abū l-Ḥasan ʿAlī ibn Yūsuf al-Qifṭī (gest. 646/1248): Inbāḥ ar-ruwāt ʿalā anbāh an-nuḥāt, 4
Bde., Kairo 1950, Bd. 2.) In der Logik wurde der Begriff ʿilla für die Bezeichnung des im
Rahmen des Analogieschlussverfahrens zwischen aṣl und farʿ verbindenden Mittelbegriffs waṣf
ǧāmi verwendet, wie dies Robert Brunschvig verdeutlicht. (Vgl. Robert Brunschvig: „Logic
and Law in Classical Islam“, in G.E. Grünebaum (Hg.): Logic in Classical Islamic Culture,
Wiesbaden 1970, S. 9-120.) Die Grammatiker bedienten sich ebenso des Begriffs ʿilla. Sie
meinten allerdings damit nicht die ratio legis, sondern die formale Ursache für die Einordnung
eines bestimmten Morphems oder Segments als Ableitung von einem gegebenen Grundsatz
(aṣl). (Vgl. u.a. Abū l-Fatḥ ibn Ǧinnī (gest. 392/1002): al-Ḫaṣāʾiṣ, hg. von M.A. Naǧǧār, 3
Bde., Beirut 1952; Ulrich Haarmann: „Religiöses Recht und Grammatik im Klassischen Islam“,
in: ZDMG Supplement 2 (1974), S. 165.) Bei Sībawayh (gest. ca. 180/796) merkt man jedoch
eine gewisse Konfusion zwischen ʿilla und ʿāmil (Regent), die zwar in den letzten Jahrzehnten
Gegenstand einiger Monographien war, aber bisher keine umfassende linguistische Erklärung
fand. (Vgl. Sībawayh: al-Kitāb, hg. von Hartwig Derenbourg, 2 Bde., Paris 1881; Josef van
Ess: Die Erkenntnislehre des ʿAḍudaddīn al-Īcī, Wiesbaden 1966, S. 312f.; 382ff.; sowie Josef
van Ess: The Logical Stucture of Islamic Theology, Wiesbaden 1970, S. 35ff., 48f.; Mohammed
Nekroumi: „Zur Rezeption klassisch-arabischer philologischer Termini in der modernen
Arabistik“, in: ZDMG 157 (2007) 1, S. 77-102.)
31 Van Ess: Die Erkenntnislehre des ʿAḍudaddīn al-Īcī, S. 383. In diesem Zusammenhang bezieht
sich die Definition der ʿilla von Josef van Ess ausschließlich, auf den juristischen Gebrauch des
Wortes.
causa. Die Rechtsnorm des Alkoholverbots wurde einigen Theologen zufolge nicht
direkt aus dem Korantext erschlossen, da die entsprechende normative Quelle (dalīl)
im Koran nur den aus Weintrauben gewonnenen Wein verpönt. Die Rechtsgelehrten
definierten den Verbotsgrund des Alkohols analogisch im Hinblick auf eine aus der
expliziten Bedeutung des entsprechenden Koranverses erschlossene causa. In
diesem Fall liegt diese in „der Unreinheit und der betäubenden Wirkung“ 32
begründet.33 Das Analogieschlussverfahren der Rechtstheorie, das dem qiyās bayānī
(diskursive Analogie) der Rhetoriker formell ähnelt, geht von dem Merkmal eines
bereits in der Offenbarung verkündeten Urteils aus, um es als ratio legis in einem
präskriptiven Syllogismus als Grundlage moralischer Urteilsfindung zu nutzen. So
wird aus zwei Prämissen ein Ergebnis erschlossen, das als verbindliches Urteil gilt.
Als Beispiel hierfür wird häufig der Fall des Weinverbots angeführt:
ʿIlla ist hier also ein Merkmal, das die juristische Gleichstellung von Alkohol und
Wein erlaubt, indem sie einen gemeinsamen konstitutiven Faktor beider Produkte
impliziert.35 Vor diesem Hintergrund entstand der sozial-ethische taʿlīl-Begriff, der
zwar bereits bei Šihāb ad-Dīn al-Qarāfī zu einem analytischen Werkzeug entwickelt
wurde,36 seine Entfaltung jedoch erst in der maqāṣid-Theorie aš-Šāṭibīs erfuhr.37
werden. ʿIlla dient zur Begründung einer Rechtsnorm, während sabab die Handlung selbst
meint, die als Gegenstand der Rechtsnorm fungiert. (Vgl. al-Ǧābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, S.
143.)
38 Vgl. u.a. Masud: Islamic Legal Philosophy. S. 99f., siehe auch Wael B. Hallaq: „The Primacy
of the Qur´an in Shatibi’s Legal Theory”, in ders. (Hg.): Law and Legal Theory in Classical
and Medieval Islam, Burlington 1995, S. 69-90.
39 Für aš-Šāṭibi wird die Zielsetzung des Gesetzgebers zum Schutz der intellektuellen Fähigkeit
durch Verse aus medinensischen Koransuren belegt, insofern, als dass das Verbot
berauschender Mittel gemäß eines abgestuften deontischen Prozesses erfolgte, das erst in der
medinensischen Phase eingeführt wurde. Zunächst lautete die Botschaft: „Sie fragen dich nach
berauschendem Trunk und Glückspiel. Sag: In ihnen (beiden) liegt große Sünde und Nutzen für
die Menschen. Aber die Sünde in ihnen (beiden) ist größer als ihr Nutzen. Und sie fragen dich,
was sie ausgeben sollen. Sag: Den Überschuss. So macht Allah euch ein Zeichen klar, auf dass
ihr nachdenken möget.“ (Q 2:219); danach vollzog sich eine Pflichtsteigerung, die für die
Lebenslage der neu gegründeten, jedoch theologisch reifgewordenen islamischen Gemeinde in
Medina zumutbar scheint: „O die ihr glaubt, nähert euch nicht dem Gebet, während ihr trunken
seid, bis ihr wisst, was ihr sagt, noch im Zustand der Unreinheit – es sei denn ihr geht bloß
vorbei – bis ihr den ganzen (Körper) gewaschen habt […].“ (Q 4:43); „O die ihr glaubt,
berauschender Trank, Glücksspiel, Opfersteine und Lospfeile sind nur ein Gräuel vom Werk
des Satans. So meidet ihn, auf das es euch wohl ergehen möge!“ (Q 5:90); „Der Satan will (ja)
zwischen euch nur Feindschaft und Hass säen durch berauschenden Trank und Glücksspiel und
euch vom Gedenken Allahs und vom Gebet abhalten. Werdet ihr (damit) nun wohl aufhören?“
(Q 5:91). Die zeitliche Abfolge bei der Herabsetzung einschlägiger Koranverse zu den fünf
grundlegenden Maximen des Gesetzgebers wird dadurch erklärt, dass das Verhältnis zwischen
deren ethischen Kategorien hierarchisch aufgestellt ist. Genauso wie aš-Šāṭibī eine paraphrase
Beziehung zwischen mekkanischen und medinensichen Suren herstellt, argumentiert er für eine
intertextuelle Verbindung zwischen Koran und Sunna im Hinblick auf die drei Intentions-
kategorien aḍ-ḍarūriyyāt, al-ḥāǧiyyāt und at-taḥsīniyāt, wobei er ein besonderes Augenmerk
auf die Notwendigkeiten legt: „denn genauso wie die zum Erhalt des Lebens notwendigen
Maximen im Koran verankert sind, wurden sie besonders in der Prophetentradition detailliert
ausgeführt.“ („fa-ḍ-ḍarūriyāt kamā taʾaṣṣalat fī l-qurʾān tafaṣṣalat fī s-sunna“ (Aš-Šāṭibī: al-
Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 46f. Bd. 4, S. 20.)
40 Mit dem Begriff „Begründbarkeit“ wird hier keineswegs Bezug auf die Unterscheidung
zwischen Wahrheit und Begründbarkeit, die von Friedo Ricken: Allgemeine Ethik, Stuttgart
1998 gemacht wird, genommen.
41 Der ḥanbalitische Rechtsgelehrte Ibn Qayyim al-Ǧawziyya (gest. 751/1350) war zwar einer der
überzeugten Anhänger der rationalen Begründung bzw. Rechtfertigung aller rituellen
Rechtsgebote samt der dazu gehörigen einzelnen Akte, wie Gebetszeiten (awqāt aṣ-ṣalāt) oder
Bedingungen ritueller Waschungen (šurūṭ al-wuḍū) etc., jedoch meinte er, ähnlich wie al-
Ġazālī und aš-Šāṭibī, dass im Allgemeinen die hinter den rituellen Geboten Gottes verborgenen
Weisheiten für die Vernunft des Menschen unzugänglich bleiben. (Vgl. Ibn Qayyim: Iʿlām al-
muwaqqiʿīn an rabb al-ʿālamīn, hg. von Mašhūr ibn Ḥasan, 7 Bde., Dār Ibn al-Ğawzī, Riad
2002, Bd. 3, S. 329.)
42 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 53ff.
43 An dieser Stelle verweist aš-Šāṭibī indirekt auf die Haltung von Abū Ḥanīfa, für den eine
allgemeine Begründbarkeit der šarīʿa gilt, solange kein textueller Gegenbeweis vorliegt (Vgl.
Muḥammad Abū Zahra: Abū Ḥanīfa hayātuhū wa-ʿaṣruhū - ārāʾuhū wa-fiqhuhū, Kairo 1947.)
44 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 55f. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 218.
der Last ritueller Pflichten für den Gläubigen abziele.45 Die besondere Eigenschaft
der rituellen Gebote liege darin, dass sie alle induktiv begründbar seien. Die
Textquellen verwiesen, wenn auch ohne Berücksichtigung der Einzelheiten, explizit
auf den Sinn der rituellen Pflichten eines Muslims, und es bedürfe keiner Inferenz,
d.h. keines Erschließungsverfahrens, um deren Bezug zum Interesse des Menschen
festzustellen.46
Doch die Begründung der rituellen Gebote sei methodisch nicht mit der Begrün-
dung der auf die weltlichen Handlungen des Menschen bezogenen Rechtsnormen zu
vergleichen, obwohl die Rechtfertigung beider Kategorien auf der ethischen Basis
des menschlichen Interesses beruhe, so aš-Šāṭibī. Im Gegensatz zum Zweck der
weltlichen Handlungen lasse sich die Zielsetzung der rituellen Akte nicht syste-
matisch und rational erfassen. Die auf sie bezogenen Sinngebungen bzw. Weisheiten
seien lediglich Produkt allgemeiner Auslegung. Man dürfe aber als Gläubiger bei
der Durchführung ritueller Gebote bewusst auf die vermeintlich daraus resultie-
renden weltlichen und jenseitsbezogenen Wirkungen und Zwecke abzielen:
„Und es ist [dem Gläubigen] erlaubt, dass man sowohl auf die diesseitigen,
als auch auf die jenseitigen Wirkungen [der gottesdienstlichen Handlungen]
abzielen darf.“47
Eine genaue Betrachtung der taʿlīl-Argumentation aš-Šāṭibīs in seinem Werk al-
Muwāfaqāt besonders in Verbindung mit seinem anderen „quasi-juristischen“ Werk
al-Iʿtiṣām verdeutlicht, dass sich seine theoretische Arbeit im Wesentlichen gegen
die Mystiker dieser Zeit richtete, die seiner Meinung nach eine rigide Auslegung des
Rechts befürworteten. Die Legitimierung des qiyās und seiner taʿlīl-Mechanismen
als anerkannte Rechtsmethode implizierte auf der anderen Seite die Erkenntnis, dass
die Textquellen inadäquat für die Schaffung eines ausgewogenen und rational
annehmbaren Rechtsdiskurses sind. Das taʿlīl-Verfahren bei aš-Šāṭibī steht im
Mittelpunkt seiner Anstrengungen um zwischen dem facettenreichen menschlichen
Leben und dem transzendentalen Universum des Korans 48 eine Brücke zu schlagen.
Bei ihm trifft die folgende von Kevin Reinhart formulierte Aussage vollkommen zu:
45 Auch hier gibt aš-Šāṭibī den Anhängern der Begründung ritueller Rechtsnormen nur bedingt
Recht. Denn es sind seines Erachtens lediglich einzelne Fälle, die der Formulierung einer Regel
nicht bedürfen. So schreibt er: „Und das, was bei ihnen passend ist, ist abgezählt und es gibt
nichts Vergleichbares dazu, wie zum Beispiel die mit einer Handlung verbundenen Mühen, und
deshalb erlaubte Verkürzung [vom Gebet] und Fastenbrechen und Zusammenlegen von zwei
Gebeten des Reisenden und ähnliches.“ Ebd., Bd. 2, S. 230.
46 Vgl. zum Gebet Q 20:14, Q 29:45; zum Fasten Q 2:183; zur Almosen- bzw. Solidaritätsabgabe
Q 9:103; und zur Pilgerfahrt Q 22:27-28.
47 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 147. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 218.
48 Paul Ricoeur findet, dass die semantische Referenz einer heiligen Schrift in der Gedankenwelt
(le Monde du Text) und in dem Anspruch, den er schafft, verkörpert wird; alles andere entsteht
nach einer hermeneutischen Auseinandersetzung mit dieser Schrift. (Vgl. Paul Ricoeur u.a.:
„Herméneutique de l’idée de Révélation”, in: La Révélation 7 (1977), S. 15-54.)
“By grounding all of life in the relatively small body of revelation texts,
Muslim scholars insured the universalistic and transnational character of
Islamic intellectual and moral life”. 49
Doch die Kritik aš-Šāṭibīs richtet sich in dieser Hinsicht nicht nur an die Mystiker,
wie etwa Ibn al-ʿArabī, sondern auch an die Rationaltheologen, insbesondere an die
Ẓāhiriten, unter ihnen z.B. Ibn Ḥazm (gest. 456/1064), die im Analogieschluss eine
formale Schranke für ihren frei waltenden raʾy sahen.50 Das Problem sieht aš-Šāṭibī
hauptsächlich in dem textgebundenen Ansatz der Ẓāhiriten, die sich seiner Ansicht
nach strikt
„an die explizite Bedeutung der heiligen Texte halten und die Rolle der
Vernunft grundlegend zurückweisen, was letztlich auf einen Ausschluss der
bereits von der Tradition in Konsens angenommenen Analogie-Methode
hinausläuft.“51
Die entschlossenen Gegner des Analogieschlusses und des taʿlīl-Verfahrens, wie die
Mehrheit der Ḥanbaliten, der Ẓāhiriten 52 und der Ašʿariten, beriefen sich nach aš-
Šāṭibī auf eine detaillierte Interpretation der Texte als Rechtsquelle, wohingegen die
Verteidiger des Analogieschlusses, nämlich einige Mālikiten, Šāfiʿiten und
mehrheitlich Ḥanafiten53 sowie Muʿtaziliten erklärten, dass ihre Regeln außerhalb
der Reichweite der Texte liegen würden, und ihre Ausführungen auf Basis von
Überlegungen in den Texten erstellt worden seien. Sie sahen also den Analo-
gieschluss als eine Möglichkeit der Extrapolation von Recht aus den fundamentalen
49 A. Kevin Reinhart: „Islamic Law as Islamic Ethics”, in: Journal of Religious Ethics 11/2
(1983), S. 192.
50 Im Hinblick auf die Definition und Anwendungsart des Analogieschlusses erläutert Ignaz
Goldziher in Anlehnung an Ibn Ḥazm, dass sich in der Geschichte der islamischen
Rechtstheorie zwei Methoden nebeneinander herausgebildet haben: „Während die eine nach
einer materiellen Ähnlichkeit der miteinander in Beziehung gesetzten Rechtsfälle, des
geschriebenen und des neuerdings aufgetauchten, zu suchen vorschreibt, fordert die andere
Methode dazu auf, die Ursache, die ratio des zum Vergleich herangezogenen überlieferten
Gesetzes zu ergründen, den Geist des Gesetzes zu erforschen und zu sehen, ob das frei
herausgefundene Kausalitätsverhältnis, in welchem das Gesetz zu einem ungeschriebenen
Prinzip steht, den neuerlich aufgetauchten Fall mit einschließt oder nicht.“ (Ignaz Goldziher:
Die Ẓâhiriten: ihr Lehrsystem und ihre Geschichte. Beitrag zur Geschichte der muhammeda-
nischen Theologie, Leipzig 1884, S. 12.) Der ersteren Methode wurde von den Ẓāhiriten der
Vorzug gegenüber allen anderen Ansätzen gegeben.
51 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 61. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 218.
52 Vgl. bezüglich der Ẓāhiriten: Goldziher: Die Ẓâhiriten: ihr Lehrsystem und ihre Geschichte.
53 Während Abū Zahra die Ḥanafiten als Repräsentanten aller Befürworter des Analogieschlusses
bezeichnet (Vgl. Abū Zahra: Abū-Ḥanīfa hayātuhū wa-ʿaṣruhū - ārāʾuhū wa-fiqhuhū.), stellt
Ignaz Goldziher die Zugehörigkeit Abū al-Ḥanīfas zu den qiyās-Anhängern in Frage. (Vgl.
Goldziher: Die Ẓâhiriten: ihr Lehrsystem und ihre Geschichte, S. 13.)
Texten. Dabei teilten sie die Einstellung ihrer Gegner, indem auch sie völlig eigen-
ständig formuliertes Recht nicht als göttliches Recht akzeptieren konnten. 54
Merkwürdig in der von aš-Šāṭibī ausgeführten Diskussion um die rationale
Begründung der Rechtsnormen scheint jedoch sein Angriff auf den Standpunkt von
Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī,55 dem Einzigen, der von aš-Šāṭibī in diesem Kontext
namentlich erwähnt wird. Eigentlich richtet er seine Kritik vielerorts im Buch an die
Ẓāhiriten, zu denen sein Landsmann Ibn Ḥazm gehört, der dem Analogieschluss ein
ganzes Kapitel in seinem Buch al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām56 widmet. Die
Präsentation ar-Rāzīs als Vertreter der taʿlīl-Gegner in al-Muwāfaqāt ist insofern
unverständlich, als dass die ablehnende Haltung bezüglich der rationalen Begrün-
dung der šarīʿa ausschließlich in seinen philosophischen Abhandlungen zu finden
ist, in denen er sich als Ašʿarit der ašʿaritischen Auffassung verpflichtet fühlt.57 In
den juristischen Werken ar-Rāzīs war seine Haltung gegenüber dem taʿlīl-Konzept
hingegen eher positiv. Dabei muss in Erinnerung gerufen werden, dass ar-Rāzī ein
treuer Anhänger des Analogieschlusses war, wie er selbst in seinem Werk al-Maḥṣūl
fī ʿilm uṣūl al-fiqh beteuerte.58 Aufgrund der engen, ja dialektischen Beziehung zwi-
schen qiyās und taʿlīl ergibt sich die unbestreitbare Zugehörigkeit ar-Rāzīs zum
Kreis der taʿlīl-Anhänger.
Die Entwicklung des von den Ašʿariten ins Leben gerufene munāsaba-Kon-
zepts,59 das maslak al-munāsaba (Weg der Situationsangemessenheit) heißt, ist
54 Vgl. Abū Ḥāmid al-Ġazālī: Maǧmūʿat rasāʾil al-Ġazālī, hg. von Yāsir Sulaymān Abū Šādī,
Kairo 2011, S. 224f.
55 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 4.
56 Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, 8 Bde., Beirut 1983, Bd. 8, S. 78-113.
57 Konkret handelt es sich hier um eine Anspielung aš-Šāṭibīs auf die von ar-Rāzī verteidigte
ašʿaritische Auffassung, die die Existenz jeglichen Sinns und Zwecks hinter der göttlichen
Schöpfung abstreitet, da die Anerkennung einer solchen zweckgebundenen Intention bei Gott
die Existenz einer gewissen Abhängigkeit seines Wesens von äußeren Faktoren impliziert.
Diese Darstellung wurde von ar-Rāzī mit der berühmten ašʿaritischen Maxime untermauert:
„al-mustakmalu bi-ġayrihi nāqiṣun bi-ḏātihi“, (vgl. Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī: Tafsīr mafātiḥ al-
ġayb, 32 Bde., Teheran o.J., Bd. 2, S. 154.)
58 Vgl. ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 240.
59 Dieses Konzept besagt: Wenn sich für eine Rechtsnorm irgendein Interesse als passend
(munāsib) erweist, so fungiert dieses Interesse als causa (ʿilla) für die zwischen Rechtsnorm
und Interesse erfolgte Anpassung. Je nachdem ob ein kausaler Zusammenhang zwischen der
ratio legis und dem Urteil angenommen wird, werden unterschiedliche Definitionen für die
Angemessenheit genannt: 1. Angemessen ist das, was zum Erreichen und Erhalten dessen führt,
was angenehm für den Menschen ist. Das wäre etwas, was die Ursache des Nutzens bringt
(manfaʿa) und die Ursache des Schadens abwendet (maḍarra). 2. Die Gegner des kausalen
Zusammenhangs zwischen der ratio legis und dem Urteil weisen die These zurück, dass der
menschliche Verstand in der Lage ist, den Willen Gottes hinter einem Urteil zu erkennen.
Daher verneinen sie auch die Nutzung des ratio legis zur neuen Urteilsfindung.
Angemessenheit ist demnach für sie das, was intelligente Menschen denken, was geeignet
(mulāʾim) sein müsste. 3. Ar-Rāzī bestimmt drei Kriterien um ein angemessenes Merkmal zu
bestimmen: (1.) Real sein (ḥaqīqī), (2.) im Gesetz erwogen (iʿtibār fī l-šarʿ) (3.) geeignet
(mulāʾim) sein für den bestimmten Fall, mit oder ohne Beweis durch die Quellen. Er gibt
jedoch die Beziehung zwischen diesen drei Kriterien nicht an. So scheint es, dass sie kumulativ
sind und daher nur die Erfüllung aller drei Kriterien ein Merkmal als angemessen bestimmt und
in Folge dessen als ratio legis für ein Urteil in Frage kommt. (Zur islamwissenschaftlichen
Rezeption dieses Konzepts vgl. Felicitas Opwis: Maṣlaḥa and the Purpose of Law, Leiden
2010, S. 91f.; sowie die klassischen Arbeiten von Goldziher: Die Ẓâhiriten: ihr Lehrsystem und
ihre Geschichte; Nagel: Die Festung des Glaubens.)
60 Für die Rechtfertigung seiner Anerkennung des taʿlīl-Konzepts führt ar-Rāzī folgende
Argumentation aus: „Al-munāsaba tufīdu ẓanna al-ʿilliya, wa-aẓ-ẓannu wāǧibun al-ʿamalu bi-
hi.“ („Die Tatsache, dass Rechtsnorm und menschliches Interesse häufig zusammenpassen,
führt zur Vermutung/Annahme einer Kausalität zwischen den beiden, und jede Annahme muss
bei der Definition von Rechtsnormen berücksichtigt werden.“) (Ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S.
237-242.)
61 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 245f.
62 Wie alle Werke der Rechtstheorie beginnt al-Muwāfaqāt nach einem traditionellen Kapitel über
Definitionen mit einem Abschnitt über die formelle Klassifikation der normativen Quellen (al-
adilla aš-šarʿiyya). Bei dem Begriff „normative Quellen“ handelt es sich um die wortwörtliche
Wiedergabe von Beweisen (al-adilla aš-šarʿiyya), die kaum zufriedenstellend ist. In Anlehnung
an eine bestimmte arabische Übersetzungstradition wird allerdings in dieser Arbeit von Fall zu
Fall entschieden, ob man sich aus Erleichterung für den Leser an die gängigen Übersetzungen
hält oder nicht.
63 Aš-Šāṭibī verwendet abwechselnd den Begriff qiyās und den Begriff raʾy für die Bezeichnung
der vierten normativen Quelle. (Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 3, S. 29.)
64 Ebd., Bd. 3, S. 29.
65 Wie aš-Šāṭibī an verschiedenen Stellen im Buch zeigt, stammt diese Klassifizierung der
normativen Quellen aus der Tradition aš-Šāfiʿīs, der sie fast identisch auflistet, auch wenn die
Kategorien nicht immer gleich benannt sind. In der Forschung gibt es dazu aber auch
Gegenstimmen: “The usual account of the Risālah’s contents - namely, that aš-Šāfiʿī has a
Theory of ‘Four sources’ of law, does not correspond to what one actually finds in the Risāla.”
(Joseph E. Lowry: „Does Shāfiʿī have a Theory of Four Sources of Law?“, in: Bernhard G.
Weiss (Hg.): Studies in Islamic Legal Theory, Leiden/Boston/Köln 2002, S. 23-50.)
66 Was so viel bedeutet wie „Not bricht Gebot“.
67 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 3, S. 29. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 218.
68 Vgl. Opwis: Maṣlaḥa and the Purpose of Law, S. 89ff.
erlaube aber nicht, rationale Moralbegriffe an die Stelle von Textautorität und
Gelehrtentradition zu setzen. Logisch betrachtet sei die Erschließung des Urteils aus
den ersten Prämissen des qiyās ein rationaler Akt. Jedoch falle die ratio legis, die
maßgeblich zu einer Urteilsfindung verhilft, unter die Kategorie des „gewusst bzw.
erfahrenen“ (maʿrūf), was sowohl sichere Erkenntnis, die den Textquellen oder
Sitten entspringt als auch vermutetes wahrscheinliches Wissen (ʿilm ẓannī) im Sinne
einer Deliberation über moralische Diskursabsichten einschließt. Daher sind die
normativen Quellen insofern grundsätzlich in der ersten Quellen-Kategorie (Koran
und Sunna) verankert, als man die zweite Kategorie (Konsens und freie
Urteilsfindung) nicht durch die Vernunft, sondern durch die erste Kategorie
festlegt.69
„wenn man über die Textgrundlagen der Sunna nachdenkt, ergibt sich, dass
sie lediglich Erläuterungen des Korans darstellen. Und dies ist ihr allgemei-
ner Charakter.“70
Aš-Šāṭibī geht in seiner diskursbezogenen Moraltheorie offenbar von einem
Rationalitätsbegriff aus, bei dem die Begründbarkeit von Rechtsnormen im
Wesentlichen mit deren Konsistenz und Kohärenz im Kontext der Auslegungstradi-
tion des Korans zusammenhängt. Die hier aufgestellte These, dass eine reine
rationale Letztbegründung von Moralnormen zum Scheitern verurteilt sei, speist sich
aus dem Gedanken, dass weder Vernunft noch Offenbarung einen alleinigen
Anspruch auf eine absolut plausible Rechtfertigung vom ethischen Urteil erheben
könnten, da von der bei der Urteilsfindung in Gang gesetzten Deliberation über
Diskursabsichten und Handlungsziele gleichermaßen von normativen Quellen und
deren Auslegung durch die Vernunft auszugehen ist. 71
Der normative Offenbarungsdiskurs (ḫiṭāb aš-šarʿ) bleibt hingegen die Quelle
der Beweiskraft von iǧmāʿ und raʾy. Auch ar-Rāzī hing dieser Meinung an.
Allerdings setzte er den Schwerpunkt an anderer Stelle, indem er sich auf die
Angemessenheit als einen Indikator zur Erkennung der ratio legis (ʿilliyya) der
Urteile fokussierte, 72 während aš-Šāṭibī das Interesse auf deren Ableitungsart im
Kontext richtete:
69 Dazu äußert sich aš-Šāṭibī in al-Muwāfaqāt ausdrücklich: „für die Einschränkung der
normativen Quellen bezogen auf die Offenbarungstexte“ Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 3, S. 30.
70 Ebd., Bd. 3, S. 31. Für den arab. Wortlaut siehe oben, S. 219.
71 Aš-Šāṭibī betont ausdrücklich im ersten Band von al-Muwāfaqāt (genannt: al-Muqaddimāt wa-
l-aḥkām), dass den textuellen normativen Quellen kein absoluter Wert (qaṭʿī) zuzuordnen sei,
wenn die rationalen normativen Quellen (qiyās, raʾy) dies nicht zuließen. Genauso wie der
iǧmāʿ der Zuverlässigkeit und der Richtigkeit der Überlieferung diene, helfe der qiyās bzw. raʾy
bei der inhaltlichen Zusammenführung von den sich auf eine vergleichbare Rechtsnorm
beziehenden, disparaten Texten des naql, um daraus Aufschluss über die Intention des
Gesetzgebers zu erlangen (Vgl. ebd., Bd. 1, S. 19ff.)
72 Vgl. Goodman: „Did al-Ghazali Deny Causality?“, S. 48,87; ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 327.
„Wenn man die Tatsache betrachtet, dass der Konsens, die Einzelüberlie-
ferung und die Analogie auch Beweisquellen darstellen können, so lässt sich
das auf diese Zusammenhänge untereinander [, dass sie sich aufeinander
beziehen und voneinander abhängig sind,] zurückführen, weil ihre Beweise
[die der Rechtsquellen] aus kaum eingrenzbaren Stellen stammen. Und trotz-
dem gehen diese verbindlichen Rechtsquellen auf verschiedene Zusammen-
hänge zurück, die sich nicht in einer Kategorie zusammenfassen lassen.
Wichtig ist, dass diese Quellen denselben Zweck haben, nämlich die Beweis-
führung. Und wenn sich die normativen Quellen für den Gelehrten ver-
mischen, so entsteht die Möglichkeit einer Anfechtung der Rechtsquellen.
Die früheren Rechtsgelehrten haben diese Angelegenheit jedoch nicht be-
rücksichtigt und auch kaum darauf hingewiesen, sodass die Nachfahren diese
ebenfalls vernachlässigten. Auf diese Weise erschwerte sich die Beweisfüh-
rung durch einzelne Koranverse oder Hadithe insofern, als man sie nicht
unter Berücksichtigung des Konsenses einbezogen hat. So erhob man Ein-
spruch gegen diese normativen Quellen, einen nach dem anderen. Daraufhin
wurde die Argumentation aufgrund dessen als schwach eingestuft, entgegen
der Regeln der Ableitung, die auf eine klare und unanfechtbare Gesetzgebung
abzielen sollten. Denn wenn man, so wie die Gegenposition es vertritt, die
normativen Quellen der šarīʿa hinsichtlich deren universalen und deren
praxisbezogenen Eigenschaften betrachtet, [indem] man nämlich die normati-
ven Quellen der šarīʿa bei der Rechtsaufstellung gesondert heranzieht, so
würde man ohne Einbeziehung der Vernunft zu keinem rechtskräftigen Urteil
gelangen. Dabei ist das Beziehungsfeld der Vernunft dem Glauben unterge-
ordnet. Dieses Ordnungsschema erweist sich bei der Hierarchisierung der
normativen Quellen als unentbehrlich.“73
Hier soll nun auf die von aš-Šāṭibī vorgeschlagene Neudefinition der Sunna als
„Zweite Textquelle“ aufmerksam gemacht werden. Vorher waren qawl (Aussage),
fiʿl (Tat) und iqrār (Billigung) des Propheten (sas) unter einer einzigen Kategorie
subsumiert. Aš-Šāṭibī betrachtet die Sunna jedoch als alleinigen Referenzrahmen der
Aussagen des Propheten (sas). Sie ist dem Propheten (sas) das gleiche, was der
Koran für Gott ist. Neben der Sunna des Propheten (sas) gibt es seine Taten und
Billigung, die nur teilweise Beweiskraft im rechtlichen Bereich haben, insbesondere
wenn sie durch eine Einzelüberlieferung tradiert werden. 74 Bemerkenswert ist der
Aufruf aš-Šāṭibīs, die Beweiskraft der Aussagen des Propheten (sas) bei
zweifelhaften Überlieferungen in Bezug auf den Koran zu überprüfen. Dies bestätigt
die Annahme, dass aš-Šāṭibī von einer gewissen autonomen Koranethik ausgeht, die
als Grundlage einer überlieferungskritischen Befragung autoritativer Quellen dienen
73 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 25. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 219.
74 Vgl. ebd., Bd. 3, S. 13, Bd. 4, S. 8.
soll. Hier zitiert aš-Šāṭibī eine Aussage von ʿĪsā ibn al-Abān (gest. 221/835-6), ohne
dabei seine Meinung explizit zu vertreten:
„Und bei ʿĪsā ibn al-Abān [liest man]: Wenn euch ein Hadith des Propheten
vorgetragen wird, so vergleicht ihn mit dem Buch Gottes. Wenn er damit
übereinstimmt, so akzeptiert ihn, und wenn nicht, dann lehnt ihn ab.“ 75
Zuletzt hebt aš-Šāṭibī hervor, dass die Pflichtenlehre primär als Produkt der
Auslegung normativer Aussagen anzusehen sei. Dieses Postulat trage zur Klärung
seines methodischen Umdenkens bei, die rational erschlossenen Quellen nicht
unabhängig von den Textquellen zu behandeln. Die Kontroverse der Verhältnis-
bestimmung zwischen Textquellen und Vernunft-reflexion in den uṣūl al-fiqh wurde
damit hermeneutisch neu aufgestellt.76 Betrachtet man aš-Šāṭibīs Haltung zur
kausalen Begründungstheorie, so wird deutlich, dass er sich über die Möglichkeit,
für seine Moralbegründung in den drei syllogistischen Sätzen zu argumentieren,
hinwegsetzt.
75 Ebd., Bd. 3, S. 13. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 219.
76 Denn während im ersten Teil von al-Muwāfaqāt eine gewisse Entschlossenheit zum Ausdruck
gebracht wird, den rationalen normativen Quellen wie dem qiyās eine eigenständige
Abhandlung zu widmen, wird dies erneut im dritten Teil infrage gestellt, mit der Begründung,
dass jegliche Behandlung von adilla vom Koran und der Sunna auszugehen hat (Vgl. ebd., Bd.
3, S. 257.)
77 Ar-Rāzī zitiert zahlreiche Koranverse, die die Offenbarung der göttlichen Mitteilung als raḥma,
yusr oder tasḫīr beschreiben. Ar-Rāzī wird vorgeworfen, etwas zum Ausdruck zu bringen, was
kein ašʿaritischer Gelehrter zu denken wagen würde. (Vgl. ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 242.)
mit Berufung auf normative Quellen, die den taʿlīl ausdrücklich befürworten
sollen.78
Rationaltheologisch übertrifft die Darstellung ar-Rāzīs hinsichtlich der
Kontroverse rationaler Begründbarkeit der šarīʿa bei weitem die von aš-Šāṭibī in
Kitāb al-aḥkām durchgeführte Analyse der Zielsetzung und der Zweckbestimmung
göttlicher Rechtsnormen insofern, als es ar-Rāzī besser gelungen ist, methodisch
zwischen dem Ansatz der Rationaltheologen und dem der Rechtsgelehrten zu
unterscheiden. Vielleicht liegt dies daran, dass zu Lebzeiten ar-Rāzīs die Diskussion
zwischen den Mutakallimūn und den Fuqahāʾ an Heftigkeit noch nicht verloren
hatte. Andererseits muss daran erinnert werden, dass die hauptsächlichen Diskurs-
Protagonisten aš-Šāṭibīs die Mystiker seiner Epoche waren, da die Kalām-
Wissenschaft im 9./15. Jahrhundert in Andalusien sowohl von den Mystikern, als
auch von den Rechtsgelehrten mit der Ketzerei gleichgesetzt wurde, wie dies in der
muqaddima al-kalāmiyya von al-Muwāfaqāt deutlich zum Ausdruck gebracht
wird.79
Aš-Šāṭibī verdankt ar-Rāzī eine klare methodische Trennung zwischen dem
muʿtazilitischen und dem ašʿaritischen rechtstheoretischen Ansatz in Bezug auf die
rationale Begründung der šarīʿa, die Ersterem zur Erarbeitung seiner innovativen
Intentionstheorie verhalf. Denn die Besonderheit von aš-Šāṭibīs Ansatz entstand aus
seinem Versuch, auf der Grundlage von ar-Rāzis These einen Mittelweg zwischen
muʿtazilitischer und ašʿaritscher Auffassung zu finden. Ausschlaggebend ist dabei
ar-Rāzīs Aussage gewesen, in der er erklärt:
„Es wurde ein Konsens darüber erzielt, dass die Rechtsvorschriften ein
Gemeinwohl sind. Entweder, weil sie es sein müssen, wie die [Bewegung
der] Muʿtazila sagte, oder aber weil sie es aus dem Wohlwollen [Gottes]
heraus sind, wie wir sagen.“80
78 Es handelt sich um die auch von aš-Šāṭibī als Beweisführung für taʿlīl verwendeten Koranverse,
nämlich: (Q 21:107): „Und Wir haben dich nur als Barmherzigkeit für die Weltenbewohner
gesandt“; (Q 2:29): „Er ist es, Der für euch alles, was auf der Erde ist, erschuf und Sich
hierauf dem Himmel zuwandte und ihn dann zu sieben Himmeln formte; und Er ist aller
(Dinge) kundig.“; (Q 45:13): „Und Er hat euch alles, was in den Himmeln und was auf der
Erde ist, dienstbar gemacht, alles von Sich aus. Darin sind wahrlich Zeichen für Leute, die
nachdenken“; (Q 22:78): „Und müht euch für Allah ab, wie der wahre Einsatz für Ihn sein soll.
Er hat euch erwählt und euch in der Religion keine Bedrängnis auferlegt, dem
Glaubensbekenntnis eures Vaters Ibrahim: Er hat euch Muslime genannt, zuvor und (nunmehr)
in diesem (Koran), damit der Gesandte Zeuge über euch sei und ihr Zeugen über die Menschen
seid. So verrichtet das Gebet, entrichtet die Abgabe und haltet an Allah fest. Er ist euer
Schutzherr. Wie trefflich ist doch der Schutzherr, und wie trefflich ist der Helfer!“. (Vgl. Robert
Brunschvig: „Devoir et Pouvoir. Histoire d'un Problème de Theologie Musulmane“, in: Studia
Islamica 20 (1964), S. 5-46.)
79 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 35ff.
80 Ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 291. Für den arabischen Wortlaut siehe oben, S. 219.
Auf der Suche nach einer Alternative zu dem von der Muʿtazila verteidigten
rational-dialektischen Verhältnis zwischen Rechtsnorm und Interesse ist es aš-Šāṭibī
gelungen, das auf einem Zufall basierende Verhältnis zwischen ḥukm und maṣlaḥa
von den Ašʿariten zu systematisieren. 81 Eine Auseinandersetzung mit der
philosophischen Argumentation Ibn Ḥazms bezüglich des taʿlīl-Konzepts hätte aš-
Šāṭibī jedoch viel weiter gebracht als die Diskussion über die ziemlich eindeutige
Position ar-Rāzīs. Schließlich begründete Ibn Ḥazm gemäß der andalusischen
Tradition seine Ablehnung von taʿlīl durch die zur damaligen Zeit epistemologisch
etablierte Trennung zwischen der Sphäre des religiösen und der des weltlichen
geisteswissenschaftlichen Denkens. Der weltlich-pragmatische Sinn religiöser
Rechtsnormen könne, nach Ibn Ḥazms Auffassung, nur intertextuell erkundet
werden. Die Anerkennung eines weltlichen Zwecks hinter dem Rechtsdiskurs
komme seiner Meinung nach nur in Frage, wenn die offenbarten Texte explizit
darauf Bezug nehmen, sonst seien die Gebote Gottes nicht durch eine weltliche
Sinngebung zu begründen. Diese Haltung ist für die Ẓāhiriten typisch, und so kann
sich Ibn Ḥazm auf Vordenker berufen:
„Und diese sagten: Über all das, was nicht in der šarīʿa durch einen [Quell-]
Text untermauert wurde, ist es nicht erlaubt zu sagen, dass es der Grund für
dieses oder jenes sein kann. Abū Sulaymān [Dāwūd ibn ʿAlī, gest. 270/884]
und all seine Anhänger, Gottes Wohlgefallen auf ihnen, sagten: ‚Gott stellt
die Rechtsbestimmungen grundsätzlich nicht für eine bestimmte causa auf.
Wenn Gott der Erhabene oder sein Gesandter festgeschrieben haben, dass
irgendein Sachverhalt dieses oder jenes Ziel erfüllt hat, so wissen wir, dass
Gott Anlässe für jegliche Ereignisse [Sachverhalte und Ziele] erschaffen hat,
die [ihrerseits] dem Offenbarungsgeschehen als Handlungsumfeld
dienten.‘“82
Ibn Ḥazm geht soweit, die rationale Begründung der Rechtsnormen und den
Analogieschluss als Satanswerk zu bezeichnen, da Satan das einzige Wesen
gewesen sei, das es gewagt habe, Gott nach den Beweggründen seiner Taten zu
fragen, indem er sich dem Befehl Gottes, vor Adam niederzuknien, widersetzte. 83
Dass man Gott nicht nach Seinen Handlungsmotiven fragen dürfe, sei nach Ibn
Ḥazm im Koran verankert. So heißt es dort: „Er wird nicht gefragt nach dem, was
Er tut; sie werden aber gefragt.“ (Q 21:23)
Wenn man die Argumentation Ibn Ḥazms genauer betrachtet, stellt man fest,
dass der Unterschied zwischen seiner Position und der von aš-Šāṭibī hinsichtlich von
taʿlīl keinesfalls auf einer sachlichen Grundlage basiert.84 Ibn Ḥazm gibt selbst zu,
dass sein Streit mit den Anhängern des taʿlīl-Konzepts der uneinheitlichen Verwen-
dungsweise mehrdeutiger Begriffe geschuldet sei. So betont er:
„Und die Wurzel allen Unheils, Blindheit, Verwirrung und Übels ist Ver-
wechslung von Begriffen sowie, dass mit einem Begriff mehrere Bedeutungen
impliziert werden [Vieldeutigkeit]. Verwendet der Sprecher einen Begriff, von
dessen Bedeutungen er nur eine bestimmte beabsichtigt und der Hörer versteht
es auf eine andere Art und Weise als vom Sprecher gemeint, so entsteht Unheil
und Komplexität. Insofern haben wir die vier Begriffe causa, Motiv,
[unmittelbarer] Grund und Zeichen erläutert und wir haben erklärt, dass deren
Bedeutungen auf verschiedene Denkinhalte verweisen und dass ihre Begriffs-
inhalte verschieden sind. Und wir haben diesen Unklarheiten ein Ende gesetzt,
indem wir die Begriffe causa und Grund deutlich voneinander abgegrenzt
haben.“85
Dies erklärt wahrscheinlich die etwas zurückhaltende Stellungnahme aš-Šāṭibīs
gegenüber der Haltung der Ẓāhiriten im Allgemeinen, und der von Ibn Ḥazm im
Besonderen.86
Ibn Ḥazm geht es in erster Linie darum, die logische und philosophische
Verwendung des Worts ʿilla (causa), die historisch belegt ist, auf den philoso-
phischen Diskurs zu beschränken. Der Begriff causa habe im rechtlich-religiösen
Diskurs nichts zu suchen, so sein Hauptargument. Deshalb schlägt er den Rechts-
gelehrten vor, in der Kontextsuche nach dem Zweck religiöser Rechtsgebote, den
etwas weniger fachlichen Ausdruck sabab anstatt ʿilla zu gebrauchen, da dieser
nicht zwingend eine Relation zwischen ḥukm und ġaraḍ 87 impliziert.
84 An dieser Stelle trifft die bezüglich der qiyās-Skeptiker allgemeine Aussage auf Ibn Ḥazms
Standpunkt zu: „Analogie ist [...] nur zulässig, wenn sie sich nach dem göttlichen Willen
richtet, sofern dieser überhaupt für uns Menschen auf den Begriff zu bringen ist.“ (Nagel: Die
Festung des Glaubens, S. 196.)
85 Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, Bd. 8, S. 583 (für den arab. Wortlaut siehe oben, S. 220).
Anders als in der Beiruter Edition der „Dār al-kutub al-ʿilmiyya“ von 1985, die hier als Grund-
lage dient, wird die o.g. Aussage Ibn Ḥazms in einer früheren Beiruter Edition (nämlich der von
1983, Dār al-āfāq) in leicht veränderter Form überliefert. Jedoch unterstützen beide Lesarten die
ablehnende Haltung Ibn Ḥazms gegenüber der durch verschiedene Begriffskonnotationen
entstandenen Konfusion.
86 Aš-Šāṭibī zeigt eine gewisse Sympathie für die Ẓāhiriten, insbesondere im Kontext seiner
Abhandlung über Verbote und Gebote, sowie bezüglich der aḥkām. (Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt,
Bd. 1, S. 61f.)
87 Dem Begriff ġaraḍ wird von Ibn Ḥazm der Vorzug gegenüber ʿilla, sabab, maʿnā und ʿalāma
gegeben. (Vgl. Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, Bd. 8, S. 605.) Im Hintergrund dieser
terminologischen Entscheidung steht die Absicht Ibn Ḥazms, zwischen der juristischen und der
philosophischen Terminologie eine klare Trennung zu ziehen.
Die ʿilla ist, nach Ibn Ḥazms Ansicht, alles andere als sabab, da erstere eine
Eigenschaft bezeichnet, die das sich Ereignen eines Sachverhaltes unmittelbar
erzwingt. Die ʿilla und die daraus resultierende Wirkung (maʿlūl) sind so
unzertrennlich, wie das Feuer und der daraus entstehende Brand.
„Der Unterschied zwischen ʿilla und sabab, sowie der zwischen Zeichen und
Motiv ist explizit und eindeutig, sodass jeder Gültigkeit in seinem (Begriffs-)
Spektrum genießt, und keiner eine Begründung benötigt, weder in der šarīʿa,
noch durch eine Beurteilung mit Hilfe eines Analogieschlusses. So wahr Gott
uns (bei der Klarstellung) helfe, sagen wir: ʿilla ist ein Begriff für jede
Eigenschaft, die einen Sachverhalt als notwendig voraussetzt. Denn causa
lässt sich überhaupt nicht von der Wirkung trennen, so wie das Feuer die
causa des Brennens ist […] kann grundsätzlich keiner von beiden ohne den
Anderen existieren und geht keines von beiden dem anderen zeitlich
voraus.“88
Sabab erzwingt laut Ibn Ḥazms These keineswegs das sich Ereignen der mit ihm
hypothetisch verbundenen Wirkung (musabbab). Der Zorn kann z.B. eine Ursache
für den Sieg sein und infolgedessen den Sieg tatsächlich herbeiführen. Die
Entscheidung des Sieges liegt aber beim Zornigen insofern, als er über den Willen
verfügt, zu siegen oder nicht.
Ibn Ḥazms Vorstellung der ʿilla war aš-Šāṭibī zu philosophisch.89 Sie wurde von
aš-Šāṭibī in der theologischen Einleitung der al-Muwāfaqāt-Abhandlung scharf
kritisiert, weil sie impliziert, dass die Formulierung der Rechtsnormen aufgrund der
damit verbundenen Wirkungen dem Gesetzgeber aufgezwungen worden sei. Aš-
Šāṭibī schließt sich damit der sunnitischen Tradition an, die besagt, dass der
Gesetzgeber sich freiwillig, eigenmächtig und gezielt selbstverpflichtet, die mit der
Formulierung der Rechtsnormen in Zusammenhang stehenden Gründe zu
berücksichtigen.90 Die in der šarīʿa enthaltene Bewahrung des menschlichen
Interesses sei der Gnade, Huld und Gunst Gottes.
Was aš-Šāṭibī an dem Konzept sabab der Ẓāhiriten störte, ist die Tatsache, dass
dadurch jedes interpretative Räsonnement auf der Grundlage des Textes im Vorfeld
ausgeschlossen zu sein scheint. Aš-Šāṭibīs Skepsis gegenüber Ibn Ḥazms
Terminologie ist nicht unbegründet insofern, als Ibn Ḥazm selbst jede Annäherung
zwischen ʿilla und maʿnā (Sinn/Bedeutung) vehement bekämpfte. So schreibt er:
„Und die causa [einer Handlung] wurde auch Bedeutung [einer Handlung]
genannt, und dies ist ein maßloser Unfug, denn die Bezüge [zwischen causa
88 Vgl. ebd., Bd. 8, S. 603. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 220.
89 Das Konzept der Ursache bei Ibn Ḥazm basiert auf einem epistemischen Wahrheitsbegriff, der
die Wahrheit auf nicht-metaphysische Objektivität einschränkt.
90 In diesem Zusammenhang meint aš-Šāṭibī ʿilla ǧaʿliyya „von Gott geschaffene ‚ratio legis‘
bzw. ‚ratio‘“. (Bezüglich der Übersetzung vgl. Goldziher: Die Ẓâhiriten: ihr Lehrsystem und
ihre Geschichte, S. 11.)
und Bedeutung] sind nicht korrekt, da die Bedeutung eine Erläuterung des
Wortlauts ist.“91
In diesem Kontext entstand die Idee bei Ibn Ḥazm, den am meisten bei sunnitischen
Rechtsgelehrten92 verbreiteten Begriff qaṣd, der rhetorisch belegt ist, durch den
allgemeinen Terminus ġaraḍ zu ersetzen. Für Ibn Ḥazm ist die Unterscheidung
zwischen sabab, den er als Alternative zu ʿilla vorschlägt und ġaraḍ von
grundlegender Bedeutung. So betont er:
„Aber der Grund entspricht jedem Sachverhalt, für dessen Erfüllung der [frei]
Handelnde eine Tat vollzogen hat und wenn er es nicht gewollt hätte, hätte er
es nicht gemacht. [...] Was das Motiv angeht, so ist es ein Sachverhalt, den
der Handelnde [aktiv] anstrebt und in die Tat umsetzt.“93
Ibn Ḥazm scheint dem Konzept aš-Šāṭibīs näher zu stehen, wenn er erläutert, dass
hinter den Rechtsnormen Gründe (asbāb) liegen können, und dass die Rechtsnormen
infolgedessen Ergebnisse (musabbabāt) dieser Gründe sein können. Jedoch schränkt
er diese Regel erheblich ein, indem er einerseits bekräftigt, dass die kausalen
Beziehungen zwischen Rechtsnormen und ihren Ursachen keinesfalls deduktiv
ausgehend vom Text erschlossen werden können, und dass andererseits der
ultimative Zweck der Rechtsnormen nichts anderes als das Glück im Jenseits sei.
Dass Ibn Ḥazms Standpunkt in Bezug auf die Begründbarkeit der Rechtsnormen
komplizierter war als manche Rechtsgelehrten dachten, wurde aš-Šāṭibī spätestens in
der Diskussion um maṣlaḥa deutlich. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang
die Aussage Ibn Ḥazms bezüglich des Alkoholverbots, in der er die Frage stellt:
Wenn der Alkohol wegen seiner berauschenden Wirkung verboten worden sei,
warum wurde er in den früheren Offenbarungen, sprich Thora und Bibel, nicht
verboten und weshalb war er in früheren Zeiten des Islams erlaubt? Sein Fazit lautet:
„Wenn Torheit und Trunkenheit der Grund für das Verbot des Alkohols
wären, so hätte Allāh ihn [Alkohol] von Beginn an verboten, dabei war er
[Alkohol] hingegen jahrelang im Islam erlaubt.“94
Dem taʿlīl-Verfahren Ibn Ḥazms sind mit der durchaus rational nachvollziehbaren
Achtung des Willen Gottes klare Grenzen gezogen. Sein Standpunkt, wie der aller
Ẓāhiriten, war ein Produkt des kaum lösbaren Paradoxons: Wie kann man die šarīʿa
auf der einen Seite als den Inbegriff einer von Gott gegebenen Ordnung betrachten,
wenn man auf der anderen Seite darauf beharrt, dass die Umsetzung der
Rechtsnormen im Alltagsleben von rational erschlossenen Zweckerwägungen
91 Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, Bd. 8, S. 603. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 220.
92 Es sind hier insbesondere die Rechtsgelehrten gemeint, die die Intentionstheorie in der
Rechtswissenschaft begründet haben, wie al-Ǧuwaynī, al-Qarāfī, ʿAbd ar-Raḥmān al-Isnawī
(gest. 772/1370), Ibn ʿAbd as-Salām und al-Ġazālī (siehe Kapitel 1).
93 Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, Bd. 8, S. 603. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 220.
94 Ebd., Bd. 8, S. 609. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 220.
abhängig zu machen sind? Solch eine Fragestellung wurde von aš-Šāṭibī hingegen
vermieden, da er darin eine Art Vermischung zwischen dem Wort Gottes und Gott
selbst sah. Nach aš-Šāṭibīs Auffassung ziele die Begründung der Rechtsnormen
lediglich darauf ab, ein besseres Verständnis des juristischen Diskurses zu
ermöglichen. Bei dem taʿlīl gehe es nicht um eine logisch-philosophische
Begründung der šarīʿa, sondern vielmehr um einen hermeneutischen Ansatz, der die
Ableitung der Rechtsgebote von den heiligen Texten anhand eines argumentativen
Räsonnements zu gestalten versuche.
95 Der Begriff stammt aus der analytischen Philosophie, zu deren Begründern Gottlob Frege und
Ludwig Wittgenstein gehören. Nach der Auffassung von Paul Grice, einem der prominenten
Sprachphilosophen der Moderne, erfolgt die Definition des Sinns einer Aussage nur durch eine
rationale Erschließung, der sowohl linguistische (syntaktische Struktur des Textes) als auch
extra-linguistische Faktoren (Kontext, Situation, Umfeld, etc.) als Grundlage dienen. Ludwig
Wittgenstein zufolge sind Sprechakte sowie Verhaltensnormen zwar wertneutral, jedoch ist er
der Meinung, dass jede „Verhaltensregel nicht nur formuliert, sondern auch in einem konkreten
Kontext angewendet werden können muss, um ihre lebenspraktische Bedeutung zu entfalten.“
(Rebekka Klein: „Nächstenliebe als transgressive Norm. Situationsethik und die Heuristik
kontextueller Verhaltensorientierungen“, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 56 (2012), S.
40f.) Die Inferenz oder der Rückschluss zielt darauf ab, ein Sprach- oder Handlungsverhalten
mit Berücksichtigung konkreter Anwendungskontexte zu interpretieren. (Vgl. Ludwig
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M., 2001, S. 220f.)
96 Voluntarismus bedeutet hier, dass man seinen Blickwinkel auf die Natur des Rechts richtet.
Hierbei ist taʿlīl ein Instrument des Zweckrationalismus, das neben dem maqāṣid-Ansatz zur
Analyse der Texte beiträgt, auf denen das Recht basiert. Voluntarismus, so scheint es, führt
geradewegs zu taʿlīl, wohingegen ein taʿlīl-Anhänger nicht zwangsweise ein „Voluntarist“ sein
die Konsequenz der Bedeutung von Wörtern wie maqaṣūd oder ġaraḍ, die man
sowohl mit „beabsichtigt“ als auch mit „gewollt“ übersetzen kann. Für aš-Šāṭibī ist
somit eine beabsichtigte Bedeutung (al-maʿnā al-maqṣūd) eine gewollte Bedeutung
(al-maʿnā al-murād). Die Ẓāhiriten wollten natürlich nicht, dass den Begriffen, die
im Koran Verwendung finden, eine bestimmte Bedeutung zugewiesen wird, für die
es im expliziten Wortlaut des Korans kein Indiz gibt. Hat ein Wort mehrere
lexikalische Bedeutungen, so entsteht der Inhalt der Aussage durch die Isolierung
der „richtigen“ Bedeutung. Ẓāhiritisches Gedankengut und Zweckrationalismus sind
dabei entgegengesetzte Seiten der gleichen Münze. So sieht aš-Šāṭibī keinen
Widerspruch zwischen der Tatsache, dass das Recht vom göttlichen Willen
festgelegt wird und dem Umstand, dass das Recht der göttlichen Intention entspringt
und anders herum.97
„Es gibt Menschen, die behaupten, dass der Koran [zugleich] explizite und
implizite Bedeutungen enthalte […] und al-Ḥasan [al-Baṣrī] […] hat
erläutert, dass das Explizite die deutliche Rezitation sei, und dass das
Implizite das Begreifen dessen sei, was Gott andeuten will, weil Gott der
Erhabene sagte: „Was ist mit diesem Volk, dass sie beinahe keine Aussage
verstehen“ [Q 4:78]. Die Bedeutung davon ist, dass sie [die Menschen] nicht
verstehen, was Gott andeuten will. Er meint damit nicht, dass sie die
Wortbedeutung nicht verstehen. Wie könnte Er das behaupten, wo er [der
Koran] doch in ihrer Sprache herabgesandt wurde? Sondern es geht darum,
dass sie die Aussage Gottes nicht verstehen. Und die explizite [Wort-]
Bedeutung ist eine Sache, die die Empfänger als Araber verstehen können,
während die Ausrichtung der Aussage [von Gottes Wort] eine andere ist. Es
besteht kein Zweifel daran, dass die letztere von Gott herabgesandt worden
ist. Und wenn man nachdenkt, wird man überhaupt keine Streitfragen über
den Koran finden.“98
Der Begriff ẓāhir bezeichnet somit die durch die Sprachkonvention der Araber
festgelegte lexikalische Bedeutung, für aš-Šāṭibī eine Vorstufe der Interpretation,
während das Wort bāṭin das Begreifen vom göttlichen Willen impliziert:
„Sinn und Zweck dieser Aussage ist, dass mit dem Expliziten die arabische
Wortbedeutung und mit dem Impliziten die Ausrichtung der Sprache und des
Diskurses Gottes gemeint sind.“99
muss. (Zum Begriff „Voluntarismus“ vgl. Bernard G. Weiss: The Spirit of Islamic Law, S. 55-
57.)
97 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 23. Nach aš-Šāṭibīs Auffassung vereinigt sich im Fall
der Sunna die göttliche Intention mit dem Willen des Propheten. (Vgl. ebd., Bd. 2, S. 46f.)
98 Ebd., Bd. 3, S. 286. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 221.
99 Ebd., Bd. 3, S. 287. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 221.
In einer betont diskursiven Perspektive ist der Gedanke einer Subsumierung der
Kausalität in Form einer diskursiven Argumentation bei aš-Šāṭibī dazu bestimmt,
der Absicht Gottes, die den Schlussstein seiner Rechtsableitung bildet, als Stütze zu
dienen. Nun wirft aber diese Vorgehensweise die Frage nach der terminologischen
und hermeneutischen Tragweite der Begriffe Kausalität und Absicht in den
verschiedenen theologischen Ansätzen von neuem wieder auf. Ein Zugang zum aš-
Šāṭibīs Standpunkt zum Verhältnis zwischen Begründungsdenken und Intentionalität
kann sich nur durch eine Gegenüberstellung einschlägiger theologischer
Standpunkte hinsichtlich der Systematisierung inhärenter Charaktereigenschaften
dieser Begriffe ergeben.
Die Begriffsanalyse von qaṣd bei aš-Šāṭibī, die bisher in dieser Abhandlung
absichtlich im Hintergrund gehalten wurde, rief eine Art äußerst nuancierter und
differenzierter Analyse hervor, die sich von al-Ġazālīs bedeutendsten Werken zur
Kausalität und Absicht, al-Iqtiṣād fī l-iʿtiqād100 und Tahāfut al-falāsifa101, herleitet.
Für al-Ġazālī sind die Begriffe niyya, irāda und qaṣd synonyme Ausdrücke, deren
semantischer Gehalt ein „Doppeltes in sich schließt, ein Erkennen und ein Tun.“102
Geprägt von einer gewissen mystischen Sicht schreibt al-Ġazālī qaṣd und niyya
einen nach Innen orientierten transzendentalen Wert zu. Sowohl bei dem einen als
auch bei dem anderen handelt es sich um „die Bewegung des Innern zu dem, was
der Mensch als seinem Ziel angemessen erachtet, sei es für diese oder jene Welt.“ 103
In der Absicht sieht al-Ġazālī lediglich einen Ausdruck des Willens und die
„Bewegung der Seele entsprechend der Begierde und Neigung nach dem hin, was
dem Ziel [...] angemessen ist“.104 Eigenartigerweise lehnt aš-Šāṭibī diese
interiorisierende, heute würde man sagen, phänomenologische, Definition der
maqāṣid entschieden ab.105
In seinen Abhandlungen über maqāṣid vermeidet aš-Šāṭibī bewusst den
Gebrauch von Begriffen wie irāda oder etwa niyya, weil seine Auffassung von qaṣd
eine andere zu sein scheint.106 Zwar vermeidet er leider jede Definition des letzteren,
jedoch lässt eine allgemeine Betrachtung der Gliederung des Kapitels Kitāb al-
Maqāṣid darauf schließen, dass er dem Begriff qaṣd einen besonderen und
methodisch differenzierten semantischen Gehalt zuzuschreiben vermag.
Aš-Šāṭibī unterscheidet bewusst zwischen menschlicher und göttlicher Absicht,
dennoch verwendet er für die beiden Gebrauchsweisen denselben Begriff, nämlich
qaṣd mit derselben analytischen Konnotation. Die methodische Herangehensweise
lässt eindeutige Rückschlüsse auf aš-Šāṭibīs Eigenart des Begriffs qaṣd zu. Durch
seine Verbindung zwischen maqāṣid und ʿilal zielt die Analyse aš-Šāṭibīs darauf ab,
der theologischen Definition der Absicht als Ausrichtung eines Bewusstseins auf
etwas, das vom Subjekt getan werden soll, entgegen zu wirken. Für ihn ist die
Absicht nicht Intentionalität im Sinne Ibn Ḥazms. Qaṣd bezeugt nicht die
Selbsttranszendenz eines Bewusstseins, wie das von dem Begriff niyya suggeriert
wird.
Hierin den Rhetorikern folgend, will aš-Šāṭibī vermutlich nichts von
Phänomenen wissen, die nur der privaten Anschauung zugänglich sind und die
folglich durch eine private, hinweisende Beschreibung erfasst werden könnten.
Deshalb zieht er durch den exklusiven Gebrauch des Begriffs qaṣd eine klare
Grenzlinie zwischen Intention einerseits und anderen Begriffen wie irāda, niyya
oder ġaraḍ andererseits.
Was hat es nun mit der ẓāhiritischen Unterscheidung zwischen sabab, ġaraḍ,
qaṣd und ʿilla auf sich? Nichts in der Etymologie oder in der Geschichte der
Rhetorik über die Verwendung der Begriffe drängt sie auf. Ibn Ḥazms Ablehnung
von taʿlīl scheinen andere tiefgreifende und jenseits der Begriffsanalyse liegende
Bedenken als Hintergrund gedient zu haben. In der Unterscheidung zwischen beiden
Begriffspaaren sabab/ġaraḍ und qaṣd/ʿilla lassen sich unschwer zwei Erbschaften
erkennen: ein theologisch-philosophisches Erbe, in dem die Religion durch eine
gewisse ethische Ausrichtung gekennzeichnet ist und ein rechtstheoretisches Erbe,
in dem die Offenbarung durch den Verpflichtungscharakter der šarīʿa definiert wird.
Denn in der theologisch-philosophischen Tradition, der Ibn Ḥazm angehörte, lassen
sich dagegen die Begriffe ġaraḍ, qaṣd, ʿilla und sabab zwei unterschiedlichen
Redewelten zuordnen. Begriffe wie ʿilla oder sabab stehen laut philosophischer
Tradition eng mit dem Begriff ḥadaṯ (Ereignis) in Verbindung. Nun ist aber Ibn
Ḥazm davon überzeugt, dass der Begriff sabab (Anlass) keine zwingende Beziehung
zum musabbab (Wirkung) unterhält, wie das bei dem Begriff ʿilla (causa) in Bezug
auf maʿlūl (Wirkung) der Fall ist. Da qaṣd nach ẓāhiritischer Auffassung ein aus der
einer Aussage aus der Perspektive kontext- und situationsbezogener Faktoren analysierte.
(Vgl. Muḥammad ibn ʿAlī as-Sakkākī (gest. 626/1229): Miftāḥ al-ʿulūm, hg. von Naʿīm
Zarzūr, Beirut 1983.) Aus hermeneutisch-ethischer Sicht hat der Begriff maqāṣid keine
bestimmende oder klassifizierende Konnotation, sondern er setzt die Handlung aufgrund
seines lozierenden semantischen Gehalts in einen ethischen Horizont, in dem „das moralische
Urteil im hypothetischen Modus durchexerziert wird.“ (Vgl. Ricoeur: Soi-même comme un
autre, S. 208.)
Kausalität resultierender Begriff ist, entschied sich Ibn Ḥazm für das Wort sabab,
um den Grund göttlicher Offenbarung zu bezeichnen. 107
Im Gegensatz zu fiʿl (Handlung), der zum Bereich des „Geschehenmachens“ 108
gehört, ist ḥadaṯ dem Bereich des Geschehens zuzuordnen. Das Ereignis ist
Gegenstand einer Beobachtung, d.h. eines ḫabar (feststellenden Aussage), die wahr
oder falsch sein kann; eine Handlung ist weder wahr noch falsch. Deshalb spricht
man im Falle einer Handlung vom ġaraḍ al-fiʿl (Handlungsmotiv).
Aus diesem Gegensatz ergibt sich ein doppelter Bezug zur Idee der Wahrheit.
Während man hinsichtlich des Begriffs ḥadaṯ von Wahrheit spricht, kann ein fiʿl
hingegen lediglich als wahrhaft beschrieben werden. Genauso wie sabab eine Art
lockere Beziehung zum Schöpfungsakt ḥadaṯ zugeschrieben wird, entspringt, laut
Ibn Ḥazm, eine göttliche Handlung aus einem Handlungsmotiv und keineswegs aus
einer von der Handlung unabhängigen Intention.
Ibn Ḥazm zog insofern den Gebrauch des Begriffs ġaraḍ vor, als dass ein Motiv
logischerweise im Begriff der vollzogenen oder zu vollziehenden Handlung
impliziert sei. Man vermeide dadurch eine Abspaltung zwischen Gottes Rede und
seinem Willen. Eine solche Sichtweise basiert auf einer Regel, die sich unter
Philosophen etabliert hat: Man kann kein Motiv ohne die daraus resultierende
Handlung erwähnen. Die innere Verbindung zur Handlung, die den Begriff ġaraḍ
kennzeichnet, schließt die extrinsische, kontingente und in diesem Sinne empirische
Kausalverbindung aus, die der Begriff ʿilla suggeriert.109
Der von aš-Šāṭibī, und außerdem von den Anhängern der taʿlīl-Theorie,
verwendete Begriff ʿilla impliziert, zumindest im Sinne Ibn Ḥazms, eine logische
Heterogenität zwischen Ursache und Wirkung, insofern man die eine ohne die
andere erwähnen kann (z.B. Schöpfung ohne Schöpfer). Die theologischen Folgen
einer solchen Kausalerklärung der Offenbarung wollten die Ẓāhiriten deshalb nicht
mittragen, da die Analyse der Beziehung zwischen dem offenbarten Text und
seinem juristischen Ziel im Sinne einer Ursache-Wirkung-Struktur dazu beiträgt die
Subjektfrage auszulassen.
Ein weiterer Einwand gegen die kausale Handlungserklärung seitens der
Ẓāhiriten liegt nach Ibn Ḥazm darin, dass die „Ursachenforschung“ Gottes
Schöpfungsakt mit menschlichem Handeln gleichzusetzen scheint. Denn nach dem
Grund einer göttlichen Handlung zu suchen, bedeutet zu verlangen, dass diese
110 Passender ist wahrscheinlich die Übersetzung dieses Begriffs als „praktischer Syllogismus“.
Anscombe wies nach, dass die logische Analogie des Aristoteles sich auf
Beschreibungsaussagen beschränkt und dass der praktische Syllogismus mehr Adäquatheit
auf der semantischen Ebene besitzt (Vgl. Elizabeth Anscombe: Absicht, München, 1986, S.
125f.). Jedoch wies die moderne Handlungsemantik nicht darauf hin, dass der sogenannte
„praktische Syllogismus“ ein Produkt und eine Errungenschaft islamischer Rechtstheorie
war, da ein solches Konstrukt nirgends in der alten griechischen Tradition zu finden ist. Die
Besonderheit von qiyās šarʿī liegt darin, dass seine einzelnen Sätze und Propositionen nicht
beschreibend, sondern vorschreibend sind. Während die Hypothese und Antithese
Sachverhalte ausdrücken, deren Wahrhaftigkeit auf einem bestimmten moralischen und
ethischen System aufgebaut ist, wird durch die Synthese eine Aufforderung zum Handeln
formuliert. Durch diese unbewusste Erneuerung machte die islamische Tradition den Weg
frei für eine diskursive Logik, die dem sozialen Dasein des Menschen (wuǧūd) näher ist.
eine Schlussfolgerung sei, die in der Form einer ḥukm (rhetorisch: Aufforderung)
zur Handlung führen soll. In Ibn Ḥazms Strategie dient nach heutigem Verständ-
nis111 die Kausalerklärung ihrerseits dazu, die Handlungen nicht in eine versteckte,
sondern in eine erklärte Relation einzufügen, die aus dem Ereignisbegriff, im Sinne
eines musabbab (zufälligen Vorkommnisses), eine Klasse von feststellenden
Aussagen bzw. von festen Objekten macht, die keinerlei Abhängigkeit zu den asbāb
aufweisen. Bei der Verbindung zwischen sabab und musabbab handelt es sich, nach
Ibn Ḥazm, um ein menschliches Konstrukt, das immer wieder den Umfeld-Faktoren
unterworfen werden muss.
Die ausschließliche Sorge um die Wahrheit, die Ibn Ḥazm dem logischen
Syllogismus zu Recht unterstellt, trägt in der Tat zur Verwischung des Interesses an
der Zuschreibung der Handlung an ihren Vollzieher bei. Die Ausschaltung des
Handelnden wird noch verstärkt durch die Betonung der objektiven Seite des
Handlungsgrundes.
Die Wurzeln von aš-Šāṭibīs qiyās-Begriff finden sich bereits in der früheren
islamischen Rhetorik, die in der Geschichte der Orientalistik nicht immer umfassend
erkenntnistheoretisch rezipiert wurde. Man beschäftigte sich zwar beispielsweise mit
frühen Rhetorik-Kommentaren, die bereits berühmte Philosophen wie Ibn Sīna oder
Ibn Rušd verfassten. Jedoch widmete sich kaum jemand der Frage, wie sich das
Verständnis und der Gebrauch des Begriffs Rhetorik im Verhältnis zu Ethik und
Rechtstheorie außerhalb der Philosophie weiterentwickelten.112
Im Laufe der Zeit hat die Rhetorik zwei verschiedene Veränderungen durchlebt,
die von einer Diskussion zwischen Moraltheologie und Philosophie ausgezeichnet
war. Zum einen tauschte sie auf dem Weg von der griechischen in die muslimische
Welt ihre Zugehörigkeit zu den Philosophen gegen die zu den theologischen
Rechtsgelehrten ein und zum anderen erfuhr sie auch inhaltliche Veränderungen.
Dies wird bereits bei al-Ġazālī deutlich.
Während ḫaṭāba (arabische Rhetorik) zu Zeiten al-Farābīs noch als
syllogistische Kunst galt, deren Ziel ein Akt des Überzeugens war, gelangte sie bei
al-Ġazālī im Zuge seiner Absichtstheorie zu der Bedeutung des rhetorisch-
theologischen Syllogismus. Al-Ġazālī ist sich der theologisch und oratorischen
111 Vgl. bezüglich der modernen Definitionen von Kausalität u.a. Donald Davidson: Essays on
Actions and Events, Oxford 1980, S. 25. (Dt. Handlung und Ereignis, Frankfurt a.M.
1985.)
112 Lange Zeit wurde ihr ein Einfluss auf eine andere Form der arabischen Rhetorik nachgesagt:
die balāġa. Es handelt sich hierbei jedoch um einen Deutungsfehler, der sich auch auf die
Rezeption des Analogiebegriffs in der islamischen Ethik niederschlug. In einen Widerspruch
verstrickt sich diesbezüglich selbst die Encyclopedia of Islam (EI), in der der Artikel über
balāġa auf die Übersetzung der Rhetorik ins Arabische verweist, ohne darauf einzugehen,
dass eben diese Übersetzung das erste Mal mit ḫaṭāba wiedergegeben wurde und widmet
sich dann dem griechischen Einfluss auf balāġa. Hier wird also versucht, einen Einfluss von
Aristoteles auf balāġa nachzuweisen, der nur für ḫaṭāba nachweisbar ist. Einen Artikel zu
ḫaṭāba enthält die EI2 im Übrigen nicht.
115 Aristoteles: al-Ḫaṭāba, at-tarǧama al-ʿarabiyya al-qadīma, hg. von. ʿAbd ar-Raḥmān al-
Badawī, Kairo 1959.
116 ʿAmr ibn Baḥr al-Ǧāḥiẓ: Kitāb al-bayān wa-t-tabyīn, 2 Bde., hg. von ʿAbd as-Salām
Muḥammad Hārūn, Kairo 1948.
117 M. H. Avril: „Généalogie de la ḫuṭba dans le Kitāb al-bayān wa al-tabyīn de Ǧāḥīẓ”, in:
Bulletin d’Etudes Orientales 46 (1994), S. 197-216.
118 Isḥāq ibn Wahb: al-Burhān fī wuǧūh al-bayān, hg. von Aḥmad Maṭlūb/Ḫadīǧa al-Ḫadīṯī,
Bagdad 1967.
bestand, die beweist, dass auch die falsafa zu dieser Zeit noch nicht in Vergessenheit
geraten war. Zudem zeigt dieses Werk, dass sich Ibn Ḫaldūn der ethischen
Dimension der aristotelischen Rhetorik durchaus bewusst war. Darüber hinaus
scheint er hierin auch Parallelen zu seinem eigentlichen Betätigungsfeld, der
Erforschung von Kultur und Gesellschaft zu sehen.
Zuletzt unterscheidet Ibn Ḫaldūn zwischen der Wissenschaft (ʿilm) seines
eigenen Fachbereichs und der Kunst (fann), der er Rhetorik und Politik zuordnet.
Hieraus lässt sich vielleicht, eine frühe Unterscheidung zwischen Ethik und
Rechtstheorie ablesen. Ḫaṭāba als Bezeichnung der syllogistischen Rhetorik ist das
einzige Element der Rhetorik, das in der arabisch-muslimischen Zivilisation erhalten
geblieben ist und der Rechtstheorie maßgeblich eine diskursethische Orientierung
gab. Sie zeichnet sich durch die Art und Weise ihrer Prämissen, ihrer Form und ihrer
Funktion aus und gleicht in diesen Punkten der Rhetorik des Aristoteles. Der Inhalt
des Syllogismus wurde in der Philosophie jedoch mehrfach auf die Logik reduziert.
In der maqāṣid-Theorie zeigt sich die Entfaltung islamischer Rhetorik durch die von
dem theologischen Sprachgebrauch eingeführten Veränderungen.
2.2.3. Zur Verstrickung von Finalität und Kausalität bei der ethischen
Urteilsfindung
Aus diesem ethisch-diskursiven Hintergrund distanziert sich aš-Šāṭibī ausdrücklich
in seiner Analyse der Beziehung zwischen ʿilla und maʿlūl von der logischen
Analogie. Für ihn steht die Wahrhaftigkeit des offenbarten Textes als ein juristischer
Akt im Vordergrund in der von ihm übernommenen Kausalität. Die Offenbarung als
absichtlich vollzogen zu beschreiben, bedeutet, sie durch den Grund zu erklären, den
der Handelnde hatte, das zu tun, was er tat.119 Kennt man den primären Grund der
Offenbarung, so ist man im Stande die Absicht zu definieren, aus der die
Offenbarung vollzogen worden ist.
Phänomenologisch gesehen kann die von aš-Šāṭibī adoptierte Kausalanalyse
letztlich als eine Beziehung zwischen einzelnen, diskreten Ereignissen betrachtet
werden, die sich dem von den Ẓāhiriten beteuerten „Sehen“ entziehen, sofern das
„Sehen“ sich in Aussagen ausdrückt, die man für wahr oder falsch halten kann. Die
Offenbarung als eine vorschreibende Absichtserklärung ist hingegen der Wahrhaf-
tigkeit zuzuordnen. Die stets reflexive und gewissermaßen subjektive Dimension der
Intention kann nur in Bezug auf die Rechtmäßigkeit bzw. Wahrhaftigkeit der
Zuschreibung einer Absicht zu ihrem Vollzieher analysiert werden. Dem Handeln-
den eine Absicht zuzuschreiben, bleibt nun ein Glaubensartikel, dem die Ontologie
der Offenbarung vollkommen gerecht wird. So beweist allein schon die durch die
Wahrhaftigkeit implizierte bloße Möglichkeit der Verdächtigung, dass die Rede über
119 Glaubt man Elizabeth Anscombe so sind die Fälle, in denen Handlungsgrund und Ursache
dazu neigen, sich zu vermischen, jene, in denen die Motive selbst rückwärts blicken, z.B. im
Falle der Rache oder Dankbarkeit (Vgl. Anscombe: Absicht, S. 33.)
die Absicht eines Textes einen Bezeugungscharakter besitzt. Denn die Wahrhaftig-
keit ist nicht Wahrheit im Sinne der Angleichung des Erkennens an den Gegenstand.
Ein weiteres Ergebnis des intentionalen Ansatzes besteht darin, dass die
Ableitung des Rechts jedem Absolutheitsanspruch entbehrt, da die Beziehung
zwischen Handelndem und Absicht sich ausschließlich auf der Grundlage der
ontologischen Natur der Bezeugung herstellen lässt.
Aš-Šāṭibī widmet sich der Suche nach qaṣd im Offenbarungstext wohlwissend,
dass der Offenbarungsakt eine Handlung darstellt, die ein bestimmtes Ziel verfolgt.
Der Koran ist nur im historischen Sinne ein gewaltiges Ereignis (nabaʾ aẓīm),
dessen damalige Offenbarungsanlässe (asbāb an-nuzūl) einen typologischen
Charakter hatten. Als Aufforderungsakt mit einer „ethischen Botschaft“ bleibt der
Offenabrungstext stets offen für eine auf der Grundlage des sich im ständigen
Wechsel befindenden sozialen Umfeldes durchzuführende Ursachenforschung, die
immer wieder neue Ziele aufstellt, die den neuen Lebensbedingungen der Menschen
gerecht werden.
Aš-Šāṭibīs Argumentation zufolge stehen Begriffe wie qaṣd, niyya und irāda in
einem besonderen Zusammenhang zueinander. Betrachtet man die oben genannten
Kontexte, in denen im al-Muwāfaqāt von qaṣd gesprochen wird, genauer, so kann
man unschwer die Differenzen zwischen den genannten drei Begriffen verstehen.
Während der Begriff qaṣd sich eher mit der heute geläufigen substantivischen
Verwendung der Absicht im Sinne „Absicht-zu“ vergleichen lässt, scheint das Wort
niyya einer adverbialen Gebrauchsweise der Absicht im Sinne „absichtlich etwas tun
oder getan zu haben“ zu entsprechen.
Hierin, den sich mit positivem Recht befassenden Gelehrten folgend, spricht aš-
Šāṭibī von niyya nur in Bezug auf Phänomene, die der persönlichen Anschauung des
Gläubigen zugänglich seien und die folglich durch eine subjektive hinweisende
Beschreibung erfasst werden könnten, wie etwa die Absicht, die den rituellen
Gebeten eines Muslims vorausgehen solle. Man kann sagen, dass rituelle Praktiken,
wie ṣalāt (Gebet), ṣiyām (Fasten) und zakāt, absichtlich ausgeführt werden müssen,
statt in dem Sinne, dass die Handlung mit einer gewissen Absicht ausgeführt wird,
um etwas zu erlangen, was zur Zeit der Ausführung der Handlung noch nicht
aufgetreten ist; vielmehr finden hier Absicht und Handlung zeitgleich statt. So
fungiert die Handlung selbst als Ziel und nicht als Mittel zum Zweck. Dass die
rituellen Gebete ihrerseits auch mit einem gewissen Ziel verrichtet werden, darüber
waren sich die Rechtsgelehrten vollkommen einig. Jedoch geht es bei dieser
Zielsetzung dann um ein qaṣd.120
Im Begriff qaṣd ist demnach die Ausrichtung auf die Zukunft ebenso stark
ausgeprägt wie die Zukunftsorientierung von niyya schwach ausgeprägt ist. Zwar
zählten sowohl niyya als auch qaṣd zu den mentalen Ereignissen, jedoch wird
ausschließlich qaṣd mit einem ihm entsprechenden Typ der Kausalerklärung
verknüpft.
120 Vgl. u.a. al-Ġazālī: Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, S.1734f., und aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 3, S. 246.
2.2.4. Schlussbetrachtung
Die in diesem Fazit zugrundeliegenden Anhaltspunkte, sollen mit Rückgriff auf
einige moderne Rezeptionsprojekte islamischer Tradition auf das Potential der
Vernunft macht aus ihr einen schlechten Kandidaten für die Ausarbeitung ethischer
Werte.
Seine Einwände gegen das Postulat philosophischer Ethik, die Vernunft zum
Verantwortungsträger zu machen, begründet er damit, dass auch andere Lebewesen
zielgerichtetes und zweckorientiertes Handeln kennen, sodass
„das menschliche Verstandesvermögen dasselbe Auffassungsvermögen sein
kann, was mitunter auch die Tiere besitzen, das ihnen hilft, auf kürzestem
Weg zu ihrem Futterplatz und sicherem Schlafplatz zu finden oder gar
zwischen Nützlichem und Schädlichem zu unterscheiden.“123
Bemerkenswert in Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmāns Relektüre der maqāṣid-Theorie ist es,
einen theologischen Vernunftbegriff zu skizzieren, der mit der modernen Idee des
Glaubens vereinbar zu sein scheint. Dabei versucht er, das bei aš-Šāṭibī angedeutete
Konzept eines erleuchteten Herzens als Quelle der glaubenden Erkenntnis im Koran
und Sunna zu fundieren.
„Reisen sie denn nicht auf der Erde umher, so dass sie Herzen bekommen,
mit denen sie begreifen, oder Ohren, mit denen sie hören? Denn nicht die
Blicke sind blind, sondern blind sind die Herzen, die in den Brüsten sind.“ (Q
22:46 u.a.)
Eine tiefgreifende Lektüre des Vernunftbegriffs in aš-Šāṭibīs Ethiktheorie führt
demnach unmittelbar zu der Fragestellung des Erkenntniswegs in der Theologie,
sodass sich einer fundierten Reflexion über das Herz die Idee des Gewissens
aufdrängt. Auf der Suche nach den Wurzeln des Begriffs Gewissen wird man
zunächst in der Mystik fündig, in der die Ethik mit dem tugendhaften Verhalten
gleichgesetzt wird und wo in der Moraltheologie von Erkenntnis und von Wissen die
Rede ist. Hier stellt sich die Frage, inwiefern aš-Šāṭibīs Vernunftbegriff mit der
Erkenntnistheorie der Mystik vereinbar ist, wo doch die Rechtstheorie, die bei den
Mystikern ausgeblendete soziale Verantwortung als Grundbedingung theologischer
Ethik hervorhebt. Dabei drängt sich der Gedanke auf, der Rechtstheorie eine andere
Gewissensauffassung zuzuschreiben, die darin begründet liegt, dass die šarīʿa von
den Menschen verlangt, ihre Interessen mit dem Gemeinwohl in Einklang zu
bringen. Damit wird den Gläubigen einen auf Glaube beruhendes Motiv nahelegt,
ein voneinander wechselseitiges Gewissen auszubilden. Dieser Umstand wirft die zu
Anfang erwähnte Frage des Verhältnisses zwischen Schutz des Selbst als Ort der
ethischen Selbstheit und dem Begriff des Gewissens als eine Grundvoraussetzung
des Seins auf. Dieser Umstand dient den folgenden Ausführungen zu maṣlaḥa als
Kerngedanke.
1 Im Vergleich zur christlichen Ethik wird das Gute in der islamischen Rechtstheorie nicht
zwangsläufig im Verhältnis zum Bösen betrachtet, da weder Erbsünde noch Erlösung im Islam
existieren. Allerdings scheint das Wissen um Gut und Böse sowohl im Christentum als auch im
Islam „das Ziel aller ethischen Besinnung zu sein“, wie Dietrich Bonhoeffer hinsichtlich der
christlichen Ethik zu Recht vermerkt. (Dietrich Bonhoeffer: Ethik, hg. von Eberhard Bethge,
München 1963, S. 19-21.)
2 In den ersten Zeilen der Nikomachischen Ethik erklärt Aristoteles die Ausrichtung seiner Ethik
wie folgt: „Jede Kunst und jede Lehre, ebenso jede Handlung und jeder Entschluss scheint ir-
gendein Gut zu erstreben. Darum hat man mit Recht das Gute als dasjenige bezeichnet, wonach
alles strebt.“ (Aristoteles: Nikomachische Ethik VI, Bd. 1, 1094a, 1-3; cf. Aristoteles: Aristote-
les' Nikomachische Ethik, übers. von Ursula Wolf, 3. Auflage, WBG, Darmstadt 2013, S. 24.)
Zeitgenössischen Interpretationen zufolge verhindert diese auf uns bezogene Relativität nicht,
dass das „relativ Gute in keinem besonderen Gut enthalten ist. Es ist eher das, was allen Gü-
tern mangelt.“ (Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 11. Sofern nicht auf die deutschspra-
chige Ausgabe dieses Werkes verwiesen wird, wurde die Übersetzung in das Deutsche von mir
vorgenommen.) Ein wesentlicher Unterschied zur islamischen Ethik liegt allerdings auch darin,
dass der für die islamische Ethiktheorie zentrale eschatologische Aspekt in der aristotelischen
Ethik fehlt.
Böckle „als reale Gelegenheiten, die unabhängig vom persönlichen Denken und
Wollen existieren“ bezeichnet. Die sogenannten „sittlichen“ Güter sind, nach
Böckle, verantwortlichem menschlichen Handeln zur Beachtung aufgegeben. 3 So
haben sich bis heute die Anwendungsbezüge und Bedeutungen von maṣlaḥa, ausge-
hend von den beiden Grundlinien, maṣlaḥa als „untergeordnete“ Methode der
Rechtsinterpretation und moralischen Urteilsfindung (insbesondere al-maṣlaḥa al-
mursala) sowie maṣlaḥa als göttliches Schöpfungsprinzip (Begriff maṣlaḥa bedeutet
allgemein „Veranlagung“ oder „Gemeinwohl“), weiter aufgefächert. Im traditionel-
len islamischen Rechtsdenken intentionalistischer Prägung wurde maṣlaḥa als
sozialwissenschaftliches oder ethisches Konzept, d.h. als „unabhängiger Wert“ mit
der Bedeutung „öffentliches Interesse“ oder „Gemeinwohl“, aber ebenso weiterhin,
wie bereits von Anfang an, als theologischer Begriff in Form eines Bestandteils der
Ethiktheorie (insbesondere als Unterprinzip von qiyās) wie auch weiterhin als me-
thodisches Prinzip, diskutiert.4
Da die beiden erstgenannten Kategorien von maṣlaḥa unter Juristen aller Richtungen
nie strittig waren, wurde hauptsächlich al-maṣlaḥa al-mursala kontrovers diskutiert,
sodass diese Kategorie schließlich häufig insgesamt für das Konzept von maṣlaḥa zu
stehen begann. Neben dieser geschilderten Entwicklung von maṣlaḥa als Konzept
der Rechtsfindung bzw. Rechtsinterpretation erhielt sie außerdem schon früh eine
zweite Bedeutung, nämlich die des grundlegenden Prinzips göttlichen Wirkens,
dessen Resultat sich in den Regelungen des Korans und des Hadith findet.
1. Die Haltung Muḥammad ibn Ǧarīr aṭ-Ṭabarīs (gest. 310/923), wonach ausschließ-
lich solche maṣāliḥ akzeptabel seien, die durch autoritative Texte (uṣūl; Sg.: aṣl)
bestätigt werden. Dies führe dazu, dass sich sowohl maṣlaḥa mulġāt wie auch
maṣlaḥa mursala als unanwendbar erweisen.9
2. Die Interpretation der Anhänger der mālikitischen Rechtsschule, wonach maṣlaḥa
ohne zusätzliche Stütze autoritativer Text oder Beachtung des Prinzips der
Situationsangemessenheit (munāsaba) mit anderen (textgestützten) Entscheidungen
anwendbar ist. Vor allem scheint al-Ǧuwaynī die Tatsache zu stören, dass bei den
mālikitischen Rechtsdenkern dem iǧmāʿ der Gelehrten bei der Anwendung von
maṣlaḥa ein besonderer Stellenwert beigemessen wird, da dieser als Voraussetzung
für die Gültigkeit der Entscheidung fungiere.
3. Die šāfiʿitische Auffassung, die auch von der Mehrheit der Ḥanafiten übernom-
men wurde, wonach maṣlaḥa mursala unter der Voraussetzung anwendbar sei, dass
sie eine kontextuelle oder situationsbedingte Ähnlichkeit zu den anderen Interessen
aufweise, die durch autoritativen Text in ihrer Gültigkeit bestätigt sind.10
Auf dieser Basis kommt al-Ǧuwaynī bei der Beurteilung von Handlungen mit-
hilfe des qiyās z.T. zu einem anderen Ergebnis als mithilfe des istiṣlāḥ. Dennoch ist
bei ihm istiṣlāḥ eine Unterkategorie von qiyās.11
9 Vgl. Muḥammad ibn Ǧarīr aṭ-Ṭabarī: Ǧāmiʿ al-bayān ʿan taʾwīl al-qurʾān, 30 Bde., Kairo
1954, Bd. 29, S. 60f.
10 Auf der Grundlage einer kritischen Betrachtung der o.g. drei Interpretationen entwickelt al-
Ǧuwaynī in seiner eigenen Theorie fünf Kategorien des sogenannten istiṣlāḥ, die er nach dem
Grad ihrer gesellschaftlichen Notwendigkeit unterscheidet. Die Zuordnung erfolgt hierbei an-
hand der ʿilla und der maʿnā (der Bedeutung) jeder Kategorie: 1.) öffentliches Wohl und öf-
fentliches Interesse: unabdingbar notwendig (ḍarūra); 2.) Bedarf (al-ḥaǧāt al-ʿāmma): allge-
mein notwendig (unterhalb ḍarūra angesiedelt); 3.) nicht erforderliche, jedoch vorzügliche
Handlungen (makrūmāt); 4.) lobenswerte (empfehlenswerte) Handlung; 5.) Restkategorie für
Handlungen, die sich keiner der erstgenannten Kategorien zuordnen lassen (Vgl. al-Ǧuwaynī:
al-Burhān fī uṣūl al-fiqh, Bd. 2, S. 924 und 937f.)
11 Ebd., Bd. 2, S. 1118.
12 Vgl. Taqī ad-Dīn Aḥmad Ibn Taymiyya: Ṣiḥḥat uṣūl maḏhab ahl al-madīna, hg.von as-
Saqqā, Kairo 1988.
1. nuṣūṣ: Quellentexte;
2. fatāwā ṣ-ṣaḥāba: Rechtsgutachten der Prophetengefährten;
3. sīrat aṣ-ṣaḥāba: eine Auswahl aus den Meinungen der Prophetengefährten;
4. al-ḥadīṯ al-mursal: ein Bericht mit einem Prophetenausspruch, der eine Lücke im
isnād (Überlieferung) aufweist;
5. qiyās aḍ-ḍarūra: Analogieschluss hinsichtlich einer Notsituation. 13
Dies ergibt mehr Raum für die Anwendung von maṣlaḥa, als nach dem System
der vier Rechtsquellen nach aš-Šāfiʿī. Ibn Qayyim war der Auffassung, dass eine
„interessenorientierte“ Begründung der Anweisungen Gottes zulässig sei, weil sich
viele Beispiele für einen solchen Umgang mit den Anweisungen Gottes im Koran
und in der Sunna fänden.
Viel umfassender und methodisch ausgewogener wirkt hingegen die Definition
von maṣlaḥa des berühmten enzyklopädischen Rechtsgelehrten al-Ġazālī. In seinem
Standardwerk al-Mustaṣfā formuliert al-Ġazālī erstmals eine vollständige Definition
des Begriffs maṣlaḥa als Schlüsselbegriff für die heranwachsende Sozialethik. 14
Insgesamt hat maṣlaḥa bei al-Ġazālī den Charakter eines Annexes zu seinem Kon-
zept der uṣūl al-fiqh und erreicht nicht den Stellenwert einer veritablen Rechtsquelle.
Bei ihm hat der Begriff „Gemeinwohl“ außerdem auch keine selbstständige metho-
dische Funktion bei der Rechtsinterpretation und -auslegung. Vielmehr hat sein
Konzept von maṣlaḥa eine methodische Hilfsfunktion als Sozialfaktor für qiyās, der
vier Komponenten beinhaltet:
13 Vgl. Ibn Qayyim: Iʿlām al-muwaqqiʿīn ʿan rabb al-ʿālamīn, Bd. 2, S. 50ff.
14 Vgl. al-Ġazālī: al-Mustaṣfā, Bd. 1, S. 287f.
1. aṣl: die (textuelle) Quelle, aus der der Analogieschluss hergeleitet wird;
2. farʿ: das Gebiet, für das eine Analogie gesucht wird;
3. ʿilla: der Grund, aus dem ein Analogieschluss im betreffenden Fall zulässig ist,
und dieser wird nach al-Ġazālī aus traditioneller Evidenz entweder explizit (im Fall
von Evidenz aus Koran oder Hadihe) oder implizit (im Fall der Evidenz aus iǧmāʿ)
hergeleitet. Hierbei können zwei Methoden angewandt werden:
a) aṣ-ṣabr wa t-taqsīm: Beobachtung und Klassifikation der Fälle;
b) al-munāsaba: Tauglichkeit oder Situationsangemessenheit. In diesem Zusam-
menhang diskutiert al-Ġazālī auch maṣlaḥa als eines der zentralen Elemente der
Affinität zu aš-šarʿ;
4. ḥukm: die Entscheidung bzw. das Ergebnis der Anwendung des qiyās.
Fälle der ersten Kategorie können als Basis von qiyās zu gültigen Entscheidungen
führen. Fälle der zweiten Kategorie sind nicht verwendbar und deren Gebrauch nicht
erlaubt. Bei Fällen der dritten Kategorie wird zusätzlich das Kriterium der Effekti-
vität (quwwa) herangezogen: Hieraus ergeben sich drei Stufen der Effektivität von
maṣlaḥa, die nicht durch Text bestätigt sind:
Fälle aus den Kategorien ḥāǧāt (bedürfnisbezogene Maximen) und taḥsīnāt (ergän-
zende fakultative Maximen) können hingegen nie ohne zusätzliche Bestätigung
durch autoritativen Text eine rechtmäßige Entscheidung darstellen. Soweit sie eine
entsprechende textuelle Bestätigung haben, sind sie nach al-Ġazālī dem qiyās
zuzuordnen, ansonsten dem istiṣlāḥ oder istiḥsān und als solche keine rechtmäßigen
Entscheidungen. Die Beziehung zwischen ṣāliḥ (gut) und munāsib (angemessen)
besteht nach al-Ġazālī darin, dass maṣlaḥa die Grundüberlegung und Basis bei der
Entscheidung über die Angemessenheit (munāsaba) einer Sache, einer Angelegen-
heit oder einer Handlung darstelle.15
Insgesamt kann gesagt werden, dass al-Ġazālī in theologischer, wie auch in
rechtlicher Hinsicht das Konzept maṣlaḥa mit Reserviertheit behandelte. In
theologischer Hinsicht lehnte er ein Konzept von maṣlaḥa, wonach „Gemeinwohl“
die Bedeutung des Nutzens für die Menschheit annimmt, ab und machte dessen
Einsatz grundsätzlich von einer Bestätigung durch einen autoritativen Text abhän-
gig. In juristischer Hinsicht machte er maṣlaḥa als Methode der juristischen Begrün-
dung zu einer Hilfsfunktion für qiyās. Al-Ġazālīs Definition und Klassifikation des
Konzepts maṣlaḥa hatte weitreichenden Einfluss auf viele seiner Nachfolger auf
dem Gebiet von uṣūl al-fiqh, vor allem bis zu ar-Rāzī im 7./13. Jahrhundert. Sein
Einfluss auf heutige Bestimmungsversuche kann immer noch als bedeutend be-
trachtet werden.
Die gegenwärtige Debatte islamischer Ethik konzentriert sich weitgehend auf die
Rolle des maṣlaḥa-Verfahrens als höchstes Kriterium zur Begründung moralischer
Rechtsnormen, damit der Gläubige ein rechtschaffenes Leben im Sinne der islami-
schen Rechtsordnung führen kann. Nun blickt aber das rechtschaffene Leben auf
zwei Seiten: zum einen auf die Seite des Teleologischen, dessen Ausweitung zum
Begriff der Verantwortung führt, zum anderen auf die Seite des Deontologischen,
bei dem der Verpflichtungscharakter im Mittelpunkt steht. Betrachtet man die Dis-
kussion um den Begriff maṣlaḥa in der islamischen Rechtstradition aus theologisch-
hermeneutischer Perspektive, so zeichnet sich darin ein Doppelprinzip der Be-
stimmtheit des Prädikats „gut“ aus, deren Dreh- und Angelpunkt das Verhältnis
zwischen Pflicht und Ausrichtung ist. Dabei scheint die Intentionstheorie aš-Šāṭibīs
klare Stellung zu einer Verantwortungsethik zu beziehen, in der die deontologische
Auffassung der Norm (ḥukm) an die teleologische Auffassung der Ethik als Aus-
richtung auf maṣlaḥa gebunden bleibt.
Ohne in irgendeiner Weise den Bruch leugnen zu wollen, den der intentiona-
listisch-teleologische Ansatz aš-Šāṭibīs mit der reichhaltigen Tradition des deonto-
logischen Denkens vollzieht, ist es jedoch angebracht, diejenigen Züge seiner Ethik-
theorie hervorzuheben, durch die die Pflichtenlehre der aḥkām an die zielgerichtete
Auffassung der maqāṣid methodisch sowie rechtlich geknüpft wird.
16 Das „höchste Gut“ wird hier je nach Begründungsbezug im Sinne einer der beiden Lesearten,
die Daniel Keller hinsichtlich der Entwicklung des kantischen Paradigmas vertrat, verstanden:
„[…] eine eher gemeinschaftlich universelle Bestimmung des höchsten Guts als ethisches Ge-
meinwesen […] und eine eher individuelle Bestimmung des höchsten Guts.“ (Daniel Keller:
Der Begriff des höchsten Guts bei Immanuel Kant. Theologische Deutungen, Paderborn 2008,
S. 17.)
17 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Iʿtiṣām, hg. von Mašhūr ibn Ḥasan, o.O. o.J., Bd. 3, S. 8-12
18 Vgl. al-Ġazālī: al-Iqtiṣād fī l-iʿtiqād, S. 151.
19 Vgl. al-Ġazālī: Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, S.1735.
20 Sollte sich die hier angenommene Interpretation von al-Ġazālīs Aussage bestätigen, so könnte
man darin einen gewissen Parallelismus zu Kants Idee von dem absoluten Wert des bloßen Wil-
lens kaum leugnen: „Es ist überall nichts in der Welt, ja auch außerhalb derselben zu denken
möglich, was ´ohne Einschränkung´ für gut könnte gehalten werden, als allein ein ´guter
Wille´“. (Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg. von Wilhelm Weische-
del, 4 Bde., Frankfurt a.M., 1974, Bd. 1, S. 18f., zitiert nach Tödt: Perspektiven theologischer
Ethik, S. 26f.), der noch ergänzend hinzufügt: „Kant verdeutlicht damit die Aufgabe, sittliche
Urteile als integrierte Erkenntnis- und Willensakte zu denken.“
stimmt.21 Die moralische Reflexion besteht, nach Kant, in einer geduldigen Prüfung
der Anwärter auf den Titel des „Guten ohne Einschränkung“, sodass der uneinge-
schränkt gute Wille, gemäß des höchsten Prinzips der Autonomie, dem sich selbst
gesetzgebenden Willen gleich wird. Für einen solchen Willen nimmt bei Kant das
„Gute ohne Einschränkung“ die Form der Pflicht an, was die allgemeinste Formulie-
rung des kategorischen Imperativs, den das Subjekt an sich selbst richtet, belegt:
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie
ein allgemeines Gesetz werde.“22 Betrachtet man nun aber den kategorischen
Imperativ vom Gesichtspunkt einer Theorie des Redeakts aus, so wirft er ein spezifi-
sches Problem auf. Wie es schon in der klassisch arabisch-islamischen Rhetorik
bekannt war, verlangen Aufforderungsakte nicht nur, dass Sprecher und Angespro-
chener einer Sprechinteraktion voneinander unterschieden werden, sondern auch,
dass die Beziehung zwischen Befehl und Gehorsam an Erfolgsbedingungen ge-
knüpft wird, die von Konventionen und Sprechsituationen maßgeblich abhängen.
Al-Ġazālīs Auffassung von der Verpflichtung klingt folgendermaßen:
„Taklīf ist eine Diskursgattung, die einen Bezug hat, nämlich den Gegenstand
der Verpflichtung, bei dem ausschließlich vorausgesetzt wird, dass er ver-
standen wird, nicht jedoch, dass er möglich ist. Die Möglichkeit der Umset-
zung stellt keine Voraussetzung zur Verwirklichung der Rede dar. Denn der
taklīf ist eine Rede, die von einem Verstehenden [Sprecher] in Richtung eines
Verstehenden [Hörer] hervorgeht, und diesbezüglich eines verständlichen
Gegenstandes, sodass der Sprecher sich vom Hörer unterscheidet. Dieses be-
zeichnet man als taklīf.“23
Sowohl die soziale Konvention als auch die Sprechsituation setzen im Falle des
Befehls einen Sprecher, der befiehlt, und einen Empfänger, der aufgrund der Erfül-
lungsbedingungen des Imperativs genötigt wird, zu gehorchen, voraus. Die Fähig-
keit zu befehlen und zu gehorchen oder eben nicht, hat Kant demselben Subjekt
zugeordnet, sodass er die Neigung durch ihre Fähigkeit zum Ungehorsam definiert,
was einer innewohnenden Passivität gleichgesetzt wird. Auf diese Weise entsteht
Kants Argumentation zufolge die Querseite des Willens, nämlich das Begehren, das
Kant als „pathologisch“ und als mögliche Ursache zur Entstehung des Bösen
nennt.24
Der metaphysischen und praxisfernen Auffassung der Urteilsbildung in Kants
Philosophie liegt eine abstrakte und zeitlose Idee der Vernunft zugrunde, die man in
einigen Strömungen der islamischen Rationaltheologie wiederfindet. Das Grund-
prinzip der gesamten Philosophie Kants war, nach Tödt,
21 Friedrich Nietzsche (1885) geht sogar davon aus, dass die Moralen nur eine „Zeichensprache
der Affekte“ sind. (Vgl. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Stuttgart 1991, S. 96.)
22 Vgl. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Berlin 1968, Bd. 4, S. 421.
23 Al-Ġazālī: al-Iqtiṣād fī l-iʿtiqād, S. 151. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 221.
24 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Bd. 4, S. 378ff.
„das Prinzip der Identität: Vernunft galt als Vermögen der ‚Einheit‘, das
selbst zeitlos alles umspannte, was in der Zeit ist. Uns stellt sich Vernunft als
zeitlich und geschichtlich bedingt dar. Darum können wir nicht mehr einer
unveränderten kantischen Pflichtethik folgen.“25
In dieselbe Richtung argumentiert Arendt, im Sinne einer zeitgebundenen Definition
der Vernunft, die dem Begriff des Guten in der islamischen Rechtstheorie nahe
kommt:
„Das Böse – wenn [man es] hinsichtlich des Selbst bestimmt – bleibt so for-
mal, so inhaltsleer wie Kants kategorischer Imperativ, dessen Formalismus
seine Kritiker so oft in Rage versetzt hat. Wenn Kant sagte: Jede Maxime, die
kein universal gültiges Gesetz werden kann, ist unrecht, so ist das, als hätte
Sokrates gesagt, jede Tat sei Unrecht, mit deren Urheber ich nicht mehr zu-
sammenleben möchte.“26
Die islamische Pflichtenlehre, deren Ursprung im Begriff der Beauftragung liegt,
entgeht durch ihren transzendentalen und glaubensorientierten Vernunftbegriff dem
inhaltsleeren Formalismus von Kants kategorischem Imperativ. Dies lässt sich gut in
der rationaltheologischen Diskussion um Vorbestimmung und Willensfreiheit fest-
stellen.27
schen nur durch die Aneignung (kasb) des Menschen der göttlichen Eigenschaft des
Willens erfolgen könne.28
Die Muʿtaziliten deuten die Entzweiung von Wille und Kraft so, dass sie dem
Erhabenen nur die letztere als ewige Eigenschaft zuschreiben. Ihre Zurückweisung
der ašʿaritischen Aneignungsthese liege darin begründet, dass eine Verwicklung
göttlicher Kraft (qudra) in die Handlungen des Menschen, seien sie nun gut oder
übel, für sie nur möglich sein könne, wenn der Wille ausschließlich von dem Men-
schen selbst ausgehe. Alles andere würde einen Verstoß gegen das Gerechtigkeits-
postulat bedeuten.29 Da Gott laut muʿtazilitischer Glaubenslehre gerecht ist und aus
ihm daher das Böse nicht resultieren kann, spielt die Möglichkeit des Menschen,
selbst über seine Taten entscheiden zu können, eine grundlegende Rolle im Prozess
des Auftretens verwerflicher Handlungen. Gott ist allmächtig und hat keinen Gegen-
spieler im dualistischen Sinne, der für das Böse verantwortlich gemacht werden
kann.30
So sorgfältig die Bedeutung der Vernunft für menschliches Handeln zu bedenken
ist, so entschieden fordern auch zahlreiche Koranverse dazu auf, sich auf Gottes
Willen zu verlassen und sich in ihn zu ergeben, wie etwa in Q 81:29: „Und ihr könnt
nicht wollen, außer dass Allah will, (Er), der Herr der Weltenbewohner“. Denn
hätte der Mensch, wie von den Ašʿariten als Einwand geäußert wurde, ausschließ-
lich eigene Entscheidungsfreiheit, so wäre Gott in seiner eigenen Allmacht einge-
schränkt.31 Doch weist ar-Rāzī – nochmals zur Abgrenzung von der Position der
Muʿtazila – darauf hin, dass während die Muʿtaziliten glauben, dass Gott verpflich-
28 Vgl. Abū Bakr ibn al-Furāk (gest. 406/1015): Muǧarrad maqālāt al-Ašʿarī, hg. von Daniel
Gimaret, Beirut 1987, S. 90-93.
29 Das Argument für die Entzweiung von Wille und Kraft liegt nach muʿtazilitischen Theologen
darin, dass die Kraft als Eigenschaft teilbar ist, d.h. man kann sie zwei Gegensätzen (z.B. Gott
und Mensch) zuschreiben, ohne dass es zur Verstrickung von Verantwortlichkeiten kommt. Der
Wille kann hingegen wegen der in ihm implizierten Wahlfreiheit nur individuell sein. Mit die-
sem Gedanken intendieren die Rationaltheologen jedoch, dass das Sich-Ereignen des Bösen un-
abhängig vom göttlichen Willen geschieht. (Vgl. az-Zamaḫšarī: al-Minhāǧ, S. 15.)
30 Vgl. ebd., S. 24. Eine ähnliche Position vertritt nach der Auslegung von Heinz E. Tödts auch
Dietrich Bonhoeffer, indem er beteuert, dass „der Mensch sich nicht damit begnügte, alle
Lebensorientierung aus Gottes Hand und Schöpfung entgegenzunehmen, sondern im Sündenfall
für sich das Recht beanspruchte, selbst zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und dement-
sprechend selbst zu wählen.“ Tödt: Perspektiven theologischer Ethik, S. 46.)
31 Im Gegensatz zum Islam schränkt sich Gott im Christentum in dieser Allmacht insofern selbst
ein, als er dem Menschen das Versprechen gegeben hat, in seinen Handlungen frei zu sein. Hier
gibt es, nach Gruenbaum, einen gut erkennbaren konzeptionellen Unterschied, der jedoch auch
eine Gemeinsamkeit zwischen Islam und Christentum aufweist: Sowohl aus der dem Islam zu-
geschriebenen „eingebildeten“ als auch aus der dem Christentum „tatsächlichen anerkannten
Handlungsfreiheit“ entsteht das Böse. Die Aporie einer solchen Aussage liegt jedoch darin, dass
die Islamische Theologie ein Konzept des Bösen nach christlichem Vorbild nicht kennt, da es
im Islam weder eine Erbsünde noch einen Widersacher Gottes gibt, die für die Entstehung des
Übels verantwortlich gemacht werden können (vgl. Gustave E. von Grunebaum: „Observations
on the Muslim Concept of Evil“, in: Studia Islamica, No. 31 (1970), S. 117-134)
tet sei, maṣlaḥa als Ziel zu berücksichtigen, die Mehrheitsmeinung unter den
fuqahāʾ ist, dass Gott nicht dazu verpflichtet sei, ausschließlich Gutes anzuordnen,
sondern dies (zufällig) aus Güte heraus so getan habe. 32
Mit Rückgriff auf Aussagen von Koran und Sunna löst die ašʿaritische Theologie
den scheinbaren Widerspruch zwischen der Allmacht Gottes und Willensfreiheit des
Menschen in folgender Weise auf: Der Mensch habe in Wirklichkeit nur ein auf das
Diesseits beschränktes Bewusstsein und somit auch lediglich eine relative Entschei-
dungsfreiheit, die der Allmacht Gottes keineswegs zuwiderlaufen könne. 33 Aus dem
daraus entstehenden eingeschränkten Antizipationsvermögen menschlicher Urteils-
kraft34 ergebe sich die Fehlbarkeit des Menschen, die aus seiner relativen Entschei-
dungsfreiheit einen Prüfstein seiner Gesinnung macht: „Gewiss, Wir haben (alles),
was auf der Erde ist, zu einem Schmuck für sie gemacht, um sie zu prüfen (und um
festzustellen), wer von ihnen die besten Taten begeht.“ (Q 18:7)35
Als ein Gegenpol zu maṣlaḥa gilt mafsada (Übel) bei der Mehrheit der
Theologen im Allgemeinen genauso als etwas Reales, das weder verdrängt, noch
verharmlost oder als Produkt göttlicher Vorherbestimmung abgetan werden kann.
Abstrakt wird das Übel bei den Ašʿariten als etwas definiert, das sich genau da be-
findet, wo sich alle Widersprüchlichkeiten der menschlichen Existenz treffen. Folg-
lich ist der Mensch frei und gleichzeitig unfrei, und er ist fähig, dank der Aneig-
nungsgabe göttlicher Eigenschaften, Dinge stellvertretend erschaffen zu können, die
aber, genau wie er selbst, unbeständig und vergänglich sind. 36
32 In seinem ziemlich umfangreichen Werk al-Mahṣūl werden von Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī die
Anfangsarbeiten von Abū l-Ḥusayn al-Baṣrī und al-Ġazālī nicht nur kombiniert und deren Kon-
zepte umformuliert, sondern als Grundlage für eine innovative Sichtweise bezüglich maṣlaḥa
verwendet, die zwischen purem Textualismus und reinem Syllogismus einen neuen Mittelweg
einzuschlagen versucht, das aus al-Mahṣūl eine der einflussreichsten Schriften für spätere Ar-
beiten auf dem Gebiet der uṣūl al-fiqh machte. Dies lässt sich heute an der Anzahl der Kom-
mentare und weiteren Abhandlungen zu al-Maḥṣūl ablesen.
33 Vgl. folgenden Koranvers Q 9:37: „Ihre bösen Taten sind ihnen ausgeschmückt worden. Allah
leitet das ungläubige Volk nicht recht.“ (Vgl. zum selben Denkinhalt: Q 2:212; Q 3:14; Q
6:122; Q 3:54: „Und sie schmiedeten Ränke, und (auch) Allah schmiedete Ränke; und Allah ist
der beste Ränkeschmied“ und Q 6:123; Q 7:99.)
34 Urteilskraft wird hier das menschliche Vermögen genannt, das in Interpretations- und
Abwägungsprozessen zur Findung der Werturteile gebraucht wird. (Vgl. Klaus Tanner: „Ein
verstehendes Herz. Über Ethik und Urteilskraft“, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 56/1
(2012), S. 9f.)
35 Vgl. zu diesem Kontext die Koranverse Q 5:48; Q 6:165 und Q 67:2.
36 Vgl. dazu Koranverse aus denen die Willensfreiheit des Menschen hervorgeht, wie etwa Q
74:38: „Jede Seele haftet für das, was sie erworben hat“ oder Q 4:79: „Was dich an Gutem
trifft, ist von Allah, und was dich an Bösem trifft, ist von dir selbst. Und Wir haben dich als Ge-
sandten für die Menschen gesandt. Und Allah genügt als Zeuge“. (Vgl. auch Q 4:62; 16:34.)
Diesen stehen zahlreiche andere Verse, die auf eine Vorherbestimmung hindeuten gegenüber,
wie etwa Q 76:30: „Und ihr könnt nicht(s) wollen, außer dass Allah (es) will. Gewiss, Allah ist
All wissend und All weise.“ oder Q 2:142: „Die Toren unter den Menschen werden sagen: ‚Was
hat sie von der Gebetsrichtung, die sie (bisher) einhielten, abgebracht?‘ Sag: Allah gehört der
Osten und der Westen. Er leitet, wen Er will, auf einen geraden Weg.“ (Siehe auch Q 2:213;
Um genau den von der Offenbarung geleiteten Umgang mit jenen widerspruchs-
vollen Erscheinungsbildern des menschlichen Lebens und wie sie sich im Lichte der
rationalen Betrachtungsweise spekulativer Theologie zeigen, geht es in der islami-
schen Ethik. Das Verständnis des menschlichen Geistes in seiner Wandelbarkeit
bzw. Fehlbarkeit bedarf der Rechtstheorie zufolge einer glaubensorientierten Wahr-
nehmung der Vorläufigkeit der Lebenserfahrung. 37
Der Übergang von dem Wahrheitsanspruch der rationalen Theologie zur Wahr-
haftigkeitssuche der Ethik vollzieht sich in deren gemeinsamen Verhältnis zur Glau-
benswirklichkeit in der Welt. Die glaubensbezogene Erkenntnis der Wahrheit in der
sogenannten kalām-Wissenschaft bildet den epistemologischen Rahmen für die
Begründbarkeit ethischer Verantwortung in einer stets durch das Zusammenwirken
von Glaube und Wirklichkeitserfahrung veränderten Lebenswelt. In der islamischen
Rechtstheorie wird demnach die Willensfreiheit dem durch Anerschaffenheit und
Beauftragung hervorgerufenen Verantwortungsbewusstsein untergeordnet, sodass
keine Asymmetrie bei der Wahlfreiheit zwischen Gut und Übel bestehen kann. Dem
Sprachgebrauch Kants bzw. Nietzsches zufolge wird dem Menschen im Islam eher
ein ihm von Gott eingepflanzter „Hang zum Guten“ zugeschrieben. 38 Als Parallele
des Hangs zum Bösen, bei dem dem Menschen eine bewusste Entscheidung für
einen bösen Willen unterstellt wird, scheint der von Paul Ricoeur herausgearbeitete
Begriff der „Fehlbarkeit“ dem islamischen Freiheitsbegriff der „Güte Gottes“ we-
sentlich näher, da er auf eine neutrale und auf Zufall basierte Entwicklung zum Bö-
2:253; 2:272; 2:284; 28:56 etc.) Sowohl Prädestinatianer als auch Verfechter der Willensfreiheit
berufen sich auf die Interpretationsvielfalt dieser Koranverse.
37 Das islamisch-rechtstheoretische Vernunftverständnis scheint zwei zeitgenössische philosophi-
sche Traditionen innerhalb eines Mischmodells miteinander zu koordinieren. In ihrer weltlichen
Vorstellung des „Guten“ weist die islamische Rechtstheorie eine gewisse Affinität zu Wilhelm
Diltheys Erkenntnis einer Geschichtlichkeit der Vernunft auf, die sich ebenfalls bei dem arabi-
schen Denker Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī (Vgl. Mohammed Abed al-Jabri: Kritik der arabi-
schen Vernunft, Berlin 1999.) wiederfindet. Die transzendentale Wahrnehmung des Guten, die
mit dem Begriff der Glückseligkeit deckungsgleich zu sein scheint, lässt hingegen einen Ver-
gleich mit der sogenannten „reflektierenden Vernunft“ Georg W. F. Hegels zu, nach dessen
Definition die Wahrheit des Seienden nicht abgeschlossen und in sich fertig gegeben ist, son-
dern sich erst in unserem Erkennen und Tun vollendet. (Vgl. Georg W. F. Hegel: Phänomeno-
logie des Geistes, Hamburg 1952; Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie,
Frankfurt a. M. 1973; Thomas Herfurth: Diltheys Schriften zur Ethik: der Aufbau der
moralischen Welt als Resultat einer Kritik der introspektiven Vernunft, Würzburg 1992, S.
129ff.)
38 Laut Friedrich Nietzsches Annahme sind alle bösen Handlungen „durch den Antrieb der Erhal-
tung, oder, genauer durch Absicht auf Lust und Vermeiden der Unlust des Individuums […]
motiviert“. Die bösen Handlungen, welche uns am meisten empören beruhen, nach Friedrich
Nietzsche „auf dem Irrtum, dass der andere, welcher sie uns zufügt, freien Willen habe, also
dass es in seinem Belieben gelegen habe, uns dies Schlimme nicht anzutun“. (Friedrich
Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, 3 Bde. München 1954, Band 1, S. 506-507.) Der
Unterschied zur islamischen Auffassung liegt hier genau bei den Aporien, die von den Begrif-
fen der Willensfreiheit und Lust hervorgerufen werden.
sen hindeutet.39 Mit dem Glauben wird durch die göttliche Beauftragung an den
Menschen eine der Widersprüchlichkeiten des menschlichen Daseins angemessene
Freiheit, aber auch die dazu gehörende Verbindlichkeit hervorgerufen. Nirgends
lassen sich die Aspekte dieser neuen Freiheit besser erkennen als in der Doppeldeu-
tigkeit des taklīf-Begriffs.
39 Der Idee der Fehlbarkeit des Menschen im Islam liegt eine berühmte Aussage des Propheten
(sas) zugrunde: „Jeder von euch ist fehlbar und die besten aller Fehlbaren sind die Reumüti-
gen.“ (at-Tirmiḏī, Abū ʿĪsā: al-Ǧamiʿ al-kabīr, Beirut, 1996, Bd. 4, S. 273, Hadith-Nr. 2499.)
Zum modernen Begriff der Fehlbarkeit bei Paul Ricoeur siehe u.a. Hans-Jörg Ehni: Das mora-
lisch Böse, Freiburg/München 2006, S. 182.
40 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 136.
41 Wie bereits in einer Studie zur Modalität im Koran gezeigt wurde, drückt ein jussiver oder
anordnender Sprechakt eine Aufforderung (ṭalab) zum Handeln oder ein Ersuchen um eine
Handlungsanweisung aus und unterscheidet sich dadurch von der zweitwichtigsten Kategorie
vorschreibender Aussagen, die lediglich eine rednerische verbale Reaktion nach sich zieht.
(Vgl. Nekroumi: Interrogation, Polarité et Argumentation, S. 229.)
42 al-Ġazālī: al-Iqtiṣād fī l-iʿtiqād, S. 151f. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 221.
In einem entsprechenden Koranvers (Q 33:72) ist der Mensch den ihm von Gott
verbal angetragenen „Pakt der Freiheit“ eingegangen, wohlwissend, dass er mittels
seines Verstandes über diese Vereinbarung Rechenschaft abzulegen hat. So heißt es:
„Wir haben (nach Beendigung des Schöpfungswerks), das Gut (des Heils),
das (der Welt) anvertraut werden sollte, (zuerst) dem Himmel, der Erde und
den Bergen angetragen. Sie aber weigerten sich, es auf sich zu nehmen, und
hatten Angst davor. Doch der Mensch nahm es (ohne Bedenken) auf sich. Er
ist ja wirklich frevelhaft und töricht.“ (Q 33:72)43
Der zentrale Aspekt von taklīf ist grundsätzlich in der Intentionalität des Phänomens
der „Verkündigung“ zu suchen, in dem sich der Sinn des Glaubens manifestiert. Die
Annahme des göttlichen Auftrages durch den Menschen entspricht in diesem Zu-
sammenhang der Anerkennung der mit der Verkündigung verbundenen Verantwor-
tung. Der Dreh- und Angelpunkt von taklīf liegt im Begriffsbereich des „Dienens“
(al-ʿibāda).44 Jedoch lässt sich al-ʿibāda kaum auf die Idee der Unterwerfung einer
Rechtsbestimmung reduzieren. Vielmehr handelt es sich dabei um die Übernahme
eines bereits durch die von Gott in den Menschen verpflanzte Anerschaffenheit
ethischen und anthologischen Verantwortungsbewusstseins. 45 Die Beauftragung
versteht sich hier als eine „Grunderfahrung“ des Menschen, die mit der Errichtung
einer neuen Lebenswelt und dem Beginn einer „Mission“ verbunden ist. 46 Die
„Beauftragung“ läuft nicht auf eine bloße ethische „Verwaltung“ der Sterblichkeit
bzw. Endlichkeit hinaus.47 Es geht eher um die Gestaltung des eigenen Lebens eines
43 Diese Übersetzung stammt vom Autor. Eine einfachere, aber wenig erläuternde Übersetzungs-
variante ist bei Bubenheim und Elyas zu finden: „Wir haben das anvertraute Gut den Himmeln
und der Erde und den Bergen angeboten, aber sie weigerten sich, es zu tragen, sie scheuten
sich davor. Der Mensch trug es – gewiss, er ist sehr oft ungerecht und sehr oft töricht.“
44 Dies lässt sich aus der von aš-Šāṭibī übernommenen Auslegung des Koranverses Q 51:56:
„Und Ich habe die Ǧinn und die Menschen nur (dazu) erschaffen, damit sie Mir dienen.“ er-
schließen. Aš-Šāṭibīs Erklärung zufolge spiegelt dieser Vers das oberste Ziel der göttlichen
Rechtsordnung wider. (Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 14.)
45 Aš-Šāṭibīs Analyse des islamischen „Verpflichtungsbegriffs“ geht im Gegensatz zu Kants
kategorischem Imperativ von dem Schöpfungsprinzip aus, nachdem der menschliche Geist als
Ebenbild Gottes verstanden wird. Dem aristotelischen Konzept des menschlichen Daseins inhä-
renten Erfahrungsbezug wird in der islamischen Rechtstheorie eher eine untergeordnete Rolle
auf der Ebene der Praxis zugeschrieben. (Vgl. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,
Berlin 1968, Bd. 4, S. 421)
46 Die besondere Dimension der Beauftragung des Menschen lässt sich am besten im folgenden
Koranvers erkennen: „Und als dein Herr zu den Engeln sagte: ‚Ich bin dabei, auf der Erde ei-
nen Statthalter einzusetzen‘, da sagten sie: ‚Willst Du auf ihr etwa jemanden einsetzen, der auf
ihr Unheil stiftet und Blut vergießt, wo wir Dich doch lobpreisen und Deiner Heiligkeit lobsin-
gen?‘ Er sagte: ‚Ich weiß, was ihr nicht wisst.‘“ Q 2:30.
47 Die Behauptung, der Mensch sei „durch seine Existenz unter die ‚Pflichten‘ der Šarīʿa taklīf
gestellt“, drückt ein ziemlich eingeschränktes Verständnis des taklīf aus. (Thomas Amberg: Auf
dem Weg zu neuen Prinzipien islamischer Ethik. Muhammad Shahrour und die Suche nach
religiöser Erneuerung in Syrien, Würzburg 2009, S. 405.)
Gläubigen und um das sich Verstehen im Lichte der koranischen Mitteilung, die den
Gläubigen „im Horizont eines Gesamtsinns“ in Richtung eines bestimmten Endes
der Geschichte führt. Weil aber alle geschichtliche Erkenntnis nur vorläufige Gül-
tigkeit hat, eröffnet die Offenbarung durch das von ihr suggerierte transzendental
antizipierende Denken die Perspektive für ein Ganzheitsverständnis des lebensge-
schichtlichen Zusammenhangs menschlichen Daseins.48 In aš-Šāṭibīs Rechtsdenken
bilden „fiṭra“ und „taklīf“ kein gegensätzliches Begriffspaar. Die Zielsetzung der
šarīʿa als Ausdruck der alles durchdringenden göttlichen Ordnung führt im Verhält-
nis der Verpflichtung bzw. Beauftragung zum Status der „Anerschaffenheit“:
„Wenn Gott ein Geschöpf erschaffen hat, in dem Gut und Böse vermischt
sind, dann ist das Gute das, wofür die Schöpfung gedacht wurde […] Und
dies entspricht auch der Aussage der Strömung der Muʿtazila, dass das Böse
und die Schäden sich ohne Absicht und gegen den Willen Gottes ereignen.
Denn Gott ist erhaben über dies.“49
Während der Verpflichtungsdiskurs die Schaffung einer neuen Lebenssituation her-
vorruft, die neue Perspektiven für den Gläubigen eröffnet, spiegelt die Anerschaf-
fenheit eine gewisse ethische und ontologische Ausrichtung des religiösen Daseins
wider. Durch die Beauftragungsbotschaft bringt die Offenbarung ein neues Merkmal
in das menschliche Dasein, verbunden mit der Auflage entsprechend darauf zu
reagieren. Es ist also allein die Kraft des Gesetzgebers, sprich Gottes, die zu morali-
schem Handeln verpflichtet.
Der maqāṣid-Ansatz trägt somit durch die implizierte Intentionalität der Verkün-
digung zur methodischen Überwindung der Dichotomie der Anerschaffenheit vs.
Verpflichtung wesentlich bei.50 Aš-Šāṭibīs These zufolge korrespondiert die Absicht
des Gesetzgebers insofern mit der Anerschaffenheit des Menschen, als sie auf das
Ziel moralischen Handelns gemäß den Bestimmungen der šarīʿa hinausläuft, näm-
lich der maṣlaḥa. Ferner wurde dadurch, dass man die Intentionstheorie am Angel-
punkt zwischen Schöpfungs- und Pflichttheorie angesiedelt hat, der intendierte Sinn
48 Die von dem Begriff der Anerschaffenheit ausgehende Überlappung vom „Anfang“ und „Ende“
der Geschichte lässt eine Relektüre der islamischen Ethik zu, die den islamischen Existenzbe-
griff genau zwischen dem historischen Ansatz Wilhelm Diltheys, der davon ausgeht, dass die
Ganzheit des Lebens erst von dessen Ende her erfassbar wäre, und der antizipatorischen These
Georg W. F. Hegels, die den Gedanken der Unsterblichkeit des Menschen im Erkennen be-
gründet sieht, verortet. (Vgl. Jean-Claude Wolf: „dass der Mensch durch Erkennen unsterblich
ist – Hegels Deutung der Erzählung vom Sündenfall“, S. 58; Pannenberg: Wissenschaftstheorie
und Theologie, S. 137f.)
49 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 23. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 222.
50 Die zweite Theorie moralischen Handelns der radikalen taklīf-Anhänger entsprang den beiden
Rechtsschulen der Ḥanbaliten und Šāfiʿiten. Sie sehen in der Offenbarung das Ereignis, das die
Moral erschuf. Die Herangehensweise der Ḥanbaliten und Šāfiʿiten betont die von außen ge-
schaffene Verbindlichkeit, gemäß moralischer Kenntnis zu handeln. (Vgl. Raysūnī, Aḥmad ar-:
Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šaṭibī, 210f. )
51 Indem der Sprecher durch seinen Beitrag im diskursiven Satz sich selbst bezeichnet und der
Handelnde durch seine Intervention in das Handlungsgeflecht seine Fähigkeit zeigt etwas zu
tun, lassen sich seine Handlungen problemlos in die Kategorien „gut“ und „verpflichtend“ ein-
ordnen. Als Urheber einer Handlung trägt der Mensch im Bereich der „Pflicht“ in Gestalt eines
von außen aufdrängenden moralischen Zwangs Verantwortung für sein Handeln. Die Zielset-
zung seines Verhaltens wird dann Gegenstand von Bewertungen und Schätzungen, welche sich
aus dem Blick ergeben, den jeder ethisch Handelnde auf sich selbst wirft. (Vgl. Ricoeur: Soi-
même comme un autre, S. 209.)
52 Diese Konzeption unterscheidet sich grundlegend von der aristotelischen Ergon-Theorie, die die
Aufgabe und Funktion des Menschen in der guten Ausübung einer vernunftgemäßen Tätigkeit
sieht. Für Aristoteles ist die Glückseligkeit durch eine gewisse Art der menschlichen Tätigkeit
für den Menschen prinzipiell erreichbar und sie erfüllt sein Leben als Ganzes, vorausgesetzt,
dass er neben vernunftgemäßer Tätigkeit auch Tüchtigkeit oder Tugend (aretē) besitzt. (Vgl.
Jean-Claude Wolf: Das Böse als ethische Kategorie, Wien 2002, S. 42.)
53 Verantwortung besagt in diesem Zusammenhang, sich vor einer Übermacht verantworten zu
müssen. Maṣlaḥa als Bewertungskriterium menschlichen Verhaltens impliziert demnach, dass
Verantwortung und Schuld ohne Voraussetzung einer gewissen Freiheitsvorstellung nicht
denkbar sind. Der Verstand spielt im Beauftragungsprozess eine Schlüsselrolle bei der Festle-
gung religiöser Grenzen der Freiheit. (Vgl. zum Verhältnis von Freiheit und Verantwortung u.a.
Helmut Kussäther: Was ist Gut und Böse?, Neukirchen-Vluyn 1979, S. 13f.)
54 Die Inferenzmethode aš-Šāṭibīs zur Aufschlüsselung rechtlicher Werturteile wird hier u.a. in
Anlehnung an Heinz E. Tödt (1988) und Norman Daniels (1996) „ethische Urteilsfindung“ ge-
nannt. Die Reflexion zur sozialkonventionellen Wertvorstellung wird hier gemäß dem von aš-
Šāṭibī verwendeten Begriff ʿurf sittliche Urteilsbildung genannt. Durch den von aš-Šāṭibī im
Prozess der Rechtsfindung verwendeten, Intentionsbegriff werden grundliegende analytische
Verfahrensschritte wie etwa die Untersuchung der Verhältnisbestimmung zwischen Rechtsnor-
men und Verhaltensoptionen oder die Prüfung der Kohärenz zwischen Rechtsprinzipien und
Verhaltensregeln erkennbar, die in der modernen Ethikforschung, wenn auch in anderer Form,
durchaus gängig sind. (Vgl. Tödt: Perspektiven theologischer Ethik, S. 13-21; Norman Daniels:
Justice and Justification. Reflective Equilibrium in Theory and Practice, Cambridge 1996.)
55 Aḥmad ar-Raysūnīs Analyse zufolge handelt es sich bei maṣlaḥa muʿtabara um Interessen,
deren negative Nebenwirkungen aus geringfügiger Bedeutung für die menschlichen Handlun-
gen vernachlässigt worden sind, sodass diese keinerlei rechtliche Konsequenzen nach sich zie-
hen. (Vgl. ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šaṭibī, S. 65.) Im Grunde um-
fasst aber diese Kategorie bei aš-Šāṭibī überwiegend Handlungen, deren Werturteil ausdrücklich
von der Offenbarung festgelegt wurde, wie etwa die rituellen oder gottesdienstlichen Handlun-
gen (Gebet, Fasten, Pilgerfahrt etc).
56 Al-Ġazālī formulierte bereits im 5./11. Jh. die allgemeine Regel zur Definition von maṣlaḥa als
Gegenpol zu mafsada, indem er die Meinung vertrat, dass jede Handlung, die den erhalt der
fünf Notwendigkeiten gewährleistet, zweifellos maṣlaḥa sei, und umgekehrt, jede Handlung,
die den Erhalt der selben Notwendigkeiten gefährdet, mafsada sei. (Vgl. al-Ġazālī: al-Mustaṣfā,
Bd. 1, S. 287.) Genau diesen Weg schlägt aš-Šāṭibī in seiner Definition der Kategorien der
maṣlaḥa und mafsada ein, die er allerdings in diesem Zusammenhang als absolut (muṭlaq) be-
zeichnet.
apriorischen Vernunftauffassung des Guten abgrenzt, die von Gut und Böse als
abstrakte Kategorien mit eigenständiger Existenz ausgeht.57
„Das, was in der Kalāmwissenschaft und in der Rechtsmethodik deutlich ge-
macht wurde, ist, dass der Verstand weder das Gute noch das Schlechte er-
kennen kann.“58
Der Einwand aš-Šāṭibīs gilt allerdings nicht der Vernunft im Allgemeinen, sondern
dem muʿtazilitischen Apriorismus, bei dem die Zeitlichkeit und Vielgestaltigkeit der
menschlichen Vernunft zu Gunsten ihres vermeintlich absoluten und von der Le-
benswirklichkeit unabhängigen Charakters vollkommen ausgeblendet wird. 59 Am
deutlichsten findet man die apriorische Haltung bei dem Muʿtaziliten Abū l-Ḥusayn
al-Baṣrī (gest. 436/1044), der an die Existenz einer eigenständigen Entität des Guten
glaubte. Er gebrauchte den Begriff maṣlaḥa und seinen Plural maṣāliḥ sowohl in
seinem allgemeinen Sinne (als der Schöpfung vorgeordnete ethische Kategorie), als
auch in seiner methodisch-rechtlichen Bedeutung im Rahmen der Theorie der vier
Rechtsquellen.
Glaubt man Abū l-Ḥusayn al-Baṣrī, so kann maṣlaḥa als juristischer Begriff nur
als Synonym des „rechtlich Guten“ verstanden werden. In seiner Pluralform maṣāliḥ
bezieht sich dieser Terminus jedoch auf bestimmte Kontexte und Situationen, die
aufgrund in deren Rahmen stattgefundenen Konstellationen unterschiedlicher
Handlungsarten das Gute hervorrufen. 60 Dabei steht bei ihm der Bezug von maṣlaḥa
als abstrakte Entität einerseits zum Begriff istiṣlāḥ, den er als rationale Begründung
einer Handlung definiert, und andererseits zu ʿilla im Mittelpunkt der Diskussion.
Als Muʿtazilit argumentiert Abū l-Ḥusayn al-Baṣrī gegen die Anhänger der
Überlieferung (naql), die behaupten, maṣlaḥa könne nicht begründet bzw. rational
57 Die Haltung aš-Šāṭibīs erinnert an die Vernunftskepsis David Humes, für den die Vernunft nur
ein Instrument der wesentlich affektiv bestimmten Tugend ist. (Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt,
Bd. 2, S. 37 sowie Ludwig Siep: Konkrete Ethik. Grundlagen der Natur- und Kulturethik,
Frankfurt a.M. 2004, S. 344.)
58 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 61. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 222.
59 Inspiriert von der muʿtazilitischen Auffassung einer realen Existenz von Gut und Böse vertrat
Naǧm ad-Dīn aṭ-Ṭūfī (gest. 716/1316) eine in den Augen der šāfiʿitischen Gelehrten extreme
Position insofern, als er den bedingungslosen (voraussetzungslosen) Einsatz des maṣlaḥa-Prin-
zips selbst bis hin zum Übergehen bzw. Ignorieren des Textes vertrat (Yūsuf al-Qaraḍāwī:
Dirāsa fī fiqh maqāṣid aš-šarīʿa, 4 Aufl.. Kairo 2012, S. 109-111, vgl. Naǧm ad-Dīn aṭ-Ṭūfī
(gest. 716/1316): at-Taʿyīn fī šarḥ al-arbaʿīn, Beirut/Mekka o.J., S. 246.)
60 Diese Bedeutungsverschiebung zwischen Singular- und Pluralform des maṣlaḥa-Begriffs findet
man ebenso bei aš-Šāṭibī. Anders als bei Abū l-Ḥusayn al-Baṣrī wird allerdings der Singular-
form von maṣlaḥa in aš-Šāṭibīs Rechtsdenken die praxisbezogene Funktion einer ethischen
Ausrichtung zugeschrieben, dessen Wesen von dem Vollzugszusammenhang des Lebens ab-
hängt. Maṣlaḥa gleicht in aš-Šāṭibīs Gedankengang einer theoretischen Reflexion über mora-
lisch-sittliche Urteilsbildung. So wird in den verschiedenen Abhandlungen zu maṣlaḥa im al-
Muwāfaqāt bewusst auf den Gebrauch abstrakter und von der Rationaltheologie beliebter Ur-
teilskategorien, wie etwa ḫayr (höchstes Gut) und šarr (radikales Böse) verzichtet, wie hier
weiter unten detailliert ausgeführt wird.
erfasst (d.h. rational definiert) werden. Das rechtlich Gute (al-maṣāliḥ aš-šarʿiyya)
resultiere aus solchen Handlungen, für die Verpflichtung bestehe. 61 Allerdings unter-
lässt er eine Aufzählung von maṣāliḥ und gibt auch keine Erläuterung zum Zusam-
menhang zwischen al-maṣāliḥ aš-šarʿiyya und dem abstrakten Begriff maṣlaḥa als
allgemeine ethische Kategorie.
In der Diskussion um „Gut“ und „Böse“ bleibt aš-Šāṭibī der induktiven
ašʿaritischen Methode treu, die dem Schriftbeweis (an-naql) Vorrang vor der ratio-
nalen Argumentation (al-ʿaql) gibt. Trotzdem arbeitete er in seiner Rechtsphiloso-
phie mittels ihrer Abgrenzung von der Rationaltheologie einen eigenständigen Ver-
nunftbegriff heraus, der in hohem Maße zum Verständnis grundlegender Züge
rechtstheoretischer Urteilsbildung beiträgt. Denn laut aš-Šāṭibīs Annahme denkt die
Offenbarung der Vernunft voraus, doch die Offenbarungsbotschaft wird erst im
Rückblick der Vernunft angemessen verstanden:
„Wenn die Überlieferung [der Quellentexte] und der Verstand in den Fragen
der šarīʿa ergänzend wirken sollen, so wäre dies unter der Bedingung an-
nehmbar, dass die Überlieferung dem Verstand vorausgeht, und der Verstand
der Überlieferung nachfolgt. Der Verstand kann sich nur so viel Raum im
theoretischen Rahmen herausnehmen, wie ihm die Überlieferung erlaubt.
Wenn es dem Verstand erlaubt gewesen wäre, über die Überlieferung hinaus
zu wirken, hätte die Grenze, die die Überlieferung bestimmt, keinen Sinn.“ 62
In einer modernen Ausdruckweise ist die apriorische Vernunft nach aš-Šāṭibīs
Schlussfolgerung deswegen nicht fähig, alleine das Gute vom Verwerflichen konse-
quent zu unterscheiden, weil sie „nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem [eige-
nen] Entwurf hervorbringt“.63
In Anbetracht seiner außerordentlich innovativen Idee des höchsten Guts (al-
maṣlaḥa al-muʿtabara) als Ausrichtung allen intentionalen Handelns werden die
Einwände aš-Šāṭibīs gegen jegliche rational-ontologische Überführung der Frage
nach dem „Guten“ in die Sphäre des Objektiven verständlich.64 Gleichwohl scheint
61 Davon unterscheidet er die Mittel, die den Vollzug der aufgetragenen Handlungen ermöglichen.
Diese haben alle einen Bezug zu maṣlaḥa. Diese Mittel sind: 1) dalīl (wörtl. Beweis): textbezo-
gene Evidenz hinsichtlich einer Ablehnung oder Akzeptanz einer Handlung; 2) amāra (wörtl.
Merkmal, Anzeichen): ein adäquates Zeichen für eine bestimmte Eigenschaft; 3) ʿilla (wörtl.
Grund, ratio legis): begründet einen Analogieschluss und taugt daher als Basis für die Defini-
tion von maslaha; 4) sabab (wörtl. Grund, Mittel): Ursache einer Handlung und zuletzt 5) šarṭ
(wörtl. Bedingung): Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen, um die Durchführung einer
Handlung zu gewährleisten. Insgesamt ist maṣlaḥa für al-Baṣrī ein Ziel, für das ʿilla und die üb-
rigen o.g. Begriffe Mittel darstellen. (Vgl. ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 240f.)
62 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 61 (für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 222). Diese Aus-
sage erinnert sehr an den kantischen Begriff der „Neuen Freiheit“, auf den in den folgenden
Ausführungen ausführlicher eingegangen wird.
63 Vgl. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt a.M. 1974, Bd. 2, S. 23.
64 Die Intentionen der Einzelnen sollen im Endergebnis auf die Zielsetzung göttlicher Rechtsord-
nung (šarīʿa) hinauslaufen, sodass die Glückseligkeit im Dies- und im Jenseits gewährleistet
seine intentionalistische Auffassung des höchsten Guts kaum mit der kantischen
Subjektivierung der Urteilskraft vereinbar.65 Die Ablösung der muʿtazilitischen
ontologisch-objektivierenden Bestimmung des Guten in der Rechtstheorie bedeutete
jedoch nicht notwendig die Verabschiedung des Verhältnisses zwischen Vernunft
und Offenbarung, sondern setzte es in Form einer anderen Hierarchie fort:
„Das, was in der Kalāmwissenschaft und in der Rechtsmethodik deutlich ge-
macht wurde, ist, dass der Verstand weder das Gute noch das Schlechte er-
kennen kann. Und wenn wir dem Verstand gegenüber der Überlieferung eine
übergeordnete Rolle zuschreiben würden, dann hätten ihm von der Religion
keine Grenzen gesetzt werden können.“66
Aus der Perspektive von aš-Šāṭibīs Verständnis der Vernunft als Instrument zur
Erkenntnis religiöser Wahrheiten kann die Frage nach der Vernünftigkeit des Guten
als Handlungsintention (qaṣd) als Frage nach der handlungstheoretischen Begrün-
dung göttlicher Rechtsnormen ausgelegt werden. Dies gilt als Basis der Verhältnis-
bestimmung zwischen Vernunft, Offenbarung und sittlicher Urteilsbildung:
„Und wenn die normativen Quellen der šarīʿa auf die [ethischen] Universal-
maximen und die handlungsspezifischen Regeln angewendet werden, so wie
es von der soeben genannten Gegenposition erläutert wurde, könnte man
überhaupt nicht auf ein zweifelloses Urteil schließen, außer wenn man die
Vernunft miteinbeziehen würde, wohingegen die Vernunft der Religion un-
tergeordnet ist. Denn diese Anordnung ist für die Aufstellung der fundamen-
talen normativen Quellen unentbehrlich. Die [muslimische] Gemeinschaft, ja
sogar alle Konfessionen, einigten sich darauf, dass das Aufstellen des Rechts
der Erhaltung der fünf notwendigen ethischen Maxime dient. Und diese sind:
Schutz der Religion [bzw. des Glaubens], der Seele [bzw. des Selbst], der
Fortpflanzung bzw. der Familie, des Besitzes und der intellektuellen Fähig-
keit.“67
Die Zielsetzungen der šarīʿa lassen sich nicht nur theologisch durch die Idee der
Ausrichtung des Menschen auf maṣlaḥa begründen, vielmehr sind sie gleichermaßen
aus der Erkenntnis der Gemeinschaft des sittlich Guten erschließbar:
„Die Gemeinschaft erkennt [die Zielsetzungen der šarīʿa] als notwendig an,
obwohl diese weder in einer konkreten normativen Quellen festgelegt worden
sind, noch konnten wir [in den Textquellen] eine Rechtsgrundlage finden, auf
die sie speziell zurückgeführt werden können. Vielmehr wurde die Verein-
barkeit dieser Grundlagen mit der šarīʿa durch eine Mehrzahl der normativen
Quellen festgestellt, die man nicht in einer Kategorie zusammenfassen
kann.“68
Die sich bei aš-Šāṭibī aus der Distinktion zwischen weltlichem und eschatologi-
schem Gut ergebende, begriffliche Vielfalt des Werturteils hat insofern keine Rele-
vanz für die Diskussion um das höchste Gut, 69 als dass den Begriffen des höchsten
Guts (al-maṣlaḥa al-muʿtabara) bzw. des radikalen Übels (al-mafsada al-
muʿtabara) lediglich ein rein rechtlich-theoretischer Gültigkeitsanspruch zugeschrie-
ben wird:
„Im Endergebnis sind die durch die šarīʿa anerkannten Nutzen und Schäden
rein und auf keinen Fall vermischt, weder im Großen noch im Kleinen. Und
selbst, wenn man getäuscht worden wäre, dass sie vermischt worden seien, so
sind sie es aus der theologisch-rechtlichen Perspektive nicht. Denn mit dem
untergeordneten Nutzen oder dem untergeordneten Schaden wird das ge-
meint, was gemäß der Gewohnheit durch Aneignung geschieht. Dieses er-
folgt ohne zusätzliche Beeinflussung, die die Einmischung des Gesetzgebers
voraussetzt. Und von diesem Maß behauptet man, dass es sich nicht um das
Ziel des Gesetzgebers bei der Aufstellung der Rechtsnormen handelt. Die
normative Quelle dafür sind zweierlei Dinge: Einerseits, wenn der unterge-
ordnete Aspekt das Ziel des Gesetzgebers, also ich meine damit vom Gesetz-
geber anerkannt wäre, wäre der Vollzug einer Handlung weder absolut ge-
boten noch absolut verboten. Sondern sie wäre geboten hinsichtlich des Nut-
zens, der in ihr steckt und verboten hinsichtlich des Schadens, den sie bein-
haltet. Wobei bereits bekannt ist, dass dies nicht kategorisch der Fall ist.“ 70
Im Hinblick auf die Definition des weltlich Guten verknüpft aš-Šāṭibī seine Idee von
der šarīʿa als Bestimmungsinstanz von „gut“ und „böse“ mit einem anderen Gedan-
ken, der in der šāfiʿitischen Schule ebenfalls Anhänger besessen hatte. Mit gut und
verwerflich meint man lediglich Pseudokategorien, die keinesfalls tatsächlich dem
68 Ebd., Bd. 1, S. 25f. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 223.
69 Das bei den Theologen verbreitete Begriffspaar ḫayr vs. šarr (Gut vs. Böse) benutzt aš-Šāṭibī
ausschließlich, wenn er sich mit rational-theologischen Thesen befasst. Ansonsten verwendet er
zuweilen die altbekannte Dichotomie der Juristen maṣāliḥ vs. mafāsid (Interessen vs. Verder-
ben) und mal die wenig bei den Rechtsgelehrten verbreitete Dualität manāfiʿ vs. maḍārr (Nut-
zen vs. Schaden). (Vgl. Ibn Qudāma al-Ḥanbalī (gest. 620/1223): Rawḍat an-nāẓir wa-ǧunnat
al-munāẓir, 1. Bd., Kairo o.J., Bd.1, S. 312.) Die letztere Dichotomie kommt bei ihm jedoch
häufig in Verbindung mit handlungstheoretischen Abhandlungen zur Analyse sittlicher Urteils-
bildung vor.
70 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 21. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 223.
71 Mit ḥaqīqa verweist aš-Šāṭibī auf den oben diskutierten Wahrheitsbegriff der Philosophen und
Rationaltheologen, der der Idee der Objektivität des Guten zugrunde liegt. In der Diskussion um
die sittliche Urteilsfindung geht die Rechsttheorie bei der Unterscheidung von Gut und Böse le-
diglich von einem handlungstheoretischen Standpunkt aus, bei dem jegliches Urteil ein Produkt
kontext- und situationsabhängiger Abwägung ist. (Vgl. u.a. ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 240.)
72 Die Analyse aš-Šāṭibīs stellt somit eine Verfeinerung der Position ar-Rāzīs dar, die davon
ausgeht, dass das „Gutsein“ als Eigenschaft, die der menschlichen Natur angemessen ist oder
auch mit dessen Streben nach Verbesserung zusammenhängt, in den Ausprägungen „gut“ und
„schlecht“ zweifellos mit dem Verstand erfasst werden könnten. Bis hierhin nimmt ar-Rāzī eine
Position ein, die derjenigen der Muʿtaziliten nahekommt. Doch grenzt er sein Konzept von
maṣlaḥa auch gegen diese Richtung ab, indem er sagt, dass „gut“ und „schlecht“ als allgemeine
moralische Kategorien, die „sittlich“ zu Lob oder Tadel führen, nur durch aš-šarʿ etabliert wer-
den können. (Vgl. ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 237ff.)
73 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 30. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 223.
74 Die hier angenommene dreiteilige Vernunftsdefinition entspringt einem modernen Verständnis
des Verstandsbegriffs al-Ġazālīs. Er unterschied in seiner mystischen Phase drei Erkenntnis-
wege: Erkenntnis des Geistes (dient dem Verständnis von Inhalt und Gesetz der Offenbarung
gemäß des vernunftmäßigen Erfassens weltlicher Wahrheit), Erkenntnis der Seele (ihr Gegen-
stand ist das Wissen um praktische Ausübung religiöser Tugenden und der Umgang mit „Wil-
lensneigungen“) und Erkenntnis des Herzens (ein glaubensorientiertes Wissen, das dank der
mystischen Enthüllung zur wahren Erkenntnis Gottes führt). (Vgl. al-Ġazālī: al-Iqtiṣād fī l-
aš-Šāṭibīs ist die Überwindung des Bösen ohne das Einschreiten von Gott in die
Lebenswelt kaum denkbar, da es sich im sozialen Verhaltensgeflecht nicht unbe-
dingt um Entscheidungen zwischen Gut und Böse handelt, sondern um die Erkennt-
nis, dass jede Verhaltensweise gute wie böse Folgen miteinschließt, die dem Han-
delnden eine gewisse Wahrnehmung von Verantwortung über das eigene mögliche
Fehlverhalten abverlangt.75 Die Überführung der Frage nach dem Werturteil in die
Sphäre der Intention des Gesetzgebers scheint insofern berechtigt, als der Gläubige
von den ambivalenten Lebenslagen, in denen er sich immer wieder befindet, mora-
lisch herausgefordert wird und der Hilfe eines Wegweisers bedarf.
Auf der Ebene der Rechtsnormen rechtfertigt die Überlagerung der Eigenschaf-
ten des „Pseudoguten“ mit denen des „Pseudoverwerflichen“ den einiger Bestim-
mungen der šarīʿa scheinbar inhärenten Widerspruch, dass eine Handlung gleich-
zeitig verboten und geboten werden kann. 76 Trotz seiner Ablehnung der
muʿtazilitischen und maturidischen Haltung, die darin bestand, dem Guten und dem
iʿtiqād, S. 47f.; Abū Rīdah: Al-Ġazālī und seine Widerlegung der griechischen Philosophie, S.
87-92.) Die Kategorisierung der Kenntnisse bei al-Ġazālī in apriorische (innere Gegebenheiten
des Bewusstseins), sinnliche (Verallgemeinerungen aufgrund der Beobachtung von Naturphä-
nomenen) und vermittelte (die einem durch wahrhafte Menschen vermittelt werden) scheint mit
der Klassifizierung der Vernunftsebenen des modernen Theologen Wolfhart Pannenbergs ver-
gleichbar, wenn auch nicht deckungsgleich zu sein. Wolfhart Pannenberg (1967) arbeitete drei
typische Formen der Vernunft heraus: nämlich erstens die apriorische Vernunft, die der Meta-
physik Kants und Aristoteles zugeschrieben wurde; zweitens die vernehmende Vernunft, die
u.a. als Instrument zur Erkenntnis religiöser Wahrheiten dient und bei der der Bezug zur Sin-
neswahrnehmung als die entscheidende Kontrolle für wahre Urteile betont wird; und drittens
die historische zeitlich gebundene Vernunft Diltheys, die den vorläufigen Charakter
geschichtlicher Erfahrung hervorhebt. (Vgl. Wolfhart Pannenberg: Grundfragen systematischer
Theologie, Göttingen S. 244f.) Wolfgang Greive weist allerdings darauf hin, dass Wolfhart
Pannenberg in seinen späten Arbeiten fünf Typen der Vernunft nennt. Ausgangspunkt dieser
Unterteilung ist laut Greive die vernehmende Vernunft, die die Wahrnehmung der Wirklichkeit
in Philosophie und Theologie lange Zeit (auch bei al-Ġazālī [meine eigene Bemerkung]) be-
stimmt hat. (Vgl. Wolfgang Greive: „Theologie der Vernunft: Wolfhart Pannenbergs Vorlesung
‚Theologie der Vernunft‘, in: Kerygma und Dogma, Jg. 58/2 (2012), S. 97-177, hier: S. 103.)
75 Aš-Šāṭibī verewigt hier ein traditionelles Postulat, das bereits von seinem geistigen Lehrer al-
Qarāfī informell angerissen wurde (Vgl. Šihāb ad-Dīn al-Qarāfī: Šarḥ tanqīḥ al-fuṣūl fī iḫtiṣār
al-maḥṣūl fī l-uṣūl, S. 78.), indem er bezüglich der Verstrickung von Gut und Böse folgendes
erklärt: „Genauso wie jedes Gut (irgend)einen Schaden enthält, selbst wenn dieser unwahr-
scheinlich erscheint, kann ein Schaden auch gute Folgen haben, auch wenn diese nicht immer
[rational] erschließbar sind.“ (Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 26-39.) Zum Gutsein gehört
daher auch: „[…] als Vorhalt des Mögens über die Vergangenheit ständige Reue und bedin-
gungslose Vergebung“. (Helmut Kussäther: Was ist Gut und Böse?, S. 71.)
76 Hier wird häufig auf die Rechtsnorm des Alkoholverbots verwiesen, der zufolge Alkoholgenuss
als Verstoß angesehen wird, jedoch die Einnahme alkoholhaltiger Medikamente erlaubt wird.
Aš-Šāṭibī stellt die Frage der Vernunftsmäßigkeit dieses Rechtsverbotes wie folgt: „Wie sonst
[außer durch die vernunftunabhängigen Kriterien der šarīʿa] hätte man denn das Erlauben des
Alkoholkonsums begründet, wenn die Vernunft zwei gegensätzliche Wirkungsformen dieser
Substanz erkennt: eine ermunternde und von Sorgen befreiende, auf der einen Seite, und eine
Geist und Seele trübende Wirkung, auf der anderen.“ (Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 32.)
77 Für eine strenge Unterscheidung zwischen theologischer und juristischer Argumentation plä-
dierte auch der geistige Vater des praktischen Rationalismus al-Ǧuwaynī: „Es ist unbestritten,
dass die Vernunft das Vermeiden des Unheils und das Streben nach den möglichen Nutzen vo-
raussetzt. Die Ablehnung dessen ist jenseits jeglicher Vernunft, weil dies eigentlich das Recht
des Menschen ist. Der Dreh- und Angelpunkt unseres Anliegens ist das, was gut oder schlecht
hinsichtlich des Rechts Gottes ist.“ (al-Ǧuwaynī: al-Burhān fī uṣūl al-fiqh, Bd. 1, S. 91.)
78 Eines der repräsentativsten und gleichermaßen meist diskutierten Werke über die ašʿaritische
Auffassung der maṣlaḥa stellt zweifellos das von Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī verfasste Buch al-Maḥṣūl
fī ʿilm al-uṣūl dar. (Ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2.)
79 Dem Begriff Zweckrationalismus bei Tilman Nagel liegt die auf Herbert Spencer zurückge-
hende Güterauffassung zugrunde, die den Begriff „gut“ als wesensgleich mit dem Begriff
„zweckmäßig“ ansetzt. (Vgl. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Stuttgart 1991, S.
253.) Die theologisch und transzendental begründete Güterlehre al-Ǧuwaynīs als
Zweckrationalismus zu bezeichnen, scheint daher einem gewissen Reduktionismus zu entsprin-
gen. (Vgl. Nagel: Die Festung des Glaubens, 195ff.)
„Wenn die Nutzen und Schäden also hinsichtlich des kontext-, personen- und
handlungsumfeldabhängigen Rechtsdiskurses zu beurteilen sind, sodass der
vermeintliche Nutzen in bestimmten Zeiten und Umständen und je nach Per-
son erlaubt und nicht erlaubt ist, wenn diese Umstände fehlen. So stellt sich
die Frage, wie die Behauptung haltbar sein könne, dass die Grundlage des
Erlaubten der Nutzen und die Grundlage des Verbotenen das Schädliche
ist.“80
Die kurzen Ausführungen aš-Šāṭibīs zur Rolle der Situationsangemessenheit bei der
ethischen Urteilsbildung konnten bereits zeigen, dass es einen breiten Bezug des
sittlich Guten zur individuellen Handlungskonstellation gibt. Aus diesem Grund
stellt aš-Šāṭibī die bedingungslose Verknüpfung der Rechtsanwendung an rational
erschlossene Werturteile in Frage. Streng angewendete Rechtsnormen, deren Gel-
tungsbereich über die Handlungszusammenhänge hinweggesetzt wird, können zur
Gefährdung des höchsten Guts göttlicher Gesetzgebung, nämlich der Gerechtigkeit
führen. Aš-Šāṭibī weist damit ausdrücklich auf die Bedeutung von Milde (yusr/līn)
und Sanftmut (raḥma/luṭf) als Bestandteile göttlicher Intention bei der Rechtsanwen-
dung hin und unterscheidet so zwischen strengen und intentionsgemäßen Rechtssat-
zungen, die auf die besonderen Umstände individueller Handlungen Rücksicht neh-
men, wie Gott in Q 20:2 gegenüber seinem Propheten verkündet: „Wir haben den
Qur'an nicht auf dich [als Offenbarung] hinabgesandt, damit du unglücklich bist
[bzw. damit du Leid und Mühe erfährst]“.81
Für die ethische Urteilsfindung sind nach aš-Šāṭibīs Auffassung die Macht der
Sitte, die Heilige Schrift und die Intention seines Urhebers ausschlaggebend. Gutes
und Verwerfliches lassen sich so nur durch textinterpretative Erkundung der Inten-
tion des Gesetzgebers unter Berücksichtigung sittlichen Werturteils erkennen, die
mit Hilfe von Umfeldfaktoren den normativen Wert einer Handlung maßgebend
mitbestimmen. Also muss bei der Urteilsbildung erkenntnistheoretisch eine umfas-
sendere Kontextstruktur angenommen werden, ohne dabei einem rationalistischen
Pragmatismus anzuhängen. Im antizipierenden Prozess der Handlungsintention, sich
auf ein Gutes hin zu orientieren, vollzieht sich eine permanente Überschreitung des
Gegebenen, die der Vernunft jegliches Wahrnehmungsvermögen zum Ziel mensch-
licher Handlungsabsichten entzieht. Diese Erkenntnis öffnet die Perspektive für eine
vernunftgemäße Anerkennung der Offenbarung als glaubensorientiertes Bestim-
mungsprinzip ethischer Werturteile:
80 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 31f. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 223.
81 Hierzu kann man zahlreiche Koranverse zitieren, auf die bereits in einem anderen Zusammen-
hang hingewiesen wurde, wie z.B. Q 21:107: „Und Wir haben dich nur als Barmherzigkeit für
die Weltenbewohner gesandt.“; oder Q 3:159: „Durch Erbarmen von Allah bist du mild zu
ihnen gewesen; wärst du aber schroff und hartherzig, so würden sie wahrlich rings um dich
auseinandergelaufen. So verzeihe ihnen, bitte für sie um Vergebung und ziehe sie in den Ange-
legenheiten zu Rate. Und wenn du dich entschlossen hast, dann verlasse dich auf Allah! Gewiß,
Allah liebt die sich (auf Ihn) Verlassenden.“
„Die Nutzen, die einem mukallaf zu Gute kommen, sind in der Regel durch
Schäden getrübt, genauso wie die Schäden auch von einigen Nutzen umge-
ben sind. Dementsprechend sagt man zum Beispiel, dass die Seelen geachtet
und geschützt werden sollen und dass deren Erhalt erforderlich ist, wobei es
zu bevorzugen wäre, sie am Leben zu erhalten, wenn man vor der Wahl ste-
hen würde, sie entweder am Leben zu erhalten und dafür seinen Besitz auf-
zuwenden, oder aber sie zu vernichten, um seinen Besitz zu erhalten. Wenn
aber das Erhalten [des Selbst] zur Auslöschung des Glaubens führen würde,
so wäre es zu bevorzugen, den Glaube zu erhalten, auch wenn dies zum
Verlust des Selbst führen würde.“86
Im Gegensatz zu Kants kategorischem Imperativ, bei dem alle möglichen
Verfehlungen mit gleicher Härte untersagt zu sein scheinen, läuft die Urteilsfindung
in aš-Šāṭibīs Rechtssystem nach einem differenzierten und kontextsensitiven Muster
ab. So werden z.B. Diebstahl und Mord, Fälschung und falsches Zeugnis ablegen, je
nach ihren Bezügen zu den jeweiligen Zielsetzungen der šarīʿa unterschiedlich ka-
tegorisiert und bewertet.87
86 Ebd., Bd. 2, S. 21. Diese „existenzielle“ Verbindung zwischen Glaubens- und Lebenserhaltung
soll hier im Zusammenhang des von aš-Šāṭibī der Offenbarung zugeschriebenen implizierten,
identitätsstiftenden Charakters bei der Deutung der Relation von Glaube und Dasein verstanden
werden. Mit dem Glauben wird ein neues Dasein gegeben, sodass das eine ohne das andere
kaum vorstellbar sei. Diese Lesart lässt sich mit der metaphorischen Gebrauchsweise der Ver-
ben „beleben“ und „töten“ in Bezug auf die Religion bzw. den Glauben als unanimiertes Sub-
jekt gut begründen. Das Motiv der Selbsterhaltung ist so keine Naturkonstante im „Kampf um
das Leben“, die die individuellen Handlungen bestimmt, wie es Nietzsche behauptete. (Vgl.
Schweppenhäuser: Nietzsches Überwindung der Moral, S. 33.)
87 Diesem Vergleich dient die Kritik, die Hannah Arendt gegenüber dem strengen Formalismus
Kants geäußert hat, als Hintergrund. Hannah Arendt fügt hinzu: „In Kants Aussage ist das Böse
dasselbe, ob es den Menschen zum Dieb oder zum Mörder macht; es handelt sich um die glei-
che unheilvolle Schwäche in der menschlichen Natur.“ (Arendt: Über das Böse, S. 97.) Diese
aus dem logischen Schlussfolgern entspringende Eigenschaft ist allerdings für streng radikale
religiöse Rechtsfindung charakteristisch. Bereits im frühen islamischen Mittelalter entfachte die
Diskussion zwischen zwei berühmten Theologen al-Ḥasan al-Baṣrī und seinem Schüler Wāṣil
ibn ʿAṭāʾ (gest. 131/748-9) über den rechtlichen und eschatologischen Status von Menschen,
denen Großsünden zu Last gelegt worden sind. Während Wāṣil ibn ʿAṭāʾ dem
„Großsündenbegeher“ ohne jegliche Berücksichtigung der Sündenart ein ewiges Verweilen in
der Feuerhölle vorhersagte und ihn damit praktisch einem ungläubigen Verbrecher gleichsetzte,
lehnte al-Ḥasan al-Baṣrī mit Verweis auf die Bedeutung der im Koran und Hadith an Ausmaß
des Schadens orientierten verankerten Abstufung von Sünden und der Möglichkeit von Verge-
bung dieses Rechtsspruch ab. (Vgl. Nasr Hamid Abu Zaid: Mafhūm an-naṣṣ. Dirāsa fī ʿulūm
al-qurʾān; ders.: Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses, übers. von Chérifa Magdi,
mit einer Einl. von Navid Kermani, Frankfurt a.M. 1996; Ḥasan Ḥanafī: ad-Dīn wa-ṯ-ṯawra fī
miṣr, 6 Bde., Kairo 1988-1989; ders.: Al-Yasār al-islāmī. Kitābāt fī n-nahḍa al-islāmiyya, Kairo
1981; ders.: at-Turāṯ wa-t-tağdīd. Mawqifunā min at-turāṯ al-qadīm, Kairo 1992; ders.: Islam in
the modern World. Bd.1: Religion, ideology and development, Bd. 2: Tradition, revolution and
culture, Kairo 1995.)
In aš-Šāṭibīs Deutung zum Urteilskontext spielt die binäre Wertung von „gut“
und „böse“ die Rolle einer „praktischen Vernünftigkeit“, 88 in deren Vollzug abwä-
gende Überlegungen zu Absichten und Zielen des Handelns eingehen. Die Frage der
Urteilsfindung wird dadurch von dem Bereich des in einigen Rechtsschulen überbe-
werteten logischen Schlussfolgerns, das den Anspruch erhebt, von konkreten Zu-
sammenhängen menschlicher Handlungsbezüge völlig unabhängig sein zu können,
in die Analyse realitätstypischer Verhaltensalternativen überführt, die „ein mehr
oder weniger an Ungutem enthalten oder enthalten können, sei es auch nur in unvor-
hergesehenen Folge- oder Nebenwirkungen“.89
Auf diese Weise kann die glaubende Erkenntnis als äußerst vielgestaltiges Über-
zeugungsfeld den Ansprüchen einer rationalen Verantwortungsethik mit Rekurs auf
ein selektives, aus dem Geschehen heraus gewonnenes Handlungswirklichkeitsver-
ständnis gerecht werden. Dabei geht es nicht um die Wahl zwischen eindeutig gut
und eindeutig ungut, sondern lediglich um ein Abwägen, welcher Urteilsentscheid
den rechtlichen Vorzug verdient, also am ehesten zu verantworten ist. 90
Die Verantwortungspflicht des Gläubigen als mukallaf91 ergibt sich aus dem Zu-
sammenspiel zwischen offenbarungsgestützter Güterabwägung und der aus dem
Kontext erschließbaren Absicht des Handelnden, sich intensiv
„auf die Wirklichkeit und das in ihr Mögliche einzulassen und dabei die Fol-
gen des eigenen Tuns als etwas zu betrachten, was dem ‘Täter‘ zugerechnet
wird, wofür er sittlich einzustehen hat.“92
Deshalb besteht aš-Šāṭibī auf die islamisch-theologische Unterscheidung zwischen
niyya (subjektive Intention) und qaṣd (das im Vorfeld durch ein Erschließungsver-
fahren erkennbare Handlungsziel), die bei der Urteilsfindung maßgebend sind. 93
Demnach leitet das Abwägungsverfahren dazu an, verschiedene Ebenen der Hand-
88 Dem Begriff der „praktischen Vernünftigkeit“ liegt hier eine Übersetzung Hans-Georg Gada-
mers des aristotelischen Begriffs der phronesis, auch als „praktische Weisheit“ bekannt, zu-
grunde (Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik VI, S. 6.). Die Bezeichnung „praktische Ver-
nünftigkeit“ trägt dazu bei, die hier mit der Idee aš-Šāṭibīs der „abwägenden Vernunft“ verbun-
denen analytischen Aspekte konzeptionell zu erfassen.
89 Tödt: Perspektiven theologischer Ethik, S. 32; vgl. Arendt: Über das Böse, S. 148f.
90 Vgl. u.a. Klaus Tanner: „Ein verstehendes Herz. Über Ethik und Urteilskraft“, S. 9-21; Tödt:
Perspektiven theologischer Ethik, S. 30ff.
91 Der Begriff mukallaf konnotiert sowohl Beauftragung als auch Verpflichtung und kommt somit
dem griechischen Begriff „Ergon“ nahe. Die Polysemie des Begriffs mukallaf erfordert daher
stets eine kontextabhängige Übersetzung, der in dieser Arbeit Rechnung getragen wird.
92 Max Weber: „Der Sinn der ‚Wertefreiheit‘ der soziologischen und ökonomischen Wissen-
schaften“, in: ders. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, (hg.) Johannes Winckelmann.
Tübingen 1985, S. 489-540. Hier wird Bezug auf Max Webers rationales Konzept der „Verant-
wortungsethik“ genommen.
93 Es soll in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen werden, dass durch die Beschreibung von
aš-Šāṭibīs Ansatz als intentionalistisch nur ein Teilaspekt seiner Gesamttheorie zum Ausdruck
gebracht wird (Vgl. Weiss: The Spirit of Islamic Law, S. 80-87).
lungsabsicht zu erkennen, sodass eine Handlung nicht allein nach niyya, aus der sie
vermeintlich entspringt, zu beurteilen sei, da man kaum eine Möglichkeit hätte,
zwischen objektiv guten Handlungen und solchen zu unterscheiden, denen nur eine
fromme subjektive Intention zugrunde läge. 94
Umgekehrt ist aus der Perspektive der glaubenden Erkenntnis einzuräumen, dass
eine Handlung, die sich von außen gut darbietet, erst dann rechtlich gut ist, wenn sie
subjektiv aus einer guten Intention hervorgeht. Sofern sich aber niyya als unzugäng-
lich für eine situationsangemessene Urteilsfindung erweist, führt aš-Šāṭibī eine neue
moralische Maxime namens sadd aḏ-ḏarāʾiʿ (Blockieren der Mittel) ein, der zufolge
alle objektiv als gut einzustufenden Handlungen vom Repertoire des Guten ausge-
schlossen werden, wenn sich der Handelnde davon einen unrechtmäßigen individu-
ellen Vorteil erhofft.95 De facto handelt es sich dabei um ein Bestimmungsprinzip,
das einer eventuellen Umgehung von Rechtsnormen Einhalt gebietet. Jedoch wirft
diese Fokussierung auf die individuelle Handlungsintention erneut die Frage nach
der Eingrenzung spezifischer Eigennutzorientierung im Kontext verantwortlichen
Verhaltens auf, der aš-Šāṭibī mit einer Dreiteilung der Güter, nämlich maṣlaḥa
muʿtabara (höchstes Gut), maṣlaḥa mursala (sittliches Gut bzw. praktisches Inte-
resse) und maṣlaḥa mulġāt (von der Gesetzgebung als ungültig erklärte Gut bzw.
abrogiertes Interesse) begegnet. Mit der im Begriff der Intention implizierten Idee
der Ausrichtung wird verdeutlicht, dass der Mensch in Relationen lebt und agiert
und im Rahmen der daraus resultierenden Wechselbeziehungen entweder als Lei-
94 Diesem Gedanken liegt eine berühmte, dem ʿUmar b. al-Ḫaṭṭāb zugeschriebene Aussage zu-
grunde, in der es heißt: „Oh Gottesdiener! Zeigt uns eure guten Werke, denn uns [Menschen]
wurde vorgeschrieben, nach dem Äußeren [explizit nachweisbaren] zu urteilen.“ (Vgl. as-
Saḫāwī, Muḥammad: al-Maqāṣid al-ḥasana fī bayān kaṯīr min al-aḥādīṯ al-muštahara ʿalā l-
alsina, Dār al-kitāb al-ʿarābī, Beirut, 1985, S. 162f.) As-Saḫāwī stellt die Echtheit dieser Über-
lieferung aber infrage.
95 Der Ausdruck sadd aḏ-ḏarāʾiʿ bedeutet so viel wie „Blockieren der Mittel“ und dient in aš-
Šāṭibīs Rechtsdenken dazu, einem eventuellen Missbrauch gottesdienstlicher oder wohltätiger
Handlungen für unrechtmäßigen Eigennutz, sei er sozial oder politisch, Einhalt zu gebieten. Es
handelt sich um ein Instrumentarium, das die normative Gültigkeit und den moralischen Wert
religiöser Werke auf den Prüfstand stellt. Durch die Anwendung dieses Instrumentariums kann
z.B. die Entrichtung einer Almosensteuer für nichtig erklärt werden, wenn der Wohltätige damit
auf eine politische oder gesellschaftliche Einflussnahme abzielt. Auf der weltlichen Ebene kann
die Wahrhaftigkeit einer gottesdienstlichen Handlung nur rückwirkend durch aus ihr entsprin-
gende Resultate überprüft werden. Für die eschatologische Annahme menschlicher Werke ist
die der Handlung inhärente Absicht ausschlaggebend. (Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 4, S.
134ff., Bd. 2, S. 157.) Im Endergebnis ist die „wohltätige“ Handlung, wie etwa Almosengabe
oder Sklavenbefreiung nicht an sich, sondern nur in Bezug auf ihren Handlungskontext als gut
oder verwerflich einzustufen. In der modernen islamischen Diskussion um die Anwendung die-
ses Inferenzverfahrens wird häufig die politische Instrumentalisierung dieses Verfahrens kriti-
siert, die daraus einen Unterstellungsmechanismus entwickelt hat, mit dessen Hilfe politische
Demonstrationen oder offene Verurteilungen des Herrschers offiziell verboten werden. Die von
Thomas Amberg vorgeschlagene deutsche Entsprechung „Blockieren der Mittel“ stimmt inso-
fern nur mit der modernen Anwendung des Begriffs überein. (Vgl. Amberg: Auf dem Weg zu
neuen Prinzipien islamischer Ethik, S. 255f.)
dender unter Einwirkung steht und/oder als Handelnder selbst einwirkt. 96 In der
glaubenden Erkenntnis ist die Zielvorstellung „keineswegs, eher Unrecht zu leiden
als zu tun, sondern […] Anderen Gutes zu tun“.97 Daher wird laut islamischer Glau-
benslehre der Bezeugung des Anderen im Jenseits beim jüngsten Gericht eine be-
sondere Rolle beigemessen.
Das aus der Abwägung entstehende Werturteil spiegelt also nicht einfach die von
außen symmetrisch erscheinenden gesellschaftlichen Verhältnisse wider, vielmehr
reflektiert es einen verantwortlichen Umgang mit den Bezügen einer stets im Verän-
derungsprozess befindlichen Handlungswirklichkeit. Die Dreiteilung der Güter zielt
bei aš-Šāṭibī darauf ab, die verschiedenen Bezüge ethischer Werturteile methodisch
sowie rechtlich zu systematisieren.
96 Das von der islamischen Rechtstheorie ausgearbeitete binäre Verhältnis zwischen subjektiver
und objektiver Intention scheint sich nach einem Handlungsschema zu richten, das der von Max
Weber formulierten zweiteiligen Unterscheidung zwischen Handlung und sozialer Handlung
nahekommt. Hier erläutert Weber: „‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei
ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern, als der
oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. Soziales Handeln aber soll ein
solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach
auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ (Max We-
ber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1976, S. 1.)
97 Hannah Arendt: Über das Böse, S. 108. Hierzu gibt es zahlreiche Koranverse wie z.B. Q 41:34:
„Nicht gleich sind die gute Tat und die schlechte Tat. Wehre mit einer Tat, die besser ist, (die
schlechte) ab, dann wird derjenige, zwischen dem und dir Feindschaft besteht, so, als wäre er
ein warmherziger Freund.“ In einem berühmten Hadith heißt es: „Der Prophet wurde gefragt:
Wer ist der Tugendhafteste unter den Menschen. Er antwortet: Es sind die, die für ihre Mitmen-
schen am wohltätigsten sind.“ (Vgl. Nāṣir ad-Dīn al-Albānī: Silsilat al-aḥādīṯ aṣ-ṣaḥīḥa wa šayʾ
min fiqhihā wa fawāʾidihā, 9 Bde., Riad 1995-2002, Bd. 1, S. 789.) Zur modernen Auffassung
dieser Frage des Werturteils siehe u.a. Arendt: Über das Böse, S. 109f.
98 M. Khalid Masud war einer der ersten islamischen Theologen, der den Begriff Rechtsphilo-
sophie für die Bezeichnung der Rechtstheorie aš-Šāṭibīs verwendete und damit auf das inter-
pretatorische Potential des intentionalistischen Ansatzes aufmerksam machte. (Vgl. Masud:
Islamic Legal Philosophy, S. 37.) Diese Annäherung zwischen theologischer Ethik und prak-
tischen Interessen findet man u.a. auch bei Heinz E. Tödt hinsichtlich christlicher Ethik. (Vgl.
Tödt: Perspektiven theologischer Ethik, S. 25.)
Im Hinblick auf die Rechtsprechung der šarīʿa teilt aš-Šāṭibī, wie bereits er-
wähnt, die maṣlaḥa in drei Kategorien: maṣlaḥa muʿtabara, maṣlaḥa mulġāt und
maṣlaḥa mursala, wobei sich die weltliche maṣlaḥa mursala als „Korrelat des
menschlichen Strebens“ nur in Bezug auf die sittliche Lebensführung (al-ʿurf ) um-
fassend definieren lässt.99
a) Maṣlaḥa muʿtabara („höchstes Gut“ als abwägungsunabhängige Kategorie
ethischen Werturteils):
Bei der Abwägung handelt es sich aš-Šāṭibīs Analyse zufolge um ein der praktischen
Vernunft inhärentes Verfahren, dessen Anwendungsbereich sich auf die Urteils-
findung im Kontext faktischer Lebenserfahrung beschränkt. So wird maṣlaḥa
muʿtabara als abstraktes rechtliches Werturteil aus jeglicher einem Handlungs-
umfeld gebundenen Urteilsfindung ausgenommen. 100 Aus dieser Charakterei-
genschaft, vom Handlungsumfeld unabhängig zu sein, ergibt sich die rechtliche
Allgemeingültigkeit maṣlaḥa muʿtabara, die im Vorfeld des Geschehens dem
Rechtsgelehrten zu einer offenbarungsorientierten Urteilsfindung verhilft. Auf diese
Weise können Verbote und Gebote theoretisch unabhängig von den Aporien realer
Handlungssituationen aufgestellt werden.
Das höchste Gut ist entlang dieser Deutung das von Gott intendierte und
verpflichtend gemachte Ziel, das sich vom Zweckmäßigen, Nützlichen oder
Angenehmen unterscheidet, ohne diese zu negieren. Fortan ist maṣlaḥa muʿtabara
als moralischer Begriff nicht handlungsleitend. Es handelt sich dabei eher um ein
ethisch-theoretisches Kriterium, das einer moraltheologischen Theoriebildung
entsprungen ist. Entscheidend für aš-Šāṭibīs Lesart ist, dass der Begriff maṣlaḥa
muʿtabara keineswegs als Unterkategorie des muʿtazilitschen rationalen und
absoluten Werturteils betrachtet werden kann, dem zufolge weder das Ereignen vom
Guten noch das vom Bösen der Intention Gottes entspricht. Aš-Šāṭibī stimmt zwar
zu, dass in gewissen Situationen die weltlich-ethische Bewertung der Handlung
allein dem Willen des Menschen überlassen sei. 101 Jedoch stellt er klar, dass es für
99 Ibn Qayyim verringert den Unterschied zwischen maṣlaḥa muʿtabara und maṣlaḥa mursala,
indem er die letztere Kategorie ebenfalls als Produkt rationaler Interpretation der
Offenbarung ansieht. (Vgl. Ibn Qayyim: Iʿlām al-muwaqqiʿīn ʿan rabb al-ʿālamīn, Bd. 4, S.
553ff.) Aš-Šāṭibīs binäre Unterteilung des maṣlaḥa-Begriffs in rein textuelle und
überwiegend konventionelle Güter, ist mit der bereits erwähnten Distinktion Franz Böckles
zwischen präsittliche und sittliche Güter im Prinzip vergleichbar. Denn obwohl die
sogenannten präsittlichen Güter bei Böckle keinen Bezug zur Heiligen Schrift zu haben
scheinen, stehen sie jedoch aufgrund ihres apriorischen Charakters dem Begriff maṣlaḥa
muʿtabara konzeptionell nahe. (Vgl. Böckle: Fundamentalmoral, S. 259.)
100 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 20 und Bd. 4, S. 217.
101 Diese Idee basiert auf dem in der Theologie allgemein bekannten muʿtazilitischen als Frage
formuliertes Argument für die menschliche Willensfreiheit: Wie kann Gott die Menschen im
Jenseits nach ihren guten bzw. schlechten Taten beurteilen, wenn diese Taten von Gott selbst
vorgeschrieben worden sind oder sich nach Seinem Willen ereigneten? Die von aš-Šāṭibī
zitierte Aussage lautet: „Die Rechtsschulen der Muʿtazila sagen, dass das Böse und die
Schäden gegen den Willen (Gottes) geschehen.“ (Vgl. ebd, Bd. 2, S. 23)
ihn als Rechtsgelehrten beim Begriff maṣlaḥa muʿtabara nicht um eine Entspre-
chung der Ur-Intention (qaṣd; Pl.: quṣūd) Gottes gehe, die seinem Schöpfungsakt
(al-qaṣd al-ḫalqī at-takwīnī) zugrunde liegt. Vielmehr interessiert ihn die juristische
Intention, deren Hauptanliegen in der Gestaltung der menschlichen Lebenswirk-
lichkeit besteht und deren Ausrichtung sich im Konzept des höchsten Gutes reflek-
tiert.
Aš-Šāṭibīs Rechtsverständnis zufolge dient maṣlaḥa muʿtabara dazu, einen
abstrakten Rechtsrahmen zu bilden, der im Vorfeld der Handlungswirklichkeit
grundlegende Rechtsnormen festsetzt. Als Hauptkriterium der Urteilsbildung ist der
Begriff maṣlaḥa muʿtabara auf der Grundlage zweier Quellen konzipiert. Der Koran
und ihre Auslegungstradition bilden zwar eine Primärquelle, jedoch ist das Wissen
um das Gute in der Lebenswirklichkeit einer Gemeinschaft als Sekundärquelle für
jede ethische Urteilsfindung konstitutiv. Im Wissensprozess um die Urteilsbildung
kommen nach aš-Šāṭibī Vernunfterkenntnis und Glaube zusammen. Im Wissensvoll-
zug setzt eine offenbarungsgestützte Erkenntnis als vernunftmäßige Wahrnehmung
faktischer Handlungszusammenhänge die Ziele und Ausrichtungen des Handelns
voraus, die die Vielfalt und Unvorhersehbarkeit möglicher Handlungsoptionen
berücksichtigt. Hier setzt die Brücke zwischen Offenbarung und Vernunft im Le-
bensvollzug an.
Mit dem Begriff maṣlaḥa muʿtabara wird der praktische Bezug des Rechts derart
hervorgehoben, dass der allgemeingültige Anspruch absolutistischer Gesetzgebung,
Rechtsnormen für das Gute „an sich“ oder für das Böse „an sich“ aufzustellen, außer
Kraft gesetzt wird.102 Mit der Bezeichnung des höchsten Guts bzw. des radikalen
Übels als absolut (muṭlaq) weist aš-Šāṭibī auf den extra-kontextuellen
Abstrahierungscharakter der Urteilsbildung hin. Dabei wird im selben Zuge eine
Subjektivierung des Werturteils von vornherein ausgeschlossen. Aš-Šāṭibī veran-
schaulicht den Prozesscharakter der Ausrichtung auf ein Werturteil durch seine
Kritik an der muʿtazilitischen Gleichsetzung von privatem und gemeinschaftlichem
Gut. Denn der Sinn einer Kategorie des höchsten Guts liegt nach aš-Šāṭibī u.a. auch
darin begründet, dass die Verkehrung des religiösen Strebens nach dem Guten in ein
rationales Streben nach eigenem Glück nicht so leicht zu vermeiden ist, wenn man
das rationaltheologische (extra-textuelle) vom rechtlichen (intra-textuellen) metho-
disch und konzeptionell nicht klar trennt.
Der allgemeingültige Charakter des höchsten Guts ist ausschließlich auf der
Ebene der Rechtssatzungen, d.h. im Vergleich zu anderen Rechtsnormen, relevant.
Daher wird bei der Definition des höchsten Guts oder des radikalen Übels eine
unumstrittene Befürwortung von mindestens zwei verschiedenen Rechtsquellen, wie
102 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 21. Hier wird klar, dass aš-Šāṭibī mit seinem intra-textuellen Zweckratio-
nalismus den universellen Rationalismus der Muʿtazila, der als solcher in reiner theolo-
gischer Vernunft gründet, ebenso überwindet, wie er die integrative Auffassung der Ašʿariten
in Bezug auf die Werte, die sich mit der Geltung des faktisch Offenbarten zufriedengeben,
zurückweist.
wenn es gemäß den Traditionen und Gebräuchen gegenüber dem Übel mafsada als
abwägend (rāǧiḥa) gilt.107
Der Begriff maṣlaḥa mursala stellt also als Endziel eines Willens, der den
Menschen zu einer Handlung treibt, die Frage nach der Natur des Guten, jedoch
nicht in einem ausschließlich positiven Sinn, wie das bei maṣlaḥa muʿtabara der
Fall ist. Vielmehr geht es bei der Erkennung von maṣlaḥa mursala auch um die
Erfassung ihres negativen Sinns insofern, als der Handelnde in seinem Streben nach
Gütern veranlasst wird, das Übel zu identifizieren und sich im Prozess des
Vollzugszusammenhangs zu fragen, wie dieses vermieden werden könne.
Aš-Šāṭibīs Begriff des Übels ist allerdings nicht mit Hegels Denkinhalt des
Negativen als mächtige Kraft, die die Dialektik des Werdens antreibt, gleich-
zusetzen. Hier läuft das Verständnis vom Übel lediglich auf eine handlungsinhärente
Eigenschaft hinaus, die ausschließlich auf der Ebene der Praxis Relevanz hat.
Deshalb gehört die binäre Relation zwischen „gut“ und „böse“ bei aš-Šāṭibī dem
Bereich der immanenten Güter der Praxis, also von maṣlaḥa mursala, die parallel zu
der rein theologisch aufgefassten maṣlaḥa muʿtabara einen ergänzenden, aus der
Lebenswirklichkeit entspringenden Charakter des Werturteils inne-hat.
Mit Rückgriff auf die fünf grundlegenden zum Lebenserhalt notwendigen Ziel-
setzungen der göttlichen Rechtsordnung fokussiert aš-Šāṭibī den Anwendungs-
bereich von maṣlaḥa mursala auf die weltlichen Kriterien ethischen Urteils, sodass
der Schutz „materieller“ Bedingungen des Lebenserhalts, wie etwa der Schutz des
Eigentums oder der Schutz der Fortpflanzung bzw. Familie gegenüber umstrittenen
eschatologischen Gütern Vorrang genießt. 108 So wird dem Beitrag der Vernunft bei
der Anwendung des religiösen Rechts im praktischen Lebensvollzug ein bedeuten-
des Mitgestaltungsrecht eingeräumt. Die Grenzen zwischen der Sphäre der Sitte und
der des Rechts im göttlichen Sinne des Wortes sind also fließend:
„Die irdischen [diesseitigen] Nutzen und Schäden werden nach dem, was
konventionell überwiegt, gemäß eines Abwägungsprinzips aufgefasst:
107 Ein Urteil, das als maṣlaḥa mursala klassifiziert ist, muss nach al-Ġazālī drei Eigenschaften
aufweisen, um als rechtmäßig gültige Entscheidung akzeptiert zu werden: es muss sich um
ḍarūra (Notwendigkeit) handeln, er muss einen unbestrittenen Charakter bzw. Textbezug
haben (qaṭʿiyya) und sollte die Gesamtheit der islamischen Gesellschaft berücksichtigen
(kulliyya). (Vgl. al-Ġazālī: al-Mustaṣfā, Bd. 1, S. 288.)
108 Als wahrhafter Gläubiger sollte man z.B. nicht aktiv die kriegerische Begegnung mit seinem
Feind anstreben oder wünschen, den Märtyrertod zu erlangen, da dies als Verstoß gegen das
Gebot der Erhaltung von menschlichem Leben gilt. Lebenserhalt genießt gegenüber
eschatologischen Gütern Vorrang, solange die Sinnhaftigkeit des Daseins nicht durch einen
von außen drohenden Verlust des Glaubens gefährdet ist. Der Tod ist und bleibt laut
koranischer Beschreibung ein Unglück, siehe z.B. Q 5:106: „O die ihr glaubt, wenn einem
von euch der Tod naht zu der Zeit, da (er sein) Vermächtnis (macht), (soll) das Zeugnis unter
euch (erfolgen) durch zwei gerechte Personen von euch, oder durch zwei andere, (die) nicht
von euch (sind), wenn ihr im Land umherreist und euch dann das Unglück des Todes trifft
[…].“
zu tun, da die menschliche Handlungswirklichkeit, die sich auf ein Gutes hin
ausrichtet, einen antizipierenden und Gegebenheit überschreitenden Charakter hat,
der für den Verstand nicht ohne weiteres zugänglich ist. Der Schöpfer kennt seine
Schöpfung besser, als diese sich selbst kennt, denn wie es schon im Koran verkündet
wurde (Q 50:16): „Wir haben ja den Menschen erschaffen und wissen, was (alles
ihm) seine Seele einflüstert, und Wir sind ihm doch näher als seine
Halsschlagader“.
Die „Unergründlichkeit“ von Gottes Rechtleitungswegen zum Guten führt aš-
Šāṭibī anhand des Beispiels eines Arztes an, der seinem Patienten ein im Geschmack
bitteres und im Geruch verwerfliches Medikament verabreicht, mit dem Zweck
diesen von seiner Krankheit zu heilen:
„Die Schöpfung wurde auf keinen Fall für das Böse ins Leben gerufen, selbst
wenn das Böse ein Teilbestand ist, so wie ein Arzt, der einem Patienten eine
bittere Medizin verabreicht. Er verabreicht sie dem Patienten nicht wegen der
Bitterkeit und der in ihm enthaltenen Abscheulichkeit, sondern wegen der
von ihm ausgehenden erhofften Heilung und Erholung. So betrachten die
Theologen alle nach einem kausalen [handlungsinternen] Prinzip eintretende
Schäden, deren Ursachen nachvollziehbar sind. Da der Gesetzgeber bei der
Aufstellung der šarīʿa auf das Gute abzielt, kann er nicht gleichzeitig einen
Schaden intendieren, obwohl das Letztere dem Guten [notwendig] inhärent
ist.“113
Dem Konzept maṣlaḥa mursala liegt ein glaubensorientiertes Schöpfungsprinzip
zugrunde: Ebenso wie Gott das Wohlergehen des Menschen anders sieht, als es sich
der Mensch für sich selbst und seinesgleichen vorstellt, wird auch der Mensch mit
dem Hintergrund des Glaubens fähig, das Wohlergehen anders zu betrachten, als er
es aus der Perspektive seines eigenen Begehrens tun würde. So spricht Gott im
Koran zu seinen Dienern (Q 2:216) hinsichtlich ihrer Gefühlsneigungen in folgender
Weise:
„Vielleicht ist euch etwas zuwider, während es gut für euch ist, und vielleicht
ist euch etwas lieb, während es schlecht für euch ist. Allah weiß, ihr aber
wisst nicht.“114
Das höchste Gute im Sinne des Gemeinwohls zeichnet sich vor den allgemeinen
Gütern nicht dadurch aus, dass ihm bestimmte rational nachvollziehbare Interessen
zugrunde liegen, sondern dass in ihm das Wohlergehen auf eine Art und Weise
gewahrt bleibt, dass ihm jegliche Formen eines Objekts des eigenen Begehrens
113 Ebd., Bd. 2, S. 23. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 224.
114 Der Kontext dieser Koranaussage Q 2:216 lautet: „Vorgeschrieben ist euch zu kämpfen,
obwohl es euch zuwider ist. Aber vielleicht ist euch etwas zuwider, während es gut für euch
ist, und vielleicht ist euch etwas lieb, während es schlecht für euch ist. Allah weiß, ihr aber
wißt nicht.“
115 Ausgehend von Q 23:71: „Wenn die Wahrheit ihren Neigungen gefolgt wäre, gerieten die
Himmel und die Erde und wer in ihnen ist, wahrlich ins Verderben. Aber nein! Wir kamen zu
ihnen mit ihrer Ermahnung, sie aber wenden sich von ihrer Ermahnung ab“ unterscheidet aš-
Šāṭibī zwischen Wollen und Begehren.
116 Hierzu kann man zahlreiche Koranverse anführen, z.B. Q 7:31: „O Kinder Adams, legt euren
Schmuck bei jeder Gebetsstätte an und eßt und trinkt, aber seid nicht maßlos! – Er (Allah)
liebt nicht die Maßlosen“; Q 2:223: „Eure Frauen sind euch ein Saatfeld. So kommt zu eurem
Saatfeld, wann und wie ihr wollt. Doch schickt (Gutes) für euch selbst voraus. Und fürchtet
Allah und wisst, dass ihr Ihm begegnen werdet. Und verkünde den Gläubigen frohe
Botschaft“; Q 2:187: „Erlaubt ist euch, in der Nacht des Fastens mit euren Frauen Beischlaf
auszuüben; sie sind euch ein Kleid, und ihr seid ihnen ein Kleid. Allah weiß, dass ihr euch
selbst (immer wieder) betrogen habt, und da hat Er eure Reue angenommen und euch
verziehen. Von jetzt an verkehrt mit ihnen und trachtet nach dem, was Allah für euch
bestimmt hat, und esst und trinkt, bis sich für euch der weiße vom schwarzen Faden der
Morgendämmerung klar unterscheidet! Hierauf vollzieht das Fasten bis zur Nacht! Und
verkehrt nicht mit ihnen, während ihr euch (zur Andacht) in die Gebetsstätten zurückgezogen
habt! Dies sind Allahs Grenzen, so kommt ihnen nicht zu nahe! So macht Allah den
Menschen Seine Zeichen klar, auf dass sie gottesfürchtig werden mögen“.
117 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 20.
118 Vgl. u.a. Q 3:14: „Ausgeschmückt ist den Menschen die Liebe zu den Begierden, nach
Frauen, Söhnen, aufgehäuften Mengen von Gold und Silber, Rassepferden, Vieh und
Saatfeldern. Das ist der Genuss im diesseitigen Leben. Doch bei Allah ist die schönste
Heimstatt.“; Q 79:40-41: „Was aber jemanden angeht, der den Stand seines Herrn
gefürchtet und seiner Seele die [bösen] Neigungen untersagt hat, so wird der
[Paradies]garten [ihm] Zufluchtsort sein.“
Begehren zu verhindern.119 Ohne Beistand durch die Offenbarung kann die Vernunft
zum Sklaven der Leidenschaft werden, wie es bereits in Q 25:43 metaphorisch
erläutert wurde: „Was meinst du wohl zu einem, der sich seine Neigung zu seinem
Gott nimmt? Würdest du denn Sachverwalter über ihn sein können?“
Die Übermacht des Begehrens lässt sich am Beispiel des Sündenfalls des
Propheten Josephs (as) gut zeigen, der laut koranischer Erzählung trotz seiner
prophetischen Berufung beinahe der Verführung der Gemahlin seines
hochvermögenden ägyptischen Gönners nachgegeben hätte, wenn Gott ihm nicht die
Kraft, zu widerstehen gegeben hätte
„Es verlangte sie nach ihm, und es hätte ihn nach ihr verlangt, wenn er nicht
den Beweis Seines Herrn gesehen hätte. Dies [geschah], damit Wir das Böse
und das Schändliche von ihm abwendeten. Er gehört ja zu Unseren
auserlesenen Dienern.“ (Q 12:24)
Durch die Abwendung des Bösen und das Hervorrufen des Guten zielt die šarīʿa
nach aš-Šāṭibī primär darauf ab, die Errichtung des diesseitigen Lebens im Dienste
des jenseitigen Lebens angemessen zu gestalten. Der ultimative Zweck der šarīʿa
besteht darin, die Dienerschaft der Gläubigen gegenüber Gott durch ihre Befreiung
von den eigenen Neigungen, sowie durch eine glaubensorientierte Lenkung des
Begehrens (ahwāʾ) zu erlangen. Deshalb sind die Begriffe maṣlaḥa und laḏḏa
(Lust/Genuss) in der juristischen Sprache nicht austauschbar. Dies gilt auch für die
Begriffe maḍarra (Schaden) und alam (Schmerz).
„Und dies alles ist dadurch zu erklären, dass die Nutzen und Schäden für die
Errichtung dieses Lebens rechtens oder verboten sind und nicht dazu, um
körperliche Bedürfnisse [bzw. Begierden] zu erlangen.“120
Laḏḏa genau wie alam stehen nicht in einem unmittelbaren Verhältnis zu den
religiösen Werturteilen von Gut und Übel, sodass nicht alles, was als gut erkennbar
ist, unbedingt zur diesseitigen Freude führt und nicht alles, was als Übel eingestuft
werden kann, zwangsläufig ein diesseitiges Leiden impliziert. So lässt sich aus dem
o.g. Koranvers ein weiteres Verständnis zum Begriffspaar Freude vs. Schmerz
ableiten, das sich dem Kausalitätsbezug zur Handlungswirklichkeit entzieht. Wenn
jemand krank ist oder eine schlechte Ernte hat, dann geschieht dies nicht aus dem
Grund, dass derjenige gesündigt hat. 121 Mit Glück und Leiden stellt Gott die
119 Nach Hannah Arendt ist der Wille „der Schiedsrichter zwischen Vernunft und Begehren, und
als solcher ist allein er frei.“ Denn „Was auch immer die Vernunft auf der einen Seite mir
sagt, kann überzeugend oder auffordernd sein, meine ‚appetitūs‘auf der anderen Seite
werden als begehrende Reaktionen auf alles verstanden, was auf mich von außen wirkt.“
(Arendt: Über das Böse, S. 104f.)
120 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt Bd. S. 30. Diese Aussage wird mit Rückgriff auf Q 2:16
untermauert. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 224.
121 Die kausale Vorstellung hielt sich in bestimmten theologischen (christlichen wie
islamischen) Denkrichtungen sehr hartnäckig, weil die Tatsache, dass der Mensch nur leide,
Menschen auf die Probe, um ihre Gesinnung zu testen. Dadurch erübrigt sich die in
der babylonischen und hebräischen Geschichte aufgeworfene Frage nach
denjenigen, die unschuldig leiden.
Im Prozess dieser Infragestellung entstand das Bild des leidenden Gerechten,
also desjenigen, der ungerecht leiden muss und hierfür keine Antwort findet. Zu
diesen Gestalten ist auch die Hiobsfigur zu zählen. 122 Als er sich in seiner Not an
Gott wendet, erhält Hiob (Ayyūb) auch hier keine Erklärung für sein Leid. Er wird
lediglich ohne Begründung für das Geschehen von seinem Leiden erlöst.
„Und [auch] Ayyūb, als er zu seinem Herrn rief: ‚Mir ist gewiss Unheil
widerfahren, doch Du bist der Barmherzigste der Barmherzigen. Da erhörten
Wir ihn und nahmen das Unheil, das auf ihm war, von ihm hinweg, und
gaben ihm seine Angehörigen und noch einmal die gleiche Zahl dazu, aus
Barmherzigkeit von Uns und als Ermahnung für diejenigen, die [Uns]
dienen.‘“ (Q 21:83-84)
Doch macht die Grunderfahrung Hiobs dem Menschen sein Unvermögen deutlich,
die Pläne Gottes bei seiner Weltlenkung zu verstehen. 123 Freude und Leiden
korrespondieren zwar nicht mit maṣlaḥa mursala bzw. mafsada mursala, jedoch
sind sie auf der untergeordneten Ebene der bedürfnisbezogenen Güter der Praxis mit
diesen verbunden und unterhalten somit gleichermaßen ein binäres Verhältnis zum
menschlichen Streben und zur göttlichen Intention. Dabei ist Gottes Barmherzigkeit
als Schlüsselbegriff für Freude und Leiden konstitutiv.
Aš-Šāṭibīs Überlegung zum Verhältnis der Gefühlsneigungen und immanenten
Güter der Praxis speisen sich aus der von ar-Rāzī intendierten Relation zwischen
menschlichen Bedürfnissen und der šarīʿa inhärenten göttlichen Weisheit, nämlich
der Barmherzigkeit und Fürsorge. Einem modernen Verständnis von ar-Rāzīs Barm-
herzigkeitsbegriff zufolge entspringt das Begehren aus dem von der Fürsorge bzw.
Barmherzigkeit hervorgerufenen Bewusstsein des „Mangels“, das das Bedürfnis
weil er zur Sünde neige, Gott für unschuldig erklärte. Diesem Denkinhalt liegen zahlreiche
Koranverse zugrunde, wie etwa Q 6:6: „Haben sie nicht gesehen, wie viele Geschlechter Wir
vor ihnen vernichteten, denen Wir auf der Erde eine feste Stellung verliehen hatten, wie Wir
sie euch nicht verliehen haben, und auf die Wir den Regen ergiebig (hinab)sandten, und
unterhalb derer Wir Flüsse strömen ließen? Und da haben Wir sie für ihre Sünden vernichtet
und nach ihnen ein anderes Geschlecht entstehen lassen.“ Es war nicht Gott, der den
Menschen Übel erleiden ließ, sondern der Mensch hatte sich seine Lage selbst verschuldet,
lautet die Antwort der rationalen Theologie. (Vgl. az-Zamaḫšarī: al-Minhāǧ, 15ff.; und für
die moderne theologische Hermeneutik vgl. Paul Ricoeur: La symbolique du Mal. Souillure,
Péché, Culpabilité, Paris 1991, S. 117.)
122 In der christlichen Überlieferung bekommt Hiob, der ungerechtfertigterweise leidet, von
seinen Freunden den Vorwurf gemacht, irgendwann gesündigt zu haben, denn „Wohl aber
habe ich gesehen: Die da Frevel pflügten und Unheil säten, ernteten es auch ein.“ (Hiob 4,8)
123 Für die Rationaltheologie beginnt der Prozess des Verstehens schon mit der Frage, wie alles
angefangen hat um eine Sinnlosigkeit des Bösen zu vermeiden: „Woher kommt das Übel?“
(Vgl. az-Zamaḫšarī: al-Minhāǧ, 27f.)
nach Freuden weckt. Durch dieses Bewusstsein des Mangels nimmt der Gläubige im
Rahmen eines Prozesses der Rückwirkung der Barmherzigkeit auf die ethische
Ausrichtung sich selbst als ein Gemeinschaftswesen wahr.124 Mit dieser, der
Sozialethik folgenden Auffassung der Barmherzigkeit, ist der Übergang vom
selbstbezogenen Eigennutz zum gemeinschaftlichen Gut gemacht. Hier liegt der
Grund für aš-Šāṭibīs Ablehnung Ibn ʿAbd as-Salāms mystischer Überlegungen zum
Begriff des Begehrens, bei dem die spirituelle Freude (laḏḏa wuǧdāniyya) als letztes
Ziel menschlichen Strebens betrachtet wird.
In aš-Šāṭibīs Sozialethik wird die mystische maṣlaḥa als geistige Gotteser-
fahrung in dem Bereich der individuellen Glückseligkeit angesiedelt. 125 Gleichwohl
geht aus aš-Šāṭibīs Haltung eine implizite Zurückweisung der sogenannten ibāḥiyya
(Libertinismus) des Guten hervor, deren von der Sinnlichkeit beherrschten Philoso-
phie Gutheit und Begehren gleichsetzt. Auf das Rechtsdenken aš-Šāṭibīs hatte die
Lehre von ibāḥiyya jedoch kaum einen Einfluss, da diese von vorneherein die
moralische Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen ausschließen.
Für sie vollzögen sich alle menschlichen Handlungen nach einer Vorbestimmung
aus der Ewigkeit her, sodass der Unterschied zwischen Sünden und guten Taten von
der Allmacht Gottes kaum eine Bedeutung beigemessen werde.126
124 Diese Lektüre lässt sich durch den von ar-Rāzī verwendeten Begriff munāsaba (Situationsan-
gemessenheit) bestätigen, der Gegenstand zweier Definitionsansätze bei ar-Rāzī war: Einer
davon betrifft das Handeln des Individuums. Hier hat munāsib die Bedeutung von einer im
menschlichen Handeln bereits grundgelegten ambivalenten Handlungs-Disposition, die
sowohl ins Positive (laḏḏa – Freude/Genuss), wie ins Negative (alam – Schmerz/Qual)
tendieren kann. Der zweite Definitionsansatz hat die Bedeutung von: Angemessenheit bzgl.
des Handelns der Weisen gemäß der Sitte (fī l-ʿāda). Was die Idee des Mangels angeht, so
kann man den Fastenritus als Beispiel nennen. Die Entbehrung, die von den Gläubigen im
Fastenmonat Ramadan erwartet wird, hebt das für den sozialen Zusammenhalt notwendige
Bewusstsein des Mangels hervor. Das u.U. von der Entbehrung hervorgerufene Nach-
empfinden des Mangels wirkt freilich bei der Begründung der Moralnorm des Fastens mit.
(Vgl. ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 237-242.)
125 Beeinflusst durch die spätklassische Mystik (at-taṣawwuf) definiert Ibn ʿAbd as-Salām
maṣlaḥa als spirituelle Freude (laḏḏa wuǧdāniyya). In Ibn ʿAbd as-Salāms Betrachtung des
theologischen Konzepts maṣlaḥa werden Merkmale der juristischen Korrektheit mit den
Eigenschaften der Frömmigkeit vereint. Maṣlaḥa bezeichnet nach Ibn ʿAbd as-Salām nicht
nur laḏḏa und faraḥ, sondern auch alle dazu beitragenden Faktoren einschließlich der Mittel,
einen solchen asketischen Zustand zu erreichen. Auf diese Weise werden die verschiedenen
maṣāliḥ dann in solche des Diesseits und solche des Jenseits aufgeteilt, wobei erstere auch
durch den Verstand erfasst werden können, während letztere nur durch naql (Text, Tradition,
Offenbarung) etabliert werden können. Bei Abū l-Ḥasan aš-Šāḏilī (gest. 656/1259) wird der
Einfluss sufischen Denkens auf das Konzept von maṣlaḥa noch stärker deutlich, dagegen
wirken die Definitionen wenig rational. (Vgl. Ibn ʿAbd as-Salām: Qawāʿid al-aḥkām fī
maṣāliḥ al-anām, Bd. 1, S. 47.)
126 Mit der libertinischen Denkrichtung hatte sich al-Ġazālī in seinen Traktaten zur Widerlegung
der Philosophie ausführlich auseinandergesetzt. (Vgl. Abū Rīdah: Al-Ġazālī und seine
Widerlegung der griechischen Philosophie, S. 56f.) Al-Ġazālī sah im sogenannten
Libertinismus ein Zeichen der sittlichen und geistigen Dekadenz, die es zu bekämpfen gilt.
Dem Begehren nachgeben entspräche lediglich der niederen Natur des Menschen
und seiner von Gott erschaffenen schwachen, von der Sinnlichkeit beherrschten
Seele. Von den Libertinern könnte daher folgender Spruch stammen: „Glück ist
einigermaßen das, was dem Vorwärtsdringen der Begierde Einhalt gebietet“, 127
wobei die Mystiker eine solche Aussage annehmen würden, wenn damit ihre Auf-
fassung von Begierde gemeint wäre.
Beim Konzept der maṣlaḥa mursala wird das Begehren im Prozess der Urteils-
findung als natürliches Vermögen vom Willen und Verstand beherrscht, wobei dem
Willen als individuelles freies Vermögen die glaubensorientierte niyya vorausgeht.
Der Verstand steht dabei als eine gemeinsame Eigenschaft aller Vernunftswesen im
Zentrum des sittlich-konventionellen Werturteils.128 Die theologisch-ethische Deu-
tung von maṣlaḥa mursala begreift es als Ergebnis eines evolutionären gemein-
schaftlichen Prozesses, der aus sich heraus auf eine neue Ebene der zwischen-
menschlichen Interaktion von Eigennutzorientierung zum Gemeingut übergeht:
„Und unter ihnen gibt es einige Menschen, die sagen: Die Nutzen und die
Schäden des Jenseits können nur durch das göttliche Recht erkannt werden.
Und was die diesseitigen angeht, so werden sie durch die aufgrund von
Lebensumständen bedingten Handlungen, Lebenserfahrungen, Sitten und
systematisches Denken erkannt […]. Derjenige, der den Abwägungsprozess
zwischen Nutzen und Schäden dem Kontext gemäß erkennen will, sollte
dieses anhand seiner Vernunft beurteilen. Angenommen, der Gesetzgeber
hätte sich nicht dazu geäußert, so könnte er dann auf ihrer Grundlage [, sprich
Abwägung,] Moral- und Rechtsnormen aufbauen. Auf diese Weise werden
sie kaum vom [vermeintlichen] Ziel des Gesetzgebers abweichen, mit
Ausnahme der gottesdienstlichen Handlungen, deren Nutzen und Schäden
nicht auf den ersten Blick erkennbar sind […]. Und wie bereits erwähnt, ist
dieses auch Gegenstand einer [anhaltenden] Diskussion, denn was das
Jenseits angeht, so kann man dessen Angelegenheiten lediglich durch die
Offenbarung erkennen.“129
Durch gemeinsame Sitten – und nicht etwa durch zwingende Rechtsnormen – ist
nach aš-Šāṭibī die Idee des sittlichen Guts (maṣlaḥa mursala) für die Gemeinschaft
grundlegend gekennzeichnet. Maṣlaḥa mursala ist somit ein grundlegender
Relationsbegriff zwischen dem höchsten Gut und dem diesseitigen körperlichen
Wohlergehen. Das Erlangen des diesseitigen Guten resultiert nach aš-Šāṭibī nicht
ausschließlich aus der moralischen Autorität der religiösen Norm, sondern orientiert
127 Vgl. Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 204. Dem gleichen Gendankengang begegnet
man in Abū Rīdah: Al-Ġazālī und seine Widerlegung der griechischen Philosophie, S. 57ff.
128 Wo aber die soziale Wirklichkeit pluralistisch und nicht mehr im Sinne einer Konvention
verlässlich ist, wird die offenbarungsgestützte Abwägung im Kontext des Handlungsumfelds
zu einer unentbehrlichen Prozedur für die Urteilsfindung.
129 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 46f. Bd. 2, S. 37. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S.
224.
130 Diese Sichtweise wird von der heutigen sogenannten Situationsethik unterstrichen. (Vgl. u.a.
Joseph Fletscher: Situation Ethics. The New Morality, Louisville/London 1966, S. 80-86;
Johannes Fischer u.a.: Grundkurs Ethik. Grundbegriffe philosophischer und theologischer
Ethik, Stuttgart 2008, S. 230.)
131 Moderne muslimische Theologen, wie Yūsuf al-Qaraḍāwī, verwenden bis heute die tarǧīḥ-
Prozedur, indem sie bei der Anpassung der Moral- und Rechtsnormen an die aktuelle
Lebenssituation der Muslime immer wieder ähnliche abwägende Fragen formulieren, die
bereits von aš-Šāṭibī im 8./14. Jh. entworfen worden sind, wie z.B.: Welches Interesse ist
größer, welches ist kleiner? Welches kommt einem weiteren Personenkreis zugute, welches
einem engeren? Welches wirkt sich tiefgehender aus, welches weniger tiefgehend? Welches
ist von längerer, welches von kürzerer Dauer? etc. Zur Rezeption der islamischen
abwägenden Vernunft in der Moderne (Vgl. Rotraud Wielandt: Offenbarung und Geschichte
im Denken moderner Muslime, Franz Steiner Verlag, Bd. 25, S. 49ff. u. 70ff., Wiesbaden
1971).
fragen, wer durch den in einer Handlungssituation sich ergebenden Schaden zur
Rechenschaft gezogen wird. Bei der Urteilsfindung im Falle von maṣlaḥa mulġāt
handelt es sich zwar im Allgemeinen um Güterabwägung im Blick auf möglichen
Schaden bzw. Nutzen, da diese in der Praxis ineinander verwoben sind, es ist jedoch
kein einfaches Unterfangen, die „Schuldfrage“ im Handlungsgeflecht eindeutig zu
beantworten. Genau auf dieser Ebene scheint die Kategorie der abrogierten Güter als
analytischer Begriff zu greifen.
Die Bedeutung des Begriffs des abrogierten Interesses zeigt sich in besonderem
Maße in der Diskussion um das Alkohol- und Glücksspielverbot, die beide Nutzen
und Schaden nach sich ziehen. Die aus dem Koranvers zu Alkoholkonsum und
Glücksspiel abgeleiteten Rechtsnormen wurden nach aš-Šāṭibī auf der Grundlage
einer Abwägungsanalyse als verbindlich erklärt. Da die Aufbewahrung der
intellektuellen Fähigkeit und der damit verbundenen menschlichen Urteilskraft
gegenüber dem durch den Weingenuss erstrebten Interesse, wie etwa Heiterkeit,
Entspannung oder intensive Lebenslust, den Vorzug verdient, werden sämtliche dem
Alkoholkonsum zugeordneten „Nutzen“ aus dem Repertoire des Guten ausgeschlos-
sen. Das „abrogierte Gut“ (al-maṣlaḥa al-mulġāt) lässt sich anhand einer Abwägung
eventueller negativer Folgewirkungen verschiedener Handlungsoptionen gegenein-
ander abgrenzen132. Die bezüglich der genannten abrogierten Güter formulierte
Rechtsnorm sollte nach aš-Šāṭibī jedoch auf die einzelnen und vom Gesetzgeber
bezeichneten Handlungssituationen eingeschränkt werden. Lebensfreude oder
finanzieller Gewinn sind als solche nicht von der aus dem Koranvers zum
Alkoholkonsum und Gewinnspiel abgeleiteten Rechtsnorm betroffen. 133
Andersherum ist die Einnahme des Alkohols als chemische Substanz in
Arzneimitteln erlaubt. Denn von der Handlung, in der ein Schaden vermutet wird,
wird offenbar vorausgesetzt, dass deren Vollzug in der Lebenswelt adäquat von der
Moral- und Rechtsnorm her geordnet werden soll. Beim Alkohol- und Glücksspiel-
verbot geht es um die Festlegung der Grenzen eines Spielraumes und nicht
unbedingt um das Verbot einer Substanz oder Handlung an sich. Hier zeigt sich der
tiefgründige soziale Charakter von aš-Šāṭibīs Analyse. Berauschende und betäubend
wirkende Mittel zu sich zu nehmen oder sich Glücksspielen zu widmen, bedeutet,
Ungutes für sich und für die anderen bewusst in Kauf zu nehmen, das objektiv in
Schuld verwickelt, selbst wenn der womöglich zum Übel führenden Handlung eine
gute Absicht vorausgeht. Dieser Deutung liegt eine Aussage des Propheten (sas)
zugrunde, in der vor möglichen Verfehlungen zweifelhafter Handlungen gewarnt
wird, die üble Folgen nach sich ziehen könnten:
134 Muslim ibn al-Ḥaǧǧāǧ (gest. 261/875): Ṣaḥīḥ Muslim, hg. von Naẓr ibn Muḥammad, 2 Bde.,
Riad 2006, Bd. 2, S. 750, Hadith-Nr.1599.
und ihm ein weiter Abstand wäre. Und Allah mahnt euch zur Vorsicht vor
sich selbst. Allah ist gnädig zu den Menschen.“ (Q 3:30)
Das Sündenbekenntnis ist insofern eine schmerzhafte Erfahrung, als es das
Schuldgefühl ausdrückt, mit dem der Mensch leben muss und das ihn seine
Nichtwürdigkeit spüren lässt. So führt die Frage nach der Schuld zur Frage nach
ihrem Verhältnis zum Selbst. Die Erfahrung, die ein Gläubiger im Sündenbekenntnis
eingesteht, offenbart seinen frommen Wunsch, sich vom Sündhaften als vergäng-
liches Inzident des Selbst zu distanzieren. Und dieses Gefühl wird sprachlich in
folgender Form umgesetzt: „Die Sünde macht mich mir selbst fremd.“ 135
135 Hier handelt es sich um eine Steigerung der Aussage Paul Ricoeurs: „Die Sünde macht mich
mir selbst unverständlich.“ (Vgl. Paul Ricoeur: Spirituelle Intelligenz: Glaube zwischen Ich
und Selbst, Freiburg/ Breisgau 2005, S. 53)
1 Erzählen bedeutet, so Paul Ricoeur: „[…] einen imaginären Raum von Gedankenexperimenten
auszuarbeiten, in denen das moralische Urteil im hypothetischen Modus durchexerziert wird“.
(Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 200.) Indem sie den Charakter narrativisiert, gibt die
Erzählung ihm seine Bewegung zurück, die in den erworbenen Dispositionen und den
sedimentierten Identifikationen mit verschwunden war. (Vgl. u.a. Stefan Scharfenberg:
Narrative Identität im Horizont der Zeitlichkeit. Zu Paul Ricoeurs ‚Zeit und Erzählung‘,
Epistemata 2011, S. 402ff.)
2 Demnach korrespondiert die ethische Ausrichtung als Sinnsuche mit dem ursprünglichen
semantischen Gehalt des arabischen Begriffs für Religion „dīn“, der so viel wie „Kredit“
bedeutet. Mit Rückgriff auf diese etymologische Konvention wird dieser Begriff häufig durch
den Ausdruck „Sinnkredit“ gedeutet. Eine solche Hypothese scheint durchaus vertretbar, wenn
man den Begriff Sinn als etwas versteht, was dem Leben seinen Wert und Zweck gibt. (Vgl.
Ricoeur: Das Selbst als ein Anderer, S. 33; Lutz: Der hoffende Mensch, S. 197.)
3 Vgl. Q 2:62: „Gewiss, diejenigen, die glauben, und diejenigen, die dem Judentum angehören,
und die Christen und die Säbier - wer immer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt und
rechtschaffen handelt, – die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn, und keine Furcht soll sie
überkommen, noch werden sie traurig sein.“; Q 2:130: „Wer wird das Glaubensbekenntnis
Ibrahims wohl verschmähen außer dem, der selbst betört ist? Wir haben ihn (Ibrahim) ja
bereits im Diesseits auserwählt, und im Jenseits gehört er wahrlich zu den Rechtschaffenen.“;
Q 3:39 „Und da riefen ihm die Engel zu, während er betend in der Zelle stand: ‚Allah
verkündet dir Yahya, ein Wort von Allah zu bestätigen, einen Herrn, einen Keuschen und
Propheten von den Rechtschaffenen.“; und als Bezeichnung für Jesus in Q 3:45-46: „Als die
Engel sagten: ‚O Maryam, Allah verkündet dir ein Wort von Ihm, dessen Name al-Masīḥ ʿIsā,
der Sohn Maryams ist, angesehen im Diesseits und Jenseits und einer der (Allah)
Nahegestellten. Und er wird in der Wiege zu den Menschen sprechen und im Mannesalter und
einer der Rechtschaffenen sein.‘“ Mit „Rechtschaffenen“ wird hier die Übersetzung des aus
dem Verb ṣaluḥa (tugendhaft sein) abgeleiteten Aktivpartizips ṣāliḥ gemeint, das zur selben
Wurzel wie maṣlaḥa gehört und in Verbindung mit dem Begriff ʿamal (Handlung/Werk)
semantisch dem Denkinhalt des Tugendhaften ähnlich ist. Eine Verbindung zwischen dem Sein
und Handeln findet man vielerorts im Koran z.B. Q 20:15: „Gewiss, die Stunde kommt – Ich
hielte sie beinahe (ganz) verborgen –, damit jeder Seele das vergolten wird, worum sie sich
bemüht.“; Q 53:39: „Und dass es für den Menschen nichts anderes geben wird als das, worum
er sich (selbst) bemüht“; Q 74:38: „Jede Seele haftet für das, was sie erworben hat.“
4 Im modernen Sprachgebrauch kann im Anschluss an Paul Ricoeur festgehalten werden, dass
durch die koranische Erzählung eine narrative Einheit des Seins ausgearbeitet wird, die die
Beständigkeit in der Zeit des Charakters und diejenige der Selbstständigkeit zusammenhält.
(Vgl. Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 203; Lutz: Der hoffende Mensch, S. 83.)
5 „Das Festlegen von Gesetzmäßigkeiten ist indes für das Wohlergehen der Menschheit [...]
sowohl für die Gegenwart, als auch für die (eschatologische) Zukunft.“ (Aš-Šāṭibī: al-
Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 4.)
6 Vgl. Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 194.
7 Als Sinnsuche kann die Ausrichtung auf das Gute nicht über das irdische Glück gefasst werden.
Es ist nach K. Riesenhuber: „weder nur faktischer Endpunkt oder Wirkung des Strebens, noch
resultiert Gutheit aus der Emotion, der Präferenz oder Werteentscheidung des autonomen
Subjekts; vielmehr weiß das Streben sich selbst nach seiner Intentionalität, Wesensprägung das
Wirkmächtigkeit (causa efficiens) als der Zielursächlichkeit (causa finalis) des an sich Guten
„Und einer [jeden] Seele und Dem, Der sie zurechtgeformt hat. Und ihr dann
ihre Sittenlosigkeit und ihre Gottesfurcht eingegeben hat! Wohl ergehen wird
es ja jemandem, der sie läutert, und enttäuscht sein wird ja, wer sie
verkümmern lässt.“ (Q 91:7.10)
Die koranische Offenbarung, die die Grundlage von aš-Šāṭibīs Überlegung zum
Guten bildet, identifiziert daher die Frage des Wohlergehens mit der Frage nach der
Läuterung der Seele, die im intentionalen Ansatz einer Art Selbstauslegung
nahekommt. Der handlungsmäßige Zug, der sich aus der Läuterung der Seele ergibt,
läuft auf ein an der Offenbarungsintention orientiertes Dasein hinaus. Der
ursprüngliche Inhalt und Gegenstand der Ausrichtung auf das Gute wird durch ihre
Verbindung zur Intention göttlicher Rechtsordnung transzendiert, indem das Gute
nicht primär in den immanenten Gütern der Praxis gesucht wird, sondern in der
Erkundung einer ethischen Absicht. So gesehen kann die Ausrichtung auf das Gute
über die Intentionssuche als Sinnsuche gefasst werden. Dabei eröffnet sich eine
Perspektive, im offenbarten Wort Gottes die Grundvoraussetzung für ein
einheitliches Dasein als Gläubiger zu sehen, das durch die im Koran erzählten
Prophetenbiographien und Heilsgeschichten rückblickend nachträglich organisiert
und als „narrative Einheit“ zusammengefasst wird.8
Wenn die Erzählung dazu beiträgt, dem in Handlungsfragmente verstrickte
Dasein (d.h. Selbigkeit)9 durch die Errichtung einer narrativen Identität zu einem
einheitlichen Selbst (d.h. Selbstheit) zu verhelfen, so bestünde die Rolle der
Offenbarung darin, dem in der narrativen Identität verankerten Verantwortungs-
bewusstsein einen ethischen Rahmen zu verleihen.10 Die verantwortungsethische
Dimension des Selbst ergibt sich aus der Charaktereigenschaft der Handlungs-
interaktion, die durch eine Asymmetrie zwischen dem, der tut, und dem, der leidet,
gekennzeichnet ist.11 Die šarīʿa führt die aus der sozialen Interaktion entstehenden
Rollen des Tuns und Erleidens in das Feld von Bewertung und Entlohnung ein,
verdankt.“ (Karl Riesenhuber: „Gut, das Gute. I. Philosophisch“, in: Walter Kasper (Hg.):
Lexikon für Theologie und Kirche, 11 Bde., Freiburg i. Br., 1995, Bd. 4, S. 1113f.)
8 Hierzu vgl. Alasdair MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der
Gegenwart, Darmstadt 1988; Paul Ricoeur geht in diesem Zusammenhang weiter, indem er
betont: „Wie könnte schließlich ein Handlungssubjekt seinem eigenen, als Ganzes
genommenem Leben eine ethische Qualifikation verleihen, wenn dieses Leben nicht
zusammengefasst wäre, und wie könnte es zusammengefasst sein, wenn nicht genau in Form
einer Erzählung?“ (Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 7.)
9 Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, Wiesbaden, 2004.
10 Die narrative Identität hält nach Paul Ricoeur: „[…] beide Enden der Kette zusammen: Die
Beständigkeit in der Zeit des Charakters und diejenige der Selbstständigkeit“, wobei letztere,
auch als Pol der reinen Selbstheit bezeichnet, voraussetzt, dass sich die Person so verhält, „dass
der Andere auf sie zählen kann. Weil auf mich jemand zählt, bin ich einem anderen über meine
Handlungen Rechenschaft schuldig.“ (Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 202f.)
11 Es handelt sich bei diesen Handlungsinteraktionsbezügen um Wechselbeziehungen, die als
Handlungsumfeld die Menschen veranlassen, entweder selbst in das Handlungsgeflecht
einzuwirken oder unter Einwirkung anderer zu stehen. Heinz E. Tödt fasst diesen Prozess
„indem der Erleidende als Empfänger von Verdientem oder Opfer von
Unverdientem erscheint, je nachdem, ob der Handelnde sich parallel hierzu
als Verteiler von Belohnungen oder Strafen erweist.“ 12
folgendermaßen zusammen: „Vom Handeln sprechen wir, wenn die Einwirkung des Menschen
´nach außen´ überwiegt; vom Leiden, wenn die Einwirkung ´von außen´ überwiegt, wenn also
das Erfahren oder die Macht der Widerfahrnisse das Übergewicht hat.“ (Tödt: Perspektiven
theologischer Ethik, S. 28.) Die in meiner Arbeit aus der islamischen Tradition inspirierte
Relation zwischen „Sein“ und „Handeln“ wird von Heinz E. Tödt aus einer christlichen
Perspektive folgendermaßen erklärt: „Im Handeln wie im Erleiden steht jeweils die
Bestimmtheit des Selbstseins, die Identität, auf dem Spiel. Es geht jedem Menschen darum, ein
Selbst zu sein, Identität zu gewinnen.“ (Ebd., S. 28.)
12 Paul Ricoeur (Vgl. Paul Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 179-193.) geht jedoch an
diesem Stadium seiner Hypothese nicht von einem religiösen Hintergrund der ethischen
Bewertung aus. Er vertritt eher die Idee Walter Benjamins, der zufolge die narrative Funktion
ohne ethische Implikation unvorstellbar wäre. Dies lege bereits „die Verwurzelung der
literarischen in der mündlichen Erzählung auf der Ebene der Präfiguration der Erzählung
nahe.“ (Walter Benjamin: „Erzählen als Erfahrungsaustausch“, in: Ders.: Gesammelte
Schriften,7 Bde., 1988-1999, Frankfurt a.M., Bd. 1.2, 1989, S. 691-704.) Hierzu vgl. auch
Martin Heidegger: „Einleitung in die Phänomenologie der Religion [WS 1920-1921]“, in:
Ders.: Phänomenologie des religiösen Lebens. Gesamtausgabe, 102 Bde., Frankfurt a. M. 1950,
Bd. 60, S. 1-156. Beim authentischen „Gläubigen-Dasein“ von Paulus handelt es sich nach
Martin Heidegger um ein komplexes Werkzeug der persönlichen Existenz, dessen Intensität
eine totale, radikale und einmalige Rekonfiguration der Lebenswelt hervorruft. (Vgl. Sylvain
Camilleri: „Heidegger, lecteur de Saint Paul“, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und
Theologie 2011, S. 58.)
ist somit der Schutz und die Erhaltung der Handlungen, die hauptsächlich ein hohes
Gemeinwohl bringen, und ein Verbot der Handlungen, die hauptsächlich unnötige
Schwierigkeiten oder Hindernisse produzieren. Der Schutz der notwendigen
Lebensgrundlagen und das Abwenden des mit einer Handlung verbundenen
Schadens gestalten sich im Rahmen eines gegenseitigen Einflusses, der einer
glaubensorientierten Überlegung des Guten für die Gemeinschaft (und wohl gemerkt
nicht ausschließlich für den Einzelnen) folgt.
Dass es sich hierbei um ein Paradigma handelt, das nicht auf das Dasein des
Selbst beschränkt ist, lässt sich dadurch erschließen, dass die Intentionstheorie in ein
theologisches System integriert ist, das stimmig das reale Leben erfasst, und damit
aber auch auf das Jenseits vorbereitet. Von diesem transzendental begründeten
Ethikbegriff hängt jedoch das Verständnis von aš-Šāṭibīs Gedankengerüst ab,
insofern als die in seiner Konzeption des Guten formulierte enge Verbindung
zwischen Dies- und Jenseits sich nicht einem bloßen irdischen Gemeinwohl
unterordnen lässt.13 Indem dieser theologische Ansatz einen Dualismus zwischen
Glauben und Realität zurückweist, schafft er einerseits die Bedingung, durch eine
unauflösliche Verbindung zwischen Transzendenz und Gemeinschaft den im
damaligen Andalusien drohenden Zerfall des Sozialgefüges zu überwinden.
Andererseits eröffnete er durch die in der Maxime „Schutz des Selbst“ verankerte
Idee der göttlichen Schöpfungsabsicht die Perspektive für eine ausdehnbare Einheit
zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen, die dem Begriff des Individuums
bzw. des Selbst eine andere, überzeitliche Dimension verleiht.
4.3. Vom Schutz der Seele zur sozialen Verantwortung des Selbst
Auf der Ebene der ethischen Ausrichtung kann der Schutz der fünf notwendigen
Lebensgrundlagen nur gewährleistet werden, wenn sie sich nicht in einer
Gegensatzbeziehung zueinander befinden, da sie sich aš-Šāṭibīs Annahme zufolge
ergänzen und in einem interaktiven Verhältnis zueinanderstehen sollen. Bruchstellen
innerhalb dieser Kategorien führen zu Chaos und Unordnung, da sie sich nicht nur
untereinander, sondern auch mit den Praktiken dialektische Relationen unterhalten.
Aus diesem Grund stehen die mit den „Notwendigkeiten“ verbundenen
Handlungsfelder in unmittelbarer juristischer Beziehung zu den strengsten
Rechtsnormen, wie ḥarām oder wāǧib. Es stellt sich aber die Frage, wie sich die
Verhältnisse zwischen den zu schützenden Lebensgrundlagen zusammensetzen. Es
13 Eine ähnliche Auffassung vertritt Karl Riesenhuber, indem er beteuert: „Kommt so Gutheit
primär dem Seienden in sich selbst zu, sofern es sich in seinem Wesen und Sinnziel verwirklicht
hat (gut in sich: perfectum), so besteht Gutheit grundlegend im Sein selbst als sich aus
unbedingter Sinn- und Wesensfülle verwirklichendem Akt. Sein und Gutheit sind daher nicht als
Faktizität und Wert radikal verschieden, sondern obwohl begrifflich unterschieden, ontologisch
identisch.“ (Riesenhuber: „Gut, das Gute. I. Philosophisch“, in: Lexikon für Theologie und
Kirche. Bd. 4, S. 1113-f.)
gilt eine Hierarchie der fünf Intentionen aufzuweisen, die auf einem Organisations-
prinzip beruhen soll, das gleichermaßen die spezifische Beschaffenheit jeder Ab-
sichtskategorie und deren Verhältnis mit den anderen berücksichtigt.
So gesehen dürfte sich z.B. der Schutz des Selbst nicht auf das allgemein von
den Gelehrten hervorgehobene Gebot in Q 6:151 beziehen: „[…] und tötet nicht die
Seele, die Allah verboten hat (zu töten), außer aus einem rechtmäßigen Grund
[…]“. Vielmehr handelt es sich um ein Gebot, das dem Oberbegriff der „Fürsorge“
und „Barmherzigkeit“ untergeordnet werden soll, das u.a. aus dem Gebot in Q 6:98:
„Und Er ist es, Der euch aus einem einzigen Wesen / Selbst hat entstehen lassen
[…]“ hervorgeht.
Einer solchen „transitiven“ Erklärung des Selbst steht jedoch die Gefahr der von
den Mystikern vorausgesetzten vermeintlichen Reflexivität von nafs im Wege.
Dieser sicherlich bestehenden Gefahr zum Trotz beteuert die Glaubenslehre, allen
voran die von ar-Rāzī bzw. al-Ġazālī, in Anlehnung an die Rationaltheologie, dass
Fürsorge und Verantwortungsbewusstsein nicht von außen zum Selbst hinzukomme,
sondern dass sie ihre im Koran und im Hadith verankerte und bisher übergangene
Heteronomie entfalte.14
Die Einführung des Begriffs der Fürsorge in den Begriff des Selbst suggeriert
unmissverständlich die Existenz eines Anderen, der nach den Mystikern aus der
kosmischen Einheit des Seins bestehe. Vor diesem Hintergrund sollte die Aussage
des heiligen Korans verstanden werden, dass alle Menschen aus einem einzigen
Selbst (Seele) entspringen. Das Paradoxon, das sich in der Ethik aus der Entzweiung
des Selbst in einem autonomen und einem heteronomen Aspekt ergibt, konnte von
aš-Šāṭibī mit Rückgriff auf die mystische Tradition Ibn ʿArabīs überwunden werden,
der zufolge die Unterscheidung zwischen den zwei Dimensionen des Begriffs nafs,
nämlich „Selber“ (als Substanz) und „Selbst“ (als Essenz) eine Kontinuität zweiten
Ranges offenbart, die grundsätzlich der Interaktion menschlichen Handelns im
Diesseits inhärent ist.15
Die Wurzeln des islamisch-theologischen Begriffs einer „ethischen Selbstheit“
lassen sich bis zu ar-Rāzīs Epoche zurückverfolgen. In seiner Abhandlung Das
Selbst und die Seele (an-nafs wa-r-rūḥ) unterscheidet ar-Rāzī zwischen zwei Ebenen
des Seins: nafs und rūḥ. Im Gegensatz zum Begriff nafs, der auf eine gewisse
ethische Implikation hindeutet, bezeichnet das Konzept rūḥ lediglich eine mit der
Leiblichkeit verbundene Eigenschaft der Autonomie im Sinne einer innigen
Fähigkeit zum selbstständigen Handeln. Bei rūḥ handelt es sich nach ar-Rāzī um
14 Vgl. Tariq Jaffer: „Fakhr al-Dīn al-Rāzī on the Soul (an-nafs) and the Spirit (al-rūḥ)“, in:
Journal of Qur’anic Studies 16/1 (2014), S. 93-119. Ar-Rāzī erläutert hinsichtlich des
Verhältnises zwischen dem Selbst und dem Anderen folgendes: “das potentielle Wesen
(Dasein) kann nur aufrgrund der Existenz eines anderen (seines Gegenübers) existieren und je
mehr dieses Wesen dem Anderen seine Existenz widmet, umso faktischer wird die Existenz des
ersteren für den zweiten“ (Vgl. Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī: Kitāb an-nafs wa-r-rūḥ wa-šarḥ
quwāhimā, S.21.)
15 Vgl. hierzu auch ar-Rāzī: Kitāb an-nafs wa-r-rūḥ wa-šarḥ quwāhimā, S.46.
16 „Sie fragen dich nach dem Geist. Sag: Der Geist ist vom Befehl meines Herrn, euch aber ist
vom Wissen gewiss nur wenig gegeben“.
17 Nach Tariq Jaffer liegt dieser Auffassung des Begriffs rūḥ ar-Rāzīs Auslegung von Q 17:85
zugrunde. Ar-Rāzīs Auslegung richtete sich, nach Tariq Jaffer, gegen die Traditionen der
falsafa und des kalāms, indem er eine materialistische Lehre der Seele aus dem Stoizismus
übertrug und Elemente der Theorie Abū Isḥāq an-Naẓẓāms miteinbezog. (Ar-Rāzī: Kitāb an-
nafs wa-r-rūḥ wa-šarḥ quwāhumā, S. 97f.)
18 Ar-Rāzī: Kitāb an-nafs wa-r-rūḥ wa-šarḥ quwāhumā, S. 57.
19 Folglich leiten, nach ar-Rāzī, Augen und Ohren das, was sie sehen und hören, an das Herz
weiter, das dann über das Gehörte und Gesehene entscheidet. Auch der Glaube wird dem
Herzen zugeschrieben (Q 5:41, 16:106, 49:14, 58:22). Auch verschiedene Hadithe weisen
darauf hin, dass das Herz der Sitz des Wissens und des Glaubens ist.
Ethiktheorie schlussfolgern, dass das Herz als Ort des Gewissens im Mittelpunkt des
Prozesses der Bezeugung steht.20
4.4. Schlussbetrachtungen
In den vorangegangenen Ausführungen dürfte klargeworden sein, dass bei einem
weit gefassten Verständnis von maqāṣid als Prinzipien theologischer Ethik, die
Ausarbeitung ethischer Begriffe aus den rechtstheoretischen Konzepten kaum
Probleme aufwirft. Die Interpretation der Maxime des Schutzes des Selbst als
ethisch-theologische Kategorien, deren Gegenstand die Definition einer ethischen
Selbstheit, zu deren Vervollkommnung das Gemeinwohl als Schlussstein ethischer
Ausrichtung und als Zielsetzung des Daseins beiträgt, hilft die Begriffe der Rechts-
theorie vom rein deontologischen Rahmen, in dem der fiqh sie seit Jahrhunderten
gefangen hielt, zu befreien, um ihre Bestimmung für eine Ethiktheorie hervorzuhe-
ben.
Inwiefern spiegelt sich das Gemeinwohl als Offenbarungsabsicht in den Moral-
und Rechtsnormen der šarīʿa wider? Um diese Frage zu beantworten, bedarf es
einer ethisch-diskursiven Untersuchung der Rechtsnormen im Hinblick auf die in
ihnen implizierten Sprechakte. Durch eine Sprechaktanalyse der Rechtsbestim-
mungen zeichnet sich nun eine Interpretationsperspektive zwischen Barmherzigkeit
als ultimativem Ziel der Offenbarung und den einzelnen Rechtsurteilen ab, die zur
Regelung des praktischen Lebens aller Gläubigen errichtet sind. Das Gemeinwohl
ist für aš-Šāṭibī nicht etwas, was sich der kausalen Verkettung von außen oder von
oben in Gestalt eines moralischen Zwanges aufdrängt, sondern steht hierbei am
Anfang eines jeden Handlungsprozesses als Anhaltspunkt einer Entscheidung
ethischer Natur, die durch ihre finalbedingte Eigenschaft kausal verbundenen
Handlungen als Konfigurationseinheit dient. Die Rechtsnormen (aḥkām) spiegeln
hingegen lediglich begrenzte, wenn auch berechtigte und sogar unumgängliche,
Faktoren zur Verwirklichung des Gemeinwohls wider.21 Die moralischen Regeln
20 Das Herz ist nach ar-Rāzīs Argumentation das erste Organ, das im menschlichen Körper
entsteht und damit der Führer des Körpers. Die Seele strömt durch das Herz in den restlichen
Körper. Intelligente Menschen behaupten, sie können nur durch ihr Herz wissen und erkennen.
Das Herz ist somit der Ort des Wissens, der Ort der Intention des Wissens und der Willenskraft
für die Bewegung. Vgl. ar-Rāzī: Kitāb an-nafs wa-r-rūḥ wa-šarḥ quwāhumā, S. 52-60.
21 Bei der bisher in der Rechtstradition am Rande vermerkten thematischen Trennung der
Rechtsnormen (kitāb al-aḥkām) von den „Intentionen der šarīʿa“ (kitāb al-maqāṣid) in aš-
Šāṭibīs Werk al-Muwāfaqāt handelt es sich nicht nur um einen taxonomischen
(klassifikatorischen) Vorgang. Vielmehr hat man es hier mit einem in der islamischen
Geschichte einmaligen innovativen Rechtsverständnis zu tun, das darin besteht, den
teleologischen Aspekt vom deontologischen Moment der šarīʿa eindeutig zu differenzieren, mit
allen Implikationen, die mit einem solchen methodischen Schritt verbunden sind. In diesem
scheinbar rein klassifikatorischen Vorgang liegt die Begründung für den Primat der Ethik
gegenüber der Moral, bzw. der Ausrichtung gegenüber der Norm.
(aḥkām šarʿīyya) schreiben sich in den weiteren Kreis derjenigen Vorschriften ein,
die eng mit den Praktiken „allgemeine aḥkām bzw. asbāb“ verbunden sind, zu deren
Eingrenzung sie beitragen.22
Auf der Ebene zeitgenössischer Gesellschaftsordnung schöpft diese zweite
ethische Maxime der šarīʿa „Schutz des Selbst“ ihre Daseinsberechtigung aus dem
Begriff der Menschenwürde, wenn dem letzteren ein überpositives, vorstaatliches
Fundament zuerkannt werden kann. 23 Der aufklärerischen Rekonstruktion der Idee
der Menschenwürde aus dem islamischen Glauben liegt häufig der Koranvers Q
17:70 zugrunde:
„Und gewiß, bereits verliehen Wir den Kindern Adams Würde, Wir haben sie
auf dem Festland und auf dem Meer getragen und sie von den guten Dingen
versorgt, und Wir haben sie vor vielen von denen, die Wir erschaffen haben,
eindeutig bevorzugt.“
1 (Vgl. Graf: Moses Vermächtnis, S. 23). Hier lassen sich nach Friedrich W. Graf grundsätzliche,
religionsübergreifende Ähnlichkeiten im Prozess des Verständnisses des göttlichen Schö-
pfungsgesetzes erkennen. „Zumal in den drei monotheistischen Weltreligionen, im Judentum,
Christentum und Islam, bergen die jahrtausendealten Motivspeicher Konzeptionen eines ius
divinum, die in Metaphern von hoher, bis in die Gegenwart wirkungsmächtiger Suggestivkraft
zwei religiöse Imaginationsmuster eng miteinander verknüpfen: Gott als Schöpfer und Gott als
Gesetzgeber.“ (Graf: Moses Vermächtnis, S. 22.). Die islamische Idee der Gleichsetzung
göttlicher Rechtsordnung (šarʿ) mit der Anerschaffenheit (fiṭra) kommt der talmudischen
Weisheit näher, die die Tora als göttliche Normenlehre mit einem in der Präexistenz vom
Schöpfergott eingeschriebenen Nomos identifiziert. (Vgl. Graf: Moses Vermächtnis, S. 22-25.)
Im rabbinischen Judentum wird ḥalaḫa, wie šarīʿa, als Weg der Rechtleitung, „mit dem der
Mensch durch göttliche Offenbarung in seinen Handlungen geführt wird“, gesehen (Vgl.
Amberg: Auf dem Weg zu neuen Prinzipien islamischer Ethik, S. 33). Siehe hierzu auch Stefan
Schreiner: Die jüdische Bibel in islamischer Auslegung, hg. von Friedmann Eißler/Mathias
Morgenstern, Tübingen 2012.
11 Zum Begriff fiʿl (Handlung) in Verbindung mit Wille und Kraft siehe Muḥammad ʿĀbid al-
Ǧābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, S. 196-197, 200.
12 Obgleich in der kantischen Moral der Wille den Platz einnimmt, der in der aristotelischen Ethik
durch das vernünftige Begehren besetzt war. Hermeneutisch präzisiert Paul Ricoeur „das
Begehren erkennt man an seiner Zielrichtung, den Willen an seinem Verhältnis zum Gesetz.“
(Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 251.)
13 Ein ähnliches Verständnis von Kants Maximenbegriff vertritt auch Maria Schwartz: „Erziehung
zur Freiheit - Kants Methodenlehren“ in: Theologie und Philosophie 88/1 (2013), S. 26ff.
14 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 135ff. Darin wird im Abschnitt zu den konstitutiven
Regeln auf das moralische Situationsurteil ausführlich eingegangen.
15 Vgl. Norbert Fischer: „Kants Verhältnis zum christlichen Glauben“, in: Theologie und Glaube
102/1 1 (2012), S. 40f.
16 Anders als in der christlichen Theologie, in der die Willensschwächung auf die Ursünde Adams
und Evas zurückzuführen ist, die als Erbsünde im Menschengeschlecht fortbesteht (vgl.
Christoph Horn: Augustinus (Groß Denker), München 1995, S. 135f.), haben die verschiedenen
Willensformen in der islamischen theologischen Vorstellung mit der variablen Verfasstheit des
Selbst (nafs) zu tun. Diese gilt als Teil vom Gottesplan, die Menschen im Gefecht ihres
Lebensvollzugs auf die Probe zu stellen (vgl. u.a. Q 5:48; 6:165; 11:7). (Vgl. al-Ǧābirī: Binyat
al-ʿaql al-ʿarabī, S. 175 u. 463ff.)
17 Selbst bei Kant beeinflusst der Hang zum Bösen den Gebrauch der Freiheit – die Fähigkeit
gemäß der Pflicht zu handeln, kurz: die Fähigkeit, tatsächlich autonom zu sein. Diese
ungewöhnliche Situation eröffnet im Übrigen der Religion einen von der Moral
unterschiedenen Raum; denn Kant zufolge hat die Religion nichts anderes zum Thema als die
Erneuerung der Freiheit, das heißt „die Wiederherstellung der Herrschaft des guten Prinzips
über die Freiheit.“ (Immanuel Kant: Kants Werke, Bd. 6, Die Religion in den Grenzen der
bloßen Vernunft, Berlin 1968, S. 34; vgl. Ricoeur: Soi-même comme un autre., S. 262.)
18 Vgl. Alan Gewirth: Reason and Morality, Chicago 1978, S. 171, 190.
Für aš-Šāṭibī werden die Voraussetzungen des ethischen Handelns durch Inten-
tionalität, Urteilskraft und stärker noch die Durchführbarkeit von Kriterien der
moralischen und juristischen Zurechnung bestimmt. Zwang, Unwissenheit oder Ver-
sehen gelten ausdrücklich als Entlastung von der Verantwortung gegenüber
moralisch-theologischen Pflichten.23 So führe der Zugang zum Wesen eines
glaubensorientierten Lebensvollzugs über die Frage, inwiefern die von Gott vorge-
schriebenen Rechts- und Moralnormen (aḥkām šarʿiyya) mit den übergeorneten
Zielsetzungen von šarīʿa maqāṣid im Handlungsumfeld zueinanderstehen. Für aš-
Šāṭibī gilt hier als erstes zu sehen, dass sich das Verständnis von der Verbindung
zwischen maqāṣid und aḥkām gleichermaßen über Glaubenserkenntnis und kogniti-
ve Überzeugung sowie Affekt und Verstand erschließe. Der vorliegenden Ab-
handlung wird daher zunächst die Aufgabe einer Rechtfertigung dieses Umstandes
vorbehalten sein, sodass es nötig ist, die ethischen Zielsetzungen der šarīʿa als Prüf-
stein der Legitimität von moralisch-theologischen Normen anzunehmen.
Es wird noch zu zeigen sein, auf welche Weise die Rechtsanwendungsfragen, die
den mit dem deontischen Moment zusammenhängende Formalismus hervorrufen,
von dem Pflichtcharakter der Rechtsnorm zur Teleologie der maqāṣid zurückzu-
führen sind. Diese zweite Verortung ist, wie es sich noch näher in einigen von aš-
Šāṭibī diskutierten Fallbeispielen zeigen wird, von grundlegender Bedeutung für die
Klärung der Frage, wie sich die ethische Ausrichtung in Form der fünf ethischen
Zielsetzungen von maqāṣid durch die praktische Normenanwendung anreichert und
in das moralische Situationsurteil eingebracht wird.
Im Zentrum der zweiten Etappe dieser Wegstrecke, die dem Verständnis zwi-
schenmenschlicher Rechtsbestimmungen dient, steht die Rolle des aus dem Begriff
des Gemeinschaftszusammenhalts entspringenden Verantwortungspostulats als ein
Widerhall der Fürsorge, die laut Schöpfungsgesetz das Urverhältnis zwischen dem
Einzelnen und der Gemeinschaft widerspiegelt. Ferner ist es zur Konkretisierung
dieser hermeneutischen Leseart hilfreich, sich das Verhältnis zwischen Intentionen
(maqāṣid) und Moral- und Rechtsnormen (aḥkām) als eine Relation zwischen dem
umfassenden Lebensentwurf und den menschlichen Praktiken vorzustellen. 24 Im
Spannungsfeld zwischen mehr oder weniger entfernten Gemeinwohlidealen in Form
einzelner Kategorien von maqāṣid gestalten sich die glaubensorientierten
Lebenspläne durch eine Abwägung von Werturteilen beim ethischen Handeln.
Andererseits als dynamisches Prinzip der Aneignung intellektueller Fähigkeit und Erkenntnis:
die geistige Seele. (Vgl. ausführlicher al-Ǧābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, S. 175, 463ff.)
23 Mit dieser Deutung moralischen Verhaltens wird der Unterschied zwischen Zuschreibung und
Zurechnung hervorgehoben. Handlungen, die nicht aus einer vorsätzlichen Absicht emanieren,
können dem Handelnden genauso wenig zugerechnet werden, wie diejenigen, die von ihm aus
Versehen im Schlaf- oder Unbewusstheitszustand ausgehen Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd.
1, S. 118)
24 Dieses Gleichnis von Paul Ricoeurs methodischen Überlegungen zur Moraltheorie ist von
Immanuel Kant inspiriert. (Vgl Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 262ff.)
25 In der scholastischen Rechtsliteratur werden drei Kategorien des Begriffs ḥukm unterschieden:
Bestimmung nach rechtlichem Maß (Richterspruch), Bestimmung nach dem Wahrheitsgehalt
(konstitutive Regeln des Handlungs- und Beurteilungsumfelds) und schließlich die Bestimmung
nach dem moralischen Status (vorschreibende Verhaltensnormen). Die ersten beiden Formen
sind anwendbar und können auch als ein Index betrachtet werden, der vom Sichtbaren,
Erkenntlichen bis zum nicht Vorhandenen, welches deduktiv erschlossen werden soll, reicht.
Ob Maßstab oder Index, beide Normenkategorien sind unumstritten. Aš-Šāṭibīs Interesse galt
hauptsächlich den letzten beiden Kategorien. Für Eine umfassende Übersicht über das
Verhältnis zwischen den apriotischen Grundsätzen der Logik und den ethischen Maximen der
maqāṣid siehe u.a. ʿAbd as-Salām ar-Rafʿī: Fiqh al-maqāṣid wa aṯaruhu fī l-fikr an-nawāzilī,
Casablanca 2010, S. 264-280 sowie Bernard G. Weiss: The Search for God’s Law, Herndon
2014, S. 107.
26 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 76.
27 Auf die kontroverse Diskussion zur Definition des Begriffs ḥukm šarʿīa wird in dem
darauffolgenden Unterkapitel detailliert eingegangen. Samuel A. Jackson liefert die allgemein
bekannte und in der europäischen Literatur zur islamischen Rechtstheorie inzwischen
angenommene Definition: „The ḥukm šarʿī establishes in religious terms the status of specific
human actions relative to specific thing. It speaks not to the essence of things in themselves but
only to the propriety of specific human actions towards them.“ (Jackson: Islamic Law and the
State. The Constitutional Jurisprudence of Shihāb al-Dīn al-Qarāfī, S. 116.) Diese Definition
Jacksons umfasst gleichermaßen rein juristische Begriffseingrenzungen, die in der früheren
islamwissenschaftlichen Literatur gängig waren, wie etwa von Schacht: An Introduction to
islamic Law, S. 1-3; Nagel: Das Islamische Recht. Eine Einführung, S. 90-95 sowie welche, die
den deontischen Aspekt in den Vordergrund stellen, wie etwa Baber Johansen: Contingency in
a sacred Law, Leiden 1998, S. 25f.
28 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 42.
Rechtssystem zu entwerfen, in dem das Gerechte vom Guten (im Sinne einer
Gesinnungsethik) getrennt wird.29 Dabei sei im Vorfeld angemerkt, dass in der
begründungsorientierten Auffassung von maqāṣid die Unterscheidung zwischen
Gerechtigkeit und Gutheit nicht vordergründig der Rechtfertigung strafrechtlicher
Praxis im Islam diente. Zwar weist aš-Šāṭibī daraufhin, dass es bei Strafmaßnahmen,
wie etwa hundert Peitschenhiebe für Unzucht (Q 24:1-5), das Abtrennen der Hand
für Diebstahl (Q 5:38) etc., zweifellos um Handlungen geht, die der Kategorie des
Übels zuzuschreiben seien.30 Jedoch ergänzt er anknüpfend an den Intentions-
gedanken, dass der Bewertungsvorgang des moralischen Handelns grundsäztlich
von Relationen und nicht von Entitäten ausgehe; d.h. in welchem inneren
Zusammenhang die Handlung einerseits mit der ihr zugrundeliegenden Intention
und andererseits mit dem Handlungsumfeld, in dem sie vollzogen wird, stehe. Der
Maßstab allen Werturteils sei die Absicht zur Förderung göttlicher Gemeinwohl-
ideale.31 In diesem Kontext sollte die folgende Aussage des Propheten (sas)
verstanden werden: „Die Taten werden nach den Absichten beurteilt, und jedem
wird vergolten, was er beabsichtigt hat.“32
In den Debatten über den Vorrang des deontischen Verpflichtungscharakters der
šarīʿa vor ihren ethischen Zielsetzungen trat jedoch in der postklassischen Theologie
die Prozedur einer dem Offenbarungssinn verschlossenen Generierung von Hand-
lungsnormen an die Stelle jedes vorgängigen Bekenntnisses zu Gemeinwohlidealen.
Die innovative Lehre aš-Šāṭibīs über das reziproke Verhältnis zwischen Gemein-
wohlidealen und Rechtssetzung betonte die Vorläufigkeit des weltlichen Rechts und
räumte den Rechtsgelehrten freie selbstständige Urteilsfindung ein. Auf diese Weise
beantwortet aš-Šāṭibīs Ansatz eine der kontroversesten Fragen der Rational-
theologie: Inwieweit könne der vor- bzw. ungeschichtliche Bund, den Gott mit
Adam in der Vorzeit abgeschloßen hat, für eine geschichtliche Gesellschaft bindend
29 Hierzu wird häufig die Aussage des zweiten Kalifs ʿUmar aufgeführt: „Zeigt uns eure guten
Taten, denn wir [Rechtshüter] sind verpflichtet, nach dem Äußeren zu beruteilen. Das Wissen
über das Verborgene ist nur Gott vorbehalten.“ (Vgl. Muḥammad Ibn Ali aš-Šawkānī (gest.
1255/1839): Nayl al-ʾawṭār, al-Maṭbaʿa al-ʿuṯmāniyya al-miṣriyya, Kairo 1938, Bd. 1, S. 369).
Nach an-Nisāʾī geht das Diktum, nach dem Äußeren zu beurteilen, auf eine Aussage des
Propheten zurück, in der implizit zur Beurteilung nach beobachtbaren Sachlage aufgrufen wird
(Vgl. Abū ʿAbd ar-Raḥmān Aḥmad an-Nasāʾī (gest. 302/915): as-Sunan, Dār al-kutub al-
ʿilmiyya, 8 Bde., Beirut o.J., Bd. 8, S. 233).
30 Die aḥkām sind nach aš-Šāṭibī auf das Wohlergehen des mukallaf und nicht auf seine
Bestrafung ausgerichtet (Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 41. Zur strafrechtlichen Praxis
in Form von ḥudūd im Sinne von Normensetzungen menschlichen Sozialverhaltens vgl. u.a.
Maḥmūd Šaltūt: al-Islām ʿaqīda wa-šarīʿa, Kairo/Beirut 2001, S. 279-302.
31 Dass das handlungbezogene Werturteil zwischen Gesetz und Vernunft „aufgespannt“ ist, wurde
bereits auf ähnliche Weise von Augustinus (354-430 n. Chr.) erörtert. Auf seiner exegetischen
Spurensuche verweist Norbert Fischer auf die Frage des Augustinus, ob Ehebruch erlaubt sei,
wenn die „Goldene Regel“ dabei beachtet würde (dass man einem anderen also nicht antut, was
man sich selbst nicht gefallen ließe). (Vgl. Fischer: „Kants Verhältnis zum christlichen
Glauben“, S. 41.)
32 Vgl. al-Buḫārī: Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Bd. 1, S. 2, Nr. 1.
33 Dieser Frage gegenüber erläutert Thomas Amberg: „Ihre Verhaltensweisen und Handlungen
sieht jede Religionsgemeinschaft in einem grundsätzlichen Bezug zu den theonomen Satzungen
und Handlungsprinzipien [der] Offenbarungsschriften gestellt. Gleichzeitig sind diese
Religionsgemeinschaften, als lokale Sozialgemeinschaften, auf der Ebene von Familie und von
ihren einzelnen Individuen, in äußere Lebensbedingungen und Lebensformen eingebunden.
Menschliches Handeln ist durch Handlungsabsichten, durch die Interessen von Gruppen wie
Einzelpersonen bestimmt. Werte und Normen wandeln sich mit der Veränderung eines sozialen
Kontextes.“ (Vgl. Amberg: Auf dem Weg zu neuen Prinzipien islamischer Ethik, S. 29.)
34 Vgl. Muḥammad aš-Šaḥrūr: Naḥwa uṣūl ǧadīda, Kairo 2005, S. 103; Amberg: Auf dem Weg zu
neuen Prinzipien islamischer Ethik, S. 190f.
35 Vgl. al-Qaraḍāwī: Dirāsa fī fiqh maqāṣid aš-Šarīʿa, S. 95. Zu dieser Debatte in der christlichen
Theologie vgl. Fischer: Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung, S. 32.
36 Dies ist nach Johannes Fischer auch eine besondere Charaktereigenschaft der theologischen
Ethik christlicher Prägung. (Vgl. Fischer: Theologische Ethik. Grundwissen und Orientierung,
S. 35.)
37 Christoph Zehetgruber: Islamisches Recht versus europäische Werteordnung, Wien 2010, S. 63.
Im traditionellen islamischen fiqh werden Verbote und Gebote etwas differenzierter angesehen.
Gebote werden als erforderlich bzw. verpflichtend (wāǧib oder farḍ) bezeichnet. Es sind die
Pflichten, die jeder Muslim erfüllen muss, ungeachtet seines persönlichen Strebens nach
Frömmigkeit. (Darunter fallen z.B. sowohl zwischenmenschliche Handlungen wie Almosenga-
ben, als auch gottesdienstliche Praktiken wie Fasten im Ramadan oder das fünfmalige tägliche
Gebet.) Ihre Vernachlässigung oder ihre Unterlassung sollte bestraft werden, im Diesseits wie
im Jenseits. Bei dem Verbot (maḥẓūr oder ḥarām) geht es im Allgemeinen um Handlungen, die
die Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft sichern. Deren Ausführung wird bestraft und
deren Unterlassen wird belohnt. Eine dieser Handlungen als legitim zu bezeichnen, wird nach
wertkonservativen Gelehrten als ein Beweis der Glaubensabtrünnigkeit angesehen. (Vgl. u.a.
Yūsuf al-Qaraḍāwī: Erlaubtes und Verbotenes im Islam, übers. von Ahmed von Denffer,
München 1989, S. 148f.)
38 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 106. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 225.
39 Vgl. ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šaṭibī, 5. Aufl, 1995, S. 179.
40 Die Vielzahl konkurrierender Deutungsmethoden beim fiqh zeigt sich darin, dass in den vier
bekannten Rechtsschulen die fünf Moral- und Rechtsvorschriften unterschiedlich geordnet
werden. Die Einzigartigkeit von aš-Šāṭibīs Ansatz liegt darin, dass seine Abhandlung zu den
fünf Verpflichtungsnormen keiner vorgängigen Klassifizierung folgt. Als erste Kategorie des
moralischen Urteils wird bei aš-Šāṭibī das Erlaubte beprochen; die vier übrigen Kategorien
werden dann gleichermaßen im Verhältnis zum Erlaubten und zueinander analysiert. Die von
ihm übernommene Ordnung entspricht seiner Untersuchungsmethode, die darin bestand, die
verschiedenen Pflichtnormen im Rahmen eines kontrastiven Ansatzes im Hinblick auf ihre
Bezugnahme zu maqāṣid zu analysieren. Dies könnte eine Deutung von ar-Raysūnīs Frage
diesbezüglich sein. (Vgl. ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šaṭibī, S. 182f.)
Man vergleiche zur schematischen Darstellung traditioneller Klassifizierungen: Peter Antes u.a.
(Hg.): Der Islam. Religion, Ethik und Politik, W. Kohlhammer, Stuttgart/Berlin/Köln, 1991, S.
67ff.
41 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 94.
42 Der sittlich-konservativen Auffassung des Ehegebots liegen in der wortwörtlichen Auslegung
freie Wahl zu, die Ehe einzugehen oder es zu unterlassen. Eine Gesellschaft kann
sich allerdings in ihrer Gesamtheit der Eheschließung nicht entziehen, da dies ein
klarer Verstoß gegen die Fortpflanzungsmaxime bedeuten würde, die dem
Fortbestehen des menschlichen Lebens auf der Erde dient. Diesem Normen-
verständnis liegt eine Deutung aš-Šāṭibīs des Koransverses (Q 5:89) zugrunde: „O
ihr, die ihr glaubt, verwehrt nicht die guten Dinge, die Allah euch erlaubt hat, und
übertretet nicht, siehe Allah liebt nicht die Übertreter.“ Hier wird dem Einzelnen im
Rahmen des moralischen Gesellschaftskonsenses in hinreichendem Maß das Recht
zu einem gewissen Individualismus zugesprochen. 43 Die hier im Bezug auf Ehe-
schließung aufgeführte Rechtsauslegung wird in aš-Šāṭibīs Darstellungen als
Ergebnis einer Verhältnisbestimmung der Moralnormen von Gebot und Empfehlung
gezeichnet. Jeder empfehlenden Vorschrift dient folgende Maxime als Hintergrund:
„Wenn eine Handlung teilweise empfohlen wird, so sollte sie in ihrer Ganzheit als
Pflicht verstanden werden.“44
Die Verhaltensvorschrift der Missbilligung (makrūh) umfasst Handlungen, die
dem „grauen“ Bereich der moralischen Pflicht zugerechnet werden können. Die
Vermeidung von verwerflichen Handlungen wird als Weg zur Frömmigkeit aufge-
fasst, da es prinzipiell um Praktiken geht, deren Vollzug zwar keine Strafe nach sich
zieht, deren Unterlassung jedoch belohnt wird. In aš-Šāṭibīs Argumentation sind
verwerfliche Handlungen nur in gewissem Maße unwesentlich für den sittlich-
moralischen Status innerhalb der Glaubensgemeinschaft verantwortlich. Im Rahmen
des affirmativen Aspektes ruft das vorausgesetzte Gemeinwohl als heimliche
„Seele“ des Verbots stets im Handlungskontext eine Abwägung hervor, die unter
den Handlungskategorien im Hinblick auf die ethische Ausrichtung die Anwärter
auf das Prädikat von maṣlaḥa auslotet. So gesehen ließe sich ein moralisch
zahlreiche Quellenbelege zu Sexualität und Ehe zugrunde. Die anti-rationalistische und von der
Orthodoxie geprägte Tradition hat die Aussage des Propheten (sas) zur übermäßigen Askese in
der Regel anders verstanden. So wurden Hadithe wie etwa: „Nach Abū Ayyūb: Der Prophet
(sas) sagte: Vier Sachen gehören zu den Verhaltensregeln der Gesandten: die Schamhaftigkeit,
das Benutzen von Wohlgerüchen, der Zahnstocher und die Heirat“ im Sinne einer
vorschreibenden Bestimmung zur Eheschließung gedeutet (Vgl. Adel Theodor Khoury: Der
Ḥadīth. Urkunde der islamischen Tradition, 5. Bde., Gütersloh, 2009, Bd. 3, S. 20, Hadith-Nr.:
2902; zu dieser Frage siehe auch. Yūsuf al-Qaraḍāwī: Ummatunā bayna l-qarnayn, Kairo 2002,
S. 155-162). Unterschiedlich bewerten hingegen die modernen Gelehrten die mit der Unter-
lassung der Ehe „einhergehenden“ sogenannten geschlechtlichen „Perversionen“ wie etwa
Homosexualität oder Selbstbefriedigung (Vgl. u.a. Antes u.a. (Hg.): Der Islam. Religion, Ethik
und Politik, S. 78.)
43 Durch seinen differenzierten Blick bietet aš-Šāṭibīs Ansatz einen Vorzug gegenüber Abū Ǧarīr
aṭ-Ṭabarīs (gest. 310/923) Auslegung des Eheschließungsgebots mittels des Koranverses (Q
5:89). Aṭ-Ṭabarī stützt seine Exegese auf folgende Überlieferung Muǧāhid ibn Ǧabrs: „Einige
Leute, darunter ʿUṯmān Ibn Maẓʿūn und ʿAbdallāh Ibn ʿUmar, wollten ihre Frauen verlassen,
sich kastrieren und grobe Kleidung tragen. Da wurde dieser und der folgende Vers
geoffenbart.“ (Al-Qaraḍāwī: Erlaubtes und Verbotenes im Islam, S. 148-149.)
44 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 94.
verwerfliches Verhalten wie z.B. Ehescheidung nur im Kontext seines Vollzugs und
hinsichtlich der dahinterstehenden Handlungsintention als solches erkennen.
Die Einstufung der Ehescheidung in die verwerfliche Handlungskategorie lässt
sich nicht etwa durch die vermeintliche Abscheu, die offenbar die islamische
Moralität gegenüber dem christlichen Ideal der Ehelosigkeit geäußert haben soll,
begründen.45 Vielmehr wird sich bei der moralischen Einstufung der Ehescheidung
auf die Gefährdung der sozial-ethischen Werte berufen, die aus den Offenbarungs-
quellen hervorgehen. In Koran und Sunna ist die Ehe ein Sinnbild für Barmher-
zigkeit und soziale Fürsorge, so heißt es in Q 2:183: „Sie sind euch ein Kleid und ihr
seid ihnen ein Kleid“, was nach al-Qaraḍāwī, soviel bedeutet, dass jeder der
Ehepartner dem anderen Schutz, Bedeckung, Stütze und Schmuck sein sollte. 46 Die
so verstandene Bedeutung des festen Bandes der Ehe, mit dem Gott den Mann und
die Frau verbindet, bietet demnach dem praktisch angelegten Recht die Möglichkeit,
den theologisch psychologischen Charakter der Füsorge zu verorten. Nämlich in den
zwischenmenschlichen und sentimentalen Eigenschaften, die dem Zusammenleben
des Ehepaars entspringen: das Teilen von Leid und Freud sowie die gleichmäßige
Verteilung von Rechte und Pflichten.
Die moralische Einstufung des verwerflichen Handelns, wie der Ehescheidung,
orientiert sich, nach aš-Šāṭibīs Deutung an dem Maß des Schadens, der im Falle
einer Scheidung einem der beiden Ehepartner einerseits und dem Gemeinwesen
andererseits widerfährt. Scheidung ist dann erlaubt, wenn alle von der Gemeinschaft
unternommenen Aussöhnungsbemühungen fehlschlagen. Sollten die Schäden des
Fortbestehens einer Ehe bei dem Abwägungsprozess gegenüber dem von der
ethischen Ausrichtung auf Fürsorge und Fortpflanzung hervorgehenden Nutzen
überwiegen, sodass dadurch andere Universalmaximen des ethischen Verhaltens wie
etwa der Schutz des Lebens, der intellektuellen Fähigkeit oder des Glaubens
gefährdet werden, so kann die Mißbilligung als eine Kategorie des Erlaubten
verstanden werden. Das Verwerfliche unterhält also ein Spannungsverhältnis
einerseits zum Erlaubten und andererseits zum Verbotenen, von dem es ursprünglich
hergleitet wurde. Vor diesem Hintergrund sollte die Aussage des Propheten (sas)
verstanden werden: „Unter den erlaubten Dingen ist die Scheidung Allah am
meisten verhasst […]“.47
Das Verwerfliche gilt als etwas, das von Gott verabscheut wird, und kann im
Falle einer unvermeindlichen Zwangslage in Richtung des Erlaubten tendieren und
im Falle einer übermäßigen Widmung in das Verbotene umstürzen. Die Komplexität
des von aš-Šāṭibī bei der Einstufung moralischer Normen in Gang gesetzten
Abwägungsprozesses rührt daher, dass menschliche Handlungen nach seiner
Auffassung stets von einer gewissen Ambivalenz gekennzeichnet sind, die nur durch
die Einbeziehung des Glaubens bei der Suche nach rechtschaffendem Verhalten
aufzuheben ist. Folglich müssen die Offenbarungsgebote bei der Klarstellung eines
Rechtsfalles von einer Analyse faktischer Handlungszusammenhänge untermauert
werden. Deutet man aus dieser Perspektive den Koranvers Q 2:183, so sieht man
darin die Äußerung einer Norm der Gleichberechtigung, die sich von der Annahme
einer Ungleichheit zwischen den Ehepartern abhebt, die dem islamischen Eherecht
immer wieder vorgeworfen wird. Die Ehescheidung rückt unmittelbar in den
Bereich des Erlaubten, wenn das Zusammenleben für einen der Handlungsträger zu
Leid und Qual wird, gleichgültig, ob es Mann oder Frau ist. 48 Anstelle der von
wertkonservativen Gelehrten beteuerten angeborenen Ungleichheit zwischen Mann
und Frau wird hier eine Assymetrie anderer Art sichtbar: nämlich eine zwischen
Handelnden und Leidenden, die für die ethische Urteilsbildung maßgebend ist. Hier
muss der Gerechtigkeitsgedanke ansetzen, um eine „hinnehmbare“ Trennung im
Scheidungsfall zu ermöglichen. Am äußersten Ende der Auflösung des festen
Ehebandes krönt die Gnade Gottes den Handlungsbeschluss beider Ehepartner für
den weiteren Verlauf des Lebens: „Wenn sie sich jedoch trennen, kann Allah beide
aus seinem Reichtum entschädigen“ (Q 4:129). Die Vermeidung des größeren
Unheils durch das kleinere Übel in Gestalt einer verwerflichen Handlung verdient
Gottes Gnade und Wiedergutmachung.
In den intermediären Moralbestimmungen spiegelt sich die Dynamik des
menschlichen Bemühens um die Herstellung gottgewollter Gerechtigkeit wider, die
die Intervention von Gottes Gnade hervorruft. Dabei zeigt Q 4:129 mitunter, dass
der Gottessegen nicht allein aufgrund der Gesetzeskonformität des menschlichen
Handelns erfolgt. Vielmehr hebt sich die Gnade Gottes grundsätzlich von den
Folgen und Verstrickungen der menschlichen Handlungswirklichkeit ab. So heißt es
nach Q 3:129:
„Und Allah gehört (alles), was in den Himmeln und was auf der Erde ist. Er
vergibt, wem Er will, und Er straft, wen Er will. Und Allah ist Allvergebend
und Barmherzig.”
Hierbei hat die wahrhafte Handlungsabsicht des Menschen gerade durch ihre
Affinität zum höchsten Gut eine Sonderstellung auf dem Weg zum Heil inne. 49 Das
48 Ohne konkret darauf einzugehen, verwischt aš-Šāṭibīs Deutung von Moralnormen sämtliche
Grenzen zwischen Mann und Frau und macht die dem Islam vorgeschobene Ungleich-
behandlung beider Geschlechter in Ehe- und Erbrecht zur Nebensache. Bei alldem wird
deutlich, dass im Zentrum von aš-Šāṭibīs theologischer Ethik der Mensch in seiner Eigenschaft
als mukallaf, die sein „Ergon“ im Leben auszeichnet, steht. (Zum Thema Gleichheit zwischen
Mann und Frau vgl. Zineb Miadi: „Gleiche Rechte für Mann und Frau“, in: Stefan
Batzli/Fridolin Kissling/Rudolf Zihlmann (Hg.): Menschenbilder Menschenrechte, Zürich 1994,
S. 89ff.)
49 In dem von aš-Šāṭibīs theologischer Ethik suggeriertem Zusammenwirken von Glaube und
Gesetzeskonformität beim Streben nach gerechtem Handeln lässt sich der Gegensatz zweier
Traditionen erkennen: einer jüdischen Tradition, in der Gerechtigkeit deontisch durch die
dieser Kategorie bei ihm mit seiner diffenrenzierten und betont theologisch-
ethischen Betrachtung religiöser Pflichten zu tun. 52 Dem statischen mubāḥ-Begriff
der Ḥanbaliten setzte aš-Šāṭibī ein dynamisches Konzept entgegen, dem eine
relationelle und situationsabhängige Definition der Norm zugrunde liegt. Nach
ḥanbalitischer Auffassung, die heute als unstrittig gilt, gilt der Grundsatz, dass
Dinge/Handlungen erlaubt sind, sofern Gegenteiliges nicht bewiesen ist (al-aṣl al-
ibāḥa).53 Diese Lesart geht aus einer dogmatisch begründeten Deutung zahlreicher
Koranversen und Aussagen des Propheten (sas) hervor, in denen die Nutzbarkeit und
Erlaubtheit der erschaffenen Dinge betont wird, allen voran aus Q 2:29: „Er ist es,
Der alles, was auf der Erde ist, für euch geschaffen hat […]“54. Diese scheinbar
weit gefasste Vorstellung des Erlaubten ḥanbalitischer Prägung setzt auf der
praktischen Ebene eine enge Verbindung zwischen Pflicht und Gegenstand der
Pflicht. Genau diesem übermäßigen, fast dialektischen Verhältnis vom Gottesgebot
als überzeitlicher Spechhandlung und historisch bedingtem Lebensvollzug wollte die
anadalusische Theologie entgegenwirken.
Traditionell galt das Erlaubte als indifferent (mubāḥ) hinsichtlich seines
moralisch-sittlichen Status. Erkennbar erlaubte Handlungen waren jedoch seit den
Anfängen des 4./10. Jahrhunderts immer wieder Gegenstand heftiger Diskussionen
unter den Rechtsgelehrten einerseits und zwischen ihnen und den Rationaltheologen
andererseits. Während einige Rechtsgelehrte beteuerten, dass der Einzelne selbst
über die Unterlassung bzw. Ausführung erlaubter Handlungen bestimmen könne,
betonten vernunftorientierte Theologen den verpflichtenden Charakter des
Erlaubten. Eine dritte Meinung, die überwiegend die Mystiker vertraten, prangerte
den negativen Einfluss an, den erlaubte Handlungen auf den aufrichtigen Glauben
und die damit verbundene asketische Lebensführung ausüben können und setzten
eine umfassende normengetreue Erfüllung erlaubter Praktiken mit der Duchführung
verbotener Handlungen gleich.
Mit Blick auf z.B. auf das alles menschliche Wirken umfassende koranische
Gebot, Gottes Erdreich zu bevölkern, verliert die Behauptung, das Erlaubte sei
wesenhaft eine Aufforderung zum Unterlassen, an Überzeugungskraft. Denn die von
der Offenbarung vorgeschriebenen rechtsschaffenen Handlungen hängen hermeneu-
tisch gesehen mit dem Zwang leiblicher und erdhafter Verfasstheit des Menschen
zusammen. Die historische Bedeutung des Fünf-Kategorien-Systems, das durch die
Einführung des Erlaubten in den ersten beiden Jahrhunderten nach der Hidschra
seine Endform erlangte, bestand darin, dass es den Kompromiss zwischen den
moralischen Maximalisten, am stärksten repräsentiert durch die Ḫariǧiten, und den
praktischen Anforderungen einer an der Gesellschaftsentwicklung orientierten So-
55 Ebd., Bd. 1, S. 104-105. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 225.
56 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 89-92.
der jussive Wert der Erlaubnis moralisch wieder greifbar wird.57 Darin spiegelt sich
die Tatsache, dass mit der Aufforderung zum Wählen, sowohl der individuellen
Verantwortung des Handelnden gegenüber der Gemeinschaft, als auch dem damit
einhergehenden vernunftmäßigen Abwägungsprozess, eine Schlüsselfunktion bei
der moralischen Urteilsfindung zukommt.58 Die Fragen, die alle auf verschiedene
Weise das Verhältnis von Tun und Nicht-Tun beim Erlaubten umkreisen, werden
von aš-Šāṭibī in drei Etappen entfaltet und hinsichtlich ihrer Beziehung zum
Gemeinwesen sowie zur Verantwortlichkeit des Einzelnen ausgelotet.
57 Aš-Šāṭibī erteilt damit sowohl den Moral-Maximalisten als auch den Moral-Minimalisten eine
klare Absage und verlegt die Diskussion um die Aufforderungsart des Erlaubten auf die Ebene
der Begriffsdefinition. (Vgl. ebd., Bd. 1, S. 78-81.)
58 Dabei geht es auch um Verantwortlichkeit gegenüber sich selbst, die in den Bereichen von
Menschrechte und Gottesrechte angesiedelt werden soll (Vgl. ebd., Bd. 1, S. 81).
59 Eheschließung als Vorbeugung gegen Hurerei und Unzucht, die die Maxime zum Schutz der
Familie verletzten. (Vgl. ebd., Bd. 1, S. 82 und S. 91)
60 Vgl. ebd, Bd. 1, S. 90. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 225.
61 Die umma hat lediglich als fiktives Gebilde eine starke Stellung gegenüber dem Einzelen inne.
Hierfür hat aš-Šāṭibī eine einprägsame Formulierung verwendet: Die Unterlassung erlaubter
Handlungen ist seitens des Einzelnen zulässig, jedoch seitens der Gemeinschaft unzulässig:
„wenn wir annehmen, dass alle Menschen eine erlaubte Handlung unterlassen, so käme dies
der Unterlassung einer notwendigen Pflicht gleich“. (Ebd, Bd. 1, S. 93. Hier spricht einiges
gegen die Auffassung einer strikten Rechtsauslegung, wonach die islamische Moralvorstellung
weniger den Schutz der Sphäre des Einzelnen, als vielmehr den Schutz kollektiver Rechte der
Gemeinschaft fördere. (Vgl. u.a. Muhammad Fathi al-Dirini: “Justice in the Islamic shariʿa”,
in: Gerald E. Lampe (Hg.): Justice and Human Rights in Islamic Law, Washington 1977, S.
43f.)
62 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 81.
und:
„Sag: Wer hat den Schmuck Allahs verboten, den Er für Seine Diener
hervorgebracht hat, und (auch) die guten Dinge (aus) der Versorgung
(Allahs)? Sag: Sie sind im diesseitigen Leben für diejenigen (bestimmt), die
glauben, und am Tag der Auferstehung (ihnen) vorbehalten. So legen Wir die
Zeichen ausführlich dar für Leute, die Bescheid wissen.“ (Q 7:32)
Im Erlaubten offenbart sich die anerschaffene leibhafte und erdhafte Verfasstheit des
Menschen, ohne die man nicht von ihm behaupten könnte, dass er als Individuum
handle und erleide. In diesem Rahmen werden die im Erlaubten zwischen Verbot
und Gebot hin und her schwankenden, moralischen Werte miteinander konfrontiert
und bilden somit den Sockel der Verantwortbarkeit des Handelnden für seine Taten.
Die Mystik und die theologische Ethik haben gemeinsam, dass sie menschliches
Verhalten im Horizont des Glaubens zu erschließen suchen. Jedoch ist die Ethik an
eine Erfassung des menschlichen Handelns gleichermaßen als Individuum und als
soziales Wesen interessiert. In einer modernen Fachbegrifflichkeit übertragen sucht
die Ethiktheorie aš-Šāṭibīs den Zugang zu einer Versöhnung von Individual- und
Sozialethik, die gleichermaßen auf ein transzendales und weltliches Ziel ausgerichtet
ist.63
Die Auslegung zulässiger Verhaltensnormen soll nach aš-Šāṭibīs Argumentation
imstande sein, Variationen der Urteilsfindung im Handlungskontext auszudenken, in
denen die flüchtige Verfasstheit des Erlaubten berücksichtigt wird. Im Blick auf die
selbstständige Urteilsfindung im Rahmen komplexer Handlungsverläufe unterschied
aš-Šāṭibī folglich zwischen Situationen, in denen das Erlaubte bewusst als Mittel
zum Vollzug des verwerflichen Verhaltens genutzt wird, und solchen, in denen die
Ausführung eines zulässigen Verhaltens mit einer vermeintlichen Ablenkung von
der Erfüllung einer Pflicht einhergeht. Die Aporien, die aus den beiden soeben
genannten Handlungssituationen hervorgehen, lassen laut Aḥmad ar-Raysūnī,
gewahr werden, wie grundlegend die Handlungsintention für die moralische
Urteilsbildung sein kann.64 Ein Missbrauch der erlaubten Handlungen für die
Verwirklichung unrechtmäßiger Zwecke wird durch die Anwendung des aus der
praktischen Analogie entspringenden Präventionsprinzips sadd aḏ-ḏarāʾiʿ
(Ausschluss juristischer Instrumentalisierung) verhindert.65 Sollte dem erlaubten
Verhalten die Absicht zum Vollzug einer missbilligten oder gar verbotenen Tat zu-
63 So schreibt Johannes Fischer: „[Die] Individualethik hat es mit der Orientierung individuellen
Lebens und Handelns zu tun. Darin ist auch das gemeinsame Leben und Handeln einer
Gemeinschaft von Individuen eingeschlossen, insofern auch dieses je individuell verantwortet
werden muss. Demgegenüber denkt Sozialethik über die Gestaltung sozialer Strukturen nach,
innerhalb derer Menschen leben und handeln.“ (Fischer: Theologische Ethik. Grundwissen und
Orientierung, S. 57.)
64 Ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šaṭibī, S. 90ff.
65 Vgl. hierzu Ibn Qayyims ausführliche Abhandlung zu diesem Thema in seinem Werk: Iʿlām al-
muwaqqiʿīn an rabb al-ʿālamīn, Bd. 4, S. 535.
grunde liegen, so wird die für diesen Zweck in Gang gesetzte gesamte Handlungs-
kette einer anderen Urteilskategorie als der des Erlaubten untergeordnet. Ausschlag-
gebend für die moralische Urteilsbildung ist die Frage, welcher ethischen Maxime
die verletzte Moralnorm zuzuschreiben wäre. 66 Durch die Betonung des Abhängig-
keitsverhältnisses zwischen ethischer Ausrichtung und moralischer Pflicht ist es aš-
Šāṭibī wie keinem zuvor gelungen, aus der Willkür reflexiver Normableitung aus
Präzedenzfällen Urteilslegitimität herzuleiten.67 Durch die Einführung des Absichts-
begriffs bei der moralischen Urteilsfindung werden erlaubte Handlungen in einem
Zwischenbereich von Verbot und Gebot angesiedelt, sodass deren moralischer
Status an die Abwägung von den im Handlungsumfeld enstehenden Vor- und
Nachteilen bei der Wahl einer bestimmten ethischen Ausrichtung orientiert wird.
Dementsprechend wird die Spannweite des Erlaubten zwischen Gebot und
Verbot stets im Hinblick auf die Verbindlichkeit der Rechtsquelle, die bei der
Urteilsbildung herangezogen wird, diskutiert. So variiert der moralische Status
zulässiger Handlungen, je nachdem, ob die ihnen zugrunde liegende Urteilsbildung
(ḥukm) einer universellen (aṣl kullī) oder einer fakultativen Rechtsquelle (aṣl ǧuzʾī)
entspringt.68 Ein zulässiges Verhalten, dessen Erfüllung beispielsweise keine
notwendige ethische Maxime verletzt, deren Auslassung aber dem Gläubigen auf
irgendeine Weise Schaden zufügt, wird trotz der damit verbundenen negativen
Folgen erlaubt.69 In diesem Fall gilt es anhand eines rationalen Abwägungsprozesses
(at-tarǧīḥ) eine moralische Hierarchie von Praxiseinheiten aufzuweisen, die auf der
Grundlage einer Verdeutlichung finaler Beziehungen ermöglicht, beabsichtigte Ziel-
Handlungen von denen, die instrumental als Mittel zur Erreichung anderer Ziele
durchgeführt werden, zu unterscheiden. Dabei müsse man laut aš-Šāṭibī stets
zwischen Legitimität und Nützlichkeit einer Handlung abwägen:
„Wenn sich die gesetzlich festgelegten Regeln mit dem Verwerflichen
vermischen, z.B. beim Kauf und Verkauf, Treffen mit Menschen und bei
jemandem Zuflucht suchen, und wenn sich das Unheil und das Verwerfliche
66 Hierbei kann das Erlaubte, nach aš-Šāṭibī, auch positiv der Verwirklichung „einer notwendigen,
bedürfnisbezogenen oder ergänzenden ethischen Maxime dienen“. (Vgl. aš-Šāṭibī: al-
Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 90).
67 Diese Herangehensweise aš-Šāṭibīs bildet den Kerngedanken für innovative Auslegungsimpulse
zu einigen Fragen der Gegenwart, wie etwa der Frage, ob Mediengebrauch von Internet,
Fernseher oder Kino laut islamischem Moralsystem verboten oder erlaubt ist; oder wie weit
man weltlicher Obrigkeit Gehorsam schuldig sein sollte, wenn sie göttliche Vorschriften für
ihre eigenen Zwecke instrumentalisiert. In Ägypten galt der aus der islamischen rechtlichen
Tradition überlieferte Spruch: „Die Abwendung des Bösen genießt gegenüber dem Streben nach
Gutem den Vorrang“ lange als theologisches Instrument zum Verbot von Volksaufständen.
(Vgl. u.a. Nasr Hamid Abu Zaid: Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses.)
68 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 91f., wobei dieser Gedanke an mehreren Stellen in dem
Werk vorkommt, was auf die Hervorhebung der Rolle von maqāṣid bei der Formulierung von
aḥkām deutlich hinweist.
69 Aš-Šāṭibī verweist diesbezüglich auf den Sinn der Zulässigkeit der Ehescheidung. (Vgl. ebd.,
Bd. 1, S. 91f).
auf der Erde verbreiten, sodass man sich als Verpflichteter bei der Erledigung
seiner Aufgaben oder in seinem Verhalten den Umständen entsprechend
nicht davon befreien kann, auf Verwerfliches zu treffen und damit
konfrontiert zu werden, so setzt die offensichtliche Auslegung des göttlichen
Gesetzes [bzw. göttlichen Rechts] voraus, dass er von dem, was er um sein
Ziel zu erreichen gerade tut, ablässt. Aber die rechtmäßige Auslegung setzt
voraus, dass man seinen Bedürfnissen nachgehen muss, gleichgültig, ob
dieses Bedürfnis das Endziel oder ein Teil des Bestrebens ist. Und in beiden
Fällen werden diese Bedürfnisse als grundsätzliche angestrebt, ganz gleich,
ob sie es tatsächlich sind oder ob sie einem übergeordneten Ziel dienen. Denn
wenn der Gesetzgeber das Auslassen dieser Handlungen vorgäbe, so engte er
den Lebensbereich des Verpflichteten ein und würde dessen Leben
erschweren. Und dies wäre das Auferlegen von etwas, das der Mensch nicht
zu leisten vermag.“70
Aš-Šāṭibī stellt infolgedessen die Frage, was geschehen würde, wenn sich plötzlich
alle Menschen in der Gesellschaft entschieden, erlaubte Handlungen nicht zu tun,
und kommt zum Schluss:
„Angenommen, dass alle Menschen [in einer Glaubensgemeinschaft] sich
entschliessen würden, erlaubte Handlungen zu unterlassen, so entspräche
dieses Vorgehen der Vernachlässigung einer gebotenen, notwendigen Regel.
Die Erfüllung [des Erlaubten] würde sich in diesem Fall von der
Normenkategorie der Empfehlung zu einer Pflichtkategorie im Allgemeinen
verändern.“71
Aš-Šāṭibīs Auffassung vom Erlaubten lässt die Deutung zu, dass nur die gemein-
same Werten, an die die Gemeinschaft glaubt, – und dies aus freier Übereinkunft –
die Idee grundlegend kennzeichnet, dass der gesellschaftliche Bund gegenüber den
Mitmenschen Verantwortung übernimmt.
Das Recht auf Wahlfreiheit zwischen Tun und Nicht-Tun bei dieser Kategorie
vom Erlaubten steht nur dem Einzelnen zu. Der Gemeinschaft als moralische
Institution wird dieses Recht hingegen nur unter Auflagen gewährt. Durch die
besondere Stellung, die die Kategorie des Erlaubten im Rahmen der Pflichtenlehren
von maqāṣid inne hat, offenbart sich das implizite „institutionelle“ Verhältnis
zwischen Individuum und Gemeinschaft bzw. zwischen dem Selber und Selbst am
deutlichsten. Versteht man Institution als eine Struktur des Zusammenlebens einer
historischen oder religiösen Gemeinschaft, die sich nicht auf die zwischenmen-
schlichen Beziehungen ihrer Mitglieder reduzieren lässt, so können aḥkām auf dem
Feld der Institution nur aufgrund der Idee eines Gesellschaftsbundes Fuß fassen.
70 Ebd., Bd. 3, S. 173 (für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 225.). Für eine ausführliche
Diskussion dieses Themas siehe: Mohammed Nekroumi: „Koraninterpretation im Kontext
inentionalistischer Rechtstheorien.“, S. 166f.
71 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 93. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 225.
Die Bedeutung der Beziehung, die das Erlaubte mit den anderen Kategorien
moralischen Urteils unterhält, hebt die Funktion der glaubensorientierten Vorstel-
lung eines Gesellschaftsbundes hervor, das Gerechte vom Guten zu differenzieren.
Man könnte aus moderner Perspektive sagen, dass der Bund (al-ʿurwa al-wuṯqā)72
der Gemeinschaft (umma) auf der Ebene der Institution diejenige Stelle einnimmt,
die der Glaube auf der individuellen Ebene der religiösen Praxis innehat. Während
aber der individuelle Glaube als eine Sache des Bewusstseins im Sinne eines
„Faktums der Vernunft“ gelten kann, d.h. als das Faktum, das religiöse Moralität per
se anerkannt wird, kann der Gesellschaftsbund nur als eine Vorstellung verstanden
werden, die in der moralischen Reflexion über das Verhältnis von Selber und Selbst,
Selbstachtung und Selbstschätzung zur Geltung kommt. 73
Um das Erlaubte als Pflicht im Kontext der gesellschaftlichen Verantwortung zu
rechtfertigen, bedarf es einer Ausschaltung der Selbstliebe gegenüber der Selbst-
schätzung. Die Ausschaltung der Selbstliebe wird im Koran als Grundbedingung der
Zugehörigkeit zur Gemeinschaft erhoben. So liest sich Q 59:9 wie folgt:
„Und diejenigen, die in der Wohnstätte und im Glauben vor ihnen zu Hause
waren, lieben (all die,) wer zu ihnen ausgewandert ist, und empfinden in
ihren Brüsten kein Bedürfnis nach dem, was (diesen) gegeben worden ist,
und sie ziehen (sie) sich selbst vor, auch wenn sie selbst Mangel erlitten. Und
diejenigen, die vor ihrer eigenen Habsucht bewahrt bleiben, das sind diejeni-
gen, denen es wohl ergeht.
Q 59:9 suggeriert nicht nur eine gewisse Differenzierung zwischen Selbstliebe und
Selbstschätzung, sondern impliziert vielmehr, dass Selbstliebe eine Art Abirrung der
Selbstschätzung ist. Dies zeigt noch einmal mehr, dass das Geheimnis um die be-
sondere Aufmerksamkeit aš-Šāṭibīs für die Kategorie des Erlaubten, das jahrhun-
dertelang für Missdeutung sorgte, nur adäquat entschlüsselt werden kann, wenn die
Verhältnisbestimmung zwischen aḥkām und maqāṣid im Rahmen einer Theorie der
theologischen Hermeneutik angegangen wird.
Durch die Ausarbeitung hermeneutischer Zusammenhänge zwischen den ethi-
schen Kategorien von Selbstliebe, Selbstachtung und Selbstschätzung zeigt sich die
Affinität des Erlaubten zum Begriff der Fürsorge. In der Kategorie des Erlaubten
offenbart sich die ethische Charaktereigenschaft der Moralpflicht der šarīʿa, Selbst-
achtung als Sinnbild des individuellen Gehorsams zur Norm und Selbstschätzung als
76 Vgl. al-Ġazālī: Islamische Ethik. Über Intention, reine Absicht und Wahrhaftigkeit, hg. und
übers. von Hans Bauer, Verlag Max Niemeymer, Halle an der Saale 1916, S. 45-60.Diese
Aussage erinnert sehr an Kants bekanntes Postulat in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten“: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken
möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.“
(Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt 1974, Bd. 7, S. 18).
77 Vergleichbar mit: Du sollst nicht töten, Du sollst nicht stehlen, Du sollst nicht lügen, Du sollst
nicht betrügen, etc.
78 Erinnert sei hier an die moderne Überlegung zum Begriff des sozialen Handelns, welcher
seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer diskursiv
bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist. (Vgl. u.a. Jürgen Kreft: „Vom
möglichen Umschlag sozialwissenschaftlicher Theorie in Praxis und Ontogenese. Ein Versuch
über Kohlberg“, In: Kommunikation und Reflexion (Hg.) Wolfgang Kuhlmann und Dietrich
Böhler, Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1982, S. 574ff. pp. 563-590.
79 Vgl. zur Sprechakttheorie u.a. John R. Searle: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of
Language, Cambridge 1969, auf das Arabische angewandt Nekroumi: Interrogation, Polarité et
Argumentation.
80 Robert Brunschvig schlägt den Begriff „Valeurs intermédiaires“ für die Subkategorien vor, um
die präskriptiven Rechtsnormen zu bezeichnen, die sich weder in die Kategorie des Verbots
noch in die Kategorie des Erlaubten vollständig integrieren lassen. (Vgl. Brunschvig:
„Herméneutique normative dans le judaisme et dans l’Islam“, S. 237-242.)
81 Ebd., S. 237.
Doch die jussiven Werte der verschiedenen al-aḥkām at-taklīfiyya sind primär an
deren Verhältnisse zu maqāṣid orientiert. Geht man von einer hermeneutischen
Interpretation der Fachsprache aš-Šāṭibīs aus, so stellt man fest, dass es sich bei dem
Begriff ḥukm um eine bestimmte Kategorie von kalām bzw. ḫitāb Allāh handelt,
nämlich um die „Rede“ Gottes in Bezug auf die Handlungen der Gotterhabenen, die
gebietet oder die freie Wahl lässt.
Aš-Šāṭibīs Normenlehre beruft sich dabei unmissverständlich auf die ašʿaritische
Auffassung zur göttlichen Rede, nach deren Deutung der Begriff ḥukm als Ausdruck
einer Sprechhandlung verstanden wird, die gleichermaßen zwei Ebenen des
göttlichen Wortes sowohl im Sinne eines Wortlautes, als auch im Sinne einer
Bewussheitsrede zugeschrieben werden kann. Ein hermeneutischer Zugang zur
Pflichtenlehre aš-Šāṭibīs ergibt sich nur, wenn man die ašʿaritische Verhältnisbe-
stimmung einerseits zwischen ḥukm als geistige Rede,82 d.h. im Sinne einer
Intention und als mündliche Rede (ḫiṭāb), und andererseits zwischen geistigem
Diskurs und Sprechakten als Ausgangspostulat voraussetzt. Dieser binären
Auffassung des Begiffs ḥukm liegt folgende rechtstheoretische Definition zugrunde:
„Es sei der geistige Diskurs und die Bedeutung (semantischer Gehalt) des Befehls
und des Verbots, der Verpflichtung und der Untersagung.“ 83
Es handelt sich um eine doppelte Definition, die eine hermeneutische Dimension
in einer theologischen Betrachtungsweise des Begriffs „Diskurs“ integriert. Was an
dieser Stelle jedoch die Aufmerksamkeit des Hermeneutikers erregt, ist, dass diese
Definition rein linguistisches und nicht-rein linguistisches Vokabular eng miteinan-
der verbindet. Im ersten Fall ist es der Begriff ḫiṭāb, der auf ein besonderes Interesse
bei dem späteren Rechtsgelehrten Abū l-Baqāʾ al-Kaffāwī (gest. 1094/1683) stieß,
der eine methodische Brücke zwischen Sprachlichem und Theologischem schlug:
„Die Rede bezeichnet den Ausdruck einer durch die Konventionen festgeleg-
ten Bedeutung, aber auch ihrem in der Seele entstehenden Denkinhalt. Der
Diskurs jedoch entspricht entweder dem Wortlaut [der Rede] oder der
Seelenrede, die zwecks Verständigung an den anderen gerichtet ist. Über die
Rede Gottes kam eine Meinungsverschiedenheit auf insofern, als man sich
gefragt hat, ob man sie in der Ewigkeit vor der Existenz der Angesprochenen
als Diskurs bezeichnen kann, als Herabsendung dessen, was zuerst sein wird,
und an der Stelle dessen, was zuerst hervorgebracht werden soll. Denn
derjenige, der sagt, dass der Diskurs die Rede ist, die auf Verständigung
abzielt, würde die Rede in der Ewigkeit auch als Diskurs bezeichnen, weil
dessen Ausrichtung im Allgemeinen Verständigung ist. Und für diejenigen,
die sagen, dass die Rede Gottes dem Verständnis derer dient, die fähig sind
zu verstehen, ist die Rede in der Ewigkeit kein Diskurs. Und die Mehrheit der
84 Ebd., Bd. 2, S. 286 (für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 161.). In der Enzyklopädie von Abū
al-Baqāʾ al-Kaffāwī findet man eine offensichtlich ašʿaritische Definition des ḫiṭāb, in der das
Konzept der Seelenrede eine zentrale Rolle spielt, jedoch wird dabei dem qaṣd eine Nebenrolle
beigemessen.
85 Doch ist diese Unterscheidung bereits in der Philosophie der Antike zu finden. Die Theorie von
Porphyrios (gest. 305 n. Chr.) von den tres orationes oder den drei Diskursarten (schriftlich,
mündlich und geistig) wurde von uṣūl al-fiqh neu gelesen, obwohl das Schreiben (kitāba) und
dem zufolge die „Offenbarungsschrift“ (kitāb) als Ausdruck eines Inhalts verstanden wird, der
kalām lafẓī (gesprochenes Wort) ist, das wiederum als Ausdruck eines Inhalts verstanden wird,
der kalām nafsī (geistiges Wort) ist. (Vgl. Pierre Larcher: „Quand en arabe, on parlait de
l’arabe. III. Grammaire, Logique, Rhétorique, dans l’islam postclassique“, in: Arabica 39/3
(1992), S. 358-384.) Die Besonderheit der Rezitation für den koranischen Diskurs kann
keineswegs mit der normalen mündlichen Rede Porphyrios verglichen werden.
im Koran geschrieben steht, mit qāla Allāhu (Gott hat gesagt) versieht, geht die
theologische Hermeneutik bei den beiden Kategorien von kalām soweit, dass ein
kalām nafsī zugleich ein kalām ist, da er sich auf die ultimative Intention des
Gesetzgebers bezieht.
Indem die theologische Hermeneutik die Aufteilung von kalām, so wie es die
theologische Tradition praktiziert, als eine Aufteilung der göttlichen Botschaft
ansieht, ebnet sie den Weg für die Exegese, den Offenbarungsdiskurs in zwei
Ebenen zu unterscheiden: einerseits auf der Ebene der Ausführung der Sprechakte
zwischen dem Urheber der Worte (Gott) und dem Sprecher (Prophet), andererseits
auf der Ebene der Rezeption zwischen Hörer (die Menscheit) und Empfänger
(Gläubigen). Der Begriff al-kitāb, der der Niederschrift des vom Propheten
überlieferten Offenbarungswortlautes auch im transzendentalen Sinne entspricht und
als ein Synonym besonderer Art für den Koran angesehen wird, wird häufig von aš-
Šāṭibī semantisch mit der Intention des Gesetzgebers im Kontext des Lebensvoll-
zuges in Verbindung gebracht. Al-kitāb stehte wiederum der Urschrift, sprich der
wohl aufbewahrten Tafel (al-lawḥ al-maḥfūẓ), gegenüber.86
Verständlich wird diese Sichtsweise insofern, als sie gleichzeitig suggeriert, der
Koran in seiner Schriftform (al-muṣḥaf)87 sei eher eine in menschlicher Sprache und
im historischen Kontext artikulierte Rede, die den Menschen die ewige Wahrheit
und die Gebote Gottes, die ebenfalls auch die früheren Botschaften Gottes an die
Menschheit enthalten, näher erläutert und im Bezug auf ihre Lebensrealität
nachvollziehbar macht. Diese Vorstellung entspringt dem Begriff der Abrogation,
dem zufolge Gott sich der Menscheit in der Geschichte sukzessiv offenbart.
Durchzogen von der Intention göttlicher Gemeinwohlideale unterhalten die drei
monotheistischen „Himmelsbotschaften“ ein intertextuelles Verhältnis, das an der
Veränderbarkeit menschlicher Realität orientiert ist. Dies impliziert folgendes:
Indem Gott sich dafür entschieden hat, zu den Arabern in ihrer Sprache zu sprechen
und so sicherstellte, dass ihnen Sein Diskurs sofort verständlich ist, hat Er sich
gleichwohl dafür entschieden, als Gott, der die gesamte Schöpfung durchdringt, von
Seinem Recht, Gesetzgeber zu sein, zurückzutreten. Durch die von der Offenbarung
abgeleitete Pflichtenlehre tritt nur der Gesetzgeber zu Tage und nicht Gott an sich,
da die Gottesbotschaft als Glaubensinhalt viel umfassender ist.
Aš-Šāṭibī setzt diese Lehre immer dann ein, wenn es zu einem Konflikt zwischen
dem Recht Gottes und dem des Menschen kommt. Im Rahmen der grundlegenden
Intentionen des Gesetzgebers erwähnt aš-Šāṭibī die Rolle der Offenbarungslässe
beim Verständnis der šarīʿa, zu denen auch die sprachkulturelle Ebene gehört. Das
normative Verständnis der Offenbarung setzt gleichermaßen ein tiefgreifendes
Wissen der semiotischen Komponente der Offenbarungssprache voraus. Mit inbe-
griffen sind aus den im Koran eingeflossenen Fremdwörtern, die aus einer
86 Die Aussage aš-Šāṭibīs setzt das Wort kitāb mit dem lawḥ maḥfūẓ gleich (Vgl. aš-Šāṭibī: al-
Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 61.)
87 Vgl. Mohammed Arkoun: Lectures du Coran, Paris 1982, S. 27ff.
Verdienste der negativen („tue nicht...“) und der positiven Formel („tue...“) im
Gleichgewicht;
„das Verbot lässt die Spannweite der nicht verbotenen Dinge offen; so lässt
es im Bereich des Erlaubten Raum für die moralische Erfindung. Umgekehrt
bezeichnet das positive Gebot deutlicher das Motiv des Wohlwollens, das
dazu anleitet, etwas für den Nächsten zu tun.“88
Der deontologische Ansatz in aš-Šāṭibīs Intentionstheorie liegt darin begründet, dass
der Mechanismus juristischer Interpretation des Korans aus sprachwissenschaft-
licher Sicht eine Theorie der Aussage, genauer der Sprechakte, ist, und dass auf
dieser Ebene eine enge Wechselwirkung zwischen den Grundlagen der Jurisprudenz
(uṣūl al-fiqh) und den beiden Bestandteilen der Rhetorik (al-balāġa), genannt ʿilm
al-maʿānī und ʿilm al-bayān, besteht, und dass die theologische Unterscheidung der
beiden Kategorien von kalām – nämlich kalām nafsī und kalām lafzī – linguistisch
als eine Unterscheidung zwischen „Urheber“ des Diskurses vs. „Sprecher“ neu
interpretiert werden kann, was das Tor zu einer polyphonen und hermeneutischen
Sichtweise des koranischen Textes öffnet.
der šarīʿa: „Diese gesegnete šarīʿa ist arabischen Ursprungs und frei von
sprachsystembedingten nicht-arabischen Einflüssen.“90
So hat sich bei den Rechtstheoretikern die Vorstellung durchgesetzt, dass sich
der Koran semiotisch und sprachtheoretisch an die Gemeinschaft eines bestimmten
Sprachraumes wendet, was gemäß dem Ansatz aš-Šāṭibīs in keiner Weise mit dem
universellen Anspruch des Korans, eine Botschaft an die ganze Menschheit zu sein,
im Widerspruch steht. Demnach formuliert er indirekt einen wesentlichen Unter-
schied zwischen Hörer (sāmiʿ) und Empfänger (mukallaf). Im Gegensatz zum
Hörer91 ist der Empfänger stets veranlasst, der arabischen Sprache mächtig zu sein,
um den Inhalt der Mitteilung richtig zu verstehen. Dabei geht es nicht nur um die
Sprache als Kommunikationsmittel, sondern vielmehr als semiotisches, sozio-
logisches und literarisches Phänomen. In dieser Richtung sollte man seine folgende
Aussage verstehen:
„Gegenstand der Betrachtung soll hier lediglich sein, dass der Koran
insgesamt in arabischer Sprache [„als Zeichensystem“] herabgesandt worden
ist. So kann sein Verständnis nur auf diesem Wege angestrebt werden. Und
derjenige, der ihn verstehen will, soll dies aus der Perspektive des arabischen
Sprachsystems tun. Es gibt außer diesem keinen anderen Weg, sein
Verständnis anzustreben. Hier liegt der Sinn dieser Angelegenheit.“92
So gesehen sollten die Intentionen des Gesetzgebers in Hinblick auf die im
arabischen Sprachsystem kodierten, Denkinhalte definiert werden, die auf der
Grundlage einer bestimmten Sprachintuition des native speaker (fiṭra) zustande
gekommen sind:
„Der sprachlichen Intuition [der Araber] zufolge wird eine allgemeine Aus-
sage verwendet, um eine explizite Bedeutung wiederzugeben oder um einen
besonderen spezifischen Inhalt oder aber je nach Kontext den Sinn des All-
gemeinen und des Spezifischen auszudrücken. Mit dem Allgemeinen kann
also auch das Spezifische und mit dem Expliziten das Implizite gemeint sein.
Und all das lässt sich entweder vom Anfang, von der Mitte oder vom Ende
einer Aussage erkennen. Die Araber drücken sich durch Aussagen aus, deren
seit Anfang des 19. Jahrhunderts neu entwickelten Ansätzen über Sprachwandel- und Natürlich-
keitstheorien, angefangen mit Roman Jakobson: La charpente phonique du langage, Paris 1980
bis hin zu den Arbeiten von Wolfgang U. Wurzel (Vgl. Wolfgang U. Wurzel: „Adaptionsregeln
und heterogene Sprachsysteme“, in: Wolfgang U. Dressler/Oskar E. Pfeiffer (Hg.): Phonolo-
gica 1976. Akten der dritten Internationalen Phonologie-Tagung, Wien 1976, S. 175-182.) und
Wolfgang U. Dressler (Vgl. Robert-Alain Beaugrande/Wolfgang U. Dressler: Einführung in die
Textlinguistik, Tübingen 1982.), inspirieren ließen.
90 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 49.
91 Mit Hörer ist hier jeder gemeint, der den Koran akustisch wahrnimmt, sich aber nicht unbedingt
angesprochen fühlen muss, wie z.B. Christen und Juden in der mekkanischen Gesellschaft zur
Zeit der Herabsendung der göttlichen Mitteilung.
92 Ebd., Bd. 2, S. 49. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 226.
Anfang auf deren Ende, oder aber deren Ende auf deren Anfang aufgebaut
wird. Sie äußern sich durch Ausdrücke, die entweder durch ihre inhärenten
Bedeutungen erkennbar sind, oder durch das, worauf sie hinweisen. Wie all-
gemein bekannt ist, verwenden die Araber verschiedene Bezeichnungen für
ein und denselben Gegenstand, so wie sie auch verschiedene Dinge durch ei-
nen Begriff bezeichnen. Und all diese Phänomene sind bei den Arabern in
dem Maße bekannt, dass sie sich deren sicher sind, ebenso wie sie sich über
das Wissen ihrer Sprache gewiss sind. Denn der Koran entspricht sowohl in
seinen Bedeutungen, als auch in seiner stilistischen Struktur dieser Ord-
nung.“93
Das Verständnis des Korans ist also kulturell wie sittlich in einem Sprachsystem
verschlüßelt, im weitesten Sinne dem Wort des Arabischen. Die Tatsache, dass es
sich beim koranischen Arabisch nicht um eine bestimmte Volkssprache oder
Mundart handelt, veranlasst aš-Šāṭibī immer wieder von lisān al-ʿarab und nicht von
luġat al-ʿarab zu sprechen. Das Wort lisān (Sprachsystem) zeichnet sich gegenüber
dem Begriff luġat (Sprachgebrauch) durch seine semiotische Funktion aus, als
Kulturspeicher einer Textgemeinschaft zu dienen, und erlaubt somit hemeneutische
Zugänge zum Ungesagten.
Damit will aš-Šāṭibī sich von einer über lange Zeit hinweg immer wieder
aufgestellten Behauptung distanzieren, die Araber hätten ihre Sprache im Laufe der
Geschichte immer als die auserwählte Sprache empfunden. Deshalb spricht er in
seinem Werk al-Muwāfaqāt in Bezug auf die Araber immer nur von ihrer Sprache;
die Araber sind für ihn arabisch-sprechende Menschen bzw. diejenigen, die über
eine bestimmte Sprachkompetenz bezüglich des Arabischen zum Zeitpunkt der
Offenbarung verfügen. Sie sind somit die Hauptadressaten und Empfänger dieser
Offenbarung. Aufgrund dieser breit gefassten Definition des Empfängers und seiner
Sprache richtet sich der Koran nach aš-Šāṭibīs Auffassung an die gesamte
Menschheit und die arabische Sprache ist diejenige, die am besten seine Lehren
verbreiten kann, weil sie, übertragen in moderner Begrifflichkeit, die Sprache der
universellen Transzendenz ist.
Die von aš-Šāṭibī beanspruchte Universalität der koranischen Botschaft offenbart
sich in der Verhältnisbestimmung dreier Begriffe, die seine Vorstellung von dem
allgemeingültigen Charakter der moralischen Normativität maßgeblich prägten. An
drei verschiedenen Stellen seiner Abhandlung zur Zielsetzung der Offenbarung
bezeichnet er den Begriff šarīʿa als ummiyya (als gemeinschaftlich und sittlich
orientiert), als ʿarabiyya (arabisch) und zuletzt als kawniyya (universal).
Ein Zugang zu aš-Šāṭibīs Verständnis seines Universalcharakters der šarīʿa
ergibt sich nur, wenn die Begriffe ummiyya und ʿarabiyya aus der ihnen zugrunde
liegenden kulturellen Gebundenheit abgelöst werden. Dies tut aš-Šāṭibī geschickt,
indem er ummiyya dem sittlichen Bereich, und ʿarabiyya dem semiotischen Bereich
93 Ebd., Bd. 2, S. 50. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 226.
zuordnet. Eine Moraltheorie ist für ihn also per se kulturgebunden und semiotisch
verschlüsselt.94
Dies erinnert sehr an die Schlußfolgerung des zeitgenössischen Philosophen
Alasdair MacIntyres, dem zufolge eine rationale Begründung der Moral nur im
Kontext von Traditionen möglich sei. Eine apriorisch rationale Rechtfertigung
moralischer Normen scheitere nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sich eine
rationale Konsensbildung hinsichtlich ethischer Prinzipien begründungstheoretisch
mehrfach als Utopie erwiesen habe.95
Aš-Šāṭibīs Deutung des universalen Charakters der Offenbarung geht mit der
allgemeinen Auffassung des Islams als Ergebenheit des Menschen in den Willen
Gottes einher. Dieser koranischen Idee zufolge offenbart der Begriff islām den allen
drei Buchreligionen gemeinsamen monotheistischen Charakter, dessen historische
Manifestation im Denkinhalt des Wortes dīn (Religion/Sinnschuld) ihren äußeren
Ausdruck findet. Bemerkenswert ist aber, dass der semantische Gehalt des Wortes
„Glaube“ nach traditioneller christlicher Glaubenslehre eine Nähe zum Begriff dīn
aufweist insofern, als der ursprüngliche lexikalische Sinn beider Begriffe (Kredit) in
der theologisch-terminologischen Bedeutung mitschwingt. Die historische
Konkretisierung des Glaubens durch die Verkündigung von Dekalog und šarīʿa
umschreibt, wenn auch unvollkommen, den Bundesschluss zwischen Gott und
Mensch in einer präskriptiven Relation von Befehl und Gehorsam, die zwangsläufig
der kasuistischen Auslegung Grenzen setzt. In allen drei monotheistischen
„Weltreligionen“, Judentum, Christentum und Islam, bedeutet Gehorsam gegenüber
dem ius divinum die Anerkennung des durch die Verkündigung vermittelten
Lebenssinns. Aus der unaufhebbaren Vieldeutigkeit des Begriffs dīn erklärt sich
nicht zuletzt auch das mit seiner lexikalischen Bedeutung zusammenhängende
Verständnis einer „Sinn-Schuld“, das aus den Schöpfungsgesetz-Vorstellungen aller
drei Himmelsreligionen hervorgeht.
Dass es sich bei aš-Šāṭibīs umma-Begriff um ein dynamisches Konzept handelt,
das einem Doppelprinzip der Bestimmtheit unterworfen zu sein scheint, lässt sich an
dem Auslegungsverhältnis der koranischen Botschaft zu früheren göttlichen
Verkündigungen sehen. Die jeweiligen Offenbarungsschriften der drei Buchreligio-
nen stehen laut dem Koran in einer hermeneutischen Wechselbeziehung gleicher-
maßen zueinander wie auch zur sogenannten Urschrift.
Das vieldeutige Wesen des Begriffs umma haftet bei der Offenbarung an dem
dynamischen Verhältnis von Veranlagung und Verpflichtung. Hier wird mit der
Vorstellung der Anerschaffenheit (fiṭra) als Dreh- und Angelpunkt monotheistischer
96 Vgl. Jan Assmann: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“ in ders./Tonio Hölscher
(Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt 1988, S. 9-19.
97 Vgl. Matthias Blum: „Von der ‚Verwerfung‘ Israels zur ‚bleibenden Erwählung‘? Aktuelle
kontroverstheologische Sichtweisen zum Verhältnis Kirche und Israel“, in: Hansjörg Schmid
u.a. (Hg.): Kirche und Umma. Glaubensgemeinschaft in Christentum und Islam, Regensburg
2014, S. 151-159.
1 Vgl. Šihāb ad-Dīn al-Qarāfī: Šarḥ tanqīḥ al-fuṣūl fī ḫtiṣār al-maḥṣūl fī l-uṣūl, Kairo 1973, S.
67-79.
2 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 135.
3 Als moderner Vertreter dieser Position z.B. verbietet al-Qaraḍāwī jeglichen Anlass zur einer
Handlung, der zu einem möglichen Ergebnis entweder in Form eines Verbotes oder einer
Verwerfung führt. Bspw. fällt unter diese Kategorie das Verbot des alleinigen Reisens von
Frauen ohne eine Person, die mit ihr in einem die Ehe ausschließenden verwandschaftlichen
Verhältnis steht. Zwar ist das Reisen an sich nicht verboten, sondern die möglichen daraus
enstehenden verbotenen Handlungen wie etwa Ehebruch oder Unzucht. (Vgl. al-Qaraḍāwī:
Erlaubtes und Verbotenes im Islam, S. 131ff.)
4 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 142. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 226.
5 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 142-143.
Handlung und nicht unbedingt ausschließlich nach der bloßen Erfüllung eines
verbalen oder verhaltensmäßigen Anlasses.6
6.2. Das Verhältnis von Anlass und Ergebnis bei der ethischen
Urteilsbildung (asbāb vs. musabbabāt)
Nach aš-Šāṭibī soll die Ausrichtung der Handlungsintention auf dem daraus
resultierenden Ergebnisse als allgmeine Maxime verstanden werden, die besagt, dass
die Gebote Gottes formuliert wurden, um das Gute hervorzurufen und das
Verwerfliche abzuwenden (ǧalb al-maṣāliḥ wa darʾ al-mafāsid). Wenn alle Anlässe
und Auswirkungen der Handlungen auf die eben genannte Maxime zurückgeführt
und an den Rechtsgeboten gemessen werden, so fungieren sie als rechtsmäßige
musabbabāt.
Diese systematische Argumentation führte aš-Šāṭibī zu einer schwierigen
theologischen Frage, die auf zweierlei Weise beantwortet werden kann: Gehen die
aus den von Gott vorgeschriebenen Handlungen entstandenen Ergebnisse mit seiner
Intention einher, oder richtet sich seine Intention auf die eigentliche Ausführung
einer Handlung aus, ohne die daraus entstandenen Auswirkungen zu berücksich-
tigen? Diese Fragen scheinen umso wichtiger, wenn es um die verbotenen Hand-
lungen geht. Denn eine Verallgemeinerung der These, dass asbāb von Gott gewollt
sind, um musabbabābāt hervorzurufen, impliziert eine gefährliche Unterstellung, die
man in Form der folgenden Frage zum Ausdruck bringen kann: Sind Handlungen
wie Mord, Diebstahl und Ehebruch vom Gott absichtlich als Mittel geschaffen
worden, um die dadurch entstehenden Auswirkungen hervorzurufen und sie im End-
effekt strafbar zu machen?7
Die Fragestellung veranlasst aš-Šāṭibī eine zweiteilige Kategorisierung der
Verbindung zwischen sabab und musabbab vorzunehmen:
A. Musabbabāt, für die die asbāb aufgestellt worden sind: Diese betreffen hauptsä-
chlich erlaubte Handlungen, die überwiegend mit den grundlegenden Absichten (al-
maqāṣid al-aṣliyya) des Gesetzgebers zusammenhängen. Im Rahmen dieser Katego-
rie werden aber auch Handlungen ausgeführt, die mit den fakultativen Zielsetzungen
(al-maqāṣid at-tābiʿa) in Verbindung stehen.
6 Z.B. das alleinige Reisen von Frauen, oder die Vermischung der Geschlechter im öffentlichen
Raum gelten nicht per se in der šarīʿa als Anlässe juristischen Urteils.
7 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 191 sowie 212ff. Das Verhältnis zwischen vorgeschriebenen Moral- und
Rechtsnormen wie z.B. Almosenabgabe oder Fasten und den damit verbundenen Zielsetzungen,
wie etwa Armutsbekämpfung oder Mäßigung- ist rational nachvollziebar und so mit Gottes In-
tention leicht zu vereinbaren. Andere jedoch von Gott verbotene aber erschaffene Handlungen
wie Mord, Diebstahl, Unzucht etc. sind laut ašʿaritischer nicht zwingend mit Gottes Intention zu
verbinden.
B. Musabbabāt, von denen man annimmt oder erfährt, dass die Handlungsursachen
(asbāb) für sie geschaffen worden sind, und Wirkungen, von denen man weder weiß
noch vermutet, dass die Anlässe für deren Verwirklichung aufgestellt worden sind.
Diese Kategorie umfasst die komplexen Fälle menschlichen Handelns, welche in
drei Untergruppen geordnet werden können:
a. Musabbabāt, von denen man weiß, dass die asbāb für deren Verwirklichung
aufgestellt worden sind (z.B. Eheschließung und Nachwuchs, Fasten und
Mäßigung etc.).
b. Musabbabāt, von denen man weiß, dass die asbāb nicht für deren
Verwirklichung aufgestellt worden sind (z.B. Blutrache und Mord, Scheidung
und Eheschließung etc.).
c. Musabbabāt, von denen man nicht weiß, ob die asbāb für deren
Verwirklichung aufgestellt worden sind oder nicht (z.B. Handel und die
Entstehung eines Zinsertrages oder mutʿa-Ehe, d.h. die Ehe, die zwecks Genuss
und auf Zeit geschlossen wird, etc.).8
von jeglicher Pflicht befreit, irgendeine Wirkung für seine Handlung zu intendieren.
Nach aš-Šāṭibī seien die Wirkungen der Handungen im allgemeinen Sinne eine
Angelegenheit Gottes, da Er der Allwissende hinsichtlich des menschlichen
Wohlergehens ist.11
Die Intention des Gesetzgebers, Wirkungen bestimmter Handlungen verwirklicht
zu sehen, vollzieht sich jenseits der Zielsetzung göttlichen Gebots. Die erste
Zielsetzung ist theologisch-ontologisch begründbar, während die zweite eher
diskursiv und juristisch zu verstehen sei. Laut aš-Šāṭibī sei in den Quellen der šarīʿa
nichts was auf eine Pflicht zur Berücksichtigung des Handlungsergebnisses
hinweist. Denn dies liege außerhalb der Fähigkeit des Verpflichteten, vorausgesetzt,
dass der Verpflichtete kein Vorwissen zu seinem Handlungsergebnis besitzt. 12
Der Verpflichtete wird folglich von jeglicher Verantwortung gegenüber den
Wirkungen seiner Handlungen befreit, besonders dann, wenn er sich den
rechtmäßigen Handlungsanlässen (al-asbāb al-mašrūʿa) widmet:
„Es ist für den Verpflichteten nicht notwendig, bei der Ausführung der
Handlungsanlässe die Ergebnisse im Blick zu haben oder auf sie abzuzielen.
Das, worauf abgezielt wird, ist lediglich, die aufgestellten Moral- und
Rechtsnormen zu befolgen, seien sie nun Handlungsanlässe oder nicht.
Gleichgültig, ob sie kausal begründbar sind oder nicht.“ 13
Was soviel heißt, dass der Verpflichtete auf die in den Quellen der šarīʿa
festgelegten Wirkungen der Rechts- und Moralnormen abzielen darf. Hierbei sind
die Alternativen einem Abstufungsprozess untergeordnet, der auf der Grundlage des
Vorausgesetzten aufgestellt wird:
a) Im Falle einer vorausgesetzten Intention zur Erzielung einer Wirkung steht der
mukallaf vor drei Alternativen:
1. Er kann seine Handlung mit der Implikation vornehmen, dass er der
ausschlaggebende Faktor bei der Festlegung des Ergebnisses seiner Handlung ist,
sodass es demnach eine dialektisch zwingende Beziehung zwischen Anlass und
Wirkung bestehe. In diesem Falle entferne sich der mukallaf von dem durch das
Prinzip der Einheit Gottes in der šarīʿa verankerten Frömmigkeitscharakter der
Dienerschaft. Eine solche Annahme darf laut der Aussage aš-Šāṭibīs keiner
rechtmäßigen Handlung als Intention dienen.
2. Er kann vor der Ausführung seiner Handlung davon ausgehen, dass jede
Handlung nach dem Gewohnheitsprinzip zu einer bestimmten Wirkung führt, die
man als ihr natürliches Ergebnis bezeichnen kann. Diese auf Gewohnheitsrecht
basierende Annahme wird hingegen von aš-Šāṭibī für bestimmte Situationen
akzeptiert.
3. Er kann an seine Handlung mit der Annahme herangehen, dass Gott der Einzige
ist, der die Ergebnisse des menschlichen Handelns hervorbringen oder verhindern
kann, so wie Er es will. Dieser Stufe der Beurteilung sollte laut aš-Šāṭibī gegenüber
den vorherigen Stufen Vorzug gegeben werden.
1. Er sieht in den Handlungen ein Zeichen Gottes, die Menschen auf die Probe zu
stellen. Der Mensch ist in diesem Sinne von Gott beauftragt, solche Handlungen
durchzuführen, damit diese als Anlässe (sabab) zur Verwirklichung einer von Gott
vorgeschriebenen Wirkung (musabbab) dienen. Der Menschenwille ist hier nicht
relevant, da es sich um eine Prüfung Gottes handelt.
2. Er kann seine Handlungen vornehmen, ohne an deren Ergebnisse zu denken. Er
sieht sich in diesem Fall als ein Diener Gottes, der den Grundlagen der Dienerschaft
gerecht werden will, indem er sich weder für die Anlässe noch für ihre Wirkungen
interessiert. Die Kausalität wird hier als eine reine Angelegenheit Gottes angesehen.
3. Er kann die vorgeschriebenen Handlungen als legitime Mittel betrachten, deren
Ergebnisse oder Wirkungen nur von Gott bestimmt werden können. Dieser
Annahme zufolge können die von Gott vorgeschriebenen Handlungen als eine
Prüfung für die Menschen interpretiert werden. Aš-Šāṭibī sieht in dieser Stufe eine
Zusammenfassung aller positiven Aspekte der anderen Kategorien und plädiert
ausdrücklich für die Annahme eines solchen Standpunktes. 14
Durch eine Betrachtung von aš-Šāṭibīs Kommentaren zu jeder einzelnen Stufe stellt
man fest, dass der mukallaf im Falle von Unwissen nur indirekt verantwortlich für
die Ergebnisse seines Handelns gemacht werden kann. Dies ist nicht verwunderlich,
da in der Rechtstheorie das Prinzip der Dienerschaft als Schlussstein des
Verhältnisses zwischen Gott und Mensch angesehen wird.
„Die Zwecke und das Zusammenspiel von Ursache und Wirkung bilden [...]
keinen zuverlässigen Leitfaden auf dem Weg zur Unterwerfung des ganzen
Lebens der Gläubigen unter die von Gott verfügten Normen“, 15
wie Tilman Nagel früher einmal in Bezug auf einen von aš-Šāṭibīs Vorgängern,
nämlich al-Ǧuwaynī, auf dem Gebiet von maqāṣid betonte.
Was aber bei aš-Šāṭibī die Besonderheit ausmacht, ist sein ständiges Bemühen
zwischen dem Prinzip der Dienerschaft und der rationalen Urteilskraft einen Mittel-
weg zu finden. Seine Skepsis gegenüber einer Überbewertung von musabbabāt rührt
daher, dass er die Gottesfurcht bei der Begründung der kausalen Verkettung hervor-
hebt.16
Sollte man jedoch über die notwendige Frömmigkeit verfügen, die einen davor
bewahrt, sich in Gottesangelegenheiten einzumischen, und einen vor dem Gefühl
schützt, die Wirkungen seiner Handlung mitbestimmen zu können, so ist die
Berücksichtigung von musabbabāt nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht. Da
die Missachtung der Wirkung bei verwerflichen bzw. verbotenen Taten fatale
Folgen haben kann, fordert aš-Šāṭibī den mukallaf auf, möglichst die Ergebnisse
seiner Handlungen im Blick zu halten. Um dies textuell zu belegen, zitiert aš-Šāṭibī
zahlreiche Koranverse und Hadithe, die auf die Wirkung bestimmter verbotener
Handlungen warnend hinweisen, wie z.B. Q 5:32:
„Aus diesem Grunde haben Wir den Kindern Israʾils vorgeschrieben: Wer ein
menschliches Wesen tötet, ohne (dass es) einen Mord (begangen) oder auf
der Erde Unheil gestiftet (hat), so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte.
Und wer es am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben
erhälten hätte. Unsere Gesandten sind bereits mit klaren Beweisen zu ihnen
gekommen. Danach aber sind viele von ihnen wahrlich maßlos auf der Erde
geblieben.“
Die Berücksichtigung der Wirkung wird von aš-Šāṭibī insofern gefordert, als sie eine
wesentliche Rolle bei der Überprüfung der Legitimität und Rechtmäßigkeit der
Handlungsanlässe, die dazu geführt haben, spielen. Auf der Grundlage einer
Berücksichtigung der Wirkung bei der Arbeit eines Arztes, eines Kochs oder eines
Handwerkers haben die Rechtsgelehrten bei solchen Berufen die Vergabe einer
Gewährleistung im Gesetz verankert. Die Gewährleistung gilt laut aš-Šāṭibī nur bei
einer Nachlässigkeit des Handelnden bei der Ausführung einer Tätigkeit. Zum
Schluss fasst aš-Šāṭibī die positiven Aspekte einer intentionalistischen Berücksichti-
gung der Wirkungen bei der Ausführung einer Handlung wie folgt zusammen:
„Derjenige, der sich ausschließlich mit den Handlungsergebnissen als Hin-
weis für die Richtigkeit oder die Falschheit der als Hintergrund dienenden
Handlungsanlässe auseinandersetzt, erlangt daraus eine hervorragend kohä-
rente Methode, die die genaue Analyse des Zusammenspiels der Handlungs-
anlässe gemäß der Rechtsordnung oder etwas anderem ermöglicht. Daher
wurden die expliziten Handlungen in der Rechtsordnung ein Hinweis für das,
was [als Maßstab für die moralische Urteilsfindung] impliziert ist. Und diese
bilden ein grundlegendes Fundament des Rechtsverständisses [fiqh] sowie für
die normativen und experimentellen Rechtsbestimmungen.“17
Hier wird ein interessanter Vergleich zwischen der Dichotomie implizit (bāṭin) vs.
explizit (ẓāhir) und der Dualität Anlass (sabab) vs. Wirkung (musabbab) dargestellt.
Genauso wie das explizite Verhalten über den dahinter steckenden Standpunkt viel
sagen kann, kann die Wirkung einer Handlung viel über die Natur der Handlung
aussagen. Alles in allem kann die Berücksichtigung der Wirkung einer Handlung
nur auf der Grundlage der Intention des Handelnden beurteilt werden:
„Wenn die Berücksichtigung des Ergebnisses einer guten Handlung dazu
führen kann, dass die Durchführung dieser Handlung gefördert wird, [so ist
es im Sinne des Gesetzgebers], die Wirkung zu berücksichtigen, da dies dazu
dient, das Gute hervorzurufen (ǧalb al-maṣlaḥa). Wenn die Berücksichtigung
des Ergebnisses dazu führen würde, den Vollzug der [offenbar zum Guten
verleitenden] Handlung zu verhindern, abzuschwächen oder zu verzögern, so
wäre das, was das Hervorrufen einer Schlechtigkeit gleich käme.“18
18 Ebd., Bd. 1, S. 172-173. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 227.
19 Ricoeur: Soi-même comme un autre, S. 190.
20 Selbst der mühsam von Paul Grice erarbeitete Begriff von „Maximes of conversation“ scheiter-
te letzten Endes an der Überwindung der Symmetrie zwischen Sprecher und Hörer sowie an der
Schaffung einer extralinguistischen umfassenden Systematsierung des Kommunikations-
umfelds, das die moderne Hermeneutik zur Erweiterung des interaktiven Felds durch die
Einführung der Dichotomie „Handelnder vs. Leidender“ bewegte. (Vgl. Nekroumi: Interro-
gation, Polarité et Argumentation. Vers une Théorie Structurale et Enonciative de la modalité
en arabe classique.)
musabbabāt werden daher von aš-Šāṭibī bewusst in das praktische Feld angesiedelt
und aus der Perspektive der kausalen Handlungstheorie diskutiert.
Durch das interaktionelle Konzept konventioneller Regeln lässt sich die
theologische Ethik aš-Šāṭibīs umissverständlich in der Handlungssemantik verorten.
Damit wird eine methodisch grundlegende Ergänzung seiner auf die Theorie der
Sprechhandlung basierenden Pflichtenlehre gewährleistet, die im Äußerungsakt
gründet und offen für die Selbstbezeichnung des Gläubigen als Sprecher bzw. als
Partner im Diskursgeschehen der Gemeinschaft ist.
Zwar bietet die Diskursrhetorik bei der Definition des Handelnden eine größere
Hilfe als die Handlungssemantik, jedoch nur bis zu einem bestimmten Punkt, inso-
fern es mehr bedeutet, sich als Handelnden zu bezeichnen, anstatt sich als Sprecher
wahrzunehmen.
Auf diese Weise wird die dem sozialen Verhalten des Gläubigen inhärente dop-
pelte Voraussetzung offenkundig gemacht: nämlich einerseits, dass Pflichthand-
lungen konventionellen Regeln unterworfen werden können, und andererseits, dass
Gläubige als Handelnde für ihre Taten und für damit einhergehende Ergebnisse
verantwortlich gemacht werden können, was bei der theologischen Urteilsfindung
eine zusätzliche Deliberation auf Handlungsziele nach sich zieht.
Eine der wichtigsten Aufgaben von al-aḥkām al-waḍʿiyya besteht in der Klärung
der Frage, inwiefern der Gläubige verantwortlich für seine Handlungen gemacht
werden könne, die ihrerseits als erlaubt oder unerlaubt gelten und somit die Frage
nach der Zurechnung stellen. So werden gleichzeitig Gebote und Verbote auf der
Ebene der Pflichthandlungen und Belohnung bzw. Lob sowie Bestrafung bzw. Tadel
auf der Seite der Verpflichteten bestimmt.
Die besondere Bedeutung, die den konventionellen Regeln der al-aḥkām al-
waḍʿiyya im Rahmen der maqāṣid-Rechtstheorie beigemessen wird, rührt aus dem
tiefgreifenden methodischen Anliegen, das Verhältnis zwischen moralischer Zu-
schreibung und logischer Zurechnung im Prozess situativer Urteilsfindung auszu-
arbeiten.
Die von aš-Šāṭibī hervorgehobene Rolle des Begriffspaars Anlass und Wirkung
wird offensichtlich von der Intention geleitet, die handlungstheoretischen Aspekte
diesseitiger Fehlbarkeit bzw. Sündhaftigkeit hermeneutisch zu ergründen.
Mit der Dichotomie asbāb vs. musabbabāt wird andererseits der Grundstein für
außersprachliche Regeln gelegt, die neben den semantischen Postulaten der Sprech-
akttheorie eine handlungsorientierte Zusammenstellung der Praktiken leiten. Wie es
soeben in aš-Šāṭibīs Analyse von asbāb vs. musabbabāt deutlich gemacht wurde,
sind aus der Perspektive der Handlungstheorie nicht einzelne Handlungen, sondern
lediglich Handlungsketten ausschlaggebend, die in der heutigen Philosophie der
Praxis Praktiken genannt werden.
Aš-Šāṭibīs Verständnis von menschlichem Handeln, sei es weltlicher Berufsaus-
übung, ritueller Praxis oder Füsorge-Wohltat, wurzelt durch ihre zugrunde liegende
vorausgesetzte Intention in der glaubenden Erkenntnis, dass jedes Tun eines Men-
schen einer von Gott geleiteten, menschlichen Willensfreiheit vorausgeht. Die vom
Andererseits wirft sie eine der grundlegendsten Fragen moralischer Zurechnung auf,
nämlich die des Anfangs einer Handlungskette. Denn nur durch die Gewährleistung
einer gewissen Vollständigkeit der kausalen Reihe, der im Zuge des Handlungsvoll-
zugs voneinander abstammenden Ursachen, kann eine logische Zuschreibung der
Handlung festgestellt werden, die als Grundbedingung für die moralische Zurech-
nung gilt.
Mit dem Begriff sabab wird auf diese Weise eine zweite weltlich definierte Idee
des Anfangs eingeführt, die sich auf den bereits von aš-Šāṭibī ausgearbeiteten
schöpfungstheologischen Konzept des Anfangs (al-ḫalqī at-takwīnī) gründet. 24
Übertragen auf die kantische Terminologie wäre der eine der sogenannte Anfang
innerhalb des Weltlaufes, der andere der Anfang der Welt.25
Dass es sich bei einem Anfang in der Welt nicht um eine absolute Initialbe-
wegung der Zeit, sondern der Kausalität handelt, lässt sich an seiner Eigenschaft
erkennen, seine umfassende Funktion nur auf begrenzte Reihen von Ursachen aus-
zuüben. Somit werden andere Kausalreihen erkennbar, die von anderen Subjekten
initiiert werden.
Durch den Gedanken des Anfangs in der Welt, der aus dem sabab-Begriff
hervorgeht, wird einerseits in der islamischen Jurisprudenz ein Referenzrahmen für
die überlieferte theologisch-ethische Weisheit dargelegt, die besagt, dass sich der
Gläubige den notwendigen Mitteln zur Erlangung seiner abgesteckten Ziele
bedienen und sich nicht auf die Erwartung der Wirkung Gottes beschränken soll (al-
aḫḏ bi-l-asbāb). Andererseits wird durch die Ausarbeitung des sabab-Begriffs
versucht, dem flüchtigen Charakter des „Anfangs in der Welt“ eine Beständigkeit
nachzuweisen, die eine moralische Zurechnung im Kontext des dynamischen
Handlungsprozesses möglich macht.
Wohlwissend, dass das Verhältnis von sabab und musabbāb einer kausalen
Ontologie zuzuschreiben wäre, in der die Ereignisse und nicht die Absichten im
Mittelpunkt stehen, setzt aš-Šāṭibī bewusst das Augenmerk auf die Frage der
Vereinheitlichung der Ursachen-Reihe und knüpft die Funktion von sabab an dessen
intentionale Zielsetzung sowie an die kognitive Kompetenz des Handelnden und des
Urteilenden. Das Intergrationsvermögen der Absicht, von dem die gesamt kausale
Reihe, die der betreffenden Handlungskette als Hintergrund dient, durchzogen wird,
fungiert als Prämisse moralischer Zurechnung.
Die Ontologie des Ereignisses setzt jedoch eine Vielzahl möglicher Anfänge
voraus, sodass die Hürde der Abgrenzung einer Ereignissphäre, für die ein
Handelnder zur Verantwortung gezogen werden kann, fast als unüberwindbar
erscheint. Die Frage einer möglichen Verstrickung des Gläubigen in den entfernten
Folgen seines Tuns wird in der Jurisprudenz entweder in den Bereich menschlicher
Demut oder in die Sphäre göttlicher Gnade angesiedelt. Weil die rechtstheoretische
Überlegung primär je Ereignissphäre nur eine einzige Reihe von Ursachen verfolgt,
werden nach der Ablösung der Auswirkungen einer Handlung vom Handelnden die
Folgen menschlicher Initiativen den von göttlicher Wirkung durchzogenen
Naturgesetzen26 zugeschrieben: „Und ihr könnt nicht(s) wollen, außer dass Allah
(es) will. Gewiß, Allah ist allwissend und allweise.“27
Hier wird noch einmal mehr klar, wie schwer sich die islamische Jurisprudenz
mit dem Thema Schuldzuweisung bzw. der moralischen Zurechnung tut. Für die
Demut des faqīh spricht die von allen Rechtsgelehrten anerkannte Maxime zur
Schuldzuweisung: „Im (geringsten) Zweifel für den Angeklagten“.
Auf der einen Seite kann eine Handlung Auswirkungen hervorrufen, von denen
gesagt wird, sie sei ungewollt und gar ins Gegenteil verkehrt. Auf der anderen Seite
scheint es nicht immer leicht zu sein, den Unterschied zwischen dem, was dem
Handelnden und dem, was der kausalen Verkettung zuzuschreiben wäre, auszuma-
chen.28
Bemerkenswert in aš-Šāṭibīs komplexer Abhandlung zu Handlungsmotiven und
Handlungszielen ist der zum Schluß suggerierte Gedanke, dass die Bestimmung
eines Wendepunktes, an dem die Verantwortung eines Handelnden endet, eher eine
Sache selbständiger Urteilsfindung (iǧtihād) als logischer Feststellung ist.29 Sünde,
Reue und Rechtschaffenheit sind Sachmomente moralischen Handelns, dessen
reziprokes Verhältnis von einem Kontinuum geprägt ist.30
26 Was hier zu denken gibt, ist, dass das, was mit Naturgesetzen in der islamischen Jurisprudenz
gemeint ist, kaum mit Kants „absoluter Spontaneität der Ursachen“ zu tun hat, die er durch
das Vermögen definiert, „eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von
selbst anzufangen“. (Kant: Kritik der reinen Vernunft, A 446.)
27 (Q. 76:30)
28 Nach Wilhelm Schapp ist „die Handlung eines jeden (und seine Geschichte) nicht nur in den
physischen Lauf der Dinge, sondern in den sozialen Lauf menschlicher Tätigkeit verstrickt.“
(Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, S. 159ff.)
29 Es ist Herbert Hart, der die Formulierung dieser bemerkenswerten Idee wagte. (Vgl. Herbert
Lionel Adolphus Hart: „The Ascription of Responsibility and Rights”, in: Proceedings of the
Aristotelian Society 49 (1948), S. 171-194.)
30 Diese Grundmaxime trifft offenbar auf alle Kategorien moralisch-theologischen Urteils zu. So
verhält es sich mit der Relation zwischen Gläubigen und Andersgläubigen. Eine der am häu-
figsten verwendeten Bedeutung des Worts kāfir (Andersgläubiger) im Koran ist die der
Undankbarkeit. Desweiteren wird in Sachen Glaube und Unglaube seitens der Jurisprudenz auf
einen überlieferten Hadith des Propheten (sas) verwiesen, in dem eine Parabel erzählt wird,
welche die Muslime dazu aufruft, keine Waffengewalt gegenüber andersgläubigen Kämpfern
auszuüben, die sich in einer schutzlosen Situation befinden, da aus diesen rechtschaffene
Gläubige werden können, deren Frömmigkeit bei weitem die der Angreifer übertreffen könnte
(Buḫārī: Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, Bd. 2, S. 632f., Hadith-Nr. 3267.)
31 Die Unterscheidung beider Begriffe der Freiheit geht auf Kants These zurück, in der er
erläutert: „Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die
Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch
Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig“. (Kant: Kritik der reinen Vernunft,
B 472.)
32 Die angemessenste Darstellung einer solchen Verbindung scheint diejenige zu sein, die G.H.
von Wright in Zusammenhang mit seinem sog. „quasi-kausalen Modell“ vorbringt. (Vgl. Georg
Henrik von Wright: Explanation and Understanding, London 1971; dt. Erklären und
Verstehen, Frankfurt a.M. 1974.)
durchgeführt werden soll. Angesichts der Tatsache, dass die Verpflichtung des
Schöpfers an seine Geschöpfe rituelle Praxis (ʿibādāt) ebenso wie ethische und
moralisch-normative Handlungsvorschriften (muʿāmalāt) umfasst, lassen sich die
Begründungsfragen mit Begriffen philosophischer Werturteile, wie etwa Gutheit
oder Glückseligkeit nicht ausschöpfend beantworten. Denn die im Koran und der
Sunna verkündete göttliche Rechtsordnung zeichnet sich grundlegend durch ihr
spezifisches Gerechtigkeitskonzept aus, das alle bisher bekannten menschlichen
Maßstäbe des gerechten Handelns derart umstösst, dass es sie zum Teil außer Kraft
setzt.36
Die antike Vorstellung von Gerechtigkeit als Gleichheitsprinzip einer symmetri-
schen Verteilung von Rechten und Pflichten einerseits, Nutzen und Belastungen
andererseits, stellt lediglich einen Teilaspekt eines im Sinne des Schöpfers
rechtschaffenen Lebens dar,37 nämlich derjenige, der für die Verankerung einer
sogenannten iustitia distributiva (Verteilungsgerechtigkeit) in der Rechtsordnung
des Gemeinwesens notwendig ist. Die islamische Auffassung der iustitia distributiva
ist jedoch mit der gnostischen und kosmischen Gerechtigkeitskonzeption einer
absoluten Gleichheit keineswegs vergleichbar. Dass die Menschen in ihrer Beschaf-
fenheit sowie in ihrem Handlungsvermögen unterschiedlich sind, entspricht laut
koranischer Verkündigung Gottes Plan:
„Er ist es, Der euch zu Nachfolgern (auf) der Erde gemacht und die einen von
euch über die anderen um Rangstufen erhöht hat, damit Er euch mit dem, was
Er euch gegeben hat, prüfe. Gewiß, dein Herr ist schnell im Bestrafen, aber
Er ist auch wahrlich allvergebend und barmherzig.“ (Q 6:165)38
Die Umsetzung des islamischen Gleichheitsprinzips in der, augustinisch ausge-
drückt, civitas terrena orientiert sich folglich an den Unterschieden der Menschen
(in ihrer Verfasstheit) innerhalb der Gemeinschaft. Dabei hebt die islamische Ethik
36 Vgl. u.a. Q 5:8: „O die ihr glaubt, seid Wahrer (der Sache) Allahs als Zeugen für die
Gerechtigkeit. Und der Hass, den ihr gegen (bestimmte) Leute hegt, soll euch ja nicht dazu
bringen, dass ihr nicht gerecht handelt. Handelt gerecht. Das kommt der Gottesfurcht näher.
Und fürchtet Allah. Gewiß, Allah ist kundig dessen, was ihr tut.“
37 Aristoteles: Aristoteles' Nikomachische Ethik, S. 96ff.
38 Den Koranversen, die die Ungleichheit bei Belohnung und Bestrafung mit dem ungleich-
mäßigen Handlungswillen und der unvergleichbaren Leistung des Menschen rechtfertigen, wie
etwa Q 40:58: „Nicht gleich sind der Blinde und der Sehende und auch nicht diejenigen, die
glauben und rechtschaffene Werke tun, und der Missetäter. Wie wenig ihr bedenkt!” oder Q
6:132: „Für alle wird es Rangstufen geben, je nachdem, was sie getan haben. Und dein Herr ist
nicht unachtsam dessen, was sie tun“, (vgl. hierzu auch u.a. Q 4:95; 5:100; 11:24; 13:16; 16:76;
39:9.) stehen zahlreiche Koranverse gegenüber, die die Ungleichheit bei der Schöpfung als
Gottesplan verkünden, wie z.B. Q 43:32: „Verteilen etwa sie die Barmherzigkeit deines Herrn?
Wir verteilen doch unter ihnen ihren Lebensunterhalt im diesseitigen Leben und erhöhen die
einen von ihnen über die anderen um Rangstufen, damit die einen von ihnen die anderen in
Dienst nehmen. Aber die Barmherzigkeit deines Herrn ist besser als das, was sie
zusammentragen.“ (Vgl. hierzu u.a. auch Q 6:83; 12:76; 17:21.)
göttlichen Rechts gegen das Prinzip der göttlichen Gerechtigkeit, es müsse aber die
Behauptung der Ǧabriyya hingenommen werden, dass Gott der Urheber
menschlichen Handelns und daraus folgend auch verwerflichen Handelns sei. 43
Aus der früheren muʿtazilitischen Glaubenslehre wird folgendes Postulat
überliefert: Gott kann das Übel nicht tun, weil Er es nicht will. Sünde und Leid sind
Bestandteile menschlichen Handelns, die von Gott als Prüfsteine für die Menschen
im Diesseits geduldet werden. Die Muʿtaziliten verweisen diesbezüglich auf
Koranverse, wie etwa in Q 42:30: „Und was immer euch an Unglück trifft, es ist für
das, was eure Hände erworben haben. Und Er verzeiht vieles“, um die Verant-
wortung des Menschen bei der Gerechtigkeitsfrage hervorzuheben. Laut muʿta-
zilitischer Auffassung bedeutet die Tatsache, dass Gott das Böse nicht aus der Welt
beseitigt, keinewegs, dass Er missgünstig oder schwach wäre, sondern lediglich,
dass Er den Menschen eine gewisse Willens- und Handlungsfreiheit gewährt, um
sein Gerechigkeitsprinzip kundzutun. Die Frage einer transzendentalen Rechtfer-
tigung des Übels wird dadurch relativiert.
Die Interventionsfähigkeit Gottes in die Lebenswelt vollzieht sich auf einer für
den Menschen unbegreifbaren Ebene, die eine lebensdienliche praktische Vernunft
übersteigt und Werte wie Gnade, Barmherzigkeit oder Segen bzw. Heil (al-luṭf)
bereitstellt. So heißt es nach Q 12:100: „Gewiß, mein Herr ist feinfühlig (in der
Durchführung dessen), was Er will. Er ist ja der Allwissende und Allweise.“ Die
Wirkung Gottes in die Lebenswelt vollzieht sich nach dem Qadariten Abū l-Huḏayl
al-ʿAllāf (gest. 225/840) dadurch, dass sich Seine Seinsfülle auf die gesamte
Schöpfung erstreckt, und folglich ein „zugrunde gehen“ der Welten verhindert. Mit
Gottes Kraft können die Menschen im Diesseits aufgrund der endlichen Verfassung
ihres Willens lediglich unvollkommene Handlungen ausführen, die erst im Jenseits
ihre Vollkommenheit finden.44 Aufgrund seines freien Willens könne der Mensch
mit Gottes Kraft eine Handlung selbst vollziehen oder unterlassen, da er dabei weder
durch die anerschaffene Fähigkeit zu Handeln, noch durch die Kraft selbst zu einer
bestimmten Handlung gezwungen werde. 45
Geleitet von einer vernunftmäßigen glaubenden Erkenntnis ließe sich das
muʿtazilitische Denken von einer an dem Weltgericht orientierten Gerechtigkeit
prägen. Obgleich einige Juristen unter ihnen den Unterschied zwischen dem
Ungläubigen, dem Sünder und dem schweren Sünder im Strafmaß beim Jüngsten
Gericht hervorheben und dem bereuenden Sünder einen Erlass seiner Verfehlungen
in Aussicht stellen.46 Diesem spekulativ-rationalen Gerechtigkeitsverständnis der
Muʿtaziliten stand in der ašʿaritischen Theologie die Vorstellung einer göttlichen
transzendentalen und menschliche Maßstäbe überschreitenden Gerechtigkeitskon-
zeption gegenüber.47 Im Gegensatz zur muʿtazilitischen Auffassung, der zufolge
Gerechtigkeit als vernunftsmäßiger Denkinhalt zu den notwendigen Eigenschaften
Gottes zählt, betonen die ašʿaritischen Theologen, dass Gerechtigkeit als transzen-
dentales Konzept dem gerechten Willen Gottes entspringe, dem zufolge die
Schöpfung nach Gotteswort gerecht sei. Die weltliche Gerechtigkeit spiegle ledig-
lich den von den Menschen begreifbaren Teil der allumfassenden Gerechtigkeits-
sphäre des Erhabenen wider. Charakterzüge göttlicher Gerechtigkeit können nur
teilweise durch menschliche Vernunft erfasst werden. Denn wenn der Erhabene die
Sünder nach Maßstab ihrer Sünden bestrafen würde, so gelänge keiner in den
Himmel. Den Weg zum Heil beschreibe die Stimme des Herzens. Aus Barmher-
zigkeit und Gnade werden alle Vergehen des Menschen erlassen, wenn er wahr-
haftig umkehrt und authentische Hinwendung zu Gott zeige 48.
Den Ašʿariten gelang es, durch diese Aussöhnung der transzendentalen und der
weltlichen Gerechtigkeitskonzeption den Weg für eine glaubensorientierte Ethik zu
ebnen, bei der die Verpflechtung menschlicher und göttlicher Sphären als Konti-
nuum zwischen Dies- und Jenseits verstanden wird.49 Während die spätmuʿtazili-
46 Nach Abū l-Huḏayl al-ʿAllāf (gest. ca. 221/841) schwebt der schwere Sünder zwischen
Glauben und Unglauben, und darf infolgedessen nicht von der Glaubensgemeinschaft
ausgestoßen werden. Sollte er keine wahrhafte Reue vor seinem Tod zeigen, so erhält er die
ewige Strafe Gottes. (Vgl. ʿAbd al-Ǧabbār: Šarḥ al-uṣūl al-ḫamsa, 137ff. sowie Vgl. al-Ašʿarī,
Abū l-Ḥasan (gest. 324/935): Maqālāt al-islāmiyyīn, hg. von M. Muḥyī ad-Dīn Abd al-Ḥamīd,
Beirut, al-Maktaba al-ʿaṣriyya, 1990, Bd. 1, S. 332f.)
47 Wie bereits im vorangegangen Teil dieser Arbeit dargelegt wurde, ist beim Umgang mit dem
muʿtazilitischen Rationalitätsbegriff Vorsicht geboten. Es handelt sich hierbei nicht um eine
apriorische Verstandesreflexion, welche gemäß ihrer logischen Urteilsformen lediglich auf das
Erkennen des Endlichen und Abstrakten ausgerichtet ist. Die menschliche Vernunft dient, laut
az-Zamaḫšarī, primär der Deutung herabgesandter Offenbarungswahrheiten. (Vgl. az-
Zamaḫšarī: al-Minhāǧ fī uṣūl ad-dīn, S. 67).
48 Siehe (Q 5:39): „Wer aber bereut, nachdem er Unrecht getan hat, und es wiedergutmacht, so
nimmt Allah seine Reue gewiss an. Allah ist allvergebend und barmherzig.“
49 Was diese Konstellation für den Gerechtigkeitsbegriff islamischer Rationaltheologen bedeutet,
lässt sich paradigmatisch an Abū l-Ḥassan al-Ašʿaris Ausführungen zur Sünde zeigen. Mit
Rückgriff auf Q 39:53: „Sag: O Meine Diener, die ihr gegen euch selbst maßlos gewesen seid,
verliert nicht die Hoffnung auf Allahs Barmherzigkeit. Gewiss, Allah vergibt die Sünden alle. Er
ist ja der Allvergebende und Barmherzige.“ argumentieren ašʿaritische Theologen dafür, dass
dem reuigen Sünder alle Sünden infolge der Aufrichtigkeit seines Umkehrens und seiner
Hinwendung zu Gott erlassen werden. (Vgl. al-Ašʿarī, Abū l-Ḥasan: Maqālāt al-islāmiyyīn, Bd.
1, S. 231.) Wertkonservative Exegeten widersprechen dieser Deutung und ergänzen, dass die im
o.g. Koranvers erwähnte Vergebung ausschließlich sündhaftes Verhalten bei gottesdienstlichen
tische Theologie auf die Frage nach dem Leiden in der Welt (siehe bāb al-ālām) mit
der Rückwendung der Gerechtigkeitsfrage an Gott antwortete und nach einer Recht-
fertigung der Emanation des Übels aus göttlichem Handeln suchte, lehnten die Ašʿa-
riten diese Umkehrung der Frage kategorisch ab und erklärten jegliche augenschein-
liche Ungerechtigkeit Gottes mit der Unergründlichkeit seines Wirkens auf die Le-
benswelt. So steht in Q 21:23: „Er wird nicht befragt nach dem, was Er tut; sie aber
werden befragt.“50
Das bedeutendste Erbe, das die theologische Ethik der spätislamischen
andalusischen Normenlehre hinterließ, ist indessen eine Idee der Gerechtigkeit, die
nach heutigem Verständnis als bivalent zu bezeichnen wäre, insofern als sie sich
zugleich an zwei gegenseitig ergänzenden ethischen Begriffen orientiert: einerseits
an dem Gemeinwohl als eine Entfaltung der Fürsorge für den gesichtslosen
Jedermann in der Gesellschaft51, andererseits an dem Anspruch einer Normenkon-
formität (Legalismus), in deren Gestalt als fiqh sich Gottes gewollte Gerechtigkeit in
eine rein deontologisch konzipierte Pflichtenlehre aufzulösen scheint.
Vom Standpunkt theologischer Erkenntnis aus führt die auf maqāṣid ausgerich-
tete Gerechtigkeitskonzeption zu der bedeutenden Einsicht, dass darin die dem
islamischen Glauben eigentümliche Fürsorge sich nicht von dem Gleichheitsgebot
abzulösen kann, wohlwissend, dass diese beiden Konzepte unterschiedliche
Implikationen auf der Vollzugsebene aufweisen. Hermeneutisch gesehen stellt die
Fürsorge dem Selbst einen anderen gegenüber, der ein Angesicht ist, während die
Gleichheit ihm einen anderen zum gegenüber gibt, der ein Jeder ist. 52 Weil das
Prinzip göttlicher Gerechtigkeit sich nicht immer als erkennbar erweist, können die
Moral-und Rechtsnormen der šarīʿa nicht in ihrer Gesamtheit rational begründet
werden. In Gott lösen sich alle Gegensätze menschlicher Realität auf. Getrieben von
der Sorge um die Klärung des Verhältnisses zwischen maqāṣid und aḥkām und der
eventuell daraus resultierenden Hürde für die selbstständige Urteilsfindung, wurde
im angewandtem ẓāhiritisch beeinflussten postklassischen fiqh stets der Versuch
Handlungen umfasst. Sünden, die durch Fehlverhalten den Menschen gegenüber entstehen,
können nur nach deren Zustimmung vollends erlassen werden.
50 Die Deutung des Prinzips göttlicher Gerechtigkeit als eine an Gott gerichtete Frage nach einer
Rechtfertigung des Leidens hat offenbar die rational angehauchte christliche Theologie der
Renaissance unter den Problemtitel der „Theodizee“ gestellt. Felix Heidenreich erinnerte daran,
dass die Theodizee-Frage im Christentum vor allem nach Naturkatastrophen wie dem sich in
Lissabon 1755 ereigneten verheerenden Erdbeben eine ideengeschichtliche Bedeutung erlangte.
(Vgl. Felix Heidenreich: Theorien der Gerechtigkeit, Stuttgart 2011, S. 64f.) Die soeben
ausgeführte islamisch-theologische Diskussion zur göttlichen Gerechtigkeit hat gezeigt, dass,
anders als von Edith Düsing angenommen, die Tradition des Islams die Theodizeefrage wohl
im großen Stil zugelassen hat. (Vgl. Edith Düsing: „Hegels Philosophie der Liebe“, in:
Theologie und Philosophie 88/1 (2013), S. 1-26.)
51 Vgl. Q 76:8 und 76:9.
52 Zum Verhältnis des Gerechten zum Guten vgl. MacIntyre: Der Verlust der Tugend. Zur
moralischen Krise der Gegenwart; sowie u.a. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit,
Frankfurt a.M. 1975, S. 81-83.
53 Exemplarisch dafür ist etwa Ibn Qayyims umfassende Definition zur Ausrichtung der šarīʿa:
„Die Grundlage der šarīʿa und deren Unterbau bestehen aus der Weisheit von Gottes Geboten
sowie aus [der Wahrung] des Gemeinguts der Gläubigen im diesseitigen wie im jenseitigen
Leben. Die [šarīʿa] ist in ihrer Gesamtheit [und ihrem Wesen nach Sinnbild] für Gerechtigkeit,
Barmherzigkeit und Weisheit.“ (Ibn Qayyim: Iʿlām al-muwaqqiʿīn ʿan rabb al-ʿālamīn, Bd. 4,
S. 337; vgl. Muḥammad ʿAllāl al-Fāsī: Maqāṣid aš-šarīʿa al-islāmiyya wa-makārimuhā, S. 50;
sowie u.a. Sayyid Quṭb: al-ʿAdāla al-iǧtimaʿiyya fī l-Islām, 14. Aufl., Kairo 1995.)
weder bloße biologische Wesen sind noch einfache Rädchen, die im Räderwerk
brudermörderischer Kämpfe entfesselt werden. Der Islam ist vor allem silm, d.h.
Frieden, jener des Herzens, der inneren Heiterkeit und des Friedens unter den
Völkern.“ 2 Hierin liegen die höchsten Absichten des Korans, welche von aš-Šāṭibī
durch seinen fünf ethischen Maximen rational und theologisch kontextbezogen
erläutert wurden.
Es ist daher nicht erstaunlich, dass die muslimischen Gelehrten fiqh stets als
menschliches Bemühen, das Wort Gottes vernunftmäßig und gleichermaßen glau-
bensorientiert zu verstehen, bei dem der Anpassung und Wandelbarkeit mensch-
licher Lebenswirklichkeit mehr Raum und Gewicht eingeräumt werden als den
vorgeschriebenen rituellen Praktiken.
Im Blick auf theologisch-ethische Grundfragen und ihre Relevanz für die moder-
ne Korandebatte können im Folgenden noch weitere Kerngedanken quer zu den
einzelnen Themeneinheiten festgehalten werden.
Auf verschiedenen Ebenen der Auseinandersetzung mit der islamischen Rechts-
tradition wurde die Wahrnehmung einer reziproken Beziehung zwischen weltlicher
und göttlicher Ethik erkennbar. Dabei wurde der Verantwortungsbegriff in
religiösen, sozialen und moralischen aufgefächert. Vielversprechend erweist sich
dabei der Vesuch der islamischen Ethik, Gottesgebote rational zu begründen. Unter
dem Aspekt rationaler Begründbarkeit religiöser Pflichten hebt die islamische
Rechtstradition bewusst die Wechselbeziehung von Vernunft und Glaube hervor und
streitet somit die Kluft zwischen dem Religiösen und dem Profanen ab.
Selbstachtung und Respekt des Familien- und Gesellschaftsbundes usw. sind
genauso achtungswürdig wie der Artikel der Glaubensbezeugung.
Der Verhältnisbestimmung ethischer Maxime steht nach aš-Šāṭibī eine
intertextuelle Betrachtungsweise der Quellen islamischer Rechtsprechung, nämlich
das Wort Gottes (Koran), die Worte, Handlungen und stillschweigenden Zustim-
mungen des Propheten Muḥammad (sas) (Sunna), der Konsens der Gelehrten
(iǧmāʿ) und der Analogieschluss (qiyās), gegenüber. Aš-Šāṭibī verweist hierbei auf
die Gefahr, die Quellen der Rechtsprechung als vier separate, unabhängige Quellen
zu betrachten, da sie alle herangezogen werden, um der göttlichen Beurteilung so
nah wie möglich zu kommen. Der Koran hebt zudem hervor, dass es nur eine
gesetzgebende Autorität gibt (Q 6:63). Diese Gesetzgebung bleibt allerdings
theologischer Prägung und ist in den ethisch-moralischen Bereich zu verorten.
Durch die Unterscheidung göttlicher und menschlicher Kausalitäten wird in der
islamischen Moral- und Rechtsvorstellung der weltlichen Gesetzgebung einen
besonderen eigenständigen Wirkungsbereich eingeräumt. Die besondere Stellung
weltlicher Jurisprudenz und die Eigenständigkeit ihres Wesens wird nicht zuletzt
durch die Annahme erkennbar, dass das Beenden einer weltlichen kausalen
Handlungskette, die die Grundlage einer moralischen bzw. juristischen Urteils-
findung bildet, eher eine Sache menschlicher Entscheidung und Abwägung als eine
Gelegenheit der offenbarten Feststellung ist.
Die Hypothese einer rationalen Begründbarkeit religiöser Pflichten, welche dem
Kerngedanke einer Trennung zwischen religiösem und weltlichem Recht zugrunde
lag, wurde allerdings nicht von allen islamischen Denkströmungen angenommen.
Dies zeigt, dass die Theolgie sich mit einem rein rationalen Ethik- und Rechtsbegriff
schwer tat.
Diese Überzeugung beruht auf einer diskursethischen These, welche besagt, dass
ein apriorischer Rationalitätsbegriff, wie der der philosophischen Ethik und der
Muʿtaziliten, keine theologisch annehmbare Moralbegründung erlaubt. Ethiktheorien,
die sich eines weiteren diskursorientierten Rationalitätsverständnisses bedienen, ver-
heißen hingegen, das Paradoxon zu lösen, indem sie Hypothesen aufstellen, die sich
aus der Perspektive einer Wechselbeziehung zwischen Offenbarungsurheber und
Offenbarungsempfänger, bzw. zwischen Textbedeutung und Textdeutung begründen
lassen und einer theologisch-ethischen Argumentation näherstehen. Gemäß seiner
Botschaft von universeller Tragweite ruft der Koran religiöse Motivation hervor, deren
Gültigkeit nur durch die Verbindung mit der sozialen Wirkung erfolgen kann. Glaube
und Gesetz werden bei dieser Vorstellung gleichgestellt.
Zwar betont die Glaubenserkenntnis, dass der Koran die Vernunft in hohen
Ehren hält und sie oftmals adressiert, jedoch schlussfolgert sie, dass in Abwesenheit
eines offenbarten Nomos der Mensch nicht in der Lage sei, zwischen dem höchsten
Guten und dem radikal Schlechten zu unterscheiden oder gar ewig gültige ethische
Gesetze zu erlassen, da sowohl die Komplexität der menschlichen Handlungswirk-
lichkeit als auch die Antizipation auf essentielle Handlungsziele sich für den Ver-
stand als unergründlich erweisen. Diesem Verständnis zufolge wird die Offenbarung
von einer besonderen humanistischen Tendenz geprägt, nämlich von jener, die
„nicht in ein blindes prometheisches Streben verfällt“ und den Glauben an Gott, den
„obersten Garanten des Gleichgewichts und der Ordnung im Universum“3, als etwas
betrachtet, was der Vernunft vorausdenkt.
Spricht man der Vernunft nun die Möglichkeit der Fehlbarkeit zu, ist festzustellen,
dass es unentbehrlich ist auf eine höhere Autorität zurückzugreifen, die die Angele-
genheiten bestimmt und dem Menschen zu erkennen gibt, wobei die menschliche
Vernunft es selbst ist, die einem vorschreibt sich der höheren Macht, d.h. Gott, hin-
zugeben, da sie begreift, dass niemand bewanderter im Recht und fähiger sein kann,
die Bedürfnisse seines Geschöpfs zu kennen, als derjenige, der das Gesetz erließ und
den Menschen schuf.
Das aus der Theorie der Vereinbarkeit von Offenbarung und Vernunft hervor-
gehende doppelte Engagement, Glaube und Gesetz gleichmäßig zu beachten, läuft
auf die Wahrung des Gemeinguts als Endziel hinaus.
Rationalität zugesprochen werden, sodass die reflektierende aktive Seele in der Lage
ist, moralisch zu sein. Der nafs-Begriff bleibt also Dreh- und Angelpunkt der kora-
nischen Ethik, was jeglicher Auseinandersetzung mit der islamischen Normenlehre
per se komplex macht.
Will man die Disziplinen, die sich mit der islamischen Normenlehre auseinan-
dersetzen einem bestimmten Wissenschaftsbereich zuordnen, welcher in Überein-
stimmung mit ihrem vorherrschenden Gegenstand stehen würde, so kann man
feststellen, dass es im Falle der koranischen Ethik nicht möglich ist, diesen Wissen-
schaftsbereich einseitig zu betiteln, da es das individuelle, soziale, menschliche und
göttliche in unnachahmlicher Weise verbindet.
Will man dennoch diesem Normensystem einen Namen geben, der dem theolo-
gischen Diskurscharakter gerecht werden kann, so scheint die Frömmigkeit (taqwā)
der Dreh- und Angelpunkt zu sein, wobei taqwā als ein reiner Glaubensinhalt,
Hochachtung gegenüber dem göttlichen Gesetz ausdrückt, welche die beiden
extremen Gefühle der Liebe und Furcht zu vereinen und abzuschwächen versucht,
sodass sie in der Lage ist, zu einer moralischen Handlung anzuregen oder von ihr
fernzuhalten. Das wahre Wesen von taqwā offenbart die ethische Natur von
Gotteswort, in dem vielerorts auf Tugend und Gemeinwohl als Wege zur
Glückseligkeit hingewiesen wird (Q 68:4).
Dies bringt uns nun zu einem Ausblick, mit dem die Arbeit enden möchte. Die
theologisch-ethische Botschaft des Korans ist, damals wie heute, nur durch eine
glaubensorientierte Vorstellung des Sakralen zugänglich, welche den Denkinhalt des
Sprachzeichens im Offenbarungsdiskurs maßgeblich prägt. Dem Imaginären als
Bestandteil göttlicher Symbolsprache muss dabei Rechnung getragen werden. Die
moderne Geschichte der Bibelhermeneutik hat trotz der Vorherrschaft des posi-
tivistischen Wissenschaftsgeists der Postmoderne bewiesen, dass eine wissenschaft-
liche Reflexion über die Offenbarung nicht unbedingt auf eine Entsakralisierung
bzw. Entmythologisierung des Wort Gottes hinausläuft. Die Anwendung neuerer
hermeneutischer Interpretationsmethoden auf den Offenbarungstext geht laut Ar-
koun mit der Gefahr einer Verfremdung seiner ethisch-spirituellen Botschaft einher.5
Der heutige Aufruf zu einer theologisch-gerechten Lektüre des Korans mit
wissenschaftlichem Anspruch steht vor der Herausforderung, die geistigen
Distanzen, sowohl zwischen unserem heutigen säkularen Sprachverständnis und der
Sprache des Korans als auch zwischen dem Koran als Rezitation und als schriftlich
niedergelegtem Buch, wenn nicht zu überwinden, so doch zu mindern.6
mystère, le caractère ineffable de ce qui est dévoilé, montrer sans démontrer ni mettre hors
circuit les moyens de la connaissance.“ (Ebd., S. 78.)
7 N. Kermani: Gott ist schön, C.H. Beck, München 1999, S. 85.
Literaturverzeichnis
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23, 138 409/1018) 8, 9
Ibn Taymiyya, Taqī ad-Dīn (gest. Rāzī, Abū Bakr ar- (gest. 313/925) 5
728/1328) 80, 81 Rāzī, Faḫr ad-Dīn ar- (gest. 606/1210)
Ibn Ṭufayl (gest. 581/1185) 5 XIII, 31, 36, 40, 44, 51, 52, 53, 54, 56,
ʿĪsā ibn al-Abān (gest. 221/835-6) 56 57, 58, 83, 87, 88, 99, 101, 116, 117,
Isḥāq Ibn Wahb (gest. 292/305) 69, 70 128, 129, 130, 185
Isnawī, ʿAbd ar-Raḥmān al- (gest. Ricoeur, Paul 49, 66, 89, 122, 123, 124,
772/1370) 61 125, 136, 139, 158, 179, 181
Kaffāwī, Abū al-Baqāʾ al- (gest. Šāḏilī, Abū l-Ḥasan aš- (gest. 656/1259)
1094/1683) 161, 162 117
Kant, Immanuel 83, 84, 85, 86, 89, 91, Šāfiʿī, Muḥammad ibn Idrīs aš- (gest.
96, 97, 100, 104, 136, 137, 138, 139, 204/820) 12, 20, 21, 53, 78, 79, 81,
157, 159, 182, 183, 184, 185 133
Kindī, Abū Yaʿqūb ibn Isḥāq al- (gest. Šaybānī, Muḥammad ibn al-Ḥasan aš-
259/873) 4 (gest. 189/805) 21, 24, 135
MacIntyres, Alasdair 168 Sībawayh (gest. ca. 180/796) 45
Māwardī, Abū l-Ḥasan al- (gest. Suyūṭī, Ǧalāl ad-Dīn as- (gest. 911/1505)
450/1058) 8 42
Miskawayh, Abū ʿAlī (gest. 421/1030) 4, Ṭabarī, Muḥammad ibn Ǧarīr aṭ- (gest.
8, 9 310/923) XIII, 80, 146
Muǧāhid ibn Ǧabr (gest. 104/722) XIII, Tödt, Heinz E. 33, 87, 94, 107, 112, 125,
146 126
Muḥāsibī, al-Ḥāriṯ al- (gest. 243/857) 9, Ṭūfī, Naǧm ad-Dīn aṭ- (gest. 716/1316)
24 95, 133
Pannenberg, Wolfhart 27, 100 Ubayy ibn Kaʿb (gest. 30/651) XI
Qaraḍāwī, Yūsuf al- 119, 133, 135, 147, Zamaḫšarī, Muḥammad ibn ʿUmar az-
173 (gest. 538/1143) XIII, 23, 188, 190
Qarāfī, Šihāb ad-Dīn al- (gest. 684/1285)
41, 46, 61, 172
manṭiq (Logik),
maqāṣid (Intentionen)
maqāṣid at-tašrīʿ (Intentionen der Gesetzgebung)
maʿrūf (gewusst, auch: sittlich gut)
maṣāliḥ (menschliches Interesse, Gemeinwohl)
masālik al-ʿilla (Wege der causa)
maṣlaḥa Pl. maṣāliḥ (menschlichen Interessen, Gemeinwohl)
maṣlaḥa mursala (weltliches Gemeingut)
maslak al-munāsaba (Weg der Situationsangemessenheit)
mīṯāq (Bund)
muǧmiʿīn (Gemeinschaft)
mukallaf (Beauftragte. Empfänger, Verpflichte)
mulāʾim (geeignet sein)
mulḥ al-ʿilm (Pseudowissenschaft)
munāsib (angemessen)
munnāsaba (Eignung; Angemessenheit)
musabbab Pl. musabbabāt (Wirkung, Ergebnis)
muṭlaq (absolut)
nabaʾ aẓīm (ungeheures Ereignis)
nadb (Empfehlung)
nafs (Selbst)
nasḫ (Abrogation)
niyya (subjektive Intention)
qaṣd Pl. quṣūd (Intention)
qaṣd aš-šāriʿ (Absicht des Gesetzgebers)
qaṭʿī (absoluter Wert )
qiyās (Syllogismus; Analogie)
qiyās bayānī (diskursive Analogie)
qiyās šarʿī (juristische Analogie)
qudra (göttliche Kraft)
raġba (Begierde)
rāǧiḥa (abwägend)
raḥma (Sanftmut),
luṭf (Sanftmut)
līn (Milde)
uṣūl al-adilla (Rechtsfundamente)
ḥuǧǧa (rechtsgültigen Nachweis)
ruḫaṣ (Sonderregelungen)
sabab (Grund, Anlass)
sadd aḏ-ḏarāʾiʿ (Blockieren der Mittel)
ṣāliḥ (gut)
sāmiʿ (Hörer)
šarʿ Allāh (lex dei)
sirr (Weisheit)
Die Anordnung der folgenden arabischen Kontextbelege richtet sich nach ihrem
Erscheinen im Haupttext.
Zitat 1
1
ومن لم يتفطن لوقوع المقاصد في األوامر والنواهي ،فليس على بصيرة في وضع الشريعة.
Zitat 2
وضع الشرائع إنما هو لمصالح العباد في العاجل واآلجل معا ...وأعني بالمصالح ما يرجع إلى قيام حياة
اإلنسان ،وتمام عيشه ،ونيله ما تقتضيه أوصافه الشهوانية والعقلية على االطالق ،حتى يكون منعما على
2
اإلطالق.
Zitat 3
قد وقع الخالف فيها في علم الكالم ،وزعم الرازي أن أحكام هللا غير معللة بعلة البتة .كما أن أفعاله كذلك .وأن
3
المعتزلة اتفقت على أن أحكامه تعالى معللة برعاية مصالح العباد ،وأنه اختيار أكثر الفقهاء المتأخرين...
Zitat 4
فإذا دل اإلستقراء على هذا ،وكان في مثل هذه القضية مفيدا للعلم ،فنحن نقطع بأن االمر مستمر في جميع
تفاصيل الشريعة ...إذا ثبت أن الشارع قد قصد بالتشريع إقامة المصالح األخروية والدنيوية وذلك على وجه ال
يختل لها به نظام ...فال بد أن يكون وضعها على ذلك الوجه أبديا وكلِّيا وعا ّما في جميع أنواع التكليف
4
والمكلفين وجميع األحوال.
Zitat 5
الشارع توسع في بيان العلل والحكم في تشريع باب العادات ...وأكثر ما علل فيها بالمناسب الذي إذا عرض
5
على العقول تلقته بالقبول...
Zitat 6
المعلوم من الشريعة أنها شرعت لمصالح العباد .فالتكليف كله إما لدرء مفسدة ،وإما لجلب مصلحة ،أو لهما
6
معا.
Zitat 7
األدلة الشرعية ضربان :أحدهما ما يرجع إلى النقل المحض والثاني ما يرجع إلى الرأي المحض ،وهذه القسمة
هي بالنسبة إلى أصول األدلة ،وإال فكل واحد من الضربين مفتقر إلى اآلخر ،ألن اإلستدالل بالمنقوالت ال بد
7
فيه من النظر ،كما أن الرأي ال يعتبر شرعا إال إذا استند إلى النقل.
Zitat 8
الحكم المستخرجة لما ال يعقل معناه على الخصوص في التعبدات ،كاختصاص الوضوء باألعضاء
المخصوصة ،والصالة بتلك الهيئة من رفع اليدين والقيام والركوع والسجود ،وكونها على بعض الهيئات دون
بعض ،واختصاص الصيام بالنهار دون الليل ،وتعيين أوقات الصلوات في تلك األحيان المعينة دون ما سواها
من أحيان الليل والنهار ...إلى أشباه ذلك مما ال تهتدي العقول له بوجه وال تطور نحوه فيأتي بعض الناس
فيطرق إليها ِحكما يزعم أنها مقصود الشارع من تلك األوضاع ،وجميعها مبني على ظن وتخمين غير مطرد
8
في بابه ،وال مبني عليه عمل ،بل كالتعليل بعد السماع لألمور الشواذ.
Zitat 9
9
ويصح القصد إلى ُم َسبَّباتِها الدنيوية واألخروية.
Zitat 10
ان هذا الرأي هو رأي الظاهرية ،ألنهم واقفون مع ظواهر النصوص من غير زيادة وال نقصان .وحاصله عدم
10
اعتبار المعقول جملة ،ويتضمن نفي القياس الذي اتفق األولون عليه.
Zitat 11
وإال فكل واحد من الضربين مفتقر إلى اآلخر ،ألن اإلستدالل بالمنقوالت ال بد فيه من النظر ،كما أن الرأي ال
11
يعتبر شرعا إال إذا استند إلى النقل.
Zitat 12
12
فأنت إذا تأملت موارد السنة وجدتها بيانا للكتاب ،هذا هو األمر العام فيها.
Zitat 13
وإذا تأملت أدلة كون اإلجماع حجة أو خبر الواحد أو القياس حجة فهو راجع إلى هذا المساق ،ألن أدلتها
مأخوذة من مواضع تكاد تفوت الحصر ،وهي مع ذلك مختلفة المساق ،ال ترجع إلى باب واحد ،إال أنها تنتظم
المعنى الواحد الذي هو المقصود باالستدالل عليه .وإذا تكاثرت على الناظر األدلة عضد بعضها بعضا فصارت
بمجموعها مفيدة للقطع؛ فكذلك األمر في مآخذ األدلة في هذا الكتاب ،وهي مآخذ األصول ،إال أن المتقدمين من
األصوليين ربما تركوا ذكر هذا المعنى والتنبيه عليه ،فحصل إغفاله من بعض المتأخرين ،فاستشكل االستدالل
باآليات على حدتها وباألحاديث على انفرادها ،إذ لم يأخذها مأخذ اإلجماع فك َر عليها باالعتراض نصا نصا،
واستضعف االستدالل بها على قواعد األصول المراد منها القطع ...ولو أخذت أدلة الشريعة على الكليات
المعترض لم يحصل لنا قطع بحكم شرعي ألبتة ،إال أن نشرك العقل ،والعقل إنما ينظر من
ِ والجزئيات مأخذ هذا
13
وراء الشرع ،فال بد من هذا االنتظام في تحقيق األدلة األصولية.
Zitat 14
وعند عيسى بن أبان يجب (عرض خبر الواحد على الكتاب إذا كملت شروط صحته) ،محتجا بحديث في هذا
14 ٌ
حديث فاعرضوه على كتاب هللا ،فإن وافق فاقبلوه ،وإال فردوه. المعنى ،وهو قوله" :إذا رُوي لكم
Zitat 15
15
انعقد اإلجماع على أن الشرائع مصالح ،إما وجوبا كما هو قول المعتزلة ،أو تفضال كما هو قولنا.
Zitat 16
وقال هؤالء :وأما ما ال نص فيه فال يجوز أن يقال فيه :إن هذا سبب كذا .وقال أبو سليمان ،وجميع أصحابه
رضي هللا عنهم :ال يفعل هللا شيئا من األحكام وغيرها لعلة أصال بوجه من الوجوه ،فإذا نص هللا تعالى أو
رسوله (ص) على أن أمر كذا لسبب كذا أو من أجل كذا ...فإن ذلك كله ندري أنه جعله هللا أسبابا لتلك األشياء
16
في تلك المواضع التي جاء النص بها فيها.
Zitat 17
و األصل في كل بالء وعماء و تخليط وفساد ،اختالط أسماء ووقوع اسم واحد على معاني كثيرة ،فيخبر المخبر
بذلك اإلسم ،وهو يرد أحد المعاني التي تحته فيحمله السامع على غير ذلك المعنى الذي أراد المخبر ،فيقع البالء
واإلشكال ...وإذ قد بينا هذه األسماء األربعة ،وهي العلة والغرض والسبب والعالمة ،وبينا أن معانيها مختلفة،
17
وأن مسمياتها شتى ،وحسمنا داء من أراد إيقاع اسم العلة في الشريعة على معنى السبب...
Zitat 18
الفرق بين العلة وبين السبب ،وبين العالمة وبين الغرض – فروق ظاهرة الئحة واضحة ،وكلها صحيح في
بابه ،وكلها ال يوجب تعليال في الشريعة ،وال حكما بالقياس أصال ،فنقول وباهلل تعالى التوفيق :إن العلة هي إسم
لكل صفة توجب أمرا ما إيجابا ضروريا ،والعلة ال تفارق المعلول البتة ،ككون النار علة اإلحراق ...ال يوجد
18
أحدهما دون الثاني أصال ،وليس أحدهما قبل الثاني أصال وال بعده.
Zitat 19
19
وقد سمي أيضا العلل معاني ،وهذا من عظيم شغبهم ،وفاسد متعلقهم ،وإنما المعنى تفسير اللفظ.
Zitat 20
أما السبب فهو كل أمر فعل المختار فعال من أجله لو شاء لم يفعل ...وأما الغرض فهو األمر الذي يجري إليه
20
فاعل ويقصده ويفعله.
Zitat 21
إن الشدة واإلسكار لو كانا علة التحريم لكانت الخمر حراما مذ خلقها هللا تعالى ...وقد كانت حالال في اإلسالم
21
سنين.
Zitat 22
ومن الناس من زعم أن للقرآن ظاهرا وباطنا ...وفسر [الحسن] بأن الظهر والظاهر هو ظاهر التالوة،
والباطن هو الفهم عن هللا لمراده ،ألن هللا تعالى قال (فمال هؤالء القوم ال يكادون يفقهون حديثا) والمعنى ال
يفهمون عن هللا مراده من الخطاب ،ولم يرد أنهم ال يفهمون نفس الكالم ،كيف وهو منزل بلسانهم؟ ولكن لم
يحظوا بفهم مراد هللا من الكالم ...فظاهر المعنى شئ وهم عارفون به ألنهم عرب ،والمراد شئ آخر ،وهو
22
الذي ال شك فيه أنه من عند هللا ،وإذا حصل التدبر لم يوجد في القرآن اختالف البتة.
Zitat 23
23
وحاصل هذا الكالم :أن المراد بالظاهر هو المفهوم العربي ،والباطن هو مراد هللا تعالى من كالمه وخطابه.
Zitat 24
والتكليف نوع خطاب وله متعلق وهو المكلف به وشرطه أن يكون مفهوما فقط ،وأما كونه ممكنا فليس بشرط
لتحقيق الكالم فإن التكليف كالم ،فإذا صدر ممن يفهم مع من يفهم فيما يفهم وكان المخاطب دون المخاطب
سمي تكليفا ،وإن كان مثله سمي التماسا ،وإن كان فوقه سمي دعاء وسؤاال ،فاالقتضاء في ذاته واحد وهذه
األسامي تختلف عليه باختالف النسبة ،وبرهان جواز ذلك أن استحالته ال تخلو إما أن تكون المتناع تصور
ذاته ،كاجتماع السواد والبياض ،أو كان ألجل االستقباح ،وباطل أن يكون امتناعه لذاته ،فإن السواد والبياض ال
يمكن أن يفرض مجتمعا ،وفرض هذا ممكن إذ التكليف ال يخلو إما أن يكون لفظا وهو مذهب الخصم وليس
24
بمستحيل أن يقول الرجل لعبده الزمن قم ،فهو على مذهبهم أظهر وأما نحن فإنا نعتقد أنه اقتضاء يقوم بالنفس.
Zitat 25
إن هلل تعالى أن يكلف العباد ما يطيقونه وما ال يطيقونه ،وذهب المعتزلة إلى انكار ذلك ،ومعتقد أهل السنة أن
التكليف له حقيقة في نفسه وهو أنه كالم وله مصدر وهو المكلف ،وال شرط فيه إال كونه متكلما ،وله مورد
وهو المكلف وشرطه أن يكون فاهما للكالم فال يسمى الكالم مع الجماد والمجنون خطابا وال تكليفا ،والتكليف
نوع خطاب وله متعلق وهو المكلف به وشرطه أن يكون مفهوما فقط ،وأما كونه ممكنا فليس بشرط لتحقيق
الكالم فإن التكليف كالم ،فإذا صدر ممن يفهم مع من يفهم فيما يفهم وكان المخاطب دون المخاطب سمي تكليفا،
وإن كان مثله سمي التماسا ،وإن كان فوقه سمي دعاء وسؤاال ،فاالقتضاء في ذاته واحد وهذه األسامي تختلف
عليه باختالف النسبة ،وبرهان جواز ذلك أن استحالته ال تخلو إما أن تكون المتناع تصور ذاته ،كاجتماع
السواد والبياض ،أو كان ألجل االستقباح ،وباطل أن يكون امتناعه لذاته ،فإن السواد والبياض ال يمكن أن
يفرض مجتمعا ،وفرض هذا ممكن إذ التكليف ال يخلو إما أن يكون لفظا وهو مذهب الخصم وليس بمستحيل أن
25
يقول الرجل لعبده الزمن قم ،فهو على مذهبهم أظهر وأما نحن فإنا نعتقد أنه اقتضاء يقوم بالنفس.
Zitat 26
فإذا خلق هللا تعالى خلقا ممتزجا خيره بشره ،فالخير هو الذي خلق الخلق ألجله .ولم يخلق ألجل الشر وإن كان
واقعا به ]…[ وهو أيضا مشير إلى مذاهب المعتزلة القائلين بأن الشرور والمفاسد غير مقصودة الوقوع ،وأن
26
وقوعها إنما هو على خالف اإلرادة .تعالى هللا عن ذلك علوا كبيرا.
Zitat 27
27
ما تبين في الكالم واألصول ،من أن العقل ال يحسن وال يقبح ،ولو فرضناه متعديا لما حده الشرع.
Zitat 28
إذا تعاضد النقل والعقل على المسائل الشرعية ،فعلى شرط أن يتقدم النقل فيكون متبوعا ،ويتأخر العقل فيكون
تابعا ،فال يسرح العقل في مجال النظر إال بقدر ما يسرحه النقل ...لو جاز للعقل تخطي مأخذ النقل ،لم يكن
28
للحد الذي حده النقل فائدة.
Zitat 29
29
ما تبين في الكالم واألصول ،من أن العقل ال يحسن وال يقبح ،ولو فرضناه متعديا لما حده الشرع".
Zitat 30
ولو أخذت أدلة الشريعة على الكليات و الجزئيات مأخذ هذا المعترض لم يحصل لنا قطع بحكم شرعي البتة إال
أن نشرك العقل ،والعقل إنما ينظر من وراء الشرع ،فال بد من هذا االنتظام في تحقيق األدلة األصولية ...فقد
اتفقت األمة ،بل سائر الملل ،على أن الشريعة وضعت للمحافظة على الضروريات الخمس – وهي :الدين،
30
والنفس ،والنسل ،والمال ،والعقل.
Zitat 31
و علمها عند األمة كالضروري ،ولم يثبت ذلك بدليل معين ،وال شهد لنا أصل معين يمتاز برجوعها إليه ،بل
31
علمت مالءمتها للشريعة بمجموع أدلة ال تنحصر في باب واحد.
Zitat 32
فالحاصل من ذلك أن المصالح المعتبرة شرعا أو المفاسد المعتبرة شرعا هي خالصة غير مشوبة بشيء من
المفاسد ،ال قليال وال كثيرا .وإن تُ ُوهِّ َم أنها مشوبة ،فليست في الحقيقة الشرعية كذلك ،ألن المصلحة المغلوبة أو
المفسدة المغلوبة إنما المراد بها ما يجري في االعتياد الكسبي من غير خروج إلى زيادة تقتضي التفات الشارع
إليها على الجملة .وهذا الم قدار هو الذي قيل إنه غير مقصود للشارع في شرعية األحكام .والدليل على ذلك
أمران :أحدهما أن الجهالة المعلومة ولو كانت مقصودة للشارع –أعني معتبرة عند الشارع – لم يكن الفعل
مأمورا به بإطالق ،وال منهيا عنه بإطالق .بل كان يكون مأمورا به من حيث المصلحة ،ومنهيا عنه من حيث
32
المفسدة .ومعلوم قطعا أن األمر ليس كذلك.
Zitat 33
المنافع والمضار عامتها أن تكون إضافية ال حقيقية .ومعنى كونها إضافية أنها منافع أو مضار في حال دون
حال ،وبالنسبة إلى شخص دون شخص ،أو وقت دون وقت ...فكثير من المنافع تكون ضررا على قوم ال منافع
33
...وهذا كله بين في كون المصالح والمفاسد مشروعة أو ممنوعة إلقامة هذه الحياة ،ال لنيل الشهوات.
Zitat 34
والمصالح والمفاسد إذا كانت راجعة إلى خطاب الشارع -وقد علمنا من خطابه أنه يتوجه بحسب األحوال
واألشخاص واألوقات ،حتى يكون االنتفاع المعين مأذونا فيه في وقت أو حال أو بحسب شخص ،وغير مأذون
34
فيه إذا كان على غير ذلك -فكيف يسوغ إطالق هذه العبارة أن األصل في المنافع اإلذن وفي المضار المنع؟
Zitat 35
المصالح المبثوثة في هذه الدار ينظر فيها من جهتين :من جهة مواقع الوجود ،ومن جهة تعلق الخطاب الشرعي
35
بها.
Zitat 36
المنافع الحاصلة للمكلف مشوبة بالمضار عادة ،كما أن المضار محفوفة ببعض المنافع ،كما نقول إن النفوس
محترمة محفوظة ومطلوبة اإلحياء ،بحيث إذا دار األمر بين إحيائها وإتالف المال عليها ،أو إتالفها وإحياء
36
المال ،كان إحياؤها أولى .فإن عارض إحياؤها إماتة الدين ،كان إحياء الدين أولى وإن أ ّدى إلى إماتتها.
Zitat 37
فالمصالح والمفاسد الراجعة إلى الدنيا إنما تفهم على مقتضى ما غلب :فإذا كان الغالب جهة المصلحة ،فهي
المصلحة المفهومة عرفا .ولذلك كان الفعل ذو الوجهين منسوبا إلى الجهة الراجحة ...وأما النظر الثاني فيها
من حيث تعلق الخطاب بها شرعا فالمصلحة إذا كانت هي الغالبة عند مناظرتها مع المفسدة فحكم اإلعتياد ،فهي
37
المقصودة شرعا ،ولتحصيلها وقع الطلب على العباد.
Zitat 38
ولم يخلق ألجل الشر وإن كان واقعا به .كالطبيب عندهم إذا سقى المريض الدواء المر البشع المكروه .فلم يسقه
إياه ألجل ما فيه من المرارة و األمر المكروه ،بل ألجل ما فيه من الشفاء والراحة ...فكذلك عندهم جميع ما في
الوجود من المفاسد المسببة عن أسبابها ...إن الشارع – مع قصده التشريع ألجل المصلحة – ال يقصد وجه
38
المفسدة ،مع أنها الزمة للمصلحة.
Zitat 39
المنافع والمضار عامتها أن تكون إضافية ال حقيقية .ومعنى كونها إضافية أنها منافع أو مضار في حال دون
حال ،وبالنسبة إلى شخص دون شخص ،أو وقت دون وقت ...فكثير من المنافع تكون ضررا على قوم ال منافع
39
...وهذا كله بين في كون المصالح والمفاسد مشروعة أو ممنوعة إلقامة هذه الحياة ،ال لنيل الشهوات.
Zitat 40
ومنها أن بعض الناس قال( :إن مصالح الدار اآلخرة ومفاسدها ال تعرف إال بالشرع .وأما الدنيوية فتعرف
بالضرورات والتجارب والعادات والظنون المعتبرات – قال :من أراد أن يعرف المناسبات في المصالح
والمفاسد را ِج َحها من مرجوحها ،فليعرض ذلك على عقله ،بتقدير أن الشارع لم يَ ِرد به ،ثم يبني عليه األحكام،
فال يكاد حكم منها يخرج عن ذلك ،إال التعبدات التي لم يوقف على مصالحها أو مفاسدها) هذا قوله .وفيه بحسب
ما تقدم نظر ،أما أن ما يتعلق باآلخرة ال يعرف إال بالشرع فكما قال .وأما ما قال في الدنيوية فليس كما قال من
40
كل وجه.
Zitat 41
41
األحكام الخمسة إنما تتعلق باألفعال ،والتروك بالمقاصد.
Zitat 42
المباح من حيث هو مباح ال يكون مطلوب الفعل وال مطلوب االجتناب ...وأن فعله وتركه في قصد الشارع
42
بمثابة واحدة.
Zitat 43
43
المباح يصير غير مباح باألمور الخارجة ....
Zitat 44
القواعد المشروعة باألصل إذا داخلتها المناكر ،كالبيع والشراء والمخالطة والمساكنة ،إذا كثر الفساد في
األرض واشتهرت المناكر ،بحيث صار المكلف عند أخذه في حاجته ،وتصرفه في أحواله ،ال يسلم في الغالب
من لقاء المنكر أو مالبسته ،فالظاهر يقتضي الكف عن كل ما يؤديه إلى هذا .ولكن الحق يقتضي أن ال بد له من
اقتضاء حاجته ،كانت مطلوبة بالجزء أو بالكل ،وهي إما مطلوب باألصل ،وإما خادم المطلوب باألصل .ألنه
44
إن فرض الكف عن ذلك أ ّدى إلى التضييق والحرج ،أو تكليف ما ال يطاق.
Zitat 45
فلو فرضنا ترك الناس كلهم ذلك لكان تركا لما هو من الضروريات المأمور بها ،فكان الدخول فيها واجبا
45
بالكل.
Zitat 46
الكالم يطلق على العبارة الدالة بالوضع وعلى مدلولها القائم بالنفس ،فالخطاب إما الكالم اللفظي أو الكالم
النفسي الموجه نحو الغير لإلفهام .وقد جرى الخالف في كالم هللا هل يسمى باألزل خطابا قبل وجود المخاطبين
تنزيال لما سيوجد منزلة الموجود أوال .فمن قال :هو الخطاب هو الكالم الذي يقصد به اإلفهام سمي الكالم في
األزل خطابا ،ألنه يقصد به اإلفهام في الجملة .ومن قال :هو الكالم الذي يقصد به إفهام من هو أهل للفهم على
ما هو األصل ال يسميه في األزل خطابا .واألكثر ممن أثبت هلل تعالى الكالم النفسي من أهل السنة على أنه كان
في األزل أمر ونهي وخبر ،وز اد بعضهم اإلستخبار والنداء أيضا .واألشعرية على أنه تكلم بكالم واحد وهو
46
الخبر.
Zitat 47
إنما البحث المقصود هنا أن القرآن نزل بلسان العرب على الجملة ،فطلب فهمه إنما يكون من هذا الطريق
خاصة ...فمن أراد تفهمه ،فمن جهة لسان العرب يفهم ،وال سبيل إلى تطلب فهمه من غير هذه الجهة .هذا هو
47
المقصود من المسألة ...
Zitat 48
و(العرب) فيما فطرت عليه من لسانها تخاطب بالعام يراد به ظاهره ،وبالعام يراد به العام في وجه والخاص
في وجه .وبالعام يراد به الخاص ،والظاهر يراد به غير الظاهر .وكل ذلك يعرف من أول الكالم أو وسطه أو
آخره .وتتكلم بالكالم ينبئ أوله عن آخره ،أو آخره عن أوله .وتتكلم بالشيء يعرف بالمعنى كما يعرف باإلشارة.
وتسمي الشيء الواحد بأسماء كثيرة ،واألشياء الكثيرة باسم واحد .وكل ذلك معروف عندها ال ترتاب في شيء
48
منه هي ،وال من تعلق بعلم كالمها .فإذا كان كذلك ،فالقرآن في معانيه و أساليبه على هذا الترتيب.
Zitat 49
49
وضع األسباب يستلزم قصد الواضع إلى المسببات ،أعني الشارع...
Zitat 50
ال يلزم في تعاطي األسباب من جهة المكلف ،اإللتفات إلى المسببات وال القصد إليها ،بل المقصود منه الجريان
50
تحت األحكام الموضوعة ال غير ،أسبابا كانت أو غير أسباب ،معللة كانت أو غير معللة.
Zitat 51
فمن إلتفت إلى المسببات من حيث كانت عالمة على األسباب في الصحة أو الفساد ،ال من جهة أخرى ،فقد
حصل على قانون عظيم يضبط به جريان األسباب على وزان ما شرع أو على خالف ذلك .ومن هنا جعلت
األعمال الظاهرة في الشرع دليال على ما في الباطن .فإن كان الظاهر منخرما ،حكم على الباطن بذلك .أو
51
مستقيما حكم على الباطن بذلك أيضا .وهو أصل عام في الفقه وسائر األحكام العاديات والتجريبيات...
Zitat 52
إن كان اإللتفات إلى المسبب من شأنه التقوية للسبب ،والتكملة له ،والتكملة له ،التحريض على المبالغة في
إكماله ،فهو الذي يجلب المصلحة .وإن كان من شأنه أن يكر على السبب باإلبطال ،أو باإلضعاف ،أو بالتهاون
52
به ،فهو الذي يجلب المفسدة.
B
E-Book: : ISBN 978-3-447-19365-8 each ca. € 42,– (D) erenike Metzlers Band umfasst eine Edition, eine
In Vorbereitung / In Preparation deutsche Übersetzung und eine Analyse des Kitāb
H
Fahm al-Qurʾān des frühislamischen Gelehrten Ḥāriṯ
ow is a philosophical tradition created? What role does
b. Asad al-Muḥāsibī. Die Frage nach den angemessenen
literary biography play in the formation of intellectual
Instrumenten zur Entschlüsselung des Wortes Gottes sowie
reception history? Through a detailed analysis of the
der rechtmäßigen Befolgung desselben war im (theologie-)
lives and works of post-Avicenna (d. 1037) philosophers,
geschichtlich sehr bewegten 9. Jahrhundert n.Chr. ein zen-
Ahmed H. al-Rahim traces the history and development of
traler Diskussionspunkt – und er ist es bis heute. Das Kitāb
the Avicennan tradition from the eleventh to the fourteenth
Fahm al-Qurʾān ist einzigartig in seiner facettenreichen
century A.D.
Behandlung des Themas: Sie erstreckt sich von der Rolle des
Section 1 of the book investigates the genres of Arabo-Islamic
Verstandes im Offenbarungsprozess über Passagen zu den
biobibliographical and prosopographical writings as a source
Vorzügen des Korans und spekulative Auseinandersetzungen
for the history of Arabic philosophy, delineating their literary
mit theologischen Gegnern bis hin zu rechtshermeneutischen
tropes, the construction of philosophical authority, and the
und linguistischen Fragestellungen bei der Versauslegung.
relationship of Sunnī and Šīʿī Islam to logic and philosophy.
Der Einleitungsteil der Arbeit enthält eine Einführung zur
Section 2 presents fourteen biobibliographical studies with a
Zeitgeschichte und zum Autor sowie eine gattungskritische
critical inventory of the works of Avicenna’s disciples and the
Untersuchung des Textes mitsamt Informationen zum Manu-
philosophers who created the Avicennan philosophical herit-
skript. Im Hauptteil folgen eine annotierte zweisprachige
age in the Islamicate world. As a work of intellectual archaeol-
Edition des 50 Folien starken Manuskripts sowie eine zehn
ogy, presenting hitherto unexamined textual and manuscript
Kapitel umfassende Analyse des Werkes. Den Schlussteil
evidence, this book demonstrates the intellectual vitality of
bilden eine Einordnung des Kitāb Fahm al-Qurʾān in die
postclassical Arabic philosophy as reflected in the exegetical
theologischen Debatten seiner Zeit, der Versuch einer Chro-
genres of commentary, supercommentary, and gloss in the
nologisierung der Werke des Autors und schließlich eine
medieval madrasa tradition.
Beantwortung der Frage, wie der Koran nach Muḥāsibī richtig
zu verstehen sei. Im Anhang befinden sich neben einer Bib-
liografie ein Koranstellen- und Hadithverzeichnis. Die Autorin
verfolgt den Ansatz, den Text in den Vordergrund zu stellen
und durch eine detaillierte, v.a. terminologische Analyse des-
selben einen Beitrag zur Erforschung der frühislamischen
Theologie zu liefern, der starre Kategorisierungen in Begriffe
wie Rationalismus, Traditionalismus und Sufismus aufzubre-
chen versucht.
A
In Vorbereitung / In Preparation
bū ʿUbaida (gest. 825), Mitbegründer der arabischen
I
Philologie, schuf mit Maǧāz al-Qurʾān einen der frü- n the spring of 1518 an Italian cardinal, Egidio da Viterbo,
hesten Kommentare zum Koran. Dieser konzentriert travelled from Rome to Spain on a Papal mission. While
sich auf sprachliche Aspekte der Offenbarungsschrift und the official purpose of the visit was to convince King
wird daher meist als Wegbereiter der erst später voll aus- Charles V to collaborate against the Turks, the Papal legate
gebildeten arabischen Exegese, Sprachwissenschaft und pursued another, more covert goal. The Cardinal sought to
Rhetorik gelesen. Entgegen dieser Perspektive auf die früh- obtain for himself a translation of the Qur’ān. The transla-
islamische Kommentarkultur als vorsystematische Phase tion was prepared for the Cardinal by Juan Gabriel, a Muslim
arabischer Schriftgelehrsamkeit betrachtet Nora Schmidt den convert (Morisco) from Teruel, formerly known as Ali Alayzar.
philologischen Kommentar Abū ʿUbaidas als eigenständigen Seven years later, this text was corrected by another convert
und lehrreichen Teil einer spätantiken Philologiegeschichte. of Spanish origin, the famed Leo Africanus.
Mithilfe literaturwissenschaftlich orientierter Methoden erar- This book contains both an edition and study of Egidio da
beitet sie die Techniken des philologischen Korankommentars Viterbo’s Qur’ān. The critical edition is based on the two exist-
selbst und diskutiert die Bedeutung der Epochenkonstruktion ing manuscripts and is the first published work to include the
„Spätantike“ für die Beschreibung frühislamischer geistiger full text of this Qur’ānic translation. It includes the original
Errungenschaften. Das Herkunftsmilieu der Koran-, aber auch translation, the corrections of the text made by Leo Africanus,
der arabischen Sprachwissenschaften wird anhand einer für an appendix with Qur’ānic glosses and a case study devoted
„die Spätantike“ zentralen hermeneutischen Streitfrage, der to persons involved in the translation. The study serves as an
Haltung zu allegorischer oder aber literaler Auslegung heili- introduction to the Latin text, exploring the context in which
ger Schriften, nachvollzogen. Mittels Allegorese und literaler Muslim converts to Christianity collaborated with church
Interpretation werden nicht nur hermeneutische, sondern vor authorities. It enumerates and analyzes the Morisco transla-
allem auch religionspolitische Standpunkte unterschiedlicher tor’s diverse philological tools, which could have been used
Gemeinschaften vertreten. Diese Dynamik wird in diesem by the clergymen for polemical purposes. At the same time,
Buch auch für die Deutung der frühen Koranexegese bean- it offers further insight into European studies of Arabic during
sprucht. the period.