Entdecken Sie eBooks
Kategorien
Entdecken Sie Hörbücher
Kategorien
Entdecken Sie Zeitschriften
Kategorien
Entdecken Sie Dokumente
Kategorien
KG, Wiesbaden
ISBN Print: 9783447109581 — ISBN E-Book: 9783447197250
Diskurse der Arabistik
Herausgegeben von
Hartmut Bobzin und Angelika Neuwirth
Band 25
2018
Harrassowitz Verlag · Wiesbaden
2018
Harrassowitz Verlag · Wiesbaden
Vorwort ............................................................................................................... IX
1. Fragestellung und erkenntnistheoretische Grundfragen ............................ 1
1.1 Fragestellung ............................................................................................. 1
1.1.1. Die Verortung der Ethikfrage in der islamischen Theologie................. 1
1.1.2. Kontroversen der islamischen Ethikdebatte .......................................... 5
1.1.3. Die vorzügliche Ethik und die Frage der Rezeption
des griechischen Erbes .......................................................................... 8
1.2. Erkenntnistheoretische Grundfragen ........................................................ 11
1.2.1. Die ethischen Wurzeln der islamischen Rechtstheorie:
entstanden aus dem Konflikt der Interpretationen ................................ 11
1.2.2. Die Ethikfrage im Lichte der maqāṣid-Theorie: šarīʿa, fiqh, aḫlāq...... 18
1.2.3. Glaubensorientierte Lebensführung im Verhältnis
von Anerschaffenheit (fiṭra) und Vernunft (ʿaql) ................................. 22
1.2.4. Aš-Šāṭibīs Ethik im Verhältnis von Pflicht und Ausrichtung ............... 27
1.3. Zur Methodenfrage .................................................................................. 31
1.3.1. Das ethische Prinzip der Fürsorge als Ort zur Begründung der Pflicht. 31
1.3.2. Die Frage von Hierarchie und Organisation im Verhältnis
von maqāṣid und aḥkām ....................................................................... 32
2. Grundfragen rationaler Begründbarkeit der Moraltheologie der šarīʿa .. 35
2.1. Offenbarungsintention als Begründungsort moralischer Pflicht .............. 35
2.1.1. Diskursethische Argumentation im Verhältnis zur rationalen
Urteilsfindung ....................................................................................... 35
2.1.2. Rechtliche Analogie, Absicht und diskursethische Moralbegründung . 44
2.1.3. Moralnormen im Kontext teleologischer Begründungsansätze ............ 56
2.2. Moralbegründung der maqāṣid im Lichte der theologischen
Hermeneutik ............................................................................................. 62
2.2.1. Von expliziter Bedeutung zum impliziten Aufforderungsakt –
Absicht im Spannungsfeld zwischen Wille und Grund ........................ 62
2.2.2. Die rhetorischen Wurzeln von aš-Šāṭibīs diskursethischer
Moralbegründung ................................................................................. 67
2.2.3. Zur Verstrickung von Finalität und Kausalität bei der ethischen
Urteilsfindung ....................................................................................... 71
2.2.4. Schlussbetrachtung ............................................................................... 74
3. Maṣlaḥa als „Schlussstein“ ethischer Ausrichtung ...................................... 77
3.1. Vorbemerkungen: Maṣlaḥa – ein historischer Überblick ......................... 77
3.1.1. Maṣlaḥa als Prinzip deduktiven Schließens .......................................... 78
3.1.2. Maṣlaḥa als Schöpfungsprinzip ............................................................ 79
6.4. Perspektiven und Ausblick: aḥkām und der moderne Begriff der
Gerechtigkeit ............................................................................................ 186
Diese Arbeit erwuchs dem aus der aktuellen Umbruchphase der Islamischen
Theologie entspringenden dringenden Desiderat, die erkenntnistheoretischen Grund-
lagen der islamischen Ethik- und Moraltheorie epistemologisch zu erforschen und
ihre methodischen Wurzeln theologisch und ethisch zu ergründen. Die Auswahl des
spätmittelalterlichen Rechtstheorie-Werks al-Muwāfaqāt von Abū Isḥāq Ibrāhīm ibn
Mūsā aš-Šāṭibī1 (gest. 790/1388) als Ausgangspunkt dieser Fragestellung verortet
die hier durchgeführte Diskussion methodisch und theoretisch im genealogischen
Prozess der Relektüre und Rekonstruktion der islamischen Tradition in der
Moderne. Dies zieht eine tiefgreifende Reflexion über die moderne Auffassung bzw.
Rezeption theologischer Grundbegriffe aus dem islamischen Erbe unmittelbar nach
sich.
Dabei werfen die hier diskutierten Themen eine Vielzahl kontroverser Fragen
auf, die Gegenstand zahlreicher Studien und außerordentlich komplexer Debatten
waren. Was diese Arbeit bei der Erörterung von ethischen und moralischen Grund-
fragen wie Freiheit, Verantwortung, Tugend und Gemeinwohl aber zunächst interes-
siert, ist nicht die formale Aufstellung der islamischen Normativität hinsichtlich
ihrer praktischen Anwendung, die zweifellos einen besonderen Stellenwert in der
lebhaften aktuellen Diskussion um das Verhältnis zwischen theologisch-ethischen
und zivilrechtlichen bzw. institutionellen Verhaltensnormen des modernen Staates
einnimmt. Im Folgenden geht es vielmehr um eine epistemologische Auseinander-
setzung mit den den praktischen Moralnormen zugrunde liegenden tiefgreifenden
wissenschaftstheoretischen Ideen sowie mit den Denkvoraussetzungen ihrer ideen-
geschichtlichen Entwicklung und mit ihrer Verortung in moderne Denkprozesse.
Dies sind Themenbereiche, die traditionell, wenn auch nur ansatzweise, Disziplinen
wie dem ʿilm uṣūl al-fiqh (Rechtstheorie) und dem ʿilm al-aḫlāq (Ethik) untergeord-
net waren.
Motiviert ist dieser methodische Vorgang durch den Kerngedanken, dass die ei-
gentlichen Herausforderungen für die heutige islamische Ethik primär das gestörte
Verhältnis zwischen dem wissenschaftlichen Diskurs der Gelehrsamkeit und dem
volksislamischen Diskurs betreffen. Denn auf der einen Seite konnte sich der wis-
1 Abū Isḥāq Ibrāhīm ibn Mūsā aš-Šāṭibī, geboren in Granada und nicht in Xàtiva, wie sein Name
eigentlich zu verstehen gibt, ist einer der bedeutendsten spätklassischen Vertreter der
westislamischen Mālikiyya, für die Granada die damalige Hauptstadt war. Der Autorität Mālik
ibn Anas (gest. 179/796) folgend, verdankt aš-Šāṭibī seinen bedeutenden Rang auch seinem
Werk al-Muwāfaqāt über das zielgerichtete Verständnis des Gesetzes und dessen
Auswirkungen auf die Rechtsableitung. (Vgl. Muḥammad aṭ-Ṭāhir ibn ʿĀšūr: Maqāṣid aš-
Šarīʿa al-islāmiyya, neue Auflage, Kairo 2005, S. 38.)
senschaftliche Diskurs der Gelehrsamkeit seit dem Beginn der postklassischen Phase
(um das 7./13. Jh.) über die Kolonialphase hinweg bis zum Scheitern des Anschlus-
ses an die Moderne in der islamischen Glaubensgemeinschaft kaum Gehör verschaf-
fen. Demgegenüber steht auf der anderen Seite ein volksislamischer Diskurs, dessen
Auswüchse von einem passiven, resignierten, mit Aberglaube behafteten Bruder-
schaftsdenken bis hin zu einem organisierten, politisch orientierten, militanten Ge-
dankengut reichen.
Ein Versuch zur Ausarbeitung einer angewandten Moralnormativität im Islam
wäre heute insofern nicht nur verfrüht, sondern er wäre einerseits theoretisch und
methodisch kaum durchführbar, und andererseits würde er sozialwissenschaftlich
und theologisch kaum über die Stufe einer Symptombehandlung hinausgehen. Be-
legt wird dies nicht zuletzt durch das Scheitern zahlreicher Reformvorhaben des
praktischen islamischen Rechts, welche seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts in den
islamischen Ländern in Gang gesetzt wurden und sich auf oberflächliche und mit-
unter formale Änderungsvorschläge beschränkten.
Begründet ist der hier angelegte theoretische Rahmen der Relektüre islamisch-
theologischer Tradition dadurch, dass jegliche moderne Auseinandersetzung mit
dem praktischen islamischen Moral- und Normensystem nur dann Anspruch auf
Kohärenz, Plausibilität und Allgemeingültigkeit erheben kann, wenn die ihr zugrun-
deliegenden theoretischen Prinzipien und Grundsätze ideengeschichtlich herausge-
arbeitet und im Lichte moderner Denkansätze epistemologisch neugelesen bzw.
neudefiniert werden. Die Notwendigkeit einer theoretischen Auseinandersetzung mit
dem theologischen Erbe des Islams ist nicht zuletzt darin erkennbar, dass alle theo-
logischen Fachdisziplinen von der Hadith-Wissenschaft über die Koranexegese bis
hin zur Rechtswissenschaft sich Methoden und Ansätzen bedient haben, die dem
weltlichen bzw. menschlichen Wissen entsprungen sind.
Der heutige Versuch einiger der Islamischen Theologie zugerechneter pseudo-
wissenschaftlicher Ansätze, jeglichen epistemologischen Einfluss des antiken Den-
kens auf die islamische Tradition auszublenden oder gar abzustreiten, führte zu einer
verheerenden Ambiguität zwischen dem Heiligen und dem Profanen im kollektiven
Bewusstsein der Gläubigen. Außerdem trug er dazu bei, die selbstständige Urteils-
findung und die Rolle der menschlichen Vernunft beim Verstehen des Gottesworts
einzuschränken.
Dass die der Koran- und Hadith-Exegese inhärenten sprachtheoretischen und
analytischen Begriffe zum einen hellenistische Hintergründe haben und zum ande-
ren das Produkt einer ingeniösen, diachronischen und diskursorientierten rationalen
Reflexion waren, wird in der islamischen Gelehrsamkeit kaum bestritten. Ebenso
wenig waren die in der griechischen Philosophie verankerten erkenntnistheoreti-
schen Wurzeln der grundlegenden Begriffe der Rechtstheorie wie etwa manṭiq (Lo-
gik), qiyās (Syllogismus) und ʿilliyya (Kausalität) im islamischen theologischen
Diskurs umstritten, deren Entwicklung durch die islamische Philosophie das euro-
päische Denken von der Aufklärungsepoche bis heute maßgeblich geprägt hat. Zent-
rale analytische Begriffe der Moderne wie Argumentation, Abwägung, rationale
Begründung und Deliberation lassen sich bis in die Blütezeit der islamischen Theo-
logie im 3./9. Jahrhundert zurückverfolgen, was die Arbeit der Relektüre heute in
einer ideengeschichtlichen Herangehensweise verorten lässt.
Das der vorliegenden Arbeit als Grundlage dienende hermeneutische Potenzial
der Rechtstheorie speist sich auch aus ihrer Nähe zur Tugendlehre, die im Laufe
ihrer Entwicklung zu einer theologischen Ethik über ein vollendetes Konzept der
Handlungstheorie verfügte. Leider hatte die von der Tugendlehre entwickelte Ethik
kaum Einfluss auf den Prozess der Normableitung in der Rechtstheorie. Ausge-
nommen sind lediglich Rechtstheorien, die dem Ansatz der maqāṣid zuzurechnen
sind. Die Besonderheit der auf die Intention bzw. Zielsetzung des Gotteswortes
ausgerichteten Rechtstheorie offenbart sich in ihrer von ethischen Maximen ausge-
henden Normableitung. Der Schlussstein ethischer Ausrichtung der Offenbarung ist
nach aš-Šāṭibī die Glückseligkeit der Gläubigen im Dies- und im Jenseits. Diesem
Verständnis nach geschieht die moralische Urteilsfindung im Koran nicht durch eine
unmittelbare Unterteilung koranischer Aussagen gemäß der fünf bekannten Rechts-
normen, nämlich Verbot, Gebot, Verwerfung, Empfehlung und Erlaubnis. Vielmehr
geht es bei einer Normableitung um eine rationale Reflexion über das Verhältnis
zwischen Moral- und Rechtsnorm sowie ethischer Maxime, die aus den Offenba-
rungsquellen abgeleitet wird.
Aš-Šāṭibīs Grundthese zur Begründung moralisch-theologischer Pflichten lautet:
Die Moral- und Rechtsnormen sind im Lichte der von Vernunft und Glaube festge-
legten ethischen Ausrichtung aus den Offenbarungsquellen abzuleiten. Ihre Frage-
stellung ist rituelles bzw. weltliches Handeln unter dem Aspekt von sittlich und
theologisch Schädlichem oder Nützlichem. Das Wissen um ein moralisches Urteil
zielt nach aš-Šāṭibīs intentionalem Ansatz nicht auf die Festlegung seiner Umset-
zungsart ab, sondern auf die vernunftorientierte Plausibilisierung des ihm zugrunde
liegenden Werts und seine Übertragung in die entsprechende Pflichtform.
Wie die Disziplinen Koranexegese (tafsīr) und Koranwissenschaften befasste
sich ab dem 3./9. Jahrhundert auch die islamische Rechtstheorie mit der Koranher-
meneutik. Sie entwickelte dabei eine eigenständige Auslegungsmethodik, in deren
Mittelpunkt die Ableitung von Rechts- und Moralnormen aus der Offenbarung
stand, und die bis heute als vielversprechend für die praktische Orientierung der
Exegese gilt. Die Bedeutungsanalyse der tafsīr-Wissenschaft deutete hingegen ab
dem Beginn des 4./10. Jahrhunderts auf die Etablierung des theologischen Sinns in
den koranischen Denkinhalten hin und vernachlässigte somit das hermeneutische
Potenzial einer am Sprachwandelprozess orientierten, diachronischen und glaubens-
orientierten semantischen Ableitung theologischer Fachbegriffe.
Im Lichte der Frage nach der verbindlichen Ableitung von Rechts- und Verhal-
tensnormen aus dem Koran entwickelten sich bereits in der frühislamischen Exegese
die Grundzüge hermeneutischen Denkens über komplexe Offenbarungsinhalte. So
gelten die Auslegungen von ʿAbdallāh ibn ʿAbbās (gest. 68/687), ʿAlī ibn Abī Ṭālib
(gest. 40/661), Ubayy ibn Kaʿb (gest. 30/651) und ʿAbdallāh ibn Masʿūd (gest.
32/652), auf die die gesamte exegetische Tradition zurückgeht, für eine Vielzahl
präskriptiver Koranverse als richtungsweisend.
Die exegetischen Überlegungen von ʿAbdallāh ibn ʿAbbās galten primär dem
Abweichungsprozess, der in Folge des semantischen Wandels einzelner Wörter von
den bei den Arabern damals anerkannten sprachkonventionellen Bedeutungen zu
glaubensorientierten theologischen Fachtermini zu einer neuen Wahrnehmung fakti-
scher Lebensrealität führte.
So wurden Ideen des Glaubens, die den Menschen damals kaum zugänglich wa-
ren, stufenweise ins Bewusstsein der Gemeinschaft eingeführt. Dieser semantische
Abweichungsprozess verlief in den Anfängen der glaubensstiftenden Offenbarungen
lexikalisch am Beispiel neuer religiös belegter Verwendungsweisen einzelner Be-
griffe wie etwa zakāt (Almosenabgabe), ṣālāt (Gebet) und ḥaǧǧ (Pilgerfahrt).
Die mit dem neuen Glauben einhergehende Umwandlung des empirischen Selbst
erlangte ihren Höhepunkt bei dem Aufruf zum Umdenken, das beispielhaft in der
theologischen Bedeutung des Wortes zakāt ihren Ausdruck findet. Dieses Wort, das
vor der Offenbarung vor allem „Vermehren“ bedeutete, nahm im Koran nun die
Bedeutung „großzügige Abgabe an Bedürftige“ an.
Im Koran sind sowohl die konventionelle Bedeutung (Q 9:103) als auch der the-
ologische Inhalt des Wortes zakāt (Q 2:110) belegt. Der Verhältnisbestimmung
beider Bedeutungsebenen galt das Interesse der früheren Koranexegese.
„Nimm von ihrem Besitz ein Almosen, mit dem du sie rein machst und läu-
terst, und bete für sie, denn dein Gebet ist für sie eine Beruhigung! Allah ist
Allhörend und Allwissend.“ (Q 9:103)2
In diesem Vers wird ṣalāt im Sinne von Bittgebet und zakāt im Sinne von Reinheit
(auch ein Begriff der Emphase) verwendet. Die theologischen Bedeutungen finden
sich in Pflichtversen wie z.B.:
„Und verrichtet das Gebet und entrichtet die Abgabe. Und was ihr für euch
selbst an Gutem vorausschickt, werdet ihr bei Allah finden. Was ihr tut, sieht
Allah wohl.“ (Q 2:110)
Das hermeneutische Potenzial der frühen Koranexegese zeigt sich in einer Frage, die
das Wesen und den ethischen Sinn der Offenbarung offenkundig zu machen verhilft,
nämlich: Wie kann man etwas vermehren, indem man es ausgibt?
Die von der Hermeneutik gelieferte Antwort auf diese Frage herrührend aus dem
Sufismus, dass nur die Liebe durch Ausgabe vermehrt werden könne, zieht zwei
grundlegende Hypothesen zum Koran nach sich: erstens, dass die koranische Spra-
che eine Sprache der (Nächsten-)Liebe und Fürsorge sei, die eine bedingungslose
Überwindung des Selbst erfordere; zweitens, dass sich ein angemessenes und theo-
2 Q = Qurʾān. Die Koranzitate stammen, wenn nicht anders angegeben, aus: Abdullah Frank
Bubenheim/Nadeem Ata Elyas: Der edle Qur’ān und die Übersetzung seiner Bedeutungen in
die deutsche Sprache, Medina 2004.
logisch relevantes Verständnis des Korans nicht mit der Umschreibung seiner Spra-
che der Liebe in eine Sprache des Gesetzes vereinbaren lasse. 3
Diese Idee lässt sich mit Hilfe einer Vielzahl früherer Deutungen von ʿAbdallāh
ibn ʿAbbās bestätigen. So wird das Wort ẓulm in Q 31:13 als Ungerechtigkeit gegen-
über sich selbst gedeutet und auf diese Weise dem Unglauben gleichgestellt. Indem
die Gefühlsneigung (hawā) über den gläubigen Willen gestellt wird, entsteht eine
Beigesellung Gottes (širk), die als Ungerechtigkeit gegenüber sich selbst von
ʿAbdallāh ibn ʿAbbās bezeichnet wird. Auch hierbei ergibt sich ein hermeneutischer
Zugang, der eine Reflexion über das Verhältnis zwischen Selbstliebe und Selbst-
schätzung in der Offenbarung hervorruft.
Diese vielversprechende Verhältnisbestimmung zwischen der Offenbarung und
der aus ihrem besonderen Sprachgebrauch ausgehenden ethischen Botschaft trat im
Prozess der Kanonisierung der Exegese schon ab dem 3./9. Jahrhundert wieder in
den Hintergrund.
Aufgrund der Wandelbarkeit der Denkvoraussetzungen in der Exegese, deren
Methodik sich historisch an den sich ständig verändernden Vollzugszusammenhän-
gen im Leben der Gläubigen orientierte, ist es unabdingbar, dass die moderne nor-
mative Koranhermeneutik heute die Tradition in ihrer theologischen und methodi-
schen Bandbreite rezipiert, und zwar von den Anfängen der Überlieferungsexegese
(tafsīr bi-l-maʾṯūr) mit ihren Hauptvertretern ʿAbdallāh ibn ʿAbbās und Muǧāhid ibn
Ǧabr (gest. 104/722) über die Etablierungsphase bei Abū Ǧarīr aṭ-Ṭabarī (gest.
310/923) bis hin zur Blütezeit der rational-theologischen Koranauslegung bei az-
Zamaḫšarī (gest. 538/1143) und ar-Rāzī (gest. 606/1210).
Zugleich sollte dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die aufgrund der
veränderten Lebensrealität und dem damit einhergehenden Einfluss der Politik auf
die Theologie ab dem 3./9. Jahrhundert eingetretene Pluridisziplinarität, allem Posi-
tiven zum Trotz, zu einer Verschlossenheit in den theologischen Wissenschaften
geführt hat, allen voran in der traditionellen Koranexegese.
Die Einzelbereiche der Koranwissenschaften wie Offenbarungsanlässe, Abroga-
tion, Vieldeutigkeit, mekkanische und medinensische Suren etc. haben dem Ver-
ständnisprozess in der Geschichte zwar den methodischen Unterbau geliefert, doch
eine tiefgreifende gegenseitige theoretische Befruchtung zwischen Koranwissen-
schaft und Koranexegese ist ausgeblieben. Während sich die klassische Exegese
zunehmend auf die Überlieferung tradierter Untersuchungsmethoden konzentrierte,
entwickelte die Rechtstheorie einen herausragenden hermeneutischen Ansatz, dessen
Relevanz für den Lebensvollzug der Gläubigen immer mehr an Bedeutung gewann.
So hat unter anderem al-Ġazālī (gest. 505/1111) in seinem Werk al-Mustaṣfā die
analytischen Begriffe herausgearbeitet, die den präskriptiven Charakter einzelner
Koranverse argumentativ und handlungstheoretisch plausibel nahelegen.
3 Vgl. ausführlicher Mohammed Nekroumi/Arnulf von Scheliha: „Klug sein angesichts der
Unergründlichkeit des Lebens“. In: Silke Lechner/Heide Stauff/ Mario Zeißig (Hg.): Deutscher
Evangelischer Kirchentag, München 2016, S. 101-110.
kurs aufholen und den Anschluss an die moderne wissenschaftliche Debatte finden
kann.
Ein Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, sich einer solchen Aufgabe kritisch und
interdisziplinär zu stellen. Deshalb versucht sie, die Denkvoraussetzungen und die
damit einhergehenden konnotativen Argumentationsvorgänge erkenntnistheoretisch
zu untersuchen und ihre Kohärenzprinzipien hermeneutisch zu hinterfragen, um so
Wege und Perspektiven für neue, zeitgemäße hermeneutische Ansätze auszuloten.
Diese Arbeit besteht nebem dem Vor-und Schlusswort aus sechs Kapiteln. Das
erste skizziert kurz die Fragestellung der Arbeit und befasst sich darüber hinaus mit
den konzeptionellen Grundsätzen von aš-Šāṭibīs Rechtstheorie. Zum einen geht es
um die historische und wissenschaftstheoretische Verortung der maqāṣid-Theorie
innerhalb benachbarter Fachdisziplinen, zum anderen um ihren normativen Charak-
ter und ihre Stellung gegenüber den klassischen rechtstheoretischen Ansätzen. Dabei
wird im Zuge einer Diskussion fachspezifischer Grundbegriffe wie šarīʿa (göttliche
Rechtsordnung), fiqh (positives Recht), ʿaql (Vernunft) und fiṭra (Anerschaffenheit)
der hermeneutische Charakter dieser ethisch ausgerichteten Rechtstheorie aufge-
zeigt. Sowohl hinsichtlich der Rechtstheorie als auch mit Blick auf die Tugendlehre
muss ausgewiesen werden, inwiefern die maqāṣid-Theorie als eine eigenständige
Disziplin betrachtet werden kann, in der der theoretische Rahmen hervorgebracht
wird, um Elemente der Rechtstheorie und Grundsätze der Tugendlehre in einer
umfassenden Ethiktheorie zu vereinen. Dieses erste Kapitel will Argumente für die
Abhängigkeit zwischen dem deontologischen Gesichtspunkt der šarīʿa und dem
teleologischen Charakter der Offenbarung liefern. Die von aš-Šāṭibī der Offenba-
rung zugeschriebenen drei Arten der Zielsetzung ethischer Urteilsfindung weisen
den Weg zu einer ausgewogenen Verhältnisbestimmung zwischen Moralpflicht und
ethischer Ausrichtung als Ort des Tugendhaften. Diese Zielsetzungen, genannt
maqāṣid, sind durch ihren teleologischen Charakter gekennzeichnet. Während die
sogenannten ḍarūriyyāt (notwendige Maximen, die auf den Schutz des Glaubens,
des Lebens, der Fortpflanzung bzw. der Familie, von Eigentum sowie der intellektu-
ellen Fähigkeit abzielen) auf die Regelung des moralischen Verhaltens ausgerichtet
sind, sind die ḥāǧiyyāt bedürfnisbezogene und die taḥsīniyyāt an der Wohlfahrt
orientierte Maxime und im Bereich der Tugenden anzusiedeln. Die ḥāǧiyyāt impli-
zieren nach aš-Šāṭibī diejenigen normativen Aspekte, die fakultativ sind, um die
Härten der Pflichten zu mildern, sodass dem Gottesgebot ohne Kummer oder Un-
gemach gefolgt werden kann. Aš-Šāṭibī stellt sie hierarchisch unter die ḍarūriyyāt-
Maximen und nennt hierfür die Einzelheiten des Handelsrechts als Beispiel. Die
taḥsīniyyāt-Maximen, die dem Wohlbefinden der Gläubigen dienen sollen, werden
wiederum den ḥāǧiyyāt-Maximen untergeordnet.
Im zweiten Kapitel wird, ausgehend von den vorangegangenen Ausführungen,
das Verhältnis zwischen Vernunft und Glaube beim Verständnis der Offenbarung
eingehend diskutiert. Diese Auseinandersetzung betrifft vor allem die Frage ratio-
naler Begründung der Moral- und Rechtsnormen der šarīʿa, was eine umfassende
hermeneutische Reflexion über die Schlüsselbegriffe von aš-Šāṭibīs maqāṣid-Theo-
rie hervorrief, die seiner Begründbarkeitstheorie zugrunde liegen, wie etwa causa
(ʿilla), Absicht (niyya), Motiv (ġaraḍ) und Anlass (sabab). Im Lichte der modernen
Auffassung von Handlung und Ereignis wird aš-Šāṭibīs Argumentation aus der
Perspektive des Begründungsdenkens philosophischer Ethik betrachtet. Schwer-
punkt dieses zweiten Kapitels ist das Verhältnis zwischen Begründen und Verstehen
bei der Ableitung der Moralnormen aus dem Gotteswort.
Hieran anknüpfend widmet sich das dritte Kapitel der wirksamen Aufgabe des
islamischen Ethos in der Gestaltung des Gemeinwesens. Verdeutlicht wird dies
durch die Ausarbeitung des teleologischen Charakters der Offenbarung als eine
Botschaft, deren ethische Ausrichtung dem deontologischen Gesichtspunkt Sinn und
Orientierung verleiht. Der teleologische Charakter führt zunächst in das Verhältnis
zwischen den ethischen Maximen und dem Gemeinwohl (maṣlaḥa) als Schlussstein
der ethischen Ausrichtung ein. Dabei liegt im ersten Abschnitt der Akzent auf den
Diskussionszusammenhängen hinsichtlich der Entstehung des Werturteils, sowohl in
der islamischen Theologie als auch in der philosophischen Ethik. Neben einer Be-
trachtung hermeneutischer Fragen zum Verhältnis von theologischen und rationalen
Auffassungen zu Tugend und Gemeinwohl wird versucht zu erschließen, was es mit
den Begriffen Sünde, Vergebung, Begierde und Willen im Prozess der Verstrickung
in der Handlungsrealität auf sich hat. Mit der Konzipierung einer an der modernen
Ethik orientierten Verhältnisbestimmung zwischen den von aš-Šāṭibī ausgearbeite-
ten verschiedenen ethischen Maximen untereinander erfolgt im vierten Kapitel ein
Erweiterungsentwurf der hermeneutischen Tragweite jeder ethischen Kategorie im
Hinblick auf ihr Verhältnis zu den anderen. Hierbei wird ausgehend von der Ma-
xime des „Schutzes des Selbst“ der Begriff der ethischen Selbstheit eingeführt und
in seiner Relation zu den Maximen „Schutz des Glaubens“, „Schutz des Geistes“,
„Schutz der Familie“ und „Schutz des Besitzes“ theologisch-hermeneutisch defi-
niert.
Das fünfte Kapitel widmet sich den Eigenschaften der theologischen Moral- und
Rechtsnormen, genannt al-aḥkām aš-šarʿiyya. Gegenstand des ersten Abschnitts ist
aš-Šāṭibīs Konzeption der Pflichtnormen (al-aḥkām at-taklīfiyya) und ihr Verhältnis
zur ethischen Ausrichtung.
Im sechsten Kapitel werden die sogenannten konventionellen Normen unter-
sucht. Dabei wird zunächst das wahre Wesen dieser Normen als konstitutive Regeln
diskutiert. Dieser innovative Begriff offenbart den tiefgreifenden Charakter von aš-
Šāṭibīs Moraltheorie, insofern die konstitutiven Regeln dem Urteil den ihm fehlen-
den Umfeldsrahmen hinzufügen. Pflichtakte werden somit aus zwei Perspektiven
gedacht: einerseits aus dem sprechhandlungstheoretischen Gesichtspunkt und ande-
rerseits aus dem situativen und kontextualen Zusammenhang der Sprechakte. In
diesem Abschnitt liegt der Akzent allerdings auf der Frage der Zurechnung im
Lichte des kausalen Handlungsumfelds. So werden die Begriffe sabab (Anlass) und
musabbab (Wirkung/Ergebnis) hinsichtlich ihres hermeneutischen Potenzials unter-
sucht und anhand von aš-Šāṭibīs Ausführungen diskutiert.
an der einen oder anderen Stelle zum Nachdenken brachten, wenn auch nicht all ihre
Anregungen Eingang in das finale Manuskript finden konnten. Herrn Farid Sulei-
man möchte ich ebenso für seine Geduld sowie seine sorgfältige Lektoratsarbeit und
Endformatierung danken.
1.1 Fragestellung
1.1.1. Die Verortung der Ethikfrage in der islamischen Theologie
In der heutigen lebhaften Diskussion um die islamische Ethik stößt man in der
Fachliteratur kaum auf Studien, die sich ideengeschichtlich und epistemologisch,
mit Blick auf die ganze Bedeutungstiefe ethischer Begriffe und mit dem Wandel des
normativen Konzepts der šarīʿa in den unterschiedlichen Epochen der islamischen
Geistesgeschichte aus hermeneutischer Sicht befassen. Auslöser der modernen De-
batte um Bedeutung und Anliegen des Begriffs šarīʿa war die Frage nach der Be-
ständigkeit und Allgemeingültigkeit göttlicher Ge- und Verbote. Damit rückt seit
Beginn des 20. Jahrhunderts die maqāṣid-Theorie zunehmend ins Interesse islami-
scher Theologen. Das arabische Wort maqāṣid bedeutet allgemein „Ziele“, und es
meint hier explizit die Ziele der šarīʿa bzw. die Intentionen des Gesetzgebers, wel-
che in der Rationaltheologie als erschließbarer Ausdruck des göttlichen Willens
verstanden werden.
Die Leitfiguren der islamischen Reformbewegung wie Muḥammad ʿAbduh,
Muḥammad aṭ-Ṭāhir ibn ʿĀšūr, Muḥammad ʿAllāl al-Fāsī u.a. waren der festen
Überzeugung, dass die ethischen Weisungen des Korans, die von der islamischen
Rechtsmethodik systematisiert wurden, eine gute Grundlage für eine theologisch
fundierte und zeitgemäße Auslegung der Quellen der šarīʿa bilden.1 Als Forschungs-
thema wurde die Frage der islamischen Ethik in der Postmoderne in Verbindung mit
moraltheologischen und sozialethischen Lebensfragen bislang fast nur im Rahmen
einzelner Beiträge behandelt, die weder wissenschaftliche Kontinuität noch theolo-
gische Fundierung erlangten. Die erwähnenswerten Entwürfe zur ethischen Aus-
richtung der šarīʿa können in zwei Kategorien geteilt werden:
a) Einmalige Aufsätze: Dazu gehören u.a. die Arbeiten von Kevin Reinhardt, 2 Wer-
ner Zager3 und Norman Calder.4
Ältere Arbeiten wie die von Tilman Nagel, 11 Joseph Schacht12 und Harald Motzki13
über islamisches Recht gehen auf den Untersuchungsgegenstand eher historisch ein
und präsentieren ein knappes theoretisches und methodisches Gerüst für die Leit-
frage islamischer Lebensführung im Lichte der Offenbarung. Es gibt somit – trotz
steigenden Interesses an einer zeitgemäßen Definition des islamischen Ethos – keine
umfassende und in ihrer Methodik überzeugende Studie zur islamischen Ethik- bzw.
Moraltheorie. Obwohl der Schlüsselbegriff šarīʿa von der Rechtstheorie als Schöp-
fungsordnung betrachtet wird und damit unmittelbar im Bereich der moralischen
Gesetzlichkeit bzw. in der Ordnung des Gemeinwesens angesiedelt ist, sind nach
wie vor nur Teilaspekte einer theologischen Ethik14 ausgearbeitet, die sich grund-
legenden Fragen nach Wesen und Ausrichtung der lex dei (šarʿ Allāh) als
einheitsstiftender Begründungsort aller Gesetzlichkeiten von den „Naturgesetzen“
über die „logischen Gesetze“ bis hin zur „moralischen bzw. sittlichen Rechtsset-
zung“ stellt.15 Von solchen definitorischen Fragen und den damit verbundenen er-
kenntnistheoretischen Auseinandersetzungen sind die heutigen Studien zu Wesen
5 Muhammad Khalid Masud: Islamic Legal Philosophy. A Study of Abū Isḥāq al-Shāṭibī’s Life
and Thought, Islamabad 1977.
6 Bernard G. Weiss: The Spirit of Islamic Law, Athens (Georgia, USA) 2003.
7 Wael B. Hallaq: An Introduction to Islamic Law, Cambridge/New York 2009; ders.: Shari’a.
Theory, Practice, Transformations, Cambridge/New York 2009; ders.: The Origins and
Evolution of Islamic Law, Cambridge/New York 2005; ders.: Authority, Continuity, and
Change in Islamic Law, Cambridge/New York 2001.
8 Mohammed Arkoun: Rethinking Islam. Common Questions, Uncommon Answers, Boulder
1994.
9 Aḥmad ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šāṭibī, 5. Aufl., Herndon 1995.
10 Nasr Hamid Abu Zaid: Mafhūm an-naṣṣ. Dirāsa fī ʿulūm al-qurʾān, Beirut/Casablanca 1990.
11 Tilman Nagel: Das islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001.
12 Joseph Schacht: An Introduction to Islamic Law, Oxford 1966.
13 Harald Motzki: Die Anfänge der islamischen Jurisprudenz. Ihre Entwicklung in Mekka bis zur
Mitte des 2./8. Jahrhunderts, Wiesbaden 1991.
14 Der Begriff „Theologische Ethik“ wird in dieser Arbeit lediglich als eine deutsche Wiedergabe
der hier angenommenen extensiven Auffassung der Disziplin der uṣūl al-fiqh verwendet, der die
maqāṣid-Theorie als methodologische Grundlage dient. Die ethische Dimension der
islamischen Rechtstheorie intentionaler Prägung geht aus der dem Begriff qaṣd
(Absicht/Intention) inhärenten Nähe zu grundlegenden ethischen Kategorien wie etwa
Gewissen und Verantwortung hervor. Diese Übersetzung lässt sich insofern begründen, als es
nach Johannes Fischer in der christlichen Theologie „keine fixen Standards gibt, an denen
Beiträge zu dieser Disziplin sich messen lassen und vor denen sie ausgewiesen werden
müssen“. Fischer überlässt die fachspezifische Definition der „Theologischen Ethik“ „mehr
oder weniger der individuellen Kreativität“. (Vgl. Johannes Fischer: Theologische Ethik.
Grundwissen und Orientierung, Stuttgart/Berlin/Köln 2002, S. 8.)
15 Vgl. hierzu Friedrich W. Graf: Moses Vermächtnis, München 2006, S. 24.
und Anliegen islamischer Ethik als unabdingbarer Bestandteil der šarīʿa maßgeblich
geprägt. Von Interesse ist hier vor allem die Zuordnung von sittlicher Normenset-
zung und ethischem Werturteil. Versteht man den fiqh (islamische Normenlehre) als
diejenige wissenschaftliche Disziplin, „die den Anspruch des Glaubens an die sittli-
che Lebensführung zum Gegenstand hat“,16 so hebt man die durch ihre
Entwicklungsgeschichte fortwährende Wandlung dieser Disziplin von einer „Nor-
menlehre“ zu einem „Erkenntnisprozess“ hervor.
Problematisch bleibt bei der Diskussion um die islamische Ethik die Annäherung
von Rechtsetzung und moralischem Werturteil. Für den marokkanischen Denker
Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī korrespondiert die griechisch inspirierte „Ethik“ mit der
islamisch-theologischen Unterdisziplin ʿilm al-aḫlāq (Tugendlehre),17 die sich, trotz
der bedeutenden Werke, die sich damit befassten, zu keiner eigenständigen Wissen-
schaft etablieren konnte. ʿIlm uṣūl al-fiqh könne nicht als ʿilm al-aḫlāq betrachtet
werden, da dieser Wissenschaftsbereich sich seit dem 3./9. Jahrhundert zu einer rein
normativen Wissenschaft entwickelt habe, deren Hauptanliegen es gewesen sei,
ethische Kategorien wie Freiheit, Verantwortung und Tugend in einer festen Syste-
matik von konkreten Rechtsbestimmungen und Normen auszuarbeiten. 18
Die Frage nach der ethischen Implikation der šarīʿa und ihrer rationalen Begrün-
dung ist bis heute sowohl theologisch als auch sozialethisch und gesellschaftspoli-
tisch relevant. Zur islamischen Ethikdebatte gehört seit dem Ende des 13./19. Jahr-
hunderts neben der Kritik an dem vermeintlich anachronistischen Straf- und Privat-
recht der šarīʿa auch die Klage, dass ʿilm uṣūl al-fiqh den Grundprinzipien von ʿilm
al-aḫlāq kaum Platz einräume und in ihrer Rechtsordnung der Unterschied zwischen
Göttlichem und Weltlichem, Sündhaftem und Strafrechtlichem auf der Vernunft-
ebene nicht immer klar auszumachen sei. Von daher lasse sich, so al-Ǧābirī, die
Forderung nach einer Neudefinition des Geltungsbereichs des šarʿ Allāh und nach
einer Neuorientierung der moralisch-ethischen Auslegung des Korans aus der Per-
spektive vernünftiger Ordnungsfähigkeit begründen. 19
Diese Fragestellung ist, zumindest was die islamische Tradition angeht, nicht
neu. Sie findet sich in der Rationaltheologie 20 der späten klassischen Phase was al-
Ǧābirī auch einräumt und weshalb er die Ethik als einen interdisziplinären Wissen-
schaftsbereich bezeichnet, welcher fachübergreifend, in allen theologischen Feldern,
von der Exegese über den fiqh bis hin zu Philosophie und Mystik, vertreten war.
16 Konrad Hilpert: „Moraltheologie“, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., 10 Bde.,
Freiburg 1993-2001, Bd. 7, 1998, S. 462-467.
17 Siehe zu Vertiefung des Begriffs ʿilm al-aḫlāq Mohammed Arkoun: Der Islam. Annäherung
einer Religion, Heidelberg 1999, S. 235.
18 Vgl. Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-ʿarabī, Beirut 2012, S. 11-21.
19 Vgl. ebd., S. 14.
20 Bei den hier deckungsgleich verwendeten Begriffen „Rationaltheologie“ und „systematische
Theologie“ handelt es sich in dieser Arbeit um ungefähre Wiedergaben des Terminus ʿilm al-
kalām. Im weiteren Verlauf wird „Rationatheologie“ als Übersetzung bevorzugt.
Die islamische Rationaltheologie hat seit ihrer Entstehung versucht, die mora-
lisch-theologischen Vorstellungen ins Verhältnis zum rationalen Denken zu setzen
und damit hermeneutische Brücken zwischen Glaube und Vernunft einerseits sowie
religiösem und weltlichem Ethos andererseits zu bauen. Während die islamische
Rechtstheorie darauf abzielte, das menschliche Handeln ausgehend von den Glau-
bensgrundsätzen zu ordnen, trugen die Rationaltheologie und auch die Mystik durch
ihre Suche nach dem „wirklich“ Guten im Prozess ihrer Beschäftigung mit dem ʿilm
al-aḫlāq zum Grundverständnis des Verhältnisses von Glaube und Vernunft bei. 21
Weil die rechte Glaubenserkenntnis (ʿirfān) nach al-Ǧābirī der Vernunft
(burhān) nicht entbehren könne, könnten ʿilm uṣūl al-fiqh und ʿilm al-aḫlāq einan-
der nicht ersetzen, sondern nur ergänzen. Daher ruft er dazu auf, unter Rückgriff auf
die Errungenschaften aller theologischen Disziplinen eine eigenständige islamische
Ethik zu erarbeiten, die neben der Tugendlehre auch ʿilm uṣūl al-fiqh und die prakti-
sche Normenlehre umfasse und dabei die besonderen Fragen der Moderne berück-
sichtige. Dies setze die Verortung der theologischen Ethik im Kontext von Rationa-
lität und Wissenschaftlichkeit voraus. Nach al-Ǧābirī könne ein solches Unterneh-
men nur gelingen, wenn es zu einer Wiederbelebung der traditionellen Rationalthe-
ologie und der damit einhergehenden Rehabilitation von burhān komme, der durch
die Vorherrschaft von ʿirfān in den Hintergrund geraten sei.
Als herrschende Kulturform der islamischen Aufklärungsepoche drängte sich
nach al-Ǧābirī die Rationalität, insbesondere in den Zeiten Ibn Rušds (lat. Averroes,
gest. 595/1198), durch die ihr zugeschriebene ordnende Funktion jeglicher theologi-
scher Reflexion auf. Ihr argumentatives Potenzial speiste sich aus der Grundmaxime
ethischer Urteilsfindung, die das Moralische gleichermaßen als eine Sache des Wis-
sens und des Glaubens begriff. Bei der Auseinandersetzung von Vernunft und Of-
fenbarung im Streben nach ethisch-theologischer Urteilsfindung sieht al-Ǧābirī Ibn
Rušds ethisches Denken als Krönung einer genealogischen Entwicklung philosophi-
scher Reflexion zum Verhältnis von ʿirfān und burhān bzw. von der Situierung der
Moral und ihrer Begründung.22
21 Als richtungsweisend für die Rationaltheologie galten u.a. folgende Werke: Muḥammad ibn
ʿUmar az-Zamaḫšarī: al-Minhāǧ fī uṣūl ad-dīn, hg. von Sabine Schmidtke, Stuttgart 1997; Abū
l-Ḥusayn al-Baṣrī: Taṣaffuḥ al-adilla, hg. von Sabine Schmidtke/Wilfred Madelung, Wiesbaden
2006; Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī: Kitāb an-nafs wa-r-rūḥ wa-šarḥ quwāhumā, hg. von Muḥammad
Ṣaġīr Ḥasan al-Maʿṣūmī, Islamabad 1968. Im Bereich der Mystik wurden die Spätwerke al-
Ġazālīs und die Traktate Ibn ʿArabīs (gest. 638/1240) meist der Ethik zugeordnet. In der
Rechtstheorie galten die exklusiv der Ethik zugeschriebenen Werke von Miskawayh (gest.
421/1030), Ibn al-Muqaffaʿ (gest. 139/756) und Ibn Sīnā (gest. 428/1037) als eigenständige
Arbeiten, denen eher eine ergänzende Funktion zur etablierten Normenlehre zugewiesen wurde.
22 Die Aussöhnung von Offenbarung und Vernunft bei Ibn Rušd geschieht in Anlehnung an al-
Fārābīs (gest. 339/950) Theorie der Emanation und als Reaktion auf die in der Spätphase von
al-Ġazālīs theologischem Denken formulierte Skepsis gegenüber der Philosophie und der damit
verbundenen natürlichen Ethik. Diese Auseinandersetzung zwischen rationalem Wissen und
Glaubenserkenntnis war zuvor von zahlreichen islamischen Philosophen geprägt worden. So
zog z.B. al-Kindī (gest. 259/873) die Offenbarung der Philosophie als Wissensquelle vor,
Das ethische Urteilen ist somit als Produkt methodisch geordneten Nachdenkens
über die Frage nach dem wirklich Guten anzusehen, bei dem der durch das Zusam-
menwirken von Glaube und Vernunft hervorgerufene Prozess der Selbstauslegung
als Grundbedingung ethischen Werturteils in Gang gesetzt wird. Die zentrale Frage-
stellung in al-Ǧābirīs epistemologischem Vorhaben, die für die vorliegende Arbeit
eine wichtige Anregung war, lautet: Wie ist es historisch und theologisch zu erklä-
ren, dass sich ʿilm uṣūl al-fiqh ab einem bestimmten Zeitpunkt als glaubensorien-
tierte Moralvorstellung vom ʿilm al-aḫlāq als aus den Offenbarungsquellen rational
erschlossene Tugendlehre theoretisch wie methodisch abgrenzte, sodass eine un-
überwindbare epistemologische Kluft zwischen den beiden Disziplinen entstand und
sich das Bild der šarīʿa als rigide Normenlehre durch setzte, d.h. die Betonung ihres
deontologischen Charakters gegenüber ihrem teleologischen?
Die vorliegende Studie will diese Frage beantworten, indem sie aus der überwäl-
tigenden Fülle ethischer Ansätze im Islam und vor dem Hintergrund einer interdis-
ziplinären Relektüre von aš-Šāṭibīs maqāṣid-Theorie, basierend auf seinem Monu-
mentalwerk al-Muwāfaqāt, das Konzept einer an der Offenbarungsintention orien-
tierten praktischen Ethik zu entwickeln sucht. In Anlehnung an al-Ǧābirī und ausge-
hend von der spätislamischen Rechtstheorie am Beispiel von aš-Šāṭibīs maqāṣid-
Theorie werden im Rahmen dieser Arbeit Kategorien einer theologischen Ethik aus
der Perspektive der islamischen Normenlehre erarbeitet, was einen Beitrag leisten
soll zu einer erkenntnistheoretischen Annäherung zwischen ʿilm uṣūl al-fiqh und
ʿilm al-aḫlāq. Dadurch soll einem wichtigen Ziel der zeitgenössischen islamischen
Theologie näher gekommen werden, nämlich der Errichtung einer islamisch-theolo-
gischen Ethik als eigenständige Disziplin.
während nach Abū Bakr ar-Rāzī (gest. 313/925) Gott den Menschen mit seinem Verstand
erschaffen habe, mit dem er die Wahrheit erkennen könne. Al-Fārābī sah nach platonischem
Vorbild die Offenbarung und die Philosophie, wie die Welt der Ideale und die materielle
Wirklichkeit bei Platon, als zwei Ausdrucksformen derselben Wahrheit und gelangte damit zum
ethischen Konzept des Idealstaats (al-madīna al-fāḍila) als Oberbegriff menschlicher
Gemeinwohlideale. Durch Ibn Bāǧǧa (lat. Avempace, gest. 532/1138) kam al-Fārābīs
Auseinandersetzung mit Platon und Aristoteles erstmals nach Andalusien, womit die Frage der
Transzendenz neu aufgeworfen wurde. Neue Maßstäbe zur Begründung ethischer
Urteilsfindung setzte Ibn Ṭufayl (gest. 581/1185) durch sein Werk Ḥayy ibn Yaqẓān, in dem er
die Geschichte von einem Kind erzählt, das auf einer verlassenen Insel aufwächst und durch
eigene geistige Anstrengungen die Philosophie als vernunftgemäße Gottesschau entdeckt, um
danach selbstständig das von Gott gewollte moralische Verhalten zu finden. (Vgl. Ṭaha ʿAbd
ar-Raḥmān: Suʾāl al-aḫlāq, 5. Aufl., Casablanca 2013, S. 29-55.)
23 Laut ʿAbdallāh al-ʿArwī begann diese Denkströmung Anfang des 20. Jh. mit Muḥammad
ʿAbduh in Ägypten. Dieser Tendenz werden weitere islamische Denker zugeordnet wie: Majid
Fakhr: Ethical Theories in Islam, Leiden u.a. 1991; Fazlur Rahman: „Some Key Ethical
Concepts of the Qurʾan“, in: Journal of Religious Ethics 11 (1989), S. 170-185; ʿAbdallāh al-
ʿArwī: Mafhūm al-ʿaql, Beirut 1996, S. 23-63; Khaled Abou El Fadl: Reasoning with God.
Rationality and Thought in Islam, Oxford 2002, S. 173.)
24 Diese Tendenz lässt sich selbst in verschiedene Strömungen teilen. Beispielhaft sind hier
folgende Autoren: Muḥammad ʿAmmāra: al-Islām wa-ḥuqūq al-insān. Ḍarūrāt lā ḥuqūq, Kairo
1989; Rahman: „Some Key Ethical Concepts“.
25 Vgl. Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmān: Taǧdīd al-manhaǧ fī taqwīm at-turāṯ, Casablanca 2012, S. 93, 110.
26 Ebd., S. 386.
27 Ebd., S. 270.
Ethik begründet liegt und inwiefern die klassische Rechtstheorie als eine Ablei-
tungsquelle moderner ethischer Reflexion fungieren kann. Letztere Frage dient der
vorliegenden Arbeit als Hintergrund und zählt zu den Gründen, wieso der maqāṣid-
Theorie von aš-Šāṭibī als eine weitgefasste Rezeption der traditionellen Rechtstheo-
rie gegenüber anderen theologisch-ethischen Ansätzen der Vorzug gegeben wird, da
sie sich eines weiteren Glaubens- bzw. Vernunftverständnisses bedient.
1.1.3. Die vorzügliche Ethik und die Frage der Rezeption des griechischen
Erbes
Eine Ethikforschung, wie man sie aus den modernen lateinischen oder angelsächsi-
schen Quellen kennt, ist im islamisch-theologischen Erbe nach al-Ǧābirī nur ansatz-
weise vertreten. Ausgenommen davon seien Schriften von Miskawayh, Ibn Abī
Uṣaybiʿa (gest. 668/1270), Ibn Bāǧǧa, ar-Rāġib al-Iṣfahānī (gest. nach 409/1018),
al-Māwardī (gest. 450/1058), al-Ġazālī und wenigen anderen.
Die islamische Rezeption der griechischen Ethik, innerislamisch zunächst als die
Übernahme eines fremden Erbes betrachtet, war laut al-Ǧābirī von Anfang an davon
getrübt, dass der traditionellen islamischen Theologie eine eigene Moraltheorie
fehlte, was für kontroverse Diskussionen sorgte. 31
Die islamische Relektüre griechischer Ethik als „Ethik der Glückseligkeit“,32 die
hauptsächlich in der Unterdisziplin der Tugendlehre stattfand, war stets beherrscht
von einer universellen Wertediskussion zwischen dem persischen Erbe, stellvertre-
tend für die ethische Gehorsamkeit, dem arabischen Erbe, stellvertretend für die
ethischen Tugenden, und dem mystischen Erbe, stellvertretend für die ethische
Vergänglichkeit, das nach al-Ǧābirī die Ausarbeitung einer eigenständigen Disziplin
der Ethik maßgeblich verhinderte. Was das islamische Erbe angeht, das dem Koran
entstammt, so habe es bis auf einige Ausnahmen kaum Einfluss auf die Bildung
einer arabisch-islamischen Ethiktheorie in der klassischen Epoche gehabt.
Al-Ǧābirī zufolge spiegelte sich der geringe Einfluss des islamischen Erbes bei
der Entwicklung einer eigenständigen Ethikdisziplin in der Methode praxisorien-
tierter fiqh-Gelehrter wieder, die jenen Teilen der šarīʿa, die sich mit ethischem
Verhalten befassen, nur eine oberflächliche Rolle zuwiesen, sodass sie keinen Ein-
gang in die Normenlehre fanden. Gekennzeichnet durch ihren spärlichen Inhalt
beschränkten sich die ethischen Bereiche in der früheren fiqh-Wissenschaft lediglich
auf psychosoziale Aspekte und wurden in den dazugehörigen Unterdisziplinen kaum
systematisiert. Das Bedürfnis der Islamisierung griechischer Ethik sei grundsätzlich
auf die Erfordernisse des Zusammenlebens verschiedener Kulturen in der islami-
schen Gesellschaft zurückzuführen, welche den Prozess der Bildung einer Wertege-
meinschaft vorantrieben und die Entwicklung einer islamischen Ethik somit not-
wendig machten.
Die Auseinandersetzung mit der griechischen Ethik, die ihren Höhepunkt mit der
Übersetzung der monumentalen Nikomachischen Ethik von Aristoteles erreichte,
verdankte al-Ǧābirī die Ausarbeitung ethischer Begriffe, wie etwa des Fachterminus
„ethisches Gewissen“ (al-qalb), dessen Wurzeln man bis zum 3./9. Jahrhundert
verfolgen kann. Hierzu ist der Theologe und Mystiker al-Ḥāriṯ al-Muḥāsibī (gest.
243/857) zu erwähnen, der von einem „ethischen Gefühl“ und vom „Herz“ im Sinne
von Gewissen sprach.33 Das gleiche gilt für die in der islamischen Moralphilosophie
des 5./11. Jahrhunderts weitverbreitete sogenannte „Theorie der Mitte“, die besagt,
dass die Tugend die Mitte zwischen den beiden Übeln sei. Unter Rückgriff auf
Aristoteles’ mesotes-Lehre argumentierte al-Ġazālī in seinem Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn:
„Das Gelobte ist die Mitte und sie ist die Tugend, während die beiden Ränder
verdammte Schlechtigkeiten sind [...]. Die Mitte wird mit dem Namen der
Weisheit ausgezeichnet, die Grundlagen der Ethik und ihre Wurzeln lassen
sich in vier Eigenschaften unterteilen: Weisheit, Mut, Rechtschaffenheit und
Gerechtigkeit.“34
Der aus der Spannung zwischen den verschiedenen kulturbedingten Wertesystemen
der Muslime entsprungene Impuls zur praktischen Vernunft führte die muslimischen
Ethiker zum Rückgriff auf die griechische Tradition und insbesondere auf das Erbe
Galens, dessen Definition der Ethik fast allen bekannten islamischen Ethik-Werken
als Grundlage diente.35
Für die meisten muslimischen Ethiker ist es zwar unumstritten, dass eine islami-
sche Relektüre der griechischen Ethik stattgefunden hat, jedoch sorgte die Wieder-
gabe hellenistischer Begriffe in islamischen Kategorien immer wieder für heftige
Kontroversen, wie etwa die Zuordnung der griechischen Ethik zur islamischen Tu-
gendlehre. Diese Zuordnung bedeutete einen Widerspruch in der Reihenfolge der
Prioritäten des Allgemeinen und des Spezifischen insofern, als sich die islamische
Tugendlehre ausschließlich mit jenen Regeln moralischen Verhaltens befasste, die
im Gegensatz zu den notwendigen fiqh-Normen eher im Bereich des Fakultativen
angesiedelt waren. So wurde die islamische Tugendlehre zeitweise von der Idee
beherrscht, ethisches Handeln lediglich als Bewahren der vollkommenen bzw. nob-
33 Vgl. auch Abū ʿAbdallāh al-Ḥāriṯ ibn Asad al-Muḥāsibī: al-ʿAql wa fahm al-Qurʾān, Beirut
1971, S. 272f. (Vgl. ebenfalls die dt. Übersetzung und Analyse von Berenike Metzler: Den
Koran verstehen. Das Kitāb Fahm al-Qurʾān des Ḥāriṯ b. Asad al-Muḥāsibī, Wiesbaden 2016,
S. 34.)
34 Abū Ḥāmid al-Ġazālī: Iḥyāʾ ʿulūm ad-dīn, hg. von Hans Bauer, 40 Bde., Halle 1961, Bd. 3, S.
54. Einen ähnlichen Standpunkt vertrat laut al-Ǧābirī auch ar-Rāġib al-Iṣfahānī bereits vor al-
Ġazālī in seinem Traktat aḏ-Ḏarīʿa ilā makārim aš-šarīʿa. (Vgl. al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-
ʿarabī, S. 10.)
35 Al-Ǧābirī hervor, dass sich einige berühmte muslimische Ethiker, wie etwa al-Iṣfahānī,
Miskawayh, und al-Ġazālī, ausdrücklich auf die Definition Galens stützen, der die Ethik als
einen Zustand der Seele bezeichnet, „die den Menschen dazu aufruft, Taten zu verrichten, ohne
dabei zu überlegen und ohne die Wahl zu haben“. (Vgl. al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-ʿarabī,
S. 11, 322f.)
len Handlungen (faḍāʾil, Sg.: faḍīla) anzusehen. Die eigentliche Bedeutung des
Begriffs faḍīla, der sich in der Tradition im Sinne von „nobles bzw. vorzügliches
Verhalten“ etablierte, offenbart ein kaum überwindbares theoretisches Paradoxon
bei der Definition der Ethik, wenn man an der griechischen Auffassung des Begriffs
festhält, nämlich im Sinne der Ausrichtung auf das gute Leben. Im Wort faḍīla
schwingt der ursprüngliche semantische Gehalt der Wortwurzel f-ḍ-l „Überschuss,
Überfluss“ mit, was mitunter darauf hindeutet, dass es sich dabei um „überschüssi-
ges“ bzw. „überflüssiges“ ethisches Verhalten handelt. Hierzu vermerkt ʿAbd ar-
Raḥmān zu Recht:
„Die Tugend (al-faḍīla) kommt sprachlich von ‚Überschuss‘, und der Über-
schuss ist mehr als das, was man benötigt, bzw. das, was nach Befriedigung
des Bedürfnisses übrig geblieben ist.“36
Dabei muss man entgegenhalten, dass Ethik für das menschliche Leben als unver-
zichtbar gilt.
Hier kommt ein weiterer zentraler Denkinhalt islamischer Moralvorstellung zum
Ausdruck, der die Fragestellung dieser Arbeit wesentlich mitbeeinflusst hat. Die von
den fuqahāʾ (Juristen) häufig angewandte Methode moralischer Urteilsfindung, die
eine Einschränkung von ʿilm al-aḫlāq in den vorzüglichen Taten des Menschen
vertrat, war am Ausschluss der Rechtstheorie von dem Ethikdiskurs maßgeblich
beteiligt. Nichts in der Etymologie oder in der Geschichte erfordert jedoch die von
den fuqahāʾ vorgenommene Unterscheidung zwischen ʿilm uṣūl al-fiqh und ʿilm al-
aḫlāq. Die Leitfragen theologischer Ethik waren stets zentrale Bestandteile der
Rechtstheorie und der Rationaltheologie. Auch verkörperte die maqāṣid-Theorie den
Höhepunkt des Zusammenwirkens von Rechtstheorie und Moralphilosophie, wobei
die Prinzipien der Ethik zum Maßstab für den Schlussstein ethischer Ausrichtung in
der fiqh-Wissenschaft, dem „Gemeinwohl“, erhoben wurden. Bei dieser Hypothese
stützt sich ʿAbd ar-Raḥmān auf den prophetischen Hadith: „Ich wurde entsandt, um
die Tugenden zu vervollkommnen“,37 um klarzustellen, dass die Entsendung des
Propheten (sas) nicht nur zur Vervollständigung, die nicht zwingend erforderlich
erscheint, sondern vielmehr für die notwendige Angelegenheit der Errichtung des
ethischen Selbst erfolgte, was zu den notwendigen Zielen der šarīʿa gehört.
Die bisher genannten Argumente für die Unterscheidung von Rechtstheorie und
Ethik sind für die aktuelle Fragestellung durchaus von Bedeutung: die Mehrdeutig-
keit des Begriffs aḫlāq, die methodische Unabgeschlossenheit der islamischen
Ethiktheorie, die Vermischung von arabischen und griechischen Traditionen sowie
36 ʿAbd ar-Raḥmān: Suʾāl al-aḫlāq, S. 53. Diese Bedeutung findet man in der arabischen
Grammatik wieder, in der das Wort fuḍla als freie bzw. verzichtbare Verb-Ergänzung im
Gegensatz zu ʿumda als enge bzw. unverzichtbare Verb-Ergänzung verstanden wird. (Vgl.
Mohammed Nekroumi: Interrogation, Polarité et Argumentation. Vers une Théorie Structurale
et Enonciative de la modalité en arabe classique, Hamburg 2003, S. 85-88.)
37 Muḥammad ibn Ismāʿīl al-Buḫārī: al-Adab al-mufrad, hg. von Muḥmmad ʿAbd al-Qādir ʿAṭā,
Beirut 1990, S. 90.
der Einschluss ethischer Maximen in eine Dialektik von Teleologie und Deontolo-
gie. Diese Argumente scheinen jedoch nicht genug, um das Vorhaben einer Annähe-
rung zwischen Ethik und Rechtstheorie ins Abseits zu stellen. Die Gegenargumente
treffen lediglich auf eine eingeschränkte Auffassung von Rechtstheorie zu – eben
auf jene, die die Aufgabe von ʿilm uṣūl al-fiqh auf die Ableitung der Pflichtnormen
reduziert.
38 Ähnlich unterschied Ibn al-Ḥāǧib (gest. 646/1248-9) in seinem einzigen Werk zur
Rechtstheorie zwischen dem ʿilm uṣūl al-fiqh und dem ʿilm al-ǧadal. Er nutzte denselben
dialektischen Hintergrund, um die Prinzipien des sogenannten tarǧīḥ (Abwägung) bei der
Klassifizierung der Intentionsarten festzulegen. Schon in dieser frühen Phase wurde der
Koraninterpretation ein offizieller intentionalistisch-methodischer Rahmen gegeben.
39 Vgl. ʿAbd al-Malik ibn ʿAbdallāh al-Ǧuwaynī: al-Burhān fī uṣūl al-fiqh, hg. von ʿAbd al-
ʿAẓīm ad-Dīb, 2 Bde., 2. Aufl., Kairo 1980, Bd. 2, S. 923-964.
40 Eine der wichtigsten Phasen in der Entstehung der Intentionstheorie stellte laut Aḥmad ad-Dīb
der Ansatz al-Ǧuwaynīs dar. Seit der postklassischen Ära war sein Hauptwerk al-Burhān für
die Rechtsgelehrten die Hauptquelle der Rechtswissenschaft, wie es zuvor nur das ar-Risāla
von aš-Šāfiʿī (gest. 204/820) in seiner Funktion als Referenzbuch für die Nachkommen
gewesen war. Schon al-Ǧuwaynīs Vater hatte einen Kommentar zu ar-Risāla verfasst, der laut
al-Ġazālī eine Wende mit Blick auf den Einflussbereich dieses Werkes auf die weitere
Entwicklung der Rechtstheorie darstellt. Dass das Werk al-Burhān einen so großen Einfluss auf
die spätere Wissenschaft von uṣūl al-fiqh gewann, ist vor allem al-Ǧuwaynīs Schüler al-Ġazālī
zu verdanken. Auch der Begriff maqāṣid kann auf al-Ġazālī und al-Ǧuwaynī zurückgeführt
werden. Al-Ǧuwaynī war einer der ersten, der diesen Begriff und einige seiner Synonyme wie
aġrāḍ (Ziele) in seinen Analysen bewusst und sinngemäß einsetzte. Die Ableitung von Ver-
und Geboten aus dem Koran ist nach al-Ǧuwaynī ohne die Berücksichtigung von maqāṣid
kaum vorstellbar. (Vgl. al-Ǧuwaynī: al-Burhān, Bd. 2, S. 294f.)
41 Schon Ende des 3./9. Jh. untersuchte al-Ḥakīm at-Tirmiḏī (gest. 318/936) die Gründe und Ziele
der Vorschriften der šarīʿa und gelangte so zum Begriff maqāṣid, der in zwei Werken von ihm
erwähnt wird: im übertragenen Sinne in al-Ḥaǧǧ wa-asrāruhu (Die Pilgerfahrt und ihre
Geheimnisse) und im eigentlichen Sinne in aṣ-Ṣalāt wa-maqāṣiduhā (Das Gebet und seine
Zwecke). At-Tirmiḏī geht in seiner Argumentation jedoch weniger hermeneutisch als mystisch
vor, indem er sich bei der Definition ethischer Maximen primär auf seine Intuition beruft. So
fasst er z.B. die rationalen Ziele, die hinter dem Ritualgebet stehen sollen, als
Erscheinungsbilder individueller Gotteserfahrung auf. (Vgl. Abū ʿAbdallāh Muḥammad ibn
ʿAlī al-Ḥakīm at-Tirmiḏī: as-Ṣalāt wa-maqāṣiduhā, hg. von Ḥusnī Naṣr Zaydān, Kairo 1965,
S. 12.)
42 Es scheint, als sei al-Ǧuwaynī tatsächlich der Urheber der fünfteiligen Kategorisierung der
maqāṣid und der ʿilal šarīʿa. (Vgl. ar-Raysūnī: Naẓariyyat al-maqāṣid ʿinda l-imām aš-Šāṭibī,
S. 49.) Auf diese Kategorisierung wird später noch im Detail eingegangen.
5./11. Jahrhunderts durch den Einfluss von kalām-Wissenschaft auf fiqh zum Angel-
punkt von uṣūl al-fiqh.
Im Zuge der Diskussion um die Bedeutung rationaler Werturteile (gut und böse)
im Prozess der Normableitung aus dem Koran griffen al-Ġazālī und aš-Šīrāzī auf die
rationaltheologischen Abhandlungen des berühmten Universalgelehrten al-Bāqillānī
(gest. 403/1013) zurück, sodass ab dem frühen 5./11. Jahrhundert Elemente der
philosophischen Ethik in die theologisch-hermeneutische Argumentation über Moral
und Ethik miteinflossen.43
Obwohl überzeugter Ašʿarit, war al-Bāqillānī ein Anhänger des raʾy-Ansatzes, in
dem die Vernunft Vorrang vor der Offenbarung hat. 44 Seine Abhandlungen haben
dadurch einen tiefen hermeneutischen und textanalytischen Charakter, in dem weder
Konzepte der theologischen Ethik, die Intentionstheorie eingeschlossen, noch
Grundsätze der praktischen Moral zu finden sind.45 Seine sprachwissenschaftliche
Kompetenz und seine tiefgründige Rhetorik verleihen seinen Analysen zum Koran
einen literarischen Aspekt, dessen Einfluss weit über das 5./11. Jahrhundert hinaus-
reichte.
Die Zurückhaltung der Rationaltheologen, Ideen der praktischen Moral anzu-
sprechen, geht darauf zurück, dass das Verhältnis zwischen Rechtstheorie und
Rationaltheologie als interdisziplinär aufgefasst wurde. Der Weg, den die Rechts-
gelehrten einschlugen (ṭarīqat al-fuqahāʾ), war von einer spekulativen Auffassung
der Vernunft geprägt, während die Vernunft in der Herangehensweise der Rational-
theologen (ṭarīqat al-mutakallimīn) lediglich eine methodische Reflexionsebene
war.46
43 Al-Bāqillānīs Werk at-Taqrīb wa-l-iršād fī tartīb ṭuruq al-iǧtihād gilt bis heute als
Referenzquelle zum Verhältnis von Rationaltheologie und Rechtstheorie. (Vgl. Abū Bakr
Muḥammad ibn aṭ-Ṭayyib al-Bāqillānī: at-Taqrīb wa-l-iršād aṣ-ṣaġīr, hg. von ʿAbd al-Ḥamīd
ibn ʿAlī Abū Zunayd, 3 Bde., Beirut 1993-1998.)
44 Für eine allgemeine Betrachtung seiner Methodik siehe Ǧalāl ad-Dīn as-Suyūṭī (gest.
911/1505): al-Itqān fī ʿulūm al-qurʾān, Beirut (Nachdruck), o.J. (im Anhang Iʿǧāz al-Qurʾān
von al-Bāqillānī).
45 Dennoch wurde ihm, genau wie al-Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār (gest. 415/1024), später vorgeworfen,
übertrieben philosophisch-ethische und sprach-logische Elemente in ihre rechtstheoretischen
Abhandlungen integriert zu haben, obwohl al-Bāqillānīs Beitrag zur Etablierung der Intentions-
theorie als wesentlicher Bestandteil der Rechtstheorie weder von einem uṣūl-Wissenschaftler
noch von einem faqīh bestritten werden kann. (Vgl. Muṣṭafā ʿAbd ar-Rāziq: Tamhīd li-tārīḫ al-
falsafa al-islāmiyya, Kairo 1966, S. 249.)
46 Als Rationaltheologen wurden bei Ibn Ḫaldūn (gest. 808/1406) vor allem die Ašʿariten al-
Ǧuwaynī und Abū Ḥāmid al-Ġazālī sowie die Muʿtaziliten ʿAbd al-Ǧabbār und Abū l-Ḥusayn
al-Baṣrī (gest. 436/1044) als Anhänger der taʿlīl-Theorie, genannt. Sie unterschieden in ihren
Werken zwischen der Rechtstheorie (ʿilm uṣūl al-fiqh) und dem positiven Recht (fiqh). Hierbei
wird deutlich, dass es keine kategorische Trennung zwischen den Schulen der ahl ar-raʾy und
der ahl al-hadith gab, sondern in beiden Schulen iǧtihād praktiziert wurde. Ibn Ḫaldūn sieht
jedoch die Vernunft lediglich als Instrument im Verständnisprozess der Überlieferung und
kritisiert somit offensichtlich den apriorischen Vernunftbegriff der Muʿtazila (Vgl. al-
Muqaddima, hg. von Alī ʿAbd al-Wāḥid, Kairo 1962, Bd. 1, S. 350ff, und Bd. 3, S. 992-1110
Während die Verbindung zwischen ʿilm uṣūl al-fiqh und fiqh nie bestritten
wurde, teilte sich kurz nach al-Bāqillānī ʿilm uṣūl al-fiqh in zwei Strömungen: Auf
der einen Seite gab es Rechtsgelehrte, die sich den Inhalten der Rationaltheologie
und der philosophischen Ethik bedienten, um theoretische Grundsätze ethischer
Urteilsfindung unter Rückgriff auf Vernunft und Glaube zu definieren, und auf der
anderen Seite entwickelte sich eine praktisch orientierte Rechtsmethodik, deren
Anhänger von den Grundlagen der Dogmatik ausgingen, um zu einer kontextualen
Normableitung zu gelangen.
Diese letztgenannten fuqahāʾ hielten den Bezug zwischen der Rechtstheorie und
dem positiven Recht aufrecht und konnten so jedem theoretischen Prinzip eine rein
rechtliche Ausarbeitung zuordnen. Die Überzeugungskraft dieser Wissenschafts-
definition von uṣūl al-fiqh im 5./11. Jahrhundert wird nachvollziehbar, wenn man
beispielsweise das Wek Kitāb maʿrifat al-ḥuǧaǧ aš-šarʿiyya des Ḥanafiten Abū l-
Yusr al-Bazdawī (gest. 493/1100) mit dem Werk al-Mustaṣfā von al-Ġazālī
vergleicht. Es ist anzunehmen, dass die Gründer des „Weges der Rationaltheologen“
die wichtige Rolle von ʿilm uṣūl al-fiqh im Bereich der Koranwissenschaften er-
kannten und erfolgreich versuchten, die Perspektiven dieser Disziplin zu erweitern.
Dabei beschränkten sie sich nicht mehr nur auf die Rechts- und Moralnormen (al-
aḥkām aš-šarʿiyya), wenn sie über die Theorie der „Rechtsfindungsgrundsätze“
reflektierten.
Hierbei ging es nicht nur um inhaltliche und methodische, sondern auch um
politische Beweggründe, da durch die Etablierung des „Weges der Rational-
theologen“ die politisch sehr einflussreichen Juristen geschwächt werden sollten.
Alles in ʿilm uṣūl al-fiqh, und so auch die Lehren an sich, waren Mittel, um die
Herrschaft der Juristen über die Gemeinschaft zu sichern und zu stärken. Wer nicht
zu den Juristen (fuqahāʾ muǧtahidūn) gehörte, wurde aus der Gruppe ausgeschlos-
sen, deren einheitlich vertretene Meinung in einer Frage aufgrund der Quelle des
iǧmāʿ für alle nachfolgenden Generationen verbindlich ist.
Die Rationaltheologen hofften, dass ihnen durch ihre Nutzung von ʿilm uṣūl al-
fiqh ebenfalls die machtvolle Bezeichnung als muǧtahidūn zukommen würde, um in
die Gruppe der ahl al-ḥall wa-l-ʿaqd (die Gruppe derer, die die Macht besaßen, eine
Bestätigung oder eine Anfechtung eines Gesetzentwurfs institutionell durchzusetzen)
aufgenommen zu werden.47 Sie konnten dieses Ziel erreichen, indem sie die
praktische fiqh-Ausübung durch einen muǧtahid als absurd bezeichneten. Ein
muǧtahid ist nach ihrer Auffassung ein Gelehrter, der dadurch besonders qualifiziert
sei, dass er die Methoden der Wissenschaft der uṣūl al-fiqh anwende, um
sowie Bd. 3, S. 1035ff.). Zum rationaltheologischen Begründungsansatz siehe auch Ibn ʿᾹšūr:
at-Taḥrīr wa t-tanwīr, Tunis, 1984, Bd. 1, S. 379-381, sowie Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī:
Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, Casablanca/Beirut 1993, S. 138ff.
47 Vgl. Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, S. 134 sowie Bernhard G. Weiss:
„Interpretation in Islamic Law: The Theory of Ijtihād“, in: The American Journal of
Comparative Law 26 (1978), S. 199-212.
48 Vgl. Abū l-Ḥaǧǧāǧ Yūsuf ibn Muḥammad al-Miklātī (gest. 626/1229): Lubāb al-ʿuqūl fī r-radd
ʿalā l-falāsifa fī ʿilm al-uṣūl, hg. von Ahmed Alami-Hamedane, Philosophische Fakultät Fes
2012, S. 409.
49 Vgl. al-Ǧuwaynī: al-Burhān, Bd. 1, S. 295 (für das arab. Original siehe unten, S. 217); zum
Werk al-Ǧuwaynīs vgl. auch Tilman Nagel: Die Festung des Glaubens. Triumph und Scheitern
des islamischen Rationalismus im 11. Jahrhundert, München 1988.
50 Diese Analyse entstammt dem Kapitel al-Qiyās (Die Analogie). Die Unterscheidung der
verschiedenen maqāṣid und ʿilal zielte darauf ab, die Durchführbarkeit der Analogie bei der
Gesetzgebung zu überprüfen. (Vgl. al-Ǧuwaynī: al-Burhān, Bd. 2, S. 923-964.)
51 Die folgende Aufstellung basiert auf Mohammed Nekroumi: „Koraninterpretation im Kontext
intentionalistischer Rechtstheorien. Zu argumentativen und kommunikationstheoretischen
Aspekten göttlicher Offenbarung in Šāṭibīs (gest. 780/1388) maqāṣid-Theorie“, in: Mohammed
Nekroumi/Jan Meise (Hg.): Modern Controversies in Qur’anic Studies, Berlin 2009, S. 153-
196.
57 Al-Ġazālī legte besonderen Wert auf die feinen Unterschiede zwischen diesen Kategorien,
wobei er stets darauf hinwies, dass die Formulierung und Klassifizierung von Moral- und
Rechtsnormen (al-aḥkām aš-šarʿiyya) nach Priorität dem iǧtihād (selbständige Urteilsfindung)
des Gelehrten überlassen ist. Die Besonderheit seines Ansatzes liegt jedoch darin, dass er die
Intentionen als Bestandteil der dem Text gehörenden Situationsfaktoren zurechnet, was die
Voraussetzungen für die Entstehung einer neuen Auffassung der Rechtsableitung
hervorbrachte. (Vgl. Abū Ḥāmid al-Ġazālī: al-Mustaṣfā min ʿilm al-uṣūl, 2 Bde., Damaskus
o.J., Bd. 1, S. 286-293, 325.)
58 Fischer: Theologische Ethik, S. 78.
59 Vgl. al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-ʿarabī, S. 8; Fischer: Theologische Ethik, S. 78.
Dass die šarīʿa ohne ethische Implikationen kaum vorstellbar wäre, legt bereits ihre
von den fiqh-Gelehrten festgelegte Zielsetzung nahe, die zentralen Bereiche des
Lebens und Daseins im Sinne Gottes zu regeln. 61 Aš-Šāṭibī verdeutlicht den
Anspruch auf umfassende Geltung, den die göttliche Weltordnung im Islam mithin
erhebt, wie folgt:
„Das Festlegen von Gesetzmäßigkeiten dient indes dem Wohlergehen der
Menschheit, sowohl für die Gegenwart als auch für die Zukunft“.62 „Und ich
meine mit ‚Wohlergehen‘ [alles] das, was sich auf die ‚Praxis‘ des
menschlichen Lebens und die Vollkommenheit seines Daseins bezieht, sowie
dass er ohne Ausnahme zu dem befähigt wird, was ihm beim Nachgehen
seiner geistigen und körperlichen Bedürfnisse hilft, damit er ein erfülltes
Leben führt.“63
Aš-Šāṭibī erinnert durch seine Theorie der Zielsetzungen theologischer Ethik daran,
dass die Offenbarung zum Leben gehört, bevor sie sich ins Exil der Schrift begibt.
Šarʿ (die moralische Instanz) bedeutet den Eintritt Gottes durch Gesetze und
Verordnungen in die Welt, mit dem Ziel, einen Weg (šarīʿa)64 zu Ihm aufzuzeigen.
Der Wegweiser im Bereich zwischen dem Irdischen und dem Göttlichen ist das
Streben nach richtigem Verstehen (fiqh).65 Der Prozess des Verstehens fügt der
bloßen Handlungsvorschrift des Verbots bzw. Gebots die fehlende moralische
Beurteilung hinzu. Eine korrekte moralische Beurteilung setzt jedoch eine genaue
Kenntnis von Gottes Willen im Bereich des menschlichen Lebens voraus, wohl
wissend, dass die aus dem fiqh-Prozess entstandene Erkenntnis bei der Urteilsfin-
dung lediglich relative Gewissheit erlangen kann.66
Eine selbstständige Auslegung der Quellen setzt daher die Notwendigkeit eines
vermuteten Wissens67 voraus. Die Gewissheit liegt eher im moralischen Handeln als
Gemeinschaften. [Dies alles regelt die šarīʿa] in einer Art und Weise, die die Lösung der
Probleme, die Abwehr von Verwirrung und die Behebung von Schwierigkeiten und
Beständigkeiten auf dem richtigen Weg und im höchsten Ideal garantiert.“ (Nagel: Das
islamische Recht, S. 3.)
62 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 4.
63 Ebd., Bd. 2, S. 20. Für den arabischen Wortlaut siehe unten, S. 217.
64 Die ursprüngliche Bedeutung des Wortes šarīʿa, nämlich „Weg zur Tränke“, schwingt in dem
Fachterminus aber noch mit, da šarīʿa hier auch als „Weg zum Heil“ verstanden wird.
65 Laut Reinhardt ist mit fiqh im Allgemeinen der Prozess gemeint, der zu „Verständnis und
Erkenntnis“ in einer Entscheidung führt und der sich bei der Urteilsfindung mit der Ableitung
der Rechtsnormen aus den Textquellen befasst und als ʿilm uṣūl al-fiqh, aber auch als
„Rechtstheorie“ oder „Fundamentwissenschaft“ bezeichnet wird. (Vgl. A. Kevin Reinhart:
„Islamic Law as Islamic Ethics”, in: Journal of Religious Ethics 11/2 (1983), S. 186-203.)
66 Eine absolute Sicherheit des in den Dingen Verborgenen ist nach aš-Šāfiʿī einzig und allein das
Vorrecht Gottes (Calder: „Ikhtilāf and Ijmāʿ in Shāfiʿi’s Risāla”, S. 78).
67 Als „Wissen“ werden in der theologischen Tradition Kenntnisse bezeichnet, die „von Gott den
Menschen übermittelt, unumstößlich wahr sind“ (Nagel: Das islamische Recht, S. 13). In
seinem theologischen Traktat al-Wāḍiḥ unterteilt Ibn ʿAqīl (gest. 513/1119) das Wissen in drei
Bereiche: „Ein Bereich, der nur durch die Vernunft erkennbar ist, […] ein Bereich, der nur
durch die Offenbarung erkennbar ist […], und ein Bereich, der gleichermaßen durch
Offenbarung und Vernunft erkennbar ist.“ Abū l-Wafāʾ ibn ʿAqīl: al-Wāḍiḥ fī uṣūl al-fiqh, 5
Bde., Beirut 1999, Bd. 1, S. 64.
im Wissen, das unvollkommen, von Endlichkeit gekennzeichnet und immer nur ein
Versuch ist, das Verborgene eines Handlungsziels zu antizipieren.68 Die gewonnene
Beurteilung (ḥukm) am Ende dieses vom Glauben geleiteten Erkenntnisprozesses
wird untermauert durch den Rückgriff auf die vier auf Offenbarung gegründeten
Fundamente (uṣūl) und ist daher wahrhaftig und moralisch gültig.
Welche Rolle bei der Ableitung von Rechtsnormen die Vernunft spielt, klang bei
der Hierarchie der normativen Quellen sowie bei der Stellung des Menschen in
Bezug auf die Offenbarung schon an. 69 Anders als in der Rationaltheologie, in der es
um die Symmetrie des Verhältnisses zwischen Vernunft und Offenbarung im
Prozess der Erkenntnis ging, beschränkten sich die Rechtstheoretiker auf die
Funktion der Vernunft als Weg zur Gottesintention und als Instanz zur Beurteilung
der irdischen Tugenden.70 Fortan waren viele Rechtsgelehrte der Ansicht, dass die
Qualität moralischen Handelns in seinem Vollzugszusammenhang durch den
„gesunden Menschenverstand“ hinsichtlich weltlichen Werturteils erkennbar sei. 71
68 Die Rechtsableitung aus den Textquellen wird nicht jedem Einzelnen nach Gutdünken erlaubt.
Seine zugrunde liegende Methodik ist durch die Wissenschaft der uṣūl al-fiqh bestimmt, in
deren Werken die vier Hauptsäulen der Rechtstheorie, nämlich die normativen Quellen (al-
adilla aš-šarʿiyya), die Struktur der Rechtsnormen (binyat al-ḥukm aš-šarʿī), die interpretative
Methodik der Ableitung von Gesetzen (manhaǧ al-istiqrāʾ) sowie die selbständige
Urteilsfindung (iǧtihād) erläutert werden, die der faqīh neben den Hilfswissenschaften wie etwa
Sprachwissenschaft, Logik und Argumentation beherrschen soll. (Vgl. Norman Calder/M. B.
Hooker: „Sharīʿa“, in: EI2, URL: http://referenceworks.brillonline.com/entries/encyclopaedia-
of-islam-2/sharia-COM_1040?s.num=185&s.start=180, letzter Zugriff: 16.02.2017.)
69 Vgl. u.a. Birgit Krawietz: Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam,
Berlin 2002, S. 87ff.
70 Der Frage, inwiefern eine Verbindung zwischen Verstand und Offenbarung geschaffen wird,
sodass die göttliche Ordnung nicht einfach Glaubenssache des Einzelnen wird, widmet sich
grundsätzlich die Theologie. (Vgl. u.a. George Makdisi: Religion, Law and Learning in
Classical Islam, Hampshire/Brookfield 1991, S. 62.)
71 Im 3./9. Jh. spalteten sich die islamischen Gelehrten in solche, die davon ausgingen, dass
genügend Wissen zur Beurteilung moralischen Verhaltens vorhanden sei, und jene, die wieder
verstärkt auf die eigentlichen Quellen, also auf die oben genannten Quellen der islamischen
Rechtswissenschaft, zurückgreifen wollten. Zwei wenig strukturierte Bewegungen herrschten
im 3./9. Jh. vor: zum einen „die Leute der Tradition“ (ahl al-ḥadīṯ), denen Mālik b. Anas
vorstand und die ihren Sitz in Medina hatten, zum anderen die „Anhänger der Ratio“ (aṣḥāb ar-
raʾy), angeführt von Abū Ḥanīfa (gest. 150/767) und seinen zwei großen Begleitern Abū Yūsuf
(gest. 182/798) und aš-Šaybānī (gest. 189/805), deren Schule in Kufa dominierte. Diese Teilung
bleibt allerdings schematisch, da die Entstehung und Entwicklung des maqāṣid-Ansatzes eher
bei denen zu beobachten war, die zu den aṣḥāb as-sunna gerechnet wurden. Aš-Šāfiʿī änderte
die Differenzierung der Schulen nach „lokalen Merkmalen“ in eine Unterscheidung nach
„personellen Merkmalen, wonach die ersten die „Anhänger von Mālik“ und die zweiten die
„Anhänger von Abū Ḥanīfa“ genannt wurden. Aš-Šāfiʿīs Einrichtung der Wissenschaft der uṣūl
al-fiqh hatte eher mit der Art und Weise zu tun, wie in diesem Zusammenhang die
Rechtsvorstellungen rivalisierten und sich aus dieser konfliktreichen Situation herauskris-
tallisierten. (Vgl. u.a. Krawietz: Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam,
S. 64-69.)
72 Den Überlegungen dieses Abschnitts dient folgender Aufsatz als Grundlage: Nekroumi: „Die
theologisch-ethische Ausrichtung der Scharia zwischen Gottesrecht und Gemeinwohl“. Bei
dem Begriff fiṭra handelt es sich um die gute Veranlagung des Menschen, die auch als Hang
zum Guten gedeutet wird. In diesem Sinne wird Anerschaffenheit definiert.
73 Das klare Bekenntnis der Rechtsgelehrten zum Vorrang der Offenbarung gegenüber der
Vernunft wird oft auf die in der Spätphase der mündlichen Überlieferung herrschende Skepsis
und das Misstrauen gegenüber dem menschlichen Verstand zurückgeführt, die aus der Furcht
des aufgrund schwacher Überlieferungsketten hervorgerufenen spekulativen Denkens
entstanden. (Vgl. al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-ʿarabī, S. 11-13.)
74 Laut ʿAbd ar-Raḥmān lässt nicht der Verstand den Menschen unterscheiden [was
unterscheiden; oder ist die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier gemeint?], sondern die
Ethik. Sie sei dem Menschen angeboren und prägender als der Verstand, den auch Tiere haben.
Sie sei unvergänglich. Der Verstand sei unbeständig, und daher könne man sich nicht auf ihn
stützen. Folglich sei der Verstand nicht unabhängig. ʿAbd ar-Raḥmāns Einwand betrifft die
Gelehrten, die den Verstand als Verantwortungsträger sehen, im Gegensatz zu denen, die die
Handlung verantwortlich machen, weil sie der Theorie der Philosophen zustimmten, die den
Verstand als einziges Unterscheidungsmerkmal zwischen Mensch und Tier ansahen, von dem
der Mensch profitiert. Er sagt: „Warum kann es nicht sein, dass das Vermögen des Verstandes
des Menschen dasselbe Auffassungsvermögen ist, wie die Tiere es auch besitzen, das sie zu
ihrem Futterplatz führt und das ihnen hilft, zwischen Nützlichem und Schädlichem zu
unterscheiden. Weiterhin zeigt es ihnen den kürzesten Weg zu ihrem Schlafplatz, selbst wenn sie
mehrere Versuche benötigen. Es ist wirklich erstaunlich, dass die muslimischen Gelehrten als
Besonderheit des Menschen nur den Verstand hervorheben.“ (Vgl. Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmān:
Suʾāl al-ʿamal, Casablanca 2012, S. 80f.)
Sinnhaftigkeit seines Daseins sehen. Hier wird mit der Vorstellung der Anerschaf-
fenheit als Dreh- und Angelpunkt ethischer Ausrichtung die „Entzweiung“ von
Offenbarung und Vernunft zunächst aufgehoben. Im Gegensatz zur Lesart der
deterministischen Rationaltheologie, die in der Anerschaffenheit einen Gegenpol zur
Vorherbestimmung sieht, weist Ibn ʿĀšūr in Anlehnung an aš-Šāṭibīs maqāṣid-
Begriff auf die Äußerung Gottes hin, die die „anerschaffene Unschuld“ als Gottes
Schöpfungsplan nennt.75
„So richte dein Gesicht aufrichtig zur Religion hin als Anhänger des rechten
Glaubens, – (gemäß) der natürlichen Anlage Allahs, in der Er die Menschen
erschaffen hat. Keine Abänderung gibt es für die Schöpfung Allahs. Das ist
die richtige Religion. Aber die meisten Menschen wissen nicht.“ (Q 30:30)
Aš-Šāṭibīs fiṭra-Begriff entspringt keiner fatalistischen Deutung göttlichen Wirkens
in der Welt, sondern einer dynamischen Idee, der zufolge jede Urteilsfindung das
Produkt eines Abwägungsprozesses ist, bei dem Glaube und Vernunft gleicher-
maßen beteiligt sind. So lässt sich aš-Šāṭibīs Ethik, trotz seines Bekenntnisses zur
Ašʿariyya, nur schwer in eine der bekannten rationaltheologischen Denkströmungen
einordnen.76
Laut den Verfechtern der Willensfreiheit in der islamischen Rationaltheologie,
wie etwa al-Qāḍī ʿAbd al-Ǧabbār, hat der Mensch von seiner Geburt an die
Fähigkeit (ahliyya), Gottvertrauen anzunehmen.77 Diese Fähigkeit besitze er, weil
Gott den Menschen, sofern er bei „gesundem Verstand“ sei, mit einer instinktiven
Vernunft und einem Gewissen geschaffen habe. Wird die menschliche
Empfindlichkeit berührt, wenn es um moralisches Wissen geht, so sei es die Pflicht
des Menschen, nach seinem von Gott gegebenen moralischen Gewissen zu handeln.
Werde einem mündigen Erwachsenen ein Anlass gegeben, moralisch zu handeln,
dann solle er dies tun, und zwar nicht, weil er dazu aufgefordert sei, sondern gemäß
der ethischen Verantwortung, die ihm auferlegt wurde.
Der Philosoph Ibn Sīnā unterscheidet allerdings zwischen instinktiver und
wahrhafter Veranlagung, wobei er nur der letzteren den Begriff fiṭra zuspricht und
sie mit der Vernunft gleichsetzt. Die wahrhafte Veranlagung (fiṭra) manifestiere sich
78 Ibn Sīnā: Kitāb an-Naǧāt, hg. von Majid Fakhry, Beirut 1985, S. 99. Dass fiṭra mit dem
Verstand identifizierbar sei, wurde bereits von einigen Theologen des 3. Jh. betont. In diesem
Zusammenhang hebt al-Ḥāriṯ al-Muḥāsibī (gest. 243/857) das schöpfungstheologische
Verhältnis zwischen fiṭra und ʿaql hervor, indem er erläutert: „So erwählte Er Adam und seine
Nachkommenschaft und nahm von ihnen den Bund (mīṯāq) entgegen, indem Er ihnen einen
zufriedenen Verstand anerschuf“. (Siehe dt. Übersetzung und Analyse von Berenike Metzler:
Den Koran verstehen, S. 25, sowie al-Muḥāsibī: al-ʿAql wa fahm al-Qurʾān, S. 264).
79 Van Ess verweist darauf, dass der Theologe al-Ḥasan al-Baṣrī (gest. 110/728) einer der ersten
Verfechter der Willensfreiheit war, die den fiṭra-Begriff mit dem Urmonotheismus
gleichsetzten, um der prädestinatianischen Auslegung von Q 30:30 Einhalt zu gebieten, da die
Willensfreiheit des Menschen kaum mit einer vorherbestimmten, anerschaffenen „guten“ Natur
vereinbar zu sein scheine. (Vgl. van Ess: Zwischen Hadith und Theologie, S. 106.)
80 Um die Frage zu umgehen, wie der Unglaube vorherbestimmt sein kann, wenn der Mensch von
Natur aus gläubig und gut ist, sahen sich die prädestinatianischen Theologen wie z.B. aš-
Šaybānī (gest. 189/805) und Ibn al-Mubārak (gest. 181/797) dazu gezwungen, die fiṭra auf
einen bestimmten Zeitpunkt (Erlangen der Verstandesreife) oder eine bestimmte Gruppe (die
Zeitgenossen des Propheten) einzuschränken. (Vgl. ebd., S. 107f.)
81 So betont die islamische Exegese z.B., dass die im Koran erzählten Prophetengeschichten nur in
einem bestimmten Sinne retrospektiv zu verstehen sind. Einzig nach der Sicht des
identifizierten Erzählers scheinen die überlieferten Begebenheiten sich einstmals abgespielt zu
haben. Im Koran finden sich unter den in der „Quasi-Vergangenheit“ der Erzählstimme
überlieferten Geschichten Entwürfe, Erwartungen und Antizipationen, mit deren Hilfe die
Figuren der Erzählung durch die Wahrnehmung der sogenannten ʿibar (Lebensweisheiten) sich
auf ihre sterbliche Zukunft hin ausrichten. (Vgl. u.a. Muḥammad Aḥmad Ḫalaf Allāh: al-Fann
al-qaṣaṣī fī l-qurʾān al-karīm, Kairo 1999; Alan Jones: „Narrative Technique in the Qurʾān and
in Early Poetry“, in: Journal of Arabic Literature 25/3 (1994), S. 185-191.)
Diese beiden Aspekte lassen sich eindeutig in der von dem frühen Rationaltheo-
logen Ġaylān ad-Dimašqī (gest. 114/732) postulierten Definition von fiṭra erkennen,
in der diese als primäre und angeborene Gotteserkenntnis von der durch die
Offenbarung vermittelten „erschaffenen Unschuld“ unterschieden wird. 82 In Ġaylāns
theologischen Überlegungen nimmt der Verstand einen besonderen Platz bei der
Ergründung anerschaffener Gotteserkenntnis ein – eine Position, die man in der
späteren muʿtazilitischen Theologie wiederfindet.83 In ihrer Gleichsetzung der fiṭra
mit dem Verstand als Mittel zur Erkenntnis der göttlichen Schöpfungsordnung
scheint die intentionale Rechtsauslegung den muʿtazilitischen Ansichten recht nah.
Die spätere Rechtstheorie lehnte die muʿtazilitische Idee einer rationalen Theologie
und einer natürlichen Ethik jedoch vehement ab, da der Verstand in der
Rechtstheorie des fiqh eine ziemlich nuancierte Funktion zugeteilt bekommt, die
sein Hauptbetätigungsfeld in der Vorstellungswelt der Offenbarungsbotschaft
einschränkt.84
Aš-Šāṭibīs Ethikbegriff zufolge gehorcht der Verstand Gott von sich aus, da
dieser den Menschen zu Gott wende und der Mensch nur durch ihn die an ihn
gerichtete Rede Gottes wahrnehmen könne. 85 Die Grenzen menschlicher Vernunft
gegenüber der transzendentalen Offenbarungswelt ergäben sich dem Zwang der
leiblichen und erdhaften Verfasstheit, dem die menschliche Handlungsrealität
unterworfen sei, wie der folgende Hadith darstellt: „Kullukum li-Ādam wa-Ādam
min turāb“ (Ihr Menschen stammt allesamt von Adam ab, und Adam ist aus Erde
entstanden).86
Nach aš-Šāṭibīs ašʿaritischer Sichtweise missachtet der Mensch die Pflichten der
šarīʿa nicht aufgrund seines Vernunftsdenkens, sondern weil er, eigenen Regungen
folgend, Gottes Absicht mit seinem Schöpfungswerk missversteht und den Sinn der
göttlichen Ordnung aus dem Blick verliert. Doch durch die glaubende Erkenntnis,
82 Dies würde bedeuten, dass die von Ibn ʿAsākir (gest. 571/1176) postulierte Zweideutigkeit der
fiṭra (Vgl. ʿAlī ibn al-Ḥasan ibn ʿAsākir: at-Tārīḫ al-kabīr, 5 Bde., Damaskus 1927, Bd. 3, S.
177-179) eine paraphrastische Beziehung zwischen Q 30:30 und dem berühmten Hadith „Jedes
Kind wird im Stand der fiṭra geboren; erst seine Eltern machen es zu einem Juden, Christen
oder Magier“ (Muḥammad ibn Ismāʿīl al-Buḫārī (gest. 256/870): Ṣaḥīḥ al-Buḫārī, 9 Bde.,
Vaduz 2000, Bd. 1, S. 254, Nr. 1374) von vornherein ausschließt. (Vgl. van Ess: Zwischen
Hadith und Theologie, S. 106.)
83 Vgl. ʿAbd al-Ǧabbār: Šarḥ al-uṣūl al-ḫamsa, S. 67ff.; az-Zamaḫšarī: al-Minhāǧ, 1997, S. 17f.
und 27f.
84 Zum Vernunftbegriff vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 55 und S. 61. Hierauf wird im
Folgenden analytischen Teil noch detailliert eingegangen.
85 Das bedeutet mitunter, dass die šarīʿa nicht einfach einen Akt des Bekenntnisses des Gläubigen
verlangt und nur Kraft des Glaubens für ihn gilt. Der Weg zu Gott muss in Folge dessen im
Verstand unmittelbar oder mittelbar verankert sein. (Vgl. u.a. Nagel: Das islamische Recht, S.
13-15.)
86 Vgl. Abū Dāwūd: Sunan Abī Dāwūd, Beirut o.J., Bd. 4, S. 492, Hadith-Nr.: 5118. Die
philosophischen Ursprünge dieser Idee finden sich bereits in Aristoteles’ Definition
menschlicher Handlung als eine dem Zwang unserer Verankerung in der Erde unterworfenen
mimèsis (Nachahmung) (Vgl. Paul Ricoeur: Soi-même comme un autre, Paris 1990, S. 185).
87 Nagel: Das islamische Recht, S. 12. Die Übersetzungs- bzw. Erklärungsansätze zum Begriff
fiṭra in der deutschen Orientalistik sind so vielfältig wie die islamischen Traditionen, auf die sie
sich berufen. Während die einen Begriffe wie „Veranlagung“, „kindliche Unschuld“ und
„anerschaffene Art“ (vgl. van Ess: Zwischen Hadith und Theologie, S. 101-106) verwenden,
ziehen andere eigenständige Termini wie z.B. „Hingeschaffenheit“ vor (vgl. Nagel: Das
islamische Recht, S. 12). Es geht hier jedoch nicht darum, den Begriff fiṭra zu definieren,
sondern um die Relation zwischen Absichtstheorie und fiṭra.
88 In der Tradition zeichnen sich zwei grundlegende Tendenzen ab. Die erste geht davon aus, dass
der Mensch aufgrund einer inneren, in seiner Natur liegenden „Veranlagung“ und Befähigung
moralisch handeln muss, während die zweite meint, dass der Mensch aufgrund eines von außen
gegebenen „Auftrags“ bzw. gemäß der ihm auferlegten „Verpflichtung“ (taklīf) moralisch
handeln muss. (Vgl. u.a. Ibn ʿAsākir: at-Tārīḫ al-kabīr, Bd. 3, S. 176f.)
89 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 4, S. 143ff.
90 Ali Benmakhlouf: Averroès, Paris 2004, S. 208; ders.: L’identité, une fable philosophique, Paris
2011, S. 160.
91 Diese drei Kategorien sind die raison d‘être der Moraltheologie, und deshalb soll deren
Hierarchieordnung im Hinblick auf das Eingreifen auf das praktische Leben unberührt bleiben
(vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 7ff.)
92 Die philosophische Konvention neigt dazu, in Anlehnung an die aristotelische Definition der
sogenannten Eupraxie (gutes Handeln) den Begriff der Ethik für die Ausrichtung auf ein
erfülltes Leben vorzubehalten. Die Eupraxie ist somit „selbst ein Ziel“ (Aristoteles:
Nikomachische Ethik VI, hg. und übers. von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a.M. 1998, Bd. 6,
S. 34-45), wogegen die poièsis und die entsprechende poetische Wissenschaft „ein Ziel
außerhalb ihrer selbst hat“ (vgl. Aristoteles: Aristoteles' Nikomachische Ethik. WBG, 3.
Auflage, 2013, S. 24ff.) Die Abhandlungen von Wolfhart Pannenberg (Grundfragen
systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967) spiegeln auf hervorragende
Weise den Einfluss des aristotelischen Erbes auf die christliche Theologie wider. Das Werk
Ethical Theories in Islam von Majid Fakhry geht hingegen nicht ausführlich auf den Vergleich
zwischen islamischen und griechischen Quellen ein.
93 Der in dieser Arbeit verwendete Begriff des „relationalen“ Status basiert auf der
kausaltheoretischen These der sogenannten „Akzidenzien“. Unter Akzidenz (ʿaraḍ) versteht
man jede veränderliche Eigenschaft eines sonst gleichbleibenden Trägers („Substanz“ oder
„Essenz“, arab.: ǧawhar). In der ašʿaritischen Sichtweise nimmt Gott den jeweils momentanen
Zustand der Welt zum Anlass (occasio), um den nächsten Zustand zu erschaffen. (Vgl.
Dominik Perler/Ulrich Rudolph: Occasionalismus. Theorien der Kausalität im arabisch-
islamischen und im europäischen Denken, Göttingen 2000, S. 116.) Als Ergänzung zu Perler
und Rudolph ist zu sagen, dass die Ašʿariten mit der Idee der Akzidenz ihre Annahme
untermauern wollten, dass Gottes Allmacht nicht in die handlungsinterne Kausalität der
Menschen interveniert, die durch ihre Verstrickung in interaktive Handlungen für das
Hervorrufen von Eigenschaften wie „gute“ oder „böse“ Neigungen verantwortlich sind.
94 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 136.
95 Dabei handelt es sich um eine Eigenschaft, die nach Hegel aus dem „unpolemischen Begriff“
der Religion entspringt. (Vgl. Matthias Häussler: Der Religionsbegriff in Hegels
Phänomenologie des Geistes, München 2008, S. 116f.)
96 Vgl. Ibn Rušd: Tahāfut at-tahāfut, hg. von Maurice Bouyges, Beirut 1930, S. 519; Anke von
Kügelgen: Averroes und die arabische Moderne. Ansätze zu einer Neubegründung des
Rationalismus im Islam, Leiden 1994. Bei aš-Šāṭibī finden sich indirekte Hinweise auf die
Standpunkte der Rechtswissenschaft hinsichtlich der Philosophie (vgl. al-Muwāfaqāt, Bd. 3, S.
281.)
Aristoteles’ Konzept des „Seins“ dem islamischen Denken jede Dimension von
Transzendenz und Gemeinschaft entzogen.97
Jenseits der von der griechischen Philosophie entlehnten Paradoxa von Subjekt
vs. Objekt und real vs. irreal wollte aš-Šāṭibī aus rechtstheoretischer Sicht die
rationaltheologische Grundmaxime seiner Ethik klarstellen, indem er betonte, dass
jede Erkenntnis mit einem Glaubensakt beginne.98 Die Handlung und ihr Gesetz
seien lediglich äußere Manifestationen des Glaubens. Der Koran wirft durch seine
Einheitslehre (tawḥīd) ein philosophisches Existenz-Prinzip auf, das sich mit den im
damaligen Andalusien verbreiteten aristotelischen Erkenntnisgattungen wie der des
„Seins“ und des „Faktums“ nicht umfassen lasse. 99
Aš-Šāṭibīs Rechts- und Ethiktheorie beruft sich unmissverständlich auf eine
Theologie der Tat und nicht des Seins. Dem Schöpfungsakt steht ein Glaubensakt
97 Aristoteles unterscheidet in seiner Kategorienlehre zehn Seinsweisen: die Substanz, die das
Primäre, das Identifikationsgebende und das Aussagende, d.h. das Selbst-sein, ist, und die neun
Akzidenzien, welche die Sekundären sind, die einen Träger (die Substanz) brauchen, nicht
beschreibend und nicht aussagend sind sowie nicht für sich selbst stehen können. In Anlehnung
an die Lehre von Aristoteles postuliert Ibn Rušd, der von aš-Šāṭibī nur an wenigen Stellen im
al-Muwāfaqāt-Werk erwähnt wird, die Substanz als den Grundbaustein des Seins und hält
somit bewusst Abstand zur Transzendenz. Entsprechend der Einteilung der Wissenschaften
gliedert Ibn Rušd auch das Objekt des Erkennens in fünf Teile, das in ebendiese zerfällt: „Das
Objekt, seine Arten, deren Akzidenzien, die Prinzipien der Substanz und die Postulate der
Einzelwissenschaften.“ (Vgl. Max J. H. Horten: Die Metaphysik des Averroës, Frankfurt a.M.
1960, S. 209.) Daraus folgend geht die Definition des Begriffs des „Seienden“ mit Prädikaten
einher, die beinhalten, dass er weder univok noch äquivok, sondern analog zu verstehen ist und
sich mit dem ordo logicus, den geistigen Inhalten und dem ordo ontologicus decken muss.
Somit muss das Seiende, um sich als solches zu definieren, „das Wahre (das Sein im
Verstande) und dasjenige, das außerhalb des Geistes existiert (das logische und ontologische
Sein)“ sein. (Vgl. Horten: Die Metaphysik des Averroës, S. 9; al-Ǧābirī: al-ʿAql al-aḫlāqī al-
ʿarabī, S. 257ff. und S. 315.)
98 Hier sieht man eine gewisse Ähnlichkeit zu Hegels Kritik am dichotomen Denken des
Verstands, woraus sich nach Jean-Claude Wolf einige interessante Perspektiven ergeben:
„nämlich ein Denken, das Glaube und Vernunft, Endliches und Unendliches nicht nur trennt,
sondern auch die Beziehung dieser Pole begrifflich variiert.“ Wolf erläutert diese Idee
folgendermaßen: „Eine Dichotomie oder (Disjunktion) [sind die Klammern auch im Original?
sie erscheinen mir hier sinnlos] ist eine Zweiteilung, in der die unterschiedenen Teile
beziehungslos auseinander fallen. Eine begriffliche Unterscheidung wird zur begrifflichen
Trennung. Was als Beziehung der getrennten Begriffe übrig bleibt, ist das Verhältnis der
abstrakten Negation, der Paradoxa der „Beziehung der völligen Beziehungslosigkeit“. (Vgl.
Jean-Claude Wolf: „dass der Mensch durch Erkennen unsterblich ist – Hegels Deutung der
Erzählung vom Sündenfall“, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 58/2
(2011), S. 453-470.)
99 Ibn Rušd hingegen vermittelt zwischen der Transzendenz und der materiellen Welt, die in
einem Verhältnis der Diskontinuität zueinander stehen, das Bewegung als eine zeitlose
Tätigkeit annimmt, die aber in der materiellen Welt als eine zeitlich erscheinende Form auftritt.
(Vgl. Mohammed Nekroumi: „Die Frage des Seienden im Horizont von Ibn Rušds (Averroes’)
Vernunftbegriff“, in: Milad Karimi/Mouhanad Khorchide (Hg.): Islamische Gelehrte neu
gelesen, Freiburg, 2015, S. 127-148.)
gegenüber, und jedem Wissen geht der Glaube voraus. Zwischen Wissen und Tat
sowie zwischen Glaube und Gesetz kann es keine Dualität geben, da das Wissen
durch die Tat auf den Glauben abzielen soll.100 Aš-Šāṭibīs Alternative zu den
philosophischen Dichotomien bestand nicht etwa darin, die Funktion der Vernunft
bei der Normableitung zu neutralisieren. Vielmehr ging es ihm darum zu zeigen,
dass der Gegenstand rationaler Überlegung nicht das Wesen Gottes ist, sondern die
Erkenntnis der Wahrheit in der göttlichen Offenbarung.
Mit seiner transzendentalen Vorstellung zu Mensch und Gesellschaft, die durch
die Idee der Absicht hervorgerufen wird, kam aš-Šāṭibī gleichwohl der Sicht Ibn
ʿArabīs über die in der wohlverwahrten Tafel (al-lawḥ al-maḥfūẓ) verborgene
„Wahrheit Gottes“101 ganz nah. Er bemängelte in der Mystik jedoch das totale
Ausblenden des sozialen Charakters, der aufgrund der im Seinspantheismus 102
implizierten exzessiven Profundität zur Entfremdung eines Teils der Gemeinschaft
führe und der zwischenmenschlichen Dimension fundamentaler Glaubensinhalte wie
„Fürsorge“ und „Gemeinwohl“ innerhalb des Sozialgefüges kaum Platz lasse.
Die Ausblendung des Gemeinschaftsbegriffs in der Mystik prangert auch al-
Ǧābirī an, und er führt sie auf die Ausschaltung des Verstands in der mystischen
Ethik zurück, die bedingungslos mit dem individuellen Verhalten gleichgesetzt wird.
Aš-Šāṭibī distanzierte sich jedoch nur von jener Tendenz in der Mystik, die das
Erlangen der Erkenntnis ausschließlich von der individuellen Erfahrung abhängig
macht, die durch Begriffe wie Herz, Gewissen, Sehnsucht, Verlangen, Liebe,
Leidenschaft, Anziehung, Vergänglichkeit und Einheit zum Ausdruck gebracht
wird. In seinen Ausführungen zum ʿaql-Begriff im Kapitel adilla aš-šarʿiyya hebt
aš-Šāṭibī aber nicht die Unterscheidung zwischen Begriffen „Herz“ und „Verstand“
als Urteilskraft hervor, wohl wissend, dass der Koran an mehreren Stellen vom Herz
im Sinne eines Erkenntnisweges spricht.103
1.3.1. Das ethische Prinzip der Fürsorge als Ort zur Begründung der Pflicht
In aš-Šāṭibīs Abhandlung zu Gegenstand und Anliegen von maqāṣid lassen sich
zwei moraltheologische Positionen unterscheiden, die seinerzeit um die richtige
Deutung ethischer Intentionalität konkurrierten und die im Zentrum des methodolo-
gischen Aufbaus dieser Arbeit stehen: Der von aš-Šāṭibī vertretenen traditions-
reichen Haltung, welche die Absichtsanalyse mit Kausalerklärung gleichsetzt, wird
die ẓāhiritische Theorie gegenübergestellt, die jegliche Rationalisierung göttlichen
Wirkens auf die Welt ablehnt.
Im Zentrum von aš-Šāṭibīs Argumentation steht die Hypothese von ar-Rāzī, der
zufolge der absichtliche Charakter göttlichen Wirkens auf die Welt mit einem ihm
entsprechenden Typ der Kausalerklärung verknüpft werden soll. Im Verhältnis
zwischen Gott und Mensch wird so dem teleologischen Aspekt gegenüber dem
deontologischen der Vorzug gegeben. Es wird methodisch zu klären sein, wie der
Ašʿarit ar-Rāzī offensichtlich für die Vorstellung der Muʿtazila plädiert, die es
vehement ablehnt, dem göttlichen Handeln Willkür und Verwerfung zuzuschreiben
– eine Frage, der sich aš-Šāṭibī ausführlich widmet.
Eine weitere methodische Hürde, die diese Arbeit zu überwinden versucht,
besteht darin, den Umstand zu hinterfragen, dass sich sowohl die Verfechter als auch
die Gegner der Begründungstheorie auf dieselben normativen Quellen aus dem
Koran berufen, die die Offenbarung als raḥma (Erbarmen Gottes, Q 16:89, 2:29
etc.), yusr (Erleichterung) und tasḫīr (Dienstbarmachung [der Schöpfung]) beschrei-
ben, um das sog. taʿlīl-Prinzip ausdrücklich zu befürworten oder abzulehnen.
Aus einer modernen theologischen Perspektive betrachtet stellt die von ar-Rāzī
und aš-Šāṭibī auf der Basis der Barmherzigkeit Gottes konzipierte Verbindung
zwischen maqāṣid und aḥkām eine methodische und theologische Herausforderung
dar, die nur durch eine hermeneutisch und theologisch fundierte Reflexion über die
Zusammenhänge zwischen Deontologie als Verpflichtungscharakter und Rational-
1.3.2. Die Frage von Hierarchie und Organisation im Verhältnis von maqāṣid
und aḥkām
Den Abschluss der Arbeit bildet die Frage nach dem Verhältnis zwischen maqāṣid
und aḥkām, welche die Gliederung der Arbeit insgesamt durchzieht und inhaltlich
maßgeblich prägt. Die der Arbeit als Organisationsprinzip dienende Unterscheidung
zwischen maqāṣid und aḥkām basiert auf einer bestimmten Auffassung des
Verhältnisses von Ethik und Moral in der modernen Hermeneutik, der zufolge die
Ethik für die Ausrichtung auf ein erfülltes Leben und die Moral für die
Artikulierung dieser Ausrichtung in Normen vorbehalten bleibt.108 Diese Unterschei-
dung dient dem Ziel, das Primat der ethischen Ausrichtung, in Form von maqāṣid,
gegenüber der moralischen Verpflichtung, und in Form von aḥkām, zu begründen.
Nach diesem Schema lässt sich die theologisch-ethische Ausrichtung der šarīʿa
in Anlehnung an aš-Šāṭibīs maqāṣid-Theorie auf zweierlei Weise bestimmen: zum
einen von ihrem transzendentalen, glaubensorientierten Streben nach eschatolo-
gischem Heil, dem sie primär dient, und zum anderen von ihrem moralisch-sittlichen
Anspruch her, den Muslimen praktische Orientierung für ihr Leben und Handeln
anzubieten. Dass Transzendenz und Immanenz, Jenseits und Diesseits, von der
Absicht des Gesetzgebers durchzogen und miteinander verbunden sind, kann man an
aš-Šāṭibīs maqāṣid-Ansatz eindeutig erkennen. Die thematische Aufteilung seines
Werks zeigt unmissverständlich, dass die aḥkām für die Artikulation ethischer
Prinzipien in Form von Praktiken vorzubehalten sind, zumal der europäische Begriff
„Moral“, genauso wie das ḥukm-Konzept, deontisch durch den Verpflichtungs-
charakter der Norm definiert wird. Aš-Šāṭibī drückt seine methodischen Vorzüge
dadurch aus, dass er die aḥkām offenkundig durch die maqāṣid einschließen lässt.109
Aus hermeneutischer Sicht ist die Relation zwischen maqāṣid und aḥkām
vergleichbar mit der Relation zwischen den Zielen eines Gläubigen und seinen
tatsächlichen Handlungen, die er einsetzt, um diese zu erreichen. Durch den
Hinweis, dass die deontische Natur der aḥkām der teleologischen Perspektive der
maqāṣid untergeordnet ist, verringert aš-Šāṭibī den Abstand zwischen wuǧūb
(Sollen) und wuǧūd (Sein), was auf eine klare Abgrenzung zwischen Beschreiben
und Vorschreiben in der Offenbarung drängt.
Somit gibt es mehrere Möglichkeiten, den hermeneutischen Gesichtspunkt im
Rahmen dieses Ansatzes einzuführen. Zunächst zeichnet sich zwischen den maqāṣid
und den einzelnen Entscheidungen des Menschen eine Art hermeneutischer Zirkel
ab. Hiermit verhält es sich wie mit einem Text (sprich dem Koran), indem das
Ganze und der Teil in Bezug zueinander verstanden werden. Der intentionalistische
Ansatz fügt der bloßen Idee der Bedeutung jene der Bedeutung für jemanden hinzu
und umfasst dadurch Glaubensinhalte wie Fürsorge und Barmherzigkeit als
unabdingbare Bestandteile der ethischen Ausrichtung.
Die maqāṣid-Theorie lässt das Primat der Ethik gegenüber der Moral bzw. der
Ausrichtung gegenüber der Norm unmissverständlich zu, insofern die moralischen
Normen bloß als Sachmomente im ethischen Urteil gelten, die dem Prozess
rationaler Reflexion über die Offenbarungspräskription untergeordnet werden
sollen.110 Auf der Ebene der ethischen Ausrichtung kann der Schutz der fünf oben
genannten notwendigen Maximen nur gewährleistet werden, wenn sie sich nicht in
einer Gegensatzbeziehung befinden, da sie sich, so aš-Šāṭibī, ergänzen und
miteinander interagieren. Nun stellt sich aber die Frage, wie sich die Verhältnisse
zwischen den zu schützenden ethischen Maximen im Spannungsfeld aus weltlichem
und eschatologischem Heil zusammensetzen.
Beim ethischen Urteilen gilt es nach aš-Šāṭibīs maqāṣid-Ansatz, eine Hierarchie
der oben genannten fünf ethischen Maximen aufzuweisen, die auf einem
Organisationsprinzip beruhen, das die spezifische Natur jeder Absichtskategorie und
ihr Verhältnis zu den anderen Kategorien gleichermaßen berücksichtigt. Aus
theologisch-hermeneutischer Sicht besteht eine an aš-Šāṭibīs maqāṣid-Ansatz
orientierte Herausarbeitung islamisch-theologischer Ethik – wie von einigen
zeitgenössischen Theologen wie al-Ǧābirī, Abu Zaid und Ṭaha ʿAbd ar-Raḥmān
angedeutet – darin, die Geltungsbereiche der Maximen dahingehend auszuweiten,
dass die in Koran und Hadith verankerten Züge eines Weltethos herangezogen
werden.
Ähnlich wie die Maxime zum Schutz des Verstandes, die auf die Idee der
Verantwortung hinausläuft, beschränkt sich z.B. die Maxime zum Schutz des Selbst
nicht auf das allgemein von den fuqahāʾ hervorgehobene koranische Gebot „und
tötet nicht die Seele, die Allah verboten hat (zu töten), außer aus einem
rechtmäßigen Grund“ (Q 6:151). Diese Maxime sollte vielmehr auf ein Gebot
ausgeweitet werden, das dem Oberbegriff der Fürsorge und der Überwindung des
Selbst untergeordnet wird, der unter anderem aus dem folgenden Gebot hervorgeht:
„Und Er ist es, Der euch aus einem einzigen Wesen/Selbst hat entstehen lassen“ (Q
4:1, 6:98). Die Relektüre von aš-Šāṭibīs Begriff des Selbst (nafs) zieht zwangsläufig
eine Diskussion um die ethische Selbstheit in der islamischen Rationaltheologie
nach sich. Eine solche Definition des Begriffs nafs setzt eine erkenntnistheoretische
Rekonstruktion des gesamten traditionellen Denkmusters voraus, was die vorliegen-
den Abhandlungen in Gang zu setzen ersuchen.
Dabei stellt, wie in der Einführung des al-Muwāfaqāt besprochen, die Thematik der
Begründbarkeit der šarīʿa sowohl in der Rationaltheologie als auch in der
Rechtstheorie eine der schwerwiegendsten Kontroversen dar. Die Tatsache, dass
sich aš-Šāṭibī in dem soeben erwähnten Zitat bezüglich des taʿlīl-Begriffs auf die
Position der Muʿtazila beruft, bedeutet keineswegs, dass er sich die iʿtizāl-
Theologie5 zu Eigen macht. Vielmehr geht es dabei um ein accord de principe, der
den Beginn einer systematischen Widerlegung des Begründungskonzeptes der
Muʿtazila darstellte.
Dass das Wort Gottes zum Wohlergehen der Menschen herabgesandt worden sei,
ließe sich, so aš-Šāṭibī, primär durch die Auslegung offenbarter Quellentexte selbst
bestätigen. Der rationalen Inferenz, die aus dem Handlungsumfeld faktischen
Lebensvollzugs hervorgeht, komme dabei eine bedeutende Schlüsselrolle zu:
„Und falls die [Methode der] Induktion dieses ebenfalls beweise und sie in
diesem Fall auch nützlich für die Wissenschaft sei, so können wir
entschlossen feststellen, dass der Sachverhalt für alle Bereiche der šarīʿa
[allgemein] gültig ist, wenn feststeht, dass der Gesetzgeber mit den
Rechtsvorschriften auf die Wahrung des dies- und jenseitigen Wohlergehens
abziele.“6
zahlreichen Hinweise auf die Theologen kommen bei aš-Šāṭibī häufig im Kontext komplexer
Kontroversen vor. Jedoch vermeidet er es in den meisten Fällen, sich mit deren Ideen oder
Standpunkten auseinanderzusetzen. Ihm sind durchaus die Grenzen, sich nicht intensiv mit der
Rationaltheologie zu beschäftigen, bewusst, die man der Rechtswissenschaft in der Geschichte
gesetzt hat. Die ausführlichste Diskussion, die sich aš-Šāṭibī mit den Theologen erlaubt, findet
in der Einleitung des maqāṣid-Bandes statt und zählt nicht mehr als zwei Seiten. (vgl. ebd., Bd.
2, S. 4.)
5 Unter dem Begriff iʿtizāl-Theologie versteht man im Allgemeinen jene theologische Reflexion,
in der der apriorischen Vernunft gegenüber der Überlieferungsquelle Vorzug gegeben wird.
Dieser Grundsatz wird jedoch in dieser Abhandlung hinterfragt. (Vgl. al-Ǧābirī: al-ʿAql al-
aḫlāqī al-ʿarabī, S. 170-172.)
6 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 5 (Siehe den arab. Wortlaut unten, S. 217). Die Zielsetzung
des Schöpfers zur Bewahrung des Glaubens, des Lebens, der Fortpflanzung und Familie, des
Eigentums und der intellektuellen Fähigkeit werden nach aṭ-Ṭāhir ibn ʿĀšūr (vgl. Ibn ʿĀšūr:
Maqāṣid aš-šarīʿa al-islāmiyya, S. 77f.) auch induktiv durch Textquellen der mekkanischen
Suren belegt, wie etwa Q 6:151: „Sag: kommt her! Ich will euch verlesen, was euer Herr
verboten hat: Ihr sollt Ihm nichts beigesellen, und zu den Eltern gütig sein; und tötet nicht eure
Kinder aus Angst vor Armut - Wir versorgen euch und auch sie; und nähert euch nicht den
Abscheulichkeiten, was von ihnen offen und was verborgen ist, und tötet nicht die Seele, die
Allah verboten hat (zu töten), außer aus einem rechtmäßigen Grund! Dies hat Er euch
anbefohlen, auf dass ihr begreifen möget.“ und in Q 60:12: „O Prophet, wenn gläubige Frauen
zu dir kommen, um dir den Treueid zu leisten, dass sie Allah nichts beigesellen, nicht stehlen,
keine Unzucht begehen, ihre Kinder nicht töten, keine Verleumdung vorbringen, die sie vor
ihren (eigenen) Händen und Füßen ersinnen, und sich dir nicht widersetzen in dem, was recht
ist, dann nimm ihren Treueid an und bitte Allah für sie um Vergebung. Gewiss, Allah ist
Allvergebend und Barmherzig.“
Implizit galt die mit Berufung auf das Induktionsverfahren zum Ausdruck gebrachte
Kritik aš-Šāṭibīs an die Muʿtazila in erster Linie ihrem Rationalitätsbegriff, dem
zufolge der Mensch als vernunftbegabtes Wesen per se die Fähigkeit hat, die von
Gott geschaffene Lebenswelt eigenmächtig zu ordnen und in die ewige Wahrheit der
Schöpfung Einsicht zu erhalten. Aš-Šāṭibīs transzendentalem Induktionsverständnis
gemäß geht die diskursethische7 Deutung der Offenbarungstexte jeglicher
zweckrationaler Normenbegründung voraus. Gleichwohl hält er eine Letztbegrün-
dung theologischer Rechtsnormen durch transzendentaldiskursive und handlungs-
theoretische Reflexion für möglich, indem er auf das „Apriori der Auslegung“
verweist:
„Der Gesetzgeber hat eine ausführliche Erklärung in Bezug auf die
[vordergründigen] Motive und die [hintergründigen] Weisheiten gegeben, die
der Aufstellung der Gesetzgebung hinsichtlich der Sitten und Bräuche als
Hintergrund dienen. [Doch] das Meiste, was durch den Einbezug des Hand-
lungsumfeldes begründet wird, würde im Fall einer rationalen Betrachtung
angenommen.“8
So stimmt aš-Šāṭibī einerseits der muʿtazilitischen These der Existenz einer Logik
ethischer Begriffe zu, der man sich rational denkend nicht entziehen kann.
Andererseits widmen sich die von ihm mit Rückgriff auf Autorität und
allgemeingültige Verbindlichkeit der Textquellen in Erwägung gezogenen Einwände
gleichermaßen der instrumentalen Auffassung des Wohlergehens. Diese Auffassung
entspricht dem muʿtazilitischen Rationalitätskonzept und ging dem Averroes-
Konzept burhān voraus, das dem modernen Begriff „Zweckrationalität“ 9 nahe
kommt, der jedoch mit ihm nicht deckungsgleich ist. Der Rationalitätsauffassung der
Muʿtazila zufolge, schöpfe der Mensch aus seiner angeborenen rationalen Begabung
das Vermögen zum zielgerichteten und nützlichen Denken und Handeln, sodass er
7 Die Bezeichnung „diskursethisch“ wird hier in Anlehnung an den der islamischen Rhetorik
entsprungenen Begriff ḫaṭāba (was so viel wie „normative Redekunst“ bedeutet) verwendet,
deren kommunikativ-argumentative Rationalität die gesamte islamische Ethiktradition prägt.
Wie in der Erzähltheorie geht die insgesamt normativ orientierte islamische Rhetorik davon aus,
dass der ḫaṭāba-Begriff, der nach Ibn Ḫaldūn als syllogistische Argumentationskunst definiert
wird, grundsätzlich moralisch aufgeladen ist. (Vgl. Ibn Ḫaldūn: al-Muqaddima, hg.von Ḥuǧr
ʿĀṣī, Beirut 1991, S. 308.)
8 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 233. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 217.
9 Mit dem modernen Begriff „Zweckrationalität“, der nach Max Weber eine gewisse Dominanz
des instrumentalistischen Denkens impliziert, ist hier lediglich das zielgerichtete Denken ge-
meint. Auf die islamische Tradition übertragen, handelt es sich beim Begriff „Zweckrationali-
tät“ um eine Charaktereigenschaft der theologisch geprägten Wertrationalität (vgl. Max Weber:
Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 566f). Der spätentwickelten
umstrittenen abendländischen terminologischen Unterscheidung zwischen Rationalität und Ver-
nunft kann in diesem Zusammenhang nicht Rechnung getragen werden. Daher werden in den
vorliegenden Ausführungen beide Begriffe als Synonyme verwendet.
Schäden und Nutzen intuitiv und naturgemäß erkennen könne.10 Im Unterschied zur
muʿtazilitischen Ethiktheorie erhebt aš-Šāṭibī jedoch nicht den Anspruch, selbst mit
einer der Offenbarung untergeordneten spekulativen Vernunft eine Letztbegründung
von Moral- und Rechtsnormen leisten zu können. Dem moraltheoretischen
Universalisierungsgrundsatz der Normenlehre verpflichtet, der der Diskursargu-
mentation gegenüber der apriorischen Vernunftreflexion Vorrang gewährt, kommt
aš-Šāṭibī der modernen diskursethischen Rationalitätsauffassung nahe. 11 Eine
deontologische Letztbegründung der Moral- und Rechtsnormen, wie man sie aus der
praktischen fiqh-Wissenschaft kennt, lässt sich daher im maqāṣid-Ansatz kaum
erkennen. Im Gegensatz zur islamischen philosophischen Ethik, die sich
grundlegend einem reinen handlungstheoretischen Rationalitätsverständnisses
bedient, geht der maqāṣid-Ansatz von einer Konsenstheorie der Wahrheit aus, die
sich an der glaubenden Erkenntnis von Gottes Willen als Letztprinzip ethischer
Begründung orientiert.
Das enge muʿtazilitische Rationalitätsverständnis, das in der Tradition der
Rechtstheorie schon früh auf Kritik stieß, wird in aš-Šāṭibīs maqāṣid-Ansatz in
Richtung auf den der Normenlehre zugrundeliegenden diskursethischen Vernunft-
begriff geöffnet, demzufolge Moral- und Rechtsnormen in begründbare und
unbegründbare unterteilt werden. So werden Verhaltensnormen, die dem praktischen
Lebensvollzug des Menschen entspringen, der sittlichen Urteilsfindung zugeordnet
(aḥkām al-ādāt wa-l-muʿāmalāt) und als rational begründbar durch die ethischen
Werturteile des Nutzens und des Schadens erklärt:
„Über die šarīʿa ist bekannt, dass sie für das Wohlergehen der Menschheit
errichtet wurde und dass die Verpflichtung im Allgemeinen entweder dazu da
ist, einen Schaden abzuwenden, einen Nutzen zu ziehen oder aber beides
zusammen.“12
Aš-Šāṭibī argumentiert für seine Theorie teleologischer Moralpflichtbegründung
diskursethisch und handlungstheoretisch, indem er impliziert, dass, wenn sich das
10 Diese Idee geht auf den Universalgelehrten al-Ǧuwaynī zurück, der klarstellt: „Es ist
unbestritten, dass die Vernunft das Vermeiden jeglichen Unheils und das Erlangen möglichen
Nutzens anstrebt. Und die Ablehnung dessen ist jenseits jeglicher Vernunft, weil dies eigentlich
das Recht des Menschen ist.“ (al-Ǧuwaynī: al-Burhān fī uṣūl al-fiqh, Bd.1, S. 91.)
11 Der moderne Begriff der „Diskursethik“ geht auf Jürgen Habermas‘ und Karl-Otto Apels
Theorie der kommunikativen Rationalität zurück, der zufolge das zweckrationalistische Denken
lediglich eine untergeordnete Form kommunikativer Rationalität sei, da zielgerichtetes Handeln
stets kommunikatives Argumentieren zur Voraussetzung habe. Im Unterschied zu Habermas
schließt Apel eine diskursethische Letztbegründung der Moral nicht grundsätzlich aus. (Vgl.
Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1988, Bd. 1,
S. 532 sowie Karl-Otto Apel: „Rationalitätskriterien und Rationalitätstypen. Versuch einer
transzendentalpragmatischen Rekonstruktion des Unterschieds zwischen Vernunft und
Verstand“, in: Axel Wüstehube (Hg.): Pragmatische Rationalitätstheorien. Studies in
Pragmatism, Idealism und Philosophy of Mind, Würzburg 1995, S. 41.)
12 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 145. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 218.
Handeln jedes Gläubigen auf das Wohlbefinden der Gemeinschaft ausrichte, jedes
Gemeinschaftsmitglied als potentiell Handelnder für sich das Recht auf das
Wohlergehen voraussetze. Die aus der ethischen Maxime des „Schutzes des Selbst“
hervorgehende Transitivität (des Seins) dient demnach dazu, dieses Recht auch
anderen Gläubigen der Diskursgemeinschaft zuzugestehen. Diesem Deutungsmuster
liegt eine Auffassung des Glaubens zugrunde, nach der dem Interesse des Einzelnen
mit Berufung auf die aus dem Begriff des Eingottglaubens hervorgehende
Gemeinschaftsstimme, von Fall zu Fall Einhalt geboten werden kann. Dass das
teleologische Moralkonzept aš-Šāṭibīs die Aporien instrumentaler Begründungs-
theorien zu überwinden versucht, sieht man darin, dass der Schwerpunkt seiner
normativen Moralbegründung nicht auf die Rechtfertigung ethischer Zielsetzungen
gesetzt wird, sondern vielmehr auf dem Verfahren der Abwägung von Handlungs-
möglichkeiten und den damit verbundenen Handlungszielen liegt.
Ar-Rāzīs Idee einer theologisch-rationalen Zielsetzung moralischer Pflicht
folgend, plädiert aš-Šāṭibī dafür, die ethische Ausrichtung einem Überlegungspro-
zess zu unterziehen, wobei sich die Definition letzter Handlungsziele primär an der
Unterscheidung zwischen weltlichen und gottesdienstlichen Pflichten orientiert. Die
fundamentale Zielsetzung der gottesdienstlichen Handlungen sind nach aš-Šāṭibī
Gottesverehrung und die Einhaltung von vorgeschriebenen Handlungsrahmen. Die
erste normative Quelle dafür liefert, ihm zufolge, unter anderem auch die [Methode
der] Induktion. Demnach sind viele Pflichten aus dem Bereich der gottesdienstlichen
Handlungen, hinsichtlich ihrer Struktur, ihres Ausmaßes und ihrer Zeitvorgaben,
sowie ihrer Voraussetzungen nicht rational begründbar.13
Deutlich wird nach dieser Aussage, dass die mit der rituellen Praxis verbundenen
Handlungen keine rationalen Handlungen im eigentlichen Sinne sind und somit
nicht den inhärenten Abwägungsprozessen unterworfen werden sollen, die für
weltliche Handlungen gelten.14 Dabei kann das Argument der instrumentalen
Vernunft, die rituelle Praxis habe kein weiteres Ziel außer sich selbst, hier nicht
greifen, da selbst gemeinnützige Handlungen im Koran, deren Ziel nachvollziehbar
zu sein scheint, von jeglicher Begründung absehen. So heißt es z.B. in Q 76:9: „Wir
speisen euch nur um Allahs Angesicht willen. Wir wollen von euch weder Belohnung
noch Dank.“
Ohne prinzipiell auszuschließen, dass rituelle Praktiken bestimmte für den
Menschen erschließbare Weisheiten implizieren können, lässt die Diskursethik aš-
Šāṭibīs die Möglichkeit einer Begründung gottesdienstlicher Handlungen offen. Die
(uṣūl) anzusehen.22 Aš-Šāṭibī geht sogar so weit, dass er die fünf ethischen
Grundmaximen der Offenbarung, als Kernelemente der Ethik, von dem Prozess der
Abrogation (an-nasḫ) ausnimmt, da sie ein Bestandteil der kulliyāt bilden, die
grundsätzlich von der Abrogation nicht betroffen sind. Die Abrogation, die durch
die medinensischen Suren des Korans ausgeführt wurde, zielte ausschließlich darauf
ab, das Nebensächliche (ǧuzʾiyyāt) der mekkanischen Koransuren detaillierter
auszuführen. Interessant an aš-Šāṭibīs Ansatz ist seine Aussage, dass die Abrogation
der kulliyāt textuell nicht möglich sei.23
Bemüht um eine ethisch-normative Eingrenzung des Abrogationsbegriffs geht
aš-Šāṭibī detailliert auf die Unterscheidung zwischen dem Prozess der Spezifizie-
rung (taḫṣīṣ) und dem Vorgang der Abrogation (nasḫ) ein. Dabei widmet er sich der
Frage nach dem moralischen Sinn der Abrogation, die seinem Verständnis nach in
der Hervorhebung der in den mekkanischen Suren verankerten theologischen Werte
und Tugenden, wie Fürsorge, Gerechtigkeit, Geduld, Versöhnlichkeit, Dankbarkeit
und Treue, begründet liegt. Diese Werte macht er zum Hauptkriterium einer argu-
mentativen Verhältnisbestimmung zwischen den thematisch in Relation stehenden
Offenbarungen, die eine paraphrastische oder textuelle Zugehörigkeit suggerieren.
So erschwert er zugleich bewusst die Anwendung des herkömmlichen Abrogations-
verfahrens. Dabei sollen bei der diskursiv-normativen Verhältnisbestimmung unter-
schiedlicher Koranverse, die ähnliche moralische Denkinhalte aufweisen, zwei me-
thodische Grundsätze in der Analyse herangezogen werden.24 Auf textueller Ebene
setzt aš-Šāṭibī daher eine umfassende Induktion voraus, in deren Rahmen eine syste-
matische und vergleichende Quellenuntersuchung zum normativen Gegenstand voll-
zogen wird. Auf der theologisch-moralischen Ebene müssen die aus den Textquellen
rational erschlossenen ethischen Prinzipien sowohl in der Hypothesenstellung als
auch bei der Formulierung der angestrebten Zielsetzung im selben Maße wie die
Offenbarungsquellen bei der Normenableitung herangezogen werden. Diese zum
Umdenken über die Funktion von nasḫ verleitende Herangehensweise entspringt aus
aš-Šāṭibīs Vorstellung der Hierarchie von normativen Quellen, die er ausführlich im
kitāb al-adilla erläutert:
„Die Rechtsquellen sind von zweierlei Art: Die erste geht auf die [schrift-
liche] Überlieferung zurück, während die zweite der reinen Vernunft (ar-raʾy
al-maḥḍ) zugeordnet wird. Diese Unterteilung gilt ausschließlich für die
Kategorisierung der Rechtsquellen. Ansonsten ist bei der Ableitungen von
den Rechtsnormen jeder Teil vom anderen abhängig.“25
Bei der genaueren Betrachtung von aš-Šāṭibīs Skepsis gegenüber der herkömm-
lichen Definition von nasḫ ist festzustellen, dass er die Relevanz dieses Begriffs für
die Rechtstheorie allmählich in Frage stellt. Dies wird deutlicher in den Koran-
belegen, die seiner Untersuchung als Textgrundlage dienen. Im Zuge seiner Analyse
umstrittener Abrogationsfälle, die er nicht als solche anerkennt, widmet er sich der
Ausarbeitung des Begriffs „Spezifizierung“, dem er gegenüber der Abrogation
offensichtlich Vorrang gibt. Seine Zurückhaltung hinsichtlich des Begriffs nasḫ
rührt von der Befürchtung her, dass die reichhaltige Welt der Offenbarung durch
eine einfache syllogistische und zum Teil willkürliche Herangehensweise verarmt
und auf ein knappes Gerüst deontologischer Rechtssätze reduziert wird.
Mit der Annahme, dass die universellen Maximen ethischen Verhaltens grund-
sätzlich im Koran und insbesondere in den mekkanischen Suren verankert sind, will
aš-Šāṭibī keineswegs die Gültigkeit der medinensischen Suren oder des Hadith be-
streiten, sondern lediglich der Intentionstheorie einen fundamentalen, ursprüngli-
chen Charakter verleihen, eine Frage, die er am Anfang der Diskussion über die ra-
tionale Begründung des Rechts im Vorfeld klärt.
Diese differenzierte Haltung zum Koran könnte unter Umständen als Versuch
ausgelegt werden, die Kluft zwischen der etablierten Rationaltheologie als eine
Wissenschaft, die die Wirklichkeit aus der Perspektive des Korans unter dem Ge-
sichtspunkt der Wahrheit befragt, und dem der Rechtstheorie inhärenten Ethikver-
ständnis, bei dem der Verantwortungsaspekt des Glaubens im Mittelpunkt steht.26
Dadurch soll gezeigt werden, dass Rationaltheologie und Ethik sich gleicher-
maßen auf eine dem Glauben entspringende Befragung der Wirklichkeit berufen.
Nach einer Feststellung ar-Rāzīs geht es in der ethischen Urteilsfindung um einen
vom Koran angeleiteten Umgang mit jenen widerspruchsvollen Formen von Ver-
nunft, wie sie sich in den Debatten der Rationaltheologie zeigten.27 Sein Argument
für die Annäherung von Vernunft und Glaube stützt sich auf die theologische An-
nahme, dass Gott den Menschen in einer Weise erschaffen habe, dass er in morali-
schen Kategorien der Vernunft denke und ihn infolgedessen zu den von der Offen-
barung beabsichtigten ethischen Maximen rechtleitet.28
26 Vgl. Hans Bauer: Die Dogmatik al-Ghazali's nach dem II. Buche seines Hauptwerkes, Halle
a.d.S. 1912, S. 67.
27 Vgl. ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 291. Viel eindeutiger lässt sich diese Annahme bei der
Exegese von Koranversen zeigen, in denen sich die Prophezeiung unter erkennender Teilnahme
an der Weltwirklichkeit als wahr erweist, wie etwa in der koranischen Geschichte von Moses
und dem Weisen. (Vgl. Q 18:65-70)
28 Vgl. Lenn Evan Goodman: „Did al-Ghazali Deny Causality?“, in: Studia Islamica 47(1978), S.
89ff.
einer Begriffsanalyse beherrscht, die die Thematik von verschiedenen Seiten dieser
facettenreichen Fragestellung beleuchtet. Die Antwort auf die Frage, ob aš-Šāṭibī
eine logisch-rationale Letztbegründung theologisch-moralischer Pflichten für
möglich hält, hängt nicht zuletzt davon ab, wie die Imprägnierung von Vernunft
durch Glauben in der islamischen Rechtstheorie gedacht wurde. Mit dieser
Fragestellung ging eine weitgefasste Auseinandersetzung zum Begriff taʿlīl einher,
die eine umfassende Untersuchung des gängigen Analogie-Konzepts hervorrief.29
Die Bedeutung des Begriffs taʿlīl lässt sich auf die Verwendung des Wortes
ʿilla30 sowohl in der früheren Korangrammatik als auch in der klassischen
Rechtstheorie zurückführen. Van Ess fasst in seiner Erkenntnislehre die juristische
Bedeutung von ʿilla wie folgt zusammen: ʿIlla ist „das Merkmal (waṣf), das einer
Sache oder Handlung seine juristische Qualifikation (ḥukm), ob erlaubt oder
verboten, verleiht“.31
Der Begriff ʿilla (causa) spielt bei der Aufstellung der vierten Rechtsquelle qiyās
insofern eine grundlegende Rolle, als er die Verbindung zwischen propositio minor
und conclusio im Rahmen des Analogieschlusses deduktiv herstellt. Es handelt sich
um eine zur Begründung des ḥukm aus dem expliziten Quellentext entnommene
29 Eine Vielzahl analytischer Abschnitte des Kapitels al-Maqāṣid ist – wenn auch nicht
systematisch – der Diskussion des Begriffs taʿlīl (Begründbarkeit) gewidmet. Bei der
Verwendung des analytischen Begriffs des taʿlīl bedient sich aš-Šāṭibī der reichhaltigen
Tradition der Rechtswissenschaft. (Vgl. Muḥammad ʿĀbid al-Ǧābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī,
S. 153ff.)
30 Der von den Theologen entwickelte Terminus ʿilla stand im Mittelpunkt ihrer philosophischen
Überlegungen bezüglich der ontologischen causa auf der Suche nach der Realität des
Verhältnisses zwischen Schöpfer und Schöpfung (maʿlūl: Wirkung). (Vgl. u.a. Ǧamāl ad-Dīn
Abū l-Ḥasan ʿAlī ibn Yūsuf al-Qifṭī (gest. 646/1248): Inbāḥ ar-ruwāt ʿalā anbāh an-nuḥāt, 4
Bde., Kairo 1950, Bd. 2.) In der Logik wurde der Begriff ʿilla für die Bezeichnung des im
Rahmen des Analogieschlussverfahrens zwischen aṣl und farʿ verbindenden Mittelbegriffs waṣf
ǧāmi verwendet, wie dies Robert Brunschvig verdeutlicht. (Vgl. Robert Brunschvig: „Logic
and Law in Classical Islam“, in G.E. Grünebaum (Hg.): Logic in Classical Islamic Culture,
Wiesbaden 1970, S. 9-120.) Die Grammatiker bedienten sich ebenso des Begriffs ʿilla. Sie
meinten allerdings damit nicht die ratio legis, sondern die formale Ursache für die Einordnung
eines bestimmten Morphems oder Segments als Ableitung von einem gegebenen Grundsatz
(aṣl). (Vgl. u.a. Abū l-Fatḥ ibn Ǧinnī (gest. 392/1002): al-Ḫaṣāʾiṣ, hg. von M.A. Naǧǧār, 3
Bde., Beirut 1952; Ulrich Haarmann: „Religiöses Recht und Grammatik im Klassischen Islam“,
in: ZDMG Supplement 2 (1974), S. 165.) Bei Sībawayh (gest. ca. 180/796) merkt man jedoch
eine gewisse Konfusion zwischen ʿilla und ʿāmil (Regent), die zwar in den letzten Jahrzehnten
Gegenstand einiger Monographien war, aber bisher keine umfassende linguistische Erklärung
fand. (Vgl. Sībawayh: al-Kitāb, hg. von Hartwig Derenbourg, 2 Bde., Paris 1881; Josef van
Ess: Die Erkenntnislehre des ʿAḍudaddīn al-Īcī, Wiesbaden 1966, S. 312f.; 382ff.; sowie Josef
van Ess: The Logical Stucture of Islamic Theology, Wiesbaden 1970, S. 35ff., 48f.; Mohammed
Nekroumi: „Zur Rezeption klassisch-arabischer philologischer Termini in der modernen
Arabistik“, in: ZDMG 157 (2007) 1, S. 77-102.)
31 Van Ess: Die Erkenntnislehre des ʿAḍudaddīn al-Īcī, S. 383. In diesem Zusammenhang bezieht
sich die Definition der ʿilla von Josef van Ess ausschließlich, auf den juristischen Gebrauch des
Wortes.
causa. Die Rechtsnorm des Alkoholverbots wurde einigen Theologen zufolge nicht
direkt aus dem Korantext erschlossen, da die entsprechende normative Quelle (dalīl)
im Koran nur den aus Weintrauben gewonnenen Wein verpönt. Die Rechtsgelehrten
definierten den Verbotsgrund des Alkohols analogisch im Hinblick auf eine aus der
expliziten Bedeutung des entsprechenden Koranverses erschlossene causa. In
diesem Fall liegt diese in „der Unreinheit und der betäubenden Wirkung“ 32
begründet.33 Das Analogieschlussverfahren der Rechtstheorie, das dem qiyās bayānī
(diskursive Analogie) der Rhetoriker formell ähnelt, geht von dem Merkmal eines
bereits in der Offenbarung verkündeten Urteils aus, um es als ratio legis in einem
präskriptiven Syllogismus als Grundlage moralischer Urteilsfindung zu nutzen. So
wird aus zwei Prämissen ein Ergebnis erschlossen, das als verbindliches Urteil gilt.
Als Beispiel hierfür wird häufig der Fall des Weinverbots angeführt:
ʿIlla ist hier also ein Merkmal, das die juristische Gleichstellung von Alkohol und
Wein erlaubt, indem sie einen gemeinsamen konstitutiven Faktor beider Produkte
impliziert.35 Vor diesem Hintergrund entstand der sozial-ethische taʿlīl-Begriff, der
zwar bereits bei Šihāb ad-Dīn al-Qarāfī zu einem analytischen Werkzeug entwickelt
wurde,36 seine Entfaltung jedoch erst in der maqāṣid-Theorie aš-Šāṭibīs erfuhr.37
werden. ʿIlla dient zur Begründung einer Rechtsnorm, während sabab die Handlung selbst
meint, die als Gegenstand der Rechtsnorm fungiert. (Vgl. al-Ǧābirī: Binyat al-ʿaql al-ʿarabī, S.
143.)
38 Vgl. u.a. Masud: Islamic Legal Philosophy. S. 99f., siehe auch Wael B. Hallaq: „The Primacy
of the Qur´an in Shatibi’s Legal Theory”, in ders. (Hg.): Law and Legal Theory in Classical
and Medieval Islam, Burlington 1995, S. 69-90.
39 Für aš-Šāṭibi wird die Zielsetzung des Gesetzgebers zum Schutz der intellektuellen Fähigkeit
durch Verse aus medinensischen Koransuren belegt, insofern, als dass das Verbot
berauschender Mittel gemäß eines abgestuften deontischen Prozesses erfolgte, das erst in der
medinensischen Phase eingeführt wurde. Zunächst lautete die Botschaft: „Sie fragen dich nach
berauschendem Trunk und Glückspiel. Sag: In ihnen (beiden) liegt große Sünde und Nutzen für
die Menschen. Aber die Sünde in ihnen (beiden) ist größer als ihr Nutzen. Und sie fragen dich,
was sie ausgeben sollen. Sag: Den Überschuss. So macht Allah euch ein Zeichen klar, auf dass
ihr nachdenken möget.“ (Q 2:219); danach vollzog sich eine Pflichtsteigerung, die für die
Lebenslage der neu gegründeten, jedoch theologisch reifgewordenen islamischen Gemeinde in
Medina zumutbar scheint: „O die ihr glaubt, nähert euch nicht dem Gebet, während ihr trunken
seid, bis ihr wisst, was ihr sagt, noch im Zustand der Unreinheit – es sei denn ihr geht bloß
vorbei – bis ihr den ganzen (Körper) gewaschen habt […].“ (Q 4:43); „O die ihr glaubt,
berauschender Trank, Glücksspiel, Opfersteine und Lospfeile sind nur ein Gräuel vom Werk
des Satans. So meidet ihn, auf das es euch wohl ergehen möge!“ (Q 5:90); „Der Satan will (ja)
zwischen euch nur Feindschaft und Hass säen durch berauschenden Trank und Glücksspiel und
euch vom Gedenken Allahs und vom Gebet abhalten. Werdet ihr (damit) nun wohl aufhören?“
(Q 5:91). Die zeitliche Abfolge bei der Herabsetzung einschlägiger Koranverse zu den fünf
grundlegenden Maximen des Gesetzgebers wird dadurch erklärt, dass das Verhältnis zwischen
deren ethischen Kategorien hierarchisch aufgestellt ist. Genauso wie aš-Šāṭibī eine paraphrase
Beziehung zwischen mekkanischen und medinensichen Suren herstellt, argumentiert er für eine
intertextuelle Verbindung zwischen Koran und Sunna im Hinblick auf die drei Intentions-
kategorien aḍ-ḍarūriyyāt, al-ḥāǧiyyāt und at-taḥsīniyāt, wobei er ein besonderes Augenmerk
auf die Notwendigkeiten legt: „denn genauso wie die zum Erhalt des Lebens notwendigen
Maximen im Koran verankert sind, wurden sie besonders in der Prophetentradition detailliert
ausgeführt.“ („fa-ḍ-ḍarūriyāt kamā taʾaṣṣalat fī l-qurʾān tafaṣṣalat fī s-sunna“ (Aš-Šāṭibī: al-
Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 46f. Bd. 4, S. 20.)
40 Mit dem Begriff „Begründbarkeit“ wird hier keineswegs Bezug auf die Unterscheidung
zwischen Wahrheit und Begründbarkeit, die von Friedo Ricken: Allgemeine Ethik, Stuttgart
1998 gemacht wird, genommen.
41 Der ḥanbalitische Rechtsgelehrte Ibn Qayyim al-Ǧawziyya (gest. 751/1350) war zwar einer der
überzeugten Anhänger der rationalen Begründung bzw. Rechtfertigung aller rituellen
Rechtsgebote samt der dazu gehörigen einzelnen Akte, wie Gebetszeiten (awqāt aṣ-ṣalāt) oder
Bedingungen ritueller Waschungen (šurūṭ al-wuḍū) etc., jedoch meinte er, ähnlich wie al-
Ġazālī und aš-Šāṭibī, dass im Allgemeinen die hinter den rituellen Geboten Gottes verborgenen
Weisheiten für die Vernunft des Menschen unzugänglich bleiben. (Vgl. Ibn Qayyim: Iʿlām al-
muwaqqiʿīn an rabb al-ʿālamīn, hg. von Mašhūr ibn Ḥasan, 7 Bde., Dār Ibn al-Ğawzī, Riad
2002, Bd. 3, S. 329.)
42 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 53ff.
43 An dieser Stelle verweist aš-Šāṭibī indirekt auf die Haltung von Abū Ḥanīfa, für den eine
allgemeine Begründbarkeit der šarīʿa gilt, solange kein textueller Gegenbeweis vorliegt (Vgl.
Muḥammad Abū Zahra: Abū Ḥanīfa hayātuhū wa-ʿaṣruhū - ārāʾuhū wa-fiqhuhū, Kairo 1947.)
44 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 55f. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 218.
der Last ritueller Pflichten für den Gläubigen abziele.45 Die besondere Eigenschaft
der rituellen Gebote liege darin, dass sie alle induktiv begründbar seien. Die
Textquellen verwiesen, wenn auch ohne Berücksichtigung der Einzelheiten, explizit
auf den Sinn der rituellen Pflichten eines Muslims, und es bedürfe keiner Inferenz,
d.h. keines Erschließungsverfahrens, um deren Bezug zum Interesse des Menschen
festzustellen.46
Doch die Begründung der rituellen Gebote sei methodisch nicht mit der Begrün-
dung der auf die weltlichen Handlungen des Menschen bezogenen Rechtsnormen zu
vergleichen, obwohl die Rechtfertigung beider Kategorien auf der ethischen Basis
des menschlichen Interesses beruhe, so aš-Šāṭibī. Im Gegensatz zum Zweck der
weltlichen Handlungen lasse sich die Zielsetzung der rituellen Akte nicht syste-
matisch und rational erfassen. Die auf sie bezogenen Sinngebungen bzw. Weisheiten
seien lediglich Produkt allgemeiner Auslegung. Man dürfe aber als Gläubiger bei
der Durchführung ritueller Gebote bewusst auf die vermeintlich daraus resultie-
renden weltlichen und jenseitsbezogenen Wirkungen und Zwecke abzielen:
„Und es ist [dem Gläubigen] erlaubt, dass man sowohl auf die diesseitigen,
als auch auf die jenseitigen Wirkungen [der gottesdienstlichen Handlungen]
abzielen darf.“47
Eine genaue Betrachtung der taʿlīl-Argumentation aš-Šāṭibīs in seinem Werk al-
Muwāfaqāt besonders in Verbindung mit seinem anderen „quasi-juristischen“ Werk
al-Iʿtiṣām verdeutlicht, dass sich seine theoretische Arbeit im Wesentlichen gegen
die Mystiker dieser Zeit richtete, die seiner Meinung nach eine rigide Auslegung des
Rechts befürworteten. Die Legitimierung des qiyās und seiner taʿlīl-Mechanismen
als anerkannte Rechtsmethode implizierte auf der anderen Seite die Erkenntnis, dass
die Textquellen inadäquat für die Schaffung eines ausgewogenen und rational
annehmbaren Rechtsdiskurses sind. Das taʿlīl-Verfahren bei aš-Šāṭibī steht im
Mittelpunkt seiner Anstrengungen um zwischen dem facettenreichen menschlichen
Leben und dem transzendentalen Universum des Korans 48 eine Brücke zu schlagen.
Bei ihm trifft die folgende von Kevin Reinhart formulierte Aussage vollkommen zu:
45 Auch hier gibt aš-Šāṭibī den Anhängern der Begründung ritueller Rechtsnormen nur bedingt
Recht. Denn es sind seines Erachtens lediglich einzelne Fälle, die der Formulierung einer Regel
nicht bedürfen. So schreibt er: „Und das, was bei ihnen passend ist, ist abgezählt und es gibt
nichts Vergleichbares dazu, wie zum Beispiel die mit einer Handlung verbundenen Mühen, und
deshalb erlaubte Verkürzung [vom Gebet] und Fastenbrechen und Zusammenlegen von zwei
Gebeten des Reisenden und ähnliches.“ Ebd., Bd. 2, S. 230.
46 Vgl. zum Gebet Q 20:14, Q 29:45; zum Fasten Q 2:183; zur Almosen- bzw. Solidaritätsabgabe
Q 9:103; und zur Pilgerfahrt Q 22:27-28.
47 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 147. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 218.
48 Paul Ricoeur findet, dass die semantische Referenz einer heiligen Schrift in der Gedankenwelt
(le Monde du Text) und in dem Anspruch, den er schafft, verkörpert wird; alles andere entsteht
nach einer hermeneutischen Auseinandersetzung mit dieser Schrift. (Vgl. Paul Ricoeur u.a.:
„Herméneutique de l’idée de Révélation”, in: La Révélation 7 (1977), S. 15-54.)
“By grounding all of life in the relatively small body of revelation texts,
Muslim scholars insured the universalistic and transnational character of
Islamic intellectual and moral life”. 49
Doch die Kritik aš-Šāṭibīs richtet sich in dieser Hinsicht nicht nur an die Mystiker,
wie etwa Ibn al-ʿArabī, sondern auch an die Rationaltheologen, insbesondere an die
Ẓāhiriten, unter ihnen z.B. Ibn Ḥazm (gest. 456/1064), die im Analogieschluss eine
formale Schranke für ihren frei waltenden raʾy sahen.50 Das Problem sieht aš-Šāṭibī
hauptsächlich in dem textgebundenen Ansatz der Ẓāhiriten, die sich seiner Ansicht
nach strikt
„an die explizite Bedeutung der heiligen Texte halten und die Rolle der
Vernunft grundlegend zurückweisen, was letztlich auf einen Ausschluss der
bereits von der Tradition in Konsens angenommenen Analogie-Methode
hinausläuft.“51
Die entschlossenen Gegner des Analogieschlusses und des taʿlīl-Verfahrens, wie die
Mehrheit der Ḥanbaliten, der Ẓāhiriten 52 und der Ašʿariten, beriefen sich nach aš-
Šāṭibī auf eine detaillierte Interpretation der Texte als Rechtsquelle, wohingegen die
Verteidiger des Analogieschlusses, nämlich einige Mālikiten, Šāfiʿiten und
mehrheitlich Ḥanafiten53 sowie Muʿtaziliten erklärten, dass ihre Regeln außerhalb
der Reichweite der Texte liegen würden, und ihre Ausführungen auf Basis von
Überlegungen in den Texten erstellt worden seien. Sie sahen also den Analo-
gieschluss als eine Möglichkeit der Extrapolation von Recht aus den fundamentalen
49 A. Kevin Reinhart: „Islamic Law as Islamic Ethics”, in: Journal of Religious Ethics 11/2
(1983), S. 192.
50 Im Hinblick auf die Definition und Anwendungsart des Analogieschlusses erläutert Ignaz
Goldziher in Anlehnung an Ibn Ḥazm, dass sich in der Geschichte der islamischen
Rechtstheorie zwei Methoden nebeneinander herausgebildet haben: „Während die eine nach
einer materiellen Ähnlichkeit der miteinander in Beziehung gesetzten Rechtsfälle, des
geschriebenen und des neuerdings aufgetauchten, zu suchen vorschreibt, fordert die andere
Methode dazu auf, die Ursache, die ratio des zum Vergleich herangezogenen überlieferten
Gesetzes zu ergründen, den Geist des Gesetzes zu erforschen und zu sehen, ob das frei
herausgefundene Kausalitätsverhältnis, in welchem das Gesetz zu einem ungeschriebenen
Prinzip steht, den neuerlich aufgetauchten Fall mit einschließt oder nicht.“ (Ignaz Goldziher:
Die Ẓâhiriten: ihr Lehrsystem und ihre Geschichte. Beitrag zur Geschichte der muhammeda-
nischen Theologie, Leipzig 1884, S. 12.) Der ersteren Methode wurde von den Ẓāhiriten der
Vorzug gegenüber allen anderen Ansätzen gegeben.
51 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 61. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 218.
52 Vgl. bezüglich der Ẓāhiriten: Goldziher: Die Ẓâhiriten: ihr Lehrsystem und ihre Geschichte.
53 Während Abū Zahra die Ḥanafiten als Repräsentanten aller Befürworter des Analogieschlusses
bezeichnet (Vgl. Abū Zahra: Abū-Ḥanīfa hayātuhū wa-ʿaṣruhū - ārāʾuhū wa-fiqhuhū.), stellt
Ignaz Goldziher die Zugehörigkeit Abū al-Ḥanīfas zu den qiyās-Anhängern in Frage. (Vgl.
Goldziher: Die Ẓâhiriten: ihr Lehrsystem und ihre Geschichte, S. 13.)
Texten. Dabei teilten sie die Einstellung ihrer Gegner, indem auch sie völlig eigen-
ständig formuliertes Recht nicht als göttliches Recht akzeptieren konnten. 54
Merkwürdig in der von aš-Šāṭibī ausgeführten Diskussion um die rationale
Begründung der Rechtsnormen scheint jedoch sein Angriff auf den Standpunkt von
Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī,55 dem Einzigen, der von aš-Šāṭibī in diesem Kontext
namentlich erwähnt wird. Eigentlich richtet er seine Kritik vielerorts im Buch an die
Ẓāhiriten, zu denen sein Landsmann Ibn Ḥazm gehört, der dem Analogieschluss ein
ganzes Kapitel in seinem Buch al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām56 widmet. Die
Präsentation ar-Rāzīs als Vertreter der taʿlīl-Gegner in al-Muwāfaqāt ist insofern
unverständlich, als dass die ablehnende Haltung bezüglich der rationalen Begrün-
dung der šarīʿa ausschließlich in seinen philosophischen Abhandlungen zu finden
ist, in denen er sich als Ašʿarit der ašʿaritischen Auffassung verpflichtet fühlt.57 In
den juristischen Werken ar-Rāzīs war seine Haltung gegenüber dem taʿlīl-Konzept
hingegen eher positiv. Dabei muss in Erinnerung gerufen werden, dass ar-Rāzī ein
treuer Anhänger des Analogieschlusses war, wie er selbst in seinem Werk al-Maḥṣūl
fī ʿilm uṣūl al-fiqh beteuerte.58 Aufgrund der engen, ja dialektischen Beziehung zwi-
schen qiyās und taʿlīl ergibt sich die unbestreitbare Zugehörigkeit ar-Rāzīs zum
Kreis der taʿlīl-Anhänger.
Die Entwicklung des von den Ašʿariten ins Leben gerufene munāsaba-Kon-
zepts,59 das maslak al-munāsaba (Weg der Situationsangemessenheit) heißt, ist
54 Vgl. Abū Ḥāmid al-Ġazālī: Maǧmūʿat rasāʾil al-Ġazālī, hg. von Yāsir Sulaymān Abū Šādī,
Kairo 2011, S. 224f.
55 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 4.
56 Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, 8 Bde., Beirut 1983, Bd. 8, S. 78-113.
57 Konkret handelt es sich hier um eine Anspielung aš-Šāṭibīs auf die von ar-Rāzī verteidigte
ašʿaritische Auffassung, die die Existenz jeglichen Sinns und Zwecks hinter der göttlichen
Schöpfung abstreitet, da die Anerkennung einer solchen zweckgebundenen Intention bei Gott
die Existenz einer gewissen Abhängigkeit seines Wesens von äußeren Faktoren impliziert.
Diese Darstellung wurde von ar-Rāzī mit der berühmten ašʿaritischen Maxime untermauert:
„al-mustakmalu bi-ġayrihi nāqiṣun bi-ḏātihi“, (vgl. Faḫr ad-Dīn ar-Rāzī: Tafsīr mafātiḥ al-
ġayb, 32 Bde., Teheran o.J., Bd. 2, S. 154.)
58 Vgl. ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 240.
59 Dieses Konzept besagt: Wenn sich für eine Rechtsnorm irgendein Interesse als passend
(munāsib) erweist, so fungiert dieses Interesse als causa (ʿilla) für die zwischen Rechtsnorm
und Interesse erfolgte Anpassung. Je nachdem ob ein kausaler Zusammenhang zwischen der
ratio legis und dem Urteil angenommen wird, werden unterschiedliche Definitionen für die
Angemessenheit genannt: 1. Angemessen ist das, was zum Erreichen und Erhalten dessen führt,
was angenehm für den Menschen ist. Das wäre etwas, was die Ursache des Nutzens bringt
(manfaʿa) und die Ursache des Schadens abwendet (maḍarra). 2. Die Gegner des kausalen
Zusammenhangs zwischen der ratio legis und dem Urteil weisen die These zurück, dass der
menschliche Verstand in der Lage ist, den Willen Gottes hinter einem Urteil zu erkennen.
Daher verneinen sie auch die Nutzung des ratio legis zur neuen Urteilsfindung.
Angemessenheit ist demnach für sie das, was intelligente Menschen denken, was geeignet
(mulāʾim) sein müsste. 3. Ar-Rāzī bestimmt drei Kriterien um ein angemessenes Merkmal zu
bestimmen: (1.) Real sein (ḥaqīqī), (2.) im Gesetz erwogen (iʿtibār fī l-šarʿ) (3.) geeignet
(mulāʾim) sein für den bestimmten Fall, mit oder ohne Beweis durch die Quellen. Er gibt
jedoch die Beziehung zwischen diesen drei Kriterien nicht an. So scheint es, dass sie kumulativ
sind und daher nur die Erfüllung aller drei Kriterien ein Merkmal als angemessen bestimmt und
in Folge dessen als ratio legis für ein Urteil in Frage kommt. (Zur islamwissenschaftlichen
Rezeption dieses Konzepts vgl. Felicitas Opwis: Maṣlaḥa and the Purpose of Law, Leiden
2010, S. 91f.; sowie die klassischen Arbeiten von Goldziher: Die Ẓâhiriten: ihr Lehrsystem und
ihre Geschichte; Nagel: Die Festung des Glaubens.)
60 Für die Rechtfertigung seiner Anerkennung des taʿlīl-Konzepts führt ar-Rāzī folgende
Argumentation aus: „Al-munāsaba tufīdu ẓanna al-ʿilliya, wa-aẓ-ẓannu wāǧibun al-ʿamalu bi-
hi.“ („Die Tatsache, dass Rechtsnorm und menschliches Interesse häufig zusammenpassen,
führt zur Vermutung/Annahme einer Kausalität zwischen den beiden, und jede Annahme muss
bei der Definition von Rechtsnormen berücksichtigt werden.“) (Ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S.
237-242.)
61 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 245f.
62 Wie alle Werke der Rechtstheorie beginnt al-Muwāfaqāt nach einem traditionellen Kapitel über
Definitionen mit einem Abschnitt über die formelle Klassifikation der normativen Quellen (al-
adilla aš-šarʿiyya). Bei dem Begriff „normative Quellen“ handelt es sich um die wortwörtliche
Wiedergabe von Beweisen (al-adilla aš-šarʿiyya), die kaum zufriedenstellend ist. In Anlehnung
an eine bestimmte arabische Übersetzungstradition wird allerdings in dieser Arbeit von Fall zu
Fall entschieden, ob man sich aus Erleichterung für den Leser an die gängigen Übersetzungen
hält oder nicht.
63 Aš-Šāṭibī verwendet abwechselnd den Begriff qiyās und den Begriff raʾy für die Bezeichnung
der vierten normativen Quelle. (Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 3, S. 29.)
64 Ebd., Bd. 3, S. 29.
65 Wie aš-Šāṭibī an verschiedenen Stellen im Buch zeigt, stammt diese Klassifizierung der
normativen Quellen aus der Tradition aš-Šāfiʿīs, der sie fast identisch auflistet, auch wenn die
Kategorien nicht immer gleich benannt sind. In der Forschung gibt es dazu aber auch
Gegenstimmen: “The usual account of the Risālah’s contents - namely, that aš-Šāfiʿī has a
Theory of ‘Four sources’ of law, does not correspond to what one actually finds in the Risāla.”
(Joseph E. Lowry: „Does Shāfiʿī have a Theory of Four Sources of Law?“, in: Bernhard G.
Weiss (Hg.): Studies in Islamic Legal Theory, Leiden/Boston/Köln 2002, S. 23-50.)
66 Was so viel bedeutet wie „Not bricht Gebot“.
67 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 3, S. 29. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 218.
68 Vgl. Opwis: Maṣlaḥa and the Purpose of Law, S. 89ff.
erlaube aber nicht, rationale Moralbegriffe an die Stelle von Textautorität und
Gelehrtentradition zu setzen. Logisch betrachtet sei die Erschließung des Urteils aus
den ersten Prämissen des qiyās ein rationaler Akt. Jedoch falle die ratio legis, die
maßgeblich zu einer Urteilsfindung verhilft, unter die Kategorie des „gewusst bzw.
erfahrenen“ (maʿrūf), was sowohl sichere Erkenntnis, die den Textquellen oder
Sitten entspringt als auch vermutetes wahrscheinliches Wissen (ʿilm ẓannī) im Sinne
einer Deliberation über moralische Diskursabsichten einschließt. Daher sind die
normativen Quellen insofern grundsätzlich in der ersten Quellen-Kategorie (Koran
und Sunna) verankert, als man die zweite Kategorie (Konsens und freie
Urteilsfindung) nicht durch die Vernunft, sondern durch die erste Kategorie
festlegt.69
„wenn man über die Textgrundlagen der Sunna nachdenkt, ergibt sich, dass
sie lediglich Erläuterungen des Korans darstellen. Und dies ist ihr allgemei-
ner Charakter.“70
Aš-Šāṭibī geht in seiner diskursbezogenen Moraltheorie offenbar von einem
Rationalitätsbegriff aus, bei dem die Begründbarkeit von Rechtsnormen im
Wesentlichen mit deren Konsistenz und Kohärenz im Kontext der Auslegungstradi-
tion des Korans zusammenhängt. Die hier aufgestellte These, dass eine reine
rationale Letztbegründung von Moralnormen zum Scheitern verurteilt sei, speist sich
aus dem Gedanken, dass weder Vernunft noch Offenbarung einen alleinigen
Anspruch auf eine absolut plausible Rechtfertigung vom ethischen Urteil erheben
könnten, da von der bei der Urteilsfindung in Gang gesetzten Deliberation über
Diskursabsichten und Handlungsziele gleichermaßen von normativen Quellen und
deren Auslegung durch die Vernunft auszugehen ist. 71
Der normative Offenbarungsdiskurs (ḫiṭāb aš-šarʿ) bleibt hingegen die Quelle
der Beweiskraft von iǧmāʿ und raʾy. Auch ar-Rāzī hing dieser Meinung an.
Allerdings setzte er den Schwerpunkt an anderer Stelle, indem er sich auf die
Angemessenheit als einen Indikator zur Erkennung der ratio legis (ʿilliyya) der
Urteile fokussierte, 72 während aš-Šāṭibī das Interesse auf deren Ableitungsart im
Kontext richtete:
69 Dazu äußert sich aš-Šāṭibī in al-Muwāfaqāt ausdrücklich: „für die Einschränkung der
normativen Quellen bezogen auf die Offenbarungstexte“ Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 3, S. 30.
70 Ebd., Bd. 3, S. 31. Für den arab. Wortlaut siehe oben, S. 219.
71 Aš-Šāṭibī betont ausdrücklich im ersten Band von al-Muwāfaqāt (genannt: al-Muqaddimāt wa-
l-aḥkām), dass den textuellen normativen Quellen kein absoluter Wert (qaṭʿī) zuzuordnen sei,
wenn die rationalen normativen Quellen (qiyās, raʾy) dies nicht zuließen. Genauso wie der
iǧmāʿ der Zuverlässigkeit und der Richtigkeit der Überlieferung diene, helfe der qiyās bzw. raʾy
bei der inhaltlichen Zusammenführung von den sich auf eine vergleichbare Rechtsnorm
beziehenden, disparaten Texten des naql, um daraus Aufschluss über die Intention des
Gesetzgebers zu erlangen (Vgl. ebd., Bd. 1, S. 19ff.)
72 Vgl. Goodman: „Did al-Ghazali Deny Causality?“, S. 48,87; ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 327.
„Wenn man die Tatsache betrachtet, dass der Konsens, die Einzelüberlie-
ferung und die Analogie auch Beweisquellen darstellen können, so lässt sich
das auf diese Zusammenhänge untereinander [, dass sie sich aufeinander
beziehen und voneinander abhängig sind,] zurückführen, weil ihre Beweise
[die der Rechtsquellen] aus kaum eingrenzbaren Stellen stammen. Und trotz-
dem gehen diese verbindlichen Rechtsquellen auf verschiedene Zusammen-
hänge zurück, die sich nicht in einer Kategorie zusammenfassen lassen.
Wichtig ist, dass diese Quellen denselben Zweck haben, nämlich die Beweis-
führung. Und wenn sich die normativen Quellen für den Gelehrten ver-
mischen, so entsteht die Möglichkeit einer Anfechtung der Rechtsquellen.
Die früheren Rechtsgelehrten haben diese Angelegenheit jedoch nicht be-
rücksichtigt und auch kaum darauf hingewiesen, sodass die Nachfahren diese
ebenfalls vernachlässigten. Auf diese Weise erschwerte sich die Beweisfüh-
rung durch einzelne Koranverse oder Hadithe insofern, als man sie nicht
unter Berücksichtigung des Konsenses einbezogen hat. So erhob man Ein-
spruch gegen diese normativen Quellen, einen nach dem anderen. Daraufhin
wurde die Argumentation aufgrund dessen als schwach eingestuft, entgegen
der Regeln der Ableitung, die auf eine klare und unanfechtbare Gesetzgebung
abzielen sollten. Denn wenn man, so wie die Gegenposition es vertritt, die
normativen Quellen der šarīʿa hinsichtlich deren universalen und deren
praxisbezogenen Eigenschaften betrachtet, [indem] man nämlich die normati-
ven Quellen der šarīʿa bei der Rechtsaufstellung gesondert heranzieht, so
würde man ohne Einbeziehung der Vernunft zu keinem rechtskräftigen Urteil
gelangen. Dabei ist das Beziehungsfeld der Vernunft dem Glauben unterge-
ordnet. Dieses Ordnungsschema erweist sich bei der Hierarchisierung der
normativen Quellen als unentbehrlich.“73
Hier soll nun auf die von aš-Šāṭibī vorgeschlagene Neudefinition der Sunna als
„Zweite Textquelle“ aufmerksam gemacht werden. Vorher waren qawl (Aussage),
fiʿl (Tat) und iqrār (Billigung) des Propheten (sas) unter einer einzigen Kategorie
subsumiert. Aš-Šāṭibī betrachtet die Sunna jedoch als alleinigen Referenzrahmen der
Aussagen des Propheten (sas). Sie ist dem Propheten (sas) das gleiche, was der
Koran für Gott ist. Neben der Sunna des Propheten (sas) gibt es seine Taten und
Billigung, die nur teilweise Beweiskraft im rechtlichen Bereich haben, insbesondere
wenn sie durch eine Einzelüberlieferung tradiert werden. 74 Bemerkenswert ist der
Aufruf aš-Šāṭibīs, die Beweiskraft der Aussagen des Propheten (sas) bei
zweifelhaften Überlieferungen in Bezug auf den Koran zu überprüfen. Dies bestätigt
die Annahme, dass aš-Šāṭibī von einer gewissen autonomen Koranethik ausgeht, die
als Grundlage einer überlieferungskritischen Befragung autoritativer Quellen dienen
73 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 25. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 219.
74 Vgl. ebd., Bd. 3, S. 13, Bd. 4, S. 8.
soll. Hier zitiert aš-Šāṭibī eine Aussage von ʿĪsā ibn al-Abān (gest. 221/835-6), ohne
dabei seine Meinung explizit zu vertreten:
„Und bei ʿĪsā ibn al-Abān [liest man]: Wenn euch ein Hadith des Propheten
vorgetragen wird, so vergleicht ihn mit dem Buch Gottes. Wenn er damit
übereinstimmt, so akzeptiert ihn, und wenn nicht, dann lehnt ihn ab.“ 75
Zuletzt hebt aš-Šāṭibī hervor, dass die Pflichtenlehre primär als Produkt der
Auslegung normativer Aussagen anzusehen sei. Dieses Postulat trage zur Klärung
seines methodischen Umdenkens bei, die rational erschlossenen Quellen nicht
unabhängig von den Textquellen zu behandeln. Die Kontroverse der Verhältnis-
bestimmung zwischen Textquellen und Vernunft-reflexion in den uṣūl al-fiqh wurde
damit hermeneutisch neu aufgestellt.76 Betrachtet man aš-Šāṭibīs Haltung zur
kausalen Begründungstheorie, so wird deutlich, dass er sich über die Möglichkeit,
für seine Moralbegründung in den drei syllogistischen Sätzen zu argumentieren,
hinwegsetzt.
75 Ebd., Bd. 3, S. 13. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 219.
76 Denn während im ersten Teil von al-Muwāfaqāt eine gewisse Entschlossenheit zum Ausdruck
gebracht wird, den rationalen normativen Quellen wie dem qiyās eine eigenständige
Abhandlung zu widmen, wird dies erneut im dritten Teil infrage gestellt, mit der Begründung,
dass jegliche Behandlung von adilla vom Koran und der Sunna auszugehen hat (Vgl. ebd., Bd.
3, S. 257.)
77 Ar-Rāzī zitiert zahlreiche Koranverse, die die Offenbarung der göttlichen Mitteilung als raḥma,
yusr oder tasḫīr beschreiben. Ar-Rāzī wird vorgeworfen, etwas zum Ausdruck zu bringen, was
kein ašʿaritischer Gelehrter zu denken wagen würde. (Vgl. ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 242.)
mit Berufung auf normative Quellen, die den taʿlīl ausdrücklich befürworten
sollen.78
Rationaltheologisch übertrifft die Darstellung ar-Rāzīs hinsichtlich der
Kontroverse rationaler Begründbarkeit der šarīʿa bei weitem die von aš-Šāṭibī in
Kitāb al-aḥkām durchgeführte Analyse der Zielsetzung und der Zweckbestimmung
göttlicher Rechtsnormen insofern, als es ar-Rāzī besser gelungen ist, methodisch
zwischen dem Ansatz der Rationaltheologen und dem der Rechtsgelehrten zu
unterscheiden. Vielleicht liegt dies daran, dass zu Lebzeiten ar-Rāzīs die Diskussion
zwischen den Mutakallimūn und den Fuqahāʾ an Heftigkeit noch nicht verloren
hatte. Andererseits muss daran erinnert werden, dass die hauptsächlichen Diskurs-
Protagonisten aš-Šāṭibīs die Mystiker seiner Epoche waren, da die Kalām-
Wissenschaft im 9./15. Jahrhundert in Andalusien sowohl von den Mystikern, als
auch von den Rechtsgelehrten mit der Ketzerei gleichgesetzt wurde, wie dies in der
muqaddima al-kalāmiyya von al-Muwāfaqāt deutlich zum Ausdruck gebracht
wird.79
Aš-Šāṭibī verdankt ar-Rāzī eine klare methodische Trennung zwischen dem
muʿtazilitischen und dem ašʿaritischen rechtstheoretischen Ansatz in Bezug auf die
rationale Begründung der šarīʿa, die Ersterem zur Erarbeitung seiner innovativen
Intentionstheorie verhalf. Denn die Besonderheit von aš-Šāṭibīs Ansatz entstand aus
seinem Versuch, auf der Grundlage von ar-Rāzis These einen Mittelweg zwischen
muʿtazilitischer und ašʿaritscher Auffassung zu finden. Ausschlaggebend ist dabei
ar-Rāzīs Aussage gewesen, in der er erklärt:
„Es wurde ein Konsens darüber erzielt, dass die Rechtsvorschriften ein
Gemeinwohl sind. Entweder, weil sie es sein müssen, wie die [Bewegung
der] Muʿtazila sagte, oder aber weil sie es aus dem Wohlwollen [Gottes]
heraus sind, wie wir sagen.“80
78 Es handelt sich um die auch von aš-Šāṭibī als Beweisführung für taʿlīl verwendeten Koranverse,
nämlich: (Q 21:107): „Und Wir haben dich nur als Barmherzigkeit für die Weltenbewohner
gesandt“; (Q 2:29): „Er ist es, Der für euch alles, was auf der Erde ist, erschuf und Sich
hierauf dem Himmel zuwandte und ihn dann zu sieben Himmeln formte; und Er ist aller
(Dinge) kundig.“; (Q 45:13): „Und Er hat euch alles, was in den Himmeln und was auf der
Erde ist, dienstbar gemacht, alles von Sich aus. Darin sind wahrlich Zeichen für Leute, die
nachdenken“; (Q 22:78): „Und müht euch für Allah ab, wie der wahre Einsatz für Ihn sein soll.
Er hat euch erwählt und euch in der Religion keine Bedrängnis auferlegt, dem
Glaubensbekenntnis eures Vaters Ibrahim: Er hat euch Muslime genannt, zuvor und (nunmehr)
in diesem (Koran), damit der Gesandte Zeuge über euch sei und ihr Zeugen über die Menschen
seid. So verrichtet das Gebet, entrichtet die Abgabe und haltet an Allah fest. Er ist euer
Schutzherr. Wie trefflich ist doch der Schutzherr, und wie trefflich ist der Helfer!“. (Vgl. Robert
Brunschvig: „Devoir et Pouvoir. Histoire d'un Problème de Theologie Musulmane“, in: Studia
Islamica 20 (1964), S. 5-46.)
79 Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 1, S. 35ff.
80 Ar-Rāzī: al-Maḥṣūl, Bd. 2, S. 291. Für den arabischen Wortlaut siehe oben, S. 219.
Auf der Suche nach einer Alternative zu dem von der Muʿtazila verteidigten
rational-dialektischen Verhältnis zwischen Rechtsnorm und Interesse ist es aš-Šāṭibī
gelungen, das auf einem Zufall basierende Verhältnis zwischen ḥukm und maṣlaḥa
von den Ašʿariten zu systematisieren. 81 Eine Auseinandersetzung mit der
philosophischen Argumentation Ibn Ḥazms bezüglich des taʿlīl-Konzepts hätte aš-
Šāṭibī jedoch viel weiter gebracht als die Diskussion über die ziemlich eindeutige
Position ar-Rāzīs. Schließlich begründete Ibn Ḥazm gemäß der andalusischen
Tradition seine Ablehnung von taʿlīl durch die zur damaligen Zeit epistemologisch
etablierte Trennung zwischen der Sphäre des religiösen und der des weltlichen
geisteswissenschaftlichen Denkens. Der weltlich-pragmatische Sinn religiöser
Rechtsnormen könne, nach Ibn Ḥazms Auffassung, nur intertextuell erkundet
werden. Die Anerkennung eines weltlichen Zwecks hinter dem Rechtsdiskurs
komme seiner Meinung nach nur in Frage, wenn die offenbarten Texte explizit
darauf Bezug nehmen, sonst seien die Gebote Gottes nicht durch eine weltliche
Sinngebung zu begründen. Diese Haltung ist für die Ẓāhiriten typisch, und so kann
sich Ibn Ḥazm auf Vordenker berufen:
„Und diese sagten: Über all das, was nicht in der šarīʿa durch einen [Quell-]
Text untermauert wurde, ist es nicht erlaubt zu sagen, dass es der Grund für
dieses oder jenes sein kann. Abū Sulaymān [Dāwūd ibn ʿAlī, gest. 270/884]
und all seine Anhänger, Gottes Wohlgefallen auf ihnen, sagten: ‚Gott stellt
die Rechtsbestimmungen grundsätzlich nicht für eine bestimmte causa auf.
Wenn Gott der Erhabene oder sein Gesandter festgeschrieben haben, dass
irgendein Sachverhalt dieses oder jenes Ziel erfüllt hat, so wissen wir, dass
Gott Anlässe für jegliche Ereignisse [Sachverhalte und Ziele] erschaffen hat,
die [ihrerseits] dem Offenbarungsgeschehen als Handlungsumfeld
dienten.‘“82
Ibn Ḥazm geht soweit, die rationale Begründung der Rechtsnormen und den
Analogieschluss als Satanswerk zu bezeichnen, da Satan das einzige Wesen
gewesen sei, das es gewagt habe, Gott nach den Beweggründen seiner Taten zu
fragen, indem er sich dem Befehl Gottes, vor Adam niederzuknien, widersetzte. 83
Dass man Gott nicht nach Seinen Handlungsmotiven fragen dürfe, sei nach Ibn
Ḥazm im Koran verankert. So heißt es dort: „Er wird nicht gefragt nach dem, was
Er tut; sie werden aber gefragt.“ (Q 21:23)
Wenn man die Argumentation Ibn Ḥazms genauer betrachtet, stellt man fest,
dass der Unterschied zwischen seiner Position und der von aš-Šāṭibī hinsichtlich von
taʿlīl keinesfalls auf einer sachlichen Grundlage basiert.84 Ibn Ḥazm gibt selbst zu,
dass sein Streit mit den Anhängern des taʿlīl-Konzepts der uneinheitlichen Verwen-
dungsweise mehrdeutiger Begriffe geschuldet sei. So betont er:
„Und die Wurzel allen Unheils, Blindheit, Verwirrung und Übels ist Ver-
wechslung von Begriffen sowie, dass mit einem Begriff mehrere Bedeutungen
impliziert werden [Vieldeutigkeit]. Verwendet der Sprecher einen Begriff, von
dessen Bedeutungen er nur eine bestimmte beabsichtigt und der Hörer versteht
es auf eine andere Art und Weise als vom Sprecher gemeint, so entsteht Unheil
und Komplexität. Insofern haben wir die vier Begriffe causa, Motiv,
[unmittelbarer] Grund und Zeichen erläutert und wir haben erklärt, dass deren
Bedeutungen auf verschiedene Denkinhalte verweisen und dass ihre Begriffs-
inhalte verschieden sind. Und wir haben diesen Unklarheiten ein Ende gesetzt,
indem wir die Begriffe causa und Grund deutlich voneinander abgegrenzt
haben.“85
Dies erklärt wahrscheinlich die etwas zurückhaltende Stellungnahme aš-Šāṭibīs
gegenüber der Haltung der Ẓāhiriten im Allgemeinen, und der von Ibn Ḥazm im
Besonderen.86
Ibn Ḥazm geht es in erster Linie darum, die logische und philosophische
Verwendung des Worts ʿilla (causa), die historisch belegt ist, auf den philoso-
phischen Diskurs zu beschränken. Der Begriff causa habe im rechtlich-religiösen
Diskurs nichts zu suchen, so sein Hauptargument. Deshalb schlägt er den Rechts-
gelehrten vor, in der Kontextsuche nach dem Zweck religiöser Rechtsgebote, den
etwas weniger fachlichen Ausdruck sabab anstatt ʿilla zu gebrauchen, da dieser
nicht zwingend eine Relation zwischen ḥukm und ġaraḍ 87 impliziert.
84 An dieser Stelle trifft die bezüglich der qiyās-Skeptiker allgemeine Aussage auf Ibn Ḥazms
Standpunkt zu: „Analogie ist [...] nur zulässig, wenn sie sich nach dem göttlichen Willen
richtet, sofern dieser überhaupt für uns Menschen auf den Begriff zu bringen ist.“ (Nagel: Die
Festung des Glaubens, S. 196.)
85 Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, Bd. 8, S. 583 (für den arab. Wortlaut siehe oben, S. 220).
Anders als in der Beiruter Edition der „Dār al-kutub al-ʿilmiyya“ von 1985, die hier als Grund-
lage dient, wird die o.g. Aussage Ibn Ḥazms in einer früheren Beiruter Edition (nämlich der von
1983, Dār al-āfāq) in leicht veränderter Form überliefert. Jedoch unterstützen beide Lesarten die
ablehnende Haltung Ibn Ḥazms gegenüber der durch verschiedene Begriffskonnotationen
entstandenen Konfusion.
86 Aš-Šāṭibī zeigt eine gewisse Sympathie für die Ẓāhiriten, insbesondere im Kontext seiner
Abhandlung über Verbote und Gebote, sowie bezüglich der aḥkām. (Aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt,
Bd. 1, S. 61f.)
87 Dem Begriff ġaraḍ wird von Ibn Ḥazm der Vorzug gegenüber ʿilla, sabab, maʿnā und ʿalāma
gegeben. (Vgl. Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, Bd. 8, S. 605.) Im Hintergrund dieser
terminologischen Entscheidung steht die Absicht Ibn Ḥazms, zwischen der juristischen und der
philosophischen Terminologie eine klare Trennung zu ziehen.
Die ʿilla ist, nach Ibn Ḥazms Ansicht, alles andere als sabab, da erstere eine
Eigenschaft bezeichnet, die das sich Ereignen eines Sachverhaltes unmittelbar
erzwingt. Die ʿilla und die daraus resultierende Wirkung (maʿlūl) sind so
unzertrennlich, wie das Feuer und der daraus entstehende Brand.
„Der Unterschied zwischen ʿilla und sabab, sowie der zwischen Zeichen und
Motiv ist explizit und eindeutig, sodass jeder Gültigkeit in seinem (Begriffs-)
Spektrum genießt, und keiner eine Begründung benötigt, weder in der šarīʿa,
noch durch eine Beurteilung mit Hilfe eines Analogieschlusses. So wahr Gott
uns (bei der Klarstellung) helfe, sagen wir: ʿilla ist ein Begriff für jede
Eigenschaft, die einen Sachverhalt als notwendig voraussetzt. Denn causa
lässt sich überhaupt nicht von der Wirkung trennen, so wie das Feuer die
causa des Brennens ist […] kann grundsätzlich keiner von beiden ohne den
Anderen existieren und geht keines von beiden dem anderen zeitlich
voraus.“88
Sabab erzwingt laut Ibn Ḥazms These keineswegs das sich Ereignen der mit ihm
hypothetisch verbundenen Wirkung (musabbab). Der Zorn kann z.B. eine Ursache
für den Sieg sein und infolgedessen den Sieg tatsächlich herbeiführen. Die
Entscheidung des Sieges liegt aber beim Zornigen insofern, als er über den Willen
verfügt, zu siegen oder nicht.
Ibn Ḥazms Vorstellung der ʿilla war aš-Šāṭibī zu philosophisch.89 Sie wurde von
aš-Šāṭibī in der theologischen Einleitung der al-Muwāfaqāt-Abhandlung scharf
kritisiert, weil sie impliziert, dass die Formulierung der Rechtsnormen aufgrund der
damit verbundenen Wirkungen dem Gesetzgeber aufgezwungen worden sei. Aš-
Šāṭibī schließt sich damit der sunnitischen Tradition an, die besagt, dass der
Gesetzgeber sich freiwillig, eigenmächtig und gezielt selbstverpflichtet, die mit der
Formulierung der Rechtsnormen in Zusammenhang stehenden Gründe zu
berücksichtigen.90 Die in der šarīʿa enthaltene Bewahrung des menschlichen
Interesses sei der Gnade, Huld und Gunst Gottes.
Was aš-Šāṭibī an dem Konzept sabab der Ẓāhiriten störte, ist die Tatsache, dass
dadurch jedes interpretative Räsonnement auf der Grundlage des Textes im Vorfeld
ausgeschlossen zu sein scheint. Aš-Šāṭibīs Skepsis gegenüber Ibn Ḥazms
Terminologie ist nicht unbegründet insofern, als Ibn Ḥazm selbst jede Annäherung
zwischen ʿilla und maʿnā (Sinn/Bedeutung) vehement bekämpfte. So schreibt er:
„Und die causa [einer Handlung] wurde auch Bedeutung [einer Handlung]
genannt, und dies ist ein maßloser Unfug, denn die Bezüge [zwischen causa
88 Vgl. ebd., Bd. 8, S. 603. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 220.
89 Das Konzept der Ursache bei Ibn Ḥazm basiert auf einem epistemischen Wahrheitsbegriff, der
die Wahrheit auf nicht-metaphysische Objektivität einschränkt.
90 In diesem Zusammenhang meint aš-Šāṭibī ʿilla ǧaʿliyya „von Gott geschaffene ‚ratio legis‘
bzw. ‚ratio‘“. (Bezüglich der Übersetzung vgl. Goldziher: Die Ẓâhiriten: ihr Lehrsystem und
ihre Geschichte, S. 11.)
und Bedeutung] sind nicht korrekt, da die Bedeutung eine Erläuterung des
Wortlauts ist.“91
In diesem Kontext entstand die Idee bei Ibn Ḥazm, den am meisten bei sunnitischen
Rechtsgelehrten92 verbreiteten Begriff qaṣd, der rhetorisch belegt ist, durch den
allgemeinen Terminus ġaraḍ zu ersetzen. Für Ibn Ḥazm ist die Unterscheidung
zwischen sabab, den er als Alternative zu ʿilla vorschlägt und ġaraḍ von
grundlegender Bedeutung. So betont er:
„Aber der Grund entspricht jedem Sachverhalt, für dessen Erfüllung der [frei]
Handelnde eine Tat vollzogen hat und wenn er es nicht gewollt hätte, hätte er
es nicht gemacht. [...] Was das Motiv angeht, so ist es ein Sachverhalt, den
der Handelnde [aktiv] anstrebt und in die Tat umsetzt.“93
Ibn Ḥazm scheint dem Konzept aš-Šāṭibīs näher zu stehen, wenn er erläutert, dass
hinter den Rechtsnormen Gründe (asbāb) liegen können, und dass die Rechtsnormen
infolgedessen Ergebnisse (musabbabāt) dieser Gründe sein können. Jedoch schränkt
er diese Regel erheblich ein, indem er einerseits bekräftigt, dass die kausalen
Beziehungen zwischen Rechtsnormen und ihren Ursachen keinesfalls deduktiv
ausgehend vom Text erschlossen werden können, und dass andererseits der
ultimative Zweck der Rechtsnormen nichts anderes als das Glück im Jenseits sei.
Dass Ibn Ḥazms Standpunkt in Bezug auf die Begründbarkeit der Rechtsnormen
komplizierter war als manche Rechtsgelehrten dachten, wurde aš-Šāṭibī spätestens in
der Diskussion um maṣlaḥa deutlich. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang
die Aussage Ibn Ḥazms bezüglich des Alkoholverbots, in der er die Frage stellt:
Wenn der Alkohol wegen seiner berauschenden Wirkung verboten worden sei,
warum wurde er in den früheren Offenbarungen, sprich Thora und Bibel, nicht
verboten und weshalb war er in früheren Zeiten des Islams erlaubt? Sein Fazit lautet:
„Wenn Torheit und Trunkenheit der Grund für das Verbot des Alkohols
wären, so hätte Allāh ihn [Alkohol] von Beginn an verboten, dabei war er
[Alkohol] hingegen jahrelang im Islam erlaubt.“94
Dem taʿlīl-Verfahren Ibn Ḥazms sind mit der durchaus rational nachvollziehbaren
Achtung des Willen Gottes klare Grenzen gezogen. Sein Standpunkt, wie der aller
Ẓāhiriten, war ein Produkt des kaum lösbaren Paradoxons: Wie kann man die šarīʿa
auf der einen Seite als den Inbegriff einer von Gott gegebenen Ordnung betrachten,
wenn man auf der anderen Seite darauf beharrt, dass die Umsetzung der
Rechtsnormen im Alltagsleben von rational erschlossenen Zweckerwägungen
91 Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, Bd. 8, S. 603. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 220.
92 Es sind hier insbesondere die Rechtsgelehrten gemeint, die die Intentionstheorie in der
Rechtswissenschaft begründet haben, wie al-Ǧuwaynī, al-Qarāfī, ʿAbd ar-Raḥmān al-Isnawī
(gest. 772/1370), Ibn ʿAbd as-Salām und al-Ġazālī (siehe Kapitel 1).
93 Ibn Ḥazm: al-Iḥkām fī uṣūl al-aḥkām, Bd. 8, S. 603. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 220.
94 Ebd., Bd. 8, S. 609. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 220.
abhängig zu machen sind? Solch eine Fragestellung wurde von aš-Šāṭibī hingegen
vermieden, da er darin eine Art Vermischung zwischen dem Wort Gottes und Gott
selbst sah. Nach aš-Šāṭibīs Auffassung ziele die Begründung der Rechtsnormen
lediglich darauf ab, ein besseres Verständnis des juristischen Diskurses zu
ermöglichen. Bei dem taʿlīl gehe es nicht um eine logisch-philosophische
Begründung der šarīʿa, sondern vielmehr um einen hermeneutischen Ansatz, der die
Ableitung der Rechtsgebote von den heiligen Texten anhand eines argumentativen
Räsonnements zu gestalten versuche.
95 Der Begriff stammt aus der analytischen Philosophie, zu deren Begründern Gottlob Frege und
Ludwig Wittgenstein gehören. Nach der Auffassung von Paul Grice, einem der prominenten
Sprachphilosophen der Moderne, erfolgt die Definition des Sinns einer Aussage nur durch eine
rationale Erschließung, der sowohl linguistische (syntaktische Struktur des Textes) als auch
extra-linguistische Faktoren (Kontext, Situation, Umfeld, etc.) als Grundlage dienen. Ludwig
Wittgenstein zufolge sind Sprechakte sowie Verhaltensnormen zwar wertneutral, jedoch ist er
der Meinung, dass jede „Verhaltensregel nicht nur formuliert, sondern auch in einem konkreten
Kontext angewendet werden können muss, um ihre lebenspraktische Bedeutung zu entfalten.“
(Rebekka Klein: „Nächstenliebe als transgressive Norm. Situationsethik und die Heuristik
kontextueller Verhaltensorientierungen“, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 56 (2012), S.
40f.) Die Inferenz oder der Rückschluss zielt darauf ab, ein Sprach- oder Handlungsverhalten
mit Berücksichtigung konkreter Anwendungskontexte zu interpretieren. (Vgl. Ludwig
Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a.M., 2001, S. 220f.)
96 Voluntarismus bedeutet hier, dass man seinen Blickwinkel auf die Natur des Rechts richtet.
Hierbei ist taʿlīl ein Instrument des Zweckrationalismus, das neben dem maqāṣid-Ansatz zur
Analyse der Texte beiträgt, auf denen das Recht basiert. Voluntarismus, so scheint es, führt
geradewegs zu taʿlīl, wohingegen ein taʿlīl-Anhänger nicht zwangsweise ein „Voluntarist“ sein
die Konsequenz der Bedeutung von Wörtern wie maqaṣūd oder ġaraḍ, die man
sowohl mit „beabsichtigt“ als auch mit „gewollt“ übersetzen kann. Für aš-Šāṭibī ist
somit eine beabsichtigte Bedeutung (al-maʿnā al-maqṣūd) eine gewollte Bedeutung
(al-maʿnā al-murād). Die Ẓāhiriten wollten natürlich nicht, dass den Begriffen, die
im Koran Verwendung finden, eine bestimmte Bedeutung zugewiesen wird, für die
es im expliziten Wortlaut des Korans kein Indiz gibt. Hat ein Wort mehrere
lexikalische Bedeutungen, so entsteht der Inhalt der Aussage durch die Isolierung
der „richtigen“ Bedeutung. Ẓāhiritisches Gedankengut und Zweckrationalismus sind
dabei entgegengesetzte Seiten der gleichen Münze. So sieht aš-Šāṭibī keinen
Widerspruch zwischen der Tatsache, dass das Recht vom göttlichen Willen
festgelegt wird und dem Umstand, dass das Recht der göttlichen Intention entspringt
und anders herum.97
„Es gibt Menschen, die behaupten, dass der Koran [zugleich] explizite und
implizite Bedeutungen enthalte […] und al-Ḥasan [al-Baṣrī] […] hat
erläutert, dass das Explizite die deutliche Rezitation sei, und dass das
Implizite das Begreifen dessen sei, was Gott andeuten will, weil Gott der
Erhabene sagte: „Was ist mit diesem Volk, dass sie beinahe keine Aussage
verstehen“ [Q 4:78]. Die Bedeutung davon ist, dass sie [die Menschen] nicht
verstehen, was Gott andeuten will. Er meint damit nicht, dass sie die
Wortbedeutung nicht verstehen. Wie könnte Er das behaupten, wo er [der
Koran] doch in ihrer Sprache herabgesandt wurde? Sondern es geht darum,
dass sie die Aussage Gottes nicht verstehen. Und die explizite [Wort-]
Bedeutung ist eine Sache, die die Empfänger als Araber verstehen können,
während die Ausrichtung der Aussage [von Gottes Wort] eine andere ist. Es
besteht kein Zweifel daran, dass die letztere von Gott herabgesandt worden
ist. Und wenn man nachdenkt, wird man überhaupt keine Streitfragen über
den Koran finden.“98
Der Begriff ẓāhir bezeichnet somit die durch die Sprachkonvention der Araber
festgelegte lexikalische Bedeutung, für aš-Šāṭibī eine Vorstufe der Interpretation,
während das Wort bāṭin das Begreifen vom göttlichen Willen impliziert:
„Sinn und Zweck dieser Aussage ist, dass mit dem Expliziten die arabische
Wortbedeutung und mit dem Impliziten die Ausrichtung der Sprache und des
Diskurses Gottes gemeint sind.“99
muss. (Zum Begriff „Voluntarismus“ vgl. Bernard G. Weiss: The Spirit of Islamic Law, S. 55-
57.)
97 Vgl. aš-Šāṭibī: al-Muwāfaqāt, Bd. 2, S. 23. Nach aš-Šāṭibīs Auffassung vereinigt sich im Fall
der Sunna die göttliche Intention mit dem Willen des Propheten. (Vgl. ebd., Bd. 2, S. 46f.)
98 Ebd., Bd. 3, S. 286. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 221.
99 Ebd., Bd. 3, S. 287. Für den arab. Wortlaut siehe unten, S. 221.
In einer betont diskursiven Perspektive ist der Gedanke einer Subsumierung der
Kausalität in Form einer diskursiven Argumentation bei aš-Šāṭibī dazu bestimmt,
der Absicht Gottes, die den Schlussstein seiner Rechtsableitung bildet, als Stütze zu
dienen. Nun wirft aber diese Vorgehensweise die Frage nach der terminologischen
und hermeneutischen Tragweite der Begriffe Kausalität und Absicht in den
verschiedenen theologischen Ansätzen von neuem wieder auf. Ein Zugang zum aš-
Šāṭibīs Standpunkt zum Verhältnis zwischen Begründungsdenken und Intentionalität
kann sich nur durch eine Gegenüberstellung einschlägiger theologischer
Standpunkte hinsichtlich der Systematisierung inhärenter Charaktereigenschaften
dieser Begriffe ergeben.
Die Begriffsanalyse von qaṣd bei aš-Šāṭibī, die bisher in dieser Abhandlung
absichtlich im Hintergrund gehalten wurde, rief eine Art äußerst nuancierter und
differenzierter Analyse hervor, die sich von al-Ġazālīs bedeutendsten Werken zur
Kausalität und Absicht, al-Iqtiṣād fī l-iʿtiqād100 und Tahāfut al-falāsifa101, herleitet.
Für al-Ġazālī sind die Begriffe niyya, irāda und qaṣd synonyme Ausdrücke, deren
semantischer Gehalt ein „Doppeltes in sich schließt, ein Erkennen und ein Tun.“102
Geprägt von einer gewissen mystischen Sicht schreibt al-Ġazālī qaṣd und niyya
einen nach Innen orientierten transzendentalen Wert zu. Sowohl bei dem einen als
auch bei dem anderen handelt es sich um „die Bewegung des Innern zu dem, was
der Mensch als seinem Ziel angemessen erachtet, sei es für diese oder jene Welt.“ 103
In der Absicht sieht al-Ġazālī lediglich einen Ausdruck des Willens und die
„Bewegung der Seele entsprechend der Begierde und Neigung nach dem hin, was
dem Ziel [...] angemessen ist“.104 Eigenartigerweise lehnt aš-Šāṭibī diese
interiorisierende, heute würde man sagen, phänomenologische, Definition der
maqāṣid entschieden ab.105
In seinen Abhandlungen über maqāṣid vermeidet aš-Šāṭibī bewusst den
Gebrauch von Begriffen wie irāda oder etwa niyya, weil seine Auffassung von qaṣd
eine andere zu sein scheint.106 Zwar vermeidet er leider jede Definition des letzteren,
jedoch lässt eine allgemeine Betrachtung der Gliederung des Kapitels Kitāb al-
Maqāṣid darauf schließen, dass er dem Begriff qaṣd einen besonderen und
methodisch differenzierten semantischen Gehalt zuzuschreiben vermag.
Aš-Šāṭibī unterscheidet bewusst zwischen menschlicher und göttlicher Absicht,
dennoch verwendet er für die beiden Gebrauchsweisen denselben Begriff, nämlich
qaṣd mit derselben analytischen Konnotation. Die methodische Herangehensweise
lässt eindeutige Rückschlüsse auf aš-Šāṭibīs Eigenart des Begriffs qaṣd zu. Durch
seine Verbindung zwischen maqāṣid und ʿilal zielt die Analyse aš-Šāṭibīs darauf ab,
der theologischen Definition der Absicht als Ausrichtung eines Bewusstseins auf
etwas, das vom Subjekt getan werden soll, entgegen zu wirken. Für ihn ist die
Absicht nicht Intentionalität im Sinne Ibn Ḥazms. Qaṣd bezeugt nicht die
Selbsttranszendenz eines Bewusstseins, wie das von dem Begriff niyya suggeriert
wird.
Hierin den Rhetorikern folgend, will aš-Šāṭibī vermutlich nichts von
Phänomenen wissen, die nur der privaten Anschauung zugänglich sind und die
folglich durch eine private, hinweisende Beschreibung erfasst werden könnten.
Deshalb zieht er durch den exklusiven Gebrauch des Begriffs qaṣd eine klare
Grenzlinie zwischen Intention einerseits und anderen Begriffen wie irāda, niyya
oder ġaraḍ andererseits.
Was hat es nun mit der ẓāhiritischen Unterscheidung zwischen sabab, ġaraḍ,
qaṣd und ʿilla auf sich? Nichts in der Etymologie oder in der Geschichte der
Rhetorik über die Verwendung der Begriffe drängt sie auf. Ibn Ḥazms Ablehnung
von taʿlīl scheinen andere tiefgreifende und jenseits der Begriffsanalyse liegende
Bedenken als Hintergrund gedient zu haben. In der Unterscheidung zwischen beiden
Begriffspaaren sabab/ġaraḍ und qaṣd/ʿilla lassen sich unschwer zwei Erbschaften
erkennen: ein theologisch-philosophisches Erbe, in dem die Religion durc