Inna Veleva
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Inwiefern ist der ägyptische Philosoph Muḥammad ʽAbduh als Inspirator und Begründer eines
vermeintlichen Neo-Muʽtazilismus zu bezeichnen?
Gliederung
II. Einleitung…………..…………………………………………………………….…………3
III. Hauptteil……………………………………………………………........................………4
1. Die Muʿtazila…………………………………………………………………………..4
1.1. Der Entstehungskontext der Muʿtazila…………………………..…………….4
1.2. Die muʿtazilitische Glaubenslehre anhand ihrer fünf Hauptprinzipien….…….5
1.2.1. Die Einheit Gottes (tauḥīd)………………………………………………...6
1.2.1.1. Die muʿtazilitische These zur Erschaffenheit des Koran…………..7
1.2.2. Die Gerechtigkeit Gottes (ʿadl)…………………………………………….8
1.2.3. Die Verheißung und die Drohung (al-waʿd wa-l-waʿīd)…………………..9
1.2.4. Das Zwischenstadium zwischen den Gläubigen und den Ungläubigen (al-
manzila baina l-manzilatain)………………………………………..……10
1.2.5. Das Rechte gebieten, das Verwerfliche verbieten (al-amr bi-'l-maʿrūf wa 'l-
nahy ʿan al-munkar)……………………………………………………..11
2. Die Ašʿarīya…………………………………………………………………………..11
2.1. Der Entstehungskontext der Ašʿarīya……………………...…………………12
2.2. Die Glaubenslehre der Ašʿarīya………………………………………………13
IV. Fazit………………………………………………………………………………24
V. Literaturverzeichnis…………………………………………………………..…..25
2
The following research paper deals with the topic of Islamic Rationalism. The intention of the
author is to illuminate the phenomenon of ‘Neo-Muʽtazilism’, while focusing on the question
of Muḥammad ʽAbduh’s dubious identification with the Muʽtazilite ideology of theological
rationalism.
After illustrating the historical evolution of the Muʽtazila the author proceeds by introducing
the diversity of its theological doctrine with emphasis on the five distinctive principles of
Muʽtazilism, i.e. the uniqueness of God (al-tawḥīd), the justice of God (al-ʿadl), the notion of
‘the promise and the threat’ (al-waʿd wa 'l-waʿīd), the theory of the ‘intermediate state’ (al-
manzila bayna 'l-manzilatayn) and finally the religious obligation of commanding the good
and forbidding the evil (al-amr bi-'l-maʿrūf wa 'l-nahy ʿan al-munkar).
Further in her analysis the author dwells upon the ideological origin of the religious teachings
of the As̲ h̲ ʿariyya, emphasizing its moderate position, which is aimed at the reconciliation of
the radical rationalist kalām of the Muʽtazila with the orthodox dicta of revelation. The chosen
intermediate course offered a constructive compromise solution which consists in
accentuating the omnipotence of God and in the meantime preserving the use of dialectic
without subjecting the revelation to a logical reasoning process.
The third chapter of the research paper is dedicated to the controversial debate between
leading orientalists concerning the reputed existence of a specific Muʽtazilite revival. Having
criticized their unflinching determination to portray certain Muslim philosophers as so-called
Neo-Muʽtazilites in regard to the inconsistent methodology of their classification scheme, the
author then continues discussing the topic of Muḥammad ʽAbduh’s alleged reversion to the
Muʽtazilite school of thought.
Exemplifying ʽAbduh’s challenging theological beliefs, as they were advocated by him in his
distinguished treatise “Theology of Unity” (Risālat al-tawḥīd) the author investigates
ʽAbduh’s rather optimistic concept of Islamic dogmas as being thoroughly compatible with
modern science. Nevertheless, after the recapitulation of the sociopolitical context, in which
ʽAbduh presented this rational theosophy of his, the mere notion of ʽAbduh’s being
considered himself the ultimate originator of “La Renouveau du Moʽtazilisme” as formulated
by Caspar still remains quite equivocal due to the lack of a sufficient supporting evidence.
3
II. Einleitung
Ziel meiner wissenschaftlichen Arbeit ist die Problematik der islamischen Rationalismus-
Debatte zu beleuchten, wobei ich mich mit den Auswirkungen der rationalistisch fundierten
Lehren der Muʿtaziliten und ihrer ašʽaritischen Nachfolger auf den modernen islamisch-
theologischen Diskurs auseinandersetzen werde. In der Untersuchung konzentriere ich mich
auf den wissenschaftlich-analytischen Umgang führender Orientalisten mit diesem
‚rationalistischen Erbe des Islam‘1, wobei der thematische Schwerpunkt auf den
islamwissenschaftlichen Rezensionen zu dem umstrittenen Begriff ‚Neo-Muʽtazilismus‘ liegt.
Nach einer Veranschaulichung der durchaus inkonsequenten Kategorisierungssystematik
werde ich abschließend die prekäre Fragestellung erörtern, inwiefern der ägyptische
Philosoph und Sozialreformer Muḥammad ʽAbduh als Begründer der auf interpretativen
Wegen konstatierten muʿtazilitischen Renaissance charakterisiert werden kann.
Im folgenden Absatz möchte ich die Struktur der von mir präsentierten Argumentationskette
verdeutlichen. Im ersten Kapitel meiner Arbeit werde ich die Glaubenslehre der kontroversen
Theologenschule der Muʿtazila anhand der fünf ausformulierten Hauptprinzipien erläutern,
wobei ich noch auf ihren spezifischen Entstehungskontext eingehe. Im zweiten Punkt widme
ich mich der Versöhnungsrolle vom ašʿarītischen Lager als Vermittler zwischen dem
muʿtazilitischen Kalām und der orthodoxen sunnitischen Dogmatik. Um die Relevanz dieser
gewissen Kompromissideologie zu veranschaulichen, werde ich zuerst den Aufstieg der
ašʿarītischen Denkschule aufzeichnen und anschließend die historisch bedingte ideologische
Ausrichtung der Ašʿarīya skizzieren. Im dritten Kapitel der Arbeit polemisiere ich die
islamwissenschaftliche Debatte um die vermeintliche Existenz einer neo-muʽtazilitischen
Strömung, indem ich die widersprüchlichen Ansichten fünf tonangebender
Islamwissenschaftler miteinander vergleichend analysiere. Die Frage nach der vermutlichen
Zugehörigkeit Muḥammad ʽAbduhs zu einem abstrakten neo-muʽtazilitischen Ideenlager wird
anhand der in seiner bedeutendster Schrift „Risālat at-tauḥīd“ niedergelegten theologischen
Einsichten noch detaillierter in dem letzten Kapitel diskutiert.
1
Die folgende Formulierung wurde übernommen von Thomas Hildebrandt, vgl. Thomas Hildebrandt, Neo-
Mu‘tazilismus?, Intention und Kontext im Umgang mit dem rationalistischen Erbe des Islam, Leiden: Brill, 2007
[im Folgenden: Thomas Hildebrandt, Neo-Mu‘tazilismus?];
4
III. Hauptteil
1. Die Muʿtazila
Die religiöse Bewegung der Muʿtazila wurde in der zweiten Hälfte des 2./8. Jahrhunderts in
Baṣra von Wāṣil Ibn ʿAṭāʾ (st. 131/748) gegründet, nachdem er sich infolge einer
ideologischen Diskussion zum Sonderstand des schwer gesündigten Muslims (murtakib al-
kabīra) von der Denkschule seines qadaritisch geprägten Mentors al-Ḥasan al-Baṣrī (st.
110/728) abgespalten hatte2. Der Name der rationalistisch fundierten Strömung entstammt aus
dem arabischen Verb iʿtazala, welches sich auf den aufgeführten Akt des Abtrennens seitens
Wāṣil Ibn ʿAṭāʾ bezieht3. Obwohl ein zusätzlicher Anhänger von al-Ḥasan al-Baṣrī – ʿAmr
Ibn ʿUbaid (st. 144/761) – ebenfalls als Gründungsvater der Muʿtazila bezeichnet wird, sollte
darauf hingewiesen werden, dass er sich dem muʿtazilitischen Kreis um Wāṣil Ibn ʿAṭāʾ erst
nach dem Tode seines Lehrers angeschlossen hat4.
Während der Frevler nach al-Ḥasan al-Baṣrī als ein ‚Hypokrit‘ (munāfiq) abgestempelt
werden sollte, beharrte Wāṣil Ibn ʿAṭāʾ auf dem von ihm vorgeschlagenen Terminus
‚Missetäter‘ (fāsiq), was den Bestand einer gewissen Zwischenstufe für den vom
2
Vgl. dazu: Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu‘tazilismus?“, S. 123
3
Nachdem sich Wāṣil Ibn ʿAṭāʾ aus der DebaEe zurückgezogen haEe, sollte al-Ḥasan al-Baṣrī die Protestaktion
seines abtrünnigen Schülers mit den folgenden Worten kommentiert haben: „Wāṣil hat sich von uns
abgetrennt“ (iʿtazala ʿannā), Vgl. dazu: Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 123
Noch zur Ursprung des Begriffs Muʿtazila: Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second
Edition
4
Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
5
Ausgehend von den vorzüglichen Beziehungen von Wāṣil Ibn ʿAṭāʾ zu den ʿAliden Medinas
und der privilegierten Stellung der Muʿtazila-Schule unter den frühen ʿAbbasiden vermutete
Nyberg11, dass sich hinter der neu etablierten Missionsbewegung eine politische Agenda
verbarg. Trotz dieser bedenklichen Spekulationen scheint die religiös begründete Bestrebung
nach einer grenzübergreifenden theologischen Aufklärung der Gesellschaft die intrinsische
Motivation der Muʿtazila dominiert zu haben12.
Die ideologischen Grundlagen der Glaubenslehre der Muʿtazila lassen sich am prägnantesten
anhand der fünf von Abū 'l-Hud̲ ail13 ausformulierten Hauptprinzipien (uṣūl ḫamsa) skizzieren,
von denen jedoch die ersten zwei – der Glaube an die Einheit (tauḥīd) und an die
Gerechtigkeit (ʿadl) Gottes – den Kern des rationalistischen Gedankenguts der selbst
5
Ebd.: „Muʿtazila”
6
Giorgio Levi Della Vida, "Ḵh̲ ārid̲ jites".
̲ In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition, Brill, 2010. Brill Online.
7
Camila Adang, "Belief and Unbelief". In: Encyclopaedia of the Qurʾān, Washington DC. Brill, 2010. Brill Online.
8
Wilferd Madelung, "Murd̲ jiʾa."
̲ Encyclopaedia of Islam, Second Edition
9
Camila Adang, "Belief and Unbelief". In: Encyclopaedia of the Qurʾān.
10
Vgl. dazu: Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 124
11
Henrik Samuel Nyberg, "al-Muʿtazila ". In: First Encyclopaedia of Islam 1913-1936, Vol. 3, Brill 1987; S. 850-56
12
Vgl. dazu: Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 126
13
Vgl. dazu: Suleiman A. Mourad, „Abū 'l-Hud̲ ail“. In: Encyclopaedia of Islam, Third Edition
6
ernannten ahl al-ʿadl wa-t-tauḥīd14 (buchstäblich: ‚Vertreter der Gerechtigkeit und der
Einheit Gottes‘) ausmachten15.
Die muʿtazilitische tauḥīd-Lehre übertrifft deutlich die reine Ausführung vom klassischen
Monotheismus, indem sie die absolute Einzigartigkeit und Transzendenz Gottes akzentuiert
und jede Form von Anthropomorphismus (tašbīh bzw. taǧsīm)16 strikt ablehnt17. Das
‚Reinhalten‘ (tanzīh) dieser abstrakten Gottesvorstellung erfolgt mittels einer Verneinung
jeglicher die Körperlichkeit Gottes voraussetzenden Tätigkeiten, da – wie die Sure 42 Vers 11
noch lautet – nichts Seinesgleichen existieren könnte (laisa ka-miṯlihī šaiʾ18). Verleugnet wird
auch die rein theoretische Möglichkeit zum Erlangen der segnenden Gottesschau im Paradies
(ruʾyat Allāh19), da ein wörtliches Erblicken das Diktum der unbestreitbaren Materielosigkeit
Gottes verletzen würde. In diesem Sinne sollten die koranischen Verse, in denen Gott
menschliche Eigenschaften bzw. Körperteile zugeschrieben wurden, ausschließlich
allegorisch interpretiert werden.
Daraus ergab sich für die Muʿtazila auch die theologische Herausforderung, die auf Gott
bezogenen anthropomorphistischen Attribute (Ṣifāt)20 auf der Basis rationaler Argumente als
‚von Ewigkeit her neben Gott bestehende Entitäten‘ abzuwehren, um die sich dadurch
anschleichende Gefahr des Polytheismus (širk)21 zu vermeiden22. Die in der aufgeflammten
Attributendebatte herausstechende Schule von Abū 'l-Hud̲ ail analysierte diese auf Gott
projizierten Prädikate als integralen Bestandteil Seines göttlichen Wesens, indem sie sich auf
die folgende Konstruktion berief: „Gott ist wissend durch ein Wissen, das Er selbst ist“ ergo
„durch Sich selbst“23. Infolge der angeblich drastischen Leugnung (taʿṭīl) der göttlichen
Attribute wurde die Schule seitens ihrer Kontrahenten dessen beschuldigt, Gott nur auf eine
14
Vgl. dazu: Daniel Gimaret, "Tawḥīd (a.)". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
15
Vgl. dazu: Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
16
Vgl dazu: Josef van Ess, "Tas̲h̲bīh wa- Tanzīh". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
17
Vgl. dazu: Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 135
18
19
Gemäß der Sure 75 Vers 22-23: „An jenem Tag wird es strahlende Gesichter geben, die auf ihren Herrn
schauen“ (Wuǧūhun yauma ʾiḏin nāḍira ilā rabbihim nāẓira)
20
Vgl. dazu: Gerhard Böwering, „God and his Attributes”. In: Encyclopaedia of the Qurʾān, Washington DC. Brill,
2010. Brill Online
21
Vgl. dazu: Daniel Gimaret, „Shirk“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
22
Vgl. dazu: Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
23
Vgl. dazu: Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 136;
7
1.2.1.1. Die muʿtazilitische These zur Erschaffenheit des Koran (Ḫalq al-
Qurʾān26)
In ihrer Bemühung, die Doktrin der Einheit und der Einzigartigkeit Gottes möglichst
unversehrt zu bewahren, predigte die Muʿtazila-Schule, dass der Koran in seiner Eigenschaft
als Rede Gottes (kalām Allāh27) als ein Resultat göttliches Handelns zu betrachten sei und
aufgrund dessen nicht als präexistent (qadīm) bzw. ewig (azalī) gelten könnte28. Nach dieser
muʿtazilitischen Begründungslogik wird die These der Unerschaffenheit des Korans
unvermeidlich mit dem christlichen Trinitätsglauben assoziiert und somit als Verstoß gegen
das sakrale Monotheismusprinzip perzipiert29. Ohne den göttlichen Ursprung der koranischen
Texte zu bezweifeln, beteuerten die Muʿtaziliten, dass das Heilige Buch als ein Akzidens
Gottes (ʿaraḍ) definiert werden sollte, da die darin konkretisierte und schriftlich fixierte
Botschaft keinen ewigen Bestandteil des göttlichen Wesens ausmachen könnte30.
Um es zu beglaubigen, dass der Koran wie der Rest der Schöpfung von Gott geschaffen
(maḫlūq) sei, beriefen sich die Muʿtaziliten bei diversen Beweisversuchen auf koranische
Verse, aus denen sich die Endlichkeit des Korans erschließen ließ, wie es die Sure 41, Vers 42
besagt: „weder von vorn noch von hinten kann etwas falsches in den Koran gelangen“31. Ein
unwiderrufliches Argument zugunsten dieser muʿtazilitischen Theorie sollte die Sure 43, Vers
3 liefern, welche lautet: „Wir haben es zu einem arabischen Koran gemacht, auf daß ihr
24
Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 136
25
Vgl. dazu: Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
26
Richard C. Martin, "Createdness of the Qurʾān". In: Encyclopaedia of the Qurʾān
27
Louis Gardet, "Kalām". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
28
Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
29
Wilferd Madelung, „The Origins of the controversy concerning the creation of the Koran“. In: Orientalia
hispanica sive studia F.M. Pareja, Barral, J. M (ed.), Band I, Leiden 1974, S. 504
30
Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 137
darüber nachdenken möget“32. Von vornherein artikuliert das rhetorische Prädikat ‚ǧaʿala‘
den Akt des Erschaffens des göttlichen Werks33. Außerdem wird dem Koran in diesem Vers
noch die Transzendenz ausdrücklich abgesprochen, da Gottes Wort – im Gegensatz zu dem
jeglicher Erkenntnis entzogenen Gottes Wesen – ganz intendiert als zugänglich für den
menschlichen Verstand konzipiert wurde34.
Unter dem Kalifen al-Maʾmun wurde die umstrittenste muʿtazilitische Doktrin von der
Erschaffenheit des Korans zum Staatsdogma erklärt, wodurch die Institutionalisierung von
einem Inquisationstribunal veranlasst wurde, das die Gegner von der offiziellen Lehre der
sog. ‚großen Prüfung‘ (miḥna35) unterziehen sollte36.
Das Bekenntnis zur göttlichen Gerechtigkeit (ʿadl37) nimmt eine zentrale Stellung in der
muʿtazilitischen Ideologie ein, vornehmlich aufgrund der daraus abstrahierten und durchaus
innovativ interpretierten Folgetheorien bezüglich der Prädestinationslehre38. Im Vordergrund
des muʿtazilitischen Gerechtigkeitsverständnisses steht die Eigenverantwortlichkeit der
Menschen, welche aus ihrer von Gott genehmigten Entscheidungsfreiheit resultiert. Nach
diesem noch als ‚Theorie des iḫtiyār‘39 bekannten Prinzip kann das mit Handlungsfähigkeit
(qudra bzw. istiṭāʿa qabla l-fiʿl40) gesegnete Individuum sein Schicksal selbstständig und
ohne Einmischung gestalten, weshalb es auch die Verantwortung für die eigene
Willensäußerung übernehmen sollte41. Zwar seien die Menschen von Gott weiterhin nach
qadaritischer Auffassung zu einem moralischen Verhaltenskodex aufgefordert (taklīf42), für
dessen korrekte und gewissenhafte Befolgung die gebührende jenseitige Belohnung (ṯawāb43)
noch laut dem Heiligen Koran gewährt worden war. Dennoch wird eine kategorische
Prädetermination grundsätzlich abgelehnt, zumal Gottes Ratschluss (qadar44) an sich nicht
32
ُﻜ ْﻢ ﺗَـ ْﻌ ِﻘﻠُﻮ َن َﻌﻠﺎ ﻟﺎ َﺟ َﻌ ْﻠﻨَﺎﻩُ ﻗُـ ْﺮآﻧًﺎ َﻋَﺮﺑِﻴإِﻧ
33
Aṭ - Ṭabarī: Annalen, Serie III, S. 1113ff
34
Vgl. dazu: Gerhard Endreß, Der Islam, Eine Einführung in seine Geschichte, München: Beck, 1997 [im
Folgenden: Gerhard Endreß, Der Islam]; hier S. 62
35
Martin Hinds, "Miḥna". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
36
Gerhard Endreß, „Der Islam“, S. 63
37
Emile Tyan, "ʿAdl". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition.
38
Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
39
Louis Gardet, "Ik̲h̲_yār". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
40
Matthias Radscheit, "Responsibility". In: Encyclopaedia of the Qurʾān
41
Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 138f.
42
Daniel Gimaret, "Taklīf (a.)". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
43
Wim Raven, "Reward and Punishment". In: Encyclopaedia of the Qurʾān
44
Louis Gardet, "al- Ḳaḍā; Wa 'l-ḳadar". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
9
mehr als das göttliche Vorauswissen impliziere. Folgendermaßen lässt sich auch das kritische
Theodizee-Problem entschärfen, indem die bösen Handlungen der Menschen ausschließlich
auf ihre unabhängige Entscheidungskraft zurückzuführen seien45. Währenddessen sei Gott
nach einem objektiv bestehenden Wertesystem dazu verpflichtet, seine Schöpfung für die
Gehorsamkeit zu belohnen und bei einem Regelverstoß dementsprechend zu bestrafen
(ʿiqāb46). Das Heikle an der skizzierten Interpretationsmöglichkeit wird von dem
bedenklichen Aspekt ausgemacht, dass Gott nach dieser muʿtazilitischen Auslegung
konkreten Normvorschriften unterworfen war, an deren er sich trotz seiner Omnipotenz zu
richten hätte47.
Das ‚Verheißung und Drohung‘ Diktum akzentuiert die Unausweichlichkeit der höllischen
Qualen für jeden mit ewigem Höllenfeuer gedrohten Sünder, es sei denn er bereue aufrichtig
die begangenen Freveltaten48. Das für die sunnitische Orthodoxie provokante an dieser These
sei die sich daraus für Gott ergebende Unterwerfungspflicht, die von ihm angekündigten
Strafmaßnahmen konsequent durchzuführen49. Gänzlich abgestritten wird noch die durchaus
komfortable Möglichkeit, dass am Tag des Jüngsten Gerichts ein Gläubiger, ein Heiliger oder
der Prophet selbst, bei Gott für einen Sünder Fürsprache (šafāʿa50) einlegen könnte. Das
geschilderte Prinzip tangiert außerdem die Problematik der Glaubensdefinition (die sog. Frage
der asmāʾ wa-l-aḥkām). Neben dem reinen Glaubensbekenntnis (qaul bzw. šahāda) sollte
auch das menschliche Handeln (ʿamal) mit einbezogen werden, wobei eine nominelle
Zugehörigkeit zum Islam keine Garantie für den Eintritt ins Paradies leisten könnte51.
1.2.4. Das Zwischenstadium zwischen den Gläubigen und den Ungläubigen (al-
manzila baina l-manzilatain)
Das speziell für den schwer gesündigten Muslim konzipierte Zwischenstadium (al-manzila
baina l-manzilatain) korreliert eng mit der Beweisführung hinsichtlich der Unabwendbarkeit
der göttlichen Bestrafung, die für den diese Sonderstellung belegenden Frevler (fāsiq)
45
Tibi Bassam, Der wahre Imam, Der Islam von Mohammed bis zur Gegenwart, München: Piper, 1996 [im
Folgenden: Bassam Tibi, Der wahre Islam]; S. 119
46
Wim Raven, "Reward and Punishment". In: Encyclopaedia of the Qurʾān
47
Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 139
48
Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 139
49
William Montgomery Watt/ Michael Marmura (Hrsg.), Der Islam II, S. 233
50
Arent Jan Wensinck/ Annemarie Schimmel, "S̲H̲afāa". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
51
Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 139
10
gleichfalls als unvermeidbar gilt52. Die muʿtazilitische Schule argumentierte gegen die
Kompromisslosigkeit der Ḫāriǧiten, nach derer Auffassung der Gesündigte als ein
Ungläubiger (kāfir) abgestempelt werden sollte. Nichtdestotrotz könnten sich die
gerechtigkeitsorientierten Muʿtaziliten mit der allzu liberalen Einstellung der Murǧi´iten
ebenso wenig anfreunden, da sie sogar den schweren Verbrecher muslimischer Konfession
einem Gläubigen gleichsetzen würden53. Die Eleganz des muʿtazilitischen Lösungsvorschlags
bestand darin, die skizzierten theologischen Differenzen – mittels der rationalistisch
begründeten Einführung von einer Spezialkategorie für die sündigen Muslime – zu
überbrücken54. Der muslimische Glaube ließ sich für die Muʿtaziliten nicht isoliert von den
menschlichen Handlungen auf Erde betrachten, da die gebotene bedingungslose Obedienz
Gottes vielmehr als die bloße Einhaltung der islamischen Lehrsätze verlangte55.
1.2.5. Das Rechte gebieten, das Verwerfliche verbieten (al-amr bi-'l-maʿrūf wa 'l-
nahy ʿan al-munkar)
Das fünfte Prinzip (al-amr bi-'l-maʿrūf wa 'l-nahy ʿan al-munkar) adressiert die muslimische
Pflicht „zum Rechten aufzufordern und vom Verwerflichen abzuhalten, wo es Gelegenheit und
Fähigkeit dazu gibt – durch Zunge, Hand und Schwert – wie man es eben zu tun vermag“56.
Nach muʿtazilitischer Auslegung ist hinter der im Koran festgeschriebenen Maxime vom
‚Befehlen des sich Geziemenden und Verhindern des Verwerflichen‘ vielmehr zu
interpretieren als nur die nachdrückliche Anweisung zur Förderung einer moralischen und
gottgefälligen Lebensweise57. Die Ausformulierung dieser Aufforderung ist für die
Muʿtaziliten durchweg politisch konnotiert und postuliert laut ihrer Argumentation auch die
staatsbürgerliche Obliegenheit, gegen einen ungerechten Herrscher Widerstand zu leisten,
wenn er den verwerflichen Pfad einschlägt und die Sittlichkeit vernachlässigt58.
2. Die Ašʿarīya
Eine adäquate Abhandlung der Vermittlungs- und Versöhnungsrolle der ašʿarītischen Schule
als eine Kompromissideologie zwischen dem muʿtazilitischen Kalām und der orthodoxen
sunnitischen Dogmatik erfordert zunächst die Beleuchtung der gesellschaftshistorischen
52
Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
53
Sabine Schmidtke, „Neuere Forschungen zur Mu'tazila“. In: Arabica 45, 1998, S. 383
54
Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 140
55
Daniel Gimaret, „Muʿtazila“. In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
56
William Montgomery Watt/ Michael Marmura (Hrsg.), Der Islam II, S. 234
57
Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 140
58
Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 140
11
Der Aufstieg der ašʿarītischen Schule steht evident in Verbindung mit dem ultimativen
Scheitern der ausgesprochen elitären muʿtazilitischen Glaubenslehre, sich in der orthodox
geprägten islamischen Gesellschaft durchzusetzen59. Statt die untereinander verfeindeten
islamischen Glaubenseinrichtungen miteinander in Einklang zu bringen, hatte die Einführung
der als Abschreckungsmittel intendierten Miḥna vielmehr eine alienierende Wirkung60. Mit
dieser aggressiven Zwangsmaßnahme provozierten die Muʿtaziliten eine Welle der Empörung
seitens der erbitterten Anhänger von der fest verwurzelten religiösen Hauptströmung, die eine
rationalistisch fundierte Argumentationsweise ganz prinzipiell ablehnten, da sie mit einer
buchstabentreuen und an die Offenbarung ausgerichteten Gläubigkeit unvereinbar war61. Der
öffentliche Aufruhr ließ sich auch nicht mit der vom Kalif al-Mutawakkil62 (847-61)
favorisierten Restaurationspolitik63 beschwichtigen, obwohl er die ‚Sunna des Propheten‘ zur
Konstitution der Orthodoxie proklamierte und sich zum Herrn über die Religionslehre
erklärte64.
Andererseits war es keine Option, die von der muʿtazilitischen Schule systematisierten
Diskussionsanregungen und den somit erzielten Erkenntnisgewinn komplett auszublenden.
Die Verwirklichung einer nachhaltigen Versöhnung zwischen den rivalisierenden
Ideologielagern bedürfte einer Reform der rigiden orthodoxen Dogmatik, mittels welcher die
begrenzte Aufnahmefähigkeit des doktrinären Repertoires hinsichtlich innovativer
Argumentationslinien allmählich erweitert werden könnte65. Folgendermaßen sollte die
Angreifbarkeit der sunnitischen Orthodoxie gegenüber rationalistisch gestifteten
Beweisführungen zielbewusst und präventiv reduziert werden. Dennoch ist eine
Kompromissformulierung zwischen der rationalistisch-dialektischen Methode der
mutakallimūn und dem traditionalistisch-juristischen Dogmatismus der Hadithgelehrten erst
59
William Montgomery Watt/ Michael Marmura (Hrsg.), Der Islam II, S. 302
60
Tilman Nagel, „Geschichte der islamischen Theologie“, S. 123
61
Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 147
62
Hugh Kennedy, "al- Mutawakkil ʿAlā 'llāh , Abu 'l-Faḍl Ḏjaʿfar
̲ b. Muḥammad". In: Encyclopaedia of Islam.
Second Edition
63
Vgl. dazu: Tilman Nagel, „Geschichte der islamischen Theologie“, S. 176f.
64
Gerhard Endreß, „Der Islam“, S. 63
65
Claude Cahen, Fischer Weltgeschichte, Bd.14, Der Islam: Bd. I, Vom Ursprung bis zu den Anfängen des
Osmanenreiches, Frankfurt: Fischer (Tb.), 2003 [im Folgenden: Claude Cahen, Der Islam I]; hier S.217f.
12
dem Gründervater der Ašʿarīya gelungen66 – Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī67 (st. 324/935), dessen
Lehre sich als die am weitesten verbreitete Theologie für den sunnitischen Islam zu etablieren
vermochte68.
Als relevant für die historisch bedingte ideologische Ausrichtung der Ašʿarīya wird noch die
Tatsache betrachtet, dass der Gründungsvater Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī vorweg selber zu den
Schülern des großen muʿtazilitischen Systematikers Abū ʿAlī Muḥammad al-Ğubbaʾi69 zählte.
Infolge einer angeblich tiefgreifenden konservativen Umorientierung, entschloss er sich
letzten endlich zu der Glaubensrichtung der ḥanbalitisch geprägten Traditionswächter
überzutreten70, der sog. „ahl as-sunna wa-l-ǧamāʿa“ [„Leute der Sunna und der
Gemeinschaft“71], wobei er seine endgültige Abwendung vom muʿtazilitischen Lager auf eine
spektakuläre Art angekündigt haben sollte: „He who knows me, knows who I am, and he who
does not know me, let him know that I am Abū l-Ḥasan al-Ašʿarī, that I used to maintain that
the Quran is created, that eyes of men shall not see God, and that the creatures create their
actions. Lo! I repent that I have been a Muʿtazilite. I renounce these opinions and I take
engagement to refute the Muʿtazilites and expose their infancy and turpitude”72.
66
Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 147
67
William Montgomery WaE, "al- As̲h̲ʿarī, Abu 'l- Ḥasan , ʿAlī b. Ismāʿīl". In: Encyclopaedia of Islam, Second
Edition
68
Claude Cahen, „Der Islam I“, S. 218
69
Louis Gardet, "al- ḎJ̲ubbā;ī , Abū ʿAlī Muḥammad b. ʿAbd al-Wahhāb". In: Encyclopaedia of Islam, Second
Edition
70
Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 147
71
Gerhard Endreß, „Der Islam“, S. 64
72
Dieses Zitat wurde übernommen von Seyyed Hossein Nasr, Islamic Philosophy from its Origin to the Present,
Philosophy in the Land of the Prophecy, New York: State University of New York Press, 2006 [im Folgenden:
Seyyed Hossein Nasr, Islamic Philosophy from its Origin to the Present]; S. 124
73
Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 146
74
Seyyed Hossein Nasr, “Islamic Philosophy from its Origin to the Present”, S. 124f.
13
Was die umstrittene These zur Erschaffenheit des Korans angeht, so präsentierte die Ašʿarīya
eine Kompromisslösung, welche besagte, dass der Koran als Rede Gottes zu den ewigen
Wesensattributen zähle und ergo als Bewusstseinsinhalt (kalām nafsī) unerschaffen sei80. In
seiner Eigenschaft als Rezitation (kalām lafẓī) gelte die Heilige Schrift im materiellen
Buchformat jedoch als der erschaffene Text des offenbarten Wortes81.
Eine bedeutende Rolle in der ašʿarītischen Ideologie spielt die These von der durch Gottes
Allmacht eingeschränkten Willensfreiheit der Menschen: „Sie behaupten, dass niemand das
Vermögen zu einer Handlung hat, bevor er sie [von Gott dazu befähigt] ausführt, oder dass er
vermöchte, sich Gottes Wissen zu entziehen oder etwas zu tun, wovon Gott weiß, dass er es
nicht tun wird. Und sie bekennen, dass es keinen Schöpfer gibt außer Gott, dass Gott es ist,
der auch die Schlechtigkeiten der Menschen erschafft, dass es Gott der Erhabene ist, der die
Taten der Menschen erschafft und dass die Menschen nichts schaffen können“82. Um den
Widerspruch zwischen der Prädestination des menschlichen Schicksals und dem im Koran
verankerten Verantwortlichkeitsprinzip der gerechten Vergeltung zu beseitigen, berief sich
75
Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 146
76
Seyyed Hossein Nasr, “Islamic Philosophy from its Origin to the Present”, S. 125
77
Gerhard Endreß, „Der Islam“, S. 64
78
Louis Massignon, "Ḥulūl". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
79
Seyyed Hossein Nasr, “Islamic Philosophy from its Origin to the Present”, S. 125
80
Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 148
81
Claude Cahen, „Der Islam I“, S. 218
82
al-Ašʿarī: Maqālāt al-Islāmiyyīn, folgende Übersetzung wurde übernommen von: Hellmut Ritter, Die
dogmatischen Lehren der Anhänger des Islam, Istanbul, 1929 [im Folgenden: Hellmut Ritter, Die dogmatischen
Lehren der Anhänger des Islam]; S. 290-293
14
die Ašʿarīya auf die ausgeklügelte Theorie der ‚Aneignung‘ (ʾiktisāb)83. Laut dieser
Kompromissvariante ‚erschaffe‘ (yaḥluqu) Gott die menschlichen Taten, wobei er die
Menschen dazu befähigte, sich gewisse Handlungen anzueignen (kasb)84. Da von Gott
lediglich die Kraft zur Ausführung dieser Handlungen entstammte, blieb die Verantwortung
für die Verrichtung einer schlechten Tat weiterhin dem Menschen überlassen, welcher in
Genuss der delegierten Entscheidungskompetenz kam und im Jenseits zur Rechenschaft dafür
gezogen werden sollte85.
Obwohl sich die von Abū Manṣūr al-Māturīdī87 (st. 333/944) gegründete und der Ašʿarīya
nahestehende Ideologieschule noch mehr auf die rationalistische Dialektik der fünf
Grundprinzipien des ʾiʿtizāl einließ, war der durch die Konsolidierung des Konservatismus
katalysierte Prozess der Diskriminierung und Verunglimpfung der Muʿtazila schon
unumkehrbar geworden88. Eine der Konsequenzen dieser forcierten Verleumdungskampagne
war die ‚Versteinerung‘ der arabisch-sunnitischen Theologie, welche mit einer
Obsoletisierung des gesellschaftskritischen Aspekts des Kalām einherging.
Die Mehrheit der gewagten Erneuerungsversuche auf dem Gebiet der Theologie wurde mit
unüberwindlichem Misstrauen konfrontiert – es sei denn, die Reinigung von Dogma und
Praxis war das vorher proklamierte Ziel89. Erst Muḥammad ʽAbduh90 erkühnte sich, dem
eingeschlafenen gesellschaftlichen Kalām-Diskurs mithilfe seiner fortschrittlichen Schriften
erneut Triebkraft zu verleihen. Um sachlich darüber urteilen zu können, inwiefern dieses
progressive Unterfangen jedoch eine ausreichende Begründung wäre, ʽAbduh einer neo-
muʿtazilitischen Strömung einzuordnen, sollte zuallererst der wissenschaftliche Ursprung des
vom akademischen Zirkel erfundenen Begriffs ‚Neo-Muʿtazilismus‘ erläutert werden.
83
Claude Cahen, "Kasb". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
84
Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 148
85
Seyyed Hossein Nasr, “Islamic Philosophy from its Origin to the Present”, S. 125
86
Claude Cahen, „Der Islam I“, S. 218
87
Wilfred Madelung, "al- Māturīdī, Abū Manṣūr Muḥammad b. Muḥammad b. Maḥmūd al-Samarḳandī". In:
Encyclopaedia of Islam, Second Edition
88
Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 150
89
Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 150
90
Joseph Schacht, "Muḥammad ʿAbduh". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
15
Auseinandersetzungen des indischen Modernisten Sayyid Aḥmad Ḫān98 (1817-1898) mit dem
theologischen Begriff des kalām gleichermaßen unkommentiert herausließ99.
Dessen ungeachtet bezeichneten Bernard Michel und Muṣṭafā ʽAbd ar-Rāziq in der von ihnen
1925 publizierten französischen Version von Muḥammad ʽAbduhs wichtigster theologischer
Schrift – Risālat at-tauḥīd100 – den revolutionären Reformator als einen modernen
Muʽtaziliten, was jedenfalls nicht auf einer seitens des ägyptischen Dialektikers verbalisierten
Selbstbekennung zum neo-muʽtazilitischen Kreis beruhte. Vielmehr ist diese übereilte
Fehlinterpretation auf eine relativ oberflächliche Auslegung der zwar äußerst facettenreichen
und vielschichtigen Ideologie ʽAbduhs zurückzuführen, zumal die theologischen
Gesichtspunkte des aufgeklärten Autors auf ihre wechselseitige Übereinstimmung mit
muʽtazilitischen Aussagen recht nachlässig überprüft wurden101. In diesem Kontext entspringt
die in der Einleitung rein spekulativ diagnostizierte Zugehörigkeit ʽAbduhs zu einer breiteren
neo-muʽtazilitischen Strömung aus der von Michel und Muṣṭafā ʽAbd ar-Rāziq höchst
unpräzise gefassten Definition neo-muʽtazilitischen Denkens102, laut welcher alle
rationalistisch geprägten muslimischen Gesellschaftskritiker des bedenkenlosen
Traditionalismus – abgesehen von deren inhaltlichen Überzeugungen – als die
zeitgenössischen Träger der sog. „Geist der Muʽtazila“ charakterisiert werden sollten103.
musulmanes au niveau des pays modernes“ (Caspar 1957, S. 200f.)105. Obwohl Caspar
eigentlich aus dem feststehenden Sachverhalt auszugehen scheint, dass Muḥammad ʽAbduh
ganz absichtlich eine direkte Bezugnahme auf die muʽtazilitische Lehre unterlassen hatte,
proklamierte er trotzdem den ägyptischen Denker auf der Basis einer kreativen Interpretation
von ʽAbduhs theologischen Aussagen im oben erwähnten Risālat at-tauḥīd als „précurseur et
inspirateur“ der muʽtazilitischen Erneuerung106. Der französische Islamwissenschaftler wird
registriert haben, dass der moderne islamische Zeitgeistdiskurs vielmehr von der Philosophie
dominiert wird – als von beliebigen abstrakten theologischen Reflexionen wie im Fall der den
Muʽtazilismus kennzeichnenden unfruchtbaren Diskussionen um die Attributlehre und die
Natur des Koran107. Darum bemüht, eine muʽtazilitische Fundierung bei den entsprechenden
Punkten auch in der von ʽAbduh präsentierten Ideenlehre zu konstatieren, konzentrierte sich
Robert Caspar bei seiner Untersuchung ausschließlich auf diejenigen Positionen des
vielseitigen Gelehrten, die eine Relation zur grassierenden Debatte um das Spannungsfeld
zwischen Vernunft und Moral sowie Naturgesetzlichkeit und Kausalität aufwiesen108.
Wenngleich er dann logischerweise Muḥammad ʽAbduh als Stammvater des angeblich
wiederbelebten muʽtazilitischen Lagers porträtiert, stellt er schließlich fest, dass die
potentielle Etablierung eines Neo-Muʽtazilismus als historisches Phänomen der Moderne
dagegen erst auf das zukünftige Engagement muslimischer Geschichtswissenschaftler
angewiesen sei109. Trotz dieses skeptisch konnotierten Fazits erweist sich Caspars Studie als
ein ausschlaggebender Faktor für die spätere Popularisierung des umstrittenen Begriffs ‚Neo-
Muʽtazilismus‘.
Als wesentlicher Kritikpunkt an Caspars Herangehensweise wird die aus akademischer Sicht
recht bedauernswerte Tatsache pointiert, dass trotz der handfest formulierten Intention des
französischen Orientalisten, ein islamisches Phänomen zu beleuchten, seine Analyse fast
ausschließlich auf arabische Autoren beschränkt bleibt. Gegen die durchaus angreifbare
Ausblendung des indischen Beitrags zur modernen Aufarbeitung der muʽtazilitischen
Tradition protestierte am eifrigsten der deutsch- und marokkanisch-stämmige Islamforscher
Detlev Khālid in seinem Artikel von 1969 „Some aspects of Neo-Muʽtazilism“110.
105
Das Zitat wurde übernommen von Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 28
106
Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 22f.
107
Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 28f.
108
„le grand réformateur prit, consciemment ou non, ouvertement ou non, des positions semblables à celles des
mo'tazilits, ou du moins très proches d'elles“ Caspar 1957, S. 162 (Das Zitat wurde übernommen von Thomas
Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 22)
109
Ebd.: „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 28f.
110
Detlev Khālid, „Some Aspects of Neo-Muʽtazilism”. In: Islamic Studies 8 (1969), S. 319-347
18
Nichtdestotrotz zeichnet sich seine Schrift ebenfalls durch starke apologetische Zügen aus,
zumal der muslimische Autor die kuriose Faszination Caspars über den unerschöpflichen
Erfindungsgeist der muʽtazilitischen Schule vollkommen zu teilen scheint, mit Hilfe dessen
die umstrittene Bewegung ganz strategisch „the weapons of the opponents“ zur
Rehabilitierung des Islam instrumentalisierte: „It were the Muʽtazila who formulated for the
Muslim community the answers to menacing questions of the older civilizations“111. Im
Unterschied zum französischen Islamwissenschaftler bezweckte Khālid mit seiner
Untersuchung, das Verhältnis zwischen dem indischen und dem arabischen Neo-
Muʽtazilismus ausführlich zu erläutern, wobei er eindeutig vielmehr auf eine
Veranschaulichung der indischen Einflüsse für die rationalistisch geprägte Geistesentfaltung
der Araber fokussiert war112. Trotzdem wurde laut Khālid diese von ihm in Indien registrierte
Renaissance muʽtazilitischer Auffassungen letzten endlich vom Werk des arabischen Autors
Aḥmad Amīn113 „Zuʽamāʾal-iṣlāḥ fī l-ʽaṣr al-ḥadīṯ“ gekrönt, in welchem die
Berührungspunkte zwischen der indischen und der ägyptischen Denkströmung am
deutlichsten herausstechen würden114. Nachdem jedoch der aufgeblühte Neo-Muʽtazilismus
mit Aḥmad Amīn seinen Gipfelpunkt angeblich erreicht hatte, wird von Khālid den
schleichenden Niedergang des fragilen Phänomens konstatiert, wobei der deutsch-
marokkanische Orientalist den rasanten Abstieg der rekonstruierten muʽtazilitischen Tradition
mit dem Aufstieg des Säkularismus und mit den durchdringenden mystischen Tendenzen
verknüpfte: „Once freedom of thought in Muslim lands had broken the shackles of
traditionalism Iʽtizāl as a tool of acculturation became less attractive. Where secularism was
instituted as official or semi-official doctrine, the Muʽtazilite model lost its relevance
altogether, or at least to the extent institutionalized secularism was challenged or not”115.
Erwähnenswert ist außerdem Khālids historisch abgeleitete These vom vermeintlichen
Versöhnungspotenzial des Neo-Muʽtazilismus, der aufgrund seines pragmatischen
111
Detlev Khālid, „Some Aspects of Neo-Muʽtazilism”, S. 319
112
„That ʽUbayd-Allāh Sindhī could so frankly disclose the Muʽtazilite inclination of his chosen Imām Walī-Allāh
was mainly due to Sayyid Aḥmad Khān (1817-1898). Starting with him Indian Muslim modernists loved to call
themselves neo-Muʽtazila, and to claim resuscitaƟon of the aims and aspiraƟons of that enlightened party of
Islam. Thus adherence to Muʽtazilite concepƟons was openly confessed in India much earlier than in Egypt. In
this context too the role of Jamāl al-dīn al-Afghānī is to be regarded of central importance”, Detlev Khālid,
„Some Aspects of Neo-Muʽtazilism”, S. 323
113
Hamilton Alexander Rosskeen Gibb, "Aḥmad Amīn". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
114
Thomas Hildebrandt, „Neo-Mu’tazilismus?“, S. 35
115
Detlev Khālid, „Some Aspects of Neo-Muʽtazilism”, S. 334
19
Rationalismus eine durchaus elegante Lösung für die religiösen Differenzen zwischen den
untereinander zerstrittenen Glaubensrichtungen des Islam anzubieten scheint116.
Geboren 1949 im Dorf Maḥallat Naṣr der Buḥayra Provinz im unterägyptischen Nildelta,
wuchs Muḥammad ʽAbduh in einer bescheidenen Bauernfamilie auf117. Nach dem
Auswendiglernen des Koran in einer traditionellen Madrasa118 provozierte sein Onkel
Scheich Darwīš eine gewisse Sympathie bei dem wissbegierigen Jugendlichen für die
mystischen Lehren der Sufis, wobei ʽAbduhs allzu große Begeisterung über die gepredigte
Enthaltsamkeit von materiellen Angelegenheiten und die strikte Einhaltung des asketischen
Lebensstils im Endeffekt auch die zunehmende Besorgnis von ʽAbduhs Onkel auslösten, der
die vollkommene Abspaltung seines Neffen von den aktuellen Weltgeschehnissen
befürchtete119. Seinem Mentor Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī120 war es zu verdanken, dass ʽAbduh
seine Neugier am gesellschaftspolitischen Leben wiederentdeckte. Während seiner
Studienzeit an der al-Azhar Universität in Kairo begegnete ʽAbduh den öffentlichen
Aktivisten und Philosoph al-Afġānī, der von einer heterogenen Anhängerschaft aus
ägyptischen und ausländischen Intellektuellen umgeben war121. Unter seinem unbestreitbaren
Einfluss entwickelte ʽAbduh ein Interesse für europäische Literatur und Philosophie. So sehr
er jedoch vom technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt des Westens fasziniert war,
teilte er eifrig al-Afġānīs Ablehnung des westlichen ungezügelten Materialismus und der
moralischen Verdorbenheit dieser lasterhaften Gesellschaft. Angesichts der erdrückenden
kulturellen Dominanz der europäischen Großmächte und im Hinblick auf die in Ägypten
116
„The supra-sectarian structure of IʽƟzāl was another important element responsible for the high expectations
neo-Muʽtazilism aroused in Muslim modernists. The concept of al-mazila bayna l-manzilatayn (literally stand
between the two positions) with which the Muʽtazila undertook to reconcile divergent views is appealing due to
its spirit of moderation”, Detlev Khālid, „Some Aspects of Neo-Muʽtazilism”, S. 336
117
Anke von Kügelgen, "ʿAbduh, Muḥammad", In: Encyclopaedia of Islam, Three
118
Buchstäbliche Übersetzung: Ort des Unterrichts (dars), vgl. Jens Pedersen/ Munibur Rahman/ Robert
Hillenbrand, "Madrasa". In: Encyclopaedia of Islam, Second Edition
119
Thomas Hildebrandt, „Waren Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī und Muḥammad ʿAbduh Neo-Muʽtaziliten?“, In: Die
Welt des Islams, New Series, Vol. 42, Issue 2 (2002), S. 212
120
Ignaz Goldziher, "ḎJ̲amālal-Dīnal-Afg̲h̲ānī, al-Sayyid Muḥammad b. Ṣafdar", In: Encyclopaedia of Islam,
Second Edition
121
„a group of intellectual malcontents and religious rebels” Kedourie, Elie: Afghani and ʿAbduh: An Essay on
Religious Unbelief and Political Activism in Modern Islam, London 1966, S. 18-20
20
Die Einordnung ʽAbduhs in das vermeintliche ‚neo-muʽtazilitische‘ Lager ist vorwiegend auf
die in seinem geschichtsträchtigem Werk „Risālat at-tauḥīd“ niedergelegten theologischen
Einsichten und philosophischen Reflexionen zurückzuführen. Zwar mag die sich in der
gesamten Risāla herauskristallisierende Vernunftfreundlichkeit zu überhasteten
Schlussfolgerungen eingeladen haben, aber genau unter diesen Umständen sollte darauf
hingewiesen werden, dass die Rationalität nicht sui generis der Muʽtaziliten allein vorbehalten
ist. ʽAbduhs Akzentuierung von der entscheidenden Rolle der Vernunft kontrastiert stark zur
muʽtazilitischen Kanonisierung des Rationalitätsprinzips und zeugt vielmehr vom
modernistischen Charakter der von ihm verfassten religionskritischen Minimaltheologie, in
welcher rationalistische Anregungen diverser Glaubensrichtungen des Islam miteinander in
Einklang gebracht werden sollten131.
voreilige Annahme durch die Tatsache relativiert, dass die angesprochenen Fachausdrücke
ebenfalls in den philosophischen Traktaten Ibn Sīnās wie auch in māturīditischen und
ašʽaritischen Diskussionen vorkommen. Der delikaten Frage nach dem problematischen
Spannungsverhältnis zwischen der menschlichen Wahlfreiheit und der göttlichen Allmacht
entweicht er mittels einer fein geschliffenen Unpräzisheit, indem er auf eine genauere
Erläuterung des für die Menschheit unergründlichen ontologischen Zusammenhangs
verzichtet (huwa min ṭalabi sirri l-qadari l-laḏī nuhīnā ʽana l-ḫauḍi fīhi135). In seinem
Wunsch jedoch das menschliche Verantwortlichkeitspotential aufrechtzuerhalten, tendiert er
trotz seiner Selbstenthaltungstaktik vielmehr dazu, die Plausibilität der ašʽaritischen kasb
Theorie zu unterstreichen und verteidigt sie sogar gegen Vorwürfe des Polytheismus mit dem
Argument, dass das theoretische Beigesellen eines selbstständig handelnden Menschen
keinesfalls als širk denunziert werden durfte136.
Weiterhin sollte ʽAbduhs Standpunkt im religiösen Streit über die angebliche Erschaffenheit
des Koran für viele Islamforscher eine ideologische Nähe zur muʽtazilitischen Strömung
aufgewiesen haben. Der erste Widerspruch zu dieser irreführenden Behauptung ergibt sich
aus der Tatsache, dass ʽAbduh im Gegensatz zu den Muʽtaziliten die „Rede Gottes“ (kalām
Allāh) selbst zu den göttlichen Attributen zählt, während die Muʽtaziliten ausschließlich die
zur Beschreibung Gottes benötigten Adjektiven als ṣifāt anrechneten137. Dessen ungeachtet
erweckt ʽAbduhs Argumentationskette laut Caspar nur vordergründig eine Assoziation zur
klassisch-ašʽaritischen Differenzierung zwischen dem göttlichen Wort als ewigen
Bewusstseinsinhalt (kalām nafsī) und dem als erschaffen geltenden rezitierten Koran (kalām
lafẓī). Die von ʽAbduh an der ḥanbalitischen Position ausgeübte Kritik, derer er
„Zurückhaltung und des übertriebenen Anstand“ vorwirft, wird vom interpretationswilligen
französischen Orientalisten als ein Zeichen von ʽAbduhs Sympathien mit der rationalistisch
geprägten Schule identifiziert138. Völlig ausgeblendet wird bei dieser Theorie eine die
gesamte Risāla charakterisierende Ambition des ägyptischen Philosophen, unfruchtbare
theologische Dispute zu vermeiden und mittels einer konfliktentschärfender Rhetorik von
vornherein überflüssige Streitigkeiten zwischen den untereinander verfeindeten
Glaubenslagern beizulegen. In diesem Kontext erweist sich die in „Risālat at-tauḥīd“
präsentierte Theologie als ein Sammelbecken diverser voneinander inhaltlich divergierenden
jedoch im Grunde rationalistisch fundierten religiösen Auffassungen.
135
Aʽmāl Bd. 3, S. 403
136
Thomas Hildebrandt, „Waren Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī und Muḥammad ʿAbduh Neo-Muʽtaziliten?“, S. 239f.
137
Ebd.: „Waren Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī und Muḥammad ʿAbduh Neo-Muʽtaziliten?“, S. 252
138
Ebd.: „Waren Ğamāl ad-Dīn al-Afġānī und Muḥammad ʿAbduh Neo-Muʽtaziliten?“, S. 254f.
23
IV. Fazit
Umso verkehrter wäre es, Muḥammad ʿAbduhs Einsatz für ein flexibleres Islamverständnis
als Stützpunkt seiner angeblichen muʿtazilitischen Orientierung zu identifizieren. Zwar
tendiert der vielseitig engagierte Theoretiker in der oben behandelten theologischen Schrift
„Risālat at-tauḥīd“ durchaus rationalistisch verbalisierte Konzepte zu propagieren. Dessen
ungeachtet sollte in Betracht gezogen werden, dass sich der ägyptische Gelehrte trotz seiner
reformistischen Rhetorik immerfort klassisch-ašʽaritischer Begriffe bediente und eine
ausdrückliche persönliche Sympathie für die muslimische Philosophie demonstrierte.
Außerdem sind seine taktisch-zurückhaltenden Formulierungen auf eine konstruktive
Versöhnungsstrategie zurückzuführen, die inhaltlich unergiebigen theologischen
Streitigkeiten unter den etablierten islamischen Glaubensrichtungen um des religiösen
Konsenses willen zu relativieren.
Seine Ablehnung des islamischen Fatalismus und die wiederholte Akzentuierung der
menschlichen Willensfreiheit sind vorerst vom im modernistischen islamischen Denken
dominierenden liberalisierenden Zeitgeist inspiriert. Insofern lässt sich sein vielmehr
māturīditisch begründeter Rationalismus nicht mit einem auf rein interpretativen Wegen
konstatierten ‚muʿtazilitischen Erwachen‘ alias ‚Neo-Muʿtazilismus‘ verwechseln.
24
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