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»In uns selbst liegt beides, Untergang und Rettung.« So lautet


eine der lebensphilosophischen Einsichten des berühmten Sto­
ikers Epiktet. Ähnlich wie bei Sokrates sind dessen Lehren uns
nur durch Arrian, einen seiner zahlreichen Schüler überliefert.
Um 50 n. Chr. in Phrygien als Sohn einer Sklavin geboren,
wuchs Epiktet in Rom auf. Sein Herr, selbst ein Freigelassener
Neros, ermöglichte ihm eine Ausbildung bei dem Stoiker Mu­
sonius Rufus und schenkte ihm die Freiheit. Daraufhin grün­
dete Epiktet seinerseits eine philosophische Schule, wurde im
Jahr 94 aber aus Rom vertrieben und ließ sich im westgrie­
chischen Nikopolis nieder, wo er etwa 135 n. Chr. starb −
verehrt und bewundert von seinen zahlreichen Schülern. Seine
›Gespräche‹ (Diatriben) und sein ›Handbüchlein der Moral‹
(Encheiridion) wurden immer wieder gelesen und zählen zu
den Grundtexten philosophischen Bemühens um ein ethisch
fundiertes, würdevolles Dasein. Der vorliegende Band führt in
diese bis heute wirkungsmächtige Lebenskunst ein.

Georg Wöhrle ist Professor für Gräzistik an der Universität


Trier. Die Textauszüge, die er aus den Schriften Epiktets vor­
stellt, hat er eigens für diesen Band neu bearbeitet.
Originalausgabe

November 2002

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

www. dtv. de

 2002 Deutscher Taschenbuch Verlag, München

Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen

Umschlagbild: Ralph Bittner

Satz: K. Hülser, Konstanz

Druck und Bindung: Druckerei C. H. Beck,

Nördlingen

Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany · ISBN 3–423–30864–8

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ..................................... 9

Erster Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

I Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

1. Epiktets Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

2. Epiktets Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

3. Philosophie als Lebenskunst . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

4. Epiktet lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

II Epiktets Weg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

1. Epiktets Fragen in unsere Welt gestellt . . . . . . . . . 24

2. Ein erster Hinweis auf das zugrunde

liegende Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

III Die Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

1. Freiheit als Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . 32

2. Erste Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

IV Die Unterscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

1. Lass fahren dahin! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

2. Noch einmal Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . 45

3. Erste Hinweise auf das Ziel der Ausbildung . . . . . 47

4. Eine Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

V Ein Grundleiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

1. Die Affekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

2. Furcht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

VI Menschenglück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

VII Sorgfalt und Standfestigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

VIII Gott und Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

1. Vorsehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

2. Der Mensch als Verwandter Gottes . . . . . . . . . . . 66

3. Der Mensch als Teil des Ganzen . . . . . . . . . . . . . . 71

5
IX Begehren und Meiden ....................... 74

X Askēsis − Übung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

XI Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

1. Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

2. Weise und Toren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87

Zweiter Teil ................................. 91

XII Über Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

1. Gesundheit ist kein Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

2. Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

XIII . . . und Tod .............................. 98

XIV Die Tür ist offen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104

XV Von der Liebe zu den Seinen . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

1. Liebe ohne Unglück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

2. Vernünftige Zuneigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114

3. Jeder sucht seinen eigenen Vorteil . . . . . . . . . . . . . 116

XVI Die anderen, die vielen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

1. Wer sich verfehlt, schadet sich selbst . . . . . . . . . . . 118

2. Der Charakter eines Menschen . . . . . . . . . . . . . . . 120

3. Bedauern statt Mitleid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

4. Die feste Burg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

XVII Das Leben, ein Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

XVIII Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . 131

1. Epiktets Hörer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

2. Epiktet heute lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

3. Das moralische ›Wir‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

Handbüchlein der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

Literaturempfehlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

6
»In uns selbst liegt beides,
Untergang und Rettung«
(Gespräche IV 9.16)
Vorwort

Wenn Epiktet bekannt ist, so verdankt er das zumeist


einer Lektüre des so genannten Handbüchleins der Mo­
ral, einem thesenartigen Auszug aus den in vier Büchern
überlieferten Gesprächen.1 Wer Epiktet näher kennen ler­
nen und vor allem sein Anliegen verstehen will, muss
auf die Gespräche zurückgreifen. Als eine Hinführung zu
deren Lektüre vor allem versteht sich das vorliegende
Büchlein. Dabei kann und soll hier keine systematische
Einführung in die stoische Philosophie vermittelt wer­
den, zu deren herausragenden Vertretern im kaiserzeit­
lichen Rom um die Wende vom ersten zum zweiten Jh.
n. Chr. Epiktet gehört. Vielmehr soll, vergleichbar wie
es Epiktet in den Gesprächen selbst unternimmt, in den
einzelnen Abschnitten immer wieder von neuem anset­
zend dem zentralen Anliegen Epiktets näher gekommen
werden. Dabei wird auch Epiktets stoische Perspektive
beleuchtet, aber zugleich deutlich werden, dass es ihm
nicht um die Vermittlung eines Systems geht, sondern
um die Frage, wie ein gelingendes Leben möglich ist.

1
Die einzelnen Bücher der Gespräche werden im Folgenden mit
römischen Ziffern zitiert; die jeweiligen Gespräche und ihre Para­
grafen mit arabischen, also etwa: IV 2. 1. Das Handbüchlein wird mit
HB abgekürzt. Auf die Behandlung eines Punktes in einem vorher­
gehenden oder späteren Kapitel des vorliegenden Bandes wird mit
(→) hingewiesen.

9
Erster Teil

Im ersten Teíl der Abhandlung sollen einige besonders


wichtige Gesichtspunkte und Begrifflichkeiten heraus­
gearbeitet werden, die zum besseren Verständnis der
Lektüre Epiktets hilfreich sind. Im zweiten Teil werden
dann auf dieser Grundlage spezifische Fragestellungen
beleuchtet und einige zusammenfassende Bemerkungen
angeschlossen.
I Ausgangspunkte

1. Epiktets Leben

Nur sehr wenig ist aus dem Leben Epiktets bekannt. Er


soll um 50 n. Chr. als Sohn einer Sklavin aus Hierapolis
in Phrygien, dem heute türkischen Pamukkale, geboren
sein. Mittelbar geht aus den Gesprächen hervor, dass er
einen Bart und lange Haare getragen hat, aber von ge­
pflegtem Äußeren war. Von einer körperlichen Behin­
derung (eine angeborene oder erworbene Lähmung)
spricht er gelegentlich selbst. Noch als Sklave eines hö­
heren Beamten in Neros Hofstaat (regierte 54 bis 68
n. Chr.) mit Namen Epaphroditus (I 9. 29) hörte und
lernte er offensichtlich bei dem stoischen Philosophen
Musonius Rufus (etwa 30 bis 100 n. Chr.). Irgendwann
wurde er freigelassen und wechselte im Jahr 92 oder
93, infolge einer allgemeinen Philosophenvertreibung
aus Italien durch Kaiser Domitian (regierte 81 bis 96
n. Chr.), in das westgriechische Nikopolis (in der Nähe
von Preveza im heutigen Griechenland) über. Auf die
äußerst spärlichen Verhältnisse in seiner Schule in Ni­
kopolis spielt Gespräch II 21. 14 an. Bäder, Unterkunft
und Schulräume befanden sich offensichtlich in wenig
komfortablem Zustand. Das mag für den einen oder
anderen seiner Schüler eher unerquicklich gewesen sein,
bildete aber andererseits sicher auch eine äußere und
damit attraktive Bestätigung seiner stoischen Lebens­
weise. Jedenfalls kamen die Schüler teilweise von weit
her, um seinen Vorträgen zuzuhören. Epiktet war, wie
spätere Quellen berichten, nicht verheiratet. Sein To­
desdatum ist unbekannt, aber er hat wohl noch die ers­

13
ten Regierungsjahre Kaiser Hadrians (regierte 117 bis 138
n. Chr.) erlebt.

2. Epiktets Werk

Der freigelassene Sklave und Philosoph Epiktet hat selbst


nichts Schriftliches hinterlassen. Ähnlich wie bei seinem
großen Vorbild Sokrates (um 470 bis 399 v. Chr.) wird
uns seine Lehre aus der Feder eines Schülers vermittelt.
Epiktet hat allerdings keinen Platon (428/27 bis 348/47
v. Chr.) gefunden, der aus dem mündlichen Vortrag des
Meisters ein ganzes philosophisches System geschaffen
hat. Lucius Flavius Arrianus, der um 90 n. Chr. im bit­
hynischen Nikomedien (heute Izmit am Marmarameer)
geborene und nach 170 n. Chr. in Athen gestorbene rö­
mische Staatsmann und Schriftsteller, der als begeisterter
Hörer die Gespräche Epiktets aufgezeichnet und so für
die Nachwelt erhalten hat, ist eher einem Xenophon
(etwa 430 bis 354 v. Chr.) zu vergleichen. Auch dieser hat
Gespräche des Sokrates in seinen Memorabilien aufbe­
wahrt, wie im Übrigen auch beide in ihrer sonstigen li­
terarischen Betätigung recht viel Verwandtschaft aufwei­
sen. Bewusst in Anlehnung an Xenophons Anabasis hat
auch Arrian eine Anabasis verfasst, die die Eroberung des
Perserreichs durch Alexander den Großen schildert.
Und wie Xenophon war auch Arrian sicher nicht der
Mann, die philosophischen Gedanken des Lehrers zu
systematisieren oder gar umzuformen und aus ihnen et­
was Eigenes, Neues zu schaffen. Es handelt sich in bei­
den Fällen gewiss eher um den Versuch, den Worten und
damit der Persönlichkeit des Vorbildes möglichst nahe zu
kommen. Und dennoch muss man sich (ebenso in bei­

14
den Fällen) natürlich darüber im Klaren sein, dass es sich
um ein Stück Literatur handelt, literarisch überformte,
den Konventionen angepasste Wirklichkeit also, und
nicht um stenografisch wortgetreue Mitschriften. Wir
hören Epiktet aus dem Munde Arrians wie den Sokrates
aus dem Xenophons, ohne dass wir wie hier noch die
Schriften eines Platon zum Vergleich heranziehen könn­
ten. Das ist ein wichtiger Vorbehalt natürlich für alle phi­
lologischen wie philosophischen Untersuchungen zu den
Gesprächen Epiktets. Wer den originalen Epiktet rekon­
struieren will, muss einen Hebel finden, um von der li­
terarischen Überformung durch Arrian abstrahieren zu
können. Auf der anderen Seite berechtigt aber die Tat­
sache der bis heute ungebrochenen Wirkung des arria­
nischen Epiktet, die Gespräche immer wieder auch als
solche, das heißt in ihren Gedankengängen und Intenti­
onen, zu verstehen und zu erklären. Daher wird auch
auf den folgenden Seiten nicht der sicher wichtigen Frage
nach der Stellung Epiktets innerhalb des stoischen phi­
losophischen Systems seit seiner Begründung um 300
v. Chr. durch Zenon von Kı´tion (heute Larnaka auf Zy­
pern) nachgegangen. Allenfalls gelegentlich wird hier auf
die Tradition etwa einzelner Vorstellungen und Begriff­
lichkeiten hingewiesen, die für das Verständnis einer be­
stimmten Anschauung Epiktets von Bedeutung sind.
Epiktet steht am Ende der Entwicklung dieses Systems
und er führt alle philosophischen Fragen, und in diesem
Sinne wieder zu dem Ausgangspunkt des Sokrates zu­
rückkehrend, auf die eine Frage hin, was das Gute und
was das Schlechte sei und, implizit damit verbunden, wie
man es erkennen könne. Offensichtlich haben die Men­
schen, die Epiktets Gespräche − von denen heute noch
vier von ursprünglich acht Büchern erhalten sind − oder
das von Arrian dazu verfasste Kompendium, das be­

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rühmte Handbüchlein der Moral, späterhin gelesen ha­
ben, dieses Anliegen verstanden, wenn sie es auch in
ihrem eigenen Leben kaum in der Rigorosität Epiktets
nachvollziehen konnten; aber damit erging es ihnen
kaum anders als Epiktets eigenen Zeitgenossen und Hö­
rern.

3. Philosophie als Lebenskunst

Ein Hauptgrund für die Anziehungskraft der Lehre Epi­


ktets ist wohl sein Verzicht auf akademische Diskussi­
onen zugunsten rein lebenspraktischer Fragen. Epiktet
sagt selbst, dass er für solcherlei fruchtlose Auseinander­
setzungen keine Zeit habe (I 27. 15ff.). Erkenntnistheo­
retisch mag es zwar von Bedeutung und Interesse sein,
danach zu fragen, auf welche Weise Sinneswahrneh­
mung stattfindet, wie dabei das Verhältnis zwischen See­
le und Körper bzw. den Wahrnehmungsorganen, zwi­
schen erkennendem Subjekt und wahrgenommenem
Objekt zu beurteilen wäre, welcher Realitätsgehalt also
hinter den Sinneseindrücken steht − Fragen, die spätes­
tens seit Platon eingehend, auch und gerade in der Stoa,
diskutiert wurden. Doch mit dem etwa zwei Generati­
onen älteren römischen Politiker, Dichter und Philoso­
phen Seneca (um 4 v. Chr. bis 65 n. Chr.), der zumin­
dest in seinen Epistulae morales ad Lucilium (Ethische
Briefe an Lucilius) eine vergleichbare, an den jeweiligen
Lebensumständen orientierte, pragmatische Ethik ver­
tritt, eint Epiktet auch ein gewisser Unwille gegenüber
entsprechenden, durch skeptizistische Anschauungen
hervorgerufene Diskussionen. Ob wir mit den Füßen
laufen oder mit dem Teil des leitenden Organs, das in

16
den Füßen sitzt, wäre etwa eine solche auch für Seneca
praktisch jedenfalls fruchtlose Frage (Brief 113, 23). Und
so meint auch Epiktet,
wie aber Wahrnehmung entsteht, ob mittels des ganzen Kör­
pers oder ob nur mittels gewisser Teile davon, das weiß ich
vielleicht nicht zu beantworten. Beide Ansichten verwirren
mich; dass aber ich und du nicht einer und eben derselbe
sind, das weiß ich ganz genau. Und woher? Weil ich, wenn
ich etwas hinunterschlucken will, den Bissen niemals dorthin
[in deinen Mund], sondern stets hierhin [in meinen] bringe.
Ich habe noch nie, sooft ich Brot nehmen wollte, zum Kehr­
besen gegriffen, sondern ich gehe immer zum Brot hin als
meinem Ziel. Und macht ihr, die ihr die Gewissheit der
Empfindungen leugnet, etwas anderes? Wer von euch, der in
das Bad gehen wollte, ist in die Mühle gegangen? (I 27. 17ff.)

Auch in einer Naturkunde oder Naturwissenschaft, in­


sofern sie sich wenigstens weitgehend in einer materiel­
len Erklärung der Phänomene erschöpft, sieht Epiktet
keinen Sinn − vergleichbar hatte sich einst der junge
Sokrates, wie in Platons Dialog Phaidon rückblickend
geschildert wird, von den Bemühungen der Naturphi­
losophen um eine Welterklärung abgewendet. In einem
Fragment aus einem verlorenen Vortrag Epiktets, das in
einem Sammelwerk aus dem 5. Jh. n. Chr. erhalten ist,
heißt es:
Was liegt mir daran, sagt er [Epiktet], ob die seienden Dinge
aus Atomen oder unteilbaren Einheiten oder aus Feuer und
Erde bestehen? Ist es nicht genug, wenn man das Wesen des
Guten und Bösen und die rechten Maße unserer Wünsche
und Aversionen und dazu der Antriebe und Abneigungen
kennen lernt und mit ihrer Hilfe wie mit einer Richtschnur
seine Lebensverhältnisse einrichtet, während man die Dinge,
die für uns zu hoch sind, auf sich beruhen lässt? Dinge, die
vielleicht für den menschlichen Verstand nicht zu erfassen

17
sind. Aber wenn man auch annehmen wollte, dass sie durch­
aus erfassbar seien, welcher Nutzen entstünde, wenn man sie
erfasste? (Fragment 1, aus Stobaeus, Eclogae)

Auf der anderen Seite ist eine gewisse Warnung wohl


angebracht. Wir besitzen in den von Arrian überlieferten
Gesprächen ohne Zweifel einen zwar glanzvollen Aus­
schnitt, aber ebenso nur flüchtigen Abglanz von Epiktets
Unterricht. Es wäre sicher ganz falsch anzunehmen, wie
man gelegentlich lesen kann, dass Epiktet theoretische
Philosophie bewusst abgelehnt habe. Pointiert könnte
man sogar sagen, dass das Gegenteil der Fall ist. Natür­
lich bleibt uns dieser Teil seines Unterrichts weitgehend
verschlossen, er gelangt in den Gesprächen nur gelegent­
lich an die Oberfläche. Doch der Punkt ist ein anderer.
Hören wir zunächst Epiktets Worte:
Zuerst also üben uns die Philosophen in der Theorie ein, weil
sie das leichtere ist, und führen uns dann auf diese Weise zu
den schwierigeren Dingen. Denn hier, in der Theorie, gibt es
nichts, was uns davon abzieht, dem, was gelehrt wird, zu
folgen; aber in den Dingen des Lebens lenkt vielerlei ab.
Lächerlich ist also, wer sagt, er wolle mit Letzterem anfan­
gen. Denn es ist nicht leicht, mit dem Schwereren anzufan­
gen. (I 26. 3f.)

Philosophie als ganze Lebenskunst im Sinne Epiktets


bedarf einer Einstellung, sich ändern zu wollen, seine
Begriffe zu klären, seine Vorstellungen zu reinigen. Und
dies muss immer wieder von neuem geleistet werden.
Die praktische Umsetzung aber der Theorie ist durch­
aus der schwierigere Schritt. Wie Sokrates möchte auch
Epiktet seinen Hörern nahe bringen, dass der unreflek­
tierte Gebrauch von Begriffen Nichtwissen ist. Daher
die Forderung an den potenziellen Schüler, sich selbst zu
fragen:

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Was für einen Eindruck habe ich von mir selbst? Als wen
nehme ich mich selbst? Vielleicht als einen Weisen? Vielleicht
als einen Selbstbeherrschten? Sage ich mir vielleicht selbst
manchmal, ich bin gerüstet gegenüber allem, was da kom­
men mag? Besitze ich das dem Nichtwissenden zukommen­
de Bewusstsein, dass ich nichts weiß? (II 21. 9f.)
Es geht nicht oder gar nicht in erster Linie darum, heim­
lich Wein zu trinken und öffentlich Wasser zu predigen.
Es geht um die Übereinstimmung des ›inneren‹ und
›äußeren‹ Menschen, des Menschen zwischen seinem
Denken, das sich freilich auch in seinen Worten äußert,
und seinem Tun. Ein jüngerer Zeitgenosse Epiktets, der
Redner Favorinus (um 80 n. Chr. bis etwa Mitte des 2.
Jh.), hat dessen Behauptung überliefert, dass die Mehr­
zahl der Leute, die sich offensichtlich mit der Philoso­
phie beschäftigten, Philosophen der Art »unfähig zum
Handeln, groß nur im Reden« seien (Fragment 10, aus
Aulus Gellius, Attische Nächte). Wer Philosophie lernen
will wie ein verschnupfter Schüler (II 21. 10), der sich
letzten Endes notgedrungen ein bestimmtes Wissen an­
eignen möchte, wird den Unterricht wieder so verlassen,
wie er ihn betreten hat: als ein Nichtwissender, der al­
lenfalls meint zu wissen.
Epiktet hat ab einem bestimmten Zeitpunkt eine
rechte Berühmtheit erlangt und damit einen entspre­
chenden Zulauf, nicht zuletzt aus dem Kreis der gesell­
schaftlichen Elite, die er in seinen Beispielen oft an­
spricht. Nachdem er sich in Nikopolis niedergelassen
hatte, kamen dennoch die Schüler bis von Rom her, um
seinen Unterricht, sei es in regelrechter Weise, sei es als
›Gasthörer‹, zu erfahren. Doch (II 21. 15f.), wer kommt
wirklich in die Schule, um sich ›heilen‹ zu lassen, um
seine Meinungen und Ansichten einer Reinigung zu un­
terziehen, um zu erfahren, wessen er bedarf? Stattdessen

19
Geschwätz über philosophische Prinzipien und Fertig­
keit in formaler Logik. Kommt es aber zu existenziellen
Krisen, Tod eines Verwandten, Krankheit, eigener Not,
nützt das alles nichts. Erst dann wenn die innere Ein­
stellung besteht, die eigenen Vorstellungen auf den Prüf­
stand zu stellen anstelle eines logischen Schlusses, dann
erst wird man mit Gewinn, das heißt mit ruhigem, kla­
rem Verstand in die Schule gehen und die Kraft der
Vernunft, des Logos, verspüren (II 21. 22).
Daher rührt also Epiktets Ablehnung einer Theorie
um ihrer selbst willen. Das hohle Abklopfen von
Syllogismen und gar das Herzitieren unterschiedlicher
Lehrmeinungen ohne eigene Vorstellung ist sinnlos (II
19. 5ff.). Man kann ja die stoischen Grunddogmen ken­
nen, etwa, dass alle Dinge in Güter, in Übel und in
Mitteldinge zu unterscheiden sind:
Güter sind die Tugenden und was an ihnen teilhat. Übel sind
die Schlechtigkeiten und was an der Schlechtigkeit teilhat.
Mitteldinge oder gleichgültige Sachen sind diejenigen, welche
zwischen jenen beiden in der Mitte stehen: Reichtum, Ge­
sundheit, Leben, Tod, Lust und Schmerz. (II 19. 13)
Doch was nützt es, das zu wissen und zu wissen, ob
dies irgendein Geschichtsschreiber oder irgendein Phi­
losoph gesagt hat, wenn man dann in einen Seesturm
gerät?
Wirst du da an diese Einteilung der Dinge denken, wenn das
Segel rauscht und ein Mitpassagier zur Unzeit, jetzt, da du
ein Jammergeschrei erhebst, fragt: »Sage mir, bei den Göt­
tern, was du neulich gesagt hast: Ist Schiffbruch zu erleiden
eine Schlechtigkeit oder etwas, das an einer Schlechtigkeit
teilhat?« Wirst du da nicht ein Stück Holz ergreifen und auf
ihn einschlagen? »Was habe ich mit dir zu schaffen, Mensch?
Wir gehen zugrunde, und du kommst und machst dich lus­
tig?« (II 19. 15f.)

20
Aber, antwortet Epiktet (II 25) einem Gesprächspartner,
der ihn bittet, ihn von der Notwendigkeit der Logik zu
überzeugen, wenn du ohne logische Kenntnisse bist,
würdest du es ja nicht einmal erkennen, ob ich mit mei­
nen Argumenten Recht habe oder dir nicht einen Trug­
schluss vorgeführt habe.
Wer sich also philosophisch ausbilden lassen will und
meint, dies sei allein mit der Erfassung der theoretischen
Grundlagen − in den Begriffen der Schulphilosophie
von Logik, Physik und Ethik − geschehen, der täuscht
sich. Man kann sich eine ganze Büchersammlung kaufen
und ›verschlingen‹; sinnlos wäre es aber, nur die ›un­
verdauten‹ Theoreme wiederzugeben (I 26. 16). Aber
natürlich täuscht sich auch derjenige, der glaubt, es sei
ein Fortkommen ohne diese theoretischen Grundlagen
möglich. Das Lesen von Büchern ist durchaus eine Vor­
bereitung für das Leben (IV 4. 1). In diesem Sinne ist
auch der 52. Abschnitt des Handbüchleins zu verstehen,
in dem es heißt, dass das wichtigste Gebiet in der Phi­
losophie, in dem man verweilen müsse, die Anwendung
der erlernten Prinzipien sei. Denn was nütze es, wenn
man zwar die logischen Regeln beherrsche und bewei­
sen könne, dass man nicht lügen dürfe, aber im prakti­
schen Leben dann doch lüge? Freilich ohne Kenntnis
dieser Regeln und ohne deren Anwendung fehlt jedes
Kriterium dafür, ob man lügen darf oder nicht.

4. Epiktet lesen

Arrian schreibt in der Einleitung zu seiner »Ausgabe«

der Gespräche, dass er sich bemüht habe, »was ich ihn

[Epiktet] auch immer sagen hörte, diese Dinge so gut

21
ich konnte Wort für Wort niederzuschreiben, um für
mich selbst einige Erinnerungen an seine Art zu denken
und an seine freimütige Ausdrucksweise zu haben«. Das
mag eine captatio benevolentiae sein ebenso wie die noch
folgende Bemerkung, dass die Niederschrift ohne sein
Wissen und Wollen in die Hände vieler gekommen sei.
Das unterstreicht jedoch die vorhin gegebene Warnung
(und dies umso mehr, wenn, wie neuerdings auch ver­
mutet wird, die Gespräche von Epiktet selbst herausge­
geben wurden), dass zum Verständnis der Lehre wie
erst recht zu ihrer ›Umsetzung‹ letztlich ein ganzer phi­
losophischer Kontext gehört. Oder doch bestimmte
Voraussetzungen. Wie man zum Beispiel ein ästhetisch
geschultes Empfinden besitzen muss, um die Qualität
eines Kunstwerkes, einer Bildhauerarbeit etwa, entspre­
chend reflektiert, und nicht naiv, beurteilen zu können,
so sollte, wer einen philosophischen Vortrag schätzen
und von ihm profitieren will, »notwendig schon irgend­
welche Übung im Zuhören gehabt haben« (II 24. 10).
Dies sagt Epiktet zu einem Gesprächsteilnehmer, der
vielleicht nur zu ihm kam und mit ihm reden wollte,
weil der Philosoph schon eine Berühmtheit erlangt hat­
te. Wovon, fragt Epiktet (II 24. 11ff.), soll ich denn zu dir
sprechen? Vom Guten und Schlechten eines Menschen.
Wissen wir aber überhaupt, fragt er weiter, was ein
Mensch, was seine Natur, sein Begriff ist? Wirst du mei­
nen Argumentationen folgen können? Epiktet geht da­
bei davon aus, dass es Unterschiede der intellektuellen
und moralischen Disposition bei den Menschen gibt.
Wie man schon bei Kindern verschieden ausgeprägte
Wachheit und Auffassungsgabe erkennt, so auch beim
Erwachsenen (II 24. 17f.). Ohne eine grundsätzliche Be­
reitschaft zuzuhören und profitieren zu wollen, so
macht Epiktet immer wieder klar, die Bereitschaft letzt­

22
lich, die Vernunft zu gebrauchen, bleibt aber auch ein
erwachsener Mensch im Zustand des Kindes.
Ist diese Bereitschaft vorhanden, so müssen wir viel­
leicht keine Stoiker werden wollen. Vielen Menschen
vermögen ja beispielsweise die buddhistischen oder
christlichen Lehren und Maximen Gegenstand persön­
lichkeitsbildender Reflexion zu sein, gelegentlich Halt
und Trost in schwierigen Lagen zu vermitteln, auch
ohne dass sie sich selbst gleich als bekennende Anhänger
dieser Weltanschauungen begreifen und tiefer in sie ein­
dringen möchten. In einem solchen Sinne gehören auch
Epiktets Gespräche allemal zu den Grundtexten mensch­
licher Bemühung um ein ethisch fundiertes und damit
würdevolles Dasein, die es wert sind gelesen zu werden.
Darauf wird am Ende noch einmal zurückzukommen
sein (→ XVIII).
II Epiktets Weg

1. Epiktets Fragen in unsere Welt gestellt

Auf die Frage, ob er den Stoizismus als eine der großen


männlichen Tugenden betrachte, antwortete der ameri­
kanische Schriftsteller Tom Wolfe unlängst in einem In­
terview (Der Spiegel 35/1999): »Stoizismus ist wie eine
Brise frischer kühler Luft im prosperierenden, feucht­
heißen Gewächshaus der USA. Ich bewundere Leute
wie den Philosophen Epiktet, der während der Regent­
schaft des römischen Eroberers Domitian vor die Wahl
gestellt worden sein soll, seinen Bart abzurasieren oder
geköpft zu werden. Er bekam 24 Stunden, um über die
Sache nachzudenken, und sagte: ›Ich brauche keine 24
Stunden. Ich rasier ihn nicht ab.‹ Sie sagten: ›Dann wer­
den wir dich köpfen!‹ Und er antwortete: ›Ihr tut, was
ihr zu tun habt, und ich verfolge meine Aufgaben. Ich
bin nur eine Schüssel aus Lehm mit ein wenig Blut da­
rin, und eines Tages muss ich beides sowieso zurück­
geben.‹«
Bereits der christliche Philosoph Origenes (etwa 185
bis 254 n. Chr.) schreibt, dass Epiktet in seinen Tagen
bekannter als der nur noch von Philologen gelesene Pla­
ton sei. Tatsächlich reißt die Epiktet-Rezeption seit früh­
christlicher Zeit auch nicht mehr ab. Etliche Berüh­
rungspunkte zwischen den stoischen Anschauungen in
der Ausprägung durch Epiktet und christlicher Moral­
lehre haben diese Rezeption befördert. Das gilt insbe­
sondere für das Handbüchlein der Moral (griechisch: en­
cheirı´dion, was auch so viel wie ›Handwaffe‹ heißen
kann), das regelrechte christliche Umformungen erfah­

24
ren hat. Die große Bekanntheit gerade des Handbüch­
leins wird auch dadurch belegt, dass sich ein zentraler
Satz daraus (HB 5), »Nicht die Dinge verwirren die
Menschen, sondern ihre Meinungen über die Dinge«, als
Motto in einigen bedeutenden Werken der Literatur fin­
det. In Michel de Montaignes (1533 bis 1592) Essais, zu
Beginn des 14. Essai des ersten Buches; als Motto von
Laurence Sternes ab 1760 veröffentlichtem Roman The
Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, von
Johann Gottfried Herders Schrift von 1774 Auch eine
Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit,
und schließlich der deutsch-französischen Ausgabe von
1831 von Goethes Schrift Die Metamorphose der Pflanzen.
Und auch heute noch gehören die ethischen Präzepte
des Sklaven Epiktet neben den Briefen des Fürstenerzie­
hers Seneca und den Selbstbetrachtungen des Imperators
Marcus Aurelius (121 bis 180 n. Chr.) zu den bekanntes­
ten und tatsächlich auch gelesenen moralphilosophi­
schen Abhandlungen der Antike. Das zeigt das eben
wiedergegebene Zitat Tom Wolfes und das belegen na­
türlich vor allem die immer wieder erneuten Überset­
zungen der Gespräche sowie des Handbüchleins. Es
lohnt sich, einmal der Frage nach dem Grund hierfür
nachzugehen. Was verbindet den armseligen freigelas­
senen griechisch schreibenden Sklaven aus dem Rom
des zweiten Jahrhunderts n. Chr. mit dem erfolgreichen
amerikanischen Schriftsteller am Ende des zweiten Jahr­
tausends? Sicher, das »prosperierende, feuchtheiße Ge­
wächshaus der USA« weist manche strukturellen Ähn­
lichkeiten zum kaiserzeitlichen Rom auf. Auch hier gab
es eine in ihrer Vorrangstellung unangefochtene Welt-
oder Supermacht, eine wirtschaftliche und kulturelle
Überlegenheit ohnegleichen und in den großen Zentren
soziale Probleme aufgrund ebenfalls strukturell ver­

25
gleichbarem Zuwanderungsdruck. Natürlich, Rom war
keine Demokratie, und so ist die Gefahr, wegen eines
unrasierten Bartes auf Anordnung etwa des Präsidenten
der Vereinigten Staaten geköpft zu werden, vergleichs­
weise gering. Aus Epiktets Gesprächen, die, nebenbei
bemerkt, auch eine farbige Quelle für die Mentalitäten
und Realitäten seiner Zeit bilden, geht hingegen immer
wieder die Realität solcher Bedrohung für Leib und
Leben neben körperlicher Züchtigung, Auspeitschung,
Einkerkerung und Verbannung hervor. Aus seinem ei­
genen Leben berichtet er (I 9. 29f.), wie sein Lehrer
Musonius Rufus, um ihn auf die Probe zu stellen, öfter
sagte: »Es wird dir dies oder das von deinem Herrn
geschehen.« Worauf Epiktet nur antwortete: »Men­
schenlos!« Und in einer Art Selbstadresse (auf die offen­
sichtlich Tom Wolfes Anekdote zurückgeht) heißt es:

»Auf Epiktet, lass dir den Bart abrasieren!« − Wenn ich ein
Philosoph bin, gebe ich zur Antwort: »Ich werde ihn mir
nicht abrasieren lassen.« − »So lasse ich dir den Kopf ab­
schlagen.« − Wenn dir das ein Vorteil ist, so lass ihn ab­
schlagen. (I 2. 29)

Auf den philosophischen Hintergrund dieser Haltung


wird später zurückzukommen sein. Die Anekdote
macht jedenfalls die bedrohliche Macht der Obrigkeit
deutlich, wenn sie sich nur von einem Bart, der aller­
dings ein besonderes Merkmal der notorisch verdächti­
gen Philosophen war, provozieren ließ. Daneben aber
werden von Epiktet immer wieder ganz alltägliche Sor­
gen und Nöte angesprochen, die die damaligen und die
heutigen Menschen jedenfalls miteinander gemeinsam
haben. Es sind die Leiden durch räumliche Beengung,
durch Hitze oder Lärm, die uns zu schaffen machen,
sowie natürlich durch Krankheiten, und sei es nur ein

26
banaler Schnupfen (I 6. 30) oder doch Fieber, Gicht,
Augenentzündung, Dysenterie (III 22. 40). Manchen
mag auch die Sorge um das Essen des nächsten Tages
umtreiben (I 9. 8), alle haben Diebe und Räuber, warum
nicht auch die Gerichtshöfe zu fürchten (I 9. 15). Der
Zwang zum Gelderwerb bringt die entsprechenden Las­
ten mit sich. Schlechtes Wetter kann einer Reise entge­
genstehen (I 1. 16), aber da ist natürlich vor allem die
Abhängigkeit von den anderen, von denen, die viel be­
sitzen und die höher stehen, deren schlechtes Benehmen
und Willkür man ertragen muss (I 9. 20). Und es ist ja
nicht nur die Sorge um einen selbst und um den eigenen
Besitz, die einen quälen mag, sondern auch um Frau
und Kind, um Freunde oder Abhängige (I 1. 14; I 11. 27;
III 22. 67ff.). Was tun also die Leute den ganzen Tag,
fragt Epiktet: Rechnen, gemeinschaftlich untersuchen,
sich beraten über ein bisschen Korn oder über ein
Äckerchen oder über ähnliche Verbesserungen (I 10. 9f.).
Der eine verkauft sich letztlich selbst um dies, der an­
dere um jenes (I 2. 11), dem Dritten macht es nichts aus,
einem Höhergestellten das Nachtgeschirr darzureichen
(I 2. 8). Die Menschen sind »gefesselt durch bürgerliche
Pflichten, gebunden durch persönliche Beziehungen«
(III 22. 69), und die meisten, so lautet einmal die pessi­
mistische Sicht (I 3. 7), werden so zu Wölfen, Löwen
oder Füchsen. Nicht genug aber mit den Problemen, die
der tägliche Lebenskampf mit sich bringt, bürdet man
sich noch allerlei freiwillige Anstrengungen auf. Man
sucht sich durch Gymnastik und Bäder fit zu halten (I
1. 5), oder man tut etwas für die Bildung, reist in die
Fremde, nach Athen oder Nikopolis, um einen Philo­
sophen anzuhören (I 4. 11), oder nach Olympia, um sich
die Kunstwerke des Phidias anzusehen (I 6. 23).

27
Das sind natürlich alles Gegebenheiten, die so oder so
ähnlich auch der moderne Mensch kennt und denen er
sich mehr oder minder ausgesetzt fühlt. Aber, so würde
Epiktet antworten, im Grunde spielt die konkrete Be­
dingung überhaupt keine Rolle. Entscheidend ist doch
vielmehr die Bedeutung, die ihr der jeweilige Betrachter
zumisst. Wie es zum Beispiel keine Rolle spielt, dass wir
heutzutage keine Sklaverei im engeren Sinne des Wortes
mehr haben. Sklave sein ist für Epiktet nicht Merkmal
einer bestimmten sozialen Gruppe, sondern ein morali­
sches Kriterium, Kennzeichen des fehlenden Urteilsver­
mögens der betreffenden Menschen, kurz, eine Frage
der inneren Einstellung. Was das im Genaueren heißt,
muss noch gezeigt werden. Im ersten Gespräch des vier­
ten Buches, in dem es um den zentralen Freiheitsbegriff
geht, fordert Epiktet seinen Gesprächspartner auf, dies
doch einmal einem der hohen Herren, etwa einem, der
schon zweimal Konsul gewesen sei, offen ins Gesicht zu
sagen: Er unterscheide sich in keiner Weise vom er­
bärmlichsten, schon dreimal wiederverkauften Sklaven.
Zweimal Konsul, dreimal Sklave? Wie? Natürlich wird
der Angesprochene auf sein feines Elternhaus verweisen,
seine hohe politische Stellung und auf die Vielzahl der
von ihm wiederum Abhängigen. Allenfalls wird er zu­
gestehen, dass der Kaiser noch über ihm steht. Doch das
ist nicht gemeint. Sicher befinden sich alle Menschen auf
einer höheren oder niedrigen Stufe einer hierarchischen
Leiter. Gerade aber so eine hochgestellte Persönlichkeit
muss ständig darauf bedacht sein, ihren Einfluss zu wah­
ren. Selbst wenn sie dem Kaiser ganz nahe steht, wird
sie doch ständig in Sorge sein, dass es einmal nicht mehr
so sein könnte (IV 1. 6ff.). Zu Recht muss sie sich fragen
lassen, ob sie nicht ruhiger geschlafen habe, als sie noch
kein ›Freund‹ des Kaisers war (IV 1. 47). Und bis es so

28
weit ist, was gilt es nicht alles an Schmeichelei und An­
biederung auf sich zu nehmen? Und war denn der Herr
Senator noch nie verliebt? Hat er da nicht gelegentlich
geseufzt und gehofft, gejammert und gelitten? Hat er für
die geliebte Person vielleicht nicht mehr Geld ausgege­
ben als er gerne wollte? Solche und ähnliche Fragen
wären leicht jedem Menschen zu stellen, wobei es sich
dann schnell zeigen würde, dass der Grad der Abhän­
gigkeit mit dem der Einflechtung in das soziale System
und dem jeweiligen Status darin korreliert. Epiktet ver­
deutlicht dieses Paradoxon am Beispiel des Sklaven, der
sich nichts sehnlicher wünscht, als freigelassen zu wer­
den und der es schließlich schafft, auf der Karriereleiter
nach oben zu klettern und Senator zu werden (IV
1. 33ff.). Wenn er dann in die Ratsversammlung geht, so
Epiktet, »steckt er in der schönsten und glänzendsten
Knechtschaft« (IV 1. 40). Es ist das Streben nach schein­
bar Glückseligkeit verheißenden äußeren Gütern wie
körperlicher Gesundheit, Besitz und Macht, das doch
gerade zum Gegenteil führt. Dafür lassen sich natürlich
die eigenen Zeitgenossen, die hohen Herren anführen,
die »durch ihre Konsulate, durch ihre Würde, durch ihr
hohes Ansehen selbst nur umso elender und gefahrvol­
ler daran sind« (III 22. 28f.), oder auch historische, fast
schon sagenhafte Gestalten wie jener Lyderkönig Kroi­
sos, dessen unermesslicher Reichtum nicht seinen tiefen
Fall verhindern konnte.

29
2. Ein erster Hinweis auf das zugrunde

liegende Problem

Wir selbst sind es in Wirklichkeit, und das ist zunächst


einmal natürlich auch eine banale Einsicht, die uns pla­
gen, drücken und quälen, das heißt unsere (irregeführ­
ten) Meinungen (I 25. 28). Geht es uns nicht allen so (II
22. 6–7), dass wir uns von den Sinneseindrücken und
Vorstellungen verwirren lassen und uns ihrer verführe­
rischen Macht hingeben? Dass wir dasselbe zuweilen für
gut, dann wieder für schlecht, dann wieder für keines
von beidem halten? Dass wir in Betrübnis, Furcht,
Neid, Verwirrung geraten, Sinneswandeln unterliegen?
Dass unsere Liebe wandelbar ist, wir Reichtum und
Lust bald für gut, bald für schlecht halten? Dass wir
dieselben Menschen bald für gut, bald für schlecht hal­
ten, wir ihnen zuweilen Freund, zuweilen Feind sind,
wir sie zuweilen loben, zuweilen tadeln?
Hier gilt es also, sich Klarheit zu verschaffen, den
Grund für unsere Irrungen zu finden, um von ihnen frei
zu werden. Wer aber hiervon loskommen will, wirklich
frei sein will, auch das schärft Epiktet immer wieder ein,
der macht sich auf einen Weg, der keine Halbheiten zu­
lassen wird. Das heißt entbehren, was man früher ge­
nossen und für ein Gut gehalten hat, sich unter Um­
ständen von Menschen, Freunden fern halten, auf deren
Urteil man einst großen Wert gelegt hat. Wer schwankt,
sagt Epiktet (IV 2. 4), kann keine Fortschritte machen,
schlimmer noch, er wird weder an Weisheit zunehmen,
noch eben zu dem gelangen, was man früher gehabt hat:
Wenn du nicht mehr mit denen trinkst, mit denen du ge­
wöhnlich getrunken hast, so kannst du in ihren Augen nicht
wie zuvor ein angenehmer Kumpan sein. Wähle deswegen,

30
ob du lieber ein guter Trinker und jenen angenehm, oder
nüchtern und ihnen unangenehm sein willst. Wenn du nicht
mehr mit denen singst, mit denen du gewöhnlich gesungen
hast, so kannst du von ihnen nicht in gleicher Weise wie
zuvor geschätzt werden. Wähle also auch hier, was du lieber
willst. Denn wenn es besser ist, bescheiden und anständig zu
sein, als dass einer sage: »Das ist ein netter Kumpan!«, so lass
das andere fahren, verzichte, kehr ihm den Rücken, habe
nichts damit zu schaffen. (IV 2. 7ff.)

Das ist zweifellos ein herbes Gebot, das, wie so vieles bei
Epiktet, an christliche Aufforderungen, im Blick auf die
neue Lehre allen irdischen Gütern zu entsagen, erinnert.
Das Gebot einer Art Jüngerschaft, die in eine andere
Welt zu führen scheint. Doch Epiktets Lehre verspricht
das Glück nicht in einer anderen, sondern in dieser
Welt. Um noch einmal auf das Zitat aus dem Gespräch
mit Tom Wolfe zurückzukommen, so ist es eine Sache,
mit Bewunderung die Äußerungen eines Menschen zu
lesen, der ein Maß an innerer Freiheit erlangt hat, das in
einer immer komplexeren Welt, dem »prosperierenden,
feuchtheißen Gewächshaus«, dessen Energiequelle vom
Wunsch nach dem ›immer mehr‹ gespeist ist, so ideal
wie utopisch fern zu sein scheint. Eine andere Sache
wäre es, diesen Weg auch nur zu beschreiten. Doch wie
groß die Spanne immer sein mag, die den stoischen
Weisen, wenn es ihn denn gibt, und den Adepten, der
sich auf den Weisheitsweg begibt, trennt, so betont Epi­
ktet doch auch immer wieder, dass schon der Versuch,
diesen Weg zu gehen, seinen Wert besitzt.

31
III Die Entscheidung

1. Freiheit als Selbstbestimmung

Kehren wir noch einmal zum Begriff des ›Sklaven‹ bzw.


›Freien‹ zurück. Zunächst einmal bedeutet frei zu sein,
»nichts gegen seinen Willen, nichts mit Bedauern, nichts
unter Zwang zu tun«, wie Cicero (106 bis 43 v. Chr.) in
einer die moralischen Grundsätzen der stoischen Philo­
sophie darstellenden Schrift diese allgemein stoische
Doktrin formuliert. Und umgekehrt ist niemand frei,
wenn er nicht diese Einstellung hat: »Also sind alle
schlechten Menschen Sklaven, ja, Sklaven. Diese Fest­
stellung ist in Wirklichkeit nicht so überraschend und
erstaunlich, wie sie klingt. Denn das heißt nicht, dass
diese Menschen in dem Sinne Sklaven sind wie unsere
Sklaven, die aufgrund eines Vertrags oder einer zivil-
rechtlichen Entscheidung zum Eigentum ihrer Herren
wurden; aber wenn Sklavenschaft, wie es der Fall ist,
die Unterwerfung einer gebrochenen, zerstörten und
der eigenen Urteilsfähigkeit beraubten Seele bedeutet,
wer könnte dann verneinen, dass alle verantwortungs­
losen, alle von Begierden besessenen und schließlich alle
schlechten Menschen Sklaven sind?« (Cicero, Stoische
Paradoxien V 34f., übers. von R. Nickel).
Wichtig ist dabei zunächst, dass Freiheit in stoischer
Definition jedenfalls nicht als partikulare Rechtsbestim­
mung einer Gruppe von Personen (Freie ˘ Sklaven) zu
verstehen ist. Sie erhält damit offensichtlich eine Allge­
meinheit, an der jedes Individuum partizipieren kann.
Das unterstreicht auch das ebenfalls schon aus Epiktet
zitierte Beispiel (→ I 1) des freigelassenen Sklaven, der

32
Schritt für Schritt den sozialen Aufstieg sucht, um
am Ende doch wieder ›Sklave‹ zu sein. Soziale Stel­
lung, Macht, Geld, Ansehen, weiter zu nennen wären
noch körperliche und geistige Verfassung (Gesundheit,
Krankheit), Lebensalter, kurz die ökonomischen, poli­
tisch-sozialen, physischen und psychischen Bedingun­
gen, räumen den Menschen also offensichtlich in dieser
Sicht keine größere Freiheit ein, sind keine Faktoren
einer universellen Freiheit. Im Gegenteil scheint das
Bemühen, bestimmte Dinge, wie Macht, Geld, Anse­
hen, zu erreichen, den Grad der möglichen Freiheit eher
einzuschränken. Was versteht also Epiktet unter Frei­
heit? Jedenfalls keine Freiheit zu tun und zu lassen, was
man will, im Sinne der Befriedigung eines beliebigen
Wunschpotenzials, obwohl eine Formulierung wie »der
ist frei, dem alles nach seiner Wahl begegnet und den
niemand hindern kann« (I 12. 9), oder Freiheit sei nichts
anderes, als wenn man »leben kann, wie man will« (II
1. 23), eine solche Auffassung auf den ersten Blick nahe
zu legen scheint. In der Meinung nämlich, eine solche
Freiheit gebe es überhaupt, liegt, so Epiktet, gerade die
Unzufriedenheit, die Angst, das Unglück, das Leid der
meisten Menschen begründet. Wie schnell unserem Tun
und schon unseren Wünschen Grenzen gesetzt werden,
lehrt ja die tägliche Erfahrung. Man bewirbt sich um
eine Stelle, bekommt sie aber nicht (IV 4. 20), wird mit
Arbeit überhäuft und findet nicht die erstrebte Ruhe
und Muße, keine Zeit zum Lesen etwa (IV 4. 2; 23). Im
Schwimmbad drängt sich die Menge (IV 4. 24). Sicher­
heit gibt es schon gar nicht im Leben. Was kann man
denn machen, wenn man eine Seereise unternehmen
will (II 5. 10ff.)? Man kann den Steuermann und die
Besatzung auswählen, die geeignete Reisezeit: Dann
kommt ein Sturm. Und wer glaubte denn, alt zu wer­

33
den, ohne dass er den Verlust eines einzigen lieben Men­
schen erleben müsste:

Weißt du nicht, dass sich in einer langen Zeit notwendig viel


und mancherlei zutragen muss? Dass den einen ein Fieber
überwältigt, den anderen ein Mörder, den dritten ein Ge­
waltherrscher? Denn so ist unsere Welt, so sind unsere Mit­
menschen; Frost und Hitze, unangemessene Nahrung, Rei­
sen auf dem Lande, Reisen über das Meer, Wind, Wetter
und vielerlei Gefahren. Den einen richten sie zugrunde, den
andern treiben sie in die Verbannung, einen Dritten schicken
sie auf eine Gesandtschaft, einen Vierten wiederum auf einen
Feldzug. (III 24. 27ff.)

Der Normalbürger, wie Epiktet ihn nennt (I 27. 5), hält


den unausweichlichen Schicksalsschlägen sein Jammern
entgegen: »Der arme Mensch! Er ist tot! Welch ein Un­
glück für seinen Vater, seine Mutter! Vor der Zeit und in
einem fremden Land wurde er ihnen genommen!« Gern
vergleicht Epiktet solches Verhalten mit dem von Kin­
dern (I 29. 30ff.; II 1. 15ff.), die sich in ihrer Unerfahren­
heit von Masken schrecken lassen. Der Tod ist und
bleibt ohne Zweifel für die meisten eine solche Schre­
ckensmaske. Sie gelangen nicht einmal zu der, bereits im
delphischen »Erkenne dich selbst« formulierten Ein­
sicht, was es bedeutet ein Mensch zu sein. Es gibt na­
türlich menschliche Individuen − wer wünschte es nicht
−, die reich und gesund sind und dazu noch alt werden.
Ob die aber tatsächlich frei oder gar glücklich sind, ist
eine andere Frage. Zur condition humaine gehört es aber
doch, einmal krank zu sein, Reisen mit ihren Gefahren
zu unternehmen, überhaupt, Schwierigkeiten zu haben
und vielleicht frühzeitig zu sterben (II 5. 25f.).
Wenn es aber so ist, dass unser unreflektierter Frei­
heitsbegriff schnell auf Grenzen stößt, weil wir uns ei­

34
nerseits selbst zu Sklaven machen, das heißt abhängig
von unseren Wünschen, Hoffnungen, Begehren, von
unserer Furcht, den Nöten und Ängsten, es andererseits
auch gar nicht möglich ist, als dass dem einen diese, dem
anderen jene Zufälle begegnen »bei einem solchen Kör­
per, bei einer solchen Welt, bei solchen Mitmenschen«
(II 5. 27): liegt dann Freiheit überhaupt im Bereich
menschlicher Möglichkeit? Oder sind wir Menschen
nicht Tieren vergleichbar, die in manchmal auch mehr
oder weniger goldenen Käfigen gehalten werden, die
aber keine eigentliche Freiheit besitzen? Und für die es
dann das einzige Mittel, in die Freiheit zu kommen,
wäre, ruhig zu sterben (IV 1. 30)? Doch! antwortet Epi­
ktet wieder und wieder. Es gibt eine Freiheit auch im
Leben. Sie ist sogar leicht zu bestimmen, muss aber im­
mer wieder im Einzelfalle durch Üben hart erkämpft
werden. Daher die Täuschung der großen Masse, so
Epiktet (II 1. 22f.), die glaubt, es sei nur freien, das heißt
privilegierten Leuten vergönnt, sich (philosophisch) bil­
den zu lassen. Vielmehr sei es doch so, dass nur die freie
Menschen seien, die (philosophisch) gebildet seien. Die­
se Freiheit nun kann nur in einem selbst gefunden wer­
den. Hören wir zunächst die grundsätzliche Definition:

Frei ist, wer lebt, wie er will, den niemand zwingen, niemand
hindern, niemand bewältigen kann; dessen Antriebe unge­
hindert sind; dessen Wünsche ihr Ziel erlangen und dessen
Aversionen nie in das hineingeraten, was ihnen zuwider ist.
(IV 1. 1)

Unsere Wünsche und ihr Gegenteil, die Aversionen, un­


sere positiven und negativen Antriebe (Handlungsim­
pulse) werden dann schnell enttäuscht, wenn sie sich auf
Dinge richten, nach denen zwar die meisten Menschen
tatsächlich so sehr streben, deren Verfügbarkeit aber al­

35
les andere als gewiss ist: der eigene Körper in seiner
Sterblichkeit, Angehörige und Freunde, Haus und Hof,
Reichtum und Ansehen usw. Das Schicksal, die Natur,
wie immer man das sehen mag, kann einem einen Strich
durch die Rechnung machen und einem manches wie­
der entziehen bzw. gar nicht erst zuteilen. Diese Dinge
müssen wir also letztlich, so wie sie sind oder sich ereig­
nen, als gegeben hinnehmen. Sie sind weder gut noch
schlecht, sondern gleichgültig, ›indifferent‹, wie die Sto­
iker sagten. Zu verhindern, so kann man sich vorstellen,
ist grundsätzlich auch jede noch so geringe intentionale
Körperbewegung, also positives Handeln. Nicht zu hin­
dern ist nach Epiktets Auffassung aber der Gebrauch
unserer Vorstellungen, das heißt im Wesentlichen die
Billigung (oder Missbilligung) dieser Vorstellungen, un­
sere Urteile, und die Begehrungen (Abneigungen) sowie
Antriebe (Handlungsimpulse oder Strebungen), die wir
infolgedessen haben. Ob ich etwas für gut oder schlecht,
angenehm oder unangenehm, nützlich oder unnütz
usw. halte und mich dementsprechend darum bemühe
oder nicht. Entscheidend ist nun der »rechte Gebrauch
der Vorstellungen durch die Vernunft, den Logos« (I
1. 7; III 1. 25), der für die Einsicht in die wirklichen Wert­
verhältnisse bürgt. Da uns nämlich die so genannten äu­
ßeren und körperlichen Güter nicht tatsächlich gegeben
sind, so lautet die Schlussfolgerung, sind sie keine wirk­
lichen Güter, die wir als unverzichtbar um ihrer selbst
willen erstreben sollten. Wenn wir uns also von der tra­
ditionellen Wertvorstellung befreien, so haben die äu­
ßeren Dinge auch keine Macht mehr über uns, indem
wir in ihnen nicht mehr gezwungen, gehindert, bewäl­
tigt werden können. Es ist unsere Meinung von den
Dingen, dass sie schlecht oder gut seien, die uns in Un­
ruhe versetzt, die Dinge selbst sind es nicht (HB 5). Und

36
darin eben, in dieser − gemäß stoischer Terminologie −
sittlichen Einsicht oder Tugend (→ VI), gründet die
Freiheit und hier, sagt Epiktet, liegt dann auch das wah­
re Gut (II 22. 29), das den vermeintlichen, den äußeren
Gütern gegenübergestellt werden muss. Schlechtigkeit −
um den zwar gebräuchlicheren, aber missverständlichen
Begriff ›Laster‹ zu vermeiden − ist das Verfehlen dieser
Einsicht. Epiktets Freiheit meint also eine innere, ›psy­
chologische‹ oder ›moralische‹ Freiheit. Eine Freiheit,
die auf dem Verfügbaren gründet und sich dem Unver­
fügbaren beugt, die negativ, wie wir noch näher sehen
werden (→ V 1), als eine Freiheit von Leidenschaften zu
bestimmen ist:
Verlange nicht, dass das, was geschieht, so geschieht, wie du
es willst, sondern wolle das, was geschieht, wie es geschieht,
und du wirst zufrieden sein. (Hb 8)

Die Entscheidung zu einer solchen Freiheit, einer sol­


chen Haltung, nennt Epiktet prohaı´resis, wörtlich ›Wahl
vor der Wahl‹, eine grundsätzliche Vorentscheidung al­
so, die als solche die Fähigkeit des Menschen zur freien
(im Sinne von vernünftigen) Selbstbestimmung kenn­
zeichnet, das Prinzip der Autonomie, ja den Menschen
selbst. In dieser freien Selbstbestimmung liegt also, sagt
Epiktet, allein das Gute und das Schlechte (IV 12. 7).

2. Erste Beispiele

Sein Anliegen sucht Epiktet unermüdlich deutlich zu


machen. Gelegentlich auch an ›historischen‹ Beispielen
wie im ersten Gespräch des ersten Buches. Dort erzählt
er (I 1. 28ff.), wie sich der Senator Quintus Paconius

37
Agrippinus verhalten hatte, der an einer Verschwörung
gegen Kaiser Nero beteiligt war. Als ihm mitgeteilt wur­
de, dass sein Fall im Senat verhandelt werde, sagte er:
»Viel Glück! Aber wir haben jetzt 11 Uhr vormittags
(und zu dieser Zeit machte er gewöhnlich seine gym­
nastischen Übungen und nahm ein kaltes Bad). Gehen
wir also und machen unsere Übungen!« Als er seine
Übungen gemacht hatte, kam jemand und sagte ihm,
dass er verurteilt worden sei. »Zu Verbannung«, fragte
Agrippinus, »oder zum Tod?« − »Zu Verbannung«. −
»Und was ist mit meinem Vermögen?« − »Es wurde
nicht eingezogen.« − »Gut, gehen wir also nach Aricia
und essen zu Mittag!«
Das heißt es, eingeübt zu haben, was man eben ein­
üben soll, sagt Epiktet (I 1. 31f.), nämlich Begehren und
Vermeiden in solche Verfassung zu setzen, dass sie über
Hindernisse und Zufälle erhaben sind. Über solche Din­
ge eben wie ein Gerichtsurteil, Vermögenskonfiskation
und sogar den Tod.
Angenommen, sagt wiederum ein Gesprächspartner
im vierten Buch (IV 1. 71ff.), ich entschließe mich spa­
zieren zu gehen, und ein anderer hindert mich? − Was
an dir hindert er? Doch wohl deinen Körper, wie er
auch einen Stein hindern könnte, und nicht deinen Ent­
schluss? − Aber ich gehe nicht mehr spazieren. − Wer
sagte denn, dass das Spazierengehen dein nicht zu ver­
hinderndes Werk sei? Nicht zu hindern ist nur der Ent­
schluss. Wo man aber den Körper und dessen Mithilfe
dazu benötigt, da ist nicht, was dir gehört.
Der Umfang unserer Autonomie scheint in der Tat
eher bescheiden und doch nicht so einfach zu fassen.
Das Gespräch über die Freiheit zu Beginn des vierten
Buches ist nicht von ungefähr eines der längsten der
ganzen Sammlung. Epiktet setzt immer wieder von neu­

38
em an, um zu klären, was verfügbar ist und was nicht.
Dass ein nach allgemeiner Vorstellung so bedeutsames
Gut wie etwa die Gesundheit nicht dazugehört und sie
deshalb auch nicht zum Zweck eines Verlangens oder
Antriebes gesetzt werden sollte. Es ist ihm klar, dass das
nichts ist, was man nur einmal begreifen muss, um es
dann sein Leben lang als Handlungsmaxime zu bewah­
ren − »kein Geschäft von einer Stunde oder von einem
Tag« (I 11. 40). Wie ihm auch klar ist, dass es zunächst
eben doch paradox erscheint (IV 1. 126), wenn man be­
hauptet, es widerfahre einem kein Schaden, wenn man
geschlagen, ins Gefängnis geworfen, hingerichtet werde.
Das zu verstehen und zu verinnerlichen erfordert viel­
mehr ständige Übung und Überprüfung der eigenen
Gesinnung, die insbesondere durch das Gespräch mit
anderen − so wie es die Gespräche Epiktets vorma­
chen − gefördert wird (III 24. 103). Hänge dein Herz
nicht an Dinge, die dir nicht gehören, so werden sie dir
auch nicht zu Notwendigkeiten werden. Sage nur nicht,
dass sie für dich notwendig sind, so werden sie es auch
nicht sein:

Das ist es, was man vom Morgen bis zum Abend üben
sollte. Fange bei den unbedeutendsten und am leichtesten
zu beschädigenden Dingen an, bei einem Krug, bei einem
Trinkbecher. Dann schreite auf diese Weise fort zu einem
Kleidchen, einem Hündchen, einem Pferdchen, einem
Stückchen Land; von da zu dir selbst, deinem Körper, den
Gliedern deines Körpers, zu deinen Kindern, deiner Frau,
deinen Brüdern. Schau sie dir von allen Seiten an und dann
lass fahren dahin! Reinige deine Meinungen, damit dir nicht
etwas von dem anhaftet, was nicht dein ist, damit dir nicht
etwas angewachsen ist und Schmerzen bringt, wenn es los­
gerissen wird! Und sage jeden Tag, während du dich wie auf
dem Sportplatz übst, nicht, dass du Philosophie treibst (das

39
ist eine überhebliche Formulierung), sondern dass du als
Sklave deine Freilassung betreibst. Denn dies ist die wahre
Freiheit. (IV 1. 110ff.)

Immer wieder bietet sich der Tyrann, der Gewaltherr­


scher, als lohnendes Beispiel falscher Wertsetzung an.
Ein Tyrann wird von sich selbst, in seiner Unbildung,
meinen, er sei der Mächtigste von allen (I 19. 1f.).
»Nun«, fragt Epiktet, »was kannst du mir denn gewäh­
ren? Kannst du mir ein Wünschen verschaffen, dem
kein Hindernis im Weg steht? Woher? Besitzt denn du
so ein Wünschen? Oder eine Aversion, die nicht ins
Vermiedene gerät? Besitzt denn du sie? Einen Antrieb,
der nicht fehlgeht? Woher hast du diese Macht?« Darin
erweist sich also wieder eine der stoischen Paradoxien:
Der scheinbar Mächtige ist in Wahrheit machtlos, der
scheinbar Machtlose, derjenige, der über seine Vorstel­
lungen gebieten kann, ist wahrhaft mächtig.

40
IV Die Unterscheidung

1. Lass fahren dahin!

Dass ein möglichst anspruchsloses Leben eine bessere


Grundvoraussetzung für eine solche Lebenshaltung bil­
det, ist einleuchtend. Ein Leben etwa, das auf eine gro­
ße berufliche Laufbahn verzichtet. Diese Problematik
spricht Epiktet häufig an. Wer darin einen Wert sieht,
der muss den Herrschern den Hof machen. Und nicht
nur denen, sondern auch deren Kammerdienern (I
19. 16ff.). Auch am Hofe der Cäsaren gab es die Stelle
eines Verwalters des kaiserlichen Nachtgeschirrs. Epiktet
versucht, einem Mann die Bewerbung um eine Priester-
stelle auszureden (I 19. 26ff.). Das würde doch nur viel
Unkosten wegen nichts bedeuten:
»Aber«, sagte er, »bei den Kaufverträgen werden sie meinen
Namen dazuschreiben.« − Du wirst doch nicht beim Lesen
der Verträge (jedes Mal) dabei sein und sagen: Das ist mein
Name, der da steht? Und wenn du auch jetzt in allen Fällen
dabei sein könntest, was willst du denn machen, wenn du
einmal tot bist? − »Mein Name wird doch bleiben.« − Lass
ihn in Stein hauen, so wird er auch bleiben. Nur, wer wird
sich denn außerhalb von Nikopolis an dich erinnern? −
»Aber ich werde einen goldenen Kranz tragen.« − Wenn du
einmal nach einem Kranz begehrst, so nimm einen von Ro­
sen und setze ihn dir auf; er wird dir noch besser stehen. (I
19. 27–29)

Viele der Ansprechpartner Epiktets mögen Menschen


gewesen sein, die sich in durchaus guten, ja sogar sehr
guten materiellen Bedingungen befanden und vielleicht
gerade deshalb in ihren Sorgen und Nöten die Hilfe des

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unbegüterten und doch heiter unbesorgten freigelasse­
nen Sklaven suchten. Einem Mann, der zu ihm kommt
aus Furcht, es könne ihm eines Tages an allem Notwen­
digen mangeln, er und seine Familie müssten gar Hun­
gers leiden, ruft Epiktet zunächst zu, dass der Mangel
ihn ja ohnehin nur dorthin führen könne, wohin er je­
denfalls gehen müsse, nämlich in den Tod (III 26. 1ff.).
Doch nach einer längeren Erläuterung wendet er ein (III
26. 21ff.), dass der Angesprochene nicht den Hunger
fürchte, sondern überhaupt den Verlust seines wohlha­
benden, aber in Wirklichkeit schwachen, kränklichen
Lebens, des eigenen Kochs, der Diener, des Masseurs.
Wer erst so weit in seinen Anschauungen gelangt ist, der
soll doch auf das Leben der ›Gesunden‹ schauen, der
Sklaven, Lohnarbeiter, der wahrhaft Philosophierenden,
auf einen Sokrates oder einen Diogenes (der Kyniker,
geb. um 400 v. Chr., gest. wohl um 325 v. Chr.) − zwei
›Heilige‹ in der Tradition der Stoa. Da kann man lernen,
im Besitz dessen, was einem einzig nicht genommen
werden kann, der freien Selbstbestimmung, voller Zu­
versicht zu leben. »Schaut mich an«, ruft Diogenes, »ich
habe kein Haus, kein Bürgerrecht, keinen Besitz, keinen
Sklaven; ich schlafe auf der bloßen Erde, ich habe keine
Frau, keine Kinder, kein kleines Häuschen; nur Erde
und Himmel und einen groben Mantel. Und was fehlt
mir? Bin ich nicht ohne allen Kummer, bin ich nicht
ohne jede Furcht? Bin ich nicht frei?« (III 22. 47f.) Dio­
genes stellt ein Ideal an Bedürfnislosigkeit dar, das eine
innere Freiheit spiegelt, die kaum erreichbar scheint, ge­
schweige denn von vielen Menschen je erreicht worden
ist oder erreicht werden wird. Solange es aber keine
»Republik von lauter Weisen« gibt (III 22. 67), in der
schließlich kein Diogenes mehr nötig wäre, der uns auf
das wahre Gut verwiese, so lange muss man immerhin

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einen Weg in zunehmende Unabhängigkeit anstreben.
Epiktet hat selbst ein entsprechend bescheidenes Dasein
geführt. Und im Sinne der eben genannten Übungsan­
weisungen passt auch die kleine Geschichte (I 18. 15),
wonach ihm einst eine eiserne Öllampe gestohlen wur­
de. Daraufhin habe er zu sich selbst bemerkt: »Morgen
wirst du eine aus Ton bekommen.« Denn man verliere,
was man habe. Dennoch: Das entscheidende Problem
besteht natürlich nicht darin, im einen oder anderen Fall
die Vergänglichkeit materiellen Besitzes anzuerkennen,
sondern die gleiche Vergänglichkeit auch dem eigenen
Sein oder dem eines nahe stehenden Menschen zuzu­
gestehen. »Mache dir nichts aus deinen Kleidern und du
bist über den Dieb nicht entrüstet« (I 18. 11). Das mag
angehen. Die Kleider sind erkennbar äußere Dinge und
werden, wird man gerne einräumen, nichts zum Glück­
lichsein beitragen. Aber auch noch Folgendes?: »Mache
dir nichts aus der Schönheit deiner Frau, so entrüstest
du dich nicht über den Ehebrecher. Erkenne, dass ein
Dieb und ein Ehebrecher bei dem, was dein ist, keinen
Platz finden, sondern nur bei solchen Dingen, die dir
ganz fremd und nicht in deiner Gewalt sind« (ebd. 12).
Lass fahren dahin! Wie kann man das üben? Durch eine
Reinigung der Begriffe, das heißt eben durch die klare
verstandesmäßige Unterscheidung dessen, was im ei­
genen Machtbereich liegt bzw. was nicht, und die Ein­
sicht, dass unverfügbar ist, was nicht in diesem Macht­
bereich liegt. Diese Unterscheidung nennt Epiktet auf
Griechisch dihaı´resis, ein Begriff, der mit dem vorhin (→
III 1) eingeführten Begriff der freien Selbstbestimmung,
der prohaı´resis, nicht nur etymologisch zusammenhängt.
Denn die freie Selbstbestimmung soll ja unsere Wünsche
und Antriebe nur auf diejenigen Dinge lenken, die im
Bereich unserer Macht liegen. Das einleitende Kapitel

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des Handbüchleins fasst gut zusammen, was man das
sytematische Zentrum der Lehre Epiktets nennen könn­
te:

Die einen Dinge stehen in unserer Macht, die anderen nicht.


In unserer Macht stehen Urteil, Antrieb, Wunsch, Aversion,
mit einem Worte alles, was unsere Sache ist. Nicht in unserer
Macht steht dagegen unser Körper, unser Besitz, unser Ruf,
unser Amt, kurz alles, was nicht unsere Sache ist. Was in
unserer Macht steht, ist seiner Natur nach frei, kann nicht
verwehrt noch verhindert werden. Was nicht in unserer
Macht steht, ist schwach und knechtisch, kann verwehrt
werden und ist in fremder Hand. Denke also daran, dass du
in Hindernisse, in Klagen, in Unruhe geraten und Gott und
Menschen beschuldigen wirst, wenn du das seiner Natur
nach Knechtische für frei und das andern Angehörige für
dein Eigentum hältst. Wenn du dagegen nur das, was wirk­
lich dein ist, für dein ansiehst, was aber andern angehört, für
das, was es ist, für etwas Fremdes, so wird dich niemand
jemals zwingen, niemand dich hindern, du wirst niemanden
beschuldigen, niemandem Vorwürfe machen, wirst nichts
widerwillig tun, es wird dir niemand Schaden zufügen, du
wirst keinen Feind haben; denn es wird dir nichts begegnen,
was dir schädlich sein könnte. (HB 1. 1–3)

Will man diese Lehre noch einmal in einem Satz zusam­


menfassen, so könnte man jetzt sagen, dass man Freiheit
besitzt, wenn man im Wissen um das, was in der ei­
genen Macht steht, niemals etwas begehrt oder beklagt,
was nicht in der eigenen Macht steht.
Wer sich diese Lehre zu Eigen gemacht hat, der wird
wohl dem Gewaltherrscher, der einen in Ketten legen
lassen möchte (I 19. 7ff.) entgegnen können, er solle dies
tun, wenn es ihm eben vorteilhafter erscheine. Ja, er wird
ihm entgegenschleudern, nicht er, der Tyrann, sei sein
Herr, sondern Zeus habe ihm die Freiheit (nämlich der

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Selbstbestimmung, der prohaı´resis) geschenkt, der Ty­
rann sei allenfalls Herr seines Leichnams. Den könne er
ja nehmen, wenn er wolle. Und da ist es nur ein Trug­
schluss, wenn ein Gesprächspartner einwendet (I 29.
11ff.), er wolle doch Herr über die Anschauungen seines
Gegenübers sein. Denn wenn er ihn − etwa durch An­
drohung körperlicher Gewaltmaßnahmen − in Furcht
versetze, dann habe er doch die Herrschaft über die An­
schauung erlangt. Welcher Irrtum, ruft Epiktet! Die freie
Selbstbestimmung ist autark. Sie kann von niemandem
als von sich selbst überwunden werden.

2. Noch einmal Theorie und Praxis

Furchtlosigkeit nun vor dem Tyrannenthron unter­


scheidet sich auf logischer Ebene nicht vom bereitwil­
ligen Akzeptieren etwa eines Schnupfens. Aufgrund
spekulativ gewonnener Anschauung mögen die meisten
zustimmen, dass das Gute bzw. Schlechte in uns und
nicht in den äußeren Dingen besteht. Niemand nennt es
ein Gut, dass es Tag ist, oder ein Übel, dass es Nacht ist,
und das größte Übel, dass drei vier sei (III 20. 2). Das
Wissen (die sichere Erkenntnis) nennt man ein Gut, den
Irrtum ein Übel. Dass dies aber im praktischen Leben zu
unterscheiden keine eben leichte Sache ist, macht Epi­
ktet immer wieder gerne deutlich, indem er sich gegen
die Meinung wendet, man könne allein mit philosophi­
scher Logik die Sache angehen (III 2. 5ff.), weshalb er
auch in der eben zitierten Passage IV 1. 110ff. (→ III 2)
die Formulierung ›die Freilassung betreiben‹ der For­
mulierung ›Philosophie treiben‹ vorgezogen hat. Der
stoische Ursatz, dass alles Seiende entweder ein Gut

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oder ein Übel oder keines von beidem sei (II 19. 13), ist
ohne Bedeutung, wenn man ihn sich nicht prüfend zu
Eigen gemacht hat. In wirklich existenziellen Situatio­
nen, bei der Bedrohung des eigenen Lebens, zeigt sich,
wie weit die Philosophie hinreicht. Wer würde, so sahen
wir schon (→ I 3), wenn er auf einem Schiff in schweren
Sturm geriete, anfangen, darüber zu rechten, ob Schiff­
bruch zu erleiden eine Schlechtigkeit oder etwas damit
Zusammenhängendes sei? Solche, die die »stoischen
Sprüchlein hersagen können« (II 19. 22), gibt es unzäh­
lige, das ist Epiktet klar. Aber einen Stoiker?
Zeiget mir doch einen! Bei Gott, ich möchte einen Stoiker
sehen! Ihr könnt mir keinen zeigen, der dieses Gepräge trägt.
Nun so zeigt mir wenigstens einen, der sich dazu formt, der
sich in diese Richtung bewegt! Erweist mir die Wohltat!
Missgönnt einem alten Mann ein Schauspiel nicht, das er bis
dahin noch nicht gesehen hat. Glaubt ihr, dass ihr den Zeus
oder die Athene des Phidias zeigen werdet, eine Schöpfung
aus Elfenbein und Gold? Zeige mir einer von euch eine Men­
schenseele, die eines Sinnes und Willens mit Gott zu sein
verlangt, die weder Gott noch Menschen anklagen, nichts
verfehlen, in nichts hineingeraten, die von Zorn, Neid und
Eifersucht frei sein will, kurz − denn warum soll ich um die
Sache herumreden? − einen Menschen, der sich sehnt, aus
einem Menschen ein Gott zu werden und noch in diesem
sterblichen Körper auf die Gemeinschaft mit Zeus bedacht
ist. Zeigt ihn mir! Doch ihr könnt es nicht. (II 19. 24–26)

Am Ende, aber das wäre dann schon vollendete Weis­


heit, sollte man die Sicherheit des Urteils erlangt haben,
dass sich weder im Schlaf noch im Rausch noch wäh­
rend einer depressiven Phase eine ungeprüfte Vorstel­
lung einschleicht. Wer hier meint, Fertigkeit alleine im
richtigen Schließen sei hinreichend, den fragt Epiktet, ob
er denn wirklich unbestechlich sei, unanfällig gegenüber

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einem hübschen Mädchen, frei von jeglichem Neid,
wenn etwa der Nachbar erbt. Studieren, das heißt, sich
in der Philosophie unterrichten lassen, ist also wirklich
nichts anderes und nur eben dies, als lernen, was uns zu
Eigen gehört und was fremdes Eigentum ist (IV 5. 7).
Man sieht am Schluss eines anderen Gesprächs (III
20. 18f.) geradezu die Schüler vor ihrem Lehrer sitzen,
nachdem dieser ihnen einen Vortrag über Gut und Böse
und über Geduld und Gelassenheit gehalten hat, und
ihnen dann scheinbar ein wenig ungelassen zuruft:
»Aber was geschieht? Für die Schule reichen diese Din­
ge. Mit nach Hause nimmt sie keiner, sondern gleich
habt ihr wieder Krieg mit dem Sklavenburschen oder
mit den Nachbarn, mit denen, die euch verspotten oder
verlachen.«

3. Erste Hinweise auf das Ziel der Ausbildung

Der Preis der Freiheit ist allerdings der Mühe wert. Wer
ihn einmal erworben hat, wer frei von Furcht und Trau­
rigkeit ist, für den gibt es keine Herrscher und deren
Günstlinge mehr. Er wird keinen Neid gegenüber denen
verspüren, die die Karriereleiter nach oben geklettert
sind (III 24. 117). Er wird sagen, der andere hat ein Amt
erworben, ich dafür eine natürliche Rücksichtnahme auf
das Empfinden der Mitmenschen und auf das eigene
Empfinden (IV 3. 8f.). Er hat erworben, worauf An­
spruch zu haben dem Menschen verwehrt ist, ich da­
gegen das wahre Gut. Man möge auf einen reichen
Menschen blicken (IV 9. 1ff.). Tut man das mit Neid,
weil man den Reichtum vermisst, so ist man allerdings
schlecht dran. Wenn man aber den Reichtum vermissen
kann, hat man mehr und weit Wertvolleres gewonnen:

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Ein anderer hat eine schöne Frau, du den Vorzug, nicht nach
einer schönen Frau zu begehren. Meinst du, das sei wenig?
Doch wie viel würden diese Männer, die in Reichtümern
und Würden und mit schönen Frauen zusammenleben, da­
rum geben, wenn sie in der Lage wären, ihr Geld, ihre Wür­
den und selbst diese schönen Frauen, die sie lieben und die
sie haben, gering zu achten? (IV 9. 3)

In einem kurzen Gespräch (I 30) wird in einer Art lo­


gischer Deduktion gemeinsam mit einem Schüler noch
einmal rekapituliert, dass alles gleichgültig sei, was nicht
im Bereich der freien Selbstbestimmung liegt, also die
äußeren Dinge. Mit diesem ›Rüstzeug‹ kann der Schüler
dann getrost vor einen der Mächtigen treten:

Ich stelle mir bei Gott vor, [sagt Epiktet,] du denkst dann
folgendermaßen: »Wozu so große und viele Vorbereitungen
um ein Nichts? Das war also die Macht? Das war das Vor­
zimmer? Das waren die Höflinge? Das die Leibgarde? Um
solcher Dinge willen habe ich so viele Vorträge angehört?
Das war ja nichts, und ich habe mich darauf, als auf ich weiß
nicht was Großes vorbereitet.« (I 30. 6–7)

Wer verstanden und gewissermaßen ›griffbereit‹ hat,


dass Nachrichten immer nur die äußeren Dinge betref­
fen, nicht aber die freie Selbstbestimmung, heißt es in
einem anderen Gespräch (III 18. 1ff.), der wird sich nicht
mehr beunruhigen lassen. Nicht wenn man ihm mitteilt,
dass der und der gestorben sei, dass der eigene Vater
einen enterben wolle, nicht wenn einem ein ungerechtes
Urteil vor Gericht drohe. Der Tod eines anderen (wie
auch der eigene) liegt nicht in deiner Macht, nicht deine
Selbstbestimmung, also du selbst, deine Persönlichkeit,
sondern dein Erbe wird betroffen, nicht du urteilst un­
gerecht, sondern der Richter. Unbeschadet bleibt davon
deine Aufgabe, dich gelassen, respektvoll und ohne

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Zorn zu verteidigen. Die äußeren Dinge sind so der
›Stoff‹ für die Ausübung der freien Selbstbestimmung
(I 29. 2). Letztlich steht dann die Einsicht (I 9. 34), dass
kein Mensch wegen eines anderen unglücklich ist.

4. Eine Nachbemerkung

Als Sklave geboren und aufgewachsen war Epiktet


in seiner Bewegungs- und Handlungsfreiheit natürlich
stark eingeschränkt. Zusätzlich war die Bewegungsfrei­
heit im engeren Sinne des Wortes durch seine körper­
liche Behinderung weiter begrenzt. Freigelassen aber
musste er erneut erfahren, wie kaiserlicher Befehl ihm
den Aufenthaltsort diktierte. Dass die philosophischen
Bemühungen Epiktets so immer wieder um den Begriff
der Freiheit kreisen, die für ihn aufgrund eben seiner
Erfahrungen nicht im Äußeren zu finden sein konnte, ist
daher sicher kein Zufall und psychologisch gut zu er­
klären.

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V Ein Grundleiden

1. Die Affekte

Es war schon einmal die Rede davon (→ III 1), dass


nach Epiktets Auffassung Leidenschaftslosigkeit ein we­
sentliches Merkmal des freien Menschen ist. Kurz gesagt
war die Lehre von den Leidenschaften oder Affekten
(griechisch [Singular]: pathos) überhaupt das Zentrum
der stoischen Philosophie, indem Glückseligkeit (→ VI)
in der Affektfreiheit (Apathie) bestand, und umgekehrt
die Leidenschaften als Quelle des Unglücks angesehen
wurden. Wenn wir heute von einem ›stoischen Men­
schen‹ im landläufigen Sinn sprechen, meinen wir ja
auch wesentlich einen Menschen, der seine Gefühle ge­
genüber allen möglichen, meistens schlimmen, Zufällig­
keiten unter Kontrolle hat. Diese Kontrolle hatte nun
für die Stoa die Vernunft zu gewährleisten und sie war
nach ihrer Auffassung auch vollständig dazu in der Lage.

2. Furcht

Man unterschied vier Grundaffekte, Begierde, Furcht,


Lust und Unlust (Betrübtheit), die jeweils wieder in wei­
tere Unterarten aufgeteilt werden konnten. Unter die
Unlust fallen etwa Neid, Missgunst, Kummer, Ärger,
Ekel usw. Die Bedeutung der Affekte, das heißt ihre
Entstehung und Wirkung, soll aber hier am Beispiel der
Furcht expliziert werden. Sie ist eines der Grundleiden,
in bezug auf die Epiktet immer wieder klar zu machen

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versucht, dass die Furcht vor einer Sache, dem Tod et­
wa, einer Krankheit, schlimmer ist als die Sache selbst,
oder, genauer gesagt, dass sie das eigentliche Übel ist.
Ein anderer in Rom wirkender Philosoph, der aus der
konkurrieren Schule Epikurs stammende Lukrez (um
96 v. Chr. bis um 53 v. Chr.), hatte dies in seinem gro­
ßen Lehrgedicht Über die Natur (De rerum natura) in
eindrucksvollen Versen immer wieder hervorgehoben.
Die Furcht vor dem Tode ist die Quelle der Qualen
(fontem curarum hunc esse timorem, III 82), die die Men­
schen zu allerlei Unheil treibt und in einer paradoxen
Steigerung sogar zum Selbstmord führen kann. Auch
Lukrez will, wie sein Meister Epikur (um 342/341 bis
271/270 v. Chr.), die Menschen von der Bedeutungslo­
sigkeit des Todes überzeugen. Der Tod geht uns also
nichts an: nil igitur mors est ad nos (III 830). Dazu möch­
te er zeigen, dass die Seele, wie jedes andere zusammen­
gesetzte Ding, sich im Tode auflöst und ihre Wahrneh­
mungsfähigkeit verliert. Anders der Ansatzpunkt des
Stoikers Epiktet. Wohl nimmt auch er an, wie wir später
noch genauer sehen werden (→ XII), dass sich nach
dem Tode alles in seine elementaren Bestandteile auflöst.
Und insofern ist auch hier eine Angst vor irgendwelchen
Strafen in der Unterwelt etwa ohne Grund. Doch selbst
wenn sich das anders verhielte, wäre es nicht zu ändern
und fiele jedenfalls in einen Bereich, für den der Mensch
nicht mehr zuständig wäre. Wichtiger ist es also zu
erkennen, welchem Mechanismus die Furcht an sich ge­
horcht. Furcht entsteht, weil ich etwas für ein Übel hal­
te, Krankheit oder Tod zum Beispiel, und deswegen die­
se vermeintlichen Übel zu vermeiden suche. Werde ich
dann aber doch krank, werden daraufhin meine Reak­
tionen angesichts dessen, was ich ja vermeiden wollte,
vielleicht noch unkontrollierter, zur Furcht kommt noch

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die Betrübtheit hinzu, ich werde ganz unfähig, sittlich
richtig, das heißt vernünftig, zu entscheiden. Epiktet be­
zeichnet mit dem Begriff agōnia, ›Angst‹, einer Unterart
der Furcht, von dem sich auch unser Begriff Agonie her­
leitet, den emotionalen Konflikt, der entsteht, weil man
in etwas als Übel aufgefasstes hineinzugeraten droht,
oder auch umgekehrt, weil man befürchtet, etwas nicht
zu erhalten, was man für ein Gut hält (der Künstler zum
Beispiel den Applaus des Publikums). Auch äußerlich
wird der Konflikt an bestimmten physiologischen Sym­
ptomen sichtbar: Man wird blass, zittert, klappert mit
den Zähnen, hat schlaflose Nächte (II 13. 12f.; IV 10. 28).
Aber Angst ist für Epiktet eben keine instinkthafte, ge­
wissermaßen biologisch erworbene, und damit unbe­
einflussbare Verhaltensweise, sondern eine Art ›Krank­
heit‹ des Logos:

Wenn du also jemanden mit blasser Gesichtsfarbe siehst, so


sage auch du, wie ein Arzt aufgrund der Farbe erklärt, dass
einer an der Milz oder Leber leidet: »Das Wünschen und die
Aversion dieses Menschen ist in Leidenschaft gezogen, befin­
det sich nicht auf dem richtigen Weg und fiebert.« Denn das
und sonst nichts verändert die Farbe, verursacht Zittern und
Zähneklappern. (II 13. 12)

So lässt sich dieses Verfehlen, dieses pathos von Wün­


schen und Aversion wieder auf die Fehleinschätzung
derjenigen Dinge, die in unserer Gewalt stehen und der­
jenigen, die das nicht tun, zurückführen. Wenn er daher
einen Menschen in Angst sehe, so Epiktet (II 13. 1), dann
sage er sich: Was hätte der wohl gern? Gewiss etwas,
das nicht in seiner Gewalt steht; sonst dürfte ihm nicht
angst sein. Epiktet macht auch hier wieder klar, wie
schwierig diese Unterscheidung tatsächlich ist. Ja mehr
noch, das Problem ist, dass die meisten Menschen gar

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nicht erkennen, dass in ihr die Grundlage allen Verhal­
tens besteht, sofern es je Verbindlichkeit beansprucht;
eine Grundlage, ohne die man zweifellos in der Welt
herumirrt wie ein Fremder, der nicht einmal weiß, in
welchem Lande er gerade lebt, geschweige denn, was
seine Gesetze und Gebräuche sind (II 13. 6). Wohl ver­
weist Epiktet hier auf die Bedeutung philosophischer
Ausbildung. In allen möglichen Lebenssituationen zieht
man die entsprechenden Fachleute, etwa Juristen bei
Erbangelegenheiten, hinzu: Wenn es sich aber um die
vernünftige Richtung des Wünschens und der Aversion,
um den Antrieb, den Drang zum Handeln, um Absicht
und Vorsatz handelt, unternimmt man das alles ohne
einen Sachverständigen (II 13. 7f.). Aber man weiß doch
gar nicht,

dass man Dinge verlangt, die einem nicht gegeben sind, und
dass man das nicht will, was notwendig ist; und weiß nicht,
weder das, was eigen, noch das, was fremd ist. Denn wenn
man dieses wüsste, so könnte man weder aufgehalten noch
gehindert werden, würde folglich nie in Angst sein. (II 13. 8)

Was nicht von unserer Selbstbestimmung abhängt, die


äußeren Dinge, so schärft es Epiktet auch hier, wie so
oft, ein (II 13. 10f.), ist weder ein Gut noch ein Übel. Es
geht uns insofern nichts an. Was aber von ihr abhängt,
kann uns niemand nehmen, oder etwas davon verschaf­
fen, was wir nicht wollen: Wo wäre da noch Platz für
Angst?
Wer das weiß und zu seinem Selbst gemacht hat, wird
sich in völliger Sicherheit wiegen, keine schlaflosen
Nächte haben und sich auf seinem Bett von einer Seite
auf die andere werfen. Das heißt es dann ein Philosoph
zu sein. Nicht Syllogismen und Trugschlüsse um ihrer
selbst willen aufzulösen und sich dann doch am Leib

53
packen zu lassen (II 13. 23). Epiktet illustriert das gerne
am Beispiel eines hochgestellten Menschen. Der make­
donische Kronprinz Antigonos (II. Gonatās, um 320 bis
239 v. Chr.) war ein begeisterter Anhänger des schon
erwähnten (→ I 2) Gründers der stoischen Schule, Ze­
non von Kı´tion. Wenn Zenon nun zu Antigonos ging,
so Epiktet (II 13. 14f.), war ihm nicht angst, da er nur das
hoch schätzte, worüber Antigonos keine Gewalt hatte.
Umgekehrt jedoch war dem Antigonos angst, weil er
dem Philosophen gefallen wollte; dies aber stand eben
nicht in seiner Macht. Antigonos gelang es übrigens
auch als König später nicht, Zenon an seinen Hof zu
ziehen.
VI Menschenglück

Vom Glück oder Unglück der Menschen war bislang


bereits einige Male die Rede und auch davon, dass Epi­
ktet einen Weg zum Erwerb des Glückes zu vermitteln
verspricht. Es ist daher Zeit, seine Vorstellung mensch­
lichen Glückes etwas näher in den Blick zu nehmen.
Alle Menschen suchen irgendwie danach, auch wenn
sie dabei oft merkwürdige Wege zu gehen scheinen und
subjektiv oder objektiv eben dieses, ihr persönliches
›Glück‹, verfehlen. Was ›Glück‹ sei, ist daher die
Grundfrage jeder Ethik seit der Antike, die etwa auch
den Ausgangspunkt der Nikomachischen Ethik des Aris­
toteles (384 bis 322 v. Chr.) bildet. Es ist jedenfalls, so
Aristoteles, das Gute, nach dem alle streben, ein oberster
Wert. Mit dieser formalen Definition sind natürlich die
Probleme noch nicht gelöst; denn die Tatsache, dass die­
ses Streben auf sehr unterschiedliche Dinge hin gerichtet
ist, macht eine nähere Definition umso schwieriger und
führt zu den unterschiedlichsten Antworten. Für den
philosophischen Menschen kann sich freilich ›Glück‹
nur aus ihm, dem Menschen selbst heraus, und nicht
etwa aus den Dingen ergeben, die, wie alle so genannten
›äußeren‹ bzw. ›körperlichen Güter‹ (Reichtum, Anse­
hen, Leben, Gesundheit, Kraft usw.), dem Zufall ausge­
setzt sind und oft nur kurzfristige Befriedigung ver­
sprechen. Allenfalls können diese Güter eine ergänzende
und unterstützende Funktion haben. So besteht für
Aristoteles das Glück des Menschen in einer Betätigung
seiner geistigen Gaben und einer praktischen Ausübung
seiner moralischen Qualitäten. Das ist die berühmte Un­
terscheidung zwischen kontemplativem und aktivem

55
Leben, wobei Aristoteles wohl bei aller persönlichen
Bevorzugung des wissenschaftlich-kontemplativen Le­
bens auch gesehen hat, dass der Mensch als soziales Le­
bewesen nicht ohne eine aktive Teilnahme am Leben
sein kann. Auch für den Stoiker findet der Mensch sein
›Glück‹ keinesfalls im Äußeren, sondern nur, wenn er
sich auf sein Inneres konzentriert. Eine auf der Vernunft
aufbauende sittliche Vollkommenheit oder Tugend (grie­
chisch: aretē [›Vortrefflichkeit‹]; lateinisch: virtus) ist in
diesem Sinne das einzige als sein Glück zu fassende Gut
des Menschen. Sie ist dafür notwendige und hinreichen­
de Bedingung, so dass ein dadurch ausgezeichneter
Mensch vielleicht nach landläufiger Meinung unglück­
lich scheinen mag, etwa weil er krank ist oder in Armut
lebt, es aber als Träger dieser stoischen Tugend tatsäch­
lich nicht ist. Denn die vernunftvolle Einsicht in die
wahren Werteverhältnisse, die Abwertung aller so ge­
nannten äußeren Güter (→ III 1), bewirkt, dass man sich
keine Zwecke außerhalb eben dieser Einsicht setzt, da­
mit in dieser Einsicht selbst alle seine Zwecke erreicht,
leidenschaftslos und glücklich ist. Glück ist nach sto­
ischer Ansicht also ein innerer Zustand (der Leiden­
schaftslosigkeit → V 1) im Bewusstsein der Realisierung
aller selbst gesetzten Zwecke. Hierzu sei zunächst noch
einmal aus einem der Ethischen Briefe Senecas zitiert, der
die auf seiner natürlichen Anlage beruhende Möglichkeit
des Menschen im Gegensatz zu den anderen Lebewesen
hervorhebt (76, 8–10, übers. von R. Rauthe):
»Alles trägt sein eigenes Gut in sich. Einen Weinstock zeich­
net seine Fruchtbarkeit und der Geschmack des Weins aus,
Schnelligkeit einen Hirsch; wie kräftig der Rücken bei Last­
tieren ist, fragt man, deren einziger Nutzen darin besteht,
Lasten zu tragen; bei einem Hund steht Spürsinn an erster
Stelle, wenn er wilde Tiere aufspüren, Laufvermögen, wenn

56
er sie einholen, Kühnheit, wenn er sie beißen und auf sie
losgehen soll: Das muss bei jedem Lebewesen am besten
sein, wofür es von Natur geschaffen wird, wonach es be­
wertet wird. Was ist beim Menschen am besten? Die Ver­
nunft (ratio): durch sie ist er Tieren überlegen und kommt
den Göttern nahe. Also ist vollkommene Vernunft sein spe­
zifisches Gut, die übrigen Eigenschaften hat er mit Tieren
und Pflanzen gemein. Er ist stark: Löwen auch. Er ist schön:
Pfauen auch. Er ist schnell: Pferde auch. Ich sage damit nicht,
er ist in all diesen Eigenschaften unterlegen; ich frage nicht,
welche Eigenschaft er in höchstem Maß in sich hat, sondern
was nur ihm eigen ist. Er hat einen Körper: Bäume auch. Er
hat inneren Antrieb und vom Willen gesteuerte Bewegung:
Tiere und Würmer auch. Er hat eine Stimme: aber eine wie
viel lautere haben Hunde, eine gellendere Adler, eine dump­
fere Stiere, eine lieblichere und melodischere Nachtigallen?
Was ist beim Menschen das spezifische Gut? Die Vernunft:
Wenn diese fehlerfrei und zur Vollendung gebracht ist, macht
sie das Glück des Menschen vollkommen. Wenn also jede
Sache, sobald sie ihr eigenes Gut bis zur Vollkommenheit
entwickelt hat, lobenswert ist und zum Ziel ihrer natürlichen
Bestimmung gelangt ist, für den Menschen aber das ihm ei­
gene Gut die Vernunft ist, ist er, wenn er diese bis zur Voll­
kommenheit entwickelt hat, lobenswert und hat das Ziel sei­
ner natürlichen Bestimmung erreicht. Die vollkommene
Vernunft nennt man sittliche Vollkommenheit (haec ratio per­
fecta virtus vocatur) und, was dasselbe ist, das sittlich Gute.«
In der Vernunft findet der Mensch seine natürliche Be­
stimmung. Tugend ist deren fehlerfreier und vollkom­
mener Gebrauch, die damit zugleich Ursache seines
Glückes wie dieses selbst ist, da sie die richtige Einstel­
lung zu den Dingen garantiert. Die Tugend ist somit das
einzig besitzenswerte Gut, und den Weg zum Glück
finden, heißt, und das betont daher auch Epiktet immer
wieder, auf diese spezifische Möglichkeit des Menschen
zu blicken:

57
»Ich Unglücksmensch, dass mir dies zustoßen musste!« −
Nicht so! Sage vielmehr: »Ich Glücksmensch, dass ich, ob­
wohl mir dies zugestoßen ist, mich weiterhin frei von Kum­
mer fühle, indem ich ebenso wenig von dem, was augen­
blicklich auf mir lastet, niedergeschmettert werde, wie ich
mich vor dem, was noch kommt, fürchte.« Denn derartiges
konnte jedem zustoßen; aber nicht jeder würde sich darauf­
hin weiterhin von Kummer frei gefühlt haben. Warum soll
denn nun jenes eher ein Unglück sein, als dieses ein Glück?
Nennst du das überhaupt bei einem Menschen Unglück, was
kein Abweichen von der Natur des Menschen ist? Und
scheint dir das ein Abweichen von der Natur des Menschen
zu sein, was dem Willen seiner Natur nicht widerspricht?
Was also? Du kennst doch diesen Willen. Das, was dir zu­
gestoßen ist, hindert dich doch nicht etwa gerecht zu sein,
hochherzig, besonnen, verständig, unvoreilig, wahrhaftig,
ehrfurchtsvoll, freimütig zu sein und die sonstigen Eigen­
schaften zu beweisen, in deren Besitz die menschliche Natur
ihr eigenes Wesen voll entfaltet? Sei also darauf bedacht bei
jedem, das dich in Kummer versetzen kann, von folgender
Anschauung Gebrauch zu machen: Nicht dass dies Ereignis
ein Unglück ist, sondern dass es tapfer zu ertragen ein Glück
ist. (Fragment 28b, aus Mark Aurel)

An dieser Stelle wird auch deutlich, inwiefern die von


Epiktet immer wieder eingeprägte Unterscheidung (di­
haı´resis) in die Dinge, die im Bereich der eigenen Macht
liegen, und die, die nicht darin liegen (→ IV 1), im Zu­
sammenhang mit dem Glück steht. Denn die vernunft­
volle Einsicht hierin lenkt die eigenen Zwecke auf den
Bereich des Erfüllbaren, das ist diese Einsicht selbst, und
verhindert umgekehrt Enttäuschungen und damit ver­
bundene Affekte durch ein Nichterlangen dessen, was
man zu erlangen wünschte, oder durch ein Hineinge­
raten in das, was man zu vermeiden trachtete. Alle an­
deren Tugenden wie Besonnenheit, Tapferkeit oder Ge­

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rechtigkeit sind dann letztlich nur eine Folge dieser
grundlegenden Einsicht in die wahren Wertverhältnisse.
Daher kann Epiktet in den eben von Mark Aurel zitier­
ten Worten sagen, dass ein bestimmtes Ereignis, eine
Krankheit etwa, tapfer zu ertragen, ein Glück sei, denn
diese Tapferkeit entspringt ja der Einsicht, dass dieses
Ereignis, die Krankheit, nicht zu den wirklichen Gütern
zähle.
Das höchste oder wahre Gut, man mag es ›Glück‹
(griechisch: eudaimonı´a), ein gelingendes Leben oder
wie auch immer nennen, kann, das mag aus dem bisher
Gesagten deutlich geworden sein, nur da gefunden wer­
den, wo die auf vernunftvoller Einsicht gründende freie
Selbstbestimmung herrscht. Ebenso mag einleuchten,
dass man genau genommen diese Einsicht als Tugend,
und damit das Glück, entweder besitzen kann oder
nicht. In diesem Sinne gibt es keine Grade der Weisheit
oder des Glückes. Wer die Tugendeinsicht besitzt, ist der
im stoischen Sinne ›Weise‹. Ein Punkt, auf den nachher
noch einmal zurückzukommen sein wird (→ IX). Dass
der Weg zum Glück aber grundsätzlich allen Menschen
offen steht, ist sich Epiktet gewiss, da Gott alle Men­
schen zur Glückseligkeit und Gemütsruhe erschaffen
hat, indem er ihnen die Kraft der Vernunft zum freien
Gebrauch verliehen hat:

Denn der Gott hat alle Menschen zum Glücklichsein, zur


Gemütsruhe erschaffen. Dazu hat er die Mittel gegeben, wo­
bei er sie einem jeden Menschen teils als etwas Eigenes, teils
als etwas Fremdes gegeben hat. Diejenigen Mittel nun, die
man hindern, wegnehmen und nötigen kann, die hat er als
nicht eigen, die nicht zu hindernden aber als eigen gegeben.
Das Wesen des Guten und des Schlechten aber legte er, wie
es seiner würdig war, der für uns sorgt und väterlich schützt,
in das Eigene. (III 24. 2)

59
VII Sorgfalt und Standfestigkeit

Bevor wir zu der Frage kommen, die gerade eben schon


anklang, zur Frage des Verhältnisses von Mensch und
Gott, muss noch das Problem angesprochen werden,
wie sich stoisches Handeln konkret realisieren lässt. Man
könnte der Meinung sein, nur wer überhaupt in Bedürf­
nislosigkeit lebe, wie etwa einer der kynischen Philoso­
phen, der sei in der Lage, eigentlich als freier Mensch zu
handeln. Doch auch wenn der Entschluss, auf Hab und
Gut weitgehend zu verzichten, sicherlich eine gute
Übung im Sinne Epiktets sein und manches Problem
von vorneherein ausschließen mag, so könnte auch das
am Kern der Sache vorbeigehen. Es kommt darauf an,
in jeder Situation die Vernunft als Entscheidungsinstanz
und leitendes Prinzip und damit die freie Selbstbestim­
mung zu bewahren. Das heißt, dass es zum Beispiel eine
verfehlte Zwecksetzung wäre, ein bestimmtes Amt,
etwa das des Praetors, zu erstreben. Aber innerhalb des
Amtes, wenn es einem verliehen wird (IV 5. 6), mit der
gleichen inneren Haltung zu verfahren, nämlich nichts
begehren und nichts vermeiden zu wollen, was nicht im
Bereich der eigenen Macht liegt, das wäre vernunftge­
mäß und insofern auch im Einklang mit der Natur ste­
hend. Auch kann etwa die Ehe nicht Ziel und Zweck an
sich sein. Aber, wenn sie einem gegeben wird, kommt
es darauf an, sich selbst naturgemäß dabei zu bewahren.
Nicht also etwa zu wollen, dass Frau oder Sohn keine
Fehler begehen; denn das liegt an jenen, nicht an einem
selbst (IV 5. 6f.).
Hinter diesen Überlegungen steht die grundsätzlich
aufzuwerfende Frage, wie man die äußeren, nicht-eige­

60
nen Dinge handhaben soll. Wer hört, dass die äußeren
Dinge niemals gut oder böse, nützlich oder schädlich
seien, könnte der nicht leicht zu dem Schluss geführt
werden, dass man in diesen Dingen ohne alle Sorgfalt
verfahren müsse? Keineswegs, antwortet Epiktet (II
5. 6ff.). Denn das wäre ein Übel für die freie Selbstbe­
stimmung und damit wider die Natur gehandelt. Wohl
sind die äußeren Dinge weder gut noch schlecht und
damit in stoischer Terminologie indifferent, aber ihr Ge­
brauch ist nicht indifferent und daher mit Sorgfalt anzu­
gehen. Und genau da liegt eben die Schwierigkeit, beides
zu vereinen: Die Sorgfalt eines Menschen, der dem
›Stoff‹ ausgesetzt ist, und die Standfestigkeit eines Men­
schen, der ihm keine Beachtung schenkt. Ließe sich das
nicht vereinen, wäre es nicht möglich glückselig zu sein.
Epiktet verdeutlicht das am Beispiel einer Schiffsreise,
die als allgemeines Beispiel für die Lebensreise stehen
kann:

Doch machen wir es so, wie bei einer Seereise. Was kann ich
dabei tun? Den Steuermann, die Seeleute, den Tag, die Ge­
legenheit auswählen. Dann kommt ein Sturm. Was betrifft
mich das noch weiterhin? Ich habe ja das meinige erfüllt. Das
ist die Aufgabe eines anderen, des Steuermanns. Aber das
Schiff geht unter! Was kann ich denn machen? Ich tue nur,
was ich kann, und mehr nicht. Ich ertrinke ohne Furcht,
ohne Geschrei, ohne Vorwurf gegenüber Gott, wie ein
Mensch, der weiß, dass alles, was geworden ist, auch ver­
gehen muss. (II 5. 10ff.)

Entscheidend bleibt ohne Zweifel die Haltung zu den


Dingen. Das impliziert jedoch nicht, indem die äußeren
Dinge grundsätzlich als indifferent betrachtet werden,
dass ein sinnvolles Handeln nicht möglich wäre. Die
Stoiker bezeichneten Verhaltensweisen und Handlun­

61
gen, die der Artnatur eines Lebewesens entsprechen, in­
dem sie zuvorderst der Selbsterhaltung dienen, als ihm
›zukommende Funktionen‹ (unglücklich über das La­
teinische [officia] als ›Pflichten‹ übersetzt, da solche zu­
kommenden oder eigentümlichen Funktionen sich auch
schon bei Pflanzen und Tieren zeigen). Und denjenigen
Dingen oder Zuständen, auf die sich diese Handlungen
richten, dem Leben oder der Gesundheit zum Beispiel,
kommt deshalb ein relativer Wert zu. Man sah sie als
›bevorzugt‹ an (oder im Falle der instinktiven Ableh­
nung von zum Beispiel Tod und Krankheit als ›nicht
bevorzugt‹ oder ›zurückgesetzt‹). Relativ ist der Wert
dieser Dinge insofern, als sie für das Glück weiterhin
indifferent bleiben, da ein Erreichen ja nicht verfügbar
ist. Der Mensch will also zum Beispiel im Sinne einer
natürlichen Selbsterhaltung lieber gesund als krank sein.
Es wäre nun unvernünftig und daher auch nicht im Ein­
klang mit der stoischen Definition der Tugend und des
Glückes stehend, den naturgemäßen Antrieb, gesund zu
sein, zu unterdrücken. Im Gegenteil würde damit ja
wieder eine Wertung eingeführt, die den äußeren Din­
gen nicht zukommt, und die Gefahr einer Affekterre­
gung heraufgeführt. Man wird also Gesundheit zwar der
Krankheit vorziehen, ob man aber gesund oder krank
ist, weder als gut noch als schlecht ansehen. Und daher
formuliert Epiktet (III 20. 4): »Ist die Gesundheit ein
Gut, die Krankheit aber ein Übel? − Nein, Mensch! −
Was dann? − In der rechten Weise gesund sein, ist ein
Gut; in der unrechten ein Übel.« Auch das soziale Ver­
halten des Menschen wurde in entsprechender Weise
aus seinem natürlich vorgegebenen Antrieb zur Selbst­
fürsorge hergeleitet, der sich, gewissermaßen in konzen­
trischen Kreisen, als Fürsorge auch für den Nächsten bis
hin zur staatlichen, ja menschlichen Gemeinschaft ent­

62
faltet und auf deren ›Lebenswerte‹ achtet. Daher ergibt
sich die Bevorzugung von Ehe, Familie, Freundschaft
bis hin zur Beteiligung am Staatsleben (III 7. 26), gewis­
sermaßen aus der sozialen Natur des Menschen, ja sogar
einer spezifischen Berufsstellung, etwa als Ratsherr (II
10. 19f.), und ermöglicht damit auch eine Einordnung
des Stoikers in die bürgerliche Welt. Immer aber gilt,
dass ein Handeln im Sinne der Tugend nur dann be­
steht, wenn diese Handlungen aus dem Wissen um ihre
Bedeutung hervorgehen, das heißt aus dem Wissen da­
rum, dass der Erfolg nicht bei uns liegt. Vom sanften
und von Vorbehalt geleiteten Gebrauch der Antriebe
spricht daher auch das Handbüchlein (HB 2, 2). Konse­
quenterweise unterschieden die Stoiker weiterhin zwi­
schen naturgemäßen, ›zukommenden‹ Handlungen, die
auch der nicht weise ›Normalbürger‹ begehen kann,
ohne dass er die innere Einsicht in die Wertverhältnisse
besitzt, und daher auch stets der Gefahr des Affektes
unterliegt, und solchen Handlungen, die ›vollkommen‹,
sittlich gut, sind, weil sie aus solcher inneren Einsicht
geschehen. Bedeutung hat also nur das Tun, nicht was
durch das Tun erreicht wird: »Was du tust, ist nicht
gleichgültig, sei also sorgfältig! Aber sei zugleich stand­
haft und unerschüttert, denn der Stoff ist gleichgültig!«
(II 5. 7f.)
Da im Einzelfall natürlich keineswegs immer so ein­
fach zu entscheiden ist, wie man sich verhalten soll, hat
man innerhalb der Stoa eine ausgeklügelte Kasuistik
dazu entwickelt, über die sich Gegner gelegentlich auch
lustig gemacht haben. Doch bildet sie den Ausgangs­
punkt von Pflichtenlehren und Benimmvorschriften bis
in unsere Zeit hinein. Im Handbüchlein findet sich ein
längerer Absatz (33) mit entsprechenden Vorschriften für
das Verhalten im täglichen Leben. Es geht dabei eben­

63
so darum, wie viel man reden soll − wenig! −, wie um
das sexuelle Verhalten (möglichst kein geschlechtlicher
Verkehr vor der Ehe). Grundlage dieser und anderer
Vorschriften ist die Forderung nach einer vernunftbe­
stimmten Selbstbeherrschung und damit Vermeidung
möglicher Affekte.
VIII Gott und Mensch

1. Vorsehung

Epiktets Ethik, die Anschauung, dass das höchste und


einzige Gut, die innere Freiheit ist, die uns, den Men­
schen allein, im naturgemäßen Gebrauch der Vernunft
zuteil wird, besitzt ihr Fundament in der weiteren An­
schauung von der vernünftigen und zweckgerichteten
göttlichen Natur des gesamten Kosmos. Im stoisch tra­
ditionellen Sinne kann Epiktet von Zeus, Gott, den Göt­
tern, der Natur, der Vernunft, der Vorsehung sprechen
und damit diese sinnvolle, alles durchwaltende Ordnung
meinen, die als solche ein Beweis Gottes ist:
Wenn Gott Farben gemacht hätte, aber kein Vermögen, sie
zu schauen, was nützte es uns? Nichts. − Wenn er uns wie­
derum zwar das Sehvermögen gegeben, aber die Dinge nicht
so gemacht hätte, dass sie unter unser Sehvermögen fielen,
was, erneut, nützte es uns ? − Nichts. − Was aber? Wenn er
zwar dieses beides geschaffen hätte, Licht aber nicht ge­
schaffen hätte? − Auch dann hätten wir keinen Nutzen da­
von. − Wer hat also dies für jenes und jenes für dieses pas­
send gemacht? (I 6. 3ff.)

Manches erinnert hierbei an christliche Vorstellungen


von der göttlichen Fürsorge, wobei die Ähnlichkeit der
Formulierung nicht den Unterschied verkennen machen
darf. Wohl deckt sich, was der Mensch als das Gute
einsieht, mit dem, was von Natur gut ist (Röm. 2, 14f.).
Doch geht der christliche, offenbarte Gott der Natur
voran, ist nicht im stoischen Sinne Natur und Weltseele.
Diese stoische Gottnatur hat an sich allen übrigen Ge­

65
schöpfen Nahrung, ›Kleidung‹ und Lagerstätten gewis­
sermaßen mitgegeben. Die Menschen müssen sich nicht
darum kümmern, vielmehr sind Pflanzen und Tiere
zum Dienen bestimmt und so geschaffen, dass sie keiner
weiteren Fürsorge bedürfen (I 16. 1ff.). Wer sieht, so Epi­
ktet, wie aus Gras Milch und aus Milch Käse wird, und
dass Wolle aus dem Fell wächst, und wie ebenso beim
Menschen die göttliche Vorsehung alles in sinnvollster
Weise eingerichtet hat, wer hätte Worte genug, das wür­
dig zu loben und zu preisen?
Denn wenn wir Verstand hätten, was sollten wir insgesamt
und einzeln anders tun, als die Gottheit besingen und preisen
und seine Wohltaten aufzählen? Sollte man nicht beim Gra­
ben und Pflügen, beim Essen den Lobgesang auf Gott sin­
gen: »Groß ist Gott, dass er uns diese Werkzeuge gab, die
Erde zu bebauen! Groß ist Gott, dass er uns Hände gab, dass
er unsere Kehle, dass er unseren Magen geschaffen hat! Der
gemacht hat, dass wir unvermerkt wachsen, dass wir atmen
im Schlafe!« (I 16. 15ff.)

2. Der Mensch als Verwandter Gottes

Die größte Gabe aber, die die Menschen und im Unter­


schied zu den übrigen Lebewesen empfangen haben, ist
die Kraft des Intellektes. Während die Tiere zwar auch
sinnliche Vorstellungen gebrauchen, kann der Mensch
den Gebrauch mit dem Verstand erfassen (I 6. 12ff.). Der
Mensch bzw. seine Seele ist auf diese Weise mit dem
Göttlichen »verbunden und in Berührung, indem sie
Teile und Bruchstücke von ihm sind« (I 14. 6). Ja, in
Hinsicht auf seinen Körper ist er vergänglich, in Hin­
sicht auf die Vernunft »ist er nicht geringer noch kleiner

66
als die Götter« (I 12. 26). Den stärksten Ausdruck findet
bei Epiktet diese Auffassung von der göttlichen Ver­
wandtschaft des Menschen in der Formulierung, dass in
jedem von uns ein göttlicher Geist, ein Daimon − das ist
eben der (nicht einfach einem Gewissen gleichzusetzen­
de) Logos −, wohnt, der über uns wacht:
Er [Gott] hat jedem als Aufseher den Daimon eines jeden
zur Seite gestellt und ihm als Wächter übergeben, und zwar
einen, der nicht schläft und nicht getäuscht werden kann.
Denn welchem besseren und sorgfältigeren Wächter hätte er
jeden von uns übergeben können? Wenn ihr daher die Türen
geschlossen und innen dunkel gemacht habt, denkt daran,
niemals zu sagen, dass ihr allein seid! Denn ihr seid es nicht,
sondern der Gott ist darin und euer Daimon (I 14. 12–14).

Wenn aber die Erfüllung seiner im ›Schöpfungsplan‹


vorgegeben Möglichkeit die vornehmste Aufgabe eines
jeden Lebewesens ist, so folgt daraus eben für den Men­
schen, dass er nicht nur wie die Tiere isst, trinkt, schläft,
sich fortpflanzt und dergleichen mehr. Im Blick auf seine
Nähe zu Gott dient also der Vergleich mit dem Tier
zum Hinweis auf die besondere Stellung des Menschen
in der Welt:
Für ein Wesen, das durch seine Einrichtung nur fähig ist,
[sinnliche Vorstellungen] zu gebrauchen, ist es schon genug,
dass es diese irgendwie gebraucht. Hingegen ein Wesen, das
eines vernünftigen Gebrauches der Vorstellungen fähig ist,
würde seiner Bestimmung nicht entsprechen, wenn nicht
auch die richtige Weise des Gebrauchs dazukommt. Was al­
so? Ein jedes von den Tieren hat Gott bestimmt, das eine
gegessen zu werden, das andere zum Ackerbau zu dienen,
ein anderes Käse zu geben, wieder ein anderes zu anderer
solchen Notwendigkeit; und wozu brauchen sie dabei den
Vorstellungen mit dem Verstand zu folgen und in der Lage
zu sein zwischen ihnen zu unterscheiden? Den Menschen

67
aber hat Gott zu dem Zweck in die Welt gesetzt, dass er
seiner, Gottes, und seiner Werke Betrachter, und nicht nur
Betrachter, sondern auch Interpret sei. Dem Menschen wäre
es deshalb eine Schande, wenn er da anfangen und aufhören
wollte, wo es auch die vernunftlosen Tiere tun. Er sollte
vielmehr zwar da anfangen, wo sie anfangen, aber erst da
aufhören, wo in unserem Fall auch die Natur aufgehört hat.
Sie hat aber bei der Betrachtung der Dinge und dabei, ihnen
verstehend zu folgen, und schließlich bei einer mit der Natur
übereinstimmenden Führung des Lebens aufgehört. Seht also
zu, dass ihr nicht ohne Betrachter dieser Dinge gewesen zu
sein sterbt. (I 6. 17–22)

Hier ergibt sich also auch die stoische Zentralforderung


nach einem Leben in Übereinstimmung mit der Natur.
Dies heißt eben, in Übereinstimmung mit der gott- oder
naturgegeben Bestimmung als Mensch, als vernunftbe­
gabtes Lebewesen zu leben. Dies heißt weiterhin zu er­
kennen, dass diese Natur, Gott, Zeus, wie immer wir sie
nennen wollen, wohl keine Macht über die äußeren,
körperlichen Dinge verliehen hat − wir müssen sie zu­
stimmend wirken lassen −, dafür jedoch, als kostbarstes
Geschenk, die Urteilsfreiheit, die uns, wenn wir sie nur
gebrauchen, alle Zufälle und Schwierigkeiten ertragen
lässt. Denn dass es diese Zufälle und Schwierigkeiten
gibt, kann ja nicht bestritten werden. Sie können, wie
wir noch sehen werden (→ XI), sogar im positiven Sin­
ne als Proben der eigenen Standfestigkeit in der Urteils­
kraft angesehen werden. Dass die Weltordnung jeden­
falls insgesamt gut ist, auch wenn darin negative Aspekte
ihren Platz haben, bezweifelt Epiktet nicht:
Er [Gott] aber hat angeordnet, dass es Sommer und Winter,
Fülle und Mangel, Tugend und Schlechtigkeit und alle der­
gleichen Gegensätze gibt, damit das Ganze eine Harmonie
bilde. (I 12. 16)

68
Wir können also nicht die Voraussetzungen ändern,
denn das ist uns weder gegeben, noch wäre es gut, das
überhaupt zu versuchen, weil wir uns dann Gott und
dem göttlichen Plan widersetzen würden (III 24. 24).
Sondern wir müssen uns heranbilden, damit wir, wäh­
rend die Dinge so sind, wie sie sind und wie ihre Natur
ist, unseren Entschluss mit dem Geschehenden in Über­
einstimmung bringen (I 12. 17).
Doch die meisten Menschen sitzen nur da, zittern
vor Furcht, es möchte ihnen dies oder das begegnen,
weinen, heulen und winseln über das, was ihnen wirk­
lich begegnet, und hadern zuletzt mit den Göttern (I
6. 37ff.). Wer so lebt, kann nicht in Übereinstimmung
mit Gott, nicht in Übereinstimmung mit der Natur le­
ben. Freilich ist sich Epiktet bewusst, dass die meisten
Menschen eben nicht so leben, wie die meisten Men­
schen − wenn überhaupt einer − auch keine Stoiker
sind:
Es geht bei uns wie auf einem Jahrmarkt. Da werden Vieh
und Ochsen hingetrieben, um verkauft zu werden; die meis­
ten Menschen [gehen hin], teils um zu kaufen, teils um zu
verkaufen. Nur einige wenige sind es, die als Betrachter bei
diesem Jahrmarkt zugegen sind [und fragen]: »Wie und wa­
rum geschieht das? Wer hat diesen Markt angeordnet und in
welcher Absicht?« Gerade so geht es auch hier bei diesem
Jahrmarkt [in unserer Welt] zu. Einige sind wie das Vieh an
nichts sonst interessiert als am Futter. Denn wer sich von
euch mit Besitz und Äckern und Sklaven und irgendwelchen
Ämtern beschäftigt: Das ist nichts anderes als Futter. Nur
wenige dagegen sind es, die sich auf diesem Jahrmarkt als
aufmerksame Betrachter einfinden [und nachfragen]: »Was
ist denn nun die Welt? Wer regiert sie? Niemand? Wie wäre
es möglich, dass zwar eine Stadt oder ein Haus ohne Auf­
sicht und Regierung nur sehr kurze Zeit bestehen könnte,
diese so große und schöne Einrichtung aber blindlings, von

69
ungefähr, doch in so planvoller Ordnung verwaltet würde?
Es gibt also einen, der sie regiert. Aber von welcher Be­
schaffenheit ist er? Wie regiert er? Und wir, als was sind wir
von ihm geschaffen worden und zu was für einem Zweck
sind wir bestimmt? Haben wir eine Verbindung mit ihm,
eine Beziehung zu ihm, oder überhaupt keine?« Das ist es,
was diese wenigen Menschen empfinden. Und nunmehr
widmen sie sich keiner anderen Aufgabe, als diesen Jahr­
markt zu erforschen, um dann wieder heimzugehen. Was
also? Werden sie nicht von den vielen ausgelacht? − Das
geschieht den Zuschauern dort [auf dem Jahrmarkt] auch
von den Kaufleuten. Ja, auch das Vieh, wenn es Bewusstsein
hätte, würde alle auslachen, die etwas anderes bewunderten
als das Futter. (II 14. 23 −29)
Die folgende Passage, in der sich Epiktet selbstironisch,
aber damit den Gedanken pointierend, als »lahmer
Greis« bezeichnet, gehört vielleicht zu den anspre­
chendsten der Gespräche. Jedes Lebewesen erfüllt in die­
ser göttlichen Ordnung dann seine Aufgabe, wenn es,
entsprechend den ihm von der Natur gegebenen Ver­
mögen, so gut wie möglich zu leben versucht. Dem
Menschen hat die Natur, hat Gott als einzigem Lebe­
wesen die Vernunft zugeteilt, deren Lob daher die vor­
nehmste Aufgabe ist:
So sollten wir bei jeder Gelegenheit singen und den größten
und heiligsten Lobgesang aber darüber anstimmen, dass er
uns die Fähigkeit gegeben hat, diesen Dinge verstehend zu
folgen und nach der Ordnung Gebrauch davon zu machen.
Was also? Weil ihr vielen blind dagegen seid, sollte denn da
nicht jemand sein, der diesen Platz ausfüllte und für alle Gott
den Lobgesang darbringt? Denn was kann ich lahmer Greis
andres tun, als Gott loben? Wäre ich eine Nachtigall, so täte
ich, was die Nachtigall kann. Wäre ich ein Schwan, ich täte,
was der Schwan kann. Nun bin ich ein vernünftiges Ge­
schöpf, also muss ich Gott loben. Das ist mein Werk; ich will

70
es verrichten und diesen Posten nicht verlassen, so lange es
mir vergönnt ist. Auch euch fordere ich zu eben diesem
Gesang auf. (I 16. 18ff.)

3. Der Mensch als Teil des Ganzen

Es ist bereits erwähnt worden (→ VII), dass die Stoa das


soziale Verhalten des Menschen gegenüber seinen nächs­
ten Angehörigen wie gegenüber der weiteren Gemein­
schaft betont. Ein Verhalten, das aus einem natürlichen
Antrieb der Selbstfürsorge hergeleitet wurde, der auch
die Fürsorge für die anderen einschließt. Erst die falsche
Bewertung der Außendinge führt dazu, dass das soziale
Band reißt. Die Gemeinschaft aller Menschen wird aber
zugleich in ihrer Verwandtschaft mit Gott begründet.
Vor und aufgrund ihrer göttlichen Natur sind alle Men­
schen, egal, welchen sozialen Status, welches Geschlecht
sie besitzen, welcher Nation, Kultur oder Ethnie sie an­
gehören, gleich. Sie sind alle »Weltbürger«, ob in einem
Winkel der Provinz oder in einem Palast der Hauptstadt
geboren. Ja, in einem »Gemeinwesen«, das aus Men­
schen und Gott besteht (I 9. 3ff.), in dem von Gott der
»Samen auf alles, was auf Erden geboren wird und
wächst, vorzugsweise aber auf die vernünftigen Ge­
schöpfe, herabgekommen« ist, kann man sich sogar ei­
nen »Sohn Gottes« (I 9. 6) nennen.
Der Gedanke der Gleichheit aller Menschen aufgrund
ihrer Abstammung von einer göttlichen Natur verbindet
die Stoa unmittelbar mit modernen Gleichheitsvorstel­
lungen. Auf der anderen Seite weisen die Kritiker immer
wieder darauf hin, dass diese Humanitätsidee, insofern
sie nur auf das Innenleben ziele, den Menschen nur als

71
gleich betrachte, nicht aber seine Gleichheit aktiv einfor­
dere, insbesondere durch den als Fatalismus bezeichne­
ten Vorsehungs- oder Schicksalsglauben geradezu kon­
terkariert werde.
Man kann nun zwar sicher nicht behaupten, dass das
Ziel der stoischen und speziell der Philosophie Epiktets
gewesen sei, eine Veränderung der Welt im Sinne einer
Veränderung der Verhältnisse zu schaffen. Es geht um
eine Veränderung der inneren Einstellung, die Möglich­
keit zur inneren Freiheit, die uns von Gott bzw. der
Natur gegeben ist. Gleichwohl wurde eine politische
Betätigung, im Gegensatz zur Schule Epikurs, durchaus
im Bereich zukommenden Verhaltens und der ›bevor­
zugten‹ Dinge (III 7. 26) gesehen, und beriefen sich et­
liche griechische und vor allem römische Staatsmänner
auf ihre stoische Grundanschauung. Nicht zuletzt hie­
raus ergab sich oftmals eine oppositionelle Stellung zum
herrschenden System, so dass etwa der römische Ritter
und stoische Philosoph C. Musonius Rufus, ein Lehrer
Epiktets, zweimal, unter den Kaisern Nero und Vespa­
sian, in die Verbannung geschickt wurde. Und auch Epi­
ktet selbst, für den eine im engen Sinne politische Be­
tätigung allein aufgrund seiner Herkunft nur schwer in
Frage kam, wurde im Jahr 92 oder 93 im Rahmen einer
allgemeinen Philosophenverfolgung von Kaiser Domiti­
an aus Italien ausgewiesen. Offensichtlich traute man
also auch ihm, obwohl er allenfalls von ferne Berührung
mit Fragen gesellschaftlicher Gestaltung hatte, jedenfalls
aber insofern einige seiner Hörer höhere oder hohe po­
litische Ämter bekleideten, doch entsprechenden Ein­
fluss zu.
Der Mensch unterscheidet sich von den Tieren durch
die Vernunft, so unterstreicht es Epiktet mehrfach. Er ist
damit ein Bürger und in stoischer Sicht ein bevorzugter

72
Teil dieser Welt. Zunächst dieser Welt, dieses ›Staates‹
aus Göttern und Menschen und dann auch dieses im
engeren Sinne so genannten Staates, der ein kleines Ab­
bild des universellen ist (II 5. 26). Der Mensch ist in der
Lage, die göttliche Verwaltung nachzuvollziehen und die
Folgen zu erwägen. Hieraus ergeben sich aber auch
Konsequenzen für das ›Versprechen‹, die Bestimmung
des Bürgers:
keinen Privatvorteil zu suchen, sich in keiner Beratung als
eine unabhängige Einheit zu betrachten, sondern so, wie ein
Fuß oder eine Hand, die, wenn sie Überlegung hätten und
der Einrichtung der Natur verstehend folgen könnten, nie in
anderer Weise streben oder begehren würden, als in Bezug
auf das Ganze. Darum haben die Philosophen ganz Recht,
wenn sie sagen, dass der sittlich gute Mensch, wenn er das
Zukünftige vorauswüsste, selbst zu seinem Kranksein, zum
Sterben, zum Gelähmtwerden mithelfen würde, weil er
nämlich einsähe, dass dies nach der Ordnung des Ganzen
sein Anteil ist. Das Ganze ist aber wichtiger als der Teil und
der Staat als der Bürger. (II 10. 4–6)

Bürger sein heißt also durchaus, alles auf das Wohl des
Staates (auch des ›kleinen‹) zu beziehen, und Epiktet
hebt gelegentlich hervor, dass dies auch unangenehme
Aufgaben nach sich ziehen könne (III 24. 44). Dass an­
dererseits in der Konsequenz der stoischen Philosophie
eine aktive Beteiligung am Bürgerleben von einiger Pro­
blematik sein musste, kann hier nur erwähnt werden.
Im Sinne dieser Problematik ist es zu verstehen, wenn
Epiktet (HB 24) die Aufgabe des Philosophen darauf
zurückführt, eben als solcher, in seiner moralischen Prä­
senz zu wirken.

73
IX Begehren und Meiden

In den vorangegangenen Kapiteln sind einige wichtige


Grundlagen für ein besseres Verständnis Epiktets gelegt
worden. Dies soll noch etwas vertieft werden, ganz ähn­
lich wie auch Epiktet immer wieder auf die gleichen
Fragen und Probleme zurückkommt, obwohl doch die
Grundregeln scheinbar recht schlicht sind.
Denke daran, dass das Wünschen verspricht zu erlangen,
was man sich wünscht; die Aversion verspricht zu vermei­
den, wogegen man eine Aversion empfindet. Wer in seinem
Wünschen scheitert, ist glücklos, und wer trotz der Aversion
in etwas hineingerät, ist unglücklich. (HB 2. 1)

Richtig mit Wünschen und Aversionen umzugehen,


sucht Epiktet seinen Schülern mit stets erneuerter, un­
erbittlicher Schärfe einzuprägen. Dem philosophischen
Anfänger, der noch nicht sicher auf seine Urteilsfindung
bauen kann, empfiehlt er, das Wünschen wenigstens vor­
läufig ganz aufzugeben (HB 2. 2), es aufzuschieben, bis
ein vernunftgemäßes Wünschen möglich wird, das sich
auf diejenigen Dinge richtet, die in unserer Macht stehen
(III 13. 21). Das kann erst der Fortschritt der philoso­
phischen Ausbildung erreichen. Noch grundsätzlicher
formuliert Epiktet daher: »Das Wünschen musst du
gänzlich ausrotten, die Aversion allein auf jene Dinge
umstellen, die deiner freien Selbstbestimmung unterwor­
fen sind« (III 22. 13). Auch dies ist wohl im propädeuti­
schen Sinne gemeint; denn solange man noch nicht sicher
weiß, was eine richtige Entfaltung derjenigen Dinge ge­
nau ist, die in unserer Macht sind, also unseres Urteils,
Begehrens, Antriebs, ist sie genau genommen auch noch
nicht erstrebenswert und besteht immer die Gefahr, dass

74
der philosophische Anfänger aus Enttäuschung bald von
seinem Bemühen ablässt. Daher: »Die Dinge, die in un­
serer Macht sind und die zu begehren gut wäre, sie stehen
noch nicht zu deiner Verfügung« (HB 2. 2). Die Lenkung
der Aversion hingegen kann gleich eingeübt werden. Sie
soll sich gegen falsche, nicht naturgemäße Urteile, Begeh­
rungen, Aversionen und Antriebe wenden. Auf diese
Weise wird den entsprechenden Affekten entgegenge­
wirkt. Als Beispiel führt Epiktet etwa an (III 12. 7ff.), dass
man, wenn man Mühe und Schmerz zu vermeiden ge­
neigt ist − Dinge, denen wir aber doch nicht aus dem
Weg gehen können −, seine Vorstellungen eben dahin­
gehend üben soll, dass man von einer Abneigung gegen
all dergleichen ablässt. Auf die Leidenschaften und die
ihnen mitgegebenen Folgen bezieht sich also oder zielt
Epiktets Forderung hier wie an anderen Stellen. Denn
etwas zu wünschen, ohne es zu erlangen, oder etwas
vermeiden zu wollen, aber dann doch hineinzugeraten,
das erregt Leiden(schaft), pathos, mit ihren Symptomen
›Unruhe‹ und ›Aufruhr‹, ›Unglück‹ und ›Elend‹, ›Leid‹
und ›Wehklagen‹, ›Neid‹ und ›Eifersucht‹ (III 2. 3):

Was für Dinge bewundern wir? Äußere. Um was für Dinge


geben wir uns Mühe? Um äußere. Ist es dann so schwer zu
erraten, woher es kommt, dass wir in Furcht, oder wie, dass
wir in Angst sind? Wie könnte es anders sein, wenn wir, was
von außen kommt, für schlecht halten? Wir können nicht
anders, als dass wir uns fürchten; wir können nicht anders,
als dass wir in Angst sind. Und dann sagen wir: »Herr, mein
Gott, was soll ich tun, um nicht Angst zu haben?« (II 16. 11f.)

Wir haben bereits eine Stelle zitiert (→ V 2), an der Epi­


ktet sagt (II 13. 1), wenn er einen Menschen in Angst
sehe, dann müsse der wohl etwas wollen, was außerhalb
seiner Macht, seiner Kontrolle liegt. Wenn ein Musiker

75
sein Instrument für sich alleine spielt, dann hat er natür­
lich keine Angst. Wohl aber wenn er auf die Bühne tritt
und vor einem Publikum spielt. Er will den Beifall des
Publikums, doch darüber kann er nicht verfügen, das
liegt nicht mehr in seiner Macht. Warum? Er versteht
wohl schön zu musizieren und zu singen, was aber der
Beifall oder das Auszischen des Publikums ist, das ver­
steht er eben nicht. Er versteht nicht einmal, was die
Angst selbst ist (II 16. 10), ob man sie kontrollieren kann
oder nicht. Und so verlässt er aufgeblasen vor Stolz das
Podium, wenn er Applaus erhält, zischt man ihn hinge­
gen aus, ist es mit seiner Aufgeblasenheit schnell dahin.
Ein anderer ist zu einer höhergestellten Persönlichkeit
einbestellt und hat Angst, wie er dort aufgenommen
werden möge (II 13. 17ff.). Knechtsseele! wirft ihm Epi­
ktet entgegen, er wird dich eben aufnehmen, wie er will.
Was kümmerst du dich um fremde Angelegenheiten? Es
ist doch sein Fehler, wenn er dein Anliegen schlecht auf­
nimmt. Du gehst ja ohne Bedenken zum Schuster, wenn
du Schuhe nötig hast, oder zum Gärtner, wenn du Salat
haben willst (III 24. 44ff.). Warum hast du Bedenken, zu
einem reichen oder hochgestellten Menschen zu gehen?
Du gehst, weil die Vernunft dir den Auftrag gibt, für das
Vaterland, einen Verwandten oder einen anderen Mit­
menschen etwas zu tun. Und so wenig wie du dem
Schuster oder dem Gärtner schmeichelst, schmeichle
dem hohen Herrn. Denn darum sollst du zu ihm hin­
gehen, weil es deine Aufgabe als Bürger oder Bruder
oder Freund ist, nicht weil du erwarten kannst, sicher
etwas zu erhalten. Nur derjenige macht Fortschritte (I
4. 19), der gelernt hat, dass ein Mensch, der begehrt oder
fürchtet, was außer seiner Macht steht, weder zuverlässig
noch frei sein kann, sondern »notwendig oft fallen und
durch den Unbestand jener Dinge herumgetrieben wer­

76
den muss; dass er sich notwendig anderen unterordnen
muss, die es in ihrer Macht haben, ihm jene Dinge zu
verschaffen oder zu verwehren«. Darin unterscheidet
sich eben Unverstand von Freiheit, dass jener glauben
macht, alles müsse sich nach Gutdünken einrichten, was
auch immer es ist, was einem gut dünkt (I 12. 10f.). Man
schreibt doch auch ein bestimmtes Wort nach bestimm­
ten Regeln der Schreibkunst und nicht wie es einem ge­
rade einleuchtet. Hinsichtlich der (Kunst der) Freiheit
heißt das nun, eine jede Sache also zu wollen, wie sie
geschieht (I 12. 15). Den Plan der Dinge zu ändern steht
nicht in unserer Macht, aber, was ist und geschieht, mit
unserem Innern in Einklang zu bringen, das können wir
wohl. Immer wieder fordert Epiktet dazu auf, das an
einfachen Beispielen zu sehen und zu üben. Als Fremder
in Rom etwa vermisst man seine Freunde, die gewohnte
Umgebung, die alltäglichen Gewohnheiten (II 16. 24ff.).
Doch sind es wieder nur Meinungen, die einen plagen.
Man meint, das gewohnte heimische Quellwasser ver­
missen zu müssen. Welche Tragödie! Man wird sich auch
an das in Rom gewöhnen.

»Ach! Wann werde ich Athen und seine Akropolis wieder


sehen?« − Du armer Mensch! Genügt dir nicht, was du
jeden Tag siehst? Kannst du etwas Schöneres und Größeres
sehen als die Sonne, den Mond, die Sterne, die ganze Erde
und das Meer? Und wenn du dem folgst, der dieses Ganze
regiert und ihn in dir trägst, vermisst du dann noch jene
Steinhaufen und jenen schönen Felsen? (II 16. 32f.)

Wenn man von den Freunden wegzieht, könnte man sie


kränken (II 16. 40). Es ist ihre eigene Anschauung, die sie
kränken oder plagen würde, wie du von der deinen ge­
plagt wirst. Das beste wäre, beide Seiten schafften ihre
falsche Anschauung ab. Andernfalls muss man eben wei­

77
ter gekränkt sein oder ein schlechtes Gewissen haben.
Nehmen wir überhaupt unser Verhältnis zu den Mit­
menschen (I 12. 18ff.; IV 4. 24ff.). Sollen wir vor ihnen
(und ihren negativen Eigenschaften) fliehen und zum
Einsiedler werden? Oder sollen wir versuchen, andere
Menschen aus ihnen zu machen? Wie ergeht es oft? Man
ist alleine und fühlt sich verlassen, kaum ist man unter
Menschen fühlt man sich wiederum von allen Seiten be­
lästigt und bedrängt. Ist es nicht besser, wenn man alleine
ist, die Ruhe und Freiheit zu genießen, sich göttergleich
zu dünken, und wenn man unter vielen Menschen ist,
das als eine heitere Festversammlung anzusehen, als
Menschenfreund das Fest mitzufeiern? Das Geschrei der
Leute stört doch nur dein Gehör, aber doch nicht dein
Vermögen, die Vorstellungen recht zu gebrauchen. Denn
es gilt Acht zu haben. Sehnsucht nach Stille und Muße,
Sehnsucht ungestört studieren zu können, öffnet genau­
so schnell die Tür zur Abhängigkeit wie Sehnsucht nach
Macht und Reichtum (IV 4. 1). Da ist kein Unterschied,
ob man gerne Senator sein möchte, oder ob man es nicht
sein möchte; ob man es beklagt, zu viel Zeit zu haben,
oder ob man es beklagt, zu wenig Zeit zu haben. Beför­
derung in ein hohes Amt liegt ebenso wenig im Bereich
deiner Selbstbestimmung wie Nichtbeförderung, Über­
häufung mit Arbeit ebenso wenig wie Ruhe und Muße
(IV 4. 23).
Die schwierigste Aufgabe aber ist es wohl, den Ver­
sprechungen des Begehrens in der Liebe, auch einer Lie­
be, die auf natürlicher Zuneigung − etwa zum eigenen
Kind − gründet, zu widerstehen. Denn Liebe, die mit
dem Willen zu besitzen verbunden ist, führt notwendig
zum Leid. Verliebe dich also in kein Ding so, als wenn
es dir nicht genommen werden könnte (III 24. 84ff.).
Wenn du dich zu irgendetwas hingezogen fühlst, dann
sieh es an,

78
wie wenn es sich etwa um einen Tonkrug oder ein Trinkglas
handelte, damit du, wenn es zerbricht, dich seiner Beschaf­
fenheit leicht erinnerst und nicht in Unruhe gerätst. So auch
hier im Leben. Wenn du deinen kleinen Sohn, wenn du dei­
nen Bruder, wenn du deinen Freund küsst, so lass der ange­
nehmen Vorstellung niemals völlig freien Lauf, lass die Hin­
gebung nie so weit gehen, wie sie will; sondern halte sie im
Zaum, hemme sie, so wie die es tun, die hinter den Trium­
phatoren auf dem Wagen stehen und sie daran erinnern, dass
sie Menschen sind. In dieser Weise sollst auch du dich selbst
erinnern: Du liebst einen Sterblichen; es ist nichts von den
Dingen, die dein Eigentum sind, was du da liebst; es ist dir
für die Gegenwart gegeben; es kann dir leicht genommen
werden; es ist dir nicht auf immer gegeben, sondern wie eine
Feige oder eine Traube nur für die ihnen bestimmte Jahres­
zeit. (III 24. 84–86)

Es ist schon eine harte Anforderung, die da an den an­


gehenden Philosophen gestellt wird, sich mitten im Ge­
nuss dessen, woran man Freude hat, Vorstellungen vom
Gegenteil vor Augen zu halten (III 24. 87f.). Beim Küs­
sen des Söhnchens zu murmeln: »Morgen stirbst du
vielleicht« oder beim Abschied vom Freund: »Morgen
wirst du verreisen oder ich, und dann werden wir uns
nicht mehr sehen.« Gibt es einen anderen Weg? Wie
kann ich mich befreien? »Hat man es dir nicht schon oft
gesagt?«, ruft Epiktet:

Du musst das Wünschen gänzlich auslöschen, die Aversion


allein auf solche Dinge richten, die im Bereich deiner freien
Selbstbestimmung liegen; du musst alles loslassen, deinen
Körper, Hab und Gut, Ansehen, deine Bücher, Lärm, Äm­
ter und Ämterlosigkeit. Denn wohin du dich auch immer
neigst, so bist du ein Sklave, ein Untertan, du kannst gehin­
dert, du kannst gezwungen werden, du stehst ganz unter
anderer Leute Gewalt. (IV 4. 33)

79
X Askēsis − Übung

Epiktet sieht, wie sonst die Stoa, einen scharfen Unter­


schied zwischen Mensch und Tier durch die Teilhabe
des Menschen am Logos. Weiter vorne (→ VIII 2) ha­
ben wir bereits eine Stelle angeführt, an der diese Be­
sonderheit betont wird. Epiktet macht nun weiterhin
deutlich, dass wir uns diese Besonderheit allerdings auch
im Gebrauch bewahren müssen:
Was ist der Mensch? − Ein Lebewesen, das Vernunft besitzt
und sterblich ist. − Von welchen Lebewesen unterscheidet
uns schon die Vernunft? − Von den wilden Tieren. − Und
von welchen noch? − Auch von Schafen und anderen zah­
men Tieren. − So schau, dass du nie handelst wie ein wildes
Tier, sonst hast du den Menschen verloren und deine Be­
stimmung nicht erfüllt. Schau, dass du nicht handelst wie ein
Schaf, sonst geht auch dadurch der Mensch verloren. Wann
handeln wir nun wie Schafe? Wenn wir um des Bauches,
wenn wir um der Geschlechtsteile willen, wenn wir blind­
lings, wenn wir schmutzig, wenn wir kopflos handeln.
Wohin sind wir dann gesunken? Zu den Schafen hinunter.
Was haben wir verloren? Die Vernunft. Wenn wir aber
streitsüchtig, boshaft, voll Zorn und Angriffslust handeln,
wohin sind wir dann gesunken? Zu den wilden Tieren hin­
unter. Im Übrigen sind einige unter uns große wilde Tiere,
andere kleine boshafte Tierlein, bei denen man sagen möch­
te: ›Ich wollte lieber von einem Löwen, [als von einem klei­
nen, gemeinen Tier] gefressen werden.‹ Durch alle solche
Handlungen geht die Bestimmung des Menschen verloren.
(II 9. 1ff.)

Wer als erwachsener Mensch unvernünftig lebt, lebt also


unterhalb der spezifischen Möglichkeiten seiner Natur,
verstößt gegen diese und nähert sich so dem Tier an.

80
Des Öfteren vergleicht Epiktet solche Menschen mit
Schafen, Eseln, Wölfen, Meerkatzen, Wespen und an­
deren Lebewesen. Wer sich aus diesem tierischen Sein
herausheben oder nicht mehr darin zurückfallen will,
muss lernen mit seinen Vorstellungen, den Gedanken
und Anschauungen umzugehen, diese praktisch ständig
auf den Prüfstand stellen. Was für die körperlichen Fer­
tigkeiten gilt − ein Läufer muss täglich trainieren −, gilt
auch für die seelischen. Dabei können bestimmte see­
lisch-charakterliche Dispositionen entweder verstärkt
oder überhaupt erst begründet werden, je nachdem wie
man nämlich mit den Vorstellungen umgeht und auf sie
reagiert (II 18. 1; 7). Der Kampf der Vernunft, des Logos,
mit den Vorstellungen ist daher die ständige Pflicht des
philosophisch bemühten Menschen auf dem Weg zur
Freiheit von den Affekten. »Denn gerade so erzeugt sich
die Leidenschaft. Man will etwas und es wird nichts
daraus« (I 27. 10). Die Affekte sind die Symptome einer
erkrankten Seele. Epiktet empfiehlt daher, gleich beim
ersten Auftreten entsprechender Symptome mit der
Therapie zu beginnen, weil sonst ›Narben‹ in der Ent­
scheidungsinstanz, der Seele, zurückbleiben, die beim
erneuten Auftreten eines Sinnenreizes, einer Vorstellung
noch schneller zur Begierde führen (II 18. 8ff.). Auf diese
Weise entstehen die seelische Leiden und setzen sich
fest.
Epiktet ist davon überzeugt, dass man durch hartnä­
ckiges Üben eine entsprechende charakterliche Disposi­
tion in den Griff bekommen kann. Man kann etwa aus
Schimpf und Schmach, die einem widerfahren, Vorteile
ziehen (III 20. 9ff.) wie ein trainierender Athlet. Derje­
nige, der den Schimpf zufügt, ist wie der Trainingspart­
ner; er hilft einem doch, Geduld zu lernen, Gelassenheit
und Sanftmut zu üben, den Zorn zu unterdrücken. Die

81
Vorstellung einer Verdrängung von Trieben kennt Epi­
ktet nicht.
Wenn man zum Jähzorn neigt, muss man die Tage
zählen, an denen es einem gelingt, den Zorn zu bemeis­
tern: »Wenn du dreißig Tage ohne Zorn hinter dir hast,
dann bringe dem Gott ein Dankopfer!« (II 18. 13). Im­
mer auf der Hut vor Dingen, die meine Trauer hervor­
rufen könnten, will ich es schaffen, heute und morgen
und auch in Zukunft nicht betrübt zu werden (ebd. 14).
So soll es dann auch mit den sexuellen Reizen gehen.
Das ist eine der (gar nicht so wenigen) Stellen, an denen
Epiktet die Sache mit humorvoll-ironischem Unterton
behandelt. Man sieht eine schöne Frau und sagt sich
nicht: »Könnte ich doch mit ihr schlafen!« Und man
malt sich eben die folgende Szene nicht aus, wie sich die
Frau auszieht und neben einen legt. Da streiche ich über
meine ›Glatze‹ und lobe ich mich selbst, sagt Epiktet
(ebd. 17f.), weil ich so ein schwieriges Problem gelöst
habe. Halte ich es dann aber noch aus, wenn die Dame
ihrerseits Anstalten macht, mich zu sich zu ziehen, und
lehne ab: Das ist mehr, als wenn ich den kompliziertes­
ten sophistischen Trugschluss gelöst hätte! An einer an­
derer Stelle (III 12. 10ff.) empfiehlt Epiktet bei diesen
Übungen einen behutsamen Umgang. Man soll lernen,
mit Wein umzugehen. Nicht, um trinkfest zu werden,
sondern um jederzeit auch darauf verzichten zu können.
Mit den schönen Mädchen ist das schon ein größeres
Problem: Eine solche Gesellschaft wäre für einen jungen
Mann, der gerade anfängt zu philosophieren, wahr­
scheinlich ein zu harter Kampf.
Am Ende des zuvor erwähnten Gespräches (II 18. 27)
erscheint dann auch der Begriff, auf den diese ganzen
Anforderungen und Übungen hinauslaufen: Wer sich
dermaßen enthaltsam zeigt und sich darum weiter be­

82
müht, ist der wahre Asket. Hier tritt der Kern der in­
tellektualistischen Lebensbewältigung ganz klar zutage,
wenn Epiktet sagt (ebd. 29): »Was könnte für ein grö­
ßerer Sturm sein, als der ist, den starke sinnliche Vor­
stellungen erregen, die imstande sind, von der Vernunft,
dem Logos, wegzustoßen?«
Es sollte hier vielleicht betont werden, dass sich dieses
intellektuell begründete Asketentum nicht von einer
bürgerlichen Moral ableitet, die dem Individuum Gren­
zen setzt, etwa in Hinsicht auf seine Sexualität, um die
gesellschaftliche Gruppe nicht zu gefährden. Dass es
eine solche Moral absichern hilft, ist eine andere Frage
(→ XV). Epiktet und der Stoa geht es um die Freiheit
des Individuums, die durch sexuelles Begehren, wenn es
besitzergreifend wird und nicht der natürlichen Aufgabe
der Fortpflanzung dient (HB 33, 8), ebenso gefährdet ist
wie durch Todesfurcht. Das ist das eigentliche Ziel. As­
ketentum, sexuelle Enthaltsamkeit, das Ertragen von
Mühe, Arbeit, Schmerz, Beschimpfung, ja sogar körper­
licher Züchtigung, sind daher auch nichts um ihrer
selbst willen Erstrebenswertes. Man muss zu den Übun­
gen nicht Dinge wählen, die etwas Unnatürliches haben,
sagt Epiktet, und durch ihre Seltsamkeit Erstaunen er­
wecken.
Sonst würden wir uns, die wir uns doch Philosophen nen­
nen, von den Zirkuskünstlern in nichts unterschieden. Denn
es ist auch schwer, auf einem Seil zu gehen, und nicht nur
schwer, sondern dazu noch gefährlich. Sollen wir uns daher
üben, auch auf einem Seil zu gehen, oder eine Kletterstange
aufzustellen, oder sollen wir Bildsäulen umarmen [Diogenes
soll bei kaltem Wetter nackt Bildsäulen umarmt haben, um
sich abzuhärten]? Keineswegs; denn nicht alles, was schwer
und gefährlich ist, eignet sich schon zur Übung, sondern nur
das, was dazu beiträgt, erfolgreich das gesetzte Ziel zu erlan­
gen. (III 12. 1ff.)

83
Sollte allerdings das Umarmen von Statuen dazu bei­
tragen, es auch auszuhalten, wenn man Schläge be­
kommt (III 12. 10), dann wäre eine solche Übung nicht
an sich absurd.
Bei alledem ist aber klar, dass es ein Kampf in der
Einsamkeit des Herzens, ein Kampf mit sich selbst ist,
der immer wieder erneut zu führen ist. Dazu dienen
auch die Gespräche, die immer wieder paradigmatische
Situationen aufrufen und so Übungsstoff für den ›Ernst­
fall‹ bereithalten. Man spricht ihnen in diesem Appell­
charakter zu Recht eine meditative Funktion zu. Vom
Handbüchlein führt der Weg dann zu den Selbstbetrach-
tungen Mark Aurels, in denen diese meditative, hier au-
to-therapeutische Funktion geradezu literarischen Cha­
rakter gewinnt. Komme dir selbst zu Hilfe, lautet der
ganz grundsätzliche Appell Epiktets, die Essenz seiner
›geistigen Übungen‹ (IV 9. 12ff.). Rede mit dir selbst,
dem du am ehesten gehorchen wirst und den niemand
leichter überreden könnte. Gib die Hoffnung nicht auf
wie ein feiger Mensch, der, wenn er einmal eine
Schwachheit begangen hat, sich dann auf immer drei­
nergibt und wie von einem Strome hinreißen lässt. Es
gibt kein lenksameres Ding als die Seele des Menschen.
Man muss nur wollen, meint Epiktet (IV 9. 16), »und es
ist geschehen, sie (die Seele) ist wieder in Ordnung; hin­
gegen braucht man nur einzuschlummern, so ist sie ver­
loren. In uns liegt beides, Untergang und Rettung.«

84
XI Fortschritt

1. Prüfung

Dass es recht schwer oder beinahe unmöglich sei, einen


wahrhaften Stoiker zu finden, bemerkt Epiktet immer
wieder, scheinbar resignierend. Dies liegt natürlich zu­
nächst daran, daß die Lehre auf den ersten Blick zwar
als sehr schlicht erscheint, sich aber auf den zweiten
Blick immer da, wo im eigentlichen Sinn existenzielle
Bereiche berührt sind, als außerordentlich schwierig und
fordernd erweist. Auf den gestohlenen Tonkrug verzich­
tet man eben leichter als auf einen lieben Mitmenschen.
Daher die Pflicht zu ständiger Übung und Schulung des
Verstandes, die auch noch in der schwierigsten Lage
Freiheit von Affekten und seelische Ruhe garantieren
soll. Mögen die meisten ohnehin bald an dieser Bot­
schaft scheitern, so gehört zu den Übungen derjenigen,
die es wenigstens eine Strecke weit versuchen wollen,
die Selbstprüfung der eigenen Vorsätze. Anhand rati­
onaler Abwägung soll überprüft werden, wo sich das
Denkvermögen und, wenn möglich, weshalb in die fal­
sche Richtung hat treiben lassen:
Überlege, welches du von den Dingen, die du dir anfangs
vornahmst, erreicht hast und welches nicht; und wie du bei
der Erinnerung an das eine dich freust, bei der an das andere
dich verdrießt. Und, wenn möglich, nimm auch jenes wieder
auf, was dir entglitten ist! (III 25. 1f.)

Klar zu machen gilt es sich jedenfalls, dass der ›Kampf‹


um nichts weniger als um ein gelingendes Leben und
Glückseligkeit selbst geht (III 25. 3). Daher ist auch ein

85
einmaliges oder mehrmaliges Scheitern kein Grund, die
Bemühungen aufzugeben. Man kennt die resignierte
Ausrede, wenn die Entscheidung, einem Sinneseindruck
zu folgen oder nicht, ansteht: Was soll ich machen?
Auch früher habe ich mich oft überwinden lassen. Denk
an die Schmerzen und Nachteile, die aus deinen Nei­
gungen und Fehlern folgen, sagt Epiktet, und dann ver­
suche erneut, dich zu überwinden (III 25. 7ff.).
Anfechtungen entstehen dabei nicht nur aus der Über­
macht trieberregender, nicht vernunftgemäßer Vorstel­
lungen. Beim Fortschreiten in der Philosophie entstehen
sie vielmehr auch aus einer sozialen Isolierung des Phi­
losophen von den vielen. Der Umgang färbt auf einen
Menschen ab; wer sich mit einem ›berußten‹ Menschen
einlässt, wird sich selbst Ruß anhängen (III 16. 3f.). In der
Sprache der Psychologie würde man heute von ›Ver­
stärkung‹ sprechen. Und meistens sind die ungebildeten
Menschen im Vorteil, weil sie ihren ›Grundsätzen‹, so
falsch sie auch sein mögen, treu bleiben, während die
eigenen Grundsätze eben oft nur Lippenbekenntnisse
sind. Eine Grundanschauung der stoischen Philosophie
ist es zwar, dass der Mensch einen angeborenen Gemein­
schaftssinn, ein Bewusstsein für seine Mitmenschen habe,
mit denen er die gleiche Bestimmung teilt, ja auch den
gleichen Anteil an der göttlichen Vernunft, dem Logos,
besitzt. Doch da die meisten keine Stoiker sind, sich
nicht einmal darum bemühen, es zu werden, und ihren
Willen von den Außendingen abhängig machen, bleibt
der Umgang mit den meisten problematisch. Epiktet
spricht das immer wieder (etwa III 16) ganz konkret an:
Wie willst du dich verhalten, wenn dir einer dies und
jenes, sei es Gutes oder Schlechtes, über Dritte erzählt?
Wie soll man dem Gerede der Leute entgegnen, will man
sich nicht gänzlich von den Menschen zurückziehen? Es

86
kann kein Zweifel sein: Wer in seinen Grundsätzen nicht
wirklich fest ist, der wird den philosophisch Ungebilde­
ten, den unbedarft Daherredenden, die sich freilich ihrer
Meinung ganz sicher sind, jedenfalls unterlegen sein. Tat­
sächlich rät Epiktet (III 16. 9ff.) daher auch zum Abstand
vom Umgang mit den Ungebildeten, so lange jedenfalls,
bis die eigenen Anschauungen nicht mehr wie Wachs in
der Sonne dahinschmelzen können. Am besten wäre es
in diesem Fall sogar, einen Ortswechsel vorzunehmen,
um nicht immer wieder in dieselben Kreise und damit in
die gleichen Gewohnheiten gezogen zu werden. Sich
fern zu halten fällt aber nicht leicht, doch:

Auf diesen Gesichtspunkt musst du vor allem achten, dass


du dich mit keinem deiner ehemaligen Freunde und Ver­
trauten so sehr einlässt, dass du dich mit ihm auf dieselbe
Ebene herabbegibst; andernfalls wirst du dich selbst zugrun­
de richten. Wenn dir aber der Gedanke kommen sollte: »Ich
werde ihm ungeschickt erscheinen und er wird sich nicht in
gleicher Weise wie früher [mir gegenüber] verhalten«, so er­
innere dich, dass man nichts umsonst erhält und dass man
unmöglich noch der Frühere sein und zugleich anders als
früher handeln kann. Wähle also, was du lieber willst, deinen
ehemaligen Freunden noch gleich lieb und noch der Alte
sein, oder besser geworden sein und eben nicht mehr das
Gleiche zu erlangen. (IV 2. 1ff.)

2. Weise und Toren

Das zweite Gespräch des dritten Buches trägt den Titel


»Worin man sich üben muss, wenn man Fortschritte
machen will; und dass wir bei den wichtigsten Dingen
scheitern«. In diesem Titel manifestiert sich die von Epi­

87
ktet so betonte Spannung zwischen Anspruch und
Wirklichkeit. Zugleich dient dieses Gespräch dazu, die
Ursache dieser Spannung und damit den Kern des Wi­
derspruches offen zu legen. Epiktet entwickelt hier ein
dreigliedriges System der Ethik, drei ›Gebiete‹, in denen
sich der angehende Philosoph üben muss. Das Gebiet
der Wünsche und Aversionen, das der positiven und
negativen praktischen Antriebe und das der absoluten,
unverbrüchlichen Sicherheit und Gewissheit des Urteils.
Während das dritte Gebiet einigen Fortschrittes bedarf
und in seiner Vollkommenheit als sittlicher Entschei­
dung dem Weisen zukäme, es im zweiten Gebiet um das
auf Verwirklichung des Begehrten oder Gebilligten ge­
richtete Wollen, das (richtige) Handeln bzw. Unterlas­
sen, geht, insistiert Epiktet auf dem ersten Gebiet; denn
hier geht es um die Leidenschaften, die, wie bekannt, im
Verfehlen von Wünschen und Aversionen entstehen.
Wenn es aber nicht gelingt, die Leidenschaften, die ent­
stehen, weil Wunsch oder Aversion sich auf ein ver­
meintliches Gut bzw. Übel richten, auszurotten bzw.
erst gar nicht aufkommen zu lassen, dann ist weiterer
Fortschritt letztlich nicht möglich. Expliziert wird das
am Gelehrten, der wohl allerlei theoretische Einsicht be­
sitzen mag, aber beim Lesen seiner Fachbücher beinahe
zu Tode erschrickt, wenn eine Maus herunterfällt und
etwas Lärm macht (III 2. 15).
Es ist schon bemerkt worden (→ VI), dass die sittli­
che Einsicht nach konsequenter stoischer Auffassung
nicht abstufbar ist und es deshalb keine Grade der Tu­
gend und des Glückes geben kann. Der Tugend steht die
Schlechtigkeit (das ›Laster‹) gegenüber und damit dem
Weisen, wenn es ihn denn gibt, die große Masse der
Toren. Es gibt damit eigentlich auch keinen Fortschritt.
Wie ein Mensch, so hieß es, der sich auf hoher See nur

88
ein paar Meter unter der Wasseroberfläche befindet,
nicht weniger ertrinkt als einer, der viele hundert Meter
darunter ist, so befinden sich diejenigen, die sogar nahe
an die Tugend herankommen, nicht weniger im Zustand
der Schlechtigkeit als die, die weit von ihr entfernt sind.
Eine solche, doch eher abschreckende Anschauung teilte
Epiktet offensichtlich nicht. Sonst hätte er, seiner prag­
matisch ausgerichteten Ethik entsprechend, nicht so viel
Wert auf stetiges Üben legen und den Gegensatz zwi­
schen Buch- und praktischer Weisheit betonen können.
Ja, er sagt sogar ausdrücklich:

Wenn die Tugend nun das eben verspricht, Glückseligkeit


und Leidenschaftslosigkeit und gleichmäßige Ruhe zu ver­
schaffen, dann ist ganz und gar der Fortschritt in ihre Rich­
tung ein Fortschritt in Richtung auf einen jeden von diesen
Zuständen. (I 4. 3f.)

Offensichtlich war Epiktet also Senecas Ansicht (Brief


75, 8, übers. von R. Rauthe): »Was also? Gibt es unter­
halb dessen keine Abstufungen? Ist unmittelbar neben
der Weisheit ein jäher Abgrund? Ich glaube nicht; denn
wer Fortschritte macht, gehört zwar zu der Zahl der
Unwissenden, wird aber dennoch durch einen großen
Abstand von ihnen getrennt. Gerade auch unter denen,
die Fortschritte machen, gibt es große Unterschiede.«
Man hat für diesen Standpunkt zu Recht auf den ver­
gleichbaren der christlichen Ethik hingewiesen. Auch
hier ist der Bekehrte wohl ein Sünder, der die vollkom­
mene Gerechtigkeit vor Gott noch nicht besitzt. Und
dennoch besteht ein tief greifender Unterschied zwi­
schen Bekehrten und Unbekehrtem.
Eine Nachbemerkung: Unabhängig von dem Nach­
druck, den man auf eine sittliche Vollkommenheit legen
mag, hindert nichts, sie zugleich als ideale Grundlage

89
einer allgemeinen moralischen Ausbildung zu betrach­
ten. Cicero formulierte diese Sicht im Rückgriff auf eine
derartige ›mildere‹ stoische Position so (De officiis 1. 46,
übers. v. H. Merklin): »Weil man im Leben aber nicht
mit vollkommenen und völlig weisen Menschen zu tun
hat, sondern mit Leuten, bei denen es glänzend steht,
wenn sie Abbilder der Tugend sind, muss man wohl
auch zu dieser Einsicht kommen: Man darf niemanden
völlig unbeachtet lassen, bei dem sich irgendein Zeichen
von Tugend findet.«
Zweiter Teil

Im zweiten Teil werden Epiktets Anschauungen noch


weiter entfaltet. Wenn man so will, handelt es sich also
um die Variationen eines Themas. In den Blick treten
dabei jetzt besonders die existenziellen Fragen mensch­
lichen Lebens. Dass dieses dann doch als ein Spiel be­
trachtet werden kann, kehrt die humane Seite der Lehre
noch einmal hervor.
XII Über Krankheit

1. Gesundheit ist kein Gut

Gesundheit und Krankheit gehören zu denjenigen Be­


reichen des Lebens, die nicht menschlicher Macht un­
terliegen. Um diesen Gedanken zu verstehen, der alle
medizinischen oder auch gesundheitsvorsorgenden Be­
mühungen zunächst ad absurdum zu führen scheint, ist
erneut klar zu machen, dass die freie Selbstbestimmung
sich nur auf die Zustimmung oder Ablehnung eines
Sachverhaltes bezieht. Krankheiten gehören zu den Zu­
fällen des Lebens, die jeden jederzeit treffen können. Ob
die Krankheit mit den Mitteln der Medizin geheilt wer­
den kann oder nicht, oder ob eine Krankheit durch be­
sondere Körperpflege verhindert werden kann oder
nicht, das unterliegt letztlich nicht menschlicher Kon­
trolle. (Und vielleicht muss man hier hinzufügen, dass in
der Antike die Möglichkeiten der Medizin in vielen Fäl­
len sehr eingeschränkt waren.) Es gibt ein naturgemäßes
Trachten des Menschen nach Gesundheit. Und daher
wird Gesundheit, wie oben bereits gesagt wurde (→
VII), im stoischen Sinne als ein Bevorzugtes, relativ
Wertvolles angesehen. Nicht naturgemäß wäre es, seine
Gesundheit zu vernachlässigen. So kann es auch nur
eine rhetorische Frage sein, ob der Tod wählenswerter
sei als das Leben, der Schmerz als die Lust (I 2. 15f.). Ob
man die Gesundheit aber erreicht bzw. behält, dies muss
die Vernunft als gleichgültig ansehen; denn sie ist kein
Gut. Andernfalls folgt dem körperlichen Leiden das see­
lische Leiden, der Affekt, insbesondere natürlich die
Angst, unweigerlich nach. Die Haltung ist also ent­

93
scheidend. Das gilt schon für den banalen Schnupfen (I
6. 30ff.). Wenn mir die Nase läuft, kann ich mich dar­
über beklagen und fragen, ob laufende Nasen eine sinn­
volle Einrichtung im Kosmos sind. Man kann sie sich
aber auch einfach putzen. Grundsätzlich:
Was hindert dich, dass sich deine beherrschende Seelenkraft,
auch wenn du Fieber hast, im Einklang mit der Natur gemäß
verhält? Hier ist der Beweis der Sache, die Bewährung des
Philosophen. Denn auch dies ist ein Teil des Lebens; wie ein
Spaziergang, wie eine Reise zur See, wie eine Reise zu Lan­
de, so auch das Fieber. Du liest doch nicht etwa, wenn du
spazieren gehst? − Nein. − Und so auch im Fieber nicht.
Aber wenn du in gehöriger Weise spazierst, so verhältst du
dich, wie ein Spazierender soll. Wenn du dich im Fieber
gehörig verhältst, so verhältst du dich, wie ein Fiebernder
soll. Und was heißt es, in gehöriger Weise zu fiebern? Wenn
man keine Klage weder gegen Gott noch Menschen vor­
bringt, wenn man sich nicht bedrücken lässt von dem, was
geschieht, wenn man den Tod getrost und gehörig erwartet
und unterdessen tut, was zu tun ist; wenn der Arzt kommt,
sich nicht zu fürchten vor dem, was er sagen wird, und sich
auch nicht übermäßig zu freuen, wenn er sagt: »Das Befin­
den ist fein.« Denn von was für einem Gut hat er dir da
gesprochen? Was war dein Gut, als du noch gesund warst?
(III 10. 11ff.)
Es geht also nicht darum, medizinische Behandlung per
se abzulehnen. Die Fähigkeit des Arztes wird genauso
anerkannt wie die eines anderen ›Handwerkers‹, eines
Schusters etwa, eines Zimmermanns oder eines Mau­
rers, die sich auch nach ihrem Vermögen mit Materie
beschäftigen; der Arzt befaßt sich eben mit dem ›arm­
seligen Körper‹, der einem nicht gehört, der von Natur
aus nur ein (für eine gewisse Zeit beseelter) Leichnam ist
(III 10. 15). Jede übertriebene Ehrfurcht vor dem ärztli­
chen Handwerker und seiner Kunst ist aber abzulehnen:

94
Warum also schmeichelst du dem Arzt? Warum sagst du:
»Lieber Meister, wenn du willst, so wird es mit mir besser
werden.« Warum gibst du ihm Anlass, die Augenbrauen
hochzuziehen? Tu ihm seine Ehre an, die ihm gebührt! (III
10. 15)

2. Schmerzen

Auch weiß Epiktet natürlich, dass Krankheiten Schmer­


zen mit sich bringen. Und das Verhalten gegenüber
Schmerzen, das Ertragen von Schmerzen gehört zu den
Hauptproblemen, die insbesondere von den hellenisti­
schen Philosophenschulen diskutiert wurden. Das ganze
zweite Buch seiner Gespräche in Tusculum widmet Ci­
cero der Frage, ob und ein wie großes Übel der Schmerz
sei und wie man ihm begegnen müsse. Dabei berichtet
er auch die Anekdote von einem Schüler Zenons, des
Gründervaters der stoischen Schule, der an einer hefti­
gen Nierenkolik litt und der im Gegensatz zu seinem
Lehrer zu der Ansicht gelangte, dass der Schmerz ein
Übel sei; denn trotz seiner langen philosophischen Stu­
dien könne er den Schmerz nicht aushalten (II 60). Epi­
ktet erkennt die Realität des Schmerzes an (I 18. 16):
»Du hast Kopfschmerzen. Könntest du denn Horn­
schmerzen haben?« Wenn man einen Kopf besitzt, so
kann er eben auch schmerzen. Und wenn er sagt (I
18. 19): »Hast du Kopfschmerzen, so sage nicht: Ach
weh! Hast du Ohrenschmerzen, sage nicht: Ach weh!«,
so fügt er doch auch an: »Ich will nicht sagen, dass es dir
verboten sein soll, zu stöhnen, nur stöhne nicht in dei­
nem Innern.« Die physiologische Wirkung des Schmer­
zes lässt sich nicht immer mit der Kraft der Vernunft

95
überwinden, doch der Ort des Schmerzes lässt sich be­
stimmen. Es geht nicht darum, »eselsmäßig unüber­
windlich« zu sein. Doch die Urteilskraft soll nicht vom
Schmerz beeinflusst sein. Es geht darum, »schön«, das
heißt, in sittlich guter Weise krank zu sein (III 26. 37).
Am Ende der Krankheit steht allenfalls der ohnehin
unvermeidliche Tod. Epiktet lässt es daher auch nicht
gelten, wenn man meint, eine Krankheit treffe einen
unzeitgemäß oder am falschen Ort an:
Weißt du nicht, dass uns Krankheit und Tod einmal ergreifen
müssen, gleichgültig, was wir gerade tun? Den Bauern er­
greifen sie bei der Arbeit auf dem Feld, den Seemann auf der
Fahrt. Bei was für einer Tätigkeit willst du dich am liebsten
ergreifen lassen? Denn bei irgendeiner Tätigkeit wirst du dich
doch ergreifen lassen müssen. Wenn du etwas Besseres als
dies zu tun weißt, um dabei ergriffen zu werden, so tu es. (III
5. 5f.)

Bei dieser Sicht der Dinge lässt sich schließlich sogar


nach dem Vorzug, dem Nutzen von Krankheit fragen:
»Was willst du aus der Krankheit machen?« − Ich will ihre
Natur darlegen, ich will mich in ihr auszeichnen, ich will
standhaft bleiben, ich will glücklich sein, ich will dem Arzt
keine Komplimente machen, ich will nicht um den Tod be­
ten. Was verlangst du sonst noch? Ich werde alles, was du
mir gibst, zu etwas Seligem, Beglücktem, Heiligem, Benei­
denswertem machen. (III 20. 14f.)

Es geht nicht darum, wie wir das ausdrücken würden,


einen ›sekundären Gewinn‹, etwa Mitleid oder beson­
dere Zuwendung, aus der Krankheit zu ziehen. Al­
lenfalls kann schwere Krankheit wie das Sterben als
Bewährungsprobe der eigenen Entscheidungsfähigkeit
angesehen werden (doch würde der stoische Weise auch
nicht wie ein christlicher Asket Krankheit als Weg zu

96
Gott suchen). Denn wer erkannt hat, dass Krankheit
wie die anderen äußeren Dinge nicht zu den Übeln oder
Gütern gehört, das meint »ihre Natur darlegen«, der
wird auch in den anderen äußeren Dingen nicht das
Gute oder das Schlechte suchen. Der Einwand (III
20. 16), sieh lieber zu, dass du nicht krank wirst, es ist
doch eine üble Sache damit, kann somit beiseite ge­
wischt werden. Genauso gut könnte man dann nämlich
argumentieren: »Sieh zu, dass du dir nicht etwa einmal
vorstellst, drei sei vier; das wäre übel!«
XIII . . . und Tod

»Tod und Verbannung und alles, was furchtbar erscheint, soll


dir täglich vor Augen stehen, am meisten von allem aber der
Tod. Dann wirst du niemals erbärmlich denken, noch zu
sehr nach etwas verlangen.« (HB 21)

Dass Philosophieren heißt, sich mit dem Tod auseinan­


der zu setzen, gilt für den stoischen Philosophen allemal.
Für Epiktet ist es geradezu der Prüf- und Eckstein seiner
ganzen Lehre, die härteste Probe auf dem Weg zur Ein­
sicht, dass man nichts meiden und fürchten soll, was
nicht im Bereich der eigenen Macht steht, auf dem Weg
somit zur völligen Freiheit. Kaum ein Gespräch daher, in
dem nicht in irgendeiner Weise dieses Leitmotiv: »Der
Tod geht uns nichts an«, erklingt. Die Frage, was nach
dem Tode sein möchte, die in der Stoa natürlich genauso
wie in allen anderen philosophischen Schulen diskutiert
wurde, stellt Epiktet dabei wesentlich beiseite. Das hat
nicht nur pragmatische Gründe, sondern ist im letzten
Sinne auch konsequent, da ohnehin keine Einflussmög­
lichkeit darauf besteht. Grundsätzlich wird zwar im sto­
ischen Sinne angenommen, dass man nach dem Tod,
während die Seele sich vom Körper trennt (II 1. 17; III
10. 14; 22. 33), in seinem materiellen Bestand wieder Teil
der elementaren Natur wird (III 13. 14ff.). Feuer zu Feu­
er, Erde zu Erde, Luft zu Luft, Wasser zu Wasser. Auch
von einem Fortbestand der Seele ist bei Epiktet wenigs­
tens nicht die Rede, und es ist ganz unwahrscheinlich,
dass er davon in irgendeiner Weise ausgegangen wäre.
Da ist also kein Raum für die Erzählungen von der Un­
terwelt. Entscheidend ist aber die Einsicht in das Natur­
gemäße des Geschehens, weshalb ›sterben‹ oder ›Tod‹

98
auch kein unheilvolles, tabuisiertes Wort sein kann. Oder
man müsste sagen (III 24. 90ff.) ›ernten‹ sei ebenfalls ein
solches unheilvolles Wort, insofern es zwar nicht den
Untergang der Welt, aber doch der Ähren bezeichne.
›Sterben‹ bezeichnet ohne Zweifel eine Veränderung,
wie das Fallen des Laubes, das Trocknen der Feigen oder
das Dörren der Weintrauben. Eine größere Veränderung
wohl, nicht aus dem jetzigen Sein in ein Nichtsein, son­
dern nur in etwas, das jetzt nicht ist. Die bange Frage:
»Werde ich denn einst nicht mehr sein?«, kann nur so
beantwortet werden (ebd. 94): »Nicht mehr du, sondern
etwas anderes, dessen die Welt nunmehr bedarf. Denn
du bist auch nicht geworden, als du es gewünscht hast,
sondern als es die Welt bedurfte.« Doch das trifft noch
nicht den eigentlichen Punkt. Frei sein heißt eben auch,
gehorsam gegenüber Gott oder der Natur sein, und es
damit auf diesem letzten Feld so wollen, wie es der
Schöpfer will. Es bleibt also letztlich nicht die Frage:
Wann oder weshalb oder auf welche Weise muss ich
sterben? Was wird nach meinem Tod sein? Sondern:
Wie, das heißt, in welcher Gesinnung soll ich sterben?
Denn das allergrößte Übel, das einen Menschen treffen
kann, ist nicht der Tod, sondern vielmehr die Furcht vor
dem Tode (III 26. 38). Die Antwort muss also sein: Ich
habe als freier Mensch zu leben mich bemüht und will
auch als freier Mensch sterben, als dein Diener, Gott, als
einer, der deine Gebote und Verbote wohl verstanden
hat (III 24. 98). Da ist dann auch das Bild vom Gast auf
Erden, der sein Leben und alles damit Zusammenhän­
gende einem anderen, Höheren verdankt:

Und da willst du, der du alles und dich selbst von einem
anderen empfangen hast, auf ihn, den Geber, unwillig sein
und ihn tadeln, wenn er dir etwas wieder wegnimmt? Wer

99
bist du und wozu bist du [in die Welt] gekommen? Hat
nicht jener dich hineingeführt? Hat nicht jener dir das Licht
gezeigt? Hat er dir nicht Hilfsmittel gegeben? Hast du nicht
von ihm die Sinne, von ihm die Vernunft? Wie hat er dich
auf diese Welt gesetzt? Nicht als einen Sterblichen? Nicht als
einen, der in einer kleinen Menge Fleisch auf dieser Erde
leben soll? Als einen, der ein Zuschauer seiner Verwaltung
und Regierung sein, der für eine kleine Zeit seiner Auffüh­
rung und seinem Fest beiwohnen soll? Willst du also nicht,
nachdem du die Aufführung und das Fest, solange es gege­
ben war, gesehen hast, wenn er dich nun wieder herausführt,
mit Anbetung und Dank für das, was du gesehen und gehört
hast, davongehen? − »Nein, ich wollte lieber noch länger
Feste feiern.« − So wollen diejenigen, die in die Mysterien
eingeweiht werden, eben auch lieber, dass die Einweihung
weitergeht. So wollen vielleicht auch die Zuschauer der
Olympischen Spiele noch mehr Athleten sehen. Aber die
Festversammlung hat nun ein Ende. Geh jetzt deines Weges,
entferne dich in Dankbarkeit und mit Ehrfurcht! Mache an­
deren Platz! Es müssen auch andere entstehen, wie du ent­
standen bist, und müssen, wenn sie entstanden sind, Platz
und Wohnung und Nahrung haben. (IV 1. 103ff.)
Freilich, die Frage, in welcher Gesinnung werde ich ster­
ben, bezieht sich nicht nur darauf, sich furchtlos in das
von Gott und von der Natur Bestimmte hineinzugeben.
Da es in unserer Macht steht, von allem, was geschieht,
einen der Natur gemäßen Gebrauch zu machen, wäre es
doch auch am besten, der Tod würde uns auch in sol­
cher Weise denkend und handelnd antreffen:
Denn da du unbedingt einmal sterben musst, so kann es
kaum anders sein, als dass dich der Tod bei irgendeiner Tä­
tigkeit antrifft, entweder beim Pflügen oder Graben, oder in
Handelsgeschäften, oder bei der Führung des Konsulats,
oder wenn dich ein verdorbener Magen oder ein Durchfall
plagt. Bei was für einer Tätigkeit willst du dich nun am liebs­
ten vom Tod antreffen lassen? (IV 10. 11f.)

100
Vielleicht, sagt Epiktet, ist nicht jeder dafür geschaffen,
als menschenfreundlicher Wohltäter zu sterben. Aber
wenn der Tod mich antrifft auf meinem Weg, mich zu
verbessern, nach der Herrschaft über die Leidenschaften
strebend, um das richtige Handeln bemüht und viel­
leicht sogar noch gewiss im Urteilen, dann kann ich
mich zufrieden meinem Gott zuwenden und ihm wie­
der anvertrauen, was er mir einst gegeben hat (IV
10, 14ff.). Es ist altgriechische Weisheit, die schon bei So­
phokles (etwa 496 bis 406/5 v. Chr.) in den Schlussver­
sen des König Ödipus oder bei dem Historiker Herodot
(etwa 484 bis 429 v. Chr.) in der Erzählung der Begeg­
nung des Weisen Solon mit dem reichen König Kroisos
(Historien I 32) prägnant formuliert wird: Erst vom Tode
aus lässt sich sagen, ob ein Mensch in seinem Leben
wirklich glücklich gewesen ist. Und so heißt es auch bei
Epiktet, ein Mensch, der am Ende vor Gott sagen kann:

Ich habe die Mittel und Gelegenheiten, die du mir gegeben


hast, deine Regierung und Verwaltung zu erkennen und ihr
zu folgen, nicht vernachlässigt. Ich habe dir für meinen Teil
keine Unehre gemacht. Siehe, wie ich die Sinne, siehe, wie
ich die Begriffe gebraucht habe. Habe ich dich jemals geta­
delt? Bin ich jemals mit einem Geschehen unzufrieden ge­
wesen, oder habe gewünscht, dass es sich anders ereignet
hätte? Habe ich jemals meine Beziehungen zu anderen ver­
letzt? (IV 10. 14f.)

Ein Mensch, der also in solcher Gesinnung geht: −


»Kann es ein besseres und anständigeres Leben geben,
als das Leben eines Menschen, der so gesinnt ist? Und
welches Ende ist glückseliger?« (IV 10. 16f.).
Doch ist es natürlich nicht so leicht mit der Einsicht
getan, dass das Ende des Lebens einmal sein muss und
als solches nicht im Bereich unserer Willkür steht. Epi­

101
ktet verwendet einmal das Bild einer Treibjagd, um zu
verdeutlichen, wie schnell man in die falsche Richtung
laufen kann (II 1. 8). Die Hirsche sehen eine von den
Treibern gespannte flatternde Federschnur, wenden sich
um und laufen geradewegs ins Netz. Sie verwechseln, so
Epiktet, Dinge, vor denen man sich fürchten sollte, mit
Dingen, gegenüber denen man zuversichtlich sein sollte,
und das kostet sie das Leben. So geht es auch den Men­
schen. Sie fürchten sich da, wo Furcht nicht angebracht
ist, in Dingen, die außerhalb des Bereichs unserer freien
Selbstbestimmung liegen. Umgekehrt geben sie sich zu­
versichtlich, als ob keine Gefahr vorhanden wäre, da,
wo sie diese freie Selbstbestimmung haben. Hier aber
kann man sich täuschen, den Eindrücken unterliegen, in
Affekte und damit, um im Bild zu bleiben, ins Netz
geraten. Denn die Furcht vor dem Tode, der falsche
Begriff, die falsche Vorstellung, ist es ja, nicht der Tod
selbst, die das Leben beeinträchtigt, unglücklich und
elend machen kann. Der Tod ist somit − mit Sokrates
zu sprechen (II 1. 15) − ein Schreckbild für Kinder, das
man sich nur einmal genau anschauen müsse, um die
Furcht aus Unkenntnis und Unwissen abzustreifen. Ge­
gen die Furcht vor dem Tode übe dich! »Dahin sollen
alle deine Gespräche, alle deine Übungen, all dein Lesen
zielen; und du wirst erfahren, dass nur so die Menschen
frei werden« (III 26. 39). Wohin könnte ich denn vor
dem Tod fliehen? Das wäre eine Frage, die man stellen
müsste (I 27. 9ff.): »Zeigt mir das Land, zeigt mir die
Menschen, zu denen ich gehen könnte, wohin er nicht
kommt! Zeigt mir einen Zauberspruch! Wenn ich aber
keinen habe, was wollt ihr, dass ich tun soll? Vor dem
Tode kann ich mich nicht retten; sollte ich mich denn
nicht vor der Todesfurcht retten?«

102
Auch die Art des Todes ändert nichts daran, dass al­
les, was geworden ist, auch wieder vergeht: »Ich bin ja
nicht ewig, sondern ein Mensch, ein Teil des Ganzen,
wie die Stunde ein Teil des Tages. Ich muss einmal, wie
die Stunde, da sein und auch, wie die Stunde, ver­
schwinden. Was liegt mir nun daran, wie ich verschwin­
de, ob erstickt oder durch ein Fieber verzehrt; denn
durch so etwas muss ich doch einmal vergehen« (II
5. 13f.). Und (II 6. 17ff.; vgl. IV 7. 25ff.): »Das aber, was
uns vergehen macht, ist entweder ein Schwert oder ein
Rad oder das Meer oder ein Dachziegel oder ein Ty­
rann. Was liegt dir daran, welchen Weg du in die Un­
terwelt hinabgehst? Es ist ein Weg wie der andere. Oder
wenn du die Wahrheit hören willst, so ist der noch der
allerkürzeste, den dich der Tyrann schickt. Kein Tyrann
hat noch jemals einen ein halbes Jahr lang hingemordet;
das Fieber aber oft ein Jahr lang.«

103
XIV Die Tür ist offen

Mit der Formulierung: »Die Tür ist offen«, bezieht sich


Epiktet an mehreren Stellen seiner Gespräche auf die
Möglichkeit des Selbstmordes. Auf Lateinisch sagt es
Seneca: patet exitus (De providentia VI 7). Man mag zu­
nächst an übermäßigen körperlichen Schmerz denken.
Aber der körperliche Schmerz ist ja wie auch der Tod
selbst zunächst nur ein Schreckbild. Die größere Gefahr
für die freie Selbstbestimmung geht also nicht von ihm
selbst als von der Vorstellung über ihn aus. Genau be­
trachtet ist er nur eine »raue Bewegung« und damit un­
angenehme Empfindung des Fleisches, die sich aber
auch wieder ins Angenehme wenden kann (II 1. 18ff.).
Solange es einem gelingt, das so zu sehen, kann man den
Schmerz ertragen, ihn vielleicht sogar im Sinne einer
Übung der freien Selbstbestimmung als förderlich anse­
hen. Doch verlangt Epiktet hier nichts Übermenschli­
ches (II 1. 20): Wenn es dir nicht zuträglich ist, dann ist
die Tür offen. Denn die Tür muss in jedem Fall offen
sein, und wir haben keine Schwierigkeiten.
Es ist nicht ganz klar, ob Epiktet den ›Fluchtweg‹ nur
in solchen existenziellen Grenzsituationen wie bei nicht
mehr zu ertragendem Schmerz zulässt. Insgesamt wur­
de in der Stoa der Selbstmord unter bestimmten Vo­
raussetzungen zugestanden, insbesondere dann, wenn
durch physische Behinderung, etwa schwere Krankheit,
eine naturgemäße Betätigung des Logos unmöglich ge­
macht, der Körper daran gehindert wird, der Seele als
Werkzeug zu dienen. Auch wenn Tyrannengewalt zu
unsittlichem Handeln zwingen will, ist Selbstmord, der
ja möglicherweise ohnehin nur einer Hinrichtung vo­

104
rausgehen würde, ein Ausweg. Etwas pointiert formu­
liert wird der Tod als Selbstmord dann gewissermaßen
zu einer bevorzugten Sache umgedeutet und infolgedes­
sen zu einer der Natur entsprechenden Handlung und
geradezu Aufgabe. Dann lässt er sich auch als eine Auf­
forderung Gottes verstehen (siehe gleich unten), seinem
Ruf Folge zu leisten.
Der kaiserzeitliche Philosophiehistoriker Diogenes
Laertios (2./3. Jh. n. Chr.) erwähnt unter den guten
Gründen, die vorliegen müssten, damit der Weise aus
dem Leben scheide, neben heftigen Schmerzen und un­
heilbarer Krankheit auch noch das Interesse des Vater­
landes oder der Freunde (Leben und Lehren berühmter
Philosophen VII 130). Hier wird man an einige bekannte
und hochrangige Vertreter der römischen Opposition
zum kaiserlichen Regime denken, die diesen Weg in
mehr oder weniger spektakulärer Weise gegangen sind;
natürlich an Seneca vor allem (siehe unten). Doch ist die
Perspektive Epiktets, des freigelassenen Sklaven, eine an­
dere. In einem Gespräch (I 25. 14ff.) wählt Epiktet ein
wohl bewusst ›banales‹ Beispiel. Es gibt Leute, die es
nicht ertragen können, mit bestimmten Menschen zu­
sammen zu sein und sich dann immer wieder die glei­
chen Geschichten anhören zu müssen. Andere nehmen
das wiederum geduldig auf sich. Epiktet fährt fort (I
25. 16ff.): »Nun, so vergleiche auch du diese beiden Ein­
schätzungen miteinander. Nur tue nichts beschwert,
nichts bedrückt und nichts in der Annahme, in Übeln
zu sein. Denn dazu zwingt dich niemand. − Hat jemand
Rauch im Zimmer gemacht? Ist er erträglich, so bleibe
ich. Ist er zu stark, so gehe ich hinaus. Denn daran muss
man immer denken und es festhalten, dass die Türe of­
fen steht.« Epiktet will hier kaum vorschlagen, seinem
Leben ein Ende zu setzen, wenn man das Gerede eines

105
anderen nicht mehr hören kann. Das Beispiel steht
grundsätzlich dafür, dass man einer Sache, bestimmten
äußeren Umständen, zustimmen und damit leben kann,
oder andernfalls darunter leidet. Dann aber wäre die
freie Selbstbestimmung betroffen, und es ist besser, sich
zurückzuziehen: Im einfachen Fall, indem man etwa an
der Gesellschaft eines bestimmten Menschen nicht teil­
nimmt, im komplizierten, indem man das Leben ganz
verlässt. Die Grundsatzentscheidung bleibt in jedem Fal­
le die gleiche.
Zuweilen scheint an einigen Stellen, wo Epiktet mit
der Rede von der offenen Tür auf die Möglichkeit des
Selbstmordes hinweist, ein leichter negativer Ton mit­
zuschwingen, obwohl der Selbstmord grundsätzlich
auch als eine von Gott gegebene Möglichkeit, »zu gehen,
falls die Umstände gar nicht mehr taugen« (III 8. 6; vgl. I
19. 29; III 13. 14), angesehen wird. Muss nicht letztlich der
Selbstmord auch als eine Art Kapitulation der Vernunft
vor den äußeren und damit aufgewerteten Umständen
angesehen werden? Doch eher ist der Selbstmord wohl
gerade die letzte Bastion, der Rest rationaler Natur, den
sich die Menschen unbedingt bewahren können. Dies
wird deutlich, wenn Epiktet an einer Stelle nach der
›Türformel‹ sagt:

Sei nicht feiger als kleine Kinder. Wenn diesen eine Sache
nicht mehr gefällt, so sagen sie: »Ich spiele nicht mehr mit.«
So sage auch du, wenn dir etwas derart zu sein scheint: »Ich
spiele nicht mehr mit«, und entferne dich. Bleibst du aber, so
jammere nicht. (I 24. 20)

Denn damit sagt er auch, dass, wer in äußerster Lage, zu


einem solchen Schritt nicht fähig ist, nicht einmal über
das geringste philosophische Reflexionsvermögen − was
ist ein Kind? Unwissenheit, Mangel an Begriffen (II

106
1. 16) − verfügt. Statt anzuerkennen, dass ihm die Da­
seinsgrundlage zu einem naturgemäßen Leben entzogen
ist oder wird, lässt er sich von seinen Ängsten und Sor­
gen hin- und herreißen und bietet − selbst als nach
außen hin mächtiger Herrscher (wie zum Beispiel Aga­
memnon: III 22. 34) − ein jämmerliches Bild.
Freilich muss auch unbedingt klar sein, dass der Ent­
schluss zum Selbstmord auf einer vernünftigen Ent­
scheidungsbasis stehen sollte. Damit wird Selbstmord als
Folge etwa einer depressiven Stimmung, als Welt- oder
Lebensflucht im engeren Wortsinn, abgelehnt. Epiktet
lässt einmal seine Schüler in einem fiktiven Gespräch
sagen:
Epiktet, wir halten es nicht mehr aus, an diesen armseligen
Körper gefesselt zu sein, ihn zu speisen und zu tränken, ihn
schlafen zu legen und zu reinigen, und dann um seinetwillen
mit dem und dem zu tun zu haben. Sind das nicht gleich­
gültige Dinge, die uns nichts angehen? Und ist nicht der Tod
kein Übel? Sind wir nicht mit Gott verwandt und kommen
von ihm her? Lass uns dorthin gehen, woher wir gekommen
sind! Lass uns einmal von diesen Fesseln befreit werden, die
uns anhängen und uns drücken! Hier sind Räuber und Die­
be und Gerichtshöfe und so genannte Tyrannen, die sich
wegen dieses armseligen Körpers und seiner Habe einbilden,
Macht über uns zu haben. Lass uns ihnen zeigen, dass sie
über keinen Macht haben! (I 9. 12–15)
Gerade aber aus der Verwandtschaft des Menschen mit
Gott, der im stoischen Sinne mit dem Logos, der Ver­
nunft, gleichgesetzt werden kann, ergibt sich, dass eine
solche trübe Sicht der Welt abzulehnen ist. Die Tatsa­
che, dass die äußeren Dinge uns nichts bedeuten sollten,
meint ja nicht, dass sie im Gesamtplan des Kosmos ohne
Sinn wären. Im Gegenteil folgt daraus gerade, so lange
als eben möglich auszuharren. Und so antwortet Epi­
ktet:

107
Wartet auf Gott, ihr Menschen! Wenn jener euch das Zei­
chen geben und von diesem Dienst entlassen wird, dann geht
zu ihm zurück! Für jetzt aber haltet es aus, diesen Platz zu
bewohnen, auf den jener euch gestellt hat. Kurz ist doch die
Zeit, die ihr hier wohnt, und leicht für Menschen solcher
Gesinnung [zu ertragen]. Denn welcher Tyrann, welcher
Dieb, welche Gerichtshöfe könnten denen noch furchtbar
sein, die sich aus dem Körper und seiner Habe so wenig
machen? Bleibt hier, entfernt euch nicht unbedachtsam! (I
9. 16f.)
An anderer Stelle erzählt Epiktet (II 15. 4ff.), dass einer
seiner Schüler »ohne Grund«, das heißt ohne eine der
Vernunft entsprechende Entscheidung, den Entschluss
gefasst hatte, sich zu Tode zu hungern. Ihm versuchte
Epiktet (mit Erfolg) darzulegen, dass eine solche Tat
nicht im Einklang mit den Gesetzen des Lebens und der
Natur steht:
Ohne jeden Grund führst du uns einen Menschen aus dem
Leben weg, der unser Freund, unser Vertrauter, unser Mit­
bürger in demselben Staat ist, und zwar in dem großen Staat
[dem Universum] wie in dem kleinen [bürgerlichen] Staat.
Und dann begehst du einen Mord und bringst einen Men­
schen um, der nichts Unrechtes getan hat, und sagst dann:
»Man muss auf seinen Entschlüssen beharren.« Wenn du
etwa auf den Einfall geraten wärest, mich umzubringen, hät­
test du auf dem Entschluss bestehen müssen? (II 15. 10ff.)

Hier steht die Anschauung im Hintergrund, wonach der


Mensch als ein Gemeinschaftswesen sich im Rahmen
seiner Möglichkeiten den Pflichten dieser Gemeinschaft,
der Familie, den Freunden, eben auch dem Staat im
engeren und weiteren Sinne nicht entziehen darf. Die
Entscheidung, sich zu entziehen, darf nur auf einem im
eigentlichen Wortsinn »gesunden« Urteil (II 15. 8) auf­
bauen.

108
Dennoch, der Selbstmord, auch wenn das gerade
nicht sehr stoisch gedacht wäre, wirft auch im System
Epiktets − und dafür spricht seine recht häufige Erwäh­
nung in den Gesprächen − eine gewisse tröstliche Per­
spektive auf das Leben insgesamt: »Der Tod ist doch der
Hafen und die Zuflucht aller Menschen. Deswegen ist
nichts im Leben schlimm. Sobald du willst, begibst
du dich weg, dann wirst du nicht mehr vom Rauch
belästigt.« (IV 10. 27) Letztlich ist der Selbstmord ein
Schlüssel zum aequat omnia, das Herrn und Knecht
miteinander verbindet und diesem in der Umkehrung
dieses Verhältnisses die Möglichkeit verleiht, auch in der
schlimmsten Lage die Freiheit der Selbstbestimmung zu
bewahren, die ihm jener nicht nehmen kann. Einem
Gesprächspartner, der seine Verbannung aus Rom be­
fürchtet, und dazu noch auf die kleine öde Insel Gyara
östlich von Attika, antwortet Epiktet (II 6. 22), dass die­
ser es ja zu seiner Sache machen könne, dorthin zu ge­
hen, und sich somit die Selbstbestimmung bewahre.
Wenn er das aber nicht wolle, so habe er einen anderen
Ort, wohin er anstatt nach Gyara gehen könne, »einen
Ort, wohin auch der, welcher dich nach Gyara sendet,
gehen wird, er mag wollen oder nicht«.
Nicht wenige prominente Stoiker in Rom haben, wie
bereits gesagt, diesen Ort bewusst gesucht, im Sinne ei­
nes Aktes freier Selbstbestimmung angesichts der Will­
kür des herrschenden Regimes. Darunter der überzeug­
te Republikaner und Gegner Caesars, Marcus Porcius
Cato, der den Freitod einer Begnadigung durch Caesar
vorzog, und eben Seneca, dem Nero keinen anderen
Ausweg ließ. In einem seiner ›moralischen‹ Briefe hatte
er geschrieben (Ethische Briefe an Lucilius 70, 15f.; übers.
von R. Rauthe): »Soll ich die Grausamkeit einer Krank­
heit oder eines Menschen erwarten, während ich doch

109
mitten durch die Marterwerkzeuge weggehen und das
Widrige abschütteln kann? Dies ist das Einzige, wes­
wegen wir uns über das Leben nicht beklagen können:
Es hält niemanden fest. Gut steht es mit den menschli­
chen Angelegenheiten, weil niemand außer durch eigene
Schuld elend ist. Es gefällt? Lebe! Es gefällt nicht? Du
darfst dorthin zurückkehren, woher Du gekommen bist
[. . .]. Mit einem Messerchen wird der Weg zu jener gro­
ßen Freiheit geöffnet, und ein kleiner Stich kostet die
Lösung von den Sorgen.«
XV Von der Liebe zu den Seinen

1. Liebe ohne Unglück

Die rechte Anschauung von den Dingen, die Unter­


scheidung zwischen ›mein‹ und ›nicht mein‹, ist vor eine
besondere Herausforderung im Blick auf die Beziehung
zu den Nächsten, den Nahestehenden gestellt. Von hier
aus werden auch Epiktets entsprechende Äußerungen
über mitmenschliches Verhalten und die in ihm liegen­
den Probleme beleuchtet.
Vorhin war schon die Frage angesprochen worden,
wie man sich verhalten solle, wenn man in eine andere
Stadt, in ein anderes Land − vielleicht aus beruflichen
Gründen − zu ziehen genötigt ist und dann auch seinen
Bekanntenkreis, seine Freunde zurücklassen muss (→
IX). Hier mag die rechte Anschauung der Dinge beiden
Seiten weiterhelfen, oder eben auch nicht. Wie ist es
aber, wenn man etwa an die eigene Mutter denkt (III
24. 22f.)? Wie soll ich mit ihren Sorgen und Leiden um­
gehen? Auch hier gibt es grundsätzlich keine andere Lö­
sung als zu erkennen, dass die Betrübnis eines anderen,
und sei es die eigene Mutter, eine Sache ist, die von
einem anderen abhängt, die eigene Betrübnis aber etwas,
das von mir abhängt. Epiktet meint es also keinesfalls
herablassend, wenn er sagt: Wenn die Mutter über die
Abwesenheit des Sohnes seufzt, warum hat sie denn
diese Grundsätze nicht gelernt? Er fügt sogar noch, um
Missverständnisse zu vermeiden, an, dass er gar nicht
sagen wolle, man solle nicht alle Sorge tragen, dass sie
nicht jammere. Aber was nicht von einem abhängt, soll
man auch hier nicht wollen.

111
Die schon weiter oben angesprochene Frage (→ IX),
wie man gegenüber den Seinen liebevoll sein soll, bleibt
dennoch dringlich (III 24. 58ff.). Wie ein zuversichtlicher
Mensch, wie ein vom Glück Begünstigter, sagt Epiktet.
Das heißt, nicht niedrig gesinnt sein, nicht gebrochenen
Mutes zu sein, nicht von anderen abzuhängen, weder
über Gott noch über Menschen Klage zu führen. Wer so
der Vernunft entsprechend handelt, wird auch liebevoll
gegenüber seinen Nächsten sein. Hieße aber ›liebevoll
sein‹, ein Sklave und ein unglückseliger Mensch zu sein,
dann wäre dieses ›liebevoll sein‹ ohne Nutzen. Nichts
hindert, jemandem im Bewusstsein zu lieben, dass er ein
sterblicher Mensch ist. Sokrates und Diogenes können
hier als Vorbilder gelten. Diese beiden Weisen liebten
ihre Kinder (so wurde es von Sokrates berichtet), die
Ihren, die Menschen. Aber sie konnten sie im Bewusst­
sein lieben, im Einklang mit den von Gott gegebenen
Gesetzen, die dem Menschen allein Macht über den
Gebrauch der Vorstellungen geben, frei zu sein. Pointiert
lässt sich daher sogar sagen, dass nur der Weise allein die
Fähigkeit besitzt zu lieben (II 22. 3). Erwüchse aber je­
denfalls aus dem, was man Liebe nennt, Betrübnis,
Kummer, Schmerzen, Mensch, was für eine Art von
Liebe wäre das dann (III 24. 82f.)?
Der Beginn des elften Gesprächs des ersten Buches
bringt ein eindringliches Beispiel:
Als ein hochgestellter Beamter zu Epiktet kam, erkundigte
sich dieser nach seinen persönlichen Verhältnissen und fragte
unter anderem auch, ob er Frau und Kinder habe. Als der
Mann es bejahte, fragte Epiktet weiter: Und wie gehen da
deine Sachen? − Elend, sagte er − Und jener: Inwiefern?
Denn deswegen heiraten die Menschen doch nicht und set­
zen Kinder in die Welt, damit sie dann elend, sondern damit
sie vielmehr glücklich sind. − Aber mir, sagte er, geht es so

112
elend mit meinen Kindlein, dass ich, als neulich meine kleine
Tochter krank war und in großer Gefahr zu sein schien, es
nicht einmal aushielt, bei ihrem Krankenbett zu bleiben. Ich
lief davon, bis mir jemand die Nachricht brachte, dass es ihr
wieder gut gehe. ( I 11. 1ff.)
Der Gesprächspartner meint zunächst, dass sein Ver­
halten durchaus natürlich gewesen sei, denn schließlich
würde es doch wohl fast allen Vätern so ergehen wie
ihm. Dem will Epiktet freilich nicht widersprechen.
Aber, so sein Einwand, ist so ein Verhalten auch recht?
Denn alles, was im Einklang mit der Natur geschehe,
geschehe auch recht. Epiktet sieht, dass sein Gesprächs­
partner überfordert wäre mit der Frage nach dem Ent­
scheidungskriterium darüber, was in richtiger Weise ge­
schieht oder was nicht. Doch kann er ihn insoweit zum
Eingeständnis bringen, dass nämlich die Liebe zu den
Seinen etwas Naturgemäßes und etwas Schönes ist und
zugleich mit der Vernunft im Einklang steht. Wie dieser
auch weiterhin zugeben muss, dass es kaum vernünftig
und damit recht wäre, einen Menschen im Stich zu las­
sen, der einem anvertraut ist. Da es nur einen Logos
gibt, kann also das Verlassen des kranken Kindes nicht
recht und sittlich gut sein. Der Vater ist vielmehr da­
vongelaufen, weil es ihm richtig schien. Und das ist der
Punkt, auf den es hier, wie immer, ankommt (I 11. 33).
Weder Tod, noch Verbannung, noch Schmerz, noch ir­
gendetwas dergleichen ist die Ursache, warum wir etwas
tun, sondern unsere Meinungen und Anschauungen.
Epiktet dringt hier nicht tiefer in den psychologischen
Prozess ein. Das Verhalten des Vaters lässt sich verglei­
chen mit dem von jemandem, der bei einem Pferderen­
nen nicht hinschaut, wenn das Pferd, auf das er gewettet
hat, im vollen Lauf begriffen ist (I 11. 27), und, wenn es
dann wider Erwarten gewonnen hat, der Ohnmacht

113
nahe ist. In beiden Fällen, dem des leidenden Vaters und
dem des leidenden Zuschauers beim Pferderennen, führt
eine Fehlbeurteilung − das Scheitern des Pferdes, der
Tod des Kindes sei als etwas an sich Schlimmes von
Bedeutung − zu einer Fehlhandlung, dem Wegsehen
oder Weglaufen.

2. Vernünftige Zuneigung

Die naturgegebenen Aufgaben innerhalb der Familie


nehmen einen beachtlichen Raum in Epiktets Gesprä­
chen ein. Grundsätzlich sagt er zu der hier zukommen­
den Aufgabe (III 2. 4):
Ich darf nicht leidenschaftslos sein wie eine Bildsäule, son­
dern muss meine natürliche und erworbenen Beziehungen
beachten, als frommer Mensch, als Sohn, als Bruder, als Va­
ter, als Bürger.

Die Versuchung ist gewiss groß, wenn man Epiktets,


und allgemein das stoische Ideal der Leidenschaftslosig­
keit (Apathie) und das daraus resultierende Verhältnis
zwischen dem stoischen Weisen und seinen Mitmen­
schen betrachtet, in diesem Weisen eine recht blutlose
Gestalt zu sehen, die ebenso des Leids wie der Freude
entbehrt. Dagegen half auch nicht die Behauptung eines
so genannten ›guten Affektzustandes‹ (Eupathie), der
mit dem vernunftgemäßen Verhalten notwendig ver­
bunden sein sollte. Epiktet war sich dieses Problems be­
wusst, wenn er fordert, der Stoiker solle eben nicht wie
eine Bildsäule unter seinen Mitmenschen wandeln. Die
sittenstrenge Beherrschtheit des Schulgründers Zenon
etwa war sprichwörtlich. Die Anerkennung der stoi­

114
schen Lehre fordert aber die Anerkennung des Parado­
xons, dass man seine Mitmenschen, seine Familie lieben
kann, ohne in ihnen einen Besitz zu sehen, das heißt,
ohne im Bereich der freien Entscheidungskompetenz
von dieser Liebe beeinflusst zu werden.
Sohn, Vater, Bruder sein heißt in diesem Sinne eine
Bestimmung erfüllen. Es wäre wohl eine eigene Unter­
suchung wert, zu fragen, inwieweit das philosophische
System der Stoa im Besonderen zu Bewahrung über­
kommener Rollenmuster der antiken und besonders rö­
mischen Gesellschaft beigetragen hat. Die Bestimmung
des Sohnes jedenfalls verlangt Gehorsam gegenüber dem
Vater (II 10. 7), das Verbot natürlich, ihm zu schaden,
Nachgiebigkeit und die Bereitschaft, ihm in jeder Weise
zu helfen, selbst dann, wenn er nicht in gleicher Weise
so handeln sollte: Die Natur hat dir einen Vater und
nicht einen guten Vater zu Eigen gemacht (HB 30). Ein
ähnliches Verhalten wird unter Brüdern gefordert. Kul­
turelle Institutionen werden hier nicht hinterfragt. Jeder
Mensch hat seine von der Natur gegebene Rolle als
Sohn, natürlich auch als Vater, als junger oder als alter
Mensch, sogar als Ratsmitglied, zu spielen. Die bestim­
mende Norm, die normativ gefasste Natur wird als sol­
che akzeptiert. Homosexualität verstößt so etwa gegen
die Bestimmung eines Menschen als ›Mann‹ (II 10. 16f.),
und selbst kleinere Eingriffe in bestimmte ›natürliche‹
Gegebenheiten, wie zum Beispiel die Rasur des Bartes
beim Mann, werden abgelehnt (III 1. 27ff.; vgl. I 16. 9ff.
und die oben [→ II 1] angeführte Anekdote über Epi­
ktets Weigerung, seinen Bart abzurasieren).

115
3. Jeder sucht seinen eigenen Vorteil

Im Übrigen zeichnet Epiktet gelegentlich auch recht il­


lusionslos das Verhalten selbst und gerade zwischen na­
hen Angehörigen. Wer nicht den wahren Ort des Guten
kennt, dessen Freundschaft oder Liebe mag sich ganz
schnell als auf unsicherem, fehlerhaftem Fundament ge­
baut erweisen; denn er wird sich vom Schein der
äußeren Dinge beeinflussen lassen und entsprechend
schnell in Angst, Unruhe, Sorge oder auch Abneigung
und Hass versetzen lassen. Hast du noch nie Hunde
gesehen, ruft Epiktet auch hier einem Vater zu (II 22.
9ff.), der meint, dass er sein Söhnchen doch liebe? Sie
wedeln mit dem Schwanz und spielen miteinander.
Aber wirf ein Stück Fleisch unter sie, so siehst du, was
ihre Freundschaft ist. Gibt es so nicht auch genug Strei­
tigkeiten zwischen Vater und Sohn, etwa um Erbteile
oder sogar um eine Frau? Ein schönes Beispiel bietet die
Tragödie Alkestis des Euripides (etwa 485/484 bis 406
v. Chr.). In diesem Drama könnte der alte Vater das
Leben seines Sohnes retten, wenn er für ihn sterben
würde; stattdessen verweist er jedoch darauf, dass das
Leben ihm durchaus auch noch wert sei. Meinst du, sagt
Epiktet (II 22. 12), er habe seinen Sohn, als dieser noch
ein kleiner Knabe war, nicht lieb gehabt? Es sei ihm
nicht angst gewesen, wenn er Fieber hatte? Er habe
dann nicht oft gesagt: »O könnte ich nur an seiner Stelle
das Fieber haben!« Aber jetzt, da es zur Tat kommen
soll, da die Gelegenheit, eine Probe seiner Liebe zu ge­
ben, nahe genug ist, scheint alles vergessen.
Täuscht euch daher nicht, so die Lehre. Allem Le­
bendigen liegt nichts näher als der eigene Vorteil:

116
Was also als Hindernis erscheint, sei es nun Bruder oder
Vater oder Kind oder Liebling oder Liebhaber sein, das hasst,
verstößt, das verflucht es. Denn es ist seine [des Lebendigen]
Natur, nichts so sehr zu lieben wie den eigenen Vorteil. Die­
ser ist Vater und Bruder und Verwandter und Vaterland und
Gott [. . .]. Wenn man daher Vorteil und was heilig und
schön ist, wenn man Vaterland und Eltern und Freunde in
ein und dieselbe Waagschale legt, dann ist dies alles gerettet.
Legt man aber seinen Vorteil in die eine, Freunde, Vaterland,
Verwandte und die Gerechtigkeit selbst in die andere Waag­
schale, so geht dies alles, vom Vorteil überwogen, dahin.
Denn wo das ›Ich‹ und das ›Mein‹ ist, dorthin muss sich
notwendig das Lebendige neigen; wenn im Fleisch, so muss
dort das Übergewicht sein, wenn in der freien Selbstbestim­
mung, so ist es dort; wenn in den Außendingen, eben dort.
Wenn ich also dort ›Ich‹ bin, wo die freie Selbstbestimmung
ist, so werde ich, und nur dann, ein solcher Freund und
Sohn und Vater sein, wie ich es sein soll. (II 22. 15ff.)

Die Person, das ›Ich‹, trägt die Verantwortung für die


sittlichen Entscheidungen, die sie trifft. Epiktet bezeich­
net Erwachsene, die sich in ihren Entscheidungen von
dem anscheinenden Vorteil der Außendinge leiten las­
sen, immer wieder als Kinder. Das heißt, sie haben in
ihrer Sozialisation nicht gelernt, dass die Bevorzugung
bestimmter Außendinge zwar im Rahmen der Selbster­
haltung von Natur aus vorgegeben ist, dass diese Dinge
aufgrund einer vernünftigen Wertung aber nicht als ver­
fügbare Güter angesehen werden können. Ein Kind, so
Epiktet, ist in der Musik der Unmusikalische, in der
Schrift der Schreibunkundige und im Leben der (philo­
sophisch) Ungebildete (III 19. 6).

117
XVI Die anderen, die vielen

1. Wer sich verfehlt, schadet sich selbst

Für den Menschen ist das, was ihm erscheint, das Maß jeder
Handlung. Nun erscheint es ihm entweder in richtiger Weise
oder in falscher Weise. Wenn in richtiger Weise, so ist
der Mensch untadelhaft; wenn in falscher Weise, so hat er
selbst den Schaden davon. Denn unmöglich können derje­
nige, der fehlgeht, und derjenige, der den Schaden hat, zwei
verschiedene Personen sein. Wer sich daran gehörig erinnert,
wird niemandem zürnen, niemandem böse sein, niemanden
schmähen, wird nicht hassen, an niemandem Anstoß neh­
men. (I 28. 10)

Der Grundsatz, dass niemand mit Vorsatz schlecht oder


böse handle, stammt von Sokrates bzw. Platon. Auch
Epiktet übernimmt ihn (I 17. 14), und er bildet eine zen­
trale Maxime im Blick auf das Verhalten gegenüber den
Mitmenschen. Jeder Mensch begehrt das, was er sich als
gut und begehrenswert vorstellt. Das Gegenteil ist
schlechterdings nicht vorstellbar. Wenn das aber richtig
ist, weshalb sind wir dann noch auf die vielen böse (I
18. 2ff.)? Haben Diebe und Räuber nicht etwa nur eine
falsche Vorstellung vom Guten und vom Schlechten?
Verdienen sie nicht eher Mitleid als Zorn? Diese Men­
schen hängen einer irrigen Meinung, einem falschen
Schein an. Sie halten für begehrenswert, was nicht be­
gehrenswert ist. Sie haben die freie Selbstbestimmung,
wie sie sein soll (I 18. 8), verloren. Öffne ihnen die Au­
gen, und sie werden von ihren Verfehlungen ablassen!
Zu fordern, einen Räuber oder einen Ehebrecher hin­
zurichten, hieße nichts anderes als zu fordern, einen

118
Menschen hinzurichten, der sein Urteilsvermögen über
gut und schlecht verloren hat. Wäre das nicht eine
inhumane Forderung gleich derjenigen, auch einen blin­
den oder tauben Menschen hinzurichten? »Menschens­
kind!«, ruft Epiktet aus und verweist sein Gegenüber
damit auf die Grundbedingungen seiner Existenz, die er
mit dem Dieb, dem Ehebrecher genauso wie mit Phi­
losophen teilt. Lass dich nicht verführen, mit der großen
Menge in Hass und Missgunst zu verfallen gegenüber
denjenigen, die du eher bemitleiden solltest, weil sie für
wert erachten, was es nicht ist. So lässt sich jetzt auch
die bereits oben zitierte Äußerung besser verstehen (→
IV 1), dass Diebe und Ehebrecher einem in Sachen, die
einem eigentümlich zugehören, niemals beikommen
können, sondern nur in solchen Dingen, die einem ganz
fremd sind und die man nicht in seiner Gewalt hat (I
18. 12).
Und auch, wenn es nicht möglich ist, den anderen,
den bösen Nachbarn, den Dieb, den Räuber, den Mör­
der, von seiner irrigen Meinung abzubringen: Derjenige,
der gelernt hat, was eigen ist und was fremd, wird sich
nicht wundern:
Erwartet er nicht von den Schlechten noch Schlechteres und
Ärgeres, als ihm geschieht? Hält er nicht alles für Gewinn,
was sie an der äußersten Bosheit haben fehlen lassen? »Der
und der hat dich geschmäht.« Vielen Dank ihm, dass er mich
nicht geschlagen hat. »Er hat dich aber auch geschlagen.«
Vielen Dank, dass er mich nicht verwundet hat. »Er hat dich
aber auch verwundet.« Vielen Dank, dass er mich nicht ge­
tötet hat. Denn wann oder von welchem Lehrer hat er je
gelernt, dass er ein zahmes, von wechselseitiger Liebe be­
stimmtes Lebewesen sei, dass die Ungerechtigkeit für den,
der Unrecht tut, selbst ein großer Schaden sei? Wenn er das
also nie gelernt hat, das nicht glaubt, warum sollte er nicht
dem anscheinenden Nutzen nachgehen? (IV 5. 8ff.)

119
Diese Zeilen sind nicht ironisch gemeint und auch nicht
im Sinne einer passiven ›Duldung‹ von Übeltaten, son­
dern immer wieder im Sinne des Einwilligens in das
nicht Eigene. Natürlich, wenn der Nachbar mit Steinen
wirft (IV 5. 11) und dabei auch noch irgendwelches
Hausgerät zerbrochen hat, kann man ein Wolf werden,
zurückbeißen, einen noch größeren Steinhagel loslassen.
Doch auch hier gilt wieder die Grundannahme, dass
derjenige, der Schlechtes tut, indem er wider seine Na­
tur als zahmes Lebewesen, als zahmes Tier handelt, das
Gutes tun und Hilfe leisten und gut gesinnt sein soll,
(vgl. IV 1. 120), wenn er also stattdessen »ausschlägt, an­
dere in Fesseln legt, enthauptet«, entschieden sich selbst
Schaden zufügt und nicht vermeintlich dem anderen.
Man wird daher den, der das Gefühl für seine Men­
schennatur, für Freundlichkeit und Zuverlässigkeit, ver­
loren hat, bedauern wegen des Übels, in das er geraten
ist (IV 5. 14f.). Und man wird sich als Betroffener daran
erinnern, was es heißt, ein Mensch und kein auf Scha­
den erpichtes Wesen zu sein. Im Gegenteil kann man
Charakterstärke beweisen, indem man tapfer durch­
steht, was einem widerfährt. Nicht um Sokrates hat es
also schlimm gestanden, sondern um seine Richter und
Ankläger (IV 1. 123).

2. Der Charakter eines Menschen

Dieses ethische Apriori ist eine der Grundfesten


der Lehre Epiktets. Sanftheit, Verträglichkeit, Toleranz,
Freundlichkeit, diese seelisch veranlagten Eigenschaften
bezeichnen den Charakter eines Menschen, der sich so,
›Mensch‹, nennen darf. Und wenn es kein spezifisches

120
Merkmal der Menschennatur wäre, in der Entfaltung
seiner Anlage mithilfe der Kraft der Vernunft sittlich gut
handeln zu können, so stünde allerdings die prohaı´resis,
die freie Selbstbestimmung, auf dem Spiel. Und dies un­
geachtet der Tatsache, dass die meisten Menschen ihre
Vernunftanlage nicht soweit entwickeln. Es muss aber
auch betont werden, wie viel bei aller äußeren Ähnlich­
keit die ›Mitmenschlichkeit‹ Epiktets von einer etwa
christlichen Nächstenliebe trennt. In einem Gespräch
(II 4) geht Epiktet auf den Fall eines angesehenen Man­
nes ein, der sich als Ehebrecher erwiesen hat. Wer so
handelt, zerstört die Verlässlichkeit seiner Person, die
ebenso zu den wesentlichen menschlichen Merkmalen
gehört, und er zerstört durch sein Verhalten Nachbar­
schaft, Freundschaft, ja die Grundfesten der staatlichen,
bürgerlichen Gemeinschaft. Wäre er ein unbrauchbares
Gefäß, so würde man ihn auf einen Misthaufen werfen
und dort unbeachtet liegen lassen. Er hat jedenfalls kei­
nen Grund sich zu beklagen, dass fortan niemand mehr
Achtung vor ihm hat (II 4. 6f.). Vielmehr hat er seine
wesentlichen, eigentlich menschlichen Merkmale verlo­
ren. Ein solcher Mensch wird mit einer schlechten oder
›faulen‹ Münze verglichen, die wegen ihrer üblen Prä­
gung nichts mehr gilt:

Welche Prägung, welchen Charakter, hat diese Vier-As-


Münze? Trajans. Gut, die nehme ich. Neros? Wirf sie weg,
sie gilt nichts, es ist eine faule Münze! So ist es auch hier [mit
der moralischen Prägung]. Welche Prägung haben seine An­
schauungen? »Die Prägung des Sanften, Gesellschaftlichen,
Geduldigen, Freundschaftlichen.« Gut, den nehme ich an,
den mache ich zu meinem Mitbürger, den nehme ich als
Nachbarn, als Reisegefährten an. Sieh nur zu, dass er nicht
Neros Prägung hat. Ist er zornig? Rachsüchtig? Tadelsüch­
tig? »Er schlägt die Leute, die ihm in den Weg kommen,

121
wenn es ihm gefällt, auf die Köpfe.« − Warum hast du also
gesagt, er sei ein Mensch? (IV 5. 16ff.)

3. Bedauern statt Mitleid

Wer also seine spezifisch menschlichen Prägungen ver­


loren hat, wer auf die Stimme der Vernunft nicht mehr
hört und auch in diesem Sinne die Selbstachtung ver­
loren hat, den mag man nur noch der äußeren Gestalt
nach einen Menschen nennen. Ein Vater, der gegen sei­
ne natürliche Aufgabe als Vater handelt, der gegen sei­
nen Sohn vorgeht, etwa ihn enterbt, hat den Charakter
eines Vaters, eines zärtlichen Menschen, eines sanften
(›zahmen‹) Menschen verloren (III 18. 5). Epiktet geht
natürlich nicht so weit, wie Platon, der in seinem Staat
auch die Hinrichtung der seelisch »missratenen und un­
heilbaren« Menschen empfiehlt (409e4ff.). Dennoch ist
die Ausgrenzung solcher Menschen als »unbrauchbar«
(IV 5. 21), als Esel, Schaf oder im schlimmsten Fall als
»wildes Tier« eindeutig. Wenn du meinst, Freunde zu
sehen, Brüder, die sich miteinander gut verstehen, so
halte dich dennoch mit einem Urteil zurück (II 22. 24ff.).
Das kann ja nur ein oberflächlicher Eindruck sein, der
sich schnell widerlegen lässt. Auf die Gedanken eines
schlechten, ›wertlosen‹ Menschen ist kein Verlass, seine
Urteilskraft hat keine Festigkeit, keine sichere Regel und
lässt sich von den sinnlichen Vorstellungen nach Belie­
ben lenken. Daher legt Epiktet auch keinen prinzipiellen
Wert auf die Herkunft oder auf gute Ausbildung im tra­
ditionell bürgerlichen Sinne. Entscheidend ist, wo ein
Mensch seinen Nutzen setzt und das Gute sieht. Wenn
in äußerliche Dinge, so sind solche Menschen keine

122
Freunde, ja im Sinne der von der Natur gegebenen Be­
stimmung eben nicht einmal Menschen zu nennen (II
22. 27f.). Das Verhalten gegenüber solchen ›Mitbewoh­
nern‹ wäre daher besser als ein Bedauern (vgl. IV 5. 15)
denn als ein Mitleiden zu bezeichnen. Denn das Mitleid
ist ein Affekt, ein Leid, das die meisten Menschen ge­
genüber Dingen empfinden, die gar keine wahren Übel
sind (IV 6. 2), wie Armut, Arbeitslosigkeit, Krankheiten,
Todesfälle und dergleichen mehr. Grundsätzlich for­
muliert Epiktet:
Du sollst das naturwidrige Verhalten eines anderen nicht zu
einem Übel für dich machen. Denn du bist nicht dazu ge­
boren, mit erniedrigt oder mit unglücklich, sondern mit
glücklich zu sein. Ist jemand unglücklich, so erinnere dich,
dass er durch sich selbst unglücklich ist; denn Gott hat alle
Menschen zur Glückseligkeit, zur Gemütsruhe erschaffen.
(III 24. 1ff.)

Epiktet berichtet, wie er selbst einmal von einem Mann


daran erinnert werden musste, sich das vorgebliche Un­
glück eines anderen nicht zu Eigen zu machen:
Es bat mich einer, für ihn nach Rom zu schreiben, ein Mann,
der nach der Meinung der großen Menge Unglück gehabt
hatte, der früher angesehen und reich gewesen war, später
aber alles verloren hatte und hier [in Nikopolis] sein Leben
hinbrachte. Ich schrieb einen demütigen Brief für ihn. Sobald
er ihn aber gelesen hatte, gab er ihn mir zurück und sagte:
»Ich wollte Hilfe von dir, nicht Mitleid; denn ich weiß wirk­
lich von keinem Übel.« (I 9. 27f.)

Willst du nicht lieber, fragt Epiktet (I 28. 9), wenn du je


in einen Affekt kommen musst, so wie man mit Blinden
und Lahmen Mitleid hat, Mitleid mit Leuten haben, die
an ihrem bedeutendsten Vermögen − nämlich an ihrem
Urteilsvermögen − blind und lahm geworden sind?

123
Hier ist also allenfalls ein ›Mitleid‹ angemessen, oder
besser: ein Bedauern, ein Bedauern freilich, das die Vor­
stellungen von den Leuten, um die es geht, entspre­
chend der Natur der Dinge gebraucht und das einen
deshalb davor bewahrt, sich durch das nicht naturge­
mäße Verhalten der anderen anfechten zu lassen.

4. Die feste Burg

Lass sie über dich herfallen. Deiner freien Selbstbestim­


mung, dem Gebrauch deiner Vorstellung können sie
keinen Schaden zufügen. So kannst du auf offenem
Platz ausrufen (IV 5. 24), dass du mit allen Menschen in
Frieden lebst, sie mögen tun, was sie wollen, und dass
du jene am meisten verlachst, die sich einbilden, dass sie
dir Schaden zufügen könnten.
Epiktet verwendet gerade an dieser Stelle (IV 5. 25ff.)
das Bild von der befestigten Stadt, der ›festen Burg‹, das
die anscheinende Paradoxie des Gedankens, ja der gan­
zen Lehre, unterstreicht. Wie kann man sich auf einem
offenen Platz befinden und zugleich so sicher sein? In­
dem man die richtigen Anschauungen von der Unbe­
ständigkeit aller äußeren Güter hat und damit die Seele
wie mit einer Mauer schützt. Wenn wir erkennen, dass
ein anderer uns nicht schaden oder nützen kann, son­
dern nur unsere Vorstellung davon dies bewirkt, und
wenn wir erkennen, dass die sittliche Entscheidung der
Ort der Freiheit ist, so werden wir in dieser Freiheit
auch auf offenem Platz so sicher wie in der sichersten
Stadt sein.
Sokrates konnte mit Xanthippe zusammenleben, oh­
ne dass sie ihn in seiner Freiheit nur irgend beeinflussen

124
konnte, ebenso wenig wie das die Richter von Athen
konnten, die ihn zum Tode verurteilten. Epiktet könnte
sich eine menschliche Gemeinschaft vorstellen, die auf
solchen Anschauungen baute:
Anschauungen, die im Hause Freundschaft, in der Stadt Ein­
tracht, unter den Völkern Frieden bewirken, Anschauungen,
die uns dankbar gegen Gott und überall zuversichtlich ma­
chen, weil wir alles Äußere für fremde Dinge ansehen, denen
wir keinen Wert beilegen. (IV 5. 35f.)

Über die Verwirklichung einer solchen Gemeinschaft


macht er sich jedoch keine Illusionen:
Freilich, solche Dinge sind wir wohl imstande zu schreiben
und zu lesen und zu loben, wenn man sie uns vorliest, aber
weit entfernt zu befolgen. (IV 5. 36)

In der Schule sind wir Löwen, draußen aber Füchse.


Und erst recht gilt es, sich keine Illusionen über das
Verhalten der vielen zu machen. Vielleicht wird man ja
einmal gepackt und vor Gericht geschleppt (I 29. 22ff.).
Da werden die Leute hinter einem herrufen: »Nun, Phi­
losoph! Was helfen dir jetzt deine Anschauungen? Da
schleppt man dich ins Gefängnis, und du wirst den Kopf
verlieren.« Natürlich! Was für eine Philosophie hätte ich
auch treiben sollen, um zu verhindern, ins Gefängnis
geworfen oder hingerichtet zu werden, wenn denn ein
Stärkerer kommt und mich packt? Davon muss man
überzeugt sein. Die vielen aber, die Naiven, die sich wie
die Kinder verhalten (I 29. 30ff.), zu überzeugen, wird
kaum gelingen. Da ist es besser, schweigend sich der
Prüfung mithilfe der Philosophie, die man gelernt hat, zu
unterziehen.

125
Anton Raphael Mengs, Epiktet, Rom 1754–1756

126
XVII Das Leben, ein Spiel

An verschiedenen Stellen zieht Epiktet den Vergleich des


Lebens mit einem Spiel. Dies hilft erneut, zu unter­
scheiden bzw. zu demonstrieren, was in unserer Macht
steht, nämlich gut zu spielen, und was nicht − die Spiel­
regeln:
Man muss es machen wie beim Würfelspiel: Die Würfe sind
gleichgültig, die Würfel sind gleichgültig. Woher kann ich
wissen, was fallen wird? Aber von dem, was fällt, einen sorg­
fältigen und geschickten Gebrauch zu machen, das ist nun
meine Aufgabe. (II 5. 2ff.)

Oder vom Ballspiel; auch da geht es nicht um den Ball


selbst, als ob er gut oder schlecht wäre:
Was wäre das für ein Spiel, wenn wir mit Unruhe und
Furcht unsern Ball würfen oder auffingen? Wie würde man
da standhaft sein? Wo würde man sehen, was im Spiel als
Nächstes kommt? Der eine würde rufen: »Wirf!« der an­
dere: »Halt! Wirf nicht!« der Dritte: »Warte nicht ab!«: Das
wäre kein Spiel mehr, sondern Streit. (II 5. 17)

Darin also unterscheidet sich das Spiel vom Ernst, der


gute Spieler vom schlechten, dass das Ziel das gute Spie­
len ist und nicht das Gewinnen. Der Nationalökonom
und von der Philosophie der Stoa, insbesondere von der
Philosophie Epiktets, stark beeinflusste Moralphilosoph
Adam Smith (1723 bis 1790) hat diese allgemein stoische
Vorstellung vom Leben als einem Spiel besonders gut
erklärt, weshalb sie hier ganz zitiert werden sollte (The­
ory of Moral Sentiments VII, II 1, 24):
»If, notwithstanding all his skill, however, the good
player should, by influence of chance, happen to lose,

127
the loss ought to be a matter, rather of merriment, than
of serious sorrow. He has made no false stroke; he has
done nothing which he ought to be ashamed of; he has
enjoyed completely the whole pleasure of the game. If,
on the contrary, the bad player, notwithstanding all his
blunders, should, in the same manner, happen to win,
his success can give him but little satisfaction. He is mor­
tified by the remembrance of all the faults which he
committed. Even during the play he can enjoy no part
of the pleasure which it is capable of affording. From
ignorance of the rules of the game, fear and doubt and
hesitation are the disagreeable sentiments that precede
almost every stroke which he plays; and when he has
played it, the mortification of finding it a gross blunder,
commonly completes the unpleasing circle of his sen­
sations. Human life, with all the advantages which can
possibly attend it, ought, according to the Stoics, to be
regarded but as a mere two-penny stake; a matter by far
too insignificant to merit any anxious concern. Our only
anxious concern ought to be, not about the stake, but
about the proper method of playing. If we placed our
happiness in winning the stake, we placed it in what
depended upon causes beyond our power, and out of
our direction. We necessarily exposed ourselves to per­
petual fear and uneasiness, and frequently to grievous
and mortifying disappointments. If we placed it in play­
ing well, in playing fairly, in playing wisely and skilfully;
in the propriety of our own conduct in short; we placed
it in what, by proper discipline, education, and attenti­
on, might be altogether in our own power, and under
our own direction. Our happiness was perfectly secure,
and beyond the reach of fortune. The event of our ac­
tions, if it was out of our power, was equally out of our
concern, and we could never feel either fear or anxiety

128
about it; nor ever suffer any grievous, or even any se­
rious disappointment.«
Aber auch im Bild vom Leben als Spiel zeichnet sich
die Möglichkeit, nicht mehr mitzumachen, wenn das
Spiel widervernünftig wird: An den Saturnalien wird
eine Art Faschingskönig gewählt − dieses Spiel wurde
nun einmal ausgemacht −, der allerlei Anweisungen er­
teilt (I 25. 7ff.): »Du sollst trinken, du sollst einschenken,
du sollst singen, du sollst weggehen, du sollst herkom­
men!« Ich gehorche, sagt Epiktet, damit das Spiel nicht
durch mich verdorben wird. Werde ich aber aufgefor­
dert zu glauben, dass es mir übel ergeht − dazu kann
mich niemand zwingen −, so breche ich das Spiel ab.
Sokrates war ein guter Spieler. Zu seinen Richtern in
Athen konnte er sagen (I 9. 23): »Wenn ihr mir jetzt sagt:
Wir lassen dich unter der Bedingung frei, dass du nicht
weiter deine Diskussionen führst, wie du das bisher ge­
tan hast, und dass du weder unsere jungen noch unsere
alten Leute belästigst − dann werde ich antworten: Ihr
seid lächerlich, wenn ihr einerseits fordert, ich sollte, falls
euer Feldherr mich auf einen Posten stellte, diesen Pos­
ten sichern und bewahren und tausendmal lieber den
Tod wählen als ihn zu verlassen, andererseits aber, wenn
der Gott uns auf einen bestimmten Platz und in eine
bestimmte Lebensform gestellt hat, dass wir diese dann
verlassen sollten.« Sokrates hat also seine Anschauung
von gut und schlecht bewahrt und er hat in einem sol­
chen Leben offenbar die ihm von Gott zukommende
Aufgabe gesehen. Demnach verstand Sokrates vor Ge­
richt, so Epiktet (II 5. 18ff.; vgl. IV 7. 30), den Ball zu
spielen; denn dort ging es um Gefängnis, Verbannung,
Verlust der Familie und Tod. Doch er wusste, dass diese
Dinge nicht in seiner Macht standen, und spielte mit
dem Ball nichts desto weniger in guter Ordnung, indem
er seine freie Selbstbestimmung bewahrte.

129
Die Auffassung vom Leben als Spiel erweist sich
auch, wenn Epiktet gelegentlich davon spricht, dass je­
dem Menschen auf dieser Welt gleichsam eine bestimm­
te Rolle in einem Theaterstück oder Drama vorgegeben
sei. Ob das Schicksal oder Gott als Schöpfer dieses Stü­
ckes will, dass wir Bettler oder König sind − nichts, was
von uns abhängt, − entscheidend ist, dass wir diese Rol­
le gut spielen (IV 7. 13); das heißt, sie anzunehmen und
zugleich vernunftvoll mit ihr umzugehen. Hätte die Stoa
zwei authentischere Verkünder ihrer Lehre als den frei­
gelassenen Sklaven Epiktet und den Kaiser Marcus Au­
relius finden können?
XVIII Abschließende Bemerkungen

1. Epiktets Hörer

Einer der Schüler Epiktets war offensichtlich von der auf


Diogenes zurückgehenden kynischen Lebenshaltung an­
getan. Wie Diogenes selbst, so dokumentierten auch
seine späteren Anhänger schon nach außen hin ihre
Ablehnung aller ›bürgerlichen‹ Werte. Epiktet macht
diesem Schüler (III 22) zunächst einmal klar, dass der
Entschluss, als kynischer ›Bettelmönch‹ sein Leben zu
verbringen, auf einer tief gehenden Berufung bauen
muss und sich keinesfalls in Äußerlichkeiten erschöpfen
darf. Nur einen alten Mantel zu tragen, auf dem nackten
Boden zu schlafen und bettelnd durch die Gegend zu
ziehen, umfasst die Sache keineswegs. Entscheidend ist
− wie wir das jetzt schon vielfach kennen gelernt haben
− die innere Einstellung:
Dein Wünschen muss gänzlich aufgehoben, deine Aversion
darf nur gegen Dinge gerichtet sein, die im Bereich der freien
Selbstbestimmung liegen. Du darfst keinen Zorn, keinen
Groll, keinen Neid, kein Mitleid kennen. Es darf dir kein
Mädelchen, kein Ehrenstellchen, kein Bürschlein, kein klei­
ner Leckerbissen, schön erscheinen. (III 22. 13)

Darüber hinaus ist der kynische Philosoph oder Weise


aber eine Art Botschafter Gottes (III 22. 23ff.), der durch
seine im äußeren Auftreten sicher auch zeichenhaft ge­
wordene Lebenseinstellung den Menschen immer wie­
der vor Augen hält, »dass sie in ihren Anschauungen
über gut und schlecht ganz irregehen und das Wesen
von gut und schlecht in Dingen suchen, wo es nicht ist;

131
wo es hingegen ist, es nicht wahrnehmen«. Epiktet ver­
deutlicht seinem Schüler auch drastisch (III 22. 67ff.),
dass, bevor nicht alle Menschen gewissermaßen Weise
oder Kyniker seien, und er weiß genauso gut wie jeder
andere, dass das niemals der Fall sein wird, derjenige,
der sich auf diesen Weg begibt, sich möglichst von jeg­
licher privaten Beziehung und daraus entspringenden
Verpflichtung fern hält. Was geschähe, wenn er verhei­
ratet wäre:
da hätte er seinem Schwiegervater, er hätte den übrigen Ver­
wandten seiner Frau und auch ihr selbst bestimmte Dienste
zu erweisen; schließlich würden ihn Krankenpflege und Sor­
ge für das Auskommen der Familie von seiner eigentlichen
Aufgabe abhalten. Um es kurz zu machen, er müsste auch
einen Kessel haben, um für das kleine Kind warmes Wasser
zu bereiten und es dann in der Wanne baden zu können. Er
müsste für seine Frau, wenn sie ein Kind bekommt, feine
Wolltücher, Öl, ein Bettlein, einen Trinkbecher haben − die
Hausgeräte werden mehr und mehr. − Von andern Ge­
schäften, von andern Ablenkungen will ich gar nicht reden.
(III 22. 70ff.)
Wie es die »Republik der Weisen« nicht gibt, nicht ge­
ben wird, so gab es und wird es auch nur sehr wenige
Menschen vom Schlag eines Diogenes geben. Epiktets
Schilderung führt aber noch einmal prägnant vor Au­
gen, in welch einem Geflecht von Verpflichtungen schon
der Normalbürger eingebunden ist. Absurd wäre daher
die Frage (III 22. 83), ob sich der als kynischer Weiser
Berufene aktiv am politischen Leben im landläufigen
Sinne beteiligen werde. Aber an den Kyniker muss sich
Epiktets Lehre nicht richten. Und auch nur in zweiter
Linie an solche, die Kyniker werden wollen. Es sei
denn, wie im Falle des genannten Schülers, um Miss­
verständnisse über diesen ›Beruf‹ auszuräumen. Die ei­

132
gentliche Klientel bestand zunächst aus regulären ›Stu­
denten‹, jungen Leuten, zumeist wohl aus gut situierten
Familien, die von ihren Eltern im Rahmen ihres Erzie­
hungsganges auf eine öffentliche Laufbahn hin zu Epi­
ktet geschickt worden waren, und deren Enthusiasmus
Epiktet gelegentlich (I 10. 13) einklagt. Dieser Schüler-
kreis erweiterte sich gelegentlich:

Der Statthalter von Epirus hatte für einen Schauspieler etwas


ungehörig Partei ergriffen, ihn favorisiert, und war deshalb
öffentlich beschimpft worden. Als er Epiktet bald darauf er­
zählte, dass er beschimpft worden sei und sich über diejeni­
gen, die ihn beschimpft hätten, ärgere, sagte der: Und was
haben denn diese Leute Schlimmes getan? Sie haben ihrer­
seits Partei ergriffen wie du. Als jener aber erwiderte, ob man
denn auf diese Weise Partei ergreife, sagte er: Sie sahen, dass
du, ihre Obrigkeit, der Günstling und Statthalter des Kaisers,
auf diese Weise Partei ergriffen hast; warum sollten sie nicht
auf dieselbe Weise Partei ergreifen? Denn wenn man nicht
auf solche Weise Partei ergreifen soll, so tu du es auch nicht.
Wenn man’s aber soll, was ärgerst du dich, dass sie deinem
Vorbild gefolgt sind? Denn wen haben denn die Leute zum
Vorbild, als euch herausragende Persönlichkeiten? Auf wen
sollen sie sehen, wenn sie ins Theater gehen, als auf euch?
(III 4. 1ff.)

Epiktet hatte, das ist schon bemerkt worden, reiche und


gesellschaftlich bedeutende Menschen der griechisch­
römischen Gesellschaft unter seiner ›Kundschaft‹. Hier
sogar den obersten Beamten der Provinz, in der sich
sein zweiter Lebensort Nikopolis befand. Für solche
Leute bot offensichtlich Epiktets pragmatisch erschei­
nender Stoizismus, sicherlich in Verbindung mit einer
charismatischen Ausstrahlung seiner Persönlichkeit, eine
lohnende Perspektive der Ruhe und Sicherheit in einem
ansonsten unruhigen und unsicheren Leben. Ob der

133
Statthalter von Epirus Epiktets Ausführungen genau
verstanden hat, die darauf hinauslaufen, dass man näm­
lich nichts begehren solle, was nicht im Bereich der ei­
genen Kontrolle liegt, in diesem Fall den Erfolg eines
Schauspielers, ist eher unwahrscheinlich, und der wei­
tere Verlauf des Gespräches legt das auch nicht nahe.
Vielleicht reichte ja wenigstens der Hinweis darauf, dass
sein Verhalten sich prinzipiell nicht von dem des Pu­
blikums, der großen Masse unterschied, aus, um den
Statthalter zu einem weiteren Nachdenken zu bewegen.

2. Epiktet heute lesen

Können wir, die wir keine Kyniker oder stoischen Wei­


sen werden wollen, auch heute noch mit Gewinn ›zu
Epiktet gehen‹, um Kraft, vielleicht sogar Sinn für unser
Leben zu gewinnen? Die Frage ist bereits oben (→ II 1)
angesprochen worden, und allein schon die immer wie­
der neu aufgelegten bzw. neu erstellten Übersetzungen
der Gespräche und des Handbüchleins in vielen Sprachen
scheinen dies zumindest nahe zu legen. Abschließend
soll hierauf noch einmal eingegangen werden, wobei zu­
nächst einige problematische Punkte eines Nachvollzugs
seiner Lehre kaum mehr als kurz angeschnitten werden
sollen. Eine Kritik seiner Philosophie wäre nur auf der
Grundlage einer Darlegung des Systems der Stoa ins­
gesamt möglich, was hier nicht geleistet werden konnte
und sollte. Die Philosophie der Stoa hat ihre Gegner
und Kritiker seit der Antike bis hin zu Hegel und zu den
Theoretikern des Marxismus gefunden. Was andererseits
nicht verhindert hat, dass, nach einem Ausspruch Wil­
helm Diltheys, der Stoa der stärkste und dauerndste

134
Einfluss zukam, den je eine philosophische Ethik hat
erringen können.
1. Es konnte im Vorangegangenen nur angedeutet
werden, dass die Plausibilität und bestechende Einfach­
heit der Lehre Epiktets in Konkurrenz steht zu dem
unausgesprochenen oder nur gelegentlich angesproche­
nen Aufwand, der nötig war (und wäre), diese Lehre zu
fassen. Einem Gesprächspartner, der Epiktet gegenüber
gewisse Befürchtungen äußert, weil er zu einer Reise
nach Rom verpflichtet wurde und ihm dort vom Kaiser
aus möglicherweise Verbannung oder Tod drohen (II
6. 20ff.), entgegnet jener zunächst in der üblichen Weise,
dass ihm, Epiktet, im erdbebengefährdeten Nikopolis
ebenso der Tod drohe, dass die Seereise nach Italien
natürlich lebensgefährlich sei, und dass eine Verbannung
schließlich auch nur einen Wechsel des Ortes bedeute.
Aber, so sagt Epiktet weiter, dies seien doch gar keine so
großen Prüfungen, denen er sich unterziehen müsse,
wenn er jetzt nach Rom zurückkehre. Die Vorbereitun­
gen hier, bei ihm, Epiktet, seien viel aufwändiger gewe­
sen, so dass ein talentierter Schüler dazu sagen könnte
(II 6. 23): »Es war nicht der Mühe wert, so viel gehört,
so viel geschrieben, so lange Zeit bei dem alten Männlein
von nicht besonderem Wert gesessen zu haben.« Man
solle nur eine einzige Einteilung im Gedächtnis behalten,
nach welcher man unterscheide, was sein und was nicht
sein sei, damit man sich niemals fremde Dinge anmaße:
»Richterstuhl und Kerker ist jedes ein Ort, der eine ein
hoher, der andere ein niedriger. Deine freie Selbstbe­
stimmung aber kann als die gleiche erhalten bleiben,
wenn du sie für beide Orte gleich erhalten willst«
(6. 24ff.).
Zu den Vorbereitungen, von denen Epiktet spricht,
gehörte nicht nur immer wieder der Nachvollzug im

135
Gespräch anhand von Übungsbeispielen, wie es uns
eben Arrian überliefert hat. Ein tieferes Eindringen in die
logischen und physikalischen Grundlagen der stoischen
Philosophie mit ihren ethischen Implikationen war si­
cher ein bedeutsamer Bestandteil des Unterrichts.
2. Eine Grundschwierigkeit im lebendigen Nachvoll­
zug dieser Lehre bestand für die Menschen damals, wie
das auch heute nicht anders ist, jedoch darin, dass mit
logischen Kategorien elementare Bedürfnisse des Men­
schen so relativiert werden sollen, dass es gleichsam ge­
lingt, sie in den Verstandeskategorien aufzuheben. Die
stoische und auch Epiktets Ethik ist keine rein rationale
Ethik, insofern sie nämlich wiederum begründet ist in
dem Glauben an die schöne und vernünftige Ordnung
des Kosmos. In ihrem Postulat jedoch, dass allein ein
Federstrich der Vernunft das passende Mittel sei, um
falsche Wertsetzungen aus der Welt zu schaffen, schätzt
sie die menschliche Affekt- und Triebstruktur in einer
Weise ein, die wenig realistisch erscheint. Denn sie über­
schätzt nicht nur die Möglichkeiten der Vernunft in der
Überwindung von Fehlhaltungen, sondern disqualifiziert
die Bedeutung der Affektstruktur auch in Bezug auf ihre
positiven Möglichkeiten, etwa in der Liebe oder der
Kunst. Epikur und seine Schule räumten in den Gefüh­
len demgegenüber, anders als die Stoiker, der Lust und
der Unlust einen Raum unwillkürlicher und unvermeid­
barer Wertungen ein.
3. Aber auch wenn man sich ganz auf den Boden der
stoischen Anschauung stellte, bleibt immer noch das
Problem des Nachvollzugs in der Praxis. Epiktets wie­
derholter Ausruf, man solle ihm doch einen Stoiker
zeigen − ein Grundproblem der Stoa überhaupt −, be­
leuchtet diese Diskrepanz klar.

136
In einem Gespräch, das den Titel trägt »An diejeni­
gen, die leichtsinnig als Lehrer der Philosophie auftre­
ten« (III 21), führt er Klage gegen Leute, die meinten,
allein das Verständnis der Lehrsätze reiche aus, um die
Lehre selbst auch überzeugend vertreten zu können. Ein
Baumeister komme nicht und sage, »Hört mir zu, wenn
ich mich über die Baukunst unterhalte«, sondern er zeigt
in der Praxis, dass er sein Handwerk versteht:

Tu du auch desgleichen! Iss als Mensch; trink als Mensch;


kleide dich, heirate, zeuge Kinder, betätige dich als Bürger;
erdulde Beschimpfung, ertrage einen unverständigen Bruder,
ertrage den Vater, ertrage den Sohn, den Nachbarn, den Rei­
segefährten. Das sollst du uns zeigen, damit wir sehen, dass
du in der Tat etwas von den Philosophen gelernt hast. (III
21. 4ff.)

Epiktet macht im Weiteren klar, dass, wer Philosophie


lehren will, diese in seinem Leben verwirklicht haben
und zugleich eine Art Berufung verspüren muss. Was
man als Philosoph tut, ist sonst, als besäße man eine
Arztpraxis oder Apotheke mit vielerlei Medikamenten,
ohne eine Ahnung davon zu haben, wo und wie diese
anzuwenden seien (21. 20f.). Wenn es also auch hier
um die professionelle Ausübung der Lehre, den Status
des Philosophen selbst, geht, so zeigt doch auch diese
Erörterung die Diskrepanz auf, die zwischen einer ver­
standesmäßigen Erfassung des Gemeinten und ihrer
Verinnerlichung besteht. Einen Philosophen nenne dich
niemals, sagt Epiktet (21. 23f.), und lasse es auch nicht
zu, dass dir jemand diesen Titel verleiht, sondern sage:
»Er irrt sich; denn meine Wünsche sind die gleichen wie
zuvor und meine Antriebe gehen noch auf die gleichen
Dinge; ich schenke auch noch denselben Dingen mei­
nen Beifall und unterscheide mich in der Anwendung

137
meiner Vorstellungen überhaupt in nichts von meinem
früheren Zustand.«
Und was eben für den gilt, der meint, gleich als Leh­
rer auftreten zu können, gilt natürlich erst recht für den
›normalen‹ Bürger. Selbst wenn der gelegentlich auf­
grund seiner Erfahrungen zur Einsicht kommen sollte,
dass er sein Leben ändern müsse, hält diese Einsicht
doch meist nicht lange an. Ein höherer römischer Ver­
waltungsbeamter, der für eine Zeit lang in die Verban­
nung geschickt worden war, sich nun auf der Rückkehr
befand und dabei Epiktet besuchte, ließ sein bisheriges
Leben Revue passieren:
Wenn er einmal wieder zu Hause sei, sagte er, so wolle er
sich allein darum kümmern, den Rest seines Lebens in Stille
und Ruhe der Seele zu verbringen. »Wie viel Zeit habe ich
denn noch!« − »Das tust du bestimmt nicht«, sagte ich ihm,
»sondern sobald du Rom nur riechst, hast du das alles wie­
der vergessen.« Wenn ihm etwa ein Zutritt zum Hofe ver­
gönnt werden sollte, so werde er sich freudig und dem Gott
dankend dazu drängen. − »Wenn du herausfindest«, sagte er,
»mein lieber Epiktet, dass ich nur einen Fuß an den Hof
setze, so halte von mir was du willst.« − Was also tat der
Mann? Ehe er noch in Rom anlangte, kam ihm ein Schrei­
ben vom Kaiser entgegen. Kaum hatte er das empfangen, so
war jenes alles vergessen; er bürdete sich fortan ein Geschäft
über das andere auf. (I. 10. 2ff.)
Für den heutigen Menschen nicht anders als für den
antiken ist die Grundfrage letztlich: Kann man ein biss­
chen stoisch sein? Epiktets Antwort wäre und ist ohne
Zweifel rigoros. Wer glückselig im stoischen Sinne wer­
den will, der muss nicht wenig übernehmen und nicht
wenig entbehren:
Du kannst nicht zugleich das Konsulat und dieses wollen;
nicht mit gleichem Eifer den Besitz von Landgütern und die­

138
ser Güter betreiben; nicht zugleich auf deine armselige Die­
nerschaft und auf dich selbst sorgend bedacht sein. Wenn
deine Wünsche auf fremde Dinge gehen, so hast du das Ei­
gene verloren. Das ist die Natur der Sache. Umsonst gibt es
nichts. Und warum ist das verwunderlich? Wenn du Konsul
werden willst, musst du manche Nacht wach bleiben, viel
Besuche machen, manche Hand küssen, vor fremden Türen
dich totwarten, vieles reden und tun, das einem Freien un­
würdig ist, vielen Geschenke machen und einigen täglich
Freundschaftsgeschenke schicken. Und was ist das Ergebnis?
Zwölf Rutenbündel [die Amtsinsignien der römischen Kon­
suln], du nimmst drei- oder viermal auf der Rednerbühne
Platz, du gibst Schauspiele im Zirkus und lässt Speisekörb­
chen verteilen. Oder es soll mir einer zeigen, was es mehr als
das ist. Dafür freilich, dass du Herr über deine Leidenschaf­
ten bist, dass dein Gemüt nichts beunruhigt, dass du schläfst,
wenn du schläfst, und erwachst, wenn du wach bist, dass du
von keiner Furcht, von keiner Angst etwas weißt; dafür
willst du nichts aufwenden, dafür keine Mühe übernehmen?
(IV 10. 18–23)

Epiktet kennt unsere Antwort. Nein, kaum einer wollte


und könnte diese Mühe auf sich nehmen, so verlockend
theoretisch das Ziel auch sein mag.

3. Das moralische ›Wir‹

Weshalb aber haben dann Menschen seit der Antike bis


hinein in die heutige Zeit immer wieder ihren ›Epiktet‹
zur Hand genommen und offensichtlich Kraft aus seiner
Lektüre geschöpft? Was heißt es, wenn in Abhandlun­
gen von ›moralischer Erbauung‹ durch Epiktet gespro­
chen, wenn in einer frühen deutschen Übersetzung aus
dem Beginn des 18. Jahrhunderts sein Handbüchlein als

139
eine »allgemeine Gemüths-Artzney« bezeichnet wird?
Neben der schon eingangs hervorgehobenen ›lebens­
praktischen‹ und lebensnahen Ausrichtung der Gesprä­
che ist es wohl gerade bei aller Rigorosität, die seiner
Lehre ja durchaus anhaftet, jener philanthropische As­
pekt, der sicher dem Stoizismus insgesamt eigen ist.
Eine Philanthropie, die, wie gezeigt wurde, nicht als
›Nächstenliebe‹ falsch zu deuten ist, die aber bei Epiktet
in der Anschauung von der Gleichheit aller Menschen
vom niedrigsten Sklaven bis hin zum Kaiser in beson­
derem Maße Verständnis aufbringt für den Irrtum und
die Schwäche des anderen, des Nächsten − und damit
doch für einen selbst −, eine Schwäche, die, wie wir
sahen (→ XVI 1), im sokratischen Sinne als nicht vor­
sätzlich aufgefasst wird: »Wenn dich einer schlecht be­
handelt oder schlecht von dir spricht, dann denke da­
ran, er tut oder redet so, weil er meint, es gehöre sich
für ihn. Es ist also unmöglich, dass er sich nach deiner
Vorstellung richtet, sondern er richtet sich nach seiner.
Wenn daher diese falsch ist, so hat er den Schaden da­
von, weil er sich täuscht« (HB 42). Nicht von ungefähr
ist es daher, wenn in den Gesprächen mit seinen Schü­
lern Epiktet oftmals in der ersten Person Plural spricht,
mit diesem »kommunikativen Wir«, wie man es ge­
nannt hat, in pädagogisch geschickter Weise Lehrer wie
Schüler auf die gleiche existenzielle Problematik bezieht.
Der richtige Gebrauch der Vorstellungen, sagt Epiktet
etwa gleich im ersten Gespräch, darum müssten wir
uns alleine kümmern. Stattdessen:
wollen wir doch lieber uns um viele Dinge bemühen und an
eine Menge Sachen gebunden sein, an den Körper, an Besitz,
an einen Bruder, an einen Freund, an ein Kind, an einen
Sklaven. Da wir uns an so vielerlei binden lassen, wird es uns
zu einer Last, die uns zu Boden zieht. (I 1. 14f.)

140
Es ist eben diese verständnisvolle Haltung gegenüber der
condition humaine, die sicher einen Großteil der Wir­
kung Epiktets zu seinen Lebzeiten wie danach ausge­
macht hat und noch weiterhin ausmacht.
Ein Zweites kommt gewiss hinzu: Die Relativierung
der so genannten äußeren Güter. Denn auch wenn man
nicht, wie Epiktet, von dem Glauben an eine insgesamt
zweckvolle, vernünftige Weltordnung getragen wird, so
helfen doch seine überlieferten Gespräche die Bedeutung
und damit auch den Verlust solcher Güter anders zu
bewerten, womit sie zumindest einen Abglanz jener
erlösenden inneren Freiheit aufscheinen lassen. Der
Mensch definiert sich nicht durch das, was er hat, die
äußeren Güter, sondern durch das, was er ist, als ver­
nunftvolles Lebewesen. In diesem Sinne wohl − bei aller
auch immer empfundenen Distanz − ist die Lektüre
Epiktets oftmals als trostvoll empfunden worden. Es ist
auch bezeugt, dass sich die Gespräche oder das Hand­
büchlein im Tornister manches Soldaten gerade in den
großen Kriegen des vergangenen Jahrhunderts befanden;
und der Satz aus dem Handbüchlein, dass man nicht
verlangen solle, dass alles so geschehe, wie man es wolle
usw. (HB 8), wird gern von Vertretern der kognitiven
Therapie zitiert.
Schließlich ein Drittes: Bei aller Abwertung der äu­
ßeren Dinge, die Epiktet deutlich zu machen nicht
müde wird (ein Mittel dazu sind allein schon die
oft verwendeten Verkleinerungsformen ›Körperchen‹,
›Äckerchen‹, ›Krüglein‹, ›Mädelchen‹ usw.) kann man
dennoch nicht von einem regelrechten Pessimismus sei­
nerseits sprechen, wie er vielleicht noch eher die Selbst­
betrachtungen Mark Aurels durchziehen mag. Denn die­
ser Abwertung steht doch immer wieder das gläubige
Beharren auf der Möglichkeit des Glücks in einer von

141
Gott gegebenen Freiheit gegenüber. Auch der Satz des
Handbüchleins (8), dass man das, was geschieht, so wol­
len soll, wie es geschieht (→ III 1), ist in diesem Sinne
eben keineswegs negativ ›fatalistisch‹ aufzufassen, son­
dern vielmehr als positive Einwilligung in das, was oh­
nehin kommt.
Die Wirkung der Lehre Epiktets wird wohl noch da­
durch insgesamt unterstützt, dass seine Worte von einer,
selbst heute, nach über 1800 Jahren, im gedruckten Text
noch spürbaren Authentizität getragen sind. Epiktet
musste nicht wie sein philosophischer ›Kollege‹ Seneca
dazu raten (Briefe an Lucilius 18, 7), gelegentlich auf ei­
nem harten Feldbett zu schlafen, um Bedürfnislosigkeit
für den ›Ernstfall‹ einzuüben. Sein Lager wird stets ent­
sprechend bescheiden gewesen sein.
Sicherlich hat jede Zeit ihren Epiktet gelesen. Da die
christliche Morallehre ihrerseits von stoischem Gedan­
kengut beeinflusst war, war es leicht, stoische Autoren
wie Seneca und Epiktet ›christlich‹ zu lesen, was teil­
weise zu regelrechten Umarbeitungen geführt hat, in­
dem man etwa diejenigen Stellen, an denen Epiktet von
›den Göttern‹ spricht, den Singular ›Gott‹ eingefügt hat
oder in kommentierenden Anmerkungen zum Hand­
büchlein auf parallele Bibelstellen verwies. Für die christ­
liche Perspektive sprach auch noch die beinahe in­
brünstig anmutende Gläubigkeit, mit der Epiktet von
der göttlich vernunftvoll eingerichteten Weltordnung
spricht. Oben (→ VIII 2) hatten wir eine solche hym­
nische Apostrophe an Gott kennen gelernt, doch in den
Gesprächen finden sich noch etliche vergleichbare Adres­
sen und Aussagen, so dass man Epiktet auch als den
religiösesten stoischen Philosophen bezeichnen konnte.
Dass der heidnische Philosoph Epiktet aber nicht
christlich gelesen werden musste, ist ebenso klar. Darauf

142
deutet auch schon die sicher weit umfangreichere Re­
zeption des Handbüchleins vor den Gesprächen hin. Das
Handbüchlein war ursprünglich wohl eher als Lektüre
zur Vergewisserung für den bereits in ›Ausbildung‹ be­
findlichen Schüler denn als Einführung in die Lehre ge­
dacht. Das zeigt etwa der 46. Absatz, der mit den Wor­
ten beginnt, dass man sich selbst nie einen Philosophen
nennen und unter Halbgebildeten nicht viel von Regeln
reden, sondern vielmehr nach den Regeln und Grund­
sätzen handeln solle. Ein tieferes Eindringen in die Lehre
Epiktets war und ist mithilfe des Handbüchleins alleine
nicht möglich. Aber auch das Handbüchlein macht in
aphoristisch einprägsamer Weise einen Grundzug der
Lehre Epiktets deutlich: dass man eine Haltung zu den
Dingen einnehmen muss, wenn man nicht will, dass die
Dinge das Leben bestimmen.
Handbüchlein der Moral

Dem Handbüchlein der Moral wurde eine bedeutende,


und wie die zahlreichen Übersetzungen in verschiedene
Sprachen zeigen, kaum zu überschätzende Nachwir­
kung bis heute zuteil. Es wurde von Arrian als Zusam­
menfassung der Lehre Epiktets verfasst und weist in sei­
nen 53 Paragrafen mit einem Umfang von einem Satz bis
zu etwa drei Seiten eine insgesamt gut strukturierte An­
ordnung auf, die von einer systematischen Erweiterung
des Studienfeldes (die oben [→ XI 2] erwähnten drei
›Gebiete‹) bestimmt ist. Wichtig ist jedoch, dass die
»Vorschriften« des Handbüchleins den asketischen oder
meditativen Charakter der Philosophie Epiktets im Sin­
ne einer ständigen Vorbereitung auf den urteilenden
Verstand herausfordernde Situationen und damit Ein­
übung in das Leben unterstreichen. Einige paradigmati­
sche Abschnitte des Handbüchleins seien zum Schluss
angeführt.

1. (1) Die einen Dinge stehen in unserer Macht, die ande­


ren nicht. In unserer Macht stehen Vorstellung, Antrieb,
Wunsch, Aversion, mit einem Worte alles, was unsere Sache
[im Sinne einer psychischen Leistung] ist. Nicht in unserer
Macht steht dagegen unser Körper, unser Besitz, unser Ruf,
unser Amt, kurz alles, was nicht unsere Sache ist. (2) Was in
unserer Macht steht, ist seiner Natur nach frei, kann nicht
verwehrt noch verhindert werden. Was nicht in unserer
Macht steht, ist schwach und knechtisch, kann verwehrt
werden und ist in fremder Hand. (3) Denke also daran, dass
du in Hindernisse, in Klagen, in Unruhe geraten und Gott
und Menschen beschuldigen wirst, wenn du das seiner Natur

145
nach Knechtische für frei und das andern Angehörige für
dein Eigentum hältst. Wenn du dagegen nur das, was wirk­
lich dein ist, für dein ansiehst, was aber andern angehört, für
das, was es ist, für etwas Fremdes, so wird dich niemand
jemals zwingen, niemand dich hindern, du wirst niemanden
beschuldigen, niemandem Vorwürfe machen, wirst nichts
widerwillig tun, es wird dir niemand Schaden zufügen, du
wirst keinen Feind haben; denn es wird dir nichts begegnen,
was dir schädlich sein könnte.
(4) Wenn du dich also um so Großes bemühst, denke
daran, dass du nicht mit mittelmäßiger Anstrengung danach
streben darfst, sondern dass du einige Dinge völlig aufgeben,
andere vorläufig aufschieben musst. Wenn du aber dies willst
und gleichzeitig mächtig und reich sein, dann wirst du viel­
leicht auch Letzteres nicht erlangen, weil du zugleich nach
Ersterem strebst. Jedenfalls aber wirst du das verfehlen, wo­
durch allein Freiheit und Glückseligkeit zuteil wird.
(5) Gewöhne dich also zu jedem unangenehmen Sinnes­
eindruck zu sagen: »Du bist nur ein Sinneseindruck und
keineswegs das Ding selbst als welches du erscheinst.« Da­
nach prüfe ihn und beurteile ihn nach den Grundregeln, die
du hast. An allererster Stelle aber, ob der Sinneseindruck mit
den Dingen zu tun hat, die in unserer Macht stehen oder
nicht. Und wenn nicht, so halte die Antwort bereit: »Es geht
mich nichts an.«

2. (1) Denke daran, dass das Wünschen verspricht zu erlan­


gen, was man sich wünscht; die Aversion verspricht zu ver­
meiden, wogegen man eine Aversion empfindet. Wer in sei­
nen Wünschen scheitert, ist glücklos, und wer trotz der
Aversion in etwas hineingerät, ist unglücklich. Wenn du also
deine Aversion nur auf das richtest, was unter den Dingen,
die in deiner Macht sind, gegen die Natur ist, dann wirst du
in nichts geraten, wogegen du eine Aversion hast. Wenn du
deine Aversion jedoch auf Krankheit, Tod oder Armut rich­
test, dann wirst du unglücklich sein. (2) Hüte dich also vor
jeder Aversion gegen alles, was nicht in unserer Macht ist,

146
und lasse sie nur gegen das gelten, was in unserer Macht und
gegen die Natur ist. Das Wünschen aber gib vorläufig ganz
auf. Denn wenn du etwas wünscht von dem, was nicht in
unserer Macht ist, dann wirst du notwendig unglücklich.
Und die Dinge, die in unserer Macht sind und die zu begeh­
ren gut wäre, sie stehen noch nicht zu deiner Verfügung.
Beschränke dich nur auf die positiven und negativen Antrie­
be, doch gebrauche sie sanft und mit Vorbehalt und Maß.
4. Wenn du dich an irgendeine Tätigkeit machen willst, erin­
nere dich daran, welcher Art diese Tätigkeit ist. Wenn du
zum Baden gehst, so stelle dir vor, was in einem öffentlichen
Bad geschieht: die Leute, die dich mit Wasser bespritzen, die
dich stoßen, beschimpfen oder bestehlen. Und so wirst du
dich sicherer an diese Tätigkeit machen, wenn du dir sofort
vorsagst: »Ich will zum Baden gehen und zugleich meine
freie Selbstbestimmung, wie sie naturgemäß ist, bewahren.«
Und in gleicher Weise bei jeder Tätigkeit. Denn wenn dir
beim Baden ein Hindernis in den Weg tritt, so wirst du die
Antwort bereithaben: »Ich wollte ja nicht nur das allein
[zum Baden gehen], sondern auch meine freie Selbstbestim­
mung, wie sie der Natur entspricht, bewahren; ich werde sie
aber nicht bewahren, wenn ich mich über das, was geschieht,
ärgere.«
5. Nicht die Dinge selbst verwirren die Menschen, sondern
ihre Meinungen über die Dinge. So ist zum Beispiel der Tod
nichts Furchtbares, sonst wäre er auch Sokrates so erschie­
nen, sondern die Meinung über den Tod, er sei etwas
Furchtbares, das ist das Furchtbare. Wenn wir also gehindert,
verwirrt, betrübt werden, dann sollen wir niemand anderen
beschuldigen als uns selbst, das heißt unsere Meinungen. Es
ist Sache eines philosophisch Ungebildeten, anderen Vor­
würfe zu machen, wenn es ihm schlecht ergeht; eines An­
fängers in der philosophischen Ausbildung, wenn er sich
selbst Vorwürfe macht, und eines vollends Ausgebildeten,
wenn er weder einem anderen noch sich selbst Vorwürfe
macht.

147
8. Verlange nicht, dass das, was geschieht, so geschieht, wie
du es willst, sondern wolle das, was geschieht, wie es ge­
schieht, und du wirst zufrieden sein.

9. Krankheit ist ein Hindernis für den Körper, für die freie
Selbstbestimmung aber nicht, wenn sie es nicht selbst will.
Lahmheit ist ein Hindernis für das Bein, nicht aber für die
freie Selbstbestimmung. Und dies sage zu allem, was dich
betrifft! Denn du wirst es als Hindernis eines anderen finden,
nicht aber für dich.

11. Sage nie von einem Ding, »Ich habe es verloren«, sondern
nur »Ich habe es zurückgegeben«. Dein Kindlein ist gestor­
ben? Es wurde zurückgegeben. Deine Frau ist gestorben? Sie
wurde zurückgegeben. »Mein Land wurde mir genommen.«
Auch das ist also zurückgegeben worden. »Aber es war ein
schlechter Mensch, der es mir genommen hat.« Was küm­
mert es dich, durch wen es der Geber zurückforderte? So­
lange er es dir gibt, kümmere dich darum wie um etwas
Fremdes, wie die Reisenden um die Herberge!

16. Wenn du jemanden im Kummer weinen siehst, entwe­


der weil sein Kind verreist ist oder weil er sein Vermögen
verloren hat, so pass auf, dass dich nicht der Eindruck mit
fortreißt, der Mann befinde sich mitten in äußeren Übeln.
Vielmehr sei dir gleich der Gedanke zur Hand: »Nicht das
Geschehene quält ihn (einen anderen quält es ja auch nicht),
sondern seine Meinung darüber.« Zögere freilich nicht, so­
weit es nur Worte sind, Verständnis für ihn zu zeigen und
sogar, wenn es sich so ergibt, mit ihm zu jammern. Hüte
dich aber, auch in dein Inneres hineinzujammern!

17. Denke daran, dass du ein Schauspieler in einem Stück


bist, dessen Ablauf der Autor festlegt. Will er, dass das Stück
kurz ist, ist es kurz; will er, dass es lang ist, lang. Will er, dass
du einen Bettler spielst, denke daran, auch diese Rolle ange­
messen zu spielen; und genauso, wenn deine Rolle die eines
Lahmen, eines öffentlichen Funktionsträgers oder eines Pri­

148
vatmannes ist. Denn das ist deine Aufgabe, die zugewiesene
Rolle gut zu spielen; die Rolle auszuwählen ist aber die Auf­
gabe eines anderen.

19. Du kannst unbesiegbar sein, wenn du dich auf keinen


Kampf einlässt, den zu gewinnen nicht in deiner Macht steht.
Wenn du jemanden siehst, der dir an Ehre vorgezogen wird
oder große Macht besitzt oder sonst wie in Ansehen steht, so
hüte dich, von diesem Eindruck mit fortgerissen, ihn glück­
selig zu preisen. Denn wenn das Wesen des Guten zu den
Dingen gehört, die in unserer Macht stehen, so gibt es keinen
Platz für Neid und Eifersucht; und du selbst wirst weder
Praetor noch Senator noch Konsul sein wollen, sondern ein
freier Mann. Dahin führt aber nur ein einziger Weg: Die
Verachtung all dessen, was nicht in unserer Macht steht.

21. Tod und Verbannung und alles, was furchtbar erscheint,


soll dir täglich vor Augen stehen, am meisten von allem aber
der Tod. So wirst du niemals erbärmlich denken noch zu
sehr nach etwas verlangen.
25. (1) Wurde dir jemand bei einem Essen, bei einem Emp­
fang, bei einer Zuziehung zum Rat vorgezogen? Wenn diese
Dinge gut sind, so musst du dich freuen, dass jener sie er­
langte; wenn hingegen schlecht, so ärgere dich nicht, dass du
sie nicht erlangt hast! Denke daran, dass du, wenn du nicht
auf die gleiche Weise wie ein anderer handelst, um Dinge zu
erlangen, die nicht in unserer Macht stehen, auch nicht den
gleichen Vorteil haben kannst. (2) Denn wie kann einer, der
keine Besuche bei jemandem macht, den gleichen Vorteil ha­
ben wie einer, der sie macht? Wie einer, der nicht nach Hau­
se begleitet, den gleichen wie einer, der begleitet? Wie einer,
der keine Lobreden hält, den gleichen wie einer, der sie hält?
Ungerecht bist du also und unersättlich, wenn du, ohne den
Preis zu zahlen, für den solche Dinge gekauft werden, sie
umsonst haben willst. (3) Wie viel kostet ein Salatkopf? Etwa
einen Obolos. Wenn also jemand den Obolos zahlt und den
Salat erhält, du ihn aber nicht zahlst und ihn nicht erhältst,

149
dann denke doch nicht, dass du weniger hast als der, der den
Salat erhält. Denn wie jener den Salat hat, so hast du den
Obolos, den du nicht hergabst.
(4) Auf dieselbe Weise auch hier. Du wurdest nicht zu
dem Essen bei jemandem eingeladen? Du gabst ja dem Gast­
geber auch nicht, wofür er sein Essen verkauft. Er verkauft
es für Lob, er verkauft es für Gefälligkeit. Zahle ihm also den
Preis, wofür es gekauft wird, wenn es dir nützen wird. Wenn
du aber beides willst, den Preis nicht zahlen und das andere
erhalten, dann bist du unersättlich und töricht. Und hast du
denn nichts anstelle der Einladung zum Essen? Du hast! Du
musstest den nicht loben, den du nicht loben wolltest, nicht
die Arroganz seiner Türsteher aushalten.

28. Wenn jemand deinen Körper dem, der dir gerade begeg­
nete, überlassen würde, würdest du das schwer ertragen;
dass aber du dein Erkenntnisvermögen dem nächsten Besten
überlässt, dass es, wenn er dich schmäht, in Unruhe und
Verwirrung gerät − schämst du dich nicht deswegen?

30. Unsere Pflichten werden insgesamt an unseren sozialen


Beziehungen gemessen. Hier ist ein Vater. Man ist aufgeru­
fen, sich um ihn zu kümmern, ihm in allen Dingen den
Vorzug zu überlassen, seine Schimpfworte und Schläge zu
ertragen. »Aber er ist ein schlechter Vater.« Die Natur hat
dir doch nicht einen guten Vater zu Eigen gemacht? Nein,
nur einen Vater. »Der Bruder tut mir Unrecht.« Bewahre
nur deine Rolle ihm gegenüber; achte nicht darauf, was jener
tut, sondern was du tun musst, wenn deine freie Selbstbe­
stimmung im Einklang mit der Natur sein soll. Denn ein
anderer wird dir nicht schaden, wenn du es nicht willst. Nur
wenn du annimmst, dir werde Schaden zugefügt, dann wirst
du auch geschädigt sein. So wirst du auch die Pflicht eines
Nachbarn, eines Bürgers, eines Praetors entdecken, wenn du
dich daran gewöhnst, auf die sozialen Beziehungen zu ach­
ten.

150
33. (1) Stelle dir einen bestimmten Charaktertyp vor Augen,
den du bewahren möchtest, wenn du mit dir allein oder
wenn du unter Menschen bist. (2) Zumeist sollst du schwei­
gen, oder nur das Notwendige und in wenigen Worten sa­
gen. Wenn die Umstände einmal zum Reden auffordern,
dann sprich, aber nicht über Dinge ohne Belang. Nicht über
Fechtkämpfe, über Pferderennen, über Athleten, über Essen
und Trinken − Dinge, über die man allerorts spricht. Am
wenigsten aber sprich über Menschen, sei es im Tadel, im
Lob oder im Vergleich. (3) Lenke, wenn du dazu in der Lage
bist, mit deinen Worten auch die Unterhaltung deiner Ge­
sprächsteilnehmer auf das, was sich gehört. Bist du aber al­
lein unter Fremden, so schweige.
(4) Lache nicht lange, nicht bei jeder Gelegenheit und
auch nicht ausgelassen.
(5) Einen Eid zu leisten, verweigere, wenn möglich, über­
haupt, andernfalls, soweit es wenigstens möglich ist.
(6) Lehne Einladungen von Außenstehenden und philo­
sophisch unbedarften Leuten ab. Wenn sich aber doch ein­
mal eine solche Gelegenheit ergibt, so gib Acht, dass du nicht
in unphilosophisches Verhalten verfällst. Denn wisse, dass,
wenn der Begleiter eines Menschen beschmutzt ist, notwen­
dig auch derjenige, der mit ihm Umgang hat, mitbeschmutzt
wird, auch wenn er selbst rein ist.
(7) Was deinen Körper betrifft, so versieh dich nur mit
dem gerade Notwendigen, also [mit dem, was] an Essen,
Trinken, Kleidung, Unterkunft und Personal [nötig ist]. Ver­
banne, was nur dem Ansehen oder dem Luxus dient.
(8) Was die Sexualität betrifft, so halte dich vor der Ehe
nach Möglichkeit rein. Wenn du aber danach greifst, dann
nur, soweit es rechtlich ist. Sei jedoch nicht streng und voll
Tadel gegenüber denjenigen, die davon Gebrauch machen.
Und erwähne nicht überall, dass du keinen Gebrauch davon
machst.
(9) Wenn dir einer hinterbringt, dass der und jener
schlecht über dich redet, so verteidige dich nicht gegenüber
dem Gesagten, sondern antworte: »Er kannte wohl meinen

151
anderen Fehler, die ich noch habe, nicht, sonst hätte er nicht
nur diese alleine erwähnt.«
(10) Oft zu den Zirkus- und Schauspielen zu gehen, ist
nicht nötig. Ergibt es sich aber, so zeige, dass du nur für dich
Partei ergreifst, das heißt, wolle, dass nur das geschieht, was
geschieht, und dass nur der gewinnt, der gewinnt. Denn so
wirst du keine Hinderung erfahren. Enthalte dich ganz von
lautem Rufen, Beifall und großer Erregung. Nachdem du
gegangen bist, sprich nicht viel über das Geschehene, inso­
fern es nicht zu deiner Besserung beiträgt. Denn daraus wür­
de deutlich, dass du das Schauspiel bewundert hast.
(11) Geh nicht blindlings und leichtfertig zu irgendwelchen
öffentlichen Lesungen. Aber wenn du gehst, so bewahre dei­
nen Ernst und deine Würde, ohne jedoch lästig zu fallen.
(12) Wenn du mit jemandem zusammentreffen sollst, ins­
besondere mit einer hochrangigen Persönlichkeit, dann stelle
dir vor, was Sokrates oder Zenon in diesem Fall getan hätte.
So wirst du nicht in Verlegenheit sein, in richtiger Weise mit
der Gelegenheit umzugehen. (13) Wenn du dich zu einem der
Mächtigen aufmachst, so stelle dir vor, dass du ihn nicht zu
Hause antreffen wirst, dass man dir den Zutritt verweigert,
dass man dir die Türen vor der Nase zuschlägt, dass er sich
nicht um dich kümmern wird. Und wenn es trotz allem
deine Aufgabe ist, zu ihm zu gehen, so geh und ertrage, was
geschieht, und sage niemals selbst zu dir: »Es war nicht sol­
cher Mühe wert.« Denn so würde ein philosophisch Unge­
bildeter reden, der an den äußeren Dingen Anstoß nimmt.
(14) Ferne sei es, in Gesellschaften lang und breit von ir­
gendwelchen deiner Taten oder Gefahren zu sprechen. Denn
so angenehm es für dich sein mag, dich deiner Gefährdungen
zu erinnern, so wenig angenehm ist es für andere zu hören,
was dir begegnet ist.
(15) Ferne sei es aber auch, Gelächter zu erregen; denn
eine solche Verhaltensweise gleitet leicht ins Gewöhnliche ab
und ist zugleich geeignet, die Achtung der dir Nahestehen­
den zu vermindern. Gefährlich ist es auch, in eine obszöne
Sprache zu verfallen. Wenn sich derartiges ereignet, so weise

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sogar, wenn es sich ergibt, denjenigen, der obszöne Reden
führt, zurecht. Andernfalls mache durch Schweigen, Erröten
oder einen strengen Blick dein Missfallen mit der Rede deut­
lich.
35. Wenn du etwas in der Überzeugung tust, es tun zu müs­
sen, so suche nie zu vermeiden, bei der Handlung gesehen
zu werden, sollten auch die Leute abfällig darüber denken.
Denn wenn die Handlung nicht recht ist, so unterlasse sie!
Wenn sie aber recht ist, was fürchtest du diejenigen, die dich
zu Unrecht tadeln?
38. Wie du beim Spazierengehen Acht gibst, dass du nicht
auf einen Nagel trittst oder dir den Fuß verstauchst, so achte
auch darauf, dass du nicht dein inneres leitendes Prinzip
schädigst! Und wenn wir dies bei jeder Tätigkeit beobachten,
werden wir uns sicher an die Tätigkeit machen.
42. Wenn dich einer schlecht behandelt oder schlecht über
dich spricht, so denke daran, dass er so tut oder spricht, weil
er glaubt, es komme ihm zu. Er kann sich also unmöglich
nach deiner Vorstellung richten, sondern nach seiner. Wenn
ihm daher etwas in falscher Weise erscheint, trägt er den
Schaden davon, denn er hat sich auch getäuscht. Denn wenn
einer einen wahren Schluss für falsch hält, so hat nicht der
Schluss einen Schaden genommen, sondern derjenige, der
getäuscht wurde. Wenn du von diesem Gesichtspunkt aus­
gehst, dann wirst du den, der dich beschimpft, mit Milde
ertragen. Denn sage in allen solchen Fällen dazu: »Es er­
schien ihm so.«
43. Jedes Ding hat zwei Handhaben, eine, es zu tragen, eine
andere, es nicht zu tragen. Wenn dir dein Bruder Unrecht
tut, dann nimm es nicht so: Er tut mir Unrecht. Denn mit
dieser Handhabe ist es nicht zu tragen. Nimm es vielmehr
so: Er ist mein Bruder, er ist mit mir aufgewachsen. Und du
wirst es so handhaben, wie es zu tragen ist.
44. Solche Reden sind nicht folgerichtig: »Ich bin reicher als
du, also bin ich auch besser als du.« »Ich kann besser reden

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als du, also bin ich besser als du.« Jene Reden sind folgerich­
tiger: »Ich bin reicher als du, also ist mein Besitz größer als
deiner.« »Ich bin beredter als du, also ist meine Redege­
wandtheit größer als deine.« Du bist wenigstens weder Be­
sitz noch Redegewandtheit.
51. (1) Wie lange willst du noch warten, dich des Besten für
wert zu halten und in keinem Ding gegen die Vernunft, die
[zwischen dem was dein und was nicht dein ist] unterschei­
det, zu verstoßen? Du hast die Lehren erhalten, die du ak­
zeptieren solltest, und du hast sie akzeptiert. Auf welchen
Lehrer wartest du also noch, um es ihm zu überlassen, dass
er deine Verbesserung bewirkt? Du bist kein Jüngling mehr,
sondern vielmehr ein reifer Mann. Wenn du jetzt nachlässig
und leichtsinnig bist und einen Aufschub nach dem anderen
unternimmst, einen Tag nach dem anderen festsetzt, von
dem an du auf dich achten willst, dann wirst du, ohne es zu
merken, keine Fortschritte machen, sondern ein Laie bleiben
im Leben wie im Sterben. (2) Halte dich also endlich für
wert, wie ein reifer Mann, der Fortschritte macht, zu leben!
Und alles, was dir als das Beste erscheint, soll dir ein unver­
brüchliches Gesetz sein! Triffst du aber auf etwas, das mü­
hevoll oder angenehm oder ruhmreich oder ruhmlos ist, so
denke daran, dass es jetzt den Wettkampf gilt, dass hier die
Olympischen Spiele sind, dass es kein Verschieben gibt! Von
einem einzigen Tag, von einer einzigen Handlung hängt es
ab, ob der Fortschritt verloren oder gewonnen ist. (3) So
wurde Sokrates, was er war, indem er bei allem, was auf ihn
zukam, auf nichts anderes achtete als auf seine Vernunft. Du
aber, wenn du auch noch kein Sokrates bist, musst wenigs­
tens so leben, als ob du ein Sokrates werden möchtest!
52. (1) Das erste und notwendigste Gebiet in der Philosophie
ist die Anwendung der Prinzipien. Zum Beispiel: »Du sollst
nicht lügen.« Das zweite ist das der Beweise. Zum Beispiel
der Beweis dafür, weshalb man nicht lügen darf. Das dritte
ist das der Absicherung und genauen Analyse der Beweise.
Zum Beispiel: Weshalb ergibt sich, dass dies ein Beweis ist?

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Was ist überhaupt ein Beweis, eine logische Folgerung, ein
Widerspruch? Was ist wahr und was ist falsch? (2) Das dritte
Gebiet ist folglich notwendig wegen des zweiten, das zweite
aber wegen des ersten. Das notwendigste aber, und bei dem
man verweilen soll, ist das erste. Wir aber halten es gerade
umgekehrt. Denn im dritten Gebiet verweilen wir und hier
wenden wir jede Mühe auf. Das erste aber vernachlässigen
wir ganz und gar. So kommt es, dass wir zwar lügen, aber
den Beweis zur Hand haben, dass man nicht lügen darf.
Literaturempfehlungen

Übersetzungen der Gespräche und des


Handbüchleins

R. Mücke, Epiktet. Was von ihm erhalten ist nach den Auf­
zeichnungen Arrians (Neubearbeitung der Übersetzung von
J. G. Schulthess), Heidelberg 1926 (eine immer noch gut les­
bare Gesamtübersetzung der Gespräche und des Handbüch­
leins sowie der erhaltenen Fragmente; auf ihr basiert auch die
in diesem Band vorliegende Übersetzung).
Epictetus. The discourses as reported by Arrian, the manual,
and fragments, with an English translation by W. A. Oldfat­
her, 2 Bde., Cambridge (Mass.)/London 1925–1928 (Nach­
druck 1985 und 1989; zweisprachige, vollständige Ausgabe).
Epiktet. Handbüchlein der Moral und Unterredungen, he­
rausgegeben von H. Schmidt, neubearbeitet von K. Metzler,
Stuttgart 111984.
Epiktet. Handbüchlein der Moral. Griechisch/Deutsch,
übersetzt und herausgegeben von K. Steinmann, Stuttgart
1992.
Epiktet, Teles, Musonius. Ausgewählte Schriften, herausge­
geben und übersetzt von R. Nickel, Zürich 1994.
Epiktet. Wege zum glücklichen Handeln. Aus dem Grie­
chischen von Wilhelm Capelle. Mit einem Nachwort von
Manfred Fuhrmann, Frankfurt/Leipzig 1997.

157
Weiterführende Literatur

Immer noch grundlegend sind die Arbeiten von Adolf Bon­


höffer:
Adolf Bonhöffer, Epictet und die Stoa. Untersuchungen zur
stoischen Philosophie, Stuttgart 1890 (Nachdruck Stuttgart-
Bad Cannstatt 1968).
Adolf Bonhöffer, Die Ethik des Stoikers Epictet, Stuttgart
1894 (Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1968).
Adolf Bonhöffer, Epiktet und das Neue Testament (Religi­
onsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 10), Gießen 1911
(Nachdruck Berlin 1964).

Weitere wichtige Abhandlungen im deutschsprachigen Be­


reich:
Margarethe Billerbeck, Epiktet. Vom Kynismus (Philosophia
Antiqua 34), Leiden 1978 (nützlich auch wegen des deut­
schen und griechischen Glossars).
Klaus Döring, Epiktets Handbüchlein der Moral und seine
Rezeption, in: Von der Rezeption zur Motivation (Dialog
Schule − Wissenschaft, Klassische Sprachen und Literaturen
XXXII), München 1998, 62–83 (daraus ist der Hinweis [→ II
1] auf das Zitat aus dem Handbüchlein als Motto in einigen
prominenten Werken der Weltliteratur entnommen).
Michael Erler, Einübung und Anverwandlung. Reflexe
mündlicher Meditationstechnik in philosophischer Litera­
tur der Kaiserzeit, in: W. Kullmann, J. Althoff, M. Asper
(Hgg.), Gattungen wissenschaftlicher Literatur in der Antike
(ScriptOralia 95), Tübingen 1998, 361–381.
Maximilian Forschner, Die stoische Ethik. Über den Zusam­
menhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im
altstoischen System, Darmstadt 21995.

158
Johannes Carl Gretenkord, Der Freiheitsbegriff Epiktets, Bo­
chum 1981.
Jackson P. Hershbell, Epiktet, in: Friedo Ricken (Hg.), Phi­
losophen der Antike II, Stuttgart 1996, 184–198.
Malte Hossenfelder, Die Philosophie der Antike 3. Stoa, Epi­
kureismus und Skepsis (= Geschichte der Philosophie, Band
III, hg. von Wolfgang Röd), München 1985.
A. A. Long/D. N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen.
Texte und Kommentare (übersetzt von Karlheinz Hülser),
Stuttgart-Weimar 2000 (Originalquellen zur hellenistischen
Philosophie in deutscher Übersetzung [Stoizismus S. 183 bis
522] mit ausführlichen Kommentaren).
Max Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewe­
gung, 2 Bde., Göttingen 61984 (1. Band) / 51980 (2. Band).
Peter Steinmetz, Die Stoa, in: Hellmut Flashar (Hg.),
Grundriß der Geschichte der Philosophie (Neubearbeitung).
Begründet von F. Ueberweg. Die Philosophie der Antike,
Bd. 4: Die hellenistische Philosophie, 2. Halbband, Basel
1994, 495–716.
Barbara Wehner, Die Funktion der Dialogstruktur in Epi­
ktets Diatriben, Stuttgart (Philosophie der Antike, Band 13)
2000.

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